Die Künste im Dialog der Kulturen: Europa und seine muslimischen Nachbarn 9783050086835, 9783050043630

Für den interkulturellen Dialog zwischen den europäischen Ländern und ihren muslimischen Nachbarn spielen die Künste ein

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German Pages 344 Year 2007

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Die Künste im Dialog der Kulturen: Europa und seine muslimischen Nachbarn
 9783050086835, 9783050043630

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Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki (Hg.), Die Künste im Dialog der Kulturen

Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki (Hg.)

Die Künste im Dialog der Kulturen Europa und seine muslimischen Nachbarn

Diese Publikation wurde vom Auswärtigen Amt, der Deutschen UNESCOKommission, der Anna-Lindh-Stiftung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Freien Universität Berlin gefördert.

ISBN

978-3-05-004363-0

© 2007 by Akademie Verlag GmbH. Printed in the Federal Republic of Germany. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigimg des Verlags in irgendeiner Form durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen verwendbare Sprache übertragen werden. Redaktion, Gestaltung und Satz: Michael Sonntag, Salzburg Druck: KOMAG Druck- und Verlagsgesellschaft, Berlin Einbandgestaltung: Hans Baltzer, Berlin

INHALT ROLAND BERNECKER

7

Vorwort CHRISTOPH WULF, JACQUES POULAIN, FATHI TRIKI

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Einleitung

I. Bild und Imagination CHRISTOPH WULF

19

Homo pictor oder die Erzeugung des Menschen durch die Imagination ANGELIKA NEUWIRTH

37

Opfer, Gewalt, Genealogie und Erinnerung. Biblische und koranische Erinnerungsfiguren im vorderorientalischen Märtyrerdiskurs MARIE JOSÉ MONDZAIN

63

Über das Verschmelzen und die Verwirrung der Sprachen Babel der Bilder und Sprache der Liebe KLAUS KRÜGER

73

Desintegration - Distinktion - Integration. Zur Funktion interkultureller Symbolisierung bei Bauwerken und Bildern im Mittelalter HANS BELTING

100

Zwei Sehkulturen. Die arabische Wissenschaft und die Bildperspektive der Renaissance LUDGER SCHWARTE

116

Die Kunst, das Unvernehmen anzuerkennen Bemerkungen über die Arabeske RACHIDA TRIKI

129

Transkulturalität und Kreation: Die bildenden Künste im Maghreb

II. Literatur und Musik RANDA ABOU-BAKR

143

Literaturübersetzung und kultureller Austausch: Domestizierung, Verfremdung oder ein Dritter Raum? MEHREZHAMDI

Die islamischen Künste und der interkulturelle Dialog

155

PHILIPPE TANCELIN

164

Das Transkulturelle und die Sprache der Widerstände Für eine Poetik des Abstands MOHAMED HASSEN ZOUZI CHEBBI

176

Der Einfluss der Kunst und der Künstler auf den interkulturellen Dialog Die drei arabischen Meteore der Jahre 1920/1930 Hocine Slaoui, Sayyed Darwish, Abul Qacem Chabbi PAOLO FABBRI

195

Die Kräfte des Zeichens CHRISTINA VON BRAUN

207

Incognito Ergo Sum. Die Kunst, Grenzen zum Verschwinden zu bringen LYDIA GOEHR

220

Three Blind Mice. Goodman, McLuhan und Adorno über die Kunst der Musik und des Hörens im Zeitalter der globalen Transmission

III. Sprache und Verständigung BENMEZIANE BENCHERKI

247

Die Erfahrung des Schreibens und die Gastlichkeit der Sprache FATHI TRIKI

263

Die Gastfreundschaft und die Ästhetik des Zusammenlebens HASSAN WAHBI

273

Die Kunst des Dialogs ANTOINE SEIF

282

Die transkulturelle Erfahrung der Kunst in Raum und Zeit: ästhetisches Kriterium und soziokulturelle historische Wirksamkeit REYES MATE

295

Die Toleranzen Nathans des Weisen GERTRUD KOCH

315

Macht es die Masse? Eine Problemskizze zur Massenkultur JACQUES POULAIN

325

Das pragmatische Experimentieren von Kunst und die Ästhetik transkultureller Philosophie Danksagung Autorinnen und Autoren

341 343

Roland Bernecker

VORWORT

Die Künste befinden sich in merkwürdiger Ambivalenz zugleich an der Peripherie der gesellschaftlichen Geltungssystematik und in ihrem Zentrum. Die Verweigerung des Üblichen und Naheliegenden, die Verweigerung der Banalität, die die Essenz des Künstlerischen ausmacht, bezahlt es mit dem Verzicht auf eine Präsenz in den Schaltzentren des Alltags. Dennoch zeigt das vielfaltige Bemühen der meisten Menschen um einen Anschluss an künstlerische Wahrnehmung, dass Kunst an etwas rührt, was uns im Innersten umtreibt. Die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt, die im März 2007 in Kraft getreten ist, erhebt völlig zu Recht die Vielfalt zu einem neuen Leitbild für die Gesellschaften in einer sich globalisierenden Welt. Die Versuche, über nationalstaatlich gefasste kulturelle Uniformität soziale Kohäsion und ein insgesamt lebensfreundliches soziales Gefuge zu entwickeln, sind gescheitert. Wirkungsvolles Vertrauen kann sich nicht auf der Grundlage einer vermeintlichen Angleichung entfalten. Auch heute mobilisiert Sicherheitspolitik Zustimmung zu ihren Maßnahmen noch immer vielfach über den Hebel der Angst. Es kommt aber wesentlich darauf an, diese Ängste zu überwinden stammen sie aus dem, was wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen, oder aus dem, was wir in der Verschiedenheit anderer Menschen als Infragestellung unserer selbst empfinden. Die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt baut auf der Prämisse auf, dass dieser notwendige Lernprozess auch eine Aufgabe der Politik ist. Die Künste entfalten Wirkung gerade an der Schnittstelle zwischen unseren Gewissheiten, den Strategien unserer Selbstbehauptung, und der Angst vor Infragestellung. Wir suchen Kunst, weil wir uns der Infragestellung aussetzen wollen, denn sie bietet die Gelegenheit zu Entwicklung und größerer Reife. In der Begegnung über kulturelle Grenzen hinweg ist die Kunst das eigentliche Medium der Überwindung von Angst. Diese zweite Tagung von renommierten Expertinnen und Experten von beiden Seiten des Mittelmeerraumes zeigte erneut, dass eine vertiefte fachliche Auseinandersetzung, in der die gewachsenen Prämissen und eingeübten Perspektiven der wissenschaftlichen Reflexion im direkten Gespräch hinterfragt werden, außerordentlich ertragreich ist. Das geschlossene Format einer mehrtägigen intensiven Begegnung, in der sich Vertrauen entwickeln kann, unterscheidet sich grundlegend von der volatilen Berührung im modernen Kongressbetrieb, in dem zu oft nur das Vorbereitete abgeliefert wird und kaum

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Roland Bernecker

Zeit bleibt, ein Echo einzufangen. Die vorliegende Publikation ist gewissermaßen nur ein Nebenprodukt der Tagung, die vom 15.-18. Dezember 2006 in Alexandria in Zusammenarbeit mit der Anna-Lindh-Stiftung stattfand. Ein weiteres konkretes Ergebnis ist das sich mit diesem zweiten Treffen festigende Netzwerk einer Gruppe von bedeutenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die das Gespräch zwischen dem europäischen und dem islamischen Kulturraum nicht nur über-, sondern auch miteinander fuhren wollen, und die diese Vertrautheit in ihre Lehre und Forschung ausstrahlen lassen. Mein besonderer Dank gilt dem dem Auswärtigen Amt, das durch seine Unterstützung diese Tagung ermöglicht hat, sowie den Herausgebern dieses Bandes, die das Konzept für diesen spannenden und ergebnisreichen Austausch entwickelt haben.

Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki

EINLEITUNG

Der Austausch zwischen den Ländern Europas und seinen muslimischen Nachbarn vollzieht sich in Wirtschaft, Politik, Religion und Kultur seit Jahrhunderten in vielfältiger Form und Intensität. Mal waren es die muslimischen Länder, die großen Einfluss auf Wissenschaft, Kunst, Literatur und Musik in Europa ausübten, mal die europäischen Länder, die Sprache und Kultur der muslimischen Länder stark beeinflussten. So fruchtbar die Beziehungen zwischen Europa und seinen Nachbarn auch waren, sie waren nicht frei von Gewalt. Spanien und der Balkan wurden von den islamisch geprägten Ländern unterworfen und waren mehrere Jahrhunderte lang besetzt. Europäische Staaten kolonialisierten die muslimischen Länder auf der anderen Seite des Mittelmeers und erzeugten dort Abhängigkeiten, die nicht nur zu wirtschaftlicher Ausbeutung, sondern auch zur kulturellen Enteignung der Menschen führten. Bis heute sind die Beziehungen zwischen Europa und seinen muslimischen Nachbarn auch durch vielfältige Formen von Gewalt bestimmt, die in Kriegen, Bürgerkriegen, Terrorismus und Märtyrertum ihren Ausdruck finden. Selbst die kulturellen Beziehungen sind nicht gewaltfrei; sie enthalten viele Formen symbolischer und imaginärer Gewalt, die spiralenförmig an Intensität gewinnen. In den Darstellungen der Massenmedien findet Gewalt in Form von Berichten über reale Ereignisse sowie imaginäre und virtuelle Handlungen ihren Ausdruck. Die Wirkungen dieser Gewaltdarstellungen sind subtil und nicht leicht identifizierbar. Im Unterschied dazu haben die Künste die Möglichkeit, einen Beitrag zu einem gewaltfreien Dialog der Kulturen und zur Verständigung zwischen den Angehörigen der verschiedenen Kulturen zu leisten. Dieses Potential der Künste zu explorieren ist Ziel der folgenden Untersuchung. Die Künste stellen einen so wichtigen Bereich der Kultur dar, dass sie oft als deren Mittelpunkt angesehen werden. In dieser Positionierung kommt ihre zentrale Bedeutung für die Identität einer Gesellschaft zum Ausdruck. Auch wenn in den letzten Jahren unter dem Einfluss der Kulturanthropologie eine Erweiterung des Kulturbegriffs erfolgt ist, infolge derer alle menschlichen Praktiken als Ausdruck von Kultur begriffen werden, haben die besonderen Möglichkeiten der Künste, einen Beitrag zur Identität einer Gesellschaft zu liefern, nicht an Bedeutung verloren. Nach wie vor stellen sich Kulturen in den Werken der Bildenden Kunst, Literatur, Musik, in den Darstellenden Künsten und in der Architektur dar. Der besondere Charakter jeder Kultur kann in diesen Werken und im Umgang mit ihnen begriffen werden. Trotz der Partikula-

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Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki

rität jeder Kultur gibt es zwischen den Kulturen Europas und denen seiner Nachbarn seit Jahrhunderten intensive Austauschprozesse und Wechselwirkungen, ohne die die Künste ihre jeweiligen Ausprägungen nicht hätten entwickeln können. Diese Mannigfaltigkeit der Künste und kulturellen Praktiken macht den Reichtum des kulturellen Erbes der Menschheit aus, das sich als eine unitas multiplex, als eine Einheit in der Vielfalt begreifen lässt. Diese sich in der Vielfalt ergebende Einheit des kulturellen Erbes ist das Ergebnis komplexer geschichtlicher Entwicklungen, in denen die Kreativität und Produktivität der Menschen zum Ausdruck kommen. Die künstlerischen Werke der Kulturen „gehören" jedoch nicht nur deren Angehörigen, sondern allen Menschen, die die Gelegenheit haben, mit diesen Werken (ästhetische) Erfahrungen zu machen und dadurch ihre Empfindungs- und Erlebnisräume zu erweitern. Die Künste erzeugen einen großen Teil des Imaginären der Menschheit, der von Generation zu Generation transferiert und transformiert wird. In den Diskussionen über das in der UNESCO mit großer Mehrheit verabschiedete und mittlerweile in Kraft getretene „Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen" wurde deutlich, wie wichtig die internationale Anerkennung und Förderung kultureller Vielfalt ist. In dieser „Magna Charta der internationalen Kulturpolitik" wurde von der internationalen Staatengemeinschaft das Recht auf kulturelle Vielfalt, Toleranz und soziale Gerechtigkeit bestätigt. Dieses Übereinkommen bestimmt die Bedingungen, unter denen die Erhaltung, Weiterentwicklung und Rezeption der Künste erfolgen und der internationale Austausch zwischen ihnen stattfinden soll. Zwar hat in Zeiten der Globalisierung der Austausch zwischen den Kulturen an Intensität gewonnen, doch haben nicht alle Kulturen die gleichen Möglichkeiten, daran teilzunehmen. Wie in Wirtschaft und Politik, so zeigen sich auch beim kulturellen Austausch das Nord-Südgefalle und die Dominanz westlicher, vor allem amerikanischer Unterhaltungskultur, durch die die Herstellung und Verbreitung künstlerischer Werke aus kleineren Kulturen erheblich eingeschränkt werden. Wäre es nicht gelungen, mit dieser Verordnung den kulturellen Gütern einen besonderen Status zuzuordnen, der sie vom Warenstatus anderer Güter unterscheidet, dann bestünde auch nicht die Möglichkeit, die für die kulturelle Identität wichtigen Künste zu schützen und zu fördern. In diesem Fall würden sich die kapitalreichen Kulturen noch stärker durchsetzen und damit die globalen Prozesse kultureller Nivellierung beschleunigen. Wenn von den Sprachen der Künste die Rede ist, so impliziert diese Redeweise, dass sich die Künste an die verschiedenen menschlichen Sinne richten und sich in den Medien, die diesen entsprechen, zur Darstellung bringen. Jede „Sprache" hat ihre spezifischen Ausdrucksweisen und Darstellungsformen. Die Werke der bildenden Kunst sprechen vorwiegend die Augen, die Auffuhrungen der Musik die Ohren an. Die Vielfalt der Sprachen ermöglicht unterschiedliche ästhetische Erfahrungen. Manche von ihnen lassen sich sprachlich nur in Annäherungen fassen und geraten an die Grenzen begrifflicher Darstell-

Einleitung

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barkeit. Die Werke der Künste bringen etwas zum Ausdruck, das zuvor nicht wahrnehmbar war; sie machen etwas sichtbar, hörbar, erfahrbar, das sich nur in Form von Bild, Musik und anderen ästhetischen Ausdrucksformen darstellen und erfahren lässt und angesichts dessen die Grenzen der verbalen Sprache deutlich werden. Die Formen und Farben der Bilder sind nur dem Sehen und dem Blick zugänglich. Die Klänge und Rhythmen der Musik fuhren zu ästhetischen Erfahrungen, die nur hörend möglich sind. Die Wahrnehmungen der Künste sind an die historisch und kulturell geformten Sinne gebunden und haben synästhetische Komponenten. Geschichtlichkeit und Kulturalität der Sinne fuhren zu bestimmten Wahrnehmungen und Empfindungen und schließen andere aus. Das Hören von Musik und das Sehen von Kunst werden durch eine historisch und kulturell geformte Einbildungskraft ermöglicht. Dank ihrer werden die Bilder und Klänge der Außenwelt zu Bildern und Tönen der Innenwelt. Auch literarische Texte erschließen sich erst, wenn die Einbildungskraft in ihnen Ereignisse und Handlungen, aufspürt und „animiert". In einer Anähnlichung an Bilder, Klänge und Texte entstehen ästhetische Erfahrungen. Zwar ist die Einbildungskraft historisch und kulturell geformt, doch schafft sie zugleich als Möglichkeit menschlicher Freiheit Kontingenzen und Überraschungen.1 Die Imagination ermöglicht mimetische Prozesse, in denen eine mentale Anähnlichung des Betrachters, Hörers oder Lesers an Bilder, Töne oder Texte erfolgt, die sich dabei unterschiedlich erschließen. In diesem Prozess bestimmen die Voraussetzungen des Betrachters, Hörers oder Lesers, was wahrgenommen wird, welche Empfindungen dabei entstehen und wie diese zu Erfahrungen verdichtet werden. In diesen von der Einbildungskraft getragenen mimetischen Prozessen findet eine Anähnlichung an die Bilder, Töne und Texte statt, in deren Verlauf diese inkorporiert werden. In diesen Prozessen erschließen sich die Betrachter, Hörer und Leser die Bilder, Klänge und Texte und werden zugleich durch diese erschlossen. In dieser wechselseitigen Erschließung zeigt sich die Bildungswirkung der Kunst, Musik und Literatur. Solche Erfahrungen verändern Menschen, die ihre Fähigkeit zu sehen, zu hören und Texte zu verstehen entfalten und sich dadurch bilden. Menschen erweitern ihre bisherige Erfahrungswelt und werden für den Umgang mit dem Fremden sensibel. Diese Prozesse der Anähnlichung an die künstlerischen Werke fremder Kulturen sind weitgehend gewaltfrei. Während die Handlungen und Geschehnisse des Alltags häufig durch instrumenteile Rationalität und funktionale Zwänge bestimmt werden, bietet der Umgang mit den Künsten neue Erfah1 Vgl. dazu u. a. Bernd HüppaufChristoph Wulf (Hg.), Bild und Einbildungskraft. München 2006: Fink; Yaso Imai/Christoph Wulf (Hg.), Concepts of Aesthetic Education. Münster u. a. 2007: Waxmann; Christoph Wulf, Anthropologie kultureller Vielfalt. Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung. Bielefeld 2006: transcript; ders.: Anthropologie. Philosophie Geschichte - Kultur. Reinbek 2004: Rowohlt; Isabel Schäfer, Vom Kulturkonflikt zum Kulturdialog. Die kulturelle Dimension der Euro-Mediterranen Partnerschaft (EMP). Baden-Baden 2007: Nomos.

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Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki

rungsmöglichkeiten und Freiheiten. In ästhetischen Prozessen spielen die das Alltagsleben bestimmenden Zwänge der Akzeleration der Zeit kaum eine Rolle. In der Begegnung mit Werken der Kunst, der Musik und der Literatur entstehen Möglichkeiten, die Gegenwart zu verlassen, sich in andere Zeiten und kulturelle Konstellationen zu begeben, dabei ins Staunen zu geraten und sich faszinieren zu lassen. In diesen Prozessen entstehen ästhetische Erfahrungen des Anderen, die dazu beitragen, sich selbst und seine kulturelle Bedingtheit besser zu begreifen. Im Umgang mit den Werken der Künste werden heterologische Erfahrungen gemacht, die den Betrachter, Hörer oder Leser berühren und Empfindungen auslösen, in denen sich Fremdes und Vertrautes überlagern. Damit es zu ästhetischen Erfahrungen kommt, bedarf es der Offenheit fur die Werke der Künste. Die dabei möglichen Empfindungen ähneln den Erfahrungen von Alterität, wie sie sich in der Begegnung mit Menschen aus fremden Kulturen ergeben. Aufgrund der Sinnlichkeit und des Potentials der Imagination stellen ästhetische Erlebnisse einen Wert an sich dar, der keiner weiteren Legitimation bedarf. Zwischen ästhetischen Erfahrungen und Erfahrungen fremder Kulturen bestehen insofern Ähnlichkeiten, als in beiden Fällen Alterität erlebt und verarbeitet wird. Daher bieten ästhetische Erfahrungen im interkulturellen Dialog wichtige Möglichkeiten der Verständigung mit fremden Kulturen. Diese Möglichkeiten liegen weniger in der verbalen Kommunikation als vielmehr im ästhetischen Potential der Künste. Alterität wird im Umgang mit dem Imaginären fremder Kulturen erfahren. Die Begegnungen zwischen den Angehörigen der Kulturen vollziehen sich im Symbolischen und im Imaginären, im Sprachlichen und in Bildern, Selbstbildern und Fremdbildern sowie in deren Ähnlichkeiten, Differenzen und Hybridisierungen. In diesen Austauschprozessen zwischen den Kulturen können bildende Künste, Musik und Literatur eine wichtige Rolle spielen. Sie vermitteln Aspekte einer Kultur, die die Auseinandersetzungen in Politik, Wirtschaft und alltäglichem Zusammenleben transzendieren und dazu beitragen können, dass sich Menschen für fremde Kulturen und die Alterität ihrer Menschen öffnen. In solchen Prozessen können Toleranz gegenüber dem Anderen und Anerkennung seiner Andersartigkeit entwickelt werden. Damit verbunden sind Erfahrungen kultureller Vielfalt, die zur Bereicherung des Einzelnen und der Gemeinschaft beitragen und den Reichtum menschlicher Kultur ausmachen. Die folgenden Beiträge gliedern sich in drei Teile. Im ersten werden die Zusammenhänge zwischen Bildern der Kunst, dem Blick und der Einbildungskraft untersucht. Der zweite Teil umfasst Beiträge zur Literatur und Musik. Im dritten Teil werden die Möglichkeiten der Sprache und des Dialogs zwischen den Kulturen untersucht, zur interkulturellen Verständigung beizutragen. Der erste Beitrag des ersten Teils untersucht die Beziehung zwischen Bild und Imagination und die Bedeutung der Imagination fur die Genese des Menschen; er macht deutlich, dass die Einbildungskraft für die Wahrnehmung, den

Einleitung

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Blick und die Erzeugung von Bildern unerlässlich ist und in allen Kulturen eine das Imaginäre konstituierende Rolle spielt (Wulf). Im Imaginären der Kulturen spielt auch die Erinnerung eine zentrale Rolle. Am Beispiel der biblischen und koranischen Erinnerungsfiguren der Märtyrer, in denen traditionelle ikonische Arrangements bis in die Gegenwart hinein wirken, wird dies verdeutlicht (Neuwirth). Untersucht wird sodann, welches die Charakteristika von Bildern (der Erinnerung) sind und welche Rolle sie in der medialisierten Kommunikation des interkulturellen Dialog spielen. Um diese Fragen zu beantworten, erfolgt ein Rückgriff auf das Bildverständnis des Alten und des Neuen Testaments sowie auf verschiedene Formen der Ikonolatrie und des Ikonoklasmus und ihres Weiterwirkens in den neuen Medien (Mondzain). Daran schließt eine Fallstudie über die Entstehung der Bilderwelt der Franziskaner und der Dominikaner an. Sie untersucht, wie sich mit der Ausdehnung des Einflusses der Klöster in den von Byzanz beeinflussten Kulturraum und in der Begegnung mit der jüdischen Kultur neue interkulturelle bzw. hybride Bildformen bilden und dabei Prozesse stattfinden, die denen heute in den Neuen Medien ähneln (Krüger). Der darauf folgende Beitrag zeigt, wie die arabische Wissenschaft zur Entstehung der Bildperspektive der Renaissance beigetragen hat, die damit zu einem Beispiel für die Produktivität des interkulturellen Austauschs wurde, aus dem neue Formen entstehen, die Welt zu sehen und darzustellen (Belting). Sodann wird herausgearbeitet, wie die europäische Ästhetik, angeregt von arabischer bzw. islamischer Kunst, mit dem Begriff der Arabeske einen ästhetischen Terminus entwickelt, der nicht mehr zur Bezeichnung eines floralen Ornaments dient, sondern das „Prinzip der Komposition und der Abstraktion" bezeichnet und zur Darstellung einer Vielheit ohne Zweck dient (Schwarte). In einer Untersuchung von Werken der plastischen Kunst im Maghreb werden Bezugnahmen auf arabische kalligraphische Traditionen herausgearbeitet, die kreativ gestaltet werden und als Formen transkulturellen Widerstands dienen (Rachida Triki). Im zweiten Teil der Untersuchung stehen Literatur und Musik im Mittelpunkt. Um Literatur den Angehörigen anderer Kulturen zugänglich zu machen, muss sie übersetzt werden. Damit werden Übersetzungen zu einem wichtigen Medium im Dialog der Kulturen, ohne dessen Anwendung die literarische Kommunikation auf wenige der fremden Sprache Kundige beschränkt bliebe. Übersetzen wird als ein Akt kultureller Mediation begriffen, der zwischen den Polen der Domestikation des Fremden und der Erhaltung des Fremden in der Übersetzung oszilliert (Abou-bakr). Bei der Poesie sind die Probleme des Übersetzens besonders schwierig. Teile der Poesie nehmen Bezug auf den Koran, von dessen poetischen Stellen zahlreiche Anregungen für die sprachliche und ästhetische Gestaltung der Poesie ausgehen. Insoweit die arabische Sprache die Sprache des Korans, der islamischen Kultur und der Religionswissenschaft ist, ergeben sich besondere Schwierigkeiten bei der Übersetzung (Hamdi). Der nachfolgende Beitrag untersucht die besonderen Entstehungsbedingungen

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der Gedichte und Texte von Immigranten, in denen sich Perspektiven aus deren Herkunftskultur und aus dem Land der Immigration überlagern. Diese Gedichte und Texte sind Teil einer neuen literarischen Gattung, für die der interkulturelle Dialog konstitutiv ist und die seit einiger Zeit auch in vielen europäischen Ländern Gewicht und Verbreitung gewinnt (Tancelin). Welche Möglichkeiten Poesie und Musik haben, ihre Wirkungen im interkulturellen Dialog zu entfalten, wird am Beispiel von drei Poeten und Musikern aus Marokko, Ägypten und Tunesien untersucht, deren Arbeiten in der arabischen Welt Nordafrikas sehr verbreitet sind (Zouzi Chebbi). Eine neue Perspektive auf literarische Texte eröffnet der Beitrag über Artaud, in dem Imagination, Träume und Wünsche, Begehren und Wahnsinn beschworen werden und in dem die Worte zu Zeichen werden, die nicht mehr den Normen und Regeln der Semantik gehorchen und dadurch neue imaginäre Räume eröffnen {Fabbri). In einer historischen Rekonstruktion der den semitischen und phönizischen Buchstaben vorausgehenden Piktogramme lassen sich wie im Fall des Alpha oder des M höchst aktuelle Bedeutungen herausarbeiten. So verweist das M in etymologischer Hinsicht auf Mutter, Wasser, Materie, auf eine „Mittler-" und „Marriage"Funktion, den „mort", das „mourning", den Tod und die Trauer sowie den Tausch und das Geld, das im Handel zwischen den Völkern des Mittelmeerraums schon früh Bedeutung gewann (von Braun). An diesen Teil schließt eine Studie zur Kunst der Musik und des Hörens an, in der unter Bezug auf Goodman, McLuhan und Adorno die Produktion und Transmission der Musik unter den Bedingungen der neuen Medien und der Globalisierung untersucht werden. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind auch für die Verbreitung der anderen Künste in der globalisierten Welt wichtig (Goehr). Im dritten Teil unserer Untersuchung stehen die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache für die Verständigung im Mittelpunkt. In einem ersten Beitrag wird analysiert, welche Erfahrungen sich mit der Sprache beim Schreiben und bei der Lektüre literarischer Texte algerischer Schriftsteller einstellen. Der in diesen Texten entstehende freie Ausdrucksraum wird als Gastlichkeit der Sprache bezeichnet, die auch Angehörige anderer kultureller Räume aufnehmen kann (Bencherki). Doch nicht nur die Sprache, auch Menschen und Gemeinschaften sind gastlich. Gastfreundschaft ist eine besondere Form des Zusammenlebens, für die sich wie für andere Formen immateriellen kulturellen Erbes eine eigene Ästhetik entwickelte. In den islamisch geprägten Mittelmeerländern beruht diese auf einer langen kulturellen Tradition, die in Zeiten starker Migrationsbewegungen politisch sehr aktuell ist (Fathi Triki). In dieser Ästhetik des Zusammenlebens zeigen sich Einstellungen, die auch für den interkulturellen Dialog wichtig sind, in dem die Offenheit der Künste für die Alterität von Menschen aus anderen Kulturen von zentraler Bedeutung ist ( Wahbi). Interkulturelle Dialoge vollziehen sich in Raum und Zeit. In den dabei entstehenden Hybridisierungen entwickeln sich die Sprachen der Künste und die transkulturellen Ästhetiken, die in verschiedenen kulturellen Kontexten

Einleitung

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unterschiedlich wahrgenommen werden. Für die Künste ergeben sich dadurch neue, an die Globalisierung gebundene Bedingungen, die weiterer Untersuchungen bedürfen (Seif). Bei der Begegnung von Menschen unterschiedlicher Kulturen ist Toleranz nach wie vor von zentraler Bedeutung. In einer umfassenden Analyse Nathans des Weisen wird die Notwendigkeit toleranten Verhaltens im Dialog der Kulturen verdeutlicht {Mate). Wie schwer es ist, diese Toleranz zu realisieren, zeigt die anschließende Untersuchung über Masse und Massenkultur sowie deren Organisationsschwäche im Hinblick auf sich selbst. Diese manifestiert sich im flüchtigen Charakter des Fernsehpublikums, das sich zu bestimmten Sendungen zusammenschließt, um sich danach sogleich wieder aufzulösen (Koch). Den Band schließt eine Analyse der Zusammenhänge von Kunst, Ästhetik und Philosophie ab. Am Beispiel ausgewählter Werke der Malerei und der Poesie werden deren Möglichkeiten entwickelt, transkulturelle Bildungsprozesse gewaltfrei zu initiieren (Poulain). Im vorliegenden Band wird deutlich, welches Potential die Künste haben, Menschen Einsichten in die Identität und das Selbstverständnis anderer Kulturen zu vermitteln. Da die Künste politisch, wirtschaftlich und sozial nicht eingebunden sind, vollzieht sich die Begegnung mit ihnen in einem von Handlungsnotwendigkeiten entlasteten Freiraum, in dem ästhetische Erfahrungen möglich werden, die nicht an Sprache und Rationalität gebunden sind. Als sinnliche Erfahrungen berühren sie die Gefühlswelt, beeinflussen und verändern sie. Sie führen zur Begegnung mit Alterität und initiieren Bildungsprozesse. In einem von Achtung und Toleranz bestimmten Dialog zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, in dem vom Reichtum kultureller Vielfalt ausgegangen wird, kann die Bedeutung von Kunst, Literatur und Musik für das gegenseitige Verständnis kaum überschätzt werden. Im interkulturellen Dialog wird die eigene Weltsicht durch die Begegnung mit Werken aus anderen Kulturen erweitert und bereichert. Ohne Schwierigkeiten können dabei Erfahrungen der Fremdheit und Alterität zugelassen werden, die zu einem spielerischen Umgang einladen, von dem keine das zukünftige Handeln bestimmenden Ergebnisse erwartet werden. Die Künste erlauben einen ludischen Umgang mit Differenz und kultureller Vielfalt, aus dem sich neue Erfahrungen und Einsichten ergeben. Manchmal entstehen dabei Faszination und Annäherung, manchmal Zurückhaltung und Distanzierung. Beide Bewegungen sind gewaltfrei und Ergebnis freier Entscheidungen. Gerade angesichts schwieriger politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse haben die Künste im Dialog der Kulturen noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten, zur interkulturellen Verständigung beizutragen.

I. Bild und Imagination

Christoph Wulf

HOMO PICTOR ODER DIE ERZEUGUNG DES MENSCHEN DURCH DIE IMAGINATION

Einführung Im Dialog der Kulturen spielt die Imagination bei der Entstehung und der Vermittlung der Künste eine zentrale Rolle. Sie macht Unsichtbares sichtbar, Unhörbares hörbar und Unvorstellbares vorstellbar; sie macht Abwesendes, sei es vergangen, sei es zukünftig, wahrnehmbar und transformiert es. Die Imagination trägt wesentlich zur Erzeugung und zur Weitergabe von Kultur bei und ist eine zentrale Voraussetzung fur den Dialog der Kulturen. Mit ihrer Hilfe wird kulturelle Identität erzeugt und vermittelt. Erfahrungen der Alterität, wie sie die Künste schaffen, beruhen auf den Möglichkeiten der Imagination, sich dem Fremden ähnlich zu machen und es sich dadurch zu erschließen. Mit Hilfe ihrer Fähigkeit zur Imagination haben Menschen nicht nur die Künste, sondern auch die Kulturen im Sinne von Praktiken des Lebens hervorgebracht. Im Folgenden wird dargelegt, welche zentrale Rolle Bilder und Imagination fur die Entstehung menschlicher Kulturen und die Entwicklung eines bildlichen Imaginären spielen. Im Rahmen der visuellen Kultur der Moderne hat das bildliche Imaginäre weiter an Bedeutung gewonnen. Mit Hilfe der Massenmedien sind Bilder in alle Bereiche menschlichen Lebens eingedrungen. Mit dieser Ausbreitung der visuellen Kultur wird deutlich, dass Bilder für den Dialog der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen eine wichtige Rolle spielen. In ihnen werden Kenntnisse, Gefühle und Einstellungen über Kulturen weitergegeben. Daher lautet eine entscheidende Frage: Was ist ein Bild, an die weitere nicht weniger wichtige anschließen: Wie werden Bilder gebraucht? und Was machen die Bilder mit uns? Ist es überhaupt sinnvoll, von dem Bild zu sprechend Bedarf es nicht umfangreicher Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Typen von Bildern? So stellt sich die Frage, ob digitale Bilder noch Bilder im herkömmlichen Sinne sind. In jedem Fall sind sie keine Abbilder. Ihr scheinbarer Abbildcharakter ist eine Folge mathematischer erzeugter Simulationen. In allen Wissenschaften und in vielen anderen Kommunikationsformen sind Bilder neben die Sprache getreten und machen deutlich, dass sie ikonische Informationen vermitteln, die sich nicht auf Sprache reduzieren lassen. Bilder

1 Boehm 1994; Schäfer/Wulf 1999; Sachs-Hombach 2005; Maar/Burda 2004; Großklaus 2004; Wulf/Zirfas 2005; HüppaufTWulf 2006.

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Christoph Wulf

haben einen Wert in sich, der durch nichts ersetzbar ist. Welche anthropologische Bedeutung hat diese Fähigkeit, Bilder zu erzeugen? Wie lässt sich diese Kompetenz begreifen, Bilder zu schaffen, zu erinnern, und umzustrukturieren? Welche Bedeutung hat sie fur die phylogenetische und ontogenetische Menschwerdung? Imagination ist eine conditio humana, ohne die die Menschen weder phylogenetisch noch ontogenetisch zu Menschen werden können.2 In einer ersten Annäherung lässt sich Imagination als eine Kraft beschreiben, die die Welt den Menschen im Sinne des griechischen phainestai zur Erscheinung bringt.3 Dabei sind zwei Bedeutungsdimensionen zu unterscheiden. Einmal bedeutet „zur Erscheinung bringen", die Welt erscheint den Menschen in einer durch die Bedingungen des Menschseins gegebenen Art und Weise und wird so wahrgenommen. Zum anderen bedeutet „zur Erscheinung bringen", mit Hilfe mentaler Bilder die Welt entwerfen und diese nach den Entwürfen zu schaffen. Die Imagination ist also eine Energie, die die Menschen mit der Welt und die Welt mit den Menschen verbindet. Sie hat eine Brückenfunktion zwischen außen und innen, zwischen innen und außen; sie ist chiastisch und entfaltet ihre Bedeutung in dieser Funktion. Im römischen Denken wird Phantasie als Imagination übersetzt, die die Außenwelt in Bilder verwandelt und diese in die innere Bilderwelt überfuhrt. In der deutschen Sprache wird Imagination bei Paracelsus zur Einbildungskraft, mit deren Hilfe die Menschen die Welt in sich einbilden und dadurch die Innenwelt welthaltig machen. Ohne diese Möglichkeit gäbe es keine menschliche Kulturwelt, kein Imaginäres,4 keine Sprache.

Hominisation und Imagination Über die Ursprünge der Phantasie ist wenig bekannt. Ihre ersten Spuren reichen weit zurück. Zweifellos steht die Entstehung der Imagination in engem Zusammenhang mit der starken Vergrößerung des menschlichen Gehirns. Diese hat ihre Anfange bereits beim homo erectus, also vor etwa einer Million Jahren. Beim homo erectus finden entscheidende Entwicklungen statt. Er richtet sich auf; das Zusammenspiel zwischen Gehirnwachstum, Freisetzung der Hände, Entwicklung der vorderen Schädelpartie und der Sprache fuhrt zu einer neuen, für den Menschen charakteristischen Komplexität, in der die Imagination eine wichtige Rolle spielt. Doch nicht nur die Vergrößerung des Gehirns, die in Bezug auf das Körpergewicht bei den Australopithecinen noch den Faktor 3, 2 Vgl. Wulf 2004; 2001. 3 Mit dem griechischen phainestai ist der Begriff der Phantasie verwandt, bei dem der Akzent darauf liegt, dass etwas erscheint bzw. zur Erscheinung gebracht wird; im Unterschied dazu liegt der Akzent bei dem lateinischen imaginatio auf dem Prozess der Ein-bildung bzw. der Verkörperung von Bildern, der auch mit dem deutschen Begriff der Einbildungskraft akzentuiert wird. 4 Vgl. dazu Iser 1991; Zizek 1997.

Homo pictor

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beim homo erectus den Faktor 4,5 und beim homo sapiens den Faktor 7,2 erreicht, sondern vor allem die Qualität der neuronalen Vernetzung spielt bei der Entstehung der Imaginationsleistungen eine wichtige Rolle. Diese Entwicklung des Gehirns ist in eine Reihe weiterer Veränderungen eingebettet. Unter ihnen sind der aufrechte Gang, der Wechsel des Lebensraums, die Zunahme der Fleischnahrung in Folge der Jagd, die Kultivierung des Feuers und die allmähliche Entwicklung von Sprache und Kultur besonders wichtig. Die Menschwerdung lässt sich als eine mehrdimensionale Morphogenese aus den Wechselwirkungen ökologischer, genetischer, zerebraler, sozialer und kultureller Faktoren begreifen, in deren Rahmen sich die Imagination herausbildet, die für die weitere Entwicklung der Menschen eine wichtige Rolle spielt (Wulf 2004). Man kann in dem Prozess, in dem ein Stück Natur mit Hilfe der Imagination zu einem ästhetisch gestalteten Werkzeug gemacht wird, die Imagination mit ihren Möglichkeiten, Bilder zu entwerfen, am Werk sehen. Dabei wird nach einem mentalen Bild ein Stein ausgesucht und so bearbeitet, dass ein Werkzeug entsteht, das bestimmte Funktionen erfüllt und zugleich ästhetischen Ansprüchen genügt.5 Eine andere Stufe ästhetischer Gestaltung wird erreicht, wenn Menschen ihre innere Wirklichkeit in Zeichnungen übersetzen, wie dies in den Knochenritzungen in Bilzingsleben im Kreis Artern in Thüringen in Deutschland (Abb. 1) vor etwa 300000 Jahren in der Altsteinzeit geschah.

Abb. 1 : Knochenritzungen in Bilzingsleben

Manche Interpreten haben in diesen Zeichen Figuren sehen wollen, andere sich darauf beschränkt, hier kaum deutbare Zeichen zu sehen. Eine abermals neue Stufe der Bildgestaltung verdeutlichen die Tier- und Menschenstatuetten (Abb. 2), die vor ca. 35 000 Jahren im Donau- und Rheingebiet entstanden, in denen der homo pictor, der Mensch der Bilder und der Imagination sichtbar wird.

5 Vgl. vor allem zu den folgenden Abbildungen Le Tensorer 2001.

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Christoph Wulf

Abb. 2: Tierstatuette aus Vogelherdhöhle

Auch in den Felsmalereien dieser Zeit (Abb. 3), die weitgehend auf Europa beschränkt sind und im frankokantabrischen Raum ihre schönsten Ausprägungen gefunden haben, sieht man die Imagination am Werk. Folgt man Leroi-Gourhans Deutung (1988, S.243), scheint diese Kunst „sich [...] von einer wirk liehen Schrift loszulösen und einen Weg einzuschlagen, auf dem sie, ausge-

Abb. 3: Detail aus der Höhle von Chauvet in Vallon Pont-d'Arc (Ardèche)

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hend vom Abstrakten, Schritt für Schritt die Darstellungsweisen von Form und Bewegung herausarbeitet, um am Ende der Kurve zum Realismus zu finden und schließlich zu verlöschen." Bei diesen Felsmalereien handelt es sich um Bilder vor dem Zeitalter der Kunst, über deren Deutung viel gerätselt wurde, die jedoch nach wie vor sich einer schlüssigen Interpretation entziehen. Gewiss ist jedoch, dass diese Bilder von ihren Zeitgenossen ganz anders als heute wahrgenommen wurden. Mit dieser Relativierung unserer Möglichkeiten, die Felsbilder zu begreifen, wird deutlich, dass in methodischer Hinsicht diese Überlegungen Teil meiner Konzeption Historischer Anthropologie sind.6 Danach gilt es, die Historizität und Kulturalität der Werke und die Historizität und Kulturalität ihrer Betrachter aufeinander zu beziehen. Erst so kann ein die eigene Geschichtlichkeit als konstitutives Element einbeziehendes Verständnis dieser Werke entstehen. Wie wurden diese Bilder wahrgenommen? Wurden die Figurationen der Tiere nach dem Modell von Lebewesen gesehen? Machte ihre Präsenz im Bild eine Vergegenwärtigung abwesender Tiere möglich? Für den heutigen Betrachter bringen diese Bilder etwas in die Gegenwart; sie präsentieren abwesende Tiere und Figuren und intensivieren die Darstellung durch den Akt des Zeigens, die Geste des Deiktischen, die wir nur unzulänglich begreifen. Die Felsbilder ermöglichen Wiederholung und Wiederbelebung und intensivieren so die Wahrnehmung. Wir sehen Bilder als Bilder und die auf ihnen dargestellten Figurationen als Bildgegenstände. Was wir als Bild sehen, verweist auf ein Außen, das in einer Beziehung zum Bildgegenstand steht. Manchmal ist diese Beziehung magisch; manchmal ist sie durch Ähnlichkeit gekennzeichnet, manchmal durch kausale Bezugnahmen. Diese Überlagerung unterschiedlicher Bilder in der Wahrnehmung ist eine Folge der Imagination, die erst den Blick auf das Bild und den Rückblick des Bildes auf seinen Betrachter ermöglicht.

Totenbilder und Imagination Zu den wichtigsten weiteren Spuren einer entwickelten Imagination gehören die Grabbeilagen aus den Gräbern der Neandertaler. Unter diesen sind Farben, Ausrüstungen und Proviant, die den Schluss zulassen, dass die Neandertaler an ein Weiterleben nach dem Tode glaubten. In Ferrasie in Frankreich wurden ein Mann, eine Frau und Kinder gefunden, wobei die Kinder mit Ocker bestreut waren. In der Höhle von Shanidar in Kurdistan wurden unter und über den Skeletten Pollen von Rosen, Nelken und Hyazinthen entdeckt, woraus sich folgern lässt, dass die Toten auf Blumen gebettet waren. Aus diesen Spuren lässt sich schließen: Die Lebenden sorgten sich um die Gestorbenen und begriffen diese als nach wie vor zu ihnen gehörig. Sie kannten Schmerz und Trauer und hatten Vorstellungen von der Endlichkeit des menschlichen Le6

Vgl. Wulf 1997; Wulf/Kamper 2002.

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bens, deren Bedrohlichkeit sie mithilfe des Glaubens an ein jenseitiges Leben zu kompensieren hofften. Die Neandertaler hatten nicht nur ausgeprägte Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, sondern auch Vorstellungen von einem Imaginären und der Möglichkeit der Toten, in einer jenseitigen Welt weiterzuleben. Der Tod stellt für sie eine Grenze dar, die die Produktion imaginärer Bilder stark herausfordert. Bis heute sind große Teile des religiösen Imaginären Antworten auf die Vergänglichkeit der Menschen und ihre Auslöschung durch den Tod. Die Erfahrung des Todes und die Produktion von Bildwerken sind eng miteinander verbunden. Das zeigt auch das Bildwerk eines Totenschädels von der melanesischen Insel Neuirland (Abb. 4), der im Totenkult auf einer geschnitzten Holzfigur angebracht und der Schädel des Menschen war, an den man sich im Totenritus erinnerte. Der Schädel war mit Wachs und Kreidepaste überformt und mit Ocker bemalt. Zwei Schneckenschalen waren an den Stellen der Augen angebracht. In diesem Fall fungiert Signifikat „gleichzeitig als Signifikant und irritiert unsere gängige Erwartung, die eine Distanz zwischen der Eigenrealität des Werkes und seinem Sujet voraussetzt."7 Wichtig ist jedoch, dass der Schädel so präpariert wurde, dass er keine einfache Mumie darstellt, sondern in einen anderen imaginären Zusammenhang versetzt wurde, in dem er zum Träger anderer Kräfte wird, die ohne Imagination nicht erfahren werden können.

Abb. 4: Totenschädel der melanesischen Insel Neuirland

7 Boehm 2001.

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Totenschädel und Totenbilder werden erst möglich, als sich eine kollektive Vorstellungswelt, ein kollektives Imaginäres, über ein Jenseits entwickelt hatte. Das zeigen ebenso frühe Werke wie der Totenschädel aus Jericho von vor ca. 7000 Jahren. Mit ihrer Hilfe wurden die Bilder geschaffen, durch die der abwesende Verstorbene in der Gemeinschaft wieder anwesend wurde, allerdings nur als Bild. Hier überlagern sich die Abwesenheit des Verstorbenen und seine Anwesenheit im Bild. Das Bild verweist auf ein Abwesendes und macht es im Bild sichtbar. Es findet seinen Sinn darin, etwas abzubilden, was abwesend ist, also nur im Bild anwesend sein kann.„Das Bild eines Toten ist also keine Anomalie, sondern geradezu der Ursinn dessen, was ein Bild ohnehin ist. Der Tote ist immer schon ein Abwesender, der Tod eine unerträgliche Abwesenheit, die man mit einem Bild füllen wollte, um sie zu ertragen. Deshalb haben die Menschen ihre Toten, die nirgendwo sind, an einen ausgewählten Ort (das Grab) gebannt und ihnen im Bild einen unsterblichen Körper gegeben: einen symbolischen Körper, mit dem sie resozialisiert werden, während sich ihr sterblicher Körper in Nichts auflöst."8 Das Bild bringt etwas zur Erscheinung, was nicht im Bild ist, sondern nur im Bild erscheinen kann. Das griechische Wort phantasia bringt genau dies zum Ausdruck. Die Phantasie bringt im Bild etwas zur Erscheinung, was nicht ist, und schafft damit den Bereich der Ästhetik avant la lettre,9 Was wir im Bild sehen, sind nicht nur Formen, Farben und Figurationen, also die ikonischen Elemente des Bildes; was wir im Bild sehen, sehen wir als das Bild. Dieses sehen in und sehen als ist nur mit Hilfe der Phantasie möglich, die die Welt zur Erscheinung bringt und daher für das menschliche Verhältnis zur Welt konstitutiv ist. Ohne die Imagination gäbe es auch keine Erinnerungen und keine Projektionen von Zukünftigem. Nach der Definition Kants ist die Imagination das Vermögen, „einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen".10 Nach Kants Auffassung ist die Einbildungskraft an sinnlich Wahrgenommenes gebunden. Damit Begriffe Realität bezeichnen, müssen sie von Anschauung begleitet sein. Während dies bei empirischen Begriffen kein Problem darstellt, benötigen Verstandesbegriffe bzw. Vernunftbegriffe Schemata bzw. Symbole zu ihrer Versinnlichung.11 Begriffe wie Staat, Liebe, Tod liegen nach Kants Auffassung keine aus Erfahrung gewonnenen Anschauungen zugrunde. Dennoch kann die Imagination zwischen Begriff und Wahrnehmung dadurch vermitteln, dass sie an vergleichbare Gegenstände der Wahrnehmung erinnert. Die Diskussion über die Rolle der Imagination in der Ästhetik hat deutlich gemacht, dass Imagination mehr ist als die Fähigkeit, Abwesendes in die Ge8 9 10 11

Belting 2001, S. 144. Gebauer/Wulf 1992, bes. S. 4Iff. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 24. Vgl. Kant, ebd., § 49, und § 59 der Kritik der Urteilskraft.

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genwart zu bringen, und sich die Welt einzubilden. Nicht weniger wichtig ist die Fähigkeit der Imagination, vorhandene Ordnungen umzustrukturieren und Neues zu erzeugen. Imagination erlaubt es, Dinge auszugestalten, zu erfinden und Kreativität zu entfalten. Unentschieden ist nach wie vor, in wieweit die Imagination bei der Erzeugung ihrer Werke an die Voraussetzungen der Natur bzw. der Kultur gebunden ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich der Künstler wie die natura naturans, also wie die Schöpfungskraft der Natur verhält, ist mit dieser Metapher nicht geklärt, wie Originalität, Kreativität und Neuheit entstehen. Die Kreativität der Imagination basiert auf dem Akt der inventio, der zwischen actio und passio osziliert und der von einer anderswo herkommenden Kraft in die „Freiheit der Subjektivität" verlagert wird. Die Imagination ist weder „ursprungslos noch nicht-ursprungslos" (Mersch), sondern sie ist den medialen Paradoxien und der Produktivität des Paradoxon geschuldet.

Präsenz - Repräsentation - Simulation Der Mensch ist durch seine Fähigkeit charakterisiert, mit Hilfe der Phantasie Bilder zu schaffen. „Bilder" oszilliert zwischen Bildern mit einem magischen Charakter, in denen das Bild wie im Fall eines Götterbildes mit dem identisch ist, was es zeigt, und den algorithmisch erzeugten Bildern der Simulation, die nichts mehr repräsentieren und nur noch simulieren. Zwischen diesen beiden Bildtypen befinden sich die Bilder, denen ein Repräsentationsverhältnis zugrunde liegt und deren Verhältnis zur Welt und zu anderen Bildern mimetisch ist. Danach lassen sich drei Arten von Bildern unterscheiden: - das Bild als magische Präsenz; - das Bild als mimetische Repräsentation; - das Bild als technische Simulation. Zwischen diesen Arten von Bildern gibt es vielfaltige Überschneidungen. Dennoch erscheint eine solche Unterscheidung sinnvoll; sie ermöglicht es, unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche ikonische Merkmale zu identifizieren. Das Bild als magische Präsenz: Zu den Bildern, die in einer Zeit entstanden, in der Bilder noch nicht zu Kunstwerken geworden waren, gehören Statuetten, Masken, Kultbilder, sakrale Bilder. Unter ihnen spielen Bilder, die Göttern magische Präsenz verschaffen, also Götter- oder Götzenbilder, eine besondere Rolle. Frühe Darstellungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen in Lehm oder Stein aus archaischen Kulturen gehören dazu. Viele Idole, Statuetten und Masken der frühen Zeit sichern durch ihre Existenz die Präsenz des Göttlichen. Auch bei der Verehrung des goldenen Kalbs, von der das Alte Testament berichtet,

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handelt es sich um ein Kultbild, in dem Gott und Bild zusammenfallen und die Präsenz eines Gottes im Kalb verkörpert und versinnbildlicht ist. Während Moses auf dem Sinai die Gebote Gottes empfängt, in denen ausdrücklich verboten wird, sich ein Bild von Gott zu machen und Bilder zu verehren, war das Volk unter Führung von Moses' älterem Bruder Aaron dem alten Bedürfnis der Anbetung eines Bildes gefolgt. In Aaron zeigt sich die bildverehrende, ikonodule, in Moses die bildbekämpfende, ikonoklastische Position, die beide bis heute Grundpositionen im Umgang mit Bildern darstellen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von der Macht der Bilder überzeugt sind. Diese „Macht erwächst aus der Fähigkeit, ein ungreifbares und fernes Sein zu vergegenwärtigen, ihm eine derartige Präsenz zu leihen, die den Raum der menschlichen Aufmerksamkeit völlig zu erfüllen vermag. Das Bild besitzt seine Kraft in einer Verähnlichung, es erzeugt eine Gleichheit mit dem Dargestellten. Das goldene Kalb ist (in der Perspektive der Rituals) - der Gott. Das Bild und sein Inhalt verschmelzen bis zur UnUnterscheidbarkeit."12 Im Reliquienkult des Mittelalters reicht ein kleiner, einem Heiligen zugeschriebener Körperteil aus, den Heiligen präsent zu machen. „Hier liegen die Körper vieler Heiliger", heißt es in der Reliquiensammlung in Conques. Die Heiligen sind präsent, sie werden nicht durch ihre Reliquien repräsentiert. Sie entwickeln ihre heilbringende Kraft für die Gläubigen an dem Ort, an dem sich Teile ihres Körpers befinden. Die Reliquien heiligen den Ort und die Teilnehmer der rituellen Handlungen. Mit Hilfe ritueller Handlungen wird ein Zusammenhang zwischen der Reliquie als bildhafter Verkörperung des Heiligen und dem in Folge der rituellen Handlung erwarteten Heil hergestellt, den man in anderen kulturellen Zusammenhängen magisch genannt hätte. In vielen Werken der modernen Kunst wird nichts außerhalb des Kunstwerks repräsentiert, sondern es wird lediglich eine Präsenz hergestellt, hierin durchaus frühen (kultischen) Werken vor dem Zeitalter der Kunst vergleichbar. Bei Mark Rothko und Barnett Newman werden ausdrücklich Bilderfahrungen des Sakralen bzw. des Numinosen initiiert, etwa in der Rothko-Kapelle in Houston, in der die Farben der Bilder den Betrachter in einem diffusen Schwebezustand lassen, in dem sich „Präsenz und Diffusion" auf geheimnisvolle Weise die Waage halten. Auch die Bilder Newmans konfrontieren den Betrachter mit seiner Grenze und lassen ihn seine Ohnmacht erfahren. In Newmans Selbstverständnis wird hier die Erfahrung des Sublimen möglich. „Diese kennzeichnet die Überforderung der kognitiven Kapazität durch etwas Übergroßes. Das erkennende Versagen an diesem Übergroßen wird zu einem unerwarteten Gewinn. [...] Das Bild Newmans will insoweit gar nichts zeigen (auch nicht bloße Farbflächen); es will in reiner Form wirken, im Beschauer etwas auslösen. Es hebt sich als Bild vollständig auf, in dem Augenblick, da ihm dies gelingt." 13

12 Boehm 1994a, S. 330. 13 Ebd., S. 343.

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Das Bild als mimetische Repräsentation·. Im Werk Piatons werden Bilder zu Repräsentationen von etwas, das sie nicht selbst sind. Sie stellen etwas dar, bringen etwas zum Ausdruck, verweisen auf etwas. Nach Piatons Auffassung produzieren Maler und Dichter nicht wie Gott Ideen und Handwerker Gebrauchsgegenstände. Sie bringen Erscheinungen der Dinge hervor, wobei Malerei und Dichtung nicht auf die künstlerische Darstellung der Dinge beschränkt sind, sondern auf die künstlerische Darstellung der Erscheinungen, wie sie erscheinen. Ziel ist nicht die Darstellung der Ideen oder der Wahrheit, sondern die künstlerische Darstellung von Phantasmen. Daher können Malerei und mimetische Dichtung prinzipiell das Sichtbare zur Erscheinung bringen. 14 Hier geht es um die Bilder und Illusionen schaffende Mimesis, bei der die Differenz zwischen Modell und Abbild unwichtig wird. Ziel ist nicht die Ähnlichkeit, sondern der Schein des Erscheinenden. Bei Piaton werden Kunst und Ästhetik als ein eigener Bereich konstituiert, in dem der Künstler bzw. der Dichter der Meister ist. Dieser hat nach Piaton nicht die Fähigkeit, Seiendes zu produzieren und ist frei vom Wahrheitsanspruch, dem sich die Philosophie zu stellen hat und der dem „Staat" zugrunde liegt. Somit gewinnen Kunst und Ästhetik Unabhängigkeit von den Belangen der Philosophie, ihrer Wahrheits- und Erkenntnissuche, ihrem Bemühen um das Gute und Schöne. Der dafür zu entrichtende Preis ist der Ausschluss aus dem „Staat", der den nicht kalkulierbaren Charakter von Kunst und Dichtung nicht akzeptiert.15 Der künstlerische Gestaltungsprozess zielt also auf die Ausgestaltung eines inneren, dem Maler bzw. Dichter vor Augen stehenden Bildes. Der die Gestaltung leitende Entwurf löst sich mehr und mehr in das Bild auf, das in einem anderen Medium als der imaginierte Entwurf entsteht. Dabei kommt es zu Veränderungen, Auslassungen, Ergänzungen und dergleichen, so dass Ähnlichkeit nur in begrenztem Maß gegeben ist. In den meisten Fällen sind die Vorbilder, auf die sich die Bilder und Entwürfe der Künstler beziehen, unbekannt, da es sie entweder nie gab oder sie nicht mehr erhalten sind. Im Zentrum des künstlerischen Prozesses steht das Bild, das Bezüge zu Vorbildern enthält und aus einem Transformationsvorgang entsteht. Die (mimetische) Herstellung von Repräsentationen gehört zu den elementaren anthropologischen Fähigkeiten. Eines ihrer zentralen Themen ist der menschliche Körper. In den Porträts der Renaissance und in den Fotografíen der Gegenwart werden menschliche Körper abgebildet, die Menschen repräsentieren. In Form von Körperbildern stellen Fotografien Menschen in wichtigen Situationen ihres Lebens dar. An solche und an andere Formen der Repräsentation sind Fragen des menschlichen Selbstverständnisses gebunden. Ohne Bilder von uns selbst, also Repräsentationen unserer selbst, sind wir uns nicht verständlich. Um die Grenzen der Möglichkeiten menschlicher Selbstwahr-

14 Platon, Politela, 598a. 1971, S. 801f. 15 Vgl. Gebauer/Wulf 1992, bes. Teil I.

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nehmung zu begreifen, ist die Einsicht in den Bildcharakter solcher Repräsentationen unerlässlich. Seit frühester Zeit schaffen Menschen Bilder vom menschlichen Körper. Diese Körperbilder sind Menschenbilder, wie Menschendarstellungen immer Körperdarstellungen sind. Die Bilder stellen den Körper, der sich in historischer Zeit in biologischer Hinsicht nicht verändert hat, unterschiedlich dar. Eine Geschichte dieser Bilder ist repräsentativ für eine Geschichte des menschlichen Körpers. Sie ist zugleich eine Geschichte der Menschendarstellungen und Menschenbilder. Daraus lässt sich folgern: „Der Mensch ist so, wie er im Körper erscheint. Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zu sein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion eines Körperbilds, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers vorgegeben ist. Das Dreieck Mensch-Körper-Bild ist nicht auflösbar, wenn man nicht alle drei Bezugsgrößen verlieren will."16 Das Bild als technische Simulation·. Alles hat heute eine Tendenz, zum Bild zu werden: Selbst opake Körper werden transformiert, sie verlieren ihre Undurchsichtigkeit und Räumlichkeit, werden transparent und flüchtig. Abstraktionsprozesse münden in Bilder und Bildzeichen. Überall begegnet man ihnen; nichts ist mehr fremd und überwältigend. Bilder bringen Dinge, „Wirklichkeiten" zum Verschwinden. Neben der Überlieferung von Texten werden zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit auch Bilder in großem Ausmaß gespeichert und tradiert. Fotos, Filme, Videos werden zu Gedächtnishilfen, Bildgedächtnisse entstehen. Bedurften Texte bisher der Ergänzung durch imaginierte Bilder, so wird die Imagination heute durch die Produktion von „Bildtexten" und ihre Überlieferung eingeschränkt. Immer weniger Menschen gehören zu den Produzenten, immer mehr zu den Konsumenten vorgefertigter, kaum noch die Einbildungskraft herausfordernder Bilder.17 Bilder sind eine spezifische Form der Abstraktion; ihre Flächigkeit transformiert den Raum. Der elektronische Charakter von Fernseh-Bildern ermöglicht Ubiquität und Beschleunigung. Solche Bilder können annähernd simultan an allen Orten der Welt verbreitet werden.18 Sie miniaturisieren die Welt und ermöglichen die spezifische Erfahrung der Welt als Bild. Sie stellen eine neue Form der Ware dar und unterliegen den ökonomischen Prinzipien des Marktes. Sie werden selbst dann produziert und gehandelt, wenn die Gegenstände, auf die sie sich beziehen, nicht zu Waren werden. Bilder geraten in einen Austausch mit anderen, werden auf andere bezogen; in ihnen werden Bildteile aufgegriffen und anders zusammengesetzt; fraktale Bilder werden erzeugt, die jedes Mal neue Ganzheiten bilden. Sie bewegen sich, verweisen aufeinander. Bereits ihre Beschleunigung gleicht sie einander an: Mimesis der Geschwin16 Belting 2001, S. 89. 17 Vgl. Baudrillard 1987. 18 Vgl. dazu u. a. Virilio 1990,1993,19%.

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digkeit. Aufgrund ihres flächigen, elektronischen und verkleinernden Charakters werden Bilder trotz inhaltlicher Unterschiede einander immer ähnlicher. Sie reißen die Betrachter mit. Sie faszinieren und ängstigen. Sie lösen die gewordenen Beziehungen zwischen den Dingen und Menschen auf und überfuhren sie in eine Welt des Scheins. Die Welt, das Politische und das Soziale werden ästhetisiert. In einem mimetischen Prozess suchen Bilder Vorbilder, um sich ihnen anzugleichen; sie werden zu neuen fraktalen Bildern ohne Referenzrahmen transformiert. Eine Promiskuität der Bilder entsteht. Rauschhafte Spiele mit Simulakren und Simulationen entwickeln sich: äußerste Differenzierung der Bilder bei gleichzeitiger Implosion ihrer Differenz. Die Bilder als Bilder sind die Botschaft (McLuhan). Bilder werden mit Lichtgeschwindigkeit verbreitet. Eine Welt des Scheins und der Faszination entsteht, die sich von der „Wirklichkeit" loslöst. Die Welt des Scheins breitet sich aus und hat eine Tendenz, den anderen „Welten" ihren Realitätsgehalt zu nehmen. Mehr und mehr Bilder werden produziert, die nur noch sich selbst zum Bezugspunkt haben und denen keine Wirklichkeit entspricht. In letzter Konsequenz wird alles zu einem Spiel von Bildern, in dem alles möglich ist, so dass auch ethische Fragen an Bedeutung verlieren. Wenn alles zum Spiel von Bildern wird, sind Beliebigkeit und Unverbindlichkeit unvermeidbar. Die so erzeugten Bilderwelten wirken auf das Leben zurück. Eine Unterscheidung zwischen Leben und Kunst, Phantasie und Wirklichkeit wird immer schwieriger. Beide Bereiche gleichen sich einander an. Das Leben wird zum Vor-Bild der Welt des Scheins und diese zum Vor-Bild des Lebens. Das Visuelle entwickelt sich hypertrophisch. Die Welt wird transparent; die Zeit wird verdichtet, als gäbe es nur noch die Gegenwart der beschleunigten Bilder. Die Bilder ziehen das Begehren an, binden es, entgrenzen und verringern die Differenzen. Zugleich weichen sie dem Begehren aus; bei gleichzeitiger Anwesenheit verweisen sie auf Abwesendes. Dinge und Menschen verlangen nach einer Überschreitung in Bildern. Bilder werden zu Simulakren.19 Sie beziehen sich auf etwas, gleichen sich an und sind Produkte eines Mimikry-Verhaltens. Politische Auseinandersetzungen werden nicht um ihrer selbst willen geführt, sondern für die Verbildlichung und Verbreitung im Fernsehen inszeniert. Was als politische Kontroverse stattfindet, ist bereits auf seine Verbildlichung ausgerichtet. Die Fernsehbilder werden zum Medium politischer Auseinandersetzung. Die Zuschauer sehen die Simulation einer politischen Kontroverse, in deren Verlauf alles so inszeniert wird, dass sie glauben sollen, die politische Auseinandersetzung sei authentisch. Alles ist immer schon auf eine Transformation in die Welt des Scheins angelegt. Insoweit diese gelingt, ist die Kontroverse erfolgreich. Als Simulation der Politik entstehen die Wirkungen des Politischen. Simulationen zeigen höhere Wirkungen als „wirkliche" politische Auseinandersetzungen.

19 Vgl. Baudrillard 1981,1987,1990,1992, 1995.

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Simulakren befinden sich auf der Suche nach Vor-Bildern, die erst durch sie selbst geschaffen werden. Simulationen werden Bild-Zeichen, die Rückwirkungen auf den Charakter der politischen Kontroverse haben. Grenzziehungen zwischen Wirklichkeiten und Simulakren werden schwierig; Entgrenzungen haben zu neuen Überschneidungen und Durchdringungen gefuhrt. Mimetische Prozesse lassen die Vor-Bilder, Ab-Bilder und Nach-Bilder zirkulieren. Ziel der Bilder ist es, nicht mehr Vor-Bildern, sondern sich selbst zu gleichen. Ähnliches geschieht im Bezug auf Menschen. Ziel ist die außerordentliche Ähnlichkeit der Individuen mit sich selbst, erreichbar als Wirkung produktiver Mimesis vor dem Hintergrund umfassender Differenzierungen im gleichen Subjekt.

Innere Bilder - Imaginationen War bisher von Bildern die Rede, die der Mensch als homo pictor erzeugt und außerhalb seines Körpers in verschiedenen Medien realisiert, so wenden wir uns nun den inneren Bildern zu, die das menschliche Bewusstsein konstituieren. Die menschliche Imagination fuhrt dazu, die äußere Welt in Bilder zu verwandeln und diese ins menschliche Bewusstsein zu überführen. Dies geschieht bereits bei der Wahrnehmung, bei der wir keine Bilder sähen, gäbe es in uns nicht die Bilder erzeugende Kraft der Imagination. Sie ist es, die uns in eine kulturelle und historische Ordnung einfügt, durch die unser Verhältnis zu den Dingen und zu den anderen Menschen bestimmt wird. In einer Anähnlichung an die Welt entstehen deren Bilder in uns. Dieser auf die Welt gerichtete Prozess wird durch den Wunsch angetrieben, sich der Welt gegenüber zu öffnen und sie sich zugleich in Form von Wahrnehmungs- und Erinnerungsbildern anzueignen. Bei der Mehrzahl der inneren Bilder kommt es zu Überlagerungen zwischen individuellen und kollektiven inneren Bildern des Imaginären und den Bildern der äußeren Welt. Die innere Bilderwelt eines sozialen Subjekts ist einmal bedingt durch das kollektive Imaginäre seiner Kultur, zum anderen durch die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der aus seiner individuellen Geschichte stammenden Bilder und schließlich durch die wechselseitige Überlagerung und Durchdringung beider Bilderwelten. Die pädagogische Biographieforschung hat in den letzten Jahren zur Rolle und Funktion dieser inneren Bilderwelten wichtige Einsichten gewonnen. Im Weiteren möchte ich sieben Arten innerer Bilder unterscheiden, Bilder als Verhaltensregler, Orientierungsbilder, Wunschbilder, Willensbilder, Erinnerungsbilder, mimetische Bilder, archetypische Bilder Bilder als Verhaltensregler·. Hier ist die Frage, ob, und wenn ja bis zu welchem Ausmaß, der Mensch mit vererbten Verhaltensstrukturen ausgestattet ist. Zwar ist unstrittig, dass der Hiatus zwischen Reiz und Reaktion für den Men20 Vgl. Flügge 1963.

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sehen charakteristisch ist; doch bedeutet diese Tatsache nicht, dass menschliches Verhalten nicht durch ererbte innere Bilder und Verhaltensmuster beeinflusst wird. Die Ethologie hat in den letzten Jahren wichtige Erkenntnisse über die Wirksamkeit von „Auslöse-Bildern" im Zusammenhang mit den elementaren menschlichen Verhaltensweisen des Essens und Trinkens, der Fortpflanzung und der Aufzucht der nachwachsenden Generation gewonnen. Orientierungsbilder: Sozialisation und Erziehung vermitteln tausende von Orientierungsbildern, die es dem jungen Menschen möglich machen, sich in seiner Lebenswelt zurechtzufinden und sein Leben zu fuhren. Viele dieser Bilder sind äußerst eingängig, leicht reproduzierbar und daher in sozialer Hinsicht sehr wirksam. Diese Bilder sind öffentlich; sie werden von vielen Menschen geteilt; sie „vernetzen" sie; über die Beteiligung an solchen Bildnetzen wird Gemeinsamkeit, Zugehörigkeit, Kollektivität geschaffen. Unter dem Einfluss der Globalisierung weiten sich diese Bildnetze über die Grenzen der nationalen Kulturen weltweit aus und schaffen neue transnationale Bewusstseinsformen. Wunschbilder: In struktureller Hinsicht ähneln sich triebbesetzte Bilder und Wunschphantasmen; in ihren konkreten Ausprägungen sind sie oft verschieden. Für die Ausrichtung menschlichen Handelns und Träumens sind sie von erheblicher Bedeutung. Oft zielen sie darauf, das Begehren zu befriedigen und beinhalten zugleich das Wissen von der Unmöglichkeit, Wünsche zu erfüllen. Willensbilder. Während Wunschphantasmen auf Haben und Genießen gerichtet sind, sind Willensphantasmen Projektionen von Handlungsenergie. Im vom Willen gesteuerten Wünschen manifestiert sich der menschliche Antriebsüberschuss. In der Fähigkeit zu einem vom Willen gelenkten Wünschen liegt der Ursprung menschlicher Arbeit und Kultur. Erinnerungsbilder: Erinnerungsbilder sind für den spezifischen Charakter einer Person bestimmend. Partiell sind sie verfügbar und gestaltbar; zum Teil entziehen sie sich der Verfügung durch das Bewusstsein. Viele entstammen der Wahrnehmung, andere gehen auf imaginäre Situationen zurück. Erinnerungsbilder überlagern neue Wahrnehmungen und gestalten diese mit. Sie sind das Ergebnis einer Selektion, in der Verdrängung und bewusst motiviertes Vergessen im Sinne von Verzeihen eine Rolle spielen. Erinnerungsbilder konstituieren die Geschichte eines Menschen. Sie sind an Räume und Zeiten aus seinem Leben gebunden. Erinnerungsbilder beziehen sich auf Leid und Freude; sie sind verbunden mit Versagen und Erfolg. Sie bringen sich in Erinnerung und ermöglichen die Gleichzeitigkeit von Vergangenem und sind Hilfe gegen die Unerbittlichkeit der Zeit. Mimetische Bilder: Schon Piaton hat darauf verwiesen, dass Bilder als Vorbilder unser mimetisches Vermögen herausfordern. Bei diesen Vorbildern kann es sich um lebende Personen, aber auch um imaginäre Bilder handeln. Nach Piatons Auffassung ist der Zwang zur Nachahmimg so stark, dass man sich ihm - vor allem im kindlichen und jugendlichen Alter - nicht widersetzen

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kann. Piatons Position lautet daher: bewusste Nutzung aller nachahmenswerten Bilder für die Erziehung und Ausschluss aller die Erziehung gefährdenden Bilder. Anders Aristoteles: Für ihn kommt es darauf an, die Menschen durch die kontrollierte Konfrontation mit dem Unerwünschten zu befähigen, sich diesem widersetzen zu können. In den Fragen nach der Wirksamkeit von Gewalt in den Neuen Medien tauchen beide Positionen wieder auf.21 Archetypische Bilder. C. G. Jung bestimmt ihre Bedeutung für das individuelle Leben wie folgt: „Alle großen Erlebnisse des Lebens, alle höchsten Spannungen rühren deshalb an den Schatz dieser Bilder und bringen sie zur inneren Erscheinung, die als solche bewußt wird, wenn soviel Selbstbesinnung und Fassungskraft vorhanden ist, daß das Individuum auch denkt, was es erlebt, und nicht bloß tut, d. h. ohne es zu wissen, den Mythos und das Symbol konkret lebt."22 Man muss die etwas dubiosen Erklärungen zur Entstehung des „kollektiven Unbewussten" und der Archetypen nicht übernehmen, um anzuerkennen, dass jede Kultur große Leit- und Schicksalsbilder entwickelt hat, die in den Träumen und in den kulturellen Produktionen der Menschen eine das menschliche Handeln beeinflussende Rolle spielen.

Der Blick auf Bilder - der Blick der Bilder Die Bilder der Präsenz, der Repräsentation, der Simulation und auch viele der mentalen Bilder entstehen erst dadurch, dass sie oder die ihnen zugrunde liegenden Figurationen angeblickt werden. Doch was heißt anblicken? Blicke können sehr unterschiedlich sein. Sie können bescheiden, gütig, ungeduldig, böse, zornig usw. sein. Blicke sind eng mit der Geschichte des Subjekts und der Subjektivität sowie des Wissens verbunden. In ihnen drücken sich Macht, Kontrolle und Selbstkontrolle aus. In ihnen zeigen sich das Verhältnis zur Welt, zu anderen Menschen und das Selbstverhältnis. Die Blicke der Anderen konstituieren das Soziale. Intime Blicke lassen sich von öffentlichen Blicken unterscheiden. Jedoch sind beide Formen des Blickens nicht nur individuell, sondern auch sozial und an das kollektive Imaginäre und die sich in ihm artikulierenden Menschenbilder gebunden. Weder als Flamme, die die Welt erst sichtbar macht, noch als Spiegel, der sie nur aufnimmt und reflektiert, ist der Blick angemessen beschrieben. Der Blick ist sowohl aktiv als auch passiv; er richtet sich auf die Welt und empfängt sie zugleich. Wie dieses Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität gestaltet wird, ist in der Geschichte des Sehens unterschiedlich bestimmt worden. Spätestens seit den Arbeiten von Merleau-Ponty muss man davon ausgehen, dass auch die Welt und damit auch die von den Menschen geschaffenen Bilder uns anblicken. Der Blick ist chiastisch; in ihm kreuzen sich Welt und Mensch. Im Blick können Menschen sehr 21 Gebauer/Wulf 1992, 1998; Wulf 2005; Hüppauf/Wulf 2006. 22 Jung 1968, S. 311.

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vieles ausdrücken und sodann dieses leugnen. Denn der Blick ist spontan und nicht dauerhaft. Er macht die Dinge sichtbar und ist zugleich Ausdruck des Menschen. Bezogen auf die Bilder der Kunst ergeben sich im Hinblick auf die Kunst folgende Überlegungen: „Die Blicke sind schon im Bild, bevor sie auf ein Bild treffen. Nur deshalb ist es möglich, die Bildgeschichte für eine Geschichte des Blicks heran zu ziehen".23 Deshalb gibt eine Ikonologie des Blicks Aufschlüsse über die Vielfalt der historischen und kulturellen Bildpraxen. Der Blick wechselt zwischen Bild, Körper und Medien hin und her; er verweilt weder im Körper noch im Bild, sondern entfaltet sich im Zwischenfeld zwischen ihnen; er lässt sich nicht festmachen und hat die Wahl, wie er sich den Medien gegenüber verhält. Bilder ködern den Blick und machen ihn „in unserem Bildverlangen selbst zum Objekt". In den Kunstwerken geht die primäre Bildpraxis des Körpers in eine sekundäre Bildpraxis hinüber. Im Erblicken von Bildern, die kein eigenes Leben haben, entfaltet sich die Imagination. Im Blick in den Spiegel oder durch das Fenster können wir des Blicks gewahr werden. Beim Umgang mit den Bildern spielt der mimetische Blick eine wichtige Rolle. In diesem öffnet sich der Betrachter der Welt. Durch Anähnlichung an sie weitet er seine Erfahrungswelt aus. Er nimmt ein Abbild von der Welt und inkorporiert es in seine mentale Bilderwelt. Durch einen sehenden Nachvollzug der Formen und Farben, des Materials und seiner Strukturen werden diese in die Innenwelt transformiert und Teil seines Imaginären. In einem solchen Prozess wird die Einmaligkeit der Welt in ihrer historischen und kulturellen Ausprägung aufgenommen. Dabei geht es darum, Welt und Bild vor schnellen Deutungen zu schützen, durch die es in Sprache und Bedeutung transformiert, jedoch als „Bild" erledigt wird. Vielmehr gilt es die Unsicherheit, Vieldeutigkeit, Komplexität der Welt auszuhalten, ohne Eindeutigkeit herzustellen. Im mimetischen Nachvollzug setzt man sich der Ambivalenz der Welt und der Bilder aus. In diesem Prozess gilt es, den Ausschnitt der Welt bzw. das Bild „auswendig" zu lernen. Bezogen auf Bilder bedeutet das: Man muss die Augen schließen und das gesehene Bild mit Hilfe der Imagination vor dem inneren Auge erzeugen und seine Aufmerksamkeit auf es richten, es gegenüber anderen vom inneren Bilderstrom herangetragenen Bildern schützen und mit Hilfe der Konzentration und Denkkraft das Bild „festhalten". Das Nachschaffen eines Bildes in der Anschauung ist der erste Schritt, es festhalten, an ihm arbeiten, es in der Imagination zur Entfaltung bringen sind weitere Schritte einer mimetischen Auseinandersetzung mit Bildern. Die Reproduktion eines Bildes in der Anschauung, das aufmerksame Verweilen bei ihm ist keine geringere Leistung als der interpretatorische Umgang mit ihm. In Bildungsprozessen ist die Verschränkung dieser beiden Aspekte der Auseinandersetzung mit Bildern die Aufgabe.

23 Belting 2006.

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Ausblick Die Fähigkeit der Menschen, die Welt in der Wahrnehmung in Bilder zu verwandeln und diese zu inkorporieren, ist eine conditio humana. Sie ist die Voraussetzung für Erinnerungen und Projektionen von Zukunft und damit für Tradition und Geschichte sowie historischen und kulturellen Wandel. Imagination ist nicht nur die Fähigkeit, Abwesendes anwesend zu machen; sie ermöglicht auch Umgestaltungen, die Erzeugung von Differenzen und Erfindungen des Neuen. Mit Hilfe des Blicks verwandeln Menschen Außenwelt in Innenwelt und Innenwelt in Außenwelt und drücken ihr Verhältnis zur Welt aus. Seine chiastische Struktur führt zur Entstehung innerer Bilderwelten, in denen sich individuelles und kollektives Imaginäres überlagern. Imagination ist nicht nur an das Sehen gebunden. Im Grunde genommen ist sie eine synästhetische Kraft, die für das Hören, Tasten, Riechen und Schmecken kaum weniger wichtig ist als für das Sehen. Dass Imagination in etymologischer Hinsicht das Sehen präjudiziell, ist ein Charakteristikum unserer Kultur und Geschichte, die das Welt- und Selbstverhältnis der europäischen Kulturen bestimmt. Für die Rolle der Künste im Dialog der Kulturen ist die Einbildungskraft von zentraler Bedeutung. Sie macht es möglich, sich dem Fremden anzunähern, sich von ihm faszinieren zu lassen und in Prozessen der Anähnlichung seine Alterität zu begreifen.

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Christoph Wulf

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Angelika Neuwirth

OPFER, GEWALT, GENEALOGIE UND ERINNERUNG

Biblische und koranische Erinnerungsfiguren im vorderorientalischen Märtyrerdiskurs

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¡ú.lHXyJ'AUhlM Am jüngsten Tag wird Gott der Erhabene die Menschen an einem einzigen Ort versammeln und die Waagen aufrichten, um das Blut der Märtyrer und die Tinte der Gelehrten gegeneinander zu wiegen. Dann wird sich die Tinte der Gelehrten als schwerer erweisen als das Blut der Märtyrer.1

1. Die Voraussetzungen Die Tinte der Gelehrten wiegt schwerer als das Blut der Märtyrer - dieses im arabischen Original reimende Motto, überliefert auf Autorität des schiitischen Imam Ja'far al-Sadiq (t 765),2 erhebt den ehrgeizigen Anspruch, den Wettstreit zwischen zwei maßgeblichen der klassischen islamischen Kultur unterliegenden Narrativen zu entscheiden: Heldentum und religiöse Weisheit. Während das Spannungsfeld von Blut und Tinte in der arabischen Literatur häufig durch die säkularen Korrelate Schwert und Schreibrohr evoziert wird, um militärische Macht und textbegründetes Wissen zu kontrastieren - mit Ibn Khalduns Worten: „Beide, Schreibrohr und Schwert sind Instrumente des Herrschers bei der Durchsetzung seiner Angelegenheit"3 - , setzt der Ausspruch des Imams einen sakralen Kontext voraus. Nicht nur führt er den Adel der Tinte auf den normativen religiösen Diskurs zurück, er verbindet auch Blut mit seiner wichtigsten sakralen Funktion, nämlich dem Märtyrertum. Im Folgenden sollen einige der sich im vorderorientalischen Märtyrerdiskurs immer wieder abzeichnenden Verkettungen beider Macht-Embleme verfolgt werden, angefangen beim Koran über den klassischen Islam bis hin zur Moderne. 1 Für die kalligraphische Darstellung des (verkürzten) Ausspruches danke ich Prof. Dr. Vahid Behmardi, Lebanese American University of Beirut. 2 Der Ausspruch wird überliefert von al-'Amili 2006, S. 342. 3 Zit. η. Messick 1993, S. 2. - Während der Abbasidenzeit bildete sich die Unterscheidung zwischen den beiden sozialen Klassen des Militärs und der Gelehrten heraus; ihre Bezeichnung als „Leute des Schwertes" und „Leute des Schreibrohrs" überlebte bis in die Osmanenzeit.

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Angelika Neuwirth Rituelle vs. textuelle Kohärenz

Zunächst zur Schrift: Jan Assmann (1997) hat auf die einschneidende epistemologische Wende, die sich in den Kulturen mit der Einfuhrung von Schrift vollzieht, aufmerksam gemacht. Diese Wende ermöglicht es Kulturen nicht nur, sich in die Geschichte einzuschreiben, indem sie ihre Vergangenheit und Gegenwart systematisch aufzeichnen, sie fuhrt auch gesellschaftlich einen Wandel herbei, indem sie ältere Formen der Herstellung von sozialer Kohärenz - darunter blutige Rituale - durch ein neues und flexibleres Medium ersetzt. Assmanns Modell zufolge macht,»rituelle Kohärenz" „textueller Kohärenz" Platz. In der islamischen Kultur ereignet sich diese Wende im vollen Licht der Geschichte, nämlich mit dem Prozess der ersten Kommunikation des Koran selbst (Neuwirth 1996). Schrift, die bis dahin ein nur sporadisch benutztes Medium gewesen war, nahm nun eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der Offenbarung an. Es war aber weniger diese technische Notwendigkeit als ein tiefergreifender Erziehungsprozess, der dazu führte, dass Schrift in das Bewusstsein der frühesten Muslime eindrang. Koranische Texte zeigen, dass die Gemeinde bereits sehr früh sich eines neuen spirituellen Privilegs bewusst wurde, nämlich Zugang zum Archiv himmlischer Schrift zu haben, zur „wohlbewahrten" Tafel, al-lawh al-mahfuz, von der sie Abschnitte - sukzessiv vom Propheten Muhammad verlautbart - verkündet bekamen. Diese Abschnitte aus der himmlischen Schrift enthielten Heilsgeschichte, sie boten damit eine Gegenvision zu der genealogiegestützten Geschichte, die lokal mündlich überliefert wurde. Mit der Annahme der biblischen Tradition anstelle ihres eigenen arabischen Wissens wandte sich die Gemeinde von ihrer realen Welt ab und näherte sich einer Textwelt an, die nicht mehr genealogisch durch Blutsbande bestimmt war, sondern von der Erinnerung an spirituelle Vorfahren, die Israeliten, getragen wurde; eine biologische Genealogie machte damit einer schriftgestützten Platz. Indem sich die Gemeinde von der Kaaba, dem Ort alter Blut involvierender Riten nicht nur geistig, sondern auch physisch im rituellen Gebet abwandte, suchte sie mit der Einnahme der Gebetsrichtung nach Jerusalem die Orientierung an einem „Schrift-Heiligtum", dem Jerusalemer Tempel, der ihnen vor allem in seiner post-biblischen Bedeutung, als Zentrum des in der Bibel als Szenerie vorausgesetzten Heiligen Landes, bekannt war. Mit der Wende von der rituellen zur textuellen Kohärenz tritt der Akt des Schreibens ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Der Koran evoziert vielfach den Akt himmlischen Schreibens, nennt das Schreibrohr, die Schreibtafel, die Urschrift, umm al-kitab, und ungezählte Male das himmlische Buch, al-kitab, zu dem sich der werdende Koran verhält wie eine Sammlung von mündlich mitgeteilten Exzerpten. Göttliche Schrift ist in koranischer Sicht transzendent, sie wird zugänglich einzig durch mündliche Artikulation.

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Die Biblischen Präzedenzen und der Koran Tafelübergabe, Eucharistie und Bund in der Präexistenz Dagegen fuhrt die Hebräische Bibel Schrift sehr viel dramatischer ein. Moses empfangt Gottes Schrift, die Tafeln, die von Gott selbst geschrieben (Dtn. 4:13) oder zumindest diktiert (Ex. 34:28) sind, von Gott persönlich. Die Übergabe der Tafeln (Abb. 1), die für das Judentum den göttlichen Bund mit den Israeliten besiegelt, wird in der westlichen Kultur (Abb. 2) als das Gründungsereignis des biblischen Monotheismus als solchen betrachtet. Sie markiert die entscheidende zivilisatorische Wende von der früheren Vorstellung, nach welcher göttliche Mächte in der Welt immanent und in Bildern zugänglich sind, zur Akzeptanz eines abwesenden Gottes, der sich in abstrakten, nicht sinnlichen Zeichen darstellt, die dekodiert werden müssen, um gelesen zu werden.

Abb. 1-2: Die Übergabe der Tafeln jüdisch (links) und christlich (rechts) 4

Friedrich Wilhelm Graf hat die grundlegende Dimension dieser Tafelbeschreibung für die Religionsgeschichte deutlich gemacht: Am Sinai schloß der transzendente Gott mit seinem Volk einen Bund, dessen Bedingungen buchstäblich die Moralgesetze sind. Dieser Bundesschluß am Sinai bedeutete, religionshistorisch gesehen, eine völlig neue Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und Mensch, geprägt durch radikale Transzendenz Gottes, unbedingten Anspruch auf exklusive Verehrung durch sein Volk und eine moralische wie rechtliche Ordnung.5 4 (1): Haggadat Sarajevo (17. Jahrhundert); (2): Lukas Cranach der Ältere (1516). 5 Graf 2005, S. 34.

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Die „mosaische Wende" erscheint in der christlichen Religion, wo der Bund durch Schrift von einem Bund durch Opfer überlagert wird, zumindest teilweise rückgängig gemacht. Christi Leib stellt das göttliche Wort in einer unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren Form dar. Er wird dem Lamm verglichen, dessen Blut in der biblischen Yom Kippur-Zeremonie die Schuld der Gemeinde sühnt (Abb. 3). Die biblischen Worte, die Moses Einsetzung jenes Sühne-Opfers begleiten, und die Worte der Eucharistie, die das stellvertretende Opfer von Christi Blut verkünden, sind weitgehend identisch. Ex. 24:8 heißt es: ,Aloses nahm das Blut, sprengte es über das Volk und sprach: Dies ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch geschlossen hat alle diese Worte betreffend". Die Einsetzungsworte Christi (Mk. 14:23f.) lauten: „Und er nahm den Kelch [...] und sprach zu ihnen: ,Dies ist mein Blut des neuen Bundes, das vergossen wird fiir viele'." In der christlichen Ikonographie wird das Opfer wieder eng mit der Schrift verbunden. Das ist besonders deutlich in Bildern, die Christus als Lehrer der Apostel, ein offenes Buch vor sich haltend, darstellen (Abb. 5), um so die intime Verbindung zwischen Körper und Schrift, die Absorption des geschriebenen Gotteswortes in den durch Christi Blut erreichten Akt der Erlösung zu dokumentieren.

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Abb. 3-5: Christus, Lamm Gottes/Das Opfer am Kreuz/Christus, Lehrer der Apostel6

Vom Islam heißt es oft, er habe diese „christliche Wende" seinerseits wieder rückgängig gemacht. Obwohl das Ereignis der Tafelübergabe im Koran berichtet wird (Sure 7), gibt es, wie angesichts des islamischen Bilderbanns nicht anders zu erwarten, keine Darstellung der Tafelübergabe. Die Tafelübergabe 6

(3): Mosaik aus Ravenna, San Vitale; vgl. Volbach/Hirmer 1958, S. 161; (4): Beaumont-Psalter, 13. Jahrhundert; (5): Bulgarische Ikone, 14. Jahrhundert.

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ist kein koranisches Schlüsselereignis (Neuwirth 2004a). Die biblische Tafelübergabe, die den Israeliten den Status eines erwählten Volkes verleiht, ist aus koranischer Sicht vielmehr Episode. Mose hat wie andere Propheten auch eine Schrift, kitab, empfangen, die wie jene ein Exzerpt der einzig zählenden Tafel, der rein transzendenten lawh al-mahfuz, ist. Dennoch gibt es ein koranisches Gegenstück zum Mose-Bund, der jedoch - wenig verwunderlich - gänzlich anikonisch ist: Es ist ein Bund, der nicht mit einem erwählten Volk in der Geschichte, sondern mit der Menschheit als ganzer in der Präexistenz geschlossen worden ist. In dem bekannten Vers 7.172 formuliert Gott sein biblisches erstes Gebot: „Ich bin der Herr, Dein Gott", in eine rhetorische Frage um und erinnert so die noch unerschaffenen Nachkommen Adams an seinen Bund: „Als dein Herr aus dem Rücken der Kinder Adams deren Nachkommenschaft nahm und sie gegen sich selber zeugen ließ: ,Bin ich nicht euer Herr?', da sprachen sie: ,Ja, wir bezeugen es.' - Dies taten wir, damit ihr am Tag der Auferstehung nicht sagt: ,Wir waren uns vorher dessen nicht bewusst'." Auf diese Weise wird jede Assoziation an eine mythische Identitätsstiftung, die Erinnerung sowohl der biblischen Tafelübergabe als auch der neutestamentlichen Opferstiftung, ausgeschlossen, die biblischen Insignia der Erwählung werden gleichsam demokratisiert. Der Koran sagt sich damit von grundlegenden Traditionen seiner Vorgängerreligionen los. Das drückt sich positiv auch darin aus, dass das Bild vom leidenden Christus am Kreuz (Abb. 4) im Koran durch ein ganz anderes JesusBild ersetzt ist. Es gibt kein Selbstopfer Christi, Jesus, der wie alle im Koran figurierenden Propheten Verfolgung seitens seines unbotmäßigen Volkes erleidet, wird - wie alle Propheten im koranischen Schema - durch göttliche Intervention gerettet, er wird zum Himmel erhoben, von wo er dereinst zurückkehren wird, um den Antichrist zu besiegen und das Weltende vorzubereiten. Jesus leidet nicht am Kreuz, ein anderer wird an seiner Stelle getötet. Unter den drei ikonographisch besonders repräsentativen Christus-Bildern (Abb. 3-5) sind daher die beiden ersten, allegorisches Lamm und Kreuzesmarter, mit dem koranischen Diskurs inkompatibel, lediglich das dritte, die Ikone des lehrenden Christus, passt zu seiner koranischen Rekonfiguration als Schrift-Überbringer. Wenn sich auch die Sicht einiger westlicher Forscher (Wolfson 1976, S.244ff.), der Islam habe die christliche Doktrin der Inkarnation durch eine Inlibration, eine Projektion des Buches, d.h. des Koran, als neuem Körper des göttlichen Wortes ersetzt, nicht halten lässt, so hat doch das transzendente Wesen der koranischen Urschrift gewiss Teil an der Entwicklung einer islamischen Ästhetik, die sich in einzigartiger Weise mit Schrift verbindet. Bedenkt man, dass dem Koran zufolge alle erschaffenen Dinge in der himmlischen Urschrift verzeichnet und so „technisch" gesehen bereits einmal durch das Medium der Schrift hindurchgegangen sind, wird verständlich, dass die islamische Kunst weniger figürlich als kalligraphisch orientiert ist. Sprache und Schrift vereinen sich zum Bild, das - wie die Mystiker sagen - das verborgene Antlitz Gottes ver-

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herrlicht. Diese Doppelfunktion der Schrift von Zeichensystem und Bild zeigt sich zum ersten Mal in der Inschrift im Felsendom in Jerusalem aus dem Jahr 691 (Abb. 6), wo sich Schrift kaum von Ornament unterscheiden lässt; sie manifestiert sich in der islamischen Kunst auch weiterhin (Schimmel 1990; vgl. Abb. 7-8).

Abb. 6: Felsendom-Inschrifit (691) (Aufnahme: Amina Avdovic)

Abb. 7: Koranhandschrift aus dem 10./11. Jahrhundert7 7 Die ersten beiden Seiten des Ibn al-Bawwab-Kodex, s. Rice 1980.

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Abb. 8: Kalligraphie-Tafel (levha) aus dem Jahr 18808

2. Die Entstehung des Märtyrertums Koran und Opfer Der Koran ent-zeitlicht aber nicht nur den biblischen Schreibakt Gottes, sondern negiert auch den biblischen Anspruch auf die erlösende oder entsühnende Kraft von Blut im rituellen Kontext. Das Verhältnis der koranischen Gemeinde zum Opfer ist ambivalent. Der Islam betrachtet Blut grundsätzlich als „unrein", während es im Judentum gerade als Unreinheit beseitigend („ impurity-detergent"', Maghen 2004) gilt. Zwar werden im Koran wie in der Hebräischen Bibel Tieropfer vorgeschrieben (Q 22:36f.),9 diese folgen jedoch nicht biblischen Vorbildern, sondern sind Übernahmen aus dem paganen mekkanischen Wallfahrts-Kult. Insofern aber die gesamte Institution der Wallfahrt, des Hajj - ursprünglich ein Jahreszeitenwende-Ritus - , im Koran heilsgeschichtlich umgedeutet und auf den biblischen Abraham zurückgeführt wird, erhält seine Klimax, das Opferzeremoniell ( 'Id al-adha), bei dem ein Widder oder ein anderes Tier zu schlachten ist, nun den Wert einer abrahamitischen Stiftung. Sein Vollzug wird zu einer Imitatio Abrahams. Damit erschöpft sich für den Koran aber auch bereits die Sinnfülle des Opfers. Nicht ein besonderer symbolischer Sinngehalt, sondern die Nachahmung einer religiösen Vorbildfigur steht nach orthodoxem und auch bereits koranischem Verständnis hinter dem islamischen Opfer.

8 Kalligraphierte Tafel von Ali Effendi aus dem Jahr 1880, s. M. Ugur Derman (1998). 9 Es gelten wie im Judentum auch im Islam die „noahidischen Gesetze", d. h. das Verbot des Blutvergießens (Q 2:30, 2:84) sowie das Tabu des menschlichen Verzehrs von Blut (Q 2:173, 5:3.16:115,6:145), ebenso hat die islamische Tradition die Praxis des Schächtens übernommen.

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Anders als im biblischen Kontext hat folglich das Opfer keinerlei sühnende Wirkung. Dieser Unterschied ist keine rituelle Bagatelle, sondern markiert eine entscheidende Weichenstellung für den gegenüber Judentum und Christentum grundsätzlich neuen Umgang mit Blut und Opfer. - Der biblische Anspruch auf eine erlösende oder reinigende Kraft von Blut im rituellen Kontext, wie er in der Yom Kippur-Institution, Lev. 16:10-16 zum Ausdruck kommt und später zu einem Basis-Theoloumenon der christlichen Kirche wurde, wird im Koran eindeutig negiert. - Hier zum Kontrast zwei christliche ikonographische Zeugnisse, die den durch das Blut des Erlösers ermöglichten Reinigungsprozess plastisch machen (Abb. 9-10).

Abb. 9-10: Gekreuzigter Christus mit weiblicher Figur (links); Die Vision des Heiligen Bernhard (rechts) (Clifton 2001)

Der Opfergedanke hat hier also keinen Platz: Hätte es Jesu Opfertod gegeben so müsste man koranisch argumentieren - , wäre dieser sinnlos gewesen. Dem optimistischen Weltbild des Koran zufolge ist die Welt nicht verderbt, Adams Verfehlung markiert nicht den Fall der Menschheit, sie war eine Episode, denn Schuld kann von Fall zu Fall durch Reue getilgt werden. Ein zweiter - Schuld tilgender - Adam ist nicht erforderlich, wenn es keinen ersten - Schuld anhäufenden - gegeben hat. Nicht der durch sein Selbst-Opfer erhöhte Christus ist also privilegiertes Vorbild - die Vorbildrolle fällt am Ende der koranischen Entwicklung einer Gegenfigur, Abraham, zu. Im Koran fehlt damit - wie man ohne Übertreibung sagen könnte - die Idee des Opfers als solche: das Vergießen von Opferblut zur Entsühnung. Sie wird aber nicht einfach übergangen, sondern bewusst ausgeschlossen, „verschwiegen". Das vorgeschriebene Opfer für das 'Id al-adha, das Opferfest, ist nicht

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nur von jeder mythischen Funktion entleert, eine solche Funktion wird sogar explizit negiert; ganz im Sinne kultkritischer biblischer Prophetensprüche heißt es in Q 22:36f.: „Die Opfertiere haben wir euch zu Kultsymbolen Gottes gemacht. Ihr habt an ihnen Gutes. Sprecht den Namen Gottes über ihnen aus, wenn sie aufgereiht dastehen! Wenn sie umgesunken sind, esst davon und gebt dem, der bittet und dem, der beschenkt sein will. [...] Weder ihr Fleisch noch ihr Blut wird zu Gott gelangen, wohl aber die Gottesfurcht von euch." Opfer wird so reduziert zu einem reinen Gehorsamsakt, oder zu einer Imitatio Abrahams (Combs-Schilling 1989), dessen in ein Tieropfer umgeleitetes Sohnesopfer in koranischer Sicht auch nicht auf dem Berg Moria, sondern am mekkanischen Heiligtum selbst zu lokalisieren ist. Dieses Ereignis, das ja das islamische adha, die für jeden Mekka-Pilger obligate Opferung eines Widders, gewissermaßen präfiguriert, ist denn auch ein ubiquitärer Gegenstand bildlicher Darstellungen geworden; sie findet sich vor allem auf jenen volkstümlichen Wandbildern wieder, mit denen die heimkehrenden Mekka-Pilger von ihren Verwandten und Freunden geehrt werden.

Abb. 11: Volkstümliche Darstellung des Abrahamsopfers (Parker/Neal 1995, S. 76)

Der „Märtyrervers" Q 3:169f. Und dennoch gibt es einen einzigen Bruch in diesem koranischen Paradigma absoluter Enthaltung von der Mythisierung Blut involvierender Riten. Das ist die Vorstellung des Märtyrers, oder genauer, des „im Kampf auf dem Wege Gottes" umgekommenen Kriegers. Obwohl sich diese Figur nur locker mit bestimmten historischen Personen verbindet, ist sie tief verwurzelt im islamischen Ursprungsmythos. Das plötzliche Auftreten des Märtyrers muss freilich im Hinblick auf die prononciert lebensbejahende heidnische Kultur, die dem Islam

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vorausgeht, zunächst erstaunen. Dort wurde der heroische Tod eines Kriegers, wiewohl ehrenvoll und ruhmbringend für seinen Stamm, als ein Sakrileg wahrgenommen, das es sofort zu sühnen galt, durch einen gleichermaßen blutigen Racheakt (Neuwirth 2004b). Als der Prophet in der medinischen Zeit die Gläubigen zum Kampf und Einsatz ihres Lebens aufrief, musste die sakrileg-verdächtige Hinnahme des Todes neu bestimmt werden; sie wurde umgedeutet in eine lohn-verdienende Leistung (3:169f.): „Sieh nicht jene, die für Gott getötet worden sind, als tot an, nein, sie leben, sind bei ihrem Herrn versorgt und freuen sich dessen, was Gott ihnen gewährt hat." Diese Neu-Interpretation des gewaltsam erlittenen Todes blieb nicht ohne weitreichende Konsequenz: Nachdem der gewaltsam erlittene Tod einmal als ein Weg zur Erlangung göttlicher Nähe erkannt war, konnte das biblische Opfer-Paradigma des Tausches von Blut für göttliche Gunst gleichsam unbemerkt wieder in den islamischen Bereich eindringen und der Vers als eine avant /¿/-/ettre-Bezeugung des islamischen Märtyrertums gelesen werden. - Aber der Unterschied in der Wahrnehmung des Gefallenen im Koran und nach dem Koran bleibt doch erheblich: Die islamische Tradition sakralisiert den Märtyrer bereits innerweltlich, sie stattet zwar nicht mit erlösendem Blut, aber doch mit verwandeltem Blut aus: Sein Blut wird zu Moschus, das die Unreinheit des toten Körpers aufhebt - er bedarf keiner Totenwaschung. Sichtbares Blut mit gleichsam magischer Wirkung im Koran ein Anathema - wird zu einem gottgefälligen Emblem des Märtyrers. Es bleibt freilich - dies wieder ganz im koranischen Sinne - für die Entsühnung des Kollektivs funktionslos. Der islamische Märtyrer bleibt theologisch auf die Rolle eines individuellen vorbildlichen Frommen beschränkt. Innerkoranisch ist das Märtyrertum also nicht vorgezeichnet: Der traditionell als Märtyrervers reklamierte Text Q 3:169f. steht, wie Jan Arend Wensinck zurecht argumentiert, noch ganz im Kontext antiken Heroenkults (vgl. Kohlberg 1997), ohne Verbindung zu den drei Koordinaten, in die Märtyrertum eingebettet ist und die im Koran neu konfiguriert sind. Das konnte für die wenig späteren Muslime allerdings kein Hindernis bedeuten, das - inzwischen zum Durchbruch gelangte - Märtyrer-Ideal auf ihr Goldenes Zeitalter zurückzuprojizieren, es im Koran zu suchen und auch wiederzuentdecken. Indem sie das Märtyrertum mit dem Vers über die unsterblich gemachten gefallenen Kämpfer verbanden, haben sie ihm jenen einzigartigen Nimbus, jene Autoritätsdimension verliehen, an der Texte und Ideen nur dann teilhaben, wenn sie eine „transzendente Genealogie", eine Abstammung aus dem Koran nachweisen können. Nachkoranisches Märtyrertum Der sunnitische Märtyrer und sein Hieros gamos In einer Region, in der der christliche Märtyrertypus allbekannt und weit verbreitet war, konnte es nicht lange dauern, bis ein islamischer Märtyrer-Mythos entstand. Es ist ein Mythos, der starke Familienähnlichkeit zur altorientalischen

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Mythologie aufweist. In den ältesten islamischen Märtyrertraditionen, die ins 7. Jahrhundert zurückreichen (Jarrar 1999), wird der unzeitige Tod des Schlachtfeld-Märtyrers uminterpretiert zu einer Verbindung mit einem geflügelten weiblichen Wesen, das an die antike Siegesgöttin Nike erinnert. Obwohl die in diesen Traditionen so auffallende Verbindung von eros und thanatos zunächst mit der koranischen Paradiesvorstellung in Einklang zu stehen scheint, die den männlichen Gläubigen einen Ort sinnlicher, sogar erotischer Freuden verheißt, erinnert die in den frühen Traditionen dokumentierte „Hochzeit des Märtyrers", urs al-shahid, die einen individuellen Krieger und ein mythisches Wesen zusammenführt, eher an den altorientalischen Mythos hieros gamos, der Hochzeit des Helden mit einem göttlichen Wesen, ein Ereignis, das dem Helden eine ontologisch neue Statur verleiht. Ein Unterschied besteht freilich in der Tatsache, dass der Held im neuen Mythos seinen rite de passage der Hochzeit nicht während seiner Lebenszeit, sondern erst durch seinen gewaltsam erlittenen Tod durchmacht, zwei rites de passage also konvergieren. Gerade diese Gleichsetzung von gewaltsam erlittenem Tod und heiliger Hochzeit, die Elemente des Sakralen und des Erotischen zusammenfuhrt, wobei die Sichtbarkeit des Blutes eine wichtige Rolle spielt, sollte sich immer wieder reproduktiv erweisen und schließlich in der Moderne von neuem eine wichtige Rolle spielen. Der schiitische Märtyrer - eine Passionsgeschichte Der Märtyrer in der Schia scheint dagegen im vollen Licht der Geschichte geboren zu sein. Das Gründungsereignis der Schia dramatisiert den gewaltsam erlittenen Tod Husayns (Pannewick 2004), Sohn des vierten Kalifen Ali und der Prophetentochter Fatima, der 680 im südirakischen Karbala' bei einem Scharmützel mit umayyadischen Truppen getötet wurde. Bereits wenige Jahre später, 684, unternahmen die Gefolgsleute Husayns, die ihn bei Karbala' im Stich gelassen hatten, die sog. Büßer von Kufa, einen Todesmarsch zum umayyadischen Lager, mit der Absicht, selbst den Opfertod zu sterben. Sie beanspruchten damit, eine besonders drastische koranische Auslegung biblischer Yom Kippur-Riten in die Tat umzusetzen. In Lev. 16:29 werden die Israeliten aufgerufen, „sich zu kasteien" (te 'annu et nafshotekhem), ein hebräischer Imperativ, der aufgrund der Lautähnlichkeit im Arabischen als „erstecht euch selbst" verstanden werden konnte - das hebräische te 'annu klingt ähnlich wie das Arabische ta 'an, erstechen - und daher im Koran mit „tötet euch selbst" paraphrasiert erscheint. Die Büßer setzten also eine biblische Anordnung im Sinne der - zu kollektivem Selbstmord aufrufenden - koranischen Lesart zu ihrer Entsühnung in die Tat um. Wenig später bildete sich dann ein nicht mehr tödliches, aber doch noch blutiges schiitisches Sühneritual heraus, das auch in unserer Zeit noch nachweisbar ist. Es besteht aus verschiedenen Trauerriten, Lamentationen und Selbstgeißelungen, die ausgiebiges Blutvergießen involvieren (Abb. 12).

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Abb. 12: Flagellanten bei einer südlibanesischen Aschura-Prozession (Toufic 2005)

Der Märtyrertod Husayns mit seinen revolutionären Implikationen begründete in der Schia eine messianische Tradition des Märtyrertums, die sich deutlich von dem Märtyrertum des sunnitischen Kriegers unterscheidet (Halm 1994), der die Normen nicht bricht, sondern untermauert. Schiitisches Leiden ist stellvertretendes, Erlösung bewirkendes Leiden. Es verschaffte sich bald Ausdruck in einem öffentlichen Ritual, das an eine bereits vorhandene Tradition anknüpfen konnte: Husayns Tod koinzidiert mit dem Tag von 'Aschura, der dem jüdischen Versöhnungstag, Yom Kippur (Zobel 1934), entspricht, einem Fest, das in seiner biblischen Ausgestaltung massives Opfer-Blutvergießen involviert. 'Aschura verbindet sich gleichzeitig mit altmesopotamischen Ritualen, die die Herbstwende als die Zeit feiern, in der der Gott Tammuz gewaltsam stirbt und durch das Ausgießen seines Blutes auf die Erde den Jahreszeiten-Zyklus erneuert. Verschiedene Traditionen kommen also zusammen: biblische, altorientalische, babylonisch-jüdische und nicht zuletzt christliche. Husayn wird nicht anders als Christus fur die Rolle des „sterbenden Gottes" (Phillips 1990) reklamiert, der durch das Vergießen seines Opferblutes die Erneuerung der Welt bewirkt. Es überrascht daher wenig, dass einzelne Züge der christlichen Passion auf Husayns Leiden bei Karbala' übertragen worden sind. So ist etwa eine umfangreiche Passionsgeschichte entstanden, die in der Moderne öfters auch in Malerei umgesetzt worden ist (Abb. 13-14), und sogar die Darstellung einer mater dolorosa ist nachweisbar (Abb. 15). Obwohl Husayn eine nachkoranische Figur ist, ist er nicht textlos geblieben. Zusätzlich zu der Flagellanten-Prozession hat sich ein komplettes Drama, ta 'ziya (Chelkowski 1979), herausgebildet, das am 'Aschura-Fest aufgeführt wird und den Märtyrertod Husayns und seiner Gefährten in allen Details theatralisch darstellt. Dieses Drama, von dem uns Versionen vom 10. Jahrhundert an überliefert sind, hat Märtyrerbilder geschaffen, die die schiitische religiöse Dichtung und Kunst geprägt haben. Über die Grenzen verschiedener Medien hinweg hat

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sich eine der dabei beteiligten Märtyrer-Reminiszenzen - der bei den Flagellantenprozessionen immer wieder ausgerufene Ehrenname Alis, „Löwe", haydar - wieder zu einem kalligraphischen Bild kristallisiert und damit das blutige Drama in den Bereich der Schrift zurückgeholt (Abb. 16).

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Abb. 13-14: Die Tragödie von Karbala' (Ii), Husayns Tod im Mittelpunkt (re)10

Abb. 15-16: Entschleierung (Ii)11, Löwe, Symbol Alis, aus Buchstaben komponiert (re)12

10 Links Kaifeehausmalerei aus dem frühen 20. Jahrhundert, Seyf 1990, S. 109; rechts ebd., S. 107. 11 Kazem Tchalipa, s. Butel 2002, Abb. 30, undatiert. 12 Murakka von Ali al-Katib, s. Ülker 1987, S. 191.

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Angelika Neuwirth Spiritualisierung und Erotisierung des Märtyrertums in der mystischen Märtyrerdichtung

Während das Märtyrertum zum Kennzeichen der Schia wurde, verschwand der im Frühislam gefeierte sunnitische Märtyrer für längere Zeiten völlig von der Bühne. Er überlebte seine Abwesenheit aus der Geschichte in der Verborgenheit des sufischen Denkens. Die islamische Mystik absorbierte das gesamte Konzept des „heiligen Kampfes", jihad, mit all ihren heroischen Implikationen und erhob die Selbstaufopferung, den freiwilligen Tod für eine höhere Sache, in den Rang ihrer essentiellen Norm. Der wahre Mystiker, der „Liebende", 'ashiq, nimmt den Tod seines ego, seinen Weltverlust, hin - er vergießt sein Herzblut, um die Vereinigung mit dem göttlichen Geliebten zu erreichen. Es war diese in der mystischen Tradition erreichte Spiritualisierung und Erotisierung des Todes, die die früher ambivalente Wahrnehmung des Todes umkehrte und ihn in eine exklusiv positive Erfahrung umdeutete, in welcher aus dem Sakrileg ein Sacrificium wurde. Nicht viel anders als der schiitische Märtyrer, der seine sakrale Aura der Dramatisierung seines Todes in der theatralischen Darstellung verdankt, hat auch der mystische Märtyrer ein eigenes Medium; es ist Liebespoesie, das Genre des ghazal, dessen prononciert sinnliche, theo-erotische Bildlichkeit tief in die klassisch-islamische Kultur eingeschrieben ist.13 Als Motto kann der Vers des im 13. Jahrhundert wirkenden Dichters Ibn al-Farid gelten: „Wer immer in leidenschaftlicher Liebe um Seinetwegen stirbt, wird ewig leben und erhöht werden unter die Leute der Passion, zu einem höchsten Rang"; man mata flhi gharaman 'asha murtaqiyan/ma bayna ahli l-hawa fi arfa 'i daraji.14 - Über Jahrhunderte hat das mystische ghazal erhebliche Wirkungsmacht entfaltet (Sharma 2004) und sich als einflussreiches Gegengewicht zum normativen, vom islamischen Religionsgesetz getragenen Diskurs bewährt.

3. Konstruktion und Dekonstruktion des Märtyrers in der Moderne Palästina: Neuschreibung der Genesis-Geschichte Im kolonialen und postkolonialen Kontext tritt das spirituelle Märtyrertum der Sufis wieder an die Oberfläche und verbindet sich mit den anti-kolonialistischen aktivistischen Bewegungen. Obwohl der Widerstand gegen illegitime Macht im Einklang mit shari 'α-Bestimmungen steht, identifizierten sich Freiheitskämpfer in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg oft mit den „Kämpfern der Gottesliebe", 'ushshaq, die in der mystischen Liebesdichtung, dem ghazal, gepriesen werden. Die Gattung selbst wird in dieser Zeit reaktiviert, doch hat 13 Vgl. Bauer/Neuwirth 2006; Neuwirth/Hess/Pfeiffer/Sagaster 2007. 14 Ibn al-Farid 1903, S. 72-75, s. Neuwirth 1999.

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sich der Adressat des ghazal in der postkolonialen Zeit gewandelt. Zunächst identisch mit dem/der persönlichen Geliebten, dann, in der mystischen Tradition, mit dem unerreichbaren göttlichen Geliebten, wird dieser Adressat nun neu verkörpert im Bild des ebenfalls unerreichbaren, da verlorenen oder besetzten Heimatlandes. Der Verehrer dieses Ideals, der sein Leben für die Heimat aufopfert, gleitet, obschon Teil einer eindeutig säkularen politischen Bewegung, typologisch in die Rolle des mystischen Liebenden, des sufischen 'ashiq, zurück. Der post-kolonialistische Freiheitskämpfer, der sich oft auch explizit als 'ashiq, Liebender, bezeichnet, steht nun einer gegnerischen Macht gegenüber, die nicht mehr in konventionell-heroischer Konfiguration vor ihm steht, sondern sich weitgehend durch Akte autoritätsaufgeladenen Schreibens vertreten lässt: durch Vermessung, Kartographierung und Umbenennung. Obwohl die Wahrnehmung, dass das eigene Territorium beschrieben ist, kartographiert, um beherrscht zu werden, und eventuell sogar von der hegemoniellen Macht umbenannt, in der postkolonialen Zeit eher die Regel als die Ausnahme darstellt, ist Palästina doch ein Sonderfall. Hier finden wir eine präexistente Schrift in das Land eingeschrieben, die die Einwohner rigide in zwei Kategorien teilt: legitime Erben von Land und Geschichte und enterbte Exilanten. Die biblische Schrift, die zum Besitz des Landes berechtigt, ist dem westlichen Narrativ zufolge reserviert für die Völker der Bibel, Juden und Christen, exklusive der Muslime. Obwohl erst durch den Zionismus implementiert, ist die daraus ableitbare Idee, das Land der Bibel sei von denen zurückzufordern, die von der biblischen Geschichte ausgeschlossen sind, kein historisches Novum. Sie war bereits Mitte des 19. Jahrhunderts für die amerikanischen protestantischen Missionare, deren Schriften in neuerer Zeit wieder entdeckt wurden, ein religiös-politisches Programm, wie die Darstellung Hilton Obenzingers zeigt: Das Land wurde als fremd empfunden, aber es war eine Fremdheit, die sich göttlichen Sinngebungen verdankte, die es nur zu lesen galt, und die oszillierten zwischen heiligem Boden und biblischem Text. [...] Amerikanische Protestanten reisten nach Palästina, um diesen vollständigen und vollkommenen Text zu lesen, sich der komplexen Deutungstätigkeit zu widmen, die ihnen ein weibliches Land, beschrieben mit einer männlichen Feder, aufgab. Aus dieser Lektüre der zu einer erotischen Einheit verschmolzenen Erde und Geschichte waren Glaubensbeweise und Verheißungen zu erhoffen.15

Was für die Missionare die Vision einer geistigen Inbesitznahme war, wurde im 20. Jahrhundert politische Wirklichkeit. In beiden Konzeptionen war für die arabische Bevölkerung des Landes kein Platz. Wie ging die palästinensische Gesellschaft mit dieser Situation um? Es dauerte ein Jahrzehnt, bis überhaupt artikulierte Stimmen zur Situation hörbar wurden. Die palästinensisch-arabische Dichtung (Embalo/Neuwirth/Pannewick 2001), das einzige Medium, das zum Ausdruck der vernichtenden Erfahrung von Verlust und Ausgeschlossensein überhaupt zur Verfügung stand, stand vor einer gewaltigen Aufgabe. Sie musste eine Antwort liefern auf die biblische 15 Obenzinger 1999, S. 39.

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Schrift, die in das Land eingeschrieben war, um die Legitimität der Vorherrschaft der Anderen zu gewährleisten, eine Schrift, die noch an Überzeugungskraft gewann durch ihre fast universale Anerkennung als Ursprungsmythos westlicher Zivilisation. Darüber hinaus gab es auch noch eine weitere schwerwiegende Schrift (Abb. 17-18), die Holocaust-Erinnerung, die in eindrucksvollen, hoch-emotionalen Feiern und Schrift implizierenden Bildern dramatisiert wurde, während auf der anderen Seite, in der palästinensischen Gesellschaft, totales Schweigen herrschte, wo nicht nur eine akzeptierte Trauerliturgie fehlte, sondern auch jegliches säkulare Medium zum Ausdruck der erschütternden Verlusterfahrung.

Abb. 17-18: Hof der „Holocaust-Kammer" in Yad wa-Shem (links; Young 1993, S.249) Die „Säule des Heldentums" (Buki Schwartz) (rechts; ebd., S. 256)

Der junge palästinensische Dichter, der die Herausforderung aufnahm, zu sprechen und einen Gegentext zur mächtigen exklusiven Schrift zu entwickeln (Neuwirth 2004c), ist Mahmud Darwish, geboren 1941. Aus seiner Sicht muss palästinensische Poesie vor allem versuchen, für sich ein neues Buch Genesis zu schreiben, nach Anfängen zu suchen und Schöpfungsmythen zu deuten. Denn nur durch diese Mythen kann der Dichter zurückfinden zu seinen Ursprüngen und damit an das tägliche Leben in der Gegenwart anschließen. Geschichte und Mythos sind ein unumgänglicher Umweg, wenn es darum geht, die Gegenwart zu verstehen und die Lücken, die durch die gewaltsame Besetzung des Landes und seiner textuellen Repräsentationen gerissen sind, zu stopfen.16

Mahmud Darwishs frühester Versuch ist ein Langgedicht mit dem Titel Ein Liebender aus Palästina, 'Ashiq min Filastin, das im Stil der traditionellen arabischen Qasida mit einer poetischen Verfolgung der abwesenden Geliebten beginnt und so der Tatsache Rechnung trägt, dass Palästina zu jener Zeit (1966) als politische Entität nicht existent war. Um die Geliebte in die Realität zurückzubringen, nimmt Mahmud Darwish die Rolle des biblischen Adam an, 16 Darwish 1978, S.38f.

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des ersten Menschen, der einen Teil seines Körpers hergibt, um die Erschaffung seiner weiblichen Gefahrtin möglich zu machen. Im Falle des Dichters sind es seine Wimpern - im Arabischen ein alter poetischer Topos der Selbsthingabe - , die er opfert. Aus seinen Wimpern wird ein Schleier gewoben, der als Schreibmaterial für sein Gedicht dienen wird, durch das ihr Name und Identität zurückgegeben werden soll. Ich schwöre dir, ich werde einen Schleier weben aus meinen Wimpern, bestickt mit Versen für deine Augen. Und einem Namen, der, mit meinem Herzblut getränkt, zu einem Lied zerschmilzt, das den Baum seine Zweige wieder ausbreiten lässt. Ich werde einen Satz auf den Schleier schreiben, teurer als Küsse und das Blut von Märtyrern, Palästinensisch ist sie und wird es bleiben.17

Die Verse evozieren, zusätzlich zu ihrer biblischen Adam-Intertextualität, auch den koranischen Schöpfungsimperativ „sei und es ist", kun fa-yakun, und untermauern damit den Anspruch des Dichters, ein palästinensisches Transkript der Schöpfungsgeschichte aus Buch Genesis zu bieten. Die neue poetische Erschaffung der Geliebten, die vom Dichter äußerste Hingabe, sein Herzblut, fordert, erscheint einem realen, blutigen Märtyrertum vergleichbar, sogar überlegen. In diesem frühen Gedicht stellt Darwish nicht nur Liebe über Heroismus, sondern nähert sich auch insofern der weiblichen Seite an, als seine poetische Bildlichkeit den Akt des Webens und Stickens vergegenwärtigt und so die Kunst der Poesie, die üblicherweise als männliche Domäne gilt, gleichsam „demokratisiert". Die Wunde des Märtyrers als Schrift auf dem kollektiven Körper Anspruch auf das verlorene Land zu erheben ist jedoch nicht nur Sache poetischer Worte. Seit Mitte der sechziger Jahre begann sich eine palästinensische Reaktion auf die Besetzung des Landes in Akten des Widerstands Ausdruck zu verschaffen, eine neue Entwicklung, in der der Kämpfer, fida Ί, oder Märtyrer, shahid, zum Träger kollektiver Hoffnungen wurde. Gemessen an diesem neuen Helden blieb dem Dichter nur die geringere Rolle des Sprechers für den Kämpfer, der nun seinerseits zum alter ego des Dichters wurde. Darwish hat in verschiedenen Poesie-Sammlungen, veröffentlicht zwischen 1972 und 1977, die Ikone des Kämpfers als eines Helden geschaffen, der durch seinen gewaltsam erlittenen Tod eine mythische Hochzeit mit der Heimat vollzieht (Neuwirth 2004a). Die Verlagerung der mythischen Hochzeit des sterbenden Kämpfers, 'urs al-shahid, aus dem religiösen in den nationalistischen Diskurs wäre unabhängig von der mystischen gAazaZ-Tradition, die die Idee des heroischen Todes in einen Opfertod umgedeutet hatte, kaum vorstellbar. Im palästinensischen

17 Ebd., S. 79-85.

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Kontext ist der „Märtyrer der Liebe" eingebettet in ein ländliches Hochzeitsritual, bei dem der Märtyrer als Bräutigam figuriert, während seine weibliche Partnerin eine symbolische Größe bleibt. Wie der reale Bräutigam verbürgt er den Fortbestand seiner Gemeinschaft, freilich nicht durch Genealogie, sondern gleichsam durch einen Akt des Schreibens, durch das Beschreiben des kollektiven Körpers mit einer neuen schmerzlichen Erinnerung. Der Märtyrer, dessen Körper tödliche Wunden trägt, hält die mentale Wunde des kollektiven Körpers, al-jurh al-filastini, am Bluten und verbürgt damit das Fortwirken der palästinenischen Viktimisierung und gleichzeitig den Fortbestand ihres heroischen Ausharrens. Der poetische Mythos von mit Blut geschriebener Geschichte, die Niederlage in Triumph verkehren kann, inspirierte die palästinensische Gesellschaft zu einem rituellen Drama: Die fida '/-Begräbnisse wurden wie Hochzeiten begangen. Eine verkehrte Welt bildete sich heraus: Die Kondolenz-Zeremonie, von Frauen statt von Männern besetzt, wurde als Freudenfeier inszeniert, bei der der Held durch ein großes Portrait, neben dem Sitz seiner Mutter aufgestellt, repräsentiert wurde, ein Bild, das gewissermaßen die traditionellen Hochzeits-Loblieder auf den Körper des Bräutigams ikonographisch vertrat. Hektographiert zu Postern und an die Mauern des Lagers oder des Viertels geklebt, wurde das Bild des nationalistischen Märtyrers, das ihn physisch integer, als einen gutaussehenden jungen Mann, manchmal in triumphaler Pose zeigte (Abb. 20), zu einer Ikone männlicher Tugenden. Es ist nicht Erlösung bringendes Leiden, wie beim schiitischen Märtyrer (Ayoub 1978; Abb. 19, sondern triumphales Durchhalten, was im nationalistischen 'urs al-shahid, der Märtyrerhochzeit, dramatisiert wird, die bis in die 1990er Jahre hinein ein machtvolles Ritual der Kommemoration war.

Abb. 19-20: Poster, iranischer Märtyrer/Wandmalerei, sunnitischer Märtyrer18 18 Butel 2002, Abb. 28, undatiert; Sanbar 2004, S. 363.

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4. Dekonstruktionen und Entschleierungen Palästina: Durchtrennung der Nabelschnur zwischen Dichter und Märtyrer Die enge Beziehung zwischen Blut und Tinte nimmt allerdings unheimliche Dimensionen an, wenn Tinte, die Schrift des Dichters, instrumental wird bei der Produktion von Märtyrern, die selbst wiederum Tinte, Schrift, zu ihrer eigenen Kanonisierung benötigen. Darwish selbst war sich dieses circulus vitiosus bereits während der 1980er Jahre, im libanesischen Bürgerkrieg, klar bewusst, hat aber erst nach seinem Rücktritt von allen politischen Rollen, aus der Retrospektive, das Märtyrertum in seiner ganzen Problematik, als eine Konstruktion aus unendlich reproduzierbaren Bildern entlarvt. Beirut war eine Posterfabrik, es war zweifellos die erste Stadt der Welt, die die Posterproduktion auf das Niveau einer Tageszeitung hob. [...] Gesichter an den Wänden Märtyrer, die frisch aus dem Leben, frisch aus der Druckpresse kommen, ein Tod, der eine Reproduktion seiner selbst ist. Ein Märtyrer ersetzt das Gesicht eines anderen, nimmt seinen Platz an der Mauer ein, bis er wieder durch einen anderen ersetzt oder vom Regen weggespült wird. 19

Aber hatte nicht Darwish selbst besonders expressive triumphale Bilder des Märtyrers geschaffen? Sie wurden immer noch in der Öffentlichkeit hochgehalten, Jahre nach dem Rücktritt des Dichters von seiner politischen Rolle, und obwohl die poetische Ikone des Märtyrers nach dem Niedergang des Nationalismus und dem Vordringen islamistischer Bewegungen infolge des Fehlschlags von Oslo in den 1990er Jahren längst obsolet geworden war. Mit dem Zunehmen sog. Selbstmordoperationen (Scheffler 2003) war ein Veto des Dichters gegen den Missbrauch seiner poetischen Ikone im neuen islamistischen Diskurs dringend gefordert. Es kam in Gestalt der Gedichtsammlung Belagerungszustand aus dem Jahr 2002. Etwa dreißig Jahre nach seiner poetischen Erschaffung des Märtyrers entlässt Darwish in diesem Text den Märtyrer aus seiner Dichtung und stellt dabei die Hierarchie zwischen dem Dichter-Schöpfer und seiner Schöpfung auf den Kopf: Mit der biblischen Frage „Wo warst du, Adam?" zieht der Märtyrer den Dichter zur Rechenschaft, während er selbst aus Darwishs poetischer Welt heraustritt und ihre Beziehung aufkündigt. Der Märyrer belagert mich an jedem neuen Tag, den ich erlebe: Er fragt mich: „Wo warst du? Gib die Wörter, die du mir zum Geschenk machtest, an die Wörterbücher zurück, und erlöse die Schlafenden von dem summenden Echo. 20

Wenn die poetische Schrift einmal von der Figur des Märtyrers gelöst ist, fällt das gesamte Narrativ seiner mythischen Transfiguration mit ihrer Inversion der sozialen Ordnung - wo nicht Männer, sondern Frauen das soziale Leben bestimmen und vorgetäuschte Hochzeiten anstelle von Begräbnissen inszenie19 Darwish 1987, S.67. 20 Darwish 2002, S. 98.

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ren - in sich zusammen. Das Bild des Märtyrers, das von den karnevalesken Praktiken der Frauen beherrscht war, muss an den Vater zurückgehen, der als der legitime Garant von Genealogie wieder eingesetzt werden soll. Der Märtyrer warnt mich: Glaube nicht ihren Freudentrillern, glaube meinem Vater, wenn er mein Foto betrachtet, weinend: Warum hast du die Ordnung umgekehrt, mein Sohn, und bist vor mir gegangen, ich hätte eher gehen müssen. 21

Mit dem Durchtrennen der Nabelschnur zwischen dem Dichter und seiner poetischen Figur, dem Kämpfer, mit der Trennung des Blut-Mythos von seiner kanonisierenden Instanz, der Tinte des Dichters, löst Darwish schließlich die problematische Beziehung. Er vermag so die Episode des einst auf einem Konsens beruhenden palästinensischen Märtyrertums, poetologisch betrachtet, zu beenden. Mona Hatoums „Blick von außen": Die Neugestaltung eines nationalen Symbols in der Kunst Aber nicht nur Literatur, sondern auch Kunst hat sich in die Debatte um den Märtyrer eingebracht. Eine feministische Version zu Mahmud Darwishs Dekonstruktion und Neugestaltung eines nationalen Symbols liefert etwa Mona Hatoums Keffieh (1993-99). Die Keffieh, d. h. das baumwollene Kopftuch, das im Nahen Osten von Männern getragen wird, hat in der palästinensischen Kultur des politischen Widerstands eine macho-spezifische Aura angenommen.

Abb. 21 : Mona Hatoum, Keffieh (Daftari 2006, S. 62) 21 Ebd., S. 99.

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Mona Hatoum bestickt das Muster der Keffieh mit Frauenhaar (Abb. 21), lässt dabei einzelne Strähnen über den quadratischen Rahmen des Stoffes hinüberfließen, so dass die Symmetrie des Symbols gebrochen wird. Nach Homi Bhabha femininisiert das Haar nicht einfach das macho-spezifische Symbol. Als Metonym für den Körper der Frau macht es - so fest, wie es in das Gewebe des Stoffes eingestickt ist - das Faktum öffentlich, dass das männliche Bild des politischen Kampfes oft in zwei Richtungen agressiv wirkt. Nach außen gegen die unterdrückende Macht, und nach innen gegen die Präsenz und Partizipation von Frauen, deren Stimmen während des Kampfes unterdrückt und marginalisiert werden. Hatoums femininisiertes Kopftuch macht diese Verweigerung des Platzes der Frauen deutlich und fügt deren Standort wieder ein - in Gestalt der eingestickten Haarsträhnen, die lose über die Grenzen fließen und so den bildlichen Rahmen des Stoffes durchbrechen, während sie die symbolische Oberfläche des politischen Kampfes neu bestimmen.22

Iranische Poster und Malereien: Die Entschleierung des Horrors im Märtyrertum Obwohl das iranische schiitische Märtyrertum gewiß viel tiefer in der eigenen lokalen Kultur verankert ist als das palästinensische in der seinen, macht es doch gegenwärtig ebenfalls einen Prozess der Dekonstruktion durch. Nicht im Rahmen eines individuellen intellektuellen Projekts, sondern in Form einer allgemeinen Entwicklung, die sich vor allem in der Kunst reflektiert, und dies sogar in der staatlich subventionierten oder jedenfalls offiziell gezeigten. Der Anthropologe Eric Butel (2002) macht dafür die besondere politische Entwicklung in Iran verantwortlich: Im gegenwärtigen Iran stößt der traditionelle Märtyrer mit einem neuen Typus von Individuum zusammen, der sich aus der Transformation einer traditionellen, ländlich orientierten Gesellschaft zu einer modernen, individualistischen Konsumenten-Gesellschaft entwickelt hat. Das neue Individuum, das noch nicht vollständig modernisiert ist, hat dennoch Schlüsselrollen in der Gesellschaft inne und projiziert seine eigenen Hoffhungen und Ängste auf den Märtyrer, dessen Kult daher - so Butel - von dem Schuldgefühl des mit der Modernisierung überforderten Einzelnen lebt. Das Zerbrechen der Einheit des kollektiven Körpers drückt sich in Kategorien der Dekomposition des individuellen Körpers des Märtyrers oder in rückhaltloser Exposition der schockierend apokalyptischen Aspekte des Märtyrertums aus. Für diesen grundsätzlichen Bruch mit den traditionellen Werten steht zum einen das Poster des Märtyrers Amir Haj Amini, ein Bild, das dem christlichen eccehomo-Typus entspricht und die Symbiose zwischen Tod und Erotik noch durch die sakrale Aura des blutig erlittenen Märtyrertums unterstreicht (Abb. 19). Noch schockierender ist die Evokation von Karbala' in dem Ölbild Isfar, „Entschleierung", von Kazem Tchalipa, das auf den ersten Blick eine schiitische Umsetzung der mater dolorosa präsentiert; es stellt eine weibliche Gestalt, eingehüllt in einen Mantel von Blut, eine apokalyptische Inversion von Mutter22 Homi Bhabha, zit. n. Daftari 2006, S. 62.

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schaft dar (Abb. 15). Wiederum verkörpert die individuelle Figur das Kollektiv, die Nation. Die zentrale Figur ist - in den Worten von Farhad Khosrokhavar 23 - „eine Abstraktion von Mutterschaft, auf die der Maler das eine ausschließliche Prädikat des Todes projiziert hat, eine Tod bringende Mutter, die einen gemeinsamen Körper mit dem Krieg bildet, dessen Märtyrer sie heiligspricht". In beiden Bildern hat Blut seine exklusiv opferspezifische Funktion verloren. Zum einen zur Erotisierung der Figur dienend (Abb. 19), zum anderen zur Schockierung des Betrachters (Abb. 15), enthüllt - oder entschleiert - es erstmalig ein neues Ambivalenz-Bewusstsein, das für den voranschreitenden Übergang von Tradition zu Moderne symptomatisch ist. Shirin Neshats „Blick von außen": Das Alphabet des Märtyrers Ein iranisches Projekt der Entsakralisierung von Märtyrertum, die Foto-Kunst der in Iran geborenen, seit Jahren in den USA wirkenden Video-Künstlerin Shirin Neshat, soll unseren Durchgang beschließen. In ihrem Werk wird die klassische persische Tradition der Kombination von Bild und Schrift neu instrumentalisiert. Indem Shirin Neshat eine Schriftfläche über die Bildfläche legt, tätowiert sie gewissermaßen die Haut ihrer kriegerischen Frauen mit dekorativer Körperbemalung. Ein Teil ihres Werkes fokussiert die gegenwärtige iranische Märtyrerkultur, wobei sie gewissermaßen die Einzelstränge des ästhetischen Gewebes „Märtyrer" der Reihe nach freilegt und so die enge Beziehung zwischen Märtyrertum und Schrift zu Tage fördert.

Abb. 22-24: Shirin Neshat, Rebellious silence (1994), Guardians of Revolution (1994), Seeking Martyrdom (1995) (Neshat 2002, S. 82, 83, 88)

23 Zit. n. Butel 2002.

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In ihrem Zyklus Women of Allah stellt Shirin Neshat in schwarz-weißen, posterähnlichen Fotographien eine weibliche Figur zur Schau, die in einen schwarzen Tchador gehüllt ist und auf Gesicht, Händen oder Augen eine Schrift trägt (Abb. 22-24). Was dem Körper eingeschrieben ist, ist jedoch nicht - wie etwa in Theo van Ghoghs tabubrechendem Film - ein Text, der islamische rechtliche Vorschriften transportiert, sondern ein poetischer und manchmal auch mystischer Text, der vom spirituellen Märtyrertum spricht. Auch Gedichte der Feministin Forugh Farokhzad 24 sind hier prominent. Auch sind die Frauen nicht als Opfer dargestellt; die eine trägt eine Waffe, die andere hält eine Waffe spielerisch ans Ohr, so dass die ringförmige Mündung leicht für einen großen Ohrring gehalten werden könnte - ein unernster Umgang mit dem Emblem realen Kampfes, der den Ernst des Kriegsdiskurses subvertiert. Sinnlichkeit und Asketismus werden aber vor allem auf subtextueller Ebene versöhnt, durch den Verweis auf die zugleich sehr sinnliche und strikt asketische mystische Dichtung über das Märtyrertum, die fast immer evoziert wird. Sie wird auf einem Bild sogar zweimal visualisiert, indem sie auch symbolisch, in der kolorierten Tulpe, der Blume des Märtyrers, wieder auftaucht. Shirin Neshats Werk wurde als transkulturelle Leistung gefeiert. Was die Bilder für unseren gegenwärtigen Kontext so signifikant macht, ist Neshats raffinierte Technik, das ästhetische Gewebe „Märtyrer" aufzuräufeln und seine Komponenten offenzulegen: das Asketische und das Sinnliche, das Wehrhafte und das Erotische, weibliches Begehren und textgetragene Erinnerung. Diese Dichotomien verschmelzen in Shirin Neshats hybrider Kunst zu einem subversiven Bild vom Märtyrertum, das viel sprechender, als Worte es vermöchten, „die verführerische Energie des Zusammenpralls von Sakralem und Sinnlichem" 25 zu vermitteln geeignet ist.

Abb. 25-26: Shirin Neshat, Speechless (1996)/Untitled (1996) (Neshat 2002, S. 84, 85) 24 Mameghanian 2004; Forukhzad 1982,1985. 25 Dabashi 2002, S. 37.

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Marie José Mondzain

ÜBER DAS VERSCHMELZEN UND DIE VERWIRRUNG DER SPRACHEN

Babel der Bilder und Sprache der Liebe

Die durch diese Zusammenkunft aufgeworfene Frage scheint ihre Vitalität aus der neuesten Konjunktur zu ziehen: nämlich der Entstehung nicht nur eines Europas, das seine Grenzen beseitigt, sondern auch der Globalisierung, die die Frage der Vereinigung auf die Frage nach der Vereinheitlichung der Kulturen zu reduzieren scheint. Solange es Grenzen zwischen den Nationen und Sprachbarrieren gibt, die ihre Kulturen unterscheiden, ist die Frage nach dem interkulturellen Dialog jene nach der Regulierung der Zeichen, die eine Nachbarschaft bilden, das heißt nach einer Proximität, die Abweichungen respektiert, die sich davon nährt, die die wichtigste Kunst der Welt der Zukunft kultiviert, die der Übersetzung nämlich. Die Frage nach der Nachbarschaft und der Übersetzung ist entscheidend, weil sie die verschmelzenden Identifikationen und die reduzierenden oder flüchtigen Gleichwertigkeiten heraufbeschwört, denn hier spielt sich die Anpassung der Distanzen ab, die der Dispersion intersubjektiver Taubheit ebenso widerstehen wie dem Verschmelzungstrugbild der Einstimmigkeit und den Illusionen der Synonymie. Die neue geopolitische Landschaft allerdings und besonders der wirtschaftliche Druck lassen diese wohltemperierte Regulierung der Abstände obsolet erscheinen. Und doch hat man große Imperien gekannt, deren dominante Sprache den kulturellen Besonderheiten ihre expressiven und kreativen Möglichkeiten ließ. Das Problem scheint sich jedoch inmitten einer globalen Vereinheitlichung aller Austauschprozesse aufzuwerfen, wo sich die Frage nach der Summierung oder aber dem Verlust aller differentiellen Ressourcen und entsprechenden Identitäten stellt. Ich vermute, dass die Neuheit von etwas anderem herrührt, dass sie daher rührt, dass es der Schauplatz Kultur selbst ist, der sich zunehmend von der weltweiten wirtschaftlichen Maschinerie absorbieren lässt, die nicht nur dazu neigt, nicht länger die Besonderheit oder die Singularität eines jeden anzuerkennen, sondern ebenso wenig auch den außergewöhnlichen und nicht reduzierbaren Charakter des kulturellen Feldes und der Kreation selbst anzuerkennen. Es handelt sich also nicht so sehr darum, die Frage nach der Natur und der Existenzweise einer weltweiten Kultur zu stellen, sondern die Frage nach dem Überleben oder Verschwinden von Kultur und Kunst als solchen zu stellen. Früher dachte man, dass die Nationen ihre spezifischen Interessen hätten,

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und dass die Welt der Kultur und der Kunst inmitten ihrer Besonderheit mit universellen Qualitäten ausgestattet sei. Heute jedoch entwirft man die Universalität, die jedem eigen ist, gegen das Globale, das allen eigen ist, und bedroht Kultur und Kunst. Der Standpunkt, den ich heute vertrete, wird sehr historisch erscheinen, aber dies geschieht, um die anthropologische Dimension der aufgeworfenen Frage besser zu verdeutlichen. Gerade weil die Kunst und die Kultur heute durch die Kommunikationsindustrien kontaminiert sind, möchte ich eine kurze Überlegung über die Geschichte der linguistischen und visuellen Produktionen vorschlagen, um verständlich zu machen, dass unsere Sorge, die in der technologischen Modernität selbst liegt, nichts Geringeres ist als ein Problem, das sich die Menschheit seit Millennien stellt unter dem Namen von Konflikten, die so unterschiedlich wie widersprüchlich sind, die jene in Opposition zueinander gebracht haben, die Konsens und Uniformität herstellen wollten, um ihre Macht zu befestigen, und jene, die es vorzogen, den unübersetzbaren Hauch der Idiosynkrasien aufrechtzuerhalten, um damit die différentielle Vitalität der Zeichen aufrechtzuerhalten. Und in einer derartigen Debatte stellt sich sehr früh die Frage nach dem Stellenwert des Bildes. Verweist es auf dasselbe oder auf den Unterschied? Gibt es eine einmalige Sprache, die die Vielfalt der Idiome ersetzen könnte, und aus der heraus eine weltweite Kultur denkbar wäre, die Sinn und Kunst hervorbringt? Was können wir künftig miteinander teilen, und muss dieses Teilen in einem gemeinsamen Idiom erfolgen? Ich werde die Legenden oder die Mythen erwähnen, die etwas Grundlegendes über sprachliche und kulturelle Vielfalt aussagen angesichts einer totalisierenden und standardisierenden Macht. Es scheint mir von höchstem Interesse fur uns heute zu sein, die Geschichte einer einzigen Sprache und jene des Bildes in den Blick zu nehmen. Das Bild war und ist Ort einer Krise und einer Herausforderung. Können die Industrien der medialen Kommunikation behaupten, einen interkulturellen Dialog zu gewährleisten? Sind Bilder in der Lage, alle Sprachen zu ersetzen, um daraus lediglich eine einzige zusammenzusetzen, die anscheinend von allen „lesbar" wäre? Gibt es ein visuelles „globish"? Ich halte es für notwendig, auf Texte zurückzukommen, in denen jüdische Denker christlichen Denkern in diesem Punkt radikal entgegengesetzt werden. Man kann eine erste Feststellung treffen, dass es nämlich in der biblischen Kultur von Beginn an um ein Machtstreben geht, das untrennbar verbunden ist mit einem vereinigenden, konsensuellen, totalitären Idiom. Diese Sprache des Hochmuts hat dieselbe Verdammung erfahren wie das Bild. Die durch den Machtmissbrauch ausgelöste Krise der Kommunikation wird durch eine Fabel illustriert, die ich für untrennbar halte von der ikonischen Situation im biblischen Gedankengut. Um zu verstehen, wie eine moderne Konzeption vom Bild als einem globalisierenden Esperanto entstanden ist, werde ich auf drei Texte zurückkommen:

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den Mythos vom Turmbau zu Babel, das Pfingstwunder und die Paulusbriefe, die das Prinzip der weltweiten Sprache einführen.

Der Turmbau zu Babel Nach der Sintflut, als sich die Nachkommen Noahs bereits vermehrt haben, steht geschrieben, dass alle sich verteilen, Jegliche nach ihren Sprachen, Geschlechtern und Leuten". Somit existiert in Genesis 10 ein Prinzip der Dispersion und der sprachlichen Unterscheidung. Was jedoch folgt, lässt die Erzählung plötzlich umkippen: „Es hatte aber alle Welt einerlei Sprache und Zunge" (Gen ΙΙ,Ι). 1 Erste Anmerkung: Das Umkippen kann man nur so auffassen, dass ein Teil der Völker sich für die ganze Erde hält, und dieser Teil wird genannt: Es ist Shinéar, also Babylonien. Alle sprachen ein und dieselbe Sprache (auf Hebräisch: Safâ, die Lippe), sie sprachen also wie mit einer Zunge, mit einem einzigen Mund. Sie beschließen einstimmig, Ziegelsteine zu brennen und eine Stadt und einen Turm zu erbauen, der bis zum Himmel reichen soll. Sie schlagen vor, sich einen Namen zu machen, der ihnen erlauben wird, der Zerstreuung standzuhalten, diesen werden sie ihrer Konstruktion geben. So werden die eine, gemeinsame Sprache, der eine Ort und der eine Name als Konstruktion interpretiert, die mit dem Himmel rivalisiert und sich dem göttlichen Willen zur Vermehrung und zur Zerstreuung der Menschen über die gesamte Erde widersetzt. Aber man kann die Bestrafung der babylonischen Anmaßung nicht vom Verbot der Herstellung eines (Götzen-) Bildes trennen, das unter dem Zeichen der inzestuösen Verschmelzung und dem Wunsch nach Allmacht verflucht wurde. In der Tat ist der Turm von Babel ein Baal, eine babylonische Gottheit, also ein Idol. Wenn sich die Menschen in der verschmelzenden Einheit der einen Sprache befinden, vervielfältigen sie die Götter, wie es ihren Vorstellungen beliebt und leben unter dem Regime der Nicht-Trennung, des Ungetrennten. Was klar ausgedrückt wird im göttlichen Zorn, der verkündet, dass Menschen mit einer einzigen Sprache ihrem Verlangen keinerlei Zügel auferlegen werden. Das Gesetz des Verlangens ist das des Ungetrennten, des Inzests. Babylon, das Gebiet der Götzen, trägt denselben Namen wie Babel, das auf Hebräisch die gleiche Wurzel halb hat, was verwechseln, verwirren, verwischen bedeutet. So gibt es im Hebräischen levalbele, lehitbalbele, wirr, mevoulbale, Verwirrung, bilboul, und auf der indoeuropäischen Seite findet man eine Onomatopoese, die den Labiallaut bezeichnet, den die Lippen der Kinder gemacht haben, ähnlich dem Gezwitscher der Vögel. Was zweifellos im Französischen das Wort babil, Geplapper, ergibt, und im Englischen das Wort to babble oder im Deutschen babbeln, wie ein Baby sprechen. Babel spricht die

1 Alle Bibelstellen nach der Luther-Bibel Stuttgart 1953 : Württembergische Bibelanstalt [A.d.Ü.].

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Sprache der Babys, eine Sprache, die noch einmal als Sprache der Mutter verdammt wird, ein babylonisches Geplapper. Es wird jedoch nicht gesagt, dass sie nicht mehr dieselbe Sprache sprechen, sondern nur, dass sie sich sprechend nicht mehr verständigen können. Die Unstimmigkeit der Zungen ist das alleinige Mittel, jene Übereinstimmung zu gewährleisten, jene Verbindung, die die Menschen außerhalb ihrer selbst suchen müssen. Die einzige Sprache der Übereinstimmung war jene der Zustimmung, nämlich die diabolische Sprache der Schlange. Diese nämlich ist das Tier, das keine andere Waffe hat als das Gift ihrer Sprache. Die babylonische Erzählung verurteilt dieses Gift der Sprache, die tötet, von Neuem. Die Konsensualsprache von Babel ist untrennbar vom Idol, das sie konstruiert, denn der Turm ist ein Bild des Verlorenen, Bild einer Anmaßung, die einem Bauwerk menschlicher Hände alle Macht verleiht. Das bedeutet, dass das Bild bereits als idolatrische Bedrohung einer einzigen Sprache wahrgenommen wird. Die Sprachen der Separation sind beseelt durch ein dynamisches Preisgeben dessen, was ich die inzestuöse Sprache nennen werde. Der Schnitt zwischen den Idiomen entspricht einer Beschneidung der Sprache selbst, die das Ohr der Propheten für die heilige Sprache öffnen wird, die Sprache des Vaters, die ihrerseits von allen anderen Sprachen separiert ist. Um die politische Aporie zu lösen, die Opposition der Sprachen der Welt zur Sprache des Vaters unvermeidlicherweise aufkommen lässt, hat das Christentum das unüberwindbare Massiv einer transzendenten Sprache, die fur jegliche ökumenische Ambition ungeeignet ist, von Grund auf umgestürzt. Die scharfsinnige Kombination des Universellen und des Globalen ist eine christliche Erfindung, die sich unmöglich trennen lässt von der visuellen Grundlage der Inkarnation. Weil er sich sehen ließ, musste Gott sich nicht mehr hören lassen, und über eben diesen Weg des Sichtbaren beschließt die Institution, den Glauben in ihrer Botschaft zu globalisieren. Der Schlüssel für dieses Umkippen wird durch das Pfingstwunder illustriert, das heißt, als die Sprache des Heiligen Geistes dem unsichtbaren Vater ermöglichte, die Sprache des sichtbaren Sohnes hören zu lassen.

Das Pfingstwunder Wie immer gibt die neutestamentarische Behandlung vor, die Schrift in ihrer eigenen Umkehrung zu vollenden, durch die Inversion eines Prinzips, das zu seiner eigenen Verwirklichung wird. Wenn das neue Volk Gottes nicht mehr das einzige Volk ist, das die heilige Sprache spricht, sondern die Gesamtheit der bewohnten Gebiete, die Ökumene, welche Sprache würde dann eine Einstimmigkeit, diesmal nicht schuldbeladen, herbeiführen, in der Übertragung der neuen Botschaft, in der Konstruktion einer neuen Allianz, die nicht mehr des babylonischen Totalitarismus verdächtig ist, der ebenso götzenhaft wie inzestuös ist? Mit anderen Worten: Nachdem die

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verwirrende und verschmelzende Bedrohung der Sprache der Mutter beschworen ist, wie kann jetzt die Sprache des Vaters die Sprachbarriere des auserwählten Hebräischen überschreiten, um ökumenische Sprache zu werden? Es geht darum, die Sprache des Sohnes zu konstruieren, darin bestand die Arbeit des Heiligen Geistes. Diese Sprache wird eines Tages die Sprache des Bildes sein. Es kommt nicht in Frage, einer administrativen und imperialen Sprache Hegemonie zuzugestehen, die zwangsläufig an den territorialen Grenzen haltmachen und all jene ohne Botschaft lassen würde, die nicht griechisch sprechen. Was Latein betrifft, so weiß man heute, dass es dem ikonischen Esperanto nicht standgehalten hat. In genau dieser politischen und geistigen Landschaft muss man die zweifache Wirkung des Pfingstwunders verstehen: eine, die die Gabe der Sprache hervorhebt, eine Gabe, die unter dem Namen Glossolalie bekannt ist, und andererseits eine, die vermittels einer charismatischen Operation die doktrinäre Konstituierung der Überlegenheit des Bildes gegenüber jedem anderen Idiom vorbereitet. Beim Pfingstwunder ist zentral, dass man sich ausschließlich in den Bereichen des Klangs und der Stimme bewegt, und überhaupt nicht im textlichen Bereich der Übersetzung. Es geht darum, die Frage zu beantworten: Was verstehe ich, wenn sich eine Stimme an mich wendet in einer Sprache, die ich nicht kenne? Die Antwort wird darin bestehen, das visuelle Idiom hervorzuheben, das keine Übersetzung mehr benötigt, aber nach dem Pfingstwunder braucht es noch acht Jahrhunderte dogmatischer Konstruktion, um die Glossolalie durch die Ikonolalie zu ersetzen. Es geht nicht mehr um eine einzige Sprache oder gar eine heilige Sprache (ich erinnere daran, dass Paulus das Hebräische aufgegeben hat), sondern um ein wundersames Verständnis aller Idiome. Die Erzählung vom Pfingstwunder ist kein wunderbarer Text, der zu den eigentlichen Legenden zählen könnte, die einen träumen lassen. Wenn dieses Wunder einen dogmatischen Status erworben hat, dann den, dass es auf einem historischen Schauplatz eine temporale Macht konstruiert. Das Pfingstwunder taucht in der Apostelgeschichte auf, im Jahre 70 oder 80, also fast dreißig Jahre nach den Paulusbriefen. Um seinen Sinn zu begreifen, muss man daher zunächst die Frage nach Kommunikation und Übersetzung in den Korintherbriefen behandeln. Es sind die Paulusbriefe, die die Glossolalie einfuhren, um die Überzeugungskraft der ikonischen Sprache zu konstruieren und das Feld für ihren Triumph vorzubereiten. In Kapitel 14 von IKor. taucht das auf, was Paulus bauen will, oikodomein. Nach Kapitel 12 also, in dem es darum geht, die Vielfalt der Glieder und den einen Leib zu berücksichtigen. „Und Gott hat gesetzt in der Gemeinde aufs erste die Apostel, aufs andere die Propheten, aufs dritte die Lehrer, darnach die Wundertäter, darnach die Gaben, gesund zu machen, Helfer, Regierer, mancherlei Sprachen" (12,28). In Kapitel 13,1 heißt es dann: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine

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klingende Schelle" (Khalkos èkhôn é kumbalon alalazon). Er wird noch auf die unverständliche oder zusammengefügte Klangfülle der Musikinstrumente zurückkommen, von Perkussions- und Blasinstrumenten: die Zimbel, die Flöte und die Trompete. Lalein glossais, in einer Sprache sprechen, das ist eine Gabe, die uns bestimmte Töne hervorbringen lässt, die allerdings nicht die Wahrheit übermitteln. Eine von Gott besessene Sprache zweifellos, aber auch vom Dämon, wenn es die Liebe nicht gibt. Paulus' Sorge gilt einer Sprache der universellen Kommunikation zwischen den Menschen. - Nun kommt Kapitel 14: Strebet nach der Liebe! Fleißiget euch der geistlichen Gaben, am meisten aber, daß ihr weissagen möget! Denn wer mit Zungen redet, der redet nicht den Menschen, sondern Gott; denn ihm hört niemand zu, im Geist aber redet er die Geheimnisse. Wer aber weissagt, der redet den Menschen zur Besserung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer mit Zungen redet, der bessert sich selbst; wer aber weissagt, der bessert die Gemeinde. Ich wollte, dass ihr alle mit Zungen reden könntet; aber viel mehr, daß ihr weissagtet. Denn der da weissagt, ist größer, als der mit Zungen redet; es sei denn, daß er's auch auslege, daß die Gemeinde davon gebessert werde. Nun aber, liebe Brüder, wenn ich zu Euch käme und redete mit Zungen, was wäre ich euch nütze, so ich nicht mit euch redete entweder durch Offenbarung oder durch Erkenntnis oder durch Weissagung oder durch Lehre? Verhält sich's doch auch also mit den Dingen, die da lauten, und doch nicht leben, es sei eine Pfeife oder eine Harfe: wenn sie nicht unterschiedene Töne von sich geben, wie kann man erkennen, was gepfiffen oder geharft ist? Und so die Posaune einen undeutlichen Ton gibt, wer wird sich zum Streit rüsten? Also auch ihr, wenn ihr mit Zungen redet, so ihr nicht eine deutliche Rede gebet, wie kann man wissen, was geredet ist? Denn ihr werdet in den Wind reden. Es ist mancherlei Art der Stimmen in der Welt, und derselben keine ist undeutlich. So ich nun nicht weiß der Stimme Bedeutung, werde ich unverständlich sein dem, der da redet, und der da redet, wird mir unverständlich sein. Also auch ihr, sintemal ihr euch fleißiget der geistlichen Gaben, trachtet darnach, daß ihr alles reichlich habet, auf daß ihr die Gemeinde bessert. Darum, welcher mit Zungen redet, der bete also, daß er's auch auslege. Denn so ich mit Zungen bete, so betet mein Geist; aber mein Sinn bringt niemand Frucht (lKor 14,1-14).

Es gilt also zu verstehen, dass die Gabe der Sprachen, deren legendäres Wunder noch nicht ausgearbeitet ist, zwei verschiedene Dinge umfasst: Eines ist die unverbundene subjektive charismatische Sprache, das andere ist ein prophéíeuein, das alles verbindet, weil es eine universelle Sprache ist. Diese zweite Sprache ist die Sprache der Liebe. Die Sprache der Liebe ist jene, die der Vater gewählt hat, um sich der Gesamtheit der Völker, ohne Separation und ohne das Privileg der Auserwähltheit, zu enthüllen. Es ist die Sprache, die von den sichtbaren Zeichen gesprochen wird, die Sprache der Inkarnation, die die Ohren jener öffnet, die taub sind, die die Augen jener öffnet, die blind sind. Eine Sprache, die, so behauptet Paulus, allen anderen Idiomen überlegen ist, sie ist die Sprache der Liebe, das heißt des Heils. Aber es wird einige Zeit dauern, um diese Sprache, die keine ist, genau zu definieren: ein universelles Idiom, das wie die Sprache des Geistes singt, jedoch zum Verstand spricht. Es ist eine Sprache, die sich nicht nur an all jene wendet, die nicht dieselbe Sprache teilen, sondern die sich an jene wendet, die

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keine Sprache richtig kennen oder lesen können. Denn das Problem ist nicht nur das der Prädikation. Paulus schreibt seine Briefe zwangsläufig an Menschen, die lesen können. Die universelle Natur der Botschaft erfordert eine „andere" Sprache, die die oikouméné umfasst. Es braucht die ganze lange Debatte über die Legitimität des Ikonischen, damit das Bild offiziell die wahre doktrinäre Antwort auf die Botschaft des Pfingstwunders wird. - An dieser Stelle ist es der Text, der das Pfingstwunder beleuchtet: Und als der Tag der Pfingsten erfüllt war, waren sie alle einmütig beieinander. Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel wie eines gewaltigen Windes und erfüllte das ganze Haus, da sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer (glossai pyrou); und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit andern Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen. Es waren aber Juden zu Jerusalem wohnend, die waren gottesfürchtige Männer aus allerlei Volk, das unter dem Himmel ist. Da nun diese Stimme geschah, kam die Menge zusammen und wurden bestürzt; denn es hörte eine jeglicher, daß sie mit seiner eigenen Sprache redeten. Sie entsetzten sich aber alle, verwunderten sich und sprachen: [...] Wie hören wir denn ein jeglicher seine Sprache, darin wir geboren sind? (Apostelgeschichte 2,1-8).

Ein wenig weiter besteht der Text auf der wundersamen Wirkung dieses Wunders, das die Gemeinschaft und die Einstimmigkeit hervorbringt: koinonia, eikhon apanta koina, homothumadon, die alle das eine gemein haben, dass sie bewegt sind durch den Glauben an die Ähnlichkeit. Und welche Sprache wäre die Sprache der Ähnlichkeit, wenn nicht die, die jener gewählt hat, der sich uns allen gleich gemacht hat durch die Inkarnation, das heißt, der sich wahrnehmbar und sichtbar gemacht hat, und dabei nicht aufhörte, das Unsichtbare zu verkörpern. Die Sprache der Liebe ist das Bild, sie ist es, die uns rettet und die jedem erlaubt, die gleiche Botschaft in seiner eigenen Sprache zu hören, in der Sprache seiner Geburt (ekastos té idia dialektôi hèmôn en hè eggénéthémeri). Das Bild spricht zum Herzen und zum Verstand, weil es der Schrift treu ist und deren Wirkungen durch die Macht des Sichtbaren auf den Glauben selbst verzehnfacht. Aber weder Paulus noch der Verfasser der Apostelgeschichte konnten das installieren, was erst Jahrhunderte von Debatten über die Sichtbarkeit herbeifuhren konnten. Deshalb kann man das, was sich in der kirchlichen Konzeption der Ökumene im Laufe der Zeit abspielte, nur mittels einer neuen Etappe verstehen, jener des Ikons des Pfingstwunders.

Die Sprache des Bildes Anlässlich der sog. Krise des Ikonoklasmus installiert sich ein Dispositiv, das die anti-ikonischen Argumente meistert, die der Sprache der Lesbarkeit den Vorzug gegenüber der Sprache der einfachen Sichtbarkeit gaben.

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Zwischen dem 8. und 9. Jahrhundert hat sich das ikonische Esperanto abgespielt, das später und zweifellos zu Unrecht immer noch Bibel der Analphabeten genannt wurde. Zumindest ist dies ein Argument, das zunächst von Damaskus vorgebracht wurde und später vom Patriarchen Nikephoros wieder aufgenommen wurde. Anlässlich der ikonoklastischen Krise wurden das Herabkommen des Heiligen Geistes und Gnadenerweise wie die Gabe der Sprachen mit den ikonischen Operationen identifiziert und als solche angesehen. Erst nach dem Sieg der Ikonodulen haben die Abwertung des Textes und der Verdacht der Unglaubwürdigkeit, der sich auf die Sprache bezieht, der Feuersprache ihre Bedeutung als sichtbare Sprache gegeben. Die Sprache und der Diskurs sind es, die der Seite der Gewalt zugeordnet werden, das Bild dagegen wird die Sprache der Gnade sein, die Sprache der Liebe, die zum Gehorsam ohne Zwang fuhrt.

Das Ikon von Pfingsten Es ist dieses Erbe, das über das ikonographische Programm des Ikons von Pfingsten im orthodoxen Christentum entschied, in dem entgegen jeder historischen und textlichen Wirklichkeit Paulus dem Petrus gegenübergestellt wird. Dabei geht es nicht nur um die Übersetzung des Pfingstwunders als Zeichen des Zugangs aller zur visuellen Sprache, sondern diese hermeneutische Anwendung hat sich in der dogmatischen Konstruktion und Lehre um das Ikon von Pfingsten vollzogen. Der Theologe des Ikons, Paul Evdomikov, beschreibt und kommentiert das Ikon von Pfingsten folgendermaßen: „Die vor langer Zeit verwirrten Sprachen (Turm zu Babel) verbinden sich jetzt im geheimnisvollen Wissen um die Dreifaltigkeit." Ich glaube nicht mehr als einige Historiker der proto-christlichen und mittelalterlichen Ikonographie an eine Pädagogik der Bilder, die sich an Analphabeten richtet, selbst wenn dies zum Zeitpunkt der ikonoklastischen Krise ein Argument der Väter ist. Man ist im Gegenteil beeindruckt von der dogmatischen Komplexität der ikonischen Kompositionen. In Bezug auf den Glauben nämlich spricht die Gabe der Sprache der Liebe das Idiom des Sichtbaren. Das Reden in einer Sprache ist zum Sehen in Bildern geworden, also zum Glauben, weil man sieht. Es geht nicht so sehr darum, die Leseunkundigen das wissen zu lassen, was sie in den Bücher nicht lesen können, vielmehr geht es darum, alle und vor allem die Belesenen das glauben zu machen, was der Verstand nicht erklären noch rechtfertigen kann. Mit anderen Worten ist das Bild das Idiom des Gläubigen, weil es das Idiom des verlangenden Subjekts ist. Wenn die Institution sich des Bildes bemächtigen will, um die Frage des Verlangens selbst zu kontrollieren, wird das ikonische Idiom zur Waffe schlechthin eines Schweigens, einer Stummheit, die dem Körper und dem Geist aufgezwungen wurde. Wir verstehen sehr gut die Aktualität der Frage, wenn wir das doppelte

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Auftreten der modernen Gestalt der planetaren Kommunikation erfassen: einerseits das globish, andererseits das Bild. Das globish ist ein verarmtes Englisch, das zum notwendigen Verständigungsminimum für die Globalisierung der Märkte wird. In diesem globish sehen jene, die den Reichtum der angelsächsischen Kultur bewahren möchten, jede différentielle Spur verschwinden. Eine Sprache ohne Abweichung, ohne einen Ort außerhalb des Feldes, ohne Missverständnis, eine Sprache, die sich einer Übersetzung entzieht, weil sie selbst die verallgemeinerte Figur eines einheitlichen Bedürfnisses darstellt. Auf der Seite dieses globalen Dialekts herrscht ein visuelles Esperanto, das auf der Lexik elementarer Emotionen beruht. Die Sprache der Liebe ist die Sprache des Verlangens, und das Verlangen seinerseits wird auf das Regime der Bedürfnisse zurückgeführt, die man befriedigen kann. Das Bild wird somit zum Idiom der Lust und der Sättigung. Die Ökonomie des Visuellen wird reguliert durch das Auftauchen und Verschwinden von Gegenständen, die begehrenswert sind, wenn sie sichtbar sind, und die unsichtbar werden, sobald sie konsumiert werden. Das Bild ist ein Produkt, das seinerseits produziert, was ihm ähnelt, das heißt ein Abbild der Produkte. Man macht Schluss mit der imaginären Fruchtbarkeit des Unproduktiven und des nicht Reproduzierbaren.

Anstelle einer Schlussfolgerung Können die Industrien der medialen Kommunikation behaupten, einen interkulturellen Dialog zu gewährleisten? Ist die Vielfalt der Idiome nicht im Gegenteil der wahre Bürge der Universalität der Kunst? Dies waren meine Fragen zu Beginn. Die Gabe der Sprachen war nur eine Art und Weise, das Raten im Inneren einer Institution aufzugeben, die nie die Absicht gehabt hat, Debatten über das aufzunehmen, was sie schrittweise beschloss, der ganzen Erde aufzuerlegen. Das Bild ist nicht einfach nur ein wirksameres und schnelleres Instrument, wie die Kirchenväter dachten, es ist die Methode, mit der sich der Glaube über das Wissen stellt, das Sichtbare über das Wort, die Emotion über das Urteil, das Globale über das Universale. Die Kunst ist der einzig mögliche Weg, wie sich eine universelle Forderung in der Spannung eines ungesättigten Verlangens noch Gehör verschaffen kann. Das Problem, das sich jeder Politik stellt, liegt in der nicht reduzierbaren Spannung, die die Vitalität des Verlangens trennt von der Freude an dessen Befriedigung. Das politische Leben stützt sich nur auf das Verlangen, das wirtschaftliche Leben würde sich am liebsten nur auf Bedürfnisse stützen. Es sind die Künstler und die Schöpferischen im Allgemeinen, die für die Vitalität dieses ungesättigten Verlangens verantwortlich sind, auf dem das politische Leben basiert. Die ungesättigte Vitalität dieses Verlangens kann nur zum Tragen kommen in einem ununterbrochenen Beweis der Unterschiede und Abweichungen. Die kulturelle Vielfalt besteht nicht da-

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rin, Partikularismen zu verteidigen, oder Idiosynkrasien und Archaismen. Sie ist keine Verteidigungsposition, sondern im Gegenteil eine offensive und kritische Position, die die Frage nach den diskursiven und visuellen Idiomen aufrechterhält in einer wirklichen Krise des schöpferischen und kritischen Geistes. Die Kunst ist weder eine globale noch eine globalisierbare Sprache, aber sie zeugt von einer universellen Forderung nach Sinn, um in nicht reduzierbaren Abweichungen etwas gemeinsam Geteiltes herzustellen. Das Bild als globish visuelles gedacht, kann nur verschmelzend-totalitär babylonisch sein. Das Bild dagegen, das sich auf Abweichungen stützt, die jegliche Erfahrung der Alterität nähren, kann und muss das zwangsläufig singulare Idiom einer differentiellen Krise werden, auf der Ebene des Individuums oder der Gemeinschaft. Ich bin überzeugt, dass die Erzählung des babylonischen Abenteuers das heilbringendste und am meisten vergessene Signal war. Diese symbolische Fabel hat mühevoll gemischt, um dann zu trennen, um eine nicht-totalitäre Soziabilität aufzubauen und vor vereinheitlichenden und verschmelzenden Katastrophen zu warnen. Sie sind es, die die größte Gefahr für unsere symbolischen Fähigkeiten darstellen, also für unsere politischen Fähigkeiten. Die geistig-pneumatische Intuition, von der Paulus auf der Seite der intimen Sprache geleitet wird, war zunächst eine poetische Bewegung und die Vorherrschaft der Stimme und der Töne, bevor sie ein politischer Vorschlag war. Auf diesem Abhang des Aussprechens und des Zuhörens bleibt das Problem, was die Frage betrifft, die ich von Anfang an gestellt habe, zur Gänze erhalten: Was erfassen wir, wenn etwas an uns gerichtet wird in einer Sprache, die wir nicht begreifen? In Sprache sprechen ist schließlich vielleicht viel näher am Wort des Johannes als an der Krise des Paulus. Ich denke an den Text von Johannes, der sagt: „Was wolltet Ihr in der Wüste sehen? Ein vom Winde bewegtes Schilf?" Wäre die Stimme der Schilfrohre, durch den Windhauch im Herzen der Wüste bewegt, nicht die Stimme der Dichter, die gegen jede institutionelle Konstruktion, jede persönliche Erbauung, jede grammatikalische Polizei, jede Übermittlung rebellieren? Die Übersetzung im Dienst der Unübersetzbarkeit ist die einzige Antwort des Verlangens auf die Möglichkeit der gemeinsamen Teilhabe.

Aus d. Frz. von Ursula Liebing

Klaus Krüger

DESINTEGRATION - DISTINKTION - INTEGRATION

Zur Funktion interkultureller Symbolisierung bei Bauwerken und Bildern im Mittelalter

Nachdem sich die über ein halbes Jahrhundert lang währende Ost-West-Spaltung und mit ihr nicht nur die territorialen und weltanschaulichen, sondern auch und gerade die ökonomischen und kulturellen Gegensätze und Konfrontationen aufgelöst haben, befindet sich Europa heute zunehmend im Prozess der Entfaltung neuer kultureller Nah- und Fernbeziehungen und damit in einer Phase der neuen eigenen Binnenstrukturierung wie auch der neuen Selbstverortung nach außen hin. Es ist dies freilich ein Prozess, der mit dem neu gewonnenen Spielraum und einem gestärkten Selbstverständnis auch einen vielfaltig wirksamen Umschichtungs- und Anpassungsdruck und eine Situation neuer Konfrontationen, und folglich eine Konstellation der vermehrten Ängste und Konflikte hervorbringt. In den besonderen Blickpunkt - und in der Dimension des Konfliktpotentials über Europa weit hinausreichend - tritt dabei in Politik und Gesellschaft derzeit die Frage nach dem Anteil der Religion, genauer gesagt die Frage danach, ob eine christlich geprägte, ja christlich dominierte Einheitskultur Grundlage der europäischen Identität ist bzw. sein soll, oder ob andere Traditionen, allererst solche einer islamischen Prägung, in einem politisch und wirtschaftlich vereinten Europa maßgeblich Anteil am kulturellen Fundament des Zusammenlebens erhalten sollen und müssen. Historisch rückschauende Analysen werden den politischen, religiösen und weltanschaulichen Streit über solche Fragen kaum lösen. Doch vermögen sie durchaus einen gewichtigen Beitrag zu leisten, um die gegenwärtige Problematik der Annäherungs- und Ausgleichsprozesse, der Abwehrmechanismen und der regelrechten Konstruktion von Feindbildern aus dem Horizont ihrer geschichtlichen Genese heraus besser verstehbar und daher gegebenenfalls auch kontrollierbar zu machen. Wie man weiß, reichen die Ursachen und Strukturen vieler aktueller Gemengelagen und Konflikte bis weit in die Vormoderne zurück, und so manche der heutigen Auseinandersetzungen zwischen den Kulturen erhielten ihre ideologische Fundierung bereits in mittelalterlicher Zeit. Demzufolge wächst dem Studium und der systematischen Analyse von historisch gewachsenen Austausch- und Anpassungsprozessen mit ihren vielfaltigen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Ursachen in der Zeit der

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Vormoderne bzw. des Mittelalters eine besondere und kaum zu überschätzende Relevanz zu.1 Im Austausch der Kulturen begegnen sich Zeichen- und Sinnsysteme von nicht selten höchst unterschiedlicher Herkunft und kontextueller Traditionsverwurzelung, aus denen heraus sich divergente Konzeptualisierungen und Bilder des Eigenen wie des Fremden begründen, etwa aus christlicher Perspektive solche des „Heiden", des Muslim, des Juden, des Slawen respektive Sklaven, des Barbaren, wie ebenso aus umgekehrter Perspektive solche des Christen. Es sind Konzeptualisierungen, Vorstellungsprägungen und Bilder, denen sich in vielschichtiger Überlagerung neue Wertsysteme und Verhaltensnormen, neue kulturelle Codes und Anschauungsformen, neue literarische Muster und visuelle Dispositive einschreiben. Eben deren komparatistische Analyse vermag in der Folge denn auch Einsichten in die Bedingung und Struktur von Devianzen oder in jene Komplexität zu eröffnen, die der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auch heutzutage noch vielfach innewohnt. Einheit und Vielfalt, Integration und Desintegration Europas lassen sich im Mittelalter nirgends schärfer und prägnanter fassen als im Bereich der Religionen. „Religion" kann dabei im Sinne von Clifford Geertz als ein „kulturelles System" verstanden werden.2 Im Vergleich zu anderen kulturellen Systemen, etwa denen der „Politik", der „Ökonomie" oder auch des „Rechts", war die Religion in der Vormoderne eine Ausdrucks- und Manifestationsform von „Kultur", die das Denken und Handeln, den Entwurf von Normen, Kategorien und Weltanschauungen und weiter gefasst den gesamten dialektischen Prozess von lebensweltlicher Sinnstiftung und kollektiver oder individueller Selbstdeutung gewiss am wirksamsten und nachhaltigsten bestimmt hat, im Sinne eines fundamentalen Substrates der eigenen Weltsicht und Lebensordnung. Wurde die jeweils eigene Religion dabei fraglos als die „reale" erfahren, sprich: als eine unhintergehbare und alles überwölbende Wirklichkeit, so musste die gleichzeitige Existenz anderer Religionen umso sensibler und zugleich mit einem inhärenten Potential an Spannungen, Irritationen oder Aversionen, aber auch an Interesse und Neugierde, und in jedem Fall mit dem Erlebnis von Alterität wahrgenommen werden. Fragt man vor diesem Hintergrund nach den Strukturen und Wirkungsweisen der interkulturellen Dynamik, nach dem Verhältnis von Integration und Desintegration der Kulturen in der Geschichte Europas, so erscheint es unter heuristischen Gesichtspunkten sinnvoll, von der Tektonik eben dieses Nebeneinanders und Gegeneinanders verschiedener Religionen auszugehen. Doch wird man dabei im Auge behalten müssen, dass Religion nur eines von mehreren Sinnsystemen sozialer Großgruppen darstellt 1

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Siehe aus der umfänglichen Literatur u.a. Cohen 1994; Schneidmüller 1997; Iogna-Prat 1998; Cardini 1999; Berend 2001; Borgolte 2001; Oschema 2001; Schneidmüller 2002. Die nachfolgende Skizze zu einigen Aspekten religiöser Differenz, kultureller Diversität und institutionalisierten Formen der Integration, des Austausches und zugleich der Desintegration rekurriert auf das in Anm. 5 genannte Forschungsprogramm. Geertz 1966.

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und dass andere Systeme, wie etwa die Sprachen, aber auch die bildlich geprägten Vorstellungsweisen und Anschauungsformen, diese Gruppen auf anderer Ebene und in anderer Strukturierung verbinden oder segregieren, integrieren oder desintegrieren. Gewiss wird man die Gegensätze, Konflikte und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den großen monotheistischen Religionen der Juden, der Christen und der Muslime nicht zu bloßen Randerscheinungen herabstufen können, umso mehr, als sie in der Tat geradezu „Konfrontationskulturen" (Amos Funkenstein) in Europa hervorgebracht haben.3 Doch fanden Mehrheiten ebenso sehr wie Minderheiten dabei immer wieder nicht nur theologische, sondern auch rechtliche Grundlagen einer produktiven gesellschaftlichen Koexistenz. So genossen Christen und Juden unter muslimischer Herrschaft (etwa in al-Andalus, in weiten Regionen Unteritaliens, bei den Wolgabulgaren und unter den Osmanen) prinzipiell die bevorzugte Rechtsstellung der Buchreligionen. Die Juden in ihrer Diaspora wurden von den Christen nicht nur geduldet, sondern ihnen kam nach der Lehre des Kirchenvaters Augustinus sogar ein besonderer heilsgeschichtlicher Rang zu. Christen konnten Juden zwar vertreiben, mussten sie aber in der Zerstreuung erhalten und durften sie nach kirchlicher Lehrmeinung weder mit Zwang bekehren noch gar töten. Lediglich im Verhältnis von christlicher Herrschaft zu muslimischer Minorität scheint ein elaboriertes Konzept des Zusammenlebens gefehlt zu haben. Doch wo es ging, arrangierten sich beide Gruppen in einem „Alltag der kulturellen Anleihe" (Michael Toch).4 Werfen wir einen konkreteren Blick auf die kartographische Situation des Mittelmeerraums, um die Rahmenbedingungen und Auswirkungen religiös fundierter transkultureller Kontakte in ihrer Diversität einzuschätzen. So bewahrten etwa in Süditalien zahlreiche griechischsprachige orthodoxe Christen ihre angestammte kulturelle Identität, ungeachtet des machtvollen Einflusses, dem sie von Seiten der eng mit dem westlich-lateinischen Feudaladel kooperierenden römisch-lateinischen Kirche und ihrer Institutionen, allen voran der religiösen Orden, ausgesetzt waren. Selbst kleine Gruppen von Muslimen konnten ihren Fortbestand in Süditalien und Sizilien ebenso wie auf Mallorca und Malta dauerhaft sichern. Im östlichen Mittelmeerraum ergaben sich die Rahmenbedingungen für eine Koexistenz der Religionen aus unterschiedlichen kolonialen Machtsituationen. Die französischen Fürsten und Herzöge von Morea und Athen, die Lusignans, die neapolitanischen Anjou, die Venezianer und die Genuesen implementierten mit unterschiedlichen Mitteln und im Interesse unterschiedlicher politischer oder ökonomischer Anliegen lateinische Kulturenklaven in die byzantinische Welt. Umgekehrt führten sowohl die zwischenzeitlichen Eroberungen der westlichen Kreuzfahrer als auch die dicht geflochtenen transregionalen Handelsnetze zu kulturellen Anleihen und zu vielfaltigen 3 Funkenstein 1993, 1992. 4 Toch 2001.

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Importen aus den arabischen Kulturen. Im spätmittelalterlichen Andalusien bestand eine relativ stabile, wenn auch nicht unproblematische und keineswegs konfliktfreie Koexistenz zwischen der herrschenden muslimischen Kultur und den jüdischen und christlichen Minderheitenkulturen. In all diesen Regionen bestimmten dynamische Prozesse von Integration und Desintegration das kulturelle, soziale und politische Leben. Zwar gab es immer wieder administrative oder sogar gewaltsame Versuche, durch Missionierung bzw. Zwangsmissionierung, durch Vertreibung oder durch Assimilierungsdruck die kulturelle Vielfalt bzw. Heterogenität einzudämmen oder zu minimieren, doch konnten die über Generationen hinweg bi- oder multikulturell geprägten regionalen oder lokalen Gesellschaften letztendlich nur mit einem Mindestmaß an Toleranz beherrscht werden. Dementsprechend erwarteten die politischen Autoritäten von den kirchlichen Institutionen und religiösen Orden in ihren Gebieten eine vermittelnde oder zumindest den sozialen Frieden bewahrende Haltung. In einigen Fällen, etwa in Sizilien und Unteritalien, wurden etwa das ganze Mittelalter über bereits die zweite und dritte Generation der fremden Eroberer (zunächst der Byzantiner, später der Normannen, dann der Staufer, dann der Anjou aus Frankreich, dann der Aragon aus Spanien) jeweils zu einem genuinen und zunehmend konsistenten Bestandteil der kulturellen, religiösen und sprachlichen Diversität, die sich in ihren Herrschaftsgebieten entfaltete. Es handelte sich nicht um Grenzregionen zwischen dominanten, voneinander abgesetzten Kulturen, sondern recht eigentlich um Regionen eines praktizierten und gelebten interkulturellen Austausches, in denen stetig Grenzen markiert und wieder überschritten wurden, in denen Trennendes und Verbindendes entstand und erodierte.5 Vor dem Hintergrund dieser komplexen Sachlage verspricht gerade die Analyse und Erforschung der kirchlichen Institutionen und religiösen Orden, genauer gesagt die Erforschung der von ihnen getragenen Kunstpraxis, in diesen spätmittelalterlichen mediterranen „hotspots" religiöser und kultureller Diversität wichtige Erkenntnisse über die Konstruktion von kulturellen und sozialen Identitäten und generell über die integrativen und desintegrativen Prozesse in komplexen pluralen Gesellschaften. In den folgenden Ausfuhrungen soll es daher anhand von wenigen ausgewählten Fallbeispielen um den besonderen Beitrag gehen, den gerade die weit verbreiteten und einflussreichen Bettelorden im Medium ihrer Architektur und ihrer Bildkunst zur interkultu-

5 Im Juli 2005 wurde als interuniversitäre Kooperation von zunächst 21 Forschungsprojekten von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein mittelalterliches Schwerpunktprogramm (SPP 1173) eingerichtet: „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter"; es umfasst 12 verschiedene Disziplinen (Archäologie, Kunstgeschichte, Byzantinistik, Osteuropäische Geschichte, Germanistik, Architekturgeschichte, Islamwissenschaften, Judaistik, Mittelalterliche Geschichte, Philosophie, Theologie, Turkistik). Das Forschungsprojekt wird koordiniert von Professor Michael Borgolte (Humboldt Universität Berlin) und Professor Bernd Schneidmüller (Universität Heidelberg). Weitere Informationen auf der betreffenden homepage: http://www.sppl 173.uni-hd.de/index.html.

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relien Kommunikation im europäischen Mittelalter und näherhin zum vielschichtigen Verhältnis leisteten, das dabei zwischen religiöser und gesellschaftlicher Absetzung bzw. Ausgrenzung und faktisch praktizierter Integration, zwischen der Selbstmarkierung eines privilegierten kulturellen, politischen und sozialen Status und der unmerklich wirksamen Etablierung einer interkulturellen und interreligiösen Koexistenz bestand. Nicht von ungefähr treten dabei besonders die Bettelorden in den Blick, allen voran die Franziskaner und Dominikaner, die auf ihrem Weg einer institutionellen Expansion und offensiven Kontaktaufnahme zu anderen Kulturgruppen vielfaltige Phasen und Entwicklungsetappen durchliefen. Bereits die Gründer der beiden großen Mendikantenorden legten nach Aussage der Zeitgenossen den Schwerpunkt ihrer Ziele auf die Verbreitung des Evangeliums unter Gläubigen wie Ungläubigen. Franziskus von Assisi soll sich nach dem Bericht des Thomas von Celano bereits 1219 auf den Weg nach Syrien und Ägypten gemacht haben, während Dominikus von Guzman nach Auskunft seiner Kanonisationsakten wiederholt den Wunsch geäußert haben soll, das Christentum auch unter den Sarazenen zu verbreiten. Dieser Grundgedanke einer universellen Mission innerhalb der Christenheit und über ihre Grenzen hinaus prägte die Geschichte der Orden, erforderte individuelle Mobilität und eine konsequente Öffnung zur irdischen, genauer gesagt: zur politisch-sozialen Welt. Mit einem in solcher Weise gänzlich neu definierten Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt unterschieden sich die Bettelorden bekanntlich deutlich von den alten Mönchsorden, und sie grenzten sich auf diese Weise auch bewusst von ihnen ab. Darin liegt ihr kirchenkritisches Moment, das sie besonders geeignet machte, die Anhänger der religiösen Bewegungen des Hochmittelalters im Auftrag von Papst und Bischöfen in die kirchliche Ordnung einzubinden. Darin liegt aber auch der Stellenwert der Heidenmission als einem zentralen Funktions- und Legitimationsaspekt der beiden Orden begründet.6 Während die Franziskaner und Dominikaner also im 13. Jahrhundert in einer nachgerade atemberaubend kurzen Zeitspanne von nur wenigen Jahrzehnten das Abendland mit einem nahezu flächendeckenden Netz von Niederlassungen, Ordenskonventen und administrativen Strukturen ihrer Verwaltungsprovinzen überzogen und in fast allen europäischen Städten das seelsorgerische, soziale und nicht zuletzt auch urbanistische Gefiige neu prägten, überschritten sie zugleich die Grenzen der (lateinischen) Christenheit und suchten unter anderem im Heiligen Land und in der Levante, in Spanien, Marokko und Tunesien, in Russland, Persien und Mittelasien den direkten und zunächst friedfertigen Kontakt zu Muslimen und anderen „Heiden". Die Kreuzzüge bescherten den Bettelorden neue Aktionsräume und Betätigungsfelder in den eroberten Gebieten. Anders als in Nordafrika waren jedoch im Nahen Osten keine nennenswerten Missionserfolge unter den Muslimen zu verzeichnen; vielmehr beschränkte sich die franziskanische Mission, die seit 1233 im 6

Daniel 1975; Maier 1994; Müller 2002.

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päpstlichen Auftrag ausgeübt wurde, bald auf pastorale Aktivitäten innerhalb der Kreuzfahrerstaaten. Man konzentrierte sich vielmehr auf den Ausbau der Provinzen „Terra Sancta" und „Graecia". Unter dem Schutz französischer und italienischer Herrschaft gründeten Franziskaner und Dominikaner Niederlassungen auf Zypern und in Griechenland und kamen hier insbesondere mit griechisch-orthodoxen Christen, Nestorianern und Maroniten, in geringerem Umfang auch mit Juden und Sarazenen in Berührung. Wie man weiß, waren die von der Papstkirche als „schismatische Christen" bezeichneten Byzantiner und die Juden wichtige Adressaten der mendikantischen Mission. So hatten die Päpste den beiden Bettelorden etwa eine maßgebliche Rolle als Vermittler in den Unionsverhandlungen mit der byzantinischen Kirche zugedacht, eine Funktion, die sie schließlich noch bis zum Unions-Konzil von Ferrara bzw. Florenz im Jahr 1438 erfolgreich ausfüllen sollten. Insbesondere das 14. Jahrhundert war eine Periode der verstärkten Einflussnahme in Konstantinopel, wo vor allem die Dominikaner durch ihre bedeutende Niederlassung in der direkt angrenzenden Stadt von Pera eine wichtige Rolle spielten. Die Mitglieder der Bettelorden waren vertraut mit den höchsten politischen Kreisen des byzantinischen Reichs und fugten sich bestens in das intellektuelle und humanistisch geprägte Klima ein. Indem sie etwa durch Übersetzungen der Werke von Thomas von Aquin ins Griechische und durch Disputationen mit byzantinischen Gelehrten hervortraten, bereiteten sie den Weg zu einer hohen Rate an Konversionen von gebildeten Byzantinern. So manche von ihnen traten in der Folge dem Dominikanerorden bei, so dass auf diese Weise schon bald etwaige Gegensätze zwischen „westlichen" Mendikanten und „byzantinischen" Eliten in den Hintergrund traten.7 Indem die Bettelorden also seit ihrer Entstehung im frühen 13. Jahrhundert als entschieden missionarisch ausgerichtete Institutionen aktiv in Kontakt mit unterschiedlichsten Kulturen traten, fiel ihnen nicht nur in religiöser, sondern auch und gerade in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine herausgehobene Bedeutung in jenem komplexen Prozess zu, der sich während der Umbruchszeit des späten Mittelalters in beschleunigtem Maß als eine multilateral und transregional bestimmte Initiierung, Implementierung und Institutionalisie7 Vgl. aus der vielzähligen Literatur u. a. van der Vat 1934; Wolff 1944; Moorman 1968, bes. Kap. 20, „Early Franciscan Missions"; Matteucci 1971; Hinnebusch 1985, bes. Kap. 3, „Their Missions to 1500"; eine eindringliche Untersuchung des dominikanischen Einflusses im Osten bietet Delacroix-Besnier 1997. - Gegenüber der Wirksamkeit der mendikantischen Mission unter der intellektuellen Elite der griechisch-orthodoxen Christen blieb die Effizienz der Mission unter Muslimen und Heiden stark zurück. Den jüngeren Forschungen zufolge hat es den Anschein, dass die Bettelordensniederlassungen in der Diaspora sich zunächst einmal um die lateinische Seelsorge kümmerten und dann die nichtlateinischen Christen der jeweiligen Region, insbesondere ihre intellektuellen Oberschichten ansprachen. Die schwierigere Aufgabe der Mission unter Nichtchristen scheint einzelnen Fratres vorbehalten gewesen zu sein, die sich quasi als Pioniere zu den Muslimen, den Kumanen, den Mongolen etc. aufmachten und in deren Kultur wohl in weit existentiellerer Weise eintauchten als die Gemeinschaften der Niederlassungen in byzantinischen und kreuzfahrerstaatlichen „Metropolen".

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rung des Kulturaustausches vollzog. So zielten einerseits bereits die innerkulturellen Beziehungen im europäischen Kernland auf Begegnungen von höchst distinkt bestimmten Glaubensgruppen, wobei auch die Position der Mendikanten in ihrer eigenen inneren Struktur durchaus schillernd zwischen radikaler Kirchenkritik und bis zur Inquisition gesteigerter Häretikermission changierte. Andererseits beschränkte sich auch die Begegnung mit muslimisch, jüdisch und von den Ostkirchen geprägten Regionen und Gemeinschaften keineswegs auf außereuropäische Gebiete oder sog. Randzonen Europas, sie vollzog sich vielmehr ebenso sehr innerhalb des europäischen Binnenraumes selbst. Stellt man vor diesem Hintergrund die Frage danach, inwieweit die Bettelorden auf die Etablierung neuer Wertsysteme und Verhaltensnormen mit konkreter Auswirkung auf die politische, ökonomische und soziale Situation zuarbeiteten und welchen Anteil sie an der gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Konstruktion des Eigenen wie des Fremden hatten, so treten insbesondere die öffentlichen Bauten und Bildmedien als die sichtbaren Manifestationsformen derartiger Ansprüche in den Blickpunkt des Interesses. Der Fokus auf diese Medien öffentlicher Sichtbarkeit hat, ganz im Sinn der einleitenden Bemerkungen, eine durchaus aktuelle Dimension. Denn wie entschieden Bildern und Bauwerken - und darunter vor allem solchen mit religiöser Funktion und Bedeutung - die Rolle zuwachsen kann, als gesellschaftlich wirksame Bedeutungsträger und als Dispositive der Wertevermittlung und Normensetzung zu fungieren, kann etwa die derzeit virulente Debatte um die adäquate Baugestalt von Moscheen in unterschiedlichen europäischen und außereuropäischen Städten, von Berlin, München oder Duisburg bis nach Athen und sogar nach Nazareth, eindrucksvoll belegen. Wie man weiß, sind neben den betroffenen muslimischen und christlichen Institutionen auch Politiker, Juristen und Baustadträte, diverse Bürgervertretungen und religiöse Interessengemeinschaften, die öffentlichen Medien und nicht zuletzt der staatliche Verfassungsschutz in diese Auseinandersetzungen verwickelt. In den kontrovers und z.T. mit großer Schärfe geführten Debatten geht es immer wieder um die vielfältigen Fragen von angemessener Religionsfreiheit, gesellschaftlicher Toleranz und wirtschaftlicher Einflussnahme, allererst aber um das Problem transkultureller Dialogbereitschaft und des immer wieder apostrophierten „clash of civilizations". Kurz: In der Frage nach einer fremden, ja nicht selten als pittoresk empfundenen Baugestalt der Moscheen, die durch Minarette, vergoldete Kuppeldächer und orientalischen Dekor in offener Direktheit ihre religiöse und kulturelle Alterität zum Christentum symbolisch kommunizieren, manifestiert sich für Gegner wie Befürworter die ganze Komplexität, die das Verhältnis von transkultureller Integration und Desintegration in Bezug auf religiöse Normen, gesellschaftliche Werte und politische Interessen bestimmt. Durchaus vergleichbare Beobachtungen lassen sich in Hinblick auf jenes komplexe und oftmals diskrepante Interessenfeld von Planung, Konzeption und Realisierung machen, innerhalb dessen auch die spätmittelalterlichen Mendi-

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kanten bei der Errichtung und Ausstattung ihrer Kultbauten zu Werke gingen. Ein gutes Beispiel bietet der süditalienische Mittelmeer-Raum in der Region von Kampanien und Apulien. 8 Dortige Bauten und Bildmedien der Bettelorden wurden oft allzu einsinnig als Exponenten einer kulturellen, religiösen und politischen Kolonisierung bzw. Latinisierung der Region durch einen importierten Stil gedeutet. Die konkrete Analyse einzelner Bauten und ihrer Ausstattung offenbart jedoch ein anderes Bild, wie etwa das prominente Fallbeispiel der Franziskanerkirche S. Caterina in Galatina (Salento) aus dem späten 14. Jahrhundert bezeugen kann (Abb. I). 9

Abb. 1: Karte des südöstlichen Italiens mit der Lage von Galatina 8

Siehe den Überblick bei Tocci 1978, 1975; Raspi Serra 1981; Pepe 1993; Paolino 2002; Viiletti 2003. 9 Zur Geschichte und Bedeutung dieses Kirchengebäudes siehe Putignani 1947; Presta 1984; Specchia 2004; Russo 2005. - Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf ersten Ergebnissen des interdisziplinären Forschungsprojektes, das sich im Rahmen des oben genannten Schwerpunktprogramms (siehe Anm. 5) mit der Architektur und Bildpraxis der Bettelorden als einem Paradigma interkulturellen Austausches im mittelalterlichen Europa beschäftigt. Das Projekt wird geleitet von Professor Carola Jäggi (Universität Erlangen) und Professor Klaus Krüger (Freie Universität Berlin) und bearbeitet von Dr. Margit Mersch und Dr. Ulrike Ritzerfeld, die derzeit eine monographische Untersuchung zur Kirche in Galatina vorbereiten (http://www.sppll73.uni-hd.de/projekte/mersch-ritzerfeld.html).

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Abb. 2: Galatina, Santa Caterina, Fassade mit Hauptportal

Der Bau zeigt exemplarisch das Zusammenwirken zwischen Bettelorden, aristokratischen Geldgebern und Papsttum im Interesse einer Konsolidierung der Römischen Kirche im Salento und der Herrschaftsfestigung der Adelsfamilie der Orsini in Südapulien.10 Doch wurde dieses Ziel nicht durch eine radikale Überformung des lokalen „byzantinischen" Idioms durch „westlich-gotische" Bauformen und Darstellungsweisen erreicht. Der Bau und seine bildliche Ausstattung sind nicht als Zeichen eines Kulturkonflikts, sondern einer Strategie der Konsolidation durch Koexistenz zu deuten. Vielfaltige Referenzen an die normannische Tradition der Region wie auch die aktuelle Architektur in Neapel, an die Mutterkirche des Ordens in Assisi wie auch die griechisch-östliche Kulturtradition schließen sich hier zu einem neuen Ganzen zusammen. Bereits die breit gelagerte Fassade der Kirche (Abb. 2) verbindet ein - für sich allein gesehen - charakteristisch mendikantisch wirkendes Hauptschiff mit höchst ungewöhnlichen, ganz eigenständigen Seitenschiffen, die nicht die für Basiliken üblichen am Hauptschiff ansetzenden Abdächer, sondern eigene Spitzgiebel zeigen. Der skulpturale Dekor der Portale (Abb. 3, 4) steht typologisch in direktem Bezug zum Portalschmuck der etwa zwei Jahrhunderte älteren, vom normannischen Grafen Tankred erbauten Benediktinerkirche SS. Niccolo e Cataldo in Lecce und der gleich alten griechischen Mönchskirche S. Maria 10 Zur Geschichte der Bettelorden in Apulien siehe Coco 1925-30; Guastamacchia 1963; Putignani 1970; Perrone 1981; Bove 1987; Perrone 1986, 1992.

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di Cerrete in Squinzano - stellt also eine Referenz an die griechisch-lateinischarabische Kultur Apuliens im 11. Jahrhundert dar. 11 Die Ikonographie von

Abb. 3: Galatina, Santa Caterina, Hauptportal

11 Vgl. Kemper 1994, bes. S. 187-190 zu Galatina.

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Christus mit seinen Aposteln auf dem Architrav des Hauptportals spielt inhaltlich auf das franziskanische Ideal der apostolischen Nachfolge und auf die Aussendung von Missionaren an; stilistisch lässt die strenge frontal gestaltete Ausrichtung der Figurenreihe (spät-)byzantinische Vorbilder anklingen. Über dem rechten Seitenportal (Abb. 5) richtet sich in bemerkenswerter Weise eine griechische Inschrift (ΕΝΤΑΥΘΑ ΕΣΤΙΝ Η ΚΑΠΠΕΛΛΑ [...]: Hier ist die Kapelle [...]) direkt an die nichtlateinische Bevölkerung Galatinas. Der quadratische Grundriss und die funfschiffige Aufteilung mit schmalen Gängen zwischen Haupt- und Seitenschiffen (Abb. 6) und die Spitztonnengewölbe evozieren das Bild eines abgewandelten Raumgefuges spätbyzantinischer Kirchen vom Typ der Apostelkirche in Thessaloniki aus dem 14. Jahrhundert, deren Typus zur Bauzeit von S. Caterina auf dem Balkan, insbesondere in Epirus und Makedonien, weit verbreitet war, 12 wohingegen das langgestreckte kreuzgewölbte Mittelschiff offenkundig die Assoziation zur Oberkirche von San Francesco in Assisi weckt und damit den besonderen Autoritätsanspruch der Franziskaner geltend macht (Abb. 7, 8).

Abb. 5: Santa Caterina, Südportal 12 Vgl. Korac/Suput 2000, S. 147-153.

Abb. 6: Santa Caterina, Grundriss

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Abb. 8: Assisi, San Francesco, Oberkirche, Inneres

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An Fassade und Innenraum der Kirche fallt also gleichermaßen die reflektierte Synthese distinkter Raum- und Stilelemente auf. Insbesondere verbindet die einzigartige Fassadengestaltung die durch eigene Giebel voneinander abgehobenen Haupt- und Seitenschiffe der Kirche. Diese Aneinanderreihung von Einzelgiebeln weckt die Assoziation, dass hier mehrere „Häuser" bzw. Funktionen in einem Gebäude vereint sind, und tatsächlich erfüllte S. Caterina ja zugleich die Funktionen der lateinischen Seelsorge, der Mission bzw. Häresiebekämpfung, der Missionarsausbildung, der Klosterkirche und zugleich des Adelsmemorialbaus: S. Caterina war kurz vor 1385 vom adeligen Fürsten Rainaldo del Balzo Orsini als Franziskanerkirche gegründet worden und sollte laut päpstlicher Bestätigungsurkunde der Implementierung des lateinischen Ritus in der ausschließlich griechischsprachigen Kirchenlandschaft dienen.13 Seit 1391 wurde der Konvent mit der Einsetzung der franziskanischen Osservanti della Bosnia zum Ausgangspunkt für die Missionierung des bosnischen Vikariats, also des ganzen Balkans.14

Abb. 9: Galatina, Santa Caterina, Detail der G e w ö l b e f r e s k e n 13 Zur „griechischen" Kultur in Apulien siehe Tsirpanlis 1973; Guillou 1977; Corsi 1989; Hofmann 1994. 14 Zur franziskanischen Mission in Bosnien und zur Rolle der apulischen Aristokratie siehe Coco 1925-30, Bd. I, S. 119-130.

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Abb. 10: Galatina, Santa Caterina, Gewölbe, Fresko mit der Allegorie der Kirche

Dieser missionarischen Zielsetzung entspricht auch die Thematik der monumentalen Bildausstattung, die auf verschiedenen Ebenen die Gegenüberstellung des wahren und des falschen Glaubens entfaltet und die Bedeutung der Kirche für die Heilserlangung durch die Verwahrung der Sakramente unterstreicht (Abb. 9).15 So wird etwa die Kirche durch die Figur eines Franziskaner-Papstes personifiziert, dem Christus die Arme stützt, während dem Pontifex Schlüssel und Evangelium von Petrus und Paulus überreicht werden (Abb. 10). Unmissverständlich werden auf diese Weise die Autorität des päpstlichen Amtes und die alleinige Auslegungsbefugnis der Heiligen Schriften formuliert und ein besonderer Führungsanspruch des Franziskanerordens visualisiert. Darüber hinaus erfüllte die Kirche schließlich auch die Funktion einer Gedenkstätte für die ursprünglich aus Frankreich stammende Adelsfamilie del Balzo Orsini, die in Machtkämpfe mit dem Königshaus der Anjou von Neapel verwickelt war. Kurz gesagt: Die Kirche S. Caterina bekundet in Baugestalt und Ausstattung nicht einen drastischen Kulturkonflikt und eine erzwungene „Latinisierung" der Region. Im Gegenteil, sie manifestiert offenkundig das Bestreben, beide gesell15 Zur bildlichen Ausstattung der Kirche siehe Antonaci 1966; Zimdars 1988; Calò Mariani 2003; Cucciniello 2000/2001.

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schaftlichen und religiösen Gruppen gleichermaßen zu adressieren, die griechische Bevölkerungsseite ebenso wie die römisch-lateinische, und auf diese Weise die im spätmittelalterlichen Salento faktisch gelebte Situation einer multikulturellen Koexistenz verschiedener Religionen und Kulturtraditionen sehr konkret und anschaulich zu manifestieren. Begreift man wie in diesem Fall generell bildende Kunst und Architektur der Bettelorden als vielgestaltige Medien der öffentlichen, visuell bestimmten Kommunikation mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, so werden sie als Instrument und zugleich als Spiegel zentraler Zielsetzungen der Orden und lokaler Interessen der einzelnen Niederlassungen lesbar und lassen so auch das Ausmaß, die Formen und die Bedingungen der wechselseitigen Akkulturierungsprozesse in ihrer konkreten historischen Komplexität differenzieren. Dabei werden vielfaltige Fragen akut: Wie und mit welchem Interessengefuge konnten sich unter dem zwar gemeinsamen Vorzeichen einer universalen Missionierung, doch unter den ζ. T. höchst unterschiedlichen Bedingungen in den Zentren und an der Peripherie Europas Kulturtransfer und Integration vollziehen? Traten die Predigermönche ihren christlichen Zielgruppen mit demselben Impetus gegenüber wie den außerchristlichen? Veränderte sich im Sinne einer reziproken Dynamik auch das eigene kulturelle Profil der Orden bzw. der einzelnen Niederlassungen in der Fremde? Oder ließen der institutionelle Rahmen und die strenge Disziplin und Ausbildung der Mönche eine solche Assimilation an extern vorgefundene Kulturstandards gar nicht zu? An welchen Orten, in welchen Zusammenhängen und mit welchem Erfolg implementierten sie überregionale Kulturstandards, und wo und warum übernahmen sie Elemente der regionalen Kultur? Und schließlich: Auf welche Resonanz stieß das Vorgehen der Bettelorden bei ihren Zielgruppen und welche Rolle spielten dabei Kunst und Architektur als Medien der öffentlichen Kommunikation und der Produktion kollektiver Imaginarien? Blicken wir in aller Kürze auf ein weiteres prominentes Fallbeispiel, nämlich die durch Franziskanerorden extensiv verbreiteten Kultbilder ihres Ordensgründers Franziskus. Als umfangreiche Serie von Bildern nahezu gestaltgleichen Aussehens, deren Entstehung bis ins Jahr der Kanonisation des Heiligen selbst (1228) zurückzufuhren ist und deren Produktion dann das ganze Jahrhundert über fortdauern sollte, prägten sie im Westen einen ebenso neuartigen wie wirkungsvollen Typus des gemalten Kultbildes aus, an dessen Norm rasch auch die anderen kirchlichen Gemeinschaften und Institutionen des 13. und 14. Jahrhunderts anknüpfen sollten (Abb. 11-14).16 Bemerkenswert an diesen Tafeln ist nicht nur der serielle Charakter ihrer Produktion sowie ihr zahlenmäßiger Umfang, der allein durch Christus- und Marienbilder überboten wird. Bemerkenswert ist vor allem auch die innovative Bildgestalt selbst, deren Giebelformat mit der Kombination von groß aufragender Mittelfigur und flankierenden Szenen in der Tafelmalerei ohne Vorläufer ist. 16 Krüger 1992, mit ausführlicher Argumentation and weiterführender Literatur; Frugoni 1993.

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Abb. 11 : Bonaventura Berlinghieri, Der Abb. 12: Toskanischer Maler, Der Hl. FranHl. Franziskus mit Szenen seiziskus mit Szenen seiner Legende, ner Legende, 1235, Pescia, San um 1240, Pisa, Museo Nazionale di Francesco San Matteo

Abb. 13: Toskanischer Maler, Der Hl. Franziskus mit Szenen seiner Legende, um 1250, Pistoia, Museo Civico

Abb. 14: Meister der Hl. Magdalena, Die Hl. Magdalena mit Szenen ihrer Legende, um 1280, Florenz, Galleria dell'Accademia

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Die neuartige Erscheinungsgestalt der Tafeln integriert zwei kategorial verschiedene Bildgattungen in einer geschlossenen Objektform: das ganzfigurige Bildnis des Heiligen, seine imago, und einen Zyklus kleinformatiger Historienbilder seiner Legende. Zielt die imago als intendiertes Bildnis des Heiligen auf den Eindruck von dessen Präsenz, so bietet die Erzählung oder historia ein chronologisches Porträt seines Werdegangs und Wirkens. Auf den Franziskustafeln verbanden sich also „das Kultbild als Symbol der Präsenz und die Bilderzählung als Symbol der Geschichte" 17 zu einer neuen Funktionsform mit komplexen Bildabsichten. Diese lassen sich erst aus dem interkulturell bestimmten Entstehungskontext der Tafeln näher beleuchten.

Abb. 15: Alatri, S. Maria Maggiore, Altartabernakel mit der Kultstatue der Maria und Flügeln mit Szenen, frühes 13. Jahrhundert

Dabei ergibt sich, dass die besondere Erscheinungsgestalt der Tafeln - also ihr breites Format mit dem charakteristischen Giebelabschluss - auf einen anderen, ehemals weit verbreiteten Typus des Kultbildes weist, der wie die Franziskustafeln dem Altar verbunden war und ebenfalls nach oben hin mit einem Giebel abschloss. Es war der Marienschrein, der eine Skulptur der thronenden Muttergottes in einem Gehäuse mit gemalten Szenenflügeln barg. Die Franziskusbilder lehnten sich in ihrer giebelförmigen Gestalt und in der generellen Disposition von Mittelfigur und flankierenden Szenen offenkundig an diesen hoch verehrten Typus an (Abb. 15, 16).18 Doch verzichteten sie bemerkenswerterweise auf die Erscheinungsweise einer dreidimensionalen Skulptur und 17 Belting 1990, S. 20. 18 Krüger 1992, S. 17-30, 219-230.

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nahmen stattdessen die alternative Mediengestalt der flachgemalten Ikone mit Goldgrund an. In Konsequenz verzichteten sie auch auf die beweglichen Flügel und bildeten vielmehr einen neuartigen Zusammenschluss von Szenenbahnen und Heiligenfigur in einer integrierten Objektform aus.

Abb. 16: Aquila, Museo Nazionale d'Abruzzo, Altartabernakel mit der Kultstatue der Maria und Flügeln mit gemalten Szenen, um 1350

Abb. 17: Sinai, Katharinenkloster, Ikone mit der Hl. Katharina und Szenen ihrer Legende, frühes 13. Jahrhundert

Für diese in der westlichen Tafelmalerei völlig neuartige Erscheinungsform einer monumentalen Bildnisikone stand wiederum ein anderes Paradigma Pate, nämlich das östliche Ikonenformular von Heiligenfigur und umlaufend dargestellten Szenen, wie es seit langem bereits in Byzanz verbreitet war (Abb. 17).19 Allerdings waren diese Ikonen in Byzanz ausschließlich von hochrechteckigem Format und wiesen zudem bedeutend geringere Maße auf als die neuen Franziskusbilder. Darüber hinaus besaßen sie im Osten niemals die Funktion von Altarbildern. Indem die Franziskustafeln diesen östlichen Vorbildern gegenüber

19 Stubblebine 1966; Demus 1970; Belting 1982; Krüger 1992, S. 33-36.

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die Größenmaße, das breite Format und den Giebelabschluss von der Tradition der westlichen, gehäuseförmig großen Altarschreine entlehnten und zum prägenden Standard des eigenen Aussehens machten, übersetzten sie gewissermaßen die byzantinische Ikone in eine mediale Erscheinungsform, die ihrer neuen, westlichen Funktion als Altarbild entsprach und dennoch die Anschauungswirkung der östlichen Bildform darin bewahrte und sichtbar bekundete. Das neue franziskanische Kultbild bietet sich vor diesem Hintergrund als eine interkulturelle wie auch interreligiöse Mischform oder Hybridbildung dar, die in sich die westlichen Funktionsansprüche eines Altarbildes mit der sichtbaren Erscheinungswirkung einer byzantinischen Ikone vereint. Die Genese dieser ungewöhnlichen Bildform ist aufs engste verknüpft mit der singulären hagiographischen Bedeutung des Heiligen selbst und mit den ebenso spezifischen Gegebenheiten seines Kultes, dessen Verbreitung sie fördern sollten. Im Zentrum steht dabei die als Sensation gefeierte novitas miraculi seiner Stigmatisation, die Franziskus vor den Zeitgenossen zu einem Ebenbild Christi erhöhte. Diese Christoformität schuf dem Heiligen auf der einen Seite ein Charisma von spektakulärer und unvergleichlicher Wirkung, doch erzeugte sie auf der anderen Seite auch vielfachen Zweifel, Unglauben und den Vorwurf der Blasphemie. 20 Indem die Gestalt des Heiligen in solcher Weise in den Mittelpunkt heftig geführter Kontroversen um die Auslegung seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung geriet, wurde - wenn man so will - seine historische Wirklichkeit nach und nach durch Bilder überlagert, die man sich von seiner „Wirklichkeit" entwarf und die sich - im Ferment zunehmend mythischer Überhöhung zum Ausdruck je unterschiedlicher gesellschaftlicher Optionen und religiöser Wertvorstellungen verdichteten. Es ist dieser mentalitätsgeschichtlich wirksame Zusammenhang, in dem nun auch den faktischen, gemalten Bildern eine neuartige Bedeutung zuwuchs. Denn die im Bildnis {imago) beanspruchte Wahrheit von Präsenz und authentischer Vergegenwärtigung machte die Darstellungen des Heiligen nachgerade zu autorisierten Beweisbildern seiner Stigmata. Ihrer Bildniskraft wuchs dabei der Anspruch einer Aura zu, der sonst allein von der Reliquie des Heiligen selbst ausging.21 An dieser Stelle wird deutlich, welche Rolle der innovativen Bildgestalt der Tafeln und insbesondere ihrer engen Anlehnung an den östlichen Ikonentyp zukam. Indem die Franziskaner im Gegenzug zu den in der westlichen Kirche verbreiteten plastischen Kultbildern die ganz neue Seherfahrung der byzantinischen Ikone zur Grundlage ihres neuen Kultbildtypus machten, übernahmen sie nicht nur das Tafelbild als neue „Objektform", sondern bemächtigten sich auch des dem Heiligen in der byzantinischen Bildertheologie zugemessenen spezifischen Status von „Realität" im Bilde. Dieses Bildverständnis besagte, dass die Ikone die „wahre" Erscheinung des Heiligen in Gestalt und Ausdruck 20 Vauchez 1968. 21 Krüger 1992, S. 50-56.

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präsent halte und hierdurch auch seine heilbringende Realität und Gnadenkraft vertrete und aktuell entfalte, kraft Abbildlichkeit {similitude») also virtuelle Gegenwart verkörpere.22 Durch ihre Erscheinungsqualität als monumentalisierte östliche Ikonen gewannen die Franziskustafeln somit eine neuartige Anschauungsmächtigkeit und eine neue Wirkung auf den Betrachter. Sie erhielten die Fähigkeit zur „personalen" Vertretung des Heiligen und konnten faktisch zu Alternativen von dessen Reliquien werden; wie vormals die Reliquie durch Teilung, so ließ sich jetzt das Bild durch Kopie vervielfachen und verbreiten. Anders als bei der Reliquie aber tritt hier erstmals das neue, zukunftsweisende Vermögen des Bildes hervor, die Erfahrung von Präsenz und Tatsächlichkeit aus ihrer Bindung an die körperliche Materialität des Bildes zu lösen und kraft einer neuen Fiktionalität zu erwirken. So rückt hier mit der interkulturellen Komplexität der Bildgestalt im Grunde das in den Blick, was Georges Duby einmal als den „Anteil des Imaginären" am Entwicklungszusammenhang der Gesellschaft und ihrer Lebensrealität beschrieben hat. 23 Ähnlich wie bei den Franziskustafeln erfolgte auch bei einem anderen bedeutenden Bildtyp, den Tafelkreuzen mit der Darstellung des gekreuzigten Christus, unter den Franziskanern eine genaue Übernahme der ostkirchlichen Bildversion, die im Gegensatz zum Westen nicht den lebenden Christus triumphans, sondern den toten Christus patiens zeigt (Abb. 18).24 Doch betrifft der Transfer aus Byzanz nicht auch den Bildträger selbst, denn großgestaltige Tafelkreuze waren im byzantinischen Osten noch bis ins 15. Jahrhundert hinein so gut wie unbekannt. Damit wird klar, dass der neue Tafelkreuztyp der Franziskaner als Transfer eines byzantinischen, auf kleinformatigen Ikonen oder in Buchillustrationen verbreiteten Bildformulars (Abb. 19) in einen monumentalen Gattungsstandard heimischer, italienischer Tradition entstand und damit eine direkte strukturelle Verwandtschaft zu den gleichzeitig entstehenden Vita-Tafeln des Franziskus aufweist. Die Übernahme der byzantinischen KruzifixDarstellung brachte nicht nur eine anschauliche Verlebendigung und neue Darstellungsrealistik des Themas mit sich, sondern verschaffte den franziskanischen Bildern als Aneignung des vom tatsächlichen, östlichen Schauplatz des Heilsgeschehens stammenden Christusbildes auch die autorisierte Evidenz eines authentischen Aussehens.

22 Belting 1990, bes. S. 170-175, und passim, mit weiterer Literatur. 23 Duby 1982, S. 354. 24 Das früheste bekannte Beispiel diese neuen Tafelkreuztyps wurde von Giunta Pisano 1236 nicht von ungefähr für die Mutterkirche des Ordens, San Francesco in Assisi, gemalt, im Auftrag des Ordensgenerals Frate Elias von Cortona, siehe dazu Krüger 1992, S. 155-172, bes. S. 158f.; Lunghi 1995; Gieben 2001. Das Tafelkreuz wurde im 19. Jahrhundert zerstört. Der spätere Ordensgeneral Frate Elia, den Franziskus bereits 1217 ins Heilige Land gesandt hatte, stand der „Provincia Sanctae Terrae" in den Jahren 1217-1220 als Provinzialminister vor und betrieb während dieser Zeit die Errichtung bedeutender Konvents- und Kirchenbauten des Ordens, u.a. in Damiette, Konstantinopel und Akkon; siehe Golubovich 1906, S. 108ff., 128f.; Marinangeli 1934, S. 10f.; van der Vat 1934, bes. S. 134ff.; Wolff 1944.

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Abb. 18: Giunta Pisano, Kruzifixus, um 1240-50, Bologna, San Domenico

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Abb. 19: Byzantinische Mosaik-Ikone mit Kreuzigung Christi, Ende 13. Jh., Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst

Die franziskanische Adaption des byzantinischen Christusbildes geschieht vor dem Hintergrund von konstant engen Bindungen des Ordens an das Heilige Land. 25 Als Prediger im Gefolge der Kreuzfahrer von Anbeginn präsent, besaßen die Minoriten mit der „Provincia Terrae Sanctae" ihre bei weitem größte und zugleich mit der integrierten Custodie des Heiligen Grabes auch besonders privilegierte Ordensprovinz. 26 Bereits seit 1219 versahen die Ordensbrüder den kirchlichen Dienst am Hl. Grab in Jerusalem und gelangten schließlich später in das Amt von dessen päpstlich akkreditierten Wächtern. 27 Die Franziskaner, die im Übrigen maßgeblich bei den päpstlichen Unionsverhandlungen mit Byzanz mitwirkten, ließen die Grabeskirche ihres eigenen Ordensvaters Franziskus symbolisch aufgeladen als Memorialkirche des „zweiten Christus" (alter Christus) in architektonischer Bedeutungstypologie zur Hl.Grab-Kirche in Jerusalem konzipieren (Abb. 20). 28 Kurz: Es bestand ein dicht geflochtenes Netz intensiver Ostbeziehungen des Ordens, und die franziskanische Gemeinschaft, die im Selbstverständnis des wahren Ordens Christi lebte, 25 26 27 28

Siehe Anm. 6 und 7; Derbres/Neff 2004. Siehe Moorman 1968, S.227f. Golubovich 1906, S. 158. Hertlein 1964, bes. S. 104-109; Schenkluhn 1991, S. 145-147.

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schuf sich mit dem neuen Tafelkreuztyp ein sichtbares Sinnzeichen, das den Anspruch ihres Apostolats und zugleich ihrer Kompetenz authentischer imitatio repräsentierte und symbolisch kommunizierte.

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Abb. 20: Assisi, San Francesco

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung zur interkulturellen Hybridisierung neuer Bildformen und damit neuer Medien der religiösen Imagination im Westen ist es besonders interessant zu sehen, dass wiederum auch im Osten, nämlich in Byzanz bzw. Konstantinopel, ähnliche Phänomene einer interkulturell bestimmten Hybridbildung festzustellen sind. Das Beispiel eines monumentalen Wandbildes in der ehemaligen Franziskanerkirche von Konstantinopel, der heutigen Kalenderhane Camii, kann dies abschließend kurz beleuchten. Nurmehr wenige Fragmente dieser einstmals prominenten Ausstattung, die um 1250 entstand, haben sich erhalten, doch kann eine Rekonstruktion das ursprüngliche Aussehen der Apsisdekoration und ihrer Komposition mit einer Ganzfigur des heiligen Franziskus flankiert von zehn Szenen seiner Vita vergegenwärtigen (Abb. 21, 22). 29 Was hier vor Augen steht, ist also der Re-Import einer Bildform, die erst kurz zuvor aus Byzanz in den Westen gelangt war, dort als interkulturell bestimmte Hybridform rasch Karriere machte, um dann

29 Siehe Goetz 1978; Blume 1983, S. 18-20; Krüger 1992, S. 110, 187; Weiss 1998, S. 102-104, 152; Striker/Kuban 1997, S. 16-17, 128-142.

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wieder im Osten selbst aufgegriffen zu werden, doch nunmehr in der für die Bildform gänzlich ungewöhnlichen Weise eines monumentalen Wandbildes.

Abb. 21 : Freskenfragment aus der Kapelle des Hl. Franziskus in der Kalenderhane Camii in Konstantinopel, Mitte 13. Jh. (vor 1261), Istanbul, Archäologisches Museum

Abb. 22: Rekonstruktionszeichnung des Freskenprogramms der Kapelle des Hl. Franziskus, Kalenderhane Camii, Konstantinopel, vor 1261 (D. K. McCoubrey, C. Striker)

Der interkulturelle Re-Import der Bildform bedeutete also auch einen Medientransfer von der Ikone zum Apsisbild. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass in Byzanz gerade der Umgang mit Ikonen seit alters vertraut war. Die ungewöhnliche und in Byzanz fremde Erscheinungsform dieses Apsisbildes markierte offenbar gerade interkulturelle Differenz und damit die Alterität, in der die Verehrung des „westlichen" Heiligen zu den angestammten östlichen Kulten stand. Besondere Beachtung verdienen dabei auch die zwei großen Figuren auf dem Bogen vor der Apsis, die zwei griechische Kirchenväter darstellen, von denen einer durch erhaltene Inschriftfragmente als Johannes Chrysostomus identifiziert werden kann. 30 Sie vermitteln, wenn man 30 Zu diesen beiden Figuren und zum Umstand, dass sie vermutlich von einem spezialisierten griechischen Künstler in abweichender Technik zu deijenigen der Franziskusgestalt bzw. der Franziskusszenen gemalt wurden, siehe Striker/Kuban 1997, bes. S. 130-140 (Striker und Hawkins).

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so will, an der genauen Schwelle zwischen gesondertem Kapellenraum und allgemeinem Kirchenraum zwischen westlichen und östlichen Imaginarien des religiösen Kultes. Bauwerke und Bilder, so lässt sich abschließend resümieren, stellten in mittelalterlicher Zeit gerade im Feld von transkulturellen Erfahrungen wirkungsmächtige Medien der symbolischen Kommunikation dar. Sie bildeten feste Bestandteile in der öffentlichen Performanz des politischen Handelns, durch die kulturelle Wertbegriffe, religiöse Normen und nicht zuletzt auch politische Herrschaftsmuster und Ordnungsvorstellungen nicht nur repräsentiert und stabilisiert, sondern auch verändert und neu disponiert wurden. Als Instrumente des politischen Machthandelns wie auch des religiösen Missionsstrebens zielten sie gleichermaßen auf Distinktion wie auf Integration. Nicht zuletzt gelangt damit zur Einsicht, dass die transkulturelle Symbolisierungsleistung von Bauwerken und Bildern, insofern sie sich auf „institutionelle Selbstkonzeptualisierungen" bezieht, immer auch eine produktive, generative Wirksamkeit entfaltet, ihr also das innewohnt, was der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg einmal treffend die „realitätsschaffende Macht institutioneller Fiktionen" genannt hat.31

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Hans Belting

ZWEI SEHKULTUREN

Die arabische Wissenschaft und die Bildperspektive der Renaissance

Die Perspektive in einer Kulturgeschichte des Blicks1 In den meisten Diskursen kommt der Blick heute nur noch in seinen modernen Spielarten vor, als hätte er keine Geschichte gehabt, in welcher er seine kulturelle Prägung erhielt. Deswegen hat man auch allzu rasch die Zentralperspektive, in ihrem langen Nachleben, zu einem illegitimen Erbe erklärt. Wir kommen jedoch von diesem Erbe nicht los, sondern bleiben an Sehkonventionen gebunden, die in der ganzen Welt als westliches Kennzeichen gelten. Im Zeitalter der Globalisierung erfahrt dieser Export eine Verbreitung, in der sich die westliche Medienherrschaft ausdrückt. Die Fotografie hat die Autorität der monofokalen Perspektive neu begründet. Auch in der digitalen Ära bleibt sie eine Sehgewohnheit, welche unverzichtbar geworden ist. Obwohl die Perspektive ihre wissenschaftlichen Grundlagen bereits seit dem 17. Jahrhundert verloren hat, lebt ihre Konjunktur ungebrochen fort. Es wäre ein Kampf gegen Windmühlen, Einwände gegen ihre frühe Theorie zu erheben, welche hinter dem global gewordenen Bildkonsum in den Hintergrund getreten ist. Aber nicht nur dieses Erbe ist paradox. Bereits die Entstehung des zentralperspektivischen Bildes war es in gleichem Maße. Es war kaum durch jene optische Theorie legitimiert, von der es den Begriff Perspektive übernahm. Vielmehr lag die Theorie, auf welcher die mathematische Perspektive fußte, schon vor der Renaissance fertig vor. Aber sie war aus einer anderen Kultur importiert, denn sie stammte aus der arabischen Welt. Dieser Vorgang ist einer merkwürdigen Amnesie anheim gefallen, obwohl die arabische Provenienz in der Wissenschaftsgeschichte immer bekannt gewesen ist. Sie passte allzu schlecht in das Selbstverständnis der Renaissance, die sich als Erbin der klassischen Antike verstand, und zu unserem Verständnis der Neuzeit. Zwischen der arabischen Sehtheorie, die nicht von Bildern handelt, und der westlichen Bildtheorie, welche ganz auf das Bildermachen bezogen ist, entstand damals eine Trennung, welche die ganz verschiedene Visualität beider Kulturen wie 1 Der Verfasser bereitet eine umfangreiche Buchpublikation mit dem Titel „Blickwechsel. Das perspektivische Bild der Neuzeit und die Sehtheorie des Islam" vor. Deshalb wird hier auf Anmerkungen verzichtet. Eine Kulturgeschichte der Perspektive muss endlich als ein interkulturelles Thema verstanden werden.

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nie vorher in ihrer beiderseitigen Geschichte dramatisiert. In der arabischen Sehtheorie spiegelt sich die Ästhetik einer abstrakten Geometrie der Oberflächen und der Lichtstrahlen und damit ein Weltbild, das sie befähigte, die körperlichen Sehvorstellungen der Antike zu überwinden. Der Versuch, die mathematische Analyse des Sehvorgangs, in der arabischen Kultur, auf den Raum in einem Blick (auf die Welt im Blick) zu übertragen, bezeugt die westliche Vorstellung einer bildhaften Welt, wie sie in philosophischem Verständnis, wiederum im Sinne des Subjekts, im Begriff Weltbild zum Ausdruck kommt. Beobachtung ist jetzt immer auch Selbstbeobachtung und Selbstbezug, das Blicken ein Schöpfiingsakt und damit permanente Selbstschöpfiing. Erst durch das unterschiedliche Verständnis von Perspektive wird die Frage möglich, wie denn die Optik zur Ikonik kam. In dieser Frage geht es auch um das Verhältnis der Naturwissenschaft, die wir so gerne in einer getrennten Geschichte unterbringen, zu ihrem kulturellen Umfeld. Ihre Geschichte ist nicht so getrennt verlaufen, wie es die These von den beiden Kulturen annimmt. Die Naturwissenschaft blieb nicht immun gegen die Kultur, in der sie betrieben wurde, sondern hat deren Mentalität verinnerlicht. Denn wir sind hier nicht nur mit den beiden Kulturen befasst, in denen sich zwei Denkweisen, die naturwissenschaftlich-mathematische und die philosophisch-künstlerische, entwickelt haben. Der Begriff „Kulturen" gewinnt eine andere Schärfe, wenn wir die westliche Kultur verlassen und eine epochale Begegnung mit der islamischen Kultur ins Auge fassen. Man wird diese Begegnung, statt die islamische Kultur auf einen bloßen „Einfluss" zu reduzieren, am besten beschreiben, wenn man einen Blickwechsel zwischen zwei Kulturen vollzieht und ihre kulturelle Eigenart ernst nimmt. In einer Kulturgeschichte des Blicks, die es erst in Ansätzen gibt, beansprucht das zentralperspektivische Bild einen prominenten Platz. Es stellt unseren eigenen Blick dar, indem es ihn in einem Abbild vergegenständlicht, so, als könnten wir sehen, wie wir sehen. Die Welt an sich verwandelt sich dabei in einen Blick auf die Welt. In diesem Prinzip liegt der doppelte Sinn, die Welt im Blick zu besitzen und einen solchen Blick zum Bild zu machen. Die perspektivische Konstruktion des Sehbilds hat mit allen technischen Bildern gemeinsam, dass sie unserem Blick suggeriert, alles das mit eigenen Augen zu sehen, was er doch nur durch das Bild sieht. Der Jkonische Blick?', wie ich ihn nennen möchte, ist nicht der Blick von Ikonen, sondern ein bildgewordener Blick. Das perspektivische Prinzip bindet die Bildfrage, ja den Sinn eines Bildes, fortan an den Blick, mit seiner Selbstreferenz, zurück. Bilder sind immer spezifisch darin, dass sie von einer spezifischen Kultur geprägt werden. Das gilt auch für die westliche Kultur, die wir mit ihrem Trend zum Visuellen, ja zum Okularzentrismus, und mit ihrem Vertrauen in Technologien des Sehens allzu lange für eine universale Kultur gehalten haben. Erst allmählich bricht diese Überzeugung ein. Man könnte einwenden, dass Bilder immer für den Blick existieren. Aber sie machen ihn erst dadurch ikonisch, dass sie den Blick selbst dar-

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stellen. Dabei handelt es sich natürlich immer um eine Fiktion. Unser Blick ist nun einmal an den Körper gebunden und lässt sich nicht auf ein Artefakt übertragen, denn Bilder können nicht blicken. Die Bildperspektive entwirft also die Darstellung eines Blicks, der seinem Wesen nach undarstellbar ist. Das perspektivische Bild basierte mit seinen Sehstrahlen auf einer optischen Theorie, die keine neue Erfindung war, sondern im Mittelalter unter dem lateinischen Namen der perspectiva kursierte, der zugleich den Titel eines arabischen Texts wiedergibt. Die Seh-Theorie dieser perspectiva hatte seit zwei Jahrhunderten die Philosophen beschäftigt, bevor die Renaissance-Kunst daran ging, daraus eine Bildtheorie zu machen. Jetzt war die prospettiva plötzlich ein Messverfahren der italienischen Künstler. Das Resultat dieser Allianz von Wissenschaft und Kunst (auch sie hatte im islamischen Bereich eine, wenn auch ganz andere, Vorgeschichte) bestand in einem „analogen" Bild, wie wir heute sagen würden, analog im Sinne des natürlichen „Sehbilds", von dem man ein Faksimile herstellen wollte. Das ist das Artefakt, das im perspektivisch konstruierten Bild vorliegt. Ein Bildbegriff war aber der arabischen Theorie fremd. Sie handelte nicht vom Blick, sondern vom Auge als einem täuschbaren Organ, hinter dem die inneren Sinne wirken. Erst jetzt trat der Gegensatz zwischen der arabischen Sehtheorie und der westlichen Bildtheorie in seiner ganzen Schärfe hervor. Er hatte keine wissenschaftlichen, sondern kulturelle Gründe. In der nahöstlichen Kultur schien das Bildermachen die Imagination zu gefährden, während es im Westen als Königsweg der Erkenntnis gefeiert wurde, der letztlich die technischen Bilder vorweg nahm. Da vom „Bild" in der Sehtheorie kaum die Rede war, sondern eher davon, dass jedes Ding mit einer Überfülle von Sehmerkmalen oder „Sehformen" ins Auge gelangt, änderte sich alles, als die Aufmerksamkeit von den Sehbedingungen im täuschbaren Auge auf den selbstbewussten Blick verschoben wurde. Dazu war es notwendig, einen Raumbegriff zu erfinden, der nicht die sichtbare Welt, als Ort der Lichtstrahlen, sondern einen messbaren Raum, als Ort eines Beobachters, bedeutete und an einen einzelnen Blick gebunden war. Dieser Unterschied regt dazu an, die Visualität als solche in beiden Kulturen zum Thema zu machen. Die Neuzeit nahm also eine dramatische Umkehr vor, als sie die arabische Sehtheorie in physischen Bildern vergegenständlichte. Dabei unterlegten die Maler ihren Bildern die unsichtbaren Koordinaten des Sehens als Konstruktionslinien. In dieser Praxis setzte sich der Dualismus von Sehtheorie und Bildtheorie, von Mathematik und Kunst gleichsam in einer doppelschichtigen Bildanlage fort. Gegen seinen wissenschaftlichen Sinn wurde der Begriff der „Perspektive" jetzt zum Schlüsselwort für den ikonischen Blick. Da dieser Zusammenhang meist vernachlässigt wird, bietet sich hier ein neues Thema der Kulturgeschichte an. Kulturen drücken sich in den Leitbildern aus, die sie in Theorie und Praxis favorisieren. Will man die Dinge auf den Punkt bringen, so kann man sagen, dass der Sehprozess Gegenstand der arabischen Theorie war,

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während der Blick des Subjekts zum Thema der westlichen Bilder wurde. Die arabische Optik war mit dem menschlichen Auge bei wechselnden, ζ. B. atmosphärischen Bedingungen befasst, während das täuschbare Auge in der westlichen Variante durch genaue Messungen in einem neu gedachten Sehraum gesichert wurde. In diesem Unterschied, trotz einer gemeinsamen optischen Theorie, äußert sich ein Unterschied zweier Sehkulturen. Konsultiert man irgendein Schema, mit dem die Zentralperspektive konstruiert worden ist, so kann man sich davon überzeugen, dass das „Zentrum" eben immer der Betrachter ist, dessen Auge die „Spitze der Sehpyramide" bildet, gleich, ob man selbst dieser Betrachter ist oder ob man einen solchen dargestellt findet, dessen frontale Position von der Seitenaufmessung der Sehbahnen ergänzt wird. Ganz entsprechend ist bei der perspektivischen Vermessung der Architektur der „Gesichtspunkt" in Aufsicht und Grundriss zerlegt. Die arabischen Messungen galten dagegen den Lichtbahnen, die in Spiegeln und in einer Camera Obscura mit mehreren Kammern untersucht wurden. Hier ist der Betrachter (wie auch in der Camera Obscura im Zeitalter Keplers) eher Zuschauer als Referenzpunkt. Wir können von zweierlei Geometrie sprechen, einmal (im arabischen Bereich) von einer Geometrie der Lichtbahnen und der Lichtbrechung, zum anderen (in der westlichen Perspektivik) von einer Geometrie des Sehbilds, das in einem Sehraum durch Fluchtlinien und Fluchtpunkt erzeugt wird. Die Rolle der Mathematik ist entsprechend verschieden. Man kann in der arabischen Kunst von einer dargestellten Mathematik in dem Sinne reden, dass sie ein abstraktes Ordnungssystem über die Oberflächen legt und darin körperliche Eindrücke zurück weist: Das nennen wir dann etwas voreilig „Ornament", um es zu degradieren. In der westlichen Neuzeit dagegen ist Mathematik den Bildern der Welt unterlegt, um sie noch körperlicher erscheinen zu lassen. Hier ist die Mathematik, wenn man von lehrhaften Demonstrationen der Perspektive absieht, eine unsichtbare Darstellungshilfe.

Die arabische Sehtheorie und die westliche Bilderfindung Aber wir betreten unbegangenes Gelände, wenn wir einen Blickwechsel zwischen den beiden Kulturen vollziehen. Wir verlassen auch die zeitliche Koinzidenz, die den Vergleich mit dem westlichen Mittelalter in diesem Thema begünstigt hat. Schließlich war der Westen nie mehr mit der arabischen Welt beschäftigt gewesen als in der Zeit der Kreuzzüge. Doch waren die beiden Kulturen auch in ihrem Geschichtsverlauf nicht synchron. Die Blütezeit des rationalen Denkens, welches die Wissenschaften befruchtete, lag im islamischen Bereich in einer Zeit, die wir Mittelalter nennen, während dort parallel zu unserer Neuzeit eine Regression stattgefunden hat, in welcher ein religiöser Dogmatismus die Oberhand gewann. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der arabischen Sehtheorie hat im Mittelalter stattgefunden, doch hat deren

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Wirkung erst in der Neuzeit die Kunst erreicht. Es geht also nicht um ein Früher oder Später, im Sinne eines Entwicklungsdenkens, sondern um einen Unterschied, in dem sich das Profil beider Kulturen abbildet. Ibn Al-Haitham (965-1040), dessen Werk unter dem Begriff der „Perspectiva" verbreitet wurde, war im Westen als Alhazen bekannt, wie sein latinisierter Vornamen lautete. Er wurde in Basra im heutigen Irak geboren und verließ den glaubensstrengen Abasidenhof in Bagdad, um in Kairo in den Dienst der Fatimiden zu treten. Von den 92 Büchern, die er verfasste, sind noch 55 Werke erhalten. Seine Gestalt ziert eine Banknote des Irak. Er selbst verfasste eine Autobiographie, aber es fehlt immer noch eine Biographie Alhazens in einer westlichen Sprache, wie denn überhaupt die arabische Kultur nicht auf den Königsweg der Kulturgeschichte gelangt ist. Vor 1027 hatte Alhazen eine Zusammenfassung der ptolemäischen Dioptrik und der euklidischen Geometrie geschrieben. Doch dann ließ er die Griechen hinter sich. Sein Hauptwerk, Kitab-al Manazir oder Buch der Optik genannt, fand schon um 1200, vielleicht in Spanien, unter den beiden Titeln De Aspectibus oder Perspectiva eine stark fehlerhafte Übersetzung ins Lateinische, in welcher auch drei Kapitel des ersten Buches fehlten. Durch solche Mängel stieß es im Westen auf manche Missverständnisse, die sich in den Kommentaren von Roger Bacon, John Peckham und Witello denn auch bemerkbar machen. Sie bestimmten noch immer das Textverständnis, als Johannes Kepler 1604 seinen Kommentar zu Witellos Kommentar verfasste und darin erstmals einen entscheidenden Schritt über Alhazen hinaus tat. Erst 1989 legte Abdelhamid I. Sabra, der in seiner Jugend in Alexandria Karl Popper kennen lernte und durch ihn an das Warburg Institute in London kam, eine Übersetzung der drei ersten Bücher Alhazens aus dem Arabischen vor, mit welcher das Textverständnis auf eine neue Basis gestellt wird. Alhazen beobachtete im Spiegel, dass sich der Einfallswinkel des Lichts im Ausfallswinkel wiederholt, und ließ sich davon in seiner Theorie der Lichtbrechung oder Refraktion anregen. Auch im Auge, als einem halbtransparenten Körper, trete das Licht in Brechungen ein, an denen sich sein Weg durch die Welt ablesen lässt. Es gibt nur „imaginierte, nämlich strahlenförmige Linien", auf denen sich Licht und Farbe fort bewegen. In seinem Traktat über das Licht besteht er darauf, dass sich die Sehstrahlen allein von der Mathematik erklären lassen. Sie seien eine Eigenschaft des Lichts, das die transparente Materie durchleuchtet und die opake Materie beleuchtet. Sichtbarkeit ist keine primäre, sondern eine vom Licht abgeleitete Erfahrung. Zwar lassen sich Sehstrahlen nicht direkt wahrnehmen, aber sie sind für die Wahrnehmung der Dinge verantwortlich. Das Licht breitet sich nicht flächig oder körperlich, sondern in geometrischen Bahnen aus, welche punktweise die Oberfläche der Dinge mit der Oberfläche des Auges verbinden. „Die geraden Linien sind notwendig virtuell und nicht real", wie der Autor eigens unterstreicht. Das körperlose Licht bewegt sich durch die Welt in geometrischen Figuren und Bahnen.

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Das Licht besitzt in Alhazens Weltbild eine Bedeutung, die eine andere Auffassung von Physik verrät. Der Hierarchie des Lichts, vom selbstleuchtenden Körper bis zum Reflexlicht, entspricht eine ähnliche Hierarchie der Körperwelt. Am Himmel kreisen selbstleuchtende Körper, während im irdischen Bereich transparente, halbtransparente und schließlich opake Körper als Substanzen existieren. Selbst die Luft muss ein transparenter Körper sein, damit sie die Sehstrahlen leiten kann. Alles ist Körper, was nicht Licht ist. In der Körperwelt herrscht eine hierarchische Ordnung darin, dass sie sich von reiner Transparenz bis zur opaken Undurchdringlichkeit nach unten abstuft und dabei an Rang verliert. Nur das Licht hat eine andere Existenzweise. Da es über die Kraft zur Lichtbrechung verfugt, lässt es sich auf seinem Weg durch die Welt von keinem Körper aufhalten und setzt seine Bahn auch dort fort, wo sich ihm opake Körper in den Weg stellen. Der enge Bezug, der in der Neuzeit zwischen Blick und Bild entsteht, hat in der arabischen Kultur keine Entsprechung. Im westlichen Denken ist der Blick auch aktiv im optisch-visuellen Akt der Wahrnehmung. Er sieht die Welt in Bildern, in der sie sowohl gegenständlich wie bildhaft wird. Solche Bilder sind deswegen darstellbar, weil sich auch das Subjekt die Welt vor seinen Augen als Bild oder in Bildern vorstellt. Bildtheorie ist immer zugleich eine Theorie des Subjekts, dessen Blick sich in den Sehvorgang einschaltet. In der anderen Kultur ist, statt vom Blick, von Imagination und den inneren Sinnen die Rede. Hier ist die Psychologie ein wichtiges Thema der Wahrnehmung gewesen, um damit eine bloß mathematische Beweisführung zu überschreiten. Die inneren Bilder sind Seh-Bilder anderer Art oder, streng genommen, gar keine Bilder, denn sie kommen im optischen Prozess gar nicht vor. Alhazen unterscheidet bloße Empfindung, im Sinne optischer Eindrücke, als „pure sensation" von „inferential perception" oder urteilender Wahrnehmung, in welcher zweiundzwanzig verschiedene Merkmale der Dinge zur Synthese gebracht werden. Die mentalen Bilder sind deshalb der bloßen Sinneswahrnehmung überlegen. Die äußeren Sinne empfangen nur „Sehformen" oder species, die keine Bilder sind. Es sind optische Merkmale, aber nicht die Dinge an sich, worauf ich zurückkommen werde. Die islamische Kunst wandte sich ganz entsprechend von einer mimetischen Darstellung der Außenwelt ab, um die inneren Sinne mit einer abstrakten Ordnung zu reinigen und sie auf sich selbst zu verweisen.„Der Sehsinn", um Alhazen zu zitieren, „hat kein eigenes Urteilsvermögen, aber dieses ist auf die Allianz mit ihm angewiesen". Die Phantasie, die in der islamischen Kunst eine zentrale Rolle spielt, ist auch für Träume und für prophetische Visionen zuständig. Sie wird als ein körpereigenes Organ verstanden. Die Imagination hat als Produzentin innerer Bilder in der Traumtheorie immer eine Schlüsselrolle gespielt. Auf der westlichen Seite wird sie jedoch oft von der äußeren Wahrnehmung abgerückt. Im Traum sind die äußeren Sinne gleichsam suspendiert und durch den Schlaf blockiert. In der arabischen

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Theorie dagegen wird die Imagination auch im Prozess der Wahrnehmung aktiv, denn das Sehen vollendet sich erst im Intellekt (im Gehirn), wo die optischen Eindrücke durch die Imagination gespeichert und transformiert werden. Die inneren Bilder, an welche der Sehsinn nicht heranreicht, sind folglich nicht konvertibel in physische Bilder. Von ihnen lassen sich keine Bilder machen. Vielmehr bleibt die Imagination undarstellbar. So drückt sich im Verhältnis von Blick und Auge das Weltbild zweier verschiedener Kulturen aus. Das perspektivische Bild des Westens, mit seiner engen Verbindung von Auge und Blick, hätte in der anderen Kultur keinen Sinn gehabt. Gerade die Übertragung der optisch-mathematischen Theorie in den Westen enthüllt die Komplexität im Verhältnis von Wissenschaft und Weltanschauung. Auf der Seite des Islam gedieh die Wissenschaft in einer an-ikonischen Kultur, in welcher die Geometrie auch die Kunst dominierte und Zahlen und Maßverhältnisse oder Schrift und Formeln im Vordergrund standen. Die Renaissance dagegen stieg mit der gleichen Sehtheorie in eine neue Bildpraxis ein. Deshalb sah sie in der Kunst eine angewandte Wissenschaft und begründete eine Allianz, die in der Zeit Keplers wieder aufgekündigt wurde. Als Ersatz kam es, etwa mit Teleskop und Mikroskop, zur Entwicklung von im engeren Sinne technisch-wissenschaftlichen Bildern. Nimmt man die Bild-Tabus in der einen Welt und den Bild-Trieb in der anderen Kultur ernst, dann wird die Brisanz in der Bildfrage deutlich. Wir können von zwei Seh-Kulturen sprechen, die sich gerade in der Bildfrage auch dort unterscheiden, wo es ganz grundsätzlich um visuelle Erfahrung geht. Ich möchte dieser flüchtigen Skizze zwei weitere Gedanken anschließen. Im Zeitalter der Scholastik wurde die islamische Theorie von den „Perspektivikern" der westlichen Hochschulen verbreitet. Aber sie löste einen erbitterten Streit über das Verhältnis des Sehsinns zur Erkenntnistheorie aus, in dessen Verlauf die Logik als Bollwerk gegen die Sinne aufgebaut wurde (Ockham gegen Bacon). Wenn wir von Ähnlichkeit bei Bildern sprechen, so hatte es die Sehtheorie mit einer ganz anderen Ähnlichkeit zu tun. Es ist die Ähnlichkeit dessen, was wir wahrnehmen, mit der Form, in der wir es wahrnehmen. Wir können die Dinge nur in den „Sehformen" oder species wahrnehmen, die sie aber nicht als Ganzheit abbilden. Damit war die Frage der Realität revolutioniert und an den Part des wahrnehmenden Auges gebunden. Die Folgen zeigen sich bald auch in der Malerei. Giotto erfand keine Frühform des perspektivischen Bildes (dazu bedufte es erst, zwei Generationen später, der philosophischen Definition des leeren Raumes durch einen Gelehrten in Parma), sondern führte die „Sehform" in die gemalten Bilder ein: Er stellte fortan die Dinge nicht so dar, wie sie an sich sind, sondern band ihre Darstellung an einen externen Betrachter. Die gemalte Fiktion suggerierte dem Betrachter, die Dinge so zu sehen, wie er sie selbst in der eigenen Welt sah. Der zweite Gedanke gilt der Frage, ob die Renaissance die Herkunft der importierten Sehtheorie bemerkte. Zwei Hindernisse standen dabei im Wege.

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Alhazen trat hinter seinen lateinischen Interpreten inzwischen bereits in den Hintergrund. Der allgemeine Streit um Averrhoes und die islamischen „Häretiker" tat ein Übriges, um zur arabischen Welt, mit der man in Spanien sogar Kriege führte, auf Distanz zu gehen. Sodann erhob die Renaissance den Anspruch, die Erbschaft der Antike anzutreten. Im dritten Teil seiner Kommentare nennt der Florentiner Bildhauer Lorenzo Ghiberti unter den „vielen antiken Philosophen und Mathematikern" ganz harmlos auch Alfantem (Alhazen). Er kannte dessen Werk durch eine populäre Übersetzung ins Italienische, welche die Aktualität der Schrift auch im Künstlermilieu beweist. Zwar exzerpiert er seitenweise Alhazen, doch räumt er der arabischen Optik keinen eigenen Status ein, denn sein Weltbild war ganz auf die Antike fixiert. Wie seine Zeitgenossen las er Alhazen im Lichte von Euklid und Ptolemäus, ohne sich einzugestehen, dass Alhazen die antiken Autoritäten gründlich widerlegt hatte. Die neue Perspektive fußte ganz auf der arabischen Sehtheorie, aber sie berief sich weiterhin auf die Antike. Reflektion und Refraktion sind einerseits optische Tatsachen, andererseits aber Symbole für ein verschiedenes Weltbild. Die Bedeutung der Körper steht zu jener des körperlosen Lichts jeweils in einer umgekehrten Rangordnung. Die Präsenz der Körper spiegelt sich in der Antike in einer Bilderwelt, die stark körperlich geprägt ist. Die Präsenz des Lichts aber führt ebenso zur Entkörperlichung wie zur Entbildlichung der visuellen Welt. Das Auge wird dabei zu einem passiven Organ, ähnlich wie es die Dinge sind, die vom Licht durchdrungen oder gestreift werden. Erst die arabische Sehtheorie hat die Voraussetzung für die Berechnung oder Berechenbarkeit des optischen Prozesses geschaffen. Aber diese Rechnung ging wiederum erst in Bildern auf, als die Mathematiker in der westlichen Kultur den Raum einführten. Deshalb sind die Bilder der Renaissance ganz anderer Art als die Bilder der Antike. Sie sind Konstruktionen im mathematischen und geometrischen Sinne, und als solche wurden sie mit Hilfe der Sehtheorie berechnet. Erst auf dieser Grundlage konnte eine neue Sehkultur wieder bildhaft werden.

Die Perspektive als symbolische Form Die Erfindung der linearen oder artifiziellen Perspektive wurde als Revolution in der Geschichte des Sehens gefeiert. Aber in dieser Praxis liegt ein elementarer Widerspruch: Es ist der Widerspruch zwischen Auge und Blick. Ist das Auge ein Sehorgan, so wird der Blick von der kulturellen Praxis gesteuert. Im perspektivischen Bild nahm das neuzeitliche Subjekt die Welt in den Blick. Wurde die Welt im Heidegger'schen Sinne zum Bild, so fühlte sich das Individuum in einem solchen Bild autonom. Aber der Bildglaube im perspektivischen Modell führte bald in Konflikte. Der Automatismus der optischen Gesetze war eine unwillkommene Entdeckung, als man in Keplers Zeit das Retina-Bild

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selbst im Kuhauge wiederfand. Während das Retinabild den Sehvorgang einleitet, kommt das Sehbild erst jenseits des optischen Feldes zustande. Da näherte man sich wieder der arabischen Sehtheorie, die Kepler als erster modernisierte. Aber die Bildfrage war inzwischen im Westen schon entschieden, auch wenn die neue Naturwissenschaft wieder Abstand von ihr nahm. In der mathematischen Perspektive hatte man ein Faksimile des Sehbilds angestrebt, indem man es nach außen projizierte. Es sollte beweisen, auf welche Weise wir von Natur aus sehen. Überspitzt gesagt, bedeutete das Sehbild in der nahöstlichen Denkweise ein mentales Bild, mit dem man sieht, ohne dass es sich selbst sichtbar machen lässt, weil es in der Außenwelt nicht vorkommt. In der westlichen Kultur dagegen war es ein Bild wie jedes andere und deswegen auch darstellbar, ja wurde es als analoges Bild zum Modell aller Bilder. Die Bildfrage gewinnt hier eine Bedeutung, die in der Wissenschaftsgeschichte bis heute nachwirkt. Im arabischen Denken wäre es absurd gewesen, dem inneren Bild ein Double gegenüber zu stellen, das nur ein Götze sein konnte, denn das Auge konnte zwar optische Stimuli, aber keine wirklichen Bilder empfangen. Gemalte Bilder der Welt mussten als Idole aufgefasst werden, als sie schließlich im arabischen Bereich bekannt wurden. Sie konnten es weder mit der Welt, in welcher wir leben, aufnehmen noch mit der inneren Bildproduktion, die ein Geheimnis der menschlichen Natur blieb. In der Forschung zur Perspektive zeigt sich oft ein Widerstand gegen den Gedanken, unserem Blick eine kulturelle Prägung einzuräumen. Lieber hält man ihn fur eine reine Naturgegebenheit. Deswegen kam es zu den bekannten Kontroversen um Kultur und Natur. Doch lässt sich das eine nicht vom anderen isolieren. Die Neuzeit berief sich immer auf die Natur und erklärte den Blick mit der Funktion des Auges, das unbestreitbar ein Naturorgan ist. Zugleich aber „entdeckte" sie im Blick ein Symbol ihrer eigenen Kultur, die durch eine Dominanz des Visuellen gekennzeichnet war. Deswegen beschritt sie in der Ikonisierung des Sehens einen eigenen Weg. Handelte die arabische Sehtheorie von Lichtstrahlen und den Täuschungen des Auges, weshalb sie selbst im Spiegel am liebsten nach geometrischen Abläufen suchte, so war die westliche Bildtheorie von einem Seh-Bild fasziniert, das sie in analogen Bildern nachmessen und symbolisieren wollte. Die Zentralperspektive, als eine westliche Seh-Norm, war ein kulturelles Projekt. Im Titel einer berühmten Untersuchung hat der Kunsthistoriker Erwin Panofsky die Bildperspektive 1927 als „symbolische Form" bezeichnet. Damals arbeitete der Philosoph Ernst Cassirer, von dem Panofsky den Begriff übernahm, am dritten Band seines Werks über die Philosophie der symbolischen Formen. Aber er verstand den Begriff anders. Für ihn waren Sprache, Mythos und Kunst als solche symbolische Formen. Seine Kulturtheorie war neukantianisch angelegt und von der florierenden Gestaltpsychologie angeregt. Die Begegnung mit anderen Kulturen hatte in seinem Entwurf keinen Platz. Vielmehr

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sah er in Sprache und Kunst besondere Kulturen in der menschlichen Geschichte. Jeder Band beginnt „nach dem Vorbild Kants mit einer Untersuchung von Raum und Zeit". Der dritte Band handelt vom Raum als einer „Welt der reinen Anschauimg", in der sich universale Raumtypen „entfalten". Es wird jetzt verständlich, warum Panofsky nicht den Blick, sondern den Raum zum Maßstab seiner Untersuchung gemacht hat. Der „systemische Raum", von dem er spricht, trägt Gedanken Cassirers weiter, der sich seinerseits auf Ernst Mach berief. Panofsky räumt ein, dass die „Struktur eines mathematischen Raumes unserer Raumwahrnehmung geradezu entgegen gesetzt ist", und doch stellt er nicht die Frage, wie es dazu kam, dass die Neuzeit den Sehraum in einem mathematischen Schema abbildete. Diese Erfindung wird sogar in Zweifel gesetzt, wenn er versucht, auch der Antike eine eigene Perspektive zu bescheinigen. „Tatsächlich scheint die Möglichkeit zu bestehen, daß die antike Malerei [...] ein solches Verfahren besessen hat", obwohl sie „eine grundsätzlich abweichende Raumanschauung" besaß. In der Perspektive sah er ein „Stilmoment", das die „einzelnen Kunstepochen" unterscheidet, und nivellierte damit die kulturelle Signifikanz der Erfindung, von ihrem wissenschaftlichen Hintergrund ganz zu schweigen. Wenn Panofsky davon spricht, dass die Perspektive den „Bildraum nach dem Schema des empirischen Sehraums" aufgebaut habe, dann bleiben wichtige Fragen offen. Was ist denn der Bildraum und was der Sehraum? Geht es immer nur um „Raum", wenn das Sehen bildlich wird? Panofsky räumte ein, dass die behauptete Analogie mit dem Sehbild eine „überaus kühne Abstraktion von der Wirklichkeit" war. Und doch erkannte er im Raum eine „autonome Symbolgestalt", die er mit einer jederzeit vorhandenen Grunderfahrung verknüpfte. Aber der mathematische Raum wurde erst auf der Schwelle zur Neuzeit von einem Philosophen erfunden, der in der Jugend Brunelleschis auch in Florenz lehrte. Die Perspektive, als neuzeitliche Bilderfindung, ist zu einer symbolischen Form der visuellen Kultur des Westens geworden. Doch ist sie in dieser Kultur nicht die einzige ihrer Art, und ihr entsprechen symbolische Formen in anderen Kulturen, die noch nicht zum Thema gemacht worden sind. Man kann die Sicht Panofskys auf jene Cassirers zurückbeziehen, wenn man den Gedanken zulässt, dass die neuzeitliche Kunst ihrerseits gerade durch das perspektivische Modell zu einer symbolischen Form wurde. Ist nämlich Kunst ganz allgemein eine symbolische Form im Sinne Cassirers, dann ist es die westliche Kunst der Neuzeit dank der perspektivischen Erfindung in einer ganz spezifischen Weise, an der man ihre Herkunft in aller Welt ablesen konnte. So ist auch der Aufstand der modernen Künstler gegen die perspektivische Konvention, in der sie eine unwillkommene Identität abschütteln wollten, verständlich. Auch die islamische Kultur ist mit symbolischen Formen hervorgetreten, ohne dass man vom „Fehlen" der Perspektive sprechen müsste, denn dann würde man einen falschen Maßstab anlegen, der kulturgeschichtlich naiv und

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außerdem eurozentrisch wäre. Ähnliches gilt für Begriffe wie Anti-Perspektive oder „umgekehrte Perspektive", wie Oskar Wulf, später gefolgt von Pavel Florenskij, das Mittelalter oder die Ikonenmalerei charakterisierte. Wie kann man etwas „umkehren", was noch gar nicht erfunden ist? Die sog. Bedeutungsperspektive ist ebenfalls ein fragwürdiger Begriff, weil er wieder die Perspektive ins Feld führt, die es dort gar nicht gibt. Die Größenordnung gemäß der Bedeutung in einem Bild ist etwas viel Natürlicheres, als die Welt aus einem zufälligen Entfernungswinkel heraus zu betrachten. Diese Terminologie muss sich von der Norm der Perspektive, von der sie nur Abweichungen feststellt, freimachen. Auch in der islamischen Kultur lassen sich symbolische Formen festmachen, die ich hier nur erwähnen, aber nicht beschreiben kann. Die Form des Lichts gehört dazu, das in Innenräume eindringt oder auf Oberflächen spielt. Der Perspektive des Blicks entsprechen in der anderen Kultur symbolische Formen wie die Filterung des Lichts in Innenräumen oder die kunstvolle Geometrie, die überall der Körperwelt vorgeblendet ist, so dass sie das Auge diszipliniert und die Imagination reinigt. Ein einziges Beispiel mag genügen, um die beiden Kulturen zu unterscheiden. Es findet sich im Fenster, das in der islamischen Kultur nicht zum Durchschauen und nicht für einen Betrachter konzipiert war, der am Fenster seinen Standort bezog. Wollte man den Ort des Fensters in der islamischen Ästhetik angeben, die noch heute bei Architekten und Fotografen praktiziert wird, so müsste man von einem semi-transparenten Lichtschirm sprechen, auf dem sich das Licht mit dem Ornament verbündet und die westliche Vorstellung von Innen und Außen außer Kraft gesetzt ist. Die Perspektive ist im Westen als Sehtheorie importiert worden, aber erst als Bildtheorie eine „symbolische Form" der westlichen Kultur geworden. Gottfried Boehm sah in seiner Heidelberger Dissertation das perspektivische Bild als Symptom einer „kognitiven Revolution" an, denn es räumte dem Subjekt einen perspektivischen Standort in der Welt ein. Die Vorstellung einer gesehenen Welt, die es mit sich führte, repräsentiert ein anthropozentrisches Denken. Die Entdeckung des Blicks hat das Subjekt gleichsam ins Bild gesetzt. Das geschah im frühen Porträt und gleichzeitig in der Zentralperspektive, denn sie stellte das Subjekt mit seinem Blick dar, der zum Bild geworden ist. So konnte man seinen eigenen Blick betrachten. Aber die Allianz mit der Wissenschaft war von kurzer Dauer. Descartes warf den Malern vor, sie vernachlässigten die Krümmung der Netzhaut und operierten mit geraden Sehstrahlen, wo in Wirklichkeit nur Kurven zu beobachten waren. Deshalb kritisierte er das Vorhaben, die Welt in ein Bild zu fassen und den Blick zum Bild zu machen. Die Differenz von Blick und Auge war von der Renaissance auf zwei Begriffe gebracht worden, welche ihre Verschiedenheit einräumen. Pictura ist das postulierte Sehbild, während visio den Sehprozess bezeichnet, der nur mathematisch darstellbar ist. Pictura repräsen-

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tierte den autonomen Blick, während visio den Automatismus im Auge meinte. Johannes Kepler aber revolutionierte diesen Gedanken, als er auf der Netzhaut im Augen-Innern ein rein optisches Bild entdeckte, das weder in der Außenwelt noch im Kopf eine Entsprechung hat. Sein Merksatz ut pictura, ita visio setzt Bild und Sehreiz, statt sie zu unterscheiden, gleich. Keplers Retina-Bild hat mit dem Bildbegriff der Renaissance nichts mehr gemeinsam und löst die mentale Wahrnehmung von rein optischen Bedingungen ab, ohne noch den Bildbegriff zu verwenden. Damit öffnete sich in der westlichen Naturwissenschaft von Neuem jene Zäsur zwischen Blick und Auge, welche schon die arabische perspectiva kennzeichnet. In der Moderne kam es zur Spaltung zwischen der Perspektive als einer populären Seh-Konvention und der Perspektive als einem ausgedienten Modell in Kunst und Wissenschaft. Die moderne Kunst, mit ihrem Anti-Perspektivismus, fand zu sich selbst im Widerspruch gegen den perspektivischen Konsum in der Alltagskultur. Der Widerspruch wurde dabei zum Fanal des „Fortschritts", indem man eine westliche Erblast wie ein überflüssiges Gepäck abwarf. Dieser Prozess wurde von der Kunstwissenschaft in Österreich früh analysiert. Dagobert Frey stellte 1929 in seiner Studie zu den „Grundlagen der modernen Weltanschauung" Gotik und Renaissance als Gegensatz von sukzessiver und simultaner Darstellungsweise heraus. Fritz Novotny sah in seinem CézanneBuch von 1938 die Geburt der Moderne im Kampf gegen eine Perspektive, welche die Malerei bisher in Fesseln gelegt hatte. Werner Hofmann führte diesen Gedanken in seinem Buch über Die Moderne im Rückspiegel weiter. In der Mehransichtigkeit moderner Kunst sah er eine paradoxe Affinität zum vorperspektivischen Mittelalter. Die modernen Künstler aber beriefen sich lieber auf die Naturwissenschaftler, welche das physikalische Weltbild damals umstürzten, und wandten sich mit diesem Hinweis gegen den veralteten Realismus der perspektivischen Konvention. In den Manifesten des sog. „Primitivismus" zeigte sich bei dem jungen Picasso und seinen Kollegen auch die Sehnsucht nach einer großen Freiheit, in der man ebenso die Perspektive wie jeden Realismus verabschieden wollte. In anderen Teilen der Welt jedoch hatte sich der Realismus inzwischen paradoxerweise als größte Errungenschaft der Moderne eingebürgert. Die immer wieder beschworene Analogie zwischen Natur und Kunst enthüllt gerade durch ihre Hartnäckigkeit ihren Charakter als eine kulturelle Setzung. Im perspektivischen Monopol hat das westliche Sehbild sein Symbol gefunden. Für Merleau-Ponty ist die Perspektive „eines der vom Menschen erfundenen Mittel, um die wahrgenommene Welt vor sich zu projizieren, und nicht deren bloßes Abbild. Sie ist lediglich eine mögliche Auslegung des spontanen Sehens". Im Verzicht auf die freie Wahrnehmung ist sie an einen einzigen Standort und an ein „unbewegliches Auge" gebunden „Sie ist die Erfindung einer beherrschten Welt, die man nur in einer momentanen Synthese ganz und gar besitzen kann". Deswegen bestehe die Gefahr, sich in den

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Widerspruch zwischen objektiver Ansicht und subjektiver Blickwahl zu verstricken. Die Perspektive ist nicht universal, sondern an eine bestimmte Kultur gebunden. Die Phänomenologie muss sich hier selbst Grenzen setzen, um Natur und Kunst konsequent zu unterscheiden. In der Gegenwart kommt es zu einem freien Spiel mit perspektivischen Klischees, die leicht als Fiktion erkennbar sind. Die Verschiebung zwischen dem alten perspektivischen Zwang und einem bloßen „perspektivischen Theater" fuhrt bei dem Filmemacher Peter Greenaway zu einer irrealen Ikonographie von halluzinatorischen Räumen. Die Geschichte der Perspektive, in welcher Wissenschaft und Kunst so oft miteinander rivalisiert haben, ist hier zu einem Spielmaterial der Erinnerung geworden. In den Massenmedien dagegen erweisen sich perspektivische Klischees trotz ihres Autoritätsverlusts als ein langlebiges Rezept, um Illusionen wie dokumentarische Wahrheiten aussehen zu lassen. Eine solche Bildpraxis verharrt schon deswegen in den Bahnen der perspektivischen Gewohnheit, weil sie inzwischen globalisiert ist. Bildmedien wie das TV bedienen den Illusionsbedarf eines globalen Publikums mit einer Anpassung der Technik an alte Bildkonventionen des Westens. Ecke Bonk schrieb 1984 in der Zeitschrift Wolkenkratzer, die Bildröhre habe „das Konzept der Zentralperspektive verinnerlicht, indem sie den Fluchtpunkt als Bildgenerator im Kathodenstrahl materialisiert." Und dies, obwohl das Bild gänzlich anders entsteht, nämlich „in den Raum hinein gejagt wird, von Katalysatoren gefangen und in einer Rastermaske kurz gebremst. Und so ist die Röhre auch der neue Ort für eine veränderte Perspektive", denn sie ersetzt das Konzept der Fluchtlinien durch ein solches „der Fluchtfolgen. Jetzt fallt der Blick auf die künstliche Horizontschar einer Monitorwand." Der Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Blick enthüllt im perspektivischen Ideal ein Paradox. In der Wahrnehmung geht es um den optischen Prozess, der innerweltlich verläuft. Im Blick dagegen besteht das Subjekt auf seinem Recht, die Welt so zu sehen, als beobachtete es sie von einer externen Position. Der Betrachter ist mit seinem Körper nicht dort, wo sein Blick hinkommt. Gottfried Boehm wies auf einen ähnlichen Widerspruch in der kopernikanischen Wende hin. „Wer sehend sein eigenes Sehen mitreflektiert, mag man den Herrn seines Blicks nennen. Er muss gleichzeitig aber seine Ohnmacht einbekennen. Denn was auch immer er sieht, er kann die Grenzen seiner Wahrnehmung sehen. Die Welt des Auges schattet sich ab, das Unsichtbare ist ihr sichtbarer Horizont." Ernst Cassirer sah im homogenen Raum nur eine „logische Aufgabe", um darin Intervalle und Entfernungen wie einzelne Schritte des Auges auszumessen. In physiologischen Räumen wie dem Gesichts- und dem Tastraum könne von Homogenität nicht die Rede sein. Erwin Panofsky zog daraus den Schluss, die perspektivische Geometrie vernachlässige „den gewaltigen Unterschied" zwischen dem „Sehbild, an dem unser Bewusstsein mitwirkt, und dem bloßen Netzhautbild". Die Wahrnehmung ist zunächst eine physiologische Aktivität,

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während der Blick einen Akt der Selbstwahrnehmung darstellt. Lässt man sich auf diesen Unterschied ein, dann ist die geometrische Perspektive eher ein Symbol für die Herrschaft des Blicks als ein Medium der Wahrnehmung. Während sich die Natur, mit ihrer unberechenbaren Kontingenz, in kein Schema zwingen lässt, stellt die Perspektive die Welt so dar, wie sie allein in der Idee sein kann.

Orhan Pamuk und der „Verrat" der Perspektive Die arabische Welt lässt sich in kein koloniales Schema pressen. Wenn sie der Perspektive Widerstand entgegensetzte, so lag darin auch eine Zensur der Religion, die Bilder von Lebewesen unter Tabu stellte. Es kam zu einem paradoxen Sachverhalt, als in der westlichen Kunst des 19. Jahrhunderts der Orientalismus aufblühte, während der Orient von sich selbst keine vergleichbaren Bilder besaß. Gerard de Nerval sah auf seiner Orientreise 1843 Darstellungen von Landschaften, von Städten (oder Moscheen) und von Schlachten. Man zog Seeschlachten vor, um keine Menschen ins Bild setzen zu müssen, und hier „schwammen riesige Fische vorne im Wasser, ohne sich um die Schlacht zu kümmern, deren Teilnehmer weniger Leben zu haben schienen als sie selbst". Nerval war sich bewusst, dass er die Klischees eines westlichen Reisenden mitbrachte, doch gab er sich Mühe, eigene Erkundungen anzustellen. In der Öffentlichkeit stieß er jedoch auf keine „türkische Malerei", so der Titel seines Essays, die den Vergleich mit der westlichen Kunstszene aushielt. Er mochte ahnen, dass die Istanbuler Oberschicht Einkäufe auf dem Pariser Kunstmarkt machte, und fand in den Palästen Porträts der Besitzer, die heimlich von Ausländern gemalt worden waren. Ein befreundeter Maler erzählte ihm, er habe einen türkischen Kollegen dabei beobachtet, wie er die Minaretts der BeyazidMoschee, vor welcher er saß, in Rot gemalt habe und, auf Nachfrage, die Erklärung erhalten, rot sei in diesem Falle die Lieblingsfarbe eines Kunden. Diese Anekdote scheint in einem Romantitel Orhan Pamuks zurückzukehren. In seinem Roman Rot ist mein Name gibt es ein Kapitel, in dem die Farbe Rot einen Monolog hält. Der Roman spielt im 16. Jahrhundert, als die perspektivische Malerei der „ungläubigen fränkischen Meister" am osmanischen Hof bereits ein Jahrhundert lang bekannt, und gefurchtet, war. Ein Mord soll verhindern, dass die „Verräter" unter den einheimischen Buchmalern gefasst werden. Auch Nerval erzählt mit großer Geste die Legenden nach, die sich um den Aufenthalt des Venezianers Gentile Bellini am Hof Mehmets „des Eroberers" ranken. Damit stehen wir in der Zeit der Renaissance, in welcher der Osmanenhof wahrhaftig keine westliche Kolonie war. Die Perspektive war in der Begegnung der Osmanen mit der westlichen Kunst ebenso Faszinosum wie Stein des Anstoßes. Der islamische Maler, um mit dem Roman zu enden, „zieht eine Horizontlinie und sieht wie Allah die

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Welt von oben". Man wirft deshalb den Neuerern vor, sie würden „die Welt perspektivisch aus dem Blickwinkel eines dreckigen Straßenköters betrachten", und eine Moschee, nur weil sie weiter entfernt war, „genau so groß malen wie eine Pferdebremse". Das Opfer im Mordfall beschwor sein Verderben heraus, als er verlautbarte, es sei „eine satanische Verfuhrung, Bilder mit der Kunst der Perspektive zu malen. Nicht nur habe die Perspektive das Bild vom Blickwinkel Allahs entfernt und es auf jenen eines Straßenköters erniedrigt, sie führe auch zum Verlust „unserer Reinheit" und mache uns zu „Sklaven der Ungläubigen".

Die Globalisierung der Perspektive in der Kolonial-Ära Die Globalisierung der Perspektive, ausgestattet mit dem Etikett eines westlichen Patents, hatte eine jahrhundertlange Vorgeschichte, die mit der Kolonisation und der Missionierung anderer Erdteile beginnt. Damals wurde ihr Import gegen lokale Sehgewohnheiten erzwungen. Die Chinamission der Jesuiten, die 1583 mit der Ankunft von Pater Matteo Ricci die ersten Erfolge zeitigte, führte das perspektivische Zeichnen ein, um für den kirchlichen Glauben zu werben. Ricci, der Euklids Bücher über die Geometrie ins Chinesische übersetzt hat, rühmte im Vorwort sein Heimatland Italien als „einzigartig in der analytischen Strenge, mit der in seinen Schulen Naturphänomene erforscht werden". Riccis Vorgesetzter in Rom, Pater Alessandro Valignano, drängte auf die Ausbildung chinesischer Künstler in Linearperspektive, doch entschied er sich schließlich dafür, diese Ausbildung nach Japan zu verlegen. Aber erst im 18. Jahrhundert setzte sich die perspektivische Mode in Japan durch. Shiba Kokan (1747-1818) sah in dieser Methode die allein,.richtige Art des Sehens". Folge man den Regeln des perspektivischen Blicks, so werde sich „ein solches Bild in nichts von der Realität unterscheiden". Perspektivische Bilder wurden mit den Begriffen „Fließende Bilder" (ukie) oder „Versenkte Bilder" (kubomie) benannt. Offenbar gewann der japanische Betrachter den Eindruck, dass sein Blick in das Bild hinein „floss" oder dass im Bild ein fiktiver Raum „versenkt" war. Die westliche Perspektive fand den geringsten Widerstand in den japanischen Massenmedien, deren Drucke nicht als hohe Kunst galten. Guckkastenbilder wurden mit dem gleichen Begriff bezeichnet wie der Apparat selbst, nämlich ukie. Im Westen handelte man solche Apparate ebenfalls unter dem Begriff Optique. In Indien wurde das perspektivische Zeichnen zu einem festen Bestandteil der kolonialen Umerziehung. Lockwood Kipling, der Vater des Schriftstellers Rudyard Kipling, wirkte seit 1865 in Bombay in der „School of Art and Industry", in deren Namen auch das neue Interesse Englands an der Ausbildung im Design anklingt. Kipling hielt zwar die Inder für unfähig, Kunst im westlichen Sinne hervorzubringen, doch Sir Richard Temple forderte sie auf,

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„Dinge korrekt zu zeichnen. So würden sie ihre mentalen Mängel (mental faults) loswerden". In der gleichen Zeit, in welcher die koloniale Seh-Erziehung im Gange war, verweigerte sich jedoch die frühe Fotografie in Indien dem perspektivischen Code und schloss sich im Bildaufbau indischen Traditionen an. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Perspektive als ein Instrument der Kolonialisierung fungierte. Sie galt als Norm für das „natürliche Sehen" und in ihrem Realismus als Erziehung zum Fortschritt. Es kam zu einer paradoxen Situation, als die moderne Kunst des Westens dem perspektivischen Zwang abschwor, während andere Kulturen damit die Moderne einführen wollten.

Ludger Schwarte

DIE KUNST, DAS UNVERNEHMEN ANZUERKENNEN

Bemerkungen über die Arabeske

Helfen uns die Künste, das Unvernehmen anzuerkennen oder gar an ihm Gefallen zu finden? Kann dieses Gefallen eine wichtige Rolle im interkulturellen Dialog übernehmen? Die erste Frage erscheint relativ einfach. Selbstverständlich gibt es Kunstwerke, die darauf angelegt sind, ganz klar und verständlich zu sein. Diese Klarheits-Absicht teilt der Klassizismus mit dem Modernismus bis zur PopArt. Bekanntlich sind die Begriffe der Klarheit und der Evidenz die unterschwelligen ästhetischen Kategorien der modernen Ästhetik, wie sie René Descartes entworfen hat. Und doch hat bereits Descartes gewusst, dass das Klare und das Evidente nur aufgrund einer Arbeit der Wahrnehmung, des Zweifels und des Urteils erscheinen. Damit der Zweifel methodisch an den Wahrnehmungen und sodann an den Verstandesregeln selbst ausgeübt werden kann, muss man damit beginnen, das Urteilen zu suspendieren, um durch die Illusion und den Trug hindurch ein Bewusstsein davon zu erwerben, was es heißt, zu verstehen. Der erste Schritt hin auf dieses Bewusstsein ist die „Evidenz, dass ich mich täusche".1 „Sich seines Urteils zu enthalten" und „Experimente mit einer falschen Wahrnehmung zu treiben" sind cartesianische Forderungen. Es sind, wenn man so will, ästhetische Operationen im epistemologischen Labor der Moderne. Aus diesen Forderungen folgt, dass das Dunkle, das Tiefe, die Hermetik, die Negativität, die verborgenen Aspekte der modernen Kunst nicht zwangsläufig in einer anderen Kategorie zu situieren sind, sondern Teil der gleichen epistemologischen Operation sind. Diese Operation experimentiert mit der Evidenz der Vernunftgrenzen und nimmt stets als Ausgangspunkt die Suspension des empirischen Urteils, zugunsten der rein intellektuellen Imagination. In seiner Ästhetischen Theorie polemisiert Adorno daher auch gegen diejenigen, die die Kunstwerke „buchstäblich" zu lesen und vollständig zu dechiffrieren trachten. Adorno insistiert auf dem Anteil des Ornaments an der Exploration des Unsichtbaren und Unbegriffenen. Das Ornament hat flir Adorno zumindest zwei Funktionen:

1 Descartes, Méditations, S. 420.

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1. Das Ornament enthält die Spuren einer rationellen Zwecksetzung, durch die eine soziale Praxis die Natur beeinflussen wollte. Dieser Inhalt einer sozialen Praxis ist in der künstlerischen Form sedimentiert und negiert diese zugleich; er negiert sie, weil das Ornament eine Form ohne Zweck ist, genauer: interesselos, ohne Willen zu beherrschen. Aus diesem Grund vergleicht Adorno die Organik des Ornaments mit einer „Sprache der Dinge". 2 2. Zumindest in seiner barocken Form einer „Decorazionie assoluta" wäre das Ornament, Adorno zufolge, kein theatrales Dekor mehr für etwas anderes. Sobald nämlich das sublimierte Material mit dem formellen Apriori der absoluten Dekoration übereinstimme, verwirkliche diese Durchbildung der Materialien ein göttliches Schauspiel. Für die moderne Kunst und insbesondere für die Avantgarde schließt Adorno aus diesen Überlegungen, dass die Notwendigkeit einer komplexen Komposition als vage und dunkel erscheinen mag, dass aber diese authentischen Figurationen, wenn sie sich dem Programm der Klassifikation verweigern, dieses doch implizit voraussetzen, indem sie es negieren. 3 Für Adorno ist daher das Ornament die Basis der Negativität der modernen Kunst, die ihren epistemologischen Wert im fortschreitenden Verständnis dessen steigert, was Adorno das „Nicht-Identische" nennt. Um auf die anfangs gestellten Fragen zurückzukommen, lässt sich an dieser Stelle festhalten: Ja, die Kunst bringt uns bei, am Unvernehmen Gefallen zu finden, denn ihre Unvernehmlichkeiten unterscheiden sich vom Unverständlichen und vom Missverständnis. Das, was in der Kunst als dunkel, vage und rein formell erscheint, als inhaltsleer, ist „infra-semantischer" Bestandteil einer Suche nach den Grenzen des Verstehbaren. Weil nun die Kunstwerke dazu beitragen, diese Grenzen des Verstehbaren zu zeigen, sind sie nicht schon unverständlich. Wenn das Ornament vage, dunkel oder inhaltsleer erscheint, so zeigt es uns den ästhetischen Hintergrund dessen, was klar und evident ist. Dies führt mich auf einen bestimmten Typ des Ornaments, der sich ganz besonders schlecht benennen und klassifizieren lässt, obgleich er doch quasi omnipräsent in der europäischen Kunst ist. Etwas, das geradezu als Musterbeispiel dessen gelten könnte, was vage, dunkel und inhaltsleer ist. Ich meine die Arabeske. Was ist eine Arabeske? Ist die Arabeske, wie es das Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe definiert, „das geschwungene und lineare Ornament der islamischen Kunst"? 4 Oder müsste man im Gegenteil sagen, dass diese schwungvoll verschlungenen Linien der Ranke, die man „Arabeske" nennt, eine Gestalt bilden, die man eben nicht in der „islamischen Kunst" findet, sondern nur in der europäischen? Mehr noch, müsste man nicht genauer unterscheiden zwischen einer „arabischen Kunst" und einer „islamischen Kunst"?

2 Adorno 1969, S. 210f. 3 Ebd., S. 437f. 4 Oesterle 2000.

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Die Arabeske wird von Etienne Souriau in seinem Vocabulaire d'Esthétique definiert als „aus Verflechtungen und aus geschickter oder geschmackvoller Disposition von nonfigurativen Linien gewonnene Kompositionen". Hierfür gibt er eine eigenartig anmutende Erklärung: Dieser Term rührt aus dem Arabischen, weil die Araber sich vor allem in diesem künstlerischen Genre ausgezeichnet haben. Dies schreibt man oft einem vorgeblichen Abbildungsverbot der menschlichen Gestalt zu, die man im Koran zu finden meint. In Wirklichkeit existiert ein derartiges Verbot nicht, und der Koran spricht an keiner Stelle von dieser Frage. Es ist aber nichtsdestoweniger wahr, dass in der islamischen Religion (von einigen insbesondere schiitischen Sekten abgesehen) traditionell die figurative Kunst und insbesondere die Darstellung von Lebewesen nicht vorkommt. Dies erklärt zum Teil die Entwicklung eines aus Verzweigungen und abstrakten Kombinationen gebildeten Dekors in der muslimischen Kunst. Aber die griechisch-römische Kunst hat auch Kompositionen des arabesken Genres gekannt. Man findet sie ebenso in der romanischen Kunst wie in der Kunst der Renaissance (Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer und Raffael haben Arabesken komponiert). In seiner reinsten Form setzt sich diese Kunst nur aus Linien zusammen, zum Beispiel aus Federstrichen, die Verzweigungen und dekorative Motive bilden.5

Indem er von einem „arabesken Genre" spricht, liefert Souriau folglich eine widersprüchliche Definition: Einerseits unterstreicht er, dass dieses Genre, d. h. diese selben Verzweigungen ausbildenden Linien, bereits von der griechischen Kunst entwickelt worden ist. Auf der anderen Seite insinuiert er, dass die Arabeske ein von .Arabisch" abgeleiteter Term sei, weil die Araber sich in diesem künstlerischen Genre besonders hervorgetan hätten, aufgrund einer kulturellen Begleiterscheinung ihrer Religion, wenn man so sagen kann. Auch Annemarie Schimmel nennt in ihrem Beitrag zum Katalog Ornament und Abstraktion die Arabeske „einen typischen Ausdruck islamischen Weltgefühls". Sodann definiert sie, im Anschluss an Alois Riegls Stilfragen (1893): „Die Arabeske im echten Sinne ist [...] die Gabelblattranke." Anschließend erweitert sie diese Auffassung der Arabeske jedoch, bis sie nicht nur Elemente der dekorativen Malerei, sondern weite Felder künstlerischer Tätigkeit überhaupt, von der Gartenarchitektur bis hin zur Poesie, umfasst.6 Und schlussendlich gibt sie eine theologische Erklärung für die Verbundenheit der Arabeske mit der islamischen Kunst:, Arabesken sind das Ergebnis höchst komplizierter mathematischer Formeln, die, wie es der Muslim empfindet, auf den wunderbaren Bau der Welt hinweisen, wie denn alles Geschaffene für den Frommen ein Zeichen ist, das auf den nicht zu Begreifenden, nicht zu Erschauenden hinweist, dessen Werk dem Betrachter eine Ahnung von dem dahinter liegenden Geist schenkt. Die Arabeske ist [...] ,die Befreiung von der Vergänglichkeit irdischer Bindungen'."7 Wieso aber sollte ausgerechnet die Gabelblattranke hierfür besonders geeignet erscheinen? Es besteht kein Zweifel daran, dass das Ornament ausgehend 5 Souriau 1992. 6 Schimmel 2001, S.32f. 7 Ebd., S. 31f.

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von der Ranke bzw. von gegabelten Blattmotiven in der arabischen Welt ab dem 11. Jahrhundert auf der Basis spätantiker Ornamente entwickelt wurde. 8 Im 14. Jahrhundert haben die Architekten der Alhambra, durch eine stilistische Wahl, ein symetrisches Ornament ausgehend von gegabelten Blättern hervorgebracht; aber hatten sie die Intention,,»Arabesken" zu machen? Es erscheint mir vielmehr so, dass Gelehrten wie Annemarie Schimmel ein eigenartiger Kategorienfehler unterläuft. Selbst jener große Kritiker des Orientalismus, Edward W. Said, erklärt, dass die klassische arabische Schrift ein „in seinem Schriftbild schön anzuschauendes Objekt ist. Deswegen hat die Kalligraphie als kombinatorische Kunst der höchsten Komplexität eine zentrale und dauerhafte Rolle, ist sie doch dem Ornament und der Arabeske näher als der diskursiven Explikation."9 Der Fehler, den man sich hier abzeichnen sieht, besteht in der Vermischung a) eines Motivtyps, der dekorativen Praktiken der arabischen Kunst eigen ist, b) des Terms ,Arabeske", der in Europa im 15. Jahrhundert entsteht, und c) des ästhetischen Begriffs der Arabeske, der es erlaubt, sehr verschiedene ästhetische Praktiken zu regruppieren. Die Ranken und Gabelblattdekorationen wurden, soweit ich verstanden habe, in der arabischen Welt des 14. Jahrhunderts „Shamsa" genannt oder auch „Rumi" (auf Türkisch). Man kann einen „Rumi"-Stil von einem „Hatayi"-Stil unterscheiden, der chinesische Motive (die Lotusblüte) in der Ornamentkunst des osmanischen Reiches im 15. Jahrhundert anverwandelt hat. Man weiß sehr wenig vom Taufakt der ersten Arabeske. Ich überlasse diese Frage daher den spezialisierten Historikern. Dennoch möchte ich meiner Überraschung Ausdruck geben angesichts der Tatsache, dass der Term „Arabeske" heutzutage gleichermaßen von Künstlern, Kritikern und Amateuren als Auszeichnung des Wesens der arabischen, wenn nicht gar der islamischen Kunst verwendet wird. Ich frage mich entsprechend, wie man heute wohl reagierte, wenn römische Künstler, das heißt Menschen, die in der schönen Stadt Rom in Italien aufgewachsen sind, nicht nur die römische Kunst, sondern auch die „romanische" Architektur und die Romantik die ihre nennen würden oder wenn sie sagten, dass jenes literarische Genre, das man Roman nennt, ein ästhetisches Konzept spiegelte, das ihrer Kunst zu eigen sei. Kurz, mir scheint, dass die Identifikation des ästhetischen Konzeptes der ,,Arabeske" mit den Eigenarten und dem Wesen der arabischen, wenn nicht gar der islamischen Kunst eine ebenso hinkende Verirrung ist wie der Vergleich zwischen der gotischen Architektur und der Weltsicht jenes heute verschwundenen Volkes der Goten oder wie eine Erklärung jener Art zu tanzen, die man „Polonaise" nennt, mit dem Katholizis-

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Siehe Kühnel 1977, S. 13. „[...] un bel objet à regarder dans sa forme écrite. D'où le rôle central et durable de la calligraphie, art combinatoire de la plus haute complexité, plus proche de l'ornement et de l'arabesque que de l'explicitation discursive" (Said 2004).

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mus, wie er in Polen praktiziert wird. Um erst gar nicht vom „Flamenco" zu sprechen... Wie wohl deutlich geworden sein dürfte, gilt es, eine große Konfusion zu entwirren: Die Arabeske ist nicht nur eine Motivklasse in den dekorativen Künsten wie die Ranke oder die Palmette. Man verweist mit diesem Ausdruck auf eine Herkunft, es handelt sich dabei aber um eine falschliche Zuschreibimg. Wenn man unter dem Term Arabeske literarische, architektonische, dekorative und andere Praktiken zusammenfasst, so verwendet man darüber hinaus einen ästhetischen Begriff, der erst am Ende des 18. Jahrhunderts aufkommt. Das Wort „ A r a b e s k e " drückt zunächst nichts anderes als ein Unvernehmen aus: Nach allem, was ich weiß, wurde der Name arabesco in der Renaissance der architektonischen Dekoration verliehen, die man in den Ruinen des römischen Imperiums wiedergefunden hatte, zum Beispiel in der Domus Aurea oder in den Titus-Thermen.10 In der römischen Antike spricht Vitruv von extravaganten Malereien auf den Wänden, die zu seiner Zeit in Mode waren. Und Vasari berichtet, dass Giovanni da Udine und Raffael die Domus Aurea zusammen besichtigt hätten und dieser Besuch die Quelle für die Dekoration der Loggien im Vatikan sei.11 Während Vasari selbst von „Arabeske" nur im Kontext des vergoldeten Zierrats der Rüstungen spricht,12 so sind es doch jene architektonischen Dekorationen Raffaele, auf die man sich seither im Allgemeinen als auf die ersten so genannten „ A r a b e s k e n " bezieht, während sie doch nur Zitate römischer Ornamente sind. Die Arabesken Raffaele umfassen auch humane und animale Formen. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass man ihnen den Namen arabesco wegen eines Unvernehmens dessen gegeben hat, was man in Rom im Quattrocento von der arabischen Dekorationskunst wissen konnte. Man unterstellt, dass von Spanien, wo die arabischen dekorativen Künste noch im 15. Jahrhundert blühten, Einflüsse auf Venedig ausgegangen sind, wo persische und syrische Handwerker arbeiteten. Von dort aus ist die Ornamentierung in Mode gekommen, die allerdings in den Traktaten unter dem Namen „Maureske" figuriert. Einige Historiker zweifeln gar daran, dass die Ornament-Repertorien, die seinerzeit in Norditalien zirkulierten, wirklich orientalische Motive aufgegriffen haben. Vielmehr sei es eine Form des Eklektizismus gewesen, aus dem auch jener Typ des Ornaments hervorgegangen sei, für den Raffael das Beispiel geliefert habe. 13

10 Den Namen Maureske hat man zur selben Zeit auch einer Art des Tanzes gegeben, aber auch einem Ornamentstil, den man ausgehend von der byzantinischen Dekoration seit der arabischen Eroberung entwickelt hatte. 11 Vasari, Le Vite, Texto V, 448 (Eintrag „Giovanni da Udine"). 12 Ich danke Matteo Burioni für diese Information. 13 Siehe Rogers 1999, S. 139.

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Wie dem auch sei, seit der Zeit von Claude Audran (1658-1734) und Jean Antoine Watteau (1684-1721) kann jede vegetale Dekoration, jedes Laubwerk oder Rankenmuster als „Arabeske" bezeichnet werden.14 Woher kommt nun aber der Arabeske-Begriff, wie ihn Annemarie Schimmel und Edward Said verwenden? Zunächst muss unterstrichen werden, dass sie einen Begriff verwenden, unter dem sie eine Vielfalt ästhetischer Praktiken, wie das Schreiben oder die Architektur, zusammenfassen, und nicht einfach nur den Namen eines floralen, verschlungenen Architekturornamentes. Um 1750 kritisiert der deutsche Klassizismus (Winckelmann etc.) das Ornament im Allgemeinen. Er verwirft die Rocaille des Rokoko, er will das Überflüssige, Verspielte, Bizarre eliminieren zugunsten einer formellen Reinheit und idealen Schönheit. Aber die Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeij zeigen erneut, dass die Alten Ornamente ausschweifend und elegant zu verwenden wussten. Die Präsenz einer derartigen Verzierung führte zur Akzeptanz des Nicht-Mimetischen, des Nicht-Bedeutenden, führte ebenso zum Verzicht auf die Idealisierung und die Hierarchie der bedeutungstragenden Sujets. Während die ersten Schriften über die während der Ausgrabungen in Herculaneum gefundenden Ornamentierungen noch synomym die Ausdrücke ,Arabeske", „Maureske" und „Groteske"15 verwendeten, so unterstellt man im 18. Jahrhundert doch nichtsdestoweniger, dass der Ursprung dieses Ornamenttyps die antike Kunst ist. Zugleich erhält sich die Erinnerung daran, dass man Raffaels Zeiten den Ausdruck Arabeske verdankt. Deshalb konnte Wilhelm Heinse 1787 schreiben: „Und so die Arabesken. Alles voll schöner reizender Ideen. Ich betrachte diesen Gang als die Schule Raffaels im eigentlichen Verstände."16 1788 definiert Goethe in seinem Aufsatz Über die Arabeske diese als „eine willkürliche und geschmackvolle Zusammenstellung der mannigfalltigsten Gegenstände", lehnt sie aber als nicht genügend ausgearbeitet ab. Ausgehend von derartigen Interventionen vollzieht sich eine wichtige Transformation: vom Namen für ein florales Ornament hin zu einem ästhetischen Begriff. Die Transformation der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, die sich vom Dogma der Mimesis befreit, kulminiert im Konzept der Kunstautonomie, das Immanuel Kant vor allem angesichts der Ornamente entwickelt, die in den Augen des Zeitalters nichts außer sich selbst bezeichnen. Im Paragraph 14 seiner Kritik der Urteilskraft (1790) spricht Kant im Kontext einer , Analytik des Schönen" von Verzierungen. Diese seien äußere Applikationen auf ein schönes Objekt, ohne inneren Bezug, und dienten lediglich der Verstärkung eines Reizes und Vergnügens. Kants Formulierungen sind von einer gewissen Ambiguität gekennzeichnet, denn sie scheinen auf den ers14 „Arabesques: Blumen-Züge sind allerhand erdichtetes Laub- und Blumen-Werk, dergleichen die Araber zur Zierde zu machen pflegen, da sie sonst keine Bilder der tiere und Menschen malen dörffen" (Penther 1744, S. 6a). 15 Vgl. Pfotenhauer 1996. 16 Heinse 1787, S. 156.

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ten Blick die traditionelle, pejorative Option zu affirmieren, derzufolge diese Ornamente lediglich als anhängender, überflüssiger Zierat anzusehen seien. Aber Kant zeigt auch eine andere Option an: diejenige nämlich, die diese Parerga als „schöne Form" und Befreiung von der Bindung an den Zweck des Objektes ansieht, womit die eigene Schönheit der Dekoration anerkannt wird. Kant untermauert diese neue Sicht auf die Ornamentierung mit einigen Beispielen: Er nennt „Einfassungen der Gemälde, oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude."17 Sodann unterscheidet er, im Paragraphen 16, zwischen einer freien Schönheit, die er auch lateinisch „Pulchritudo vaga" nennt, und einer anhängenden, zusätzlichen Schönheit, der „pulchritudo adhaerens". Seine Beispiele für die freie Schönheit sind die Zeichnungen „à la grecque" und die vegetalen Ornamente auf Einfassungen und Tapeten, d. h. das, was zu seiner Zeit auch Arabeske genannt wurde. Kant analysiert diese „Zeichnungen à la grecque" und diese Arabesken, die er so nicht nennt, und stellt fest: „Sie stellen nichts vor, kein Object unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten."18 Anschließend vergleicht er sie mit musikalischen Phantasien ohne Text. Die Imagination ist hier von jedem begriffskonformen Objekt abgelöst. Durch die vage Schönheit hindurchgehend befreit sie sich von der Herrschaft der Vernunft und wird spielerisch. Im freien Spiel der Einbildungskraft entfaltet sich das Mannigfaltige und grenzt sich vom Gesetz der Einheit ab. Die Ornamente sind für Kant daher nicht mehr Indikatoren einer Dekadenz oder Zeichen einer bloß anhängenden, sekundären Schönheit, sondern sie sind Gestalten, mit denen die befreite Einbildungskraft spielt.19 Doch Kant relativiert seine avancierte Position hinsichtlich der freien Schönheit und einer Kunst ohne objektiven Zweck, indem er im folgenden Paragraphen den Menschen als Maß und Bild dessen wiedereinführt, das seinen Zweck in sich selbst hat und das Ideal des Schönen ermöglicht. Schiller spürt die Ambiguität dieser Position in seinen Kallias-Briefen und zweifelt daran, „daß also die Arabeske oder was ihr ähnlich sei, schöner sei als die höchste Schönheit des Menschen." 20 Karl Philipp Moritz und anschließend Friedrich Schlegel greifen die Reflexionen Kants über das Ornament und besonders die Arabeske wieder auf und transformieren diese in das konsequente Programm einer freien Einbildungskraft. Die Analyse der Arabeske fuhrt folglich zur Theorie des Symbols als eines selbstbezüglichen ästhetischen Zeichens.21 Man könnte daraus schließen, dass die Arabeske der autonomen Kunst zur Geburt verhilft ab dem Zeit-

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Kant 1790, S. 226. Ebd., S. 230. Ebd. Schiller 1992, S. 176. Siehe Moritz 1790, S.45. Die Theorie des selbstreferentiellen Symbols findet sich bei Goethe, WA, 1.47; vgl. Sorensen 1963, S. 7Iff.

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punkt, wo sie nicht mehr nur ein florales Dekor abgibt, sondern weit darüber hinausgehend zu einer Praxis der Abstraktion wird. Schlegel verbindet eine derartige Auffassung der Arabeske mit der pittoresken Ästhetik. Für ihn ist „die ursprüngliche Form der Pictur [...] Arabeske". Arabesken sind „absolut fantastische Malerei". 22 Zwar verwendet Schlegel zunächst die Terme Arabeske und Groteske synonym (bis ca. 1801) und begreift sie als zufällige und glückliche Verbindung von Form und Materie. 23 Doch zusehends wird die Arabeske für ihn ein philosophisches Konzept. Schlegel zufolge ist die Arabeske eine Verbindung von Elementen, die zu einer ganzen Form tendiert und die vielfaltige Profusion des Diversen durch eine konstruktive Logik ausbalanciert. Auf diese Weise kann die Arabeske als Vermittlung zwischen chaotischer Diversität und symmetrischer Ordnung wahrgenommen werden. 24 Als gelehrte Kaprize ist die Arabeske niemals eine Monstruosität, sondern, so Schlegel, eine absichtliche Deformation, ein kunstvolles Chaos. 25 Damit das Publikum begreift, dass eine strikte Logik die anscheindende Konfusion durchwaltet, schlägt Schlegel den offensiven Gebrauch jener intellektuellen Fähigkeit vor, die er gerne „Witz" 26 nennt, der sich in der „witzigen Konstruktion" 27 des Überflusses, der Fülle, der unendlichen Vielfalt spiegelt.28 Wie mit diesen wenigen Bemerkungen deutlich wird, kann man erst ausgehend von Kant und Schlegel von der Arabeske als einem ästhetischen Begriff sprechen, der mit dem Namen eines floralen Ornaments wenig zu tun hat. Aber welche Eigenschaften dieses Ornamentes sind es denn, die jenen Begriff beeinflussen? In seinem Brief über den Roman entwickelt Schlegel sein Argument für das Kunstwerk als vermittelte Tauschform anstatt des direkten Dialoges. Er sagt dort, dass wir, wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, sofort bereit sind, über unsere Augen selbst konfuse und unkultivierte Phrasen in uns eintreten zu lassen; wir sind bereit, stundenlang unsere Imagination solchen Menschen hinzugeben, mit denen von Angesicht zu sprechen wir uns schämen würden. Mit dieser Beobachtung will Schlegel darauf hinweisen, dass es nicht allein das Buch als Medium ist, sondern die arabeske Form der Komposition eines 22 Fragm. 787, Fragemente zur Poesie und Literatur, Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. XVI, München 1981, S. 167 und Frg. 986, ibd., S. 319. 23 Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. XX, S. 238, Bd. XVI, S. 174. 24 Polheim 1966, S. 12ff. 25 Schlegel Ausgabe, Bd. II, S. 238 (Athenäum Frag. 389); Gespräch über die Poesie, S. 318; Über Goethes Meister (1798), S. 238. 26 Schlegel Ausgabe, Bd. II, S. 84f. 27 Schlegel Ausgabe, Bd. XVI, S. 267. Vgl. Schlegel 1800, S. 113; S. 126 28 Walter Benjamin nennt die Arabeske auch eine symbolische Form und eröffnet somit die Möglichkeit, diese neben die anderen von Ernst Cassirer konzipierten symbolischen Formen einzuordnen, d. h. neben den Mythus, die Sprache und das objektive Wissen. Oder vielmehr neben die Perspektive, die Erwin Panofsky bereits als symbolische Form beschrieben hat (Benjamin 1972, S. 458, 502, 526).

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literarischen Textes, die, wenn sie nicht schön, sondern geistvoll ist, unsere innere Bildung zum Spielen einlädt und sie ernährt. Die Arabeske ist daher vor allem ein „witziges Spielgemälde". Sie ist voller vielfach transformierter Realitäten. Die Erzählungen Boccaccios und die Geständnisse Rousseaus zeigen, Schlegel zufolge, dass die höchste Qualität eines Romans in der Vermittlung einer eigenständigen Erfahrung besteht. Als Kompositionsprinzip repräsentiert die Arabeske die Vielfältigkeit des Lebens und, indem sie die Intelligenz stimuliert, lässt sie uns lachen. Dieser Überfluss an Witz ohne Beimischung von Sentimentalität, von der Vernunft entworfen und mit sicherer Hand ausgeführt, charakterisiert, so Schlegel, das „Spielgemälde" als Arabeske. Sein Schlüsselbeispiel ist Denis Diderots Jacques le Fataliste. Dieses Buch vergleicht Schlegel mit einem übel beleumundeten Fremden, dem man sich mit größter Vorsicht nähern sollte. Zusammenfassend: Der ästhetische Begriff der Arabeske übernimmt von den verzweigten ornamentalen Linien das Prinzip der Komposition und der Abstraktion. Die Arabeske erlaubt es, eine evolutive Form durch eine Vielheit ohne Zweck zu projizieren. Die Fülle der Details in einer gewitzten Konstruktion bringt ein gewissermaßen organisches Kunstwerk hervor, das weiterwächst und sich auch jenseits der Intention des Künstlers entwickelt. Es ist ein Fremder, der sich von der Imagination derjenigen nährt, die ihn betrachten. Nun ist es offenkundig, dass diese Konjunktur der Arabeske zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter anderem dem Wachstum der industriellen Produktion geschuldet ist, deren Strategien zur Beherrschung der Welt durch die ökonomische Vernunft mit dem Bild eines organischen Wachstums konterkariert werden. Die Arabeske ist Teil einer Antwort auf das Postulat der Gestaltbarkeit des Politischen und auf die Rationalität der Regierungstechniken, die die Französische Revolution und der Napoleonismus gefeiert haben. Das Beharren auf die natürliche Spontaneität stellt sich dem Prinzip der Planbarkeit entgegen. Aber die revolutionäre Kraft der Arabeske, wenn man so sagen kann, erschöpft sich bald in politischer Romantik. Schon Marx und Engels gebrauchen das Wort ,Arabeske", um ein schönes Arangement zitierter Phrasen zu bezeichnen. Sie sprechen von einer Arabeske aus Plagiaten.29 Wenn man nun ausgehend von einer Dekonstruktion des Arabeske-Begriffs den Gebrauch zusammenfassen wollte, den Theoretiker wie Schimmel und Said oder die arabischen Künstler davon machen, die ihre Tätigkeit von der Arabeske ableiten,30 so könnte man einwenden: Das von Kant und Schlegel geprägte Arabeske-Konzept ist doch ganz unerheblich, denn die wesentlichen Formen dieses Ornamenttyps, diese symmetrisch stilisierten Linien, wurden doch zuvor von arabischen Künstlern entwickelt. Darauf würde ich antworten: Ja, sicher, aber warum nennen Sie diese Linien dann, Arabeske"? 29 „Arabeske seiner Plagiate". Marx/Engels 1969, S. 518. 30 Zum Beispiel Arabesque (2006) von Kader Attia im Rahmen der Ausstellung „Notre histoire ..." im Palais de Tokyo.

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Das Gegenteil verdient ebenso unsere Aufmerksamkeit: das Auslassen des Wortes Arabeske. Jacques Derrida hat das Parergon in seinem Buch La Vérité en Peinture durch eine gründliche und detaillierte Lektüre von Kants dritter Kritik restituiert. Man könnte erwarten, dass er dort auch die Arabeske diskutiert. Jedoch spricht er, um zu seiner provokanten Schlussfolgerung zu gelangen, dass „Kant zufolge das Parergon den Ort und die Struktur der freien Schönheit konstituiert", von den „Zeichnungen à la grecque", die er als „Zeichnungen mit geraden Linien in labyrinthischer Form" erläutert. Er zitiert auch die „Einfassungen", die Kant erwähnt. Derrida erläutert diese als „blättrige Strukturen". Aber nirgends nennt Derrida sie ,Arabesken". Das Resultat ist schwerwiegend, denn auf diese Weise entgeht ihm eine der wichtigsten Pointen dieses Paragraphen bei Kant, nämlich die Anerkennung dieser ornamentalen Struktur als Bild eigenen Rechts. In seinem Theorem betrachtet Derrida die vegetal ornamentierten Einfassungen nicht als Bilder, sondern nur als „imbedeutend und a-repräsentativ". Für ihn verweisen diese Rankenornamente nur auf den Rahmen, von dem sie sich abschneiden, und schließlich restituiert er nur die negative Kraft der Pulchritudo adhaerens.31 Selbst als Spur, das heißt als Bedingung der Möglichkeit einer Artikulation, bleibt die Blattwerkumrahmung für Derrida eine äußerliches Supplement zur Repräsentation. Der Grund dafür, scheint mir, ist darin zu suchen, dass er dem Begriff des Bildes als Repräsentation verpflichtet bleibt.32 Derrida weiß das Bild noch nicht von der Arabeske aus zu denken, d. h. als ein organisierendes, präsentierendes und evolutives Bild. Wenn man nun, im Gegenteil, die Dekonstruktion fortsetzte und behauptete, der ästhetische Arabeske-Begriff sei nur die Konstruktion eines kulturellen Anderen, eine mit einem verzerrten Bild der arabischen Kunst bewaffnete Konstruktion, so würde ich entgegnen: Ja, das ist richtig, aber weiter: Der Arabeske-Begriff ist nicht nur das Zeichen für einen gescheiterten Dialog, er ist nicht nur eine ignorante Replik. Denn wenn man auf die enorme Produktivität des von diesem Begriff informierten Blickes in der europäischen Kunst aufmerksam wird, so sieht man, dass die Arabeske den Platz freiräumt für den Versuch, ohne Referenz zu komponieren. Ausgehend von dem Imaginären, wie es in der Figur der Arabeske enthalten ist, kann man sich dem ausliefern, was man nicht beherrscht und was man nicht versteht. Darin könnte das Studium der Arabeske wertvolles Material zur Untersuchung dessen liefern, was Jacques Rancière „das Unvernehmen" nennt. Denn es ist nicht nur die Intelligenz eines Kant, sondern vor allem die Präsenz von Arabesken unterschiedlichster Formen und Herkünfte, die um 1800 einen neuen Blick auf das 31 Derrida schließt:„Le sans du sans-thème [...] doit se marquer [...] dans la chose à laquelle il n'appartient pas et qui n'est plus tout à fait une chose, qu'on ne sait plus nommer, qui n'est pas, une fois affectée par la marque, un support matériel ni une forme [...] et qu'on pourrait indiquer, à la condition d'un certain déplacement, sous le nom de texte ou de trace" (Derrida 1978 (Kap. „Parergon"), S. 113. Vgl. S. 110,111. 32 Siehe ebd., S. 111.

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provoziert hat, was zuvor noch als unwürdig oder sekundär verachtet worden war. Rancière zufolge ist das Unvernehmen eine sprachliche Situation, in der die Stimme des einen zählt, während die Stimme des anderen nicht gültig ist und folglich bloßer Lärm bleibt. 33 Für Rancière ist das Unvernehmen daher eine sinnliche Präsentation des Konfliktes, den die Anteillosen mit den Besitzenden ausfechten. Es ist auch ein Kampf um Repräsentation. Die Teilhabe am Sinnlichen wird unterschwellig durchzogen von derartigen Konflikten und konstituiert sich ausgehend von einem Unvernehmen. Mir scheint jedoch, dass zwei Aspekte in Rancieres Theorie des Unvernehmens fehlen: a) die Szene, auf der die Anteillosen und ihr Lärm in die polizeilich gesicherte Domäne der Aufteilung des Sinnlichen einbrechen, die Szene also, auf der mit den performativen Aspekten des Unvernehmens gespielt wird; 34 b) die Funktion der Künste im Inneren eines ästhetischen Regimes, denn diese sind nicht notwendigerweise entweder affirmativ oder revolutionär. Die sich plötzlich manifestierende Präsenz des Defigurierten und Unkenntlichen kann ein ästhetisches Regime umkippen, indem sich das Unvernehmen zeigt, das dort regiert. Das Beispiel der Arabeske rührt aus einem Unvernehmen, in dem die einen nicht verstehen, was die anderen ihnen zeigen, weil in diesem ästhetischen Regime diese anderen nicht zählen. Lange Zeit ist die Arabeske der Lärm im Inneren des klassischen Bildes, der Fleck, den es zu entfernen gilt. Aber sie ist nicht nur ein „Grenzphänomen",35 das die Grenzen eines ästhetischen Regimes durch ein defiguriertes Bild dessen befestigt, was jenseits liegt. Dieses Bild im Namen dessen, was ausgeschlossen ist, zu kritisieren - in diesem Fall die „wahre arabische Kunst" - hieße, die Produktivität dieser Defiguration im Inneren des Regimes zu verkennen. Der Lärm kann eine Bedrohung sein, die von einem übel beleumundeten Fremden ausgeht, aber er kann auch ein cleverer, humorvoller, subversiver Lärm werden. Damit die Arabeske den Horizont des Verständnisses öffnen konnte, war es notwendig, dass sie die schamhaften Zonen des klassischen Bildbegriffes widerspiegelte. Seither spiegelt sie, bei Nahem besehen, nichts (mehr). Als Linie ohne Objekt, non-mimetische Multiplizität verweist sie auf etwas jenseits des Verständnisses. Indem sie die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen dieses Verständnisses lenkt, wird sie etwas, das ich ein „Lärm-Bild" nennen möchte, etwas, das der Kategorisierung entgleitet, etwas, das sich an mehrere Sinne richtet, und zumal an die Intelligenz. Das Lärm-Bild richtet einen leeren Platz ein, der von den Kräften des Imaginären und der Aneignung 33 Rancière 1995, S. 51. 34 Rancière scheint dies vorauszusetzen. Er spricht von „partages de l'espace commun", in denen die Versammlung von Worten und Formen neue Konfigurationen des Sichtbaren und Denkbaren ergeben können. Siehe Rancière 2003, S. 105. 35 Oesterle 2000.

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durchzogen wird. In diesem Prozess der Defiguration erscheint die Arabeske plötzlich, abstrakt, bedeutungslos, aber ihre Präsenz wird eine Fragestellung innerhalb des ästhetischen Feldes, in dem sie erscheint. Die Evidenz ihrer Ablösung von der Realität liefert den Grund dafür, dass sie schließlich anerkannt werden kann. Kant und Schlegel haben letztlich nicht die Arabeske anerkannt, sondern den Abstand zwischen ihrer Präsenz und dem Regime der Kunst, das das Schönheitskonzept definiert. Sie ist folglich nicht die Frucht eines Dialoges mit einer anderen Kultur, nein. Aber wenn sie auch keine andere Realität widerspiegelt, so lässt ihre Präsenz doch einen leeren Platz für den Konflikt, für die Sichtbarkeit des Unvernehmens. Es gibt folglich eine befreiende Kraft, die von der Defiguration eines Symboles und von der Abstraktion einer sehr lokalen Praxis ausgeht. Wie die Satire und die Groteske, so ist auch die somit deplazierte Arabeske eine Weise, subversive und transformatorische Kräfte aufzuzeigen, die von etwas ausgehen - im Inneren eines polizeilich überwachten ästhetischen Feldes - , das nicht den herrschenden Schemata des Verständnisses entspricht. Meines Erachtens liegt hierin das Potential der Kunst: Wenn man den Künsten freies Spiel lässt, so ist man weder in der Position einer repressiven Toleranz anderen Kulturen oder Religionen gegenüber noch in der Position der Aneignung durch eine getreue oder gelehrte Repräsentation. Wenn man den Künsten freies Spiel lässt, so überlässt man ihnen das Potential, einen Freiraum zu schaffen, der nicht schon angeeignet oder besetzt ist und in dem ich mich aufmachen kann, mit dem zu experimentieren und das anzuerkennen, was falsch, illusorisch, lächerlich und unverständlich ist. Ich frage mich, ob diese Kraft des Multiplen und Unzähligen auch die Forschung in anderen Teilen dieser Welt stimulieren kann, die Erforschung eines Blattes anzugehen, das die arabeske Linie absorbiert, eines Blattes, das die Öffnung des Horizontes blockiert, eines Blattes, das man „die Europeske" nennen könnte.

Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1969. Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Gesammelte Schriften Bd. II, Frankfurt/M. 1972, S. 7-122. Derrida, Jacques: La vérité en peinture. Paris 1978. Descartes, René: Méditations. In: Œuvres Bd. 11. Paris 2000. Heinse, Wilhelm (1787): Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Nördlingen 1986. Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urteilskraft. Berlin 1908: Akademie Ausgabe, Bd. V. Kühnel, Ernst: Die Arabeske. Sinn und Wandlung eines Ornaments. Graz 1977. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Werke, Bd. 3. Berlin/DDR 1969. Moritz, Karl Philipp (1790): Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Frankfurt/M. 1994.

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Ludger Schwarte

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Rachida Triki

TRANSKULTURALITÄT UND KREATION: DIE BILDENDEN KÜNSTE IM MAGHREB

Um Kreation in einem transkulturellen Zusammenhang zu denken, könnte man von der Deleuze'sehen Formel ausgehen, wonach „etwas zu erschaffen bedeutet, zu widerstehen, also eine Entwicklung zu wagen, die zugleich immer ein Abenteuer ist". Dieses Abenteuer wäre hier für uns natürlich nicht gleichbedeutend mit einem radikalen Bruch mit dem, was man die lokale Kultur nennt, diesen Schnittpunkt von Referenzen und Bedeutungen, der einer gegebenen Gemeinschaft eigen ist, sondern es würde eher das Nomadentum bezeichnen, das dem kreativen Prozess eigen ist in seiner Öffnung für die Polyvalenz von Erfahrung mit all ihren kulturellen, affektiven und imaginativen Konstellationen. Das Abenteuer der Kunst kann sich in der Tat als eine Dynamik der Begegnung, der Dekonstruktion und der Transgression verstehen, die von der zugewiesenen Bedeutung, von identitätsbezogenen Sklerosen und vom Habitus befreit. Im transkulturellen Kontext des Maghrebs mit seiner reichen Geschichte zivilisatorischer Schnittpunkte, mit seiner Öffnung für die Kulturen des Nordens, des Orients und des afrikanischen Kontinents wie auch seiner Durchlässigkeit für die Praxis der neuen Bild-Technologien werden die Praktiken der Kunst zum Ort der Emanzipation und Futurisierung, durch Widerstand und durch die Einführung neuer Bedeutungen. Ich werde zunächst die Dynamik einer transkulturellen Kreation in der bildenden Kunst in ihrem Verhältnis zum Modus der Repräsentation des kulturellen Erbes untersuchen, und in einer zweiten Stufe das, was es mit dieser Kunst auf sich hat im Kontext der Globalisierung und insbesondere der neuen Herrschaft der Bilder. Ich werde mich vor allem auf Beispiele aus der Praxis bildender Kunst von tunesischen und algerischen Künstlern stützen.

Die Kunst als transkreatorische Dynamik Es trifft zwar zu, dass die transgredierende und emanzipatorische Dimension der künstlerischen Kreation nicht die Konstanz sich selbst gegenüber ausschließt, ungeachtet der verschiedenen historischen Veränderungen im Zugehörigkeitskontext Maghreb, dennoch ist das Problem der Referenz nicht weniger virulent. Diese Frage taucht immer wieder auf, durch die verschiedenen

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Rachida Triki

Bewegungen, Ansätze, ja sogar Schulen hindurch, die die kurze Geschichte der Malerei und der bildenden Kunst in den Ländern des Maghreb ausmachen. Das Problem ist folgendes: Wie können die Darstellungen, die das kollektive und individuelle Imaginäre beeinflussen, auf ein gemeinsames Erbe verweisen, wenn dieses eindeutig, religiös oder ethnisch, bestimmt ist? Man setzt sich immer dem Risiko einer Verarmung aus, bei der sich die Darstellungen schnell in auserwählte Elemente verwandeln, in privilegierte Formen, einem Fetisch oder Gründermythos nahe. Jede kulturelle Referenz, die aus Gründen der vereinfachten Demonstration auf homogene, schematische und dogmatische Art und Weise repräsentiert wird, reduziert diese Künste zwangsläufig auf symbolische Fragmente der Zugehörigkeit zu kompensatorischen Ursprungsorten und reaktiviert dabei auf deutlich wahrnehmbare Weise deren kommunitäres Wesen. In dieser Hinsicht hätten wir es nur mit einer Art ikonischem Heiligtum zu tun, das von der Kalligraphie bis zu den emblematischen Zeichen reichen würde, in der symbolischen Wiederholung grundlegender Spuren. Dies setzt eine zugleich direktive wie auch performative Pseudo-Ästhetik voraus, die eine Wiedererkennung ermöglicht, indem sie die Bindungskräfte orientiert. Schließlich verwechselt sich dann die künstlerische Praxis mit der rituellen Praxis oder mit handwerklichen Produktionen und nähert sich der Folklore oder den Spektakeln an, die Traditionen und Mythen, diese beliebten Objekte der Erneuerung und des Zelebrierens des kulturellen Erbes, institutionell inszenieren. Genau diesem ikonischen und fetischisierten kulturellen Erbe haben die Künstler widerstanden, indem sie Methoden erfanden, etwas Neues zu tun, die die darstellende und bildende Praxis im Maghreb ästhetisch weitergeführt haben. Sie haben dies nicht getan, indem sie sich von der eingeführten Form der lokalen Kultur abwandten, sondern indem sie deren Zeichen dynamisierten durch Reaktivierung und Integration anderer Formen und Techniken, die in einer Vermischung von Kulturen anderen künstlerischen Praktiken entlehnt sind. Diese reichen von den visuellen Formen der handwerklichen und architektonischen Umwelt mit dem Reichtum der überlieferten Kulturen bis zum eigentlich Piktoralen, das durch die westlichen Reisenden und durch die Tatsache der Kolonialisierung eingeführt wurde, und bis zu den modernen formalen Revolutionen, die durch die Schulen und Medien in der kontinuierlichen NordSüdbeziehung kommuniziert wurden, und in der paradoxerweise sporadischen Beziehung zwischen Orient und Maghreb (hier besonders die moderne Malerei der irakischen Schule). Das setzt natürlich die Durchlässigkeit des kreativen Akts voraus, der in die Differenz zugleich die Konstanz sich selbst gegenüber einschreibt, indem er die traditionalisierten Zeichen über singuläre und transkulturelle Ansätze in Zeichen piktoraler oder bildnerischer Gegenwart umarbeitet. Nimmt man das Beispiel des emblematischsten aller Zeichen, gemeint ist das arabische kalligraphische Element, so wird man sich bewusst, dass es bei den Künstlern aus dem Maghreb zu einer zweifachen Verführung geführt hat.

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Abb. 1: Najib Belkhodja, Nocturne, Öl auf Leinwand, 117x9lem, 1980

Das Beispiel des Vorgehens von Nja Mahdaoui, von Farid Belkahia oder von Najib Belkhodja und der zeitgenössischen Künstler, die ein anderes Medium verwenden, zeugt vom Reichtum und der Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks in einem transkulturellen Kontext, der zugleich die Konstanz sich selbst gegenüber in einem kulturellen Erbe beibehält, das man eher Futurisierung nennen könnte als ein fetischisiertes Kulturerbe. Tatsächlich kann sich jede erwähnenswerte Vorgangsweise als eine Art und Weise der Projektion verstehen, die Unterschiede als wesentliche Überlebenselemente ansieht, die sowohl der Vernichtung der Identität als auch der Vernichtung von globalisierten Formen widerstehen. In dieser Hinsicht ist die graphische Darstellung der arabischen Buchstaben ein sehr reiches Element aufgrund der Vielfalt der Stile und Kodifizierungen, sei es in der handgeschriebenen Kalligraphie oder in der architektonischen Ornamentierung. Das arabische kalligraphische Element hat die Maler in zweierlei Hinsicht verführt: aufgrund des Ursprungs im säkularen Bezug der Sprache zum Heiligen und aufgrund des unendlichen kalligraphischen Reichtums und der Vielfalt seiner Konfigurationen in ornamentaler Hinsicht. Die Kalligraphie schreibt sich vor allem, wie A. Khatibi erinnert, „in die sprachliche Struktur ein und instituiert einen zweiten Code, ein Derivat der

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Sprache, aber auch ein Spiel mit ihr, eine Verdopplung dadurch, dass sie visuell transportiert wird [...]; ausgehend von diesem Ort, wo der Sinn sich leert, vollzieht sich ein Simulakrum, das die Sprache im ursprünglichen Sinne verzaubert: Es verwandelt sie in eine göttliche Formel."1 Mit ihrer Allgegenwart in islamischen Ländern wirft die Kalligraphie „die Frage nach der Schrift in ihrem religiösen Ursprung" auf. Hierin ist sie absolut. Diese Tatsache hat die Kraft eines Glaubensbekenntnisses angenommen: Die arabische Schrift fixiert die Sprache des wundersamen Ursprungs, also der Offenbarung des Göttlichen, wobei die Idee des Absoluten weiterbesteht, trotz der These der Schriftforscher über einen vorislamischen Ursprung der arabischen Schrift, die sich vom Aramäischen und vom Phönizischen ableite. Man muss daran erinnern, dass der Einfluss des Bilderverbots der Hâdith auf die arabische und islamische Kultur auf der Ebene der traditionellen visuellen Künste, die im Wesentlichen dekorativ sind, einen der wichtigsten Gründe für das Fehlen mimetischer Abbildungen dargestellt hat. Die Ablehnung naturalistischer Darstellungen der Welt und insbesondere menschlicher Figuren hat zur Entwicklung eines Abstraktionismus und eines Symbolismus beigetragen, die die Nutzung der Ressourcen der arabischen kalligraphischen Musterzeichnungen, der geometrischen Kombinationen und der Stilisierungen von Blumenformen weit vorangebracht haben (in Buchmalereien, Mauerarabesken, Dekors von Tapeten, Holztäfelungen, Keramiken und Töpfergut). Dennoch sind die Einführung und die Entwicklung der westlichen figurativen Malerei sowie deren Übernahme durch arabische und maghrebinische Künstler nicht auf Widerstand gestoßen und haben keine feindselige Reaktion mit Bezugnahme auf einen kategorischen Ikonoklasmus ausgelöst. Das fehlende Interesse der breiten Öffentlichkeit rührt wahrscheinlich daher, dass die Besonderheit einer wenig bekannten, fremdländischen visuellen Kunst, eingegrenzt auf einen engen Rahmen und spezifische (oft private) Orte, sich natürlich nicht schnell in den kulturellen Habitus integrieren ließ und den Geschmack nicht leicht erobern konnte. Es ist in dieser Hinsicht interessant, an die Dynamik zu erinnern, die seit Beginn der fünfziger Jahre stattgefunden hat, zunächst im Irak und im Iran, und die dann in den sechziger Jahren bei einigen Künstlern2 in Tunesien Auswirkungen hatte, die sich bemühten, ihren Bezug zur Malerei neu zu definieren und sich kohärent in einer Praxis zu verorten, die sie nach wie vor als Trä1 Abdelkabir Khatibi, L'art calligraphique arabe, éd. Chêne, S. 20. 2 Mehrere Gruppen haben sich in Tunis nach 1963 gebildet (insbesondere mit Najib Belkhodja, Lotfi Lamaout, Nja Mahdaoui, Fabio Roccheggiani, Carlo Carrachi ...). Diese sporadischen Gruppierungen spiegeln das Zögern, die Hektik und die Schwierigkeit, eine gemeinsame Grundlage zu finden für eine Re-Investition in den kulturellen Raum, in einer zugleich modernistischen wie auch im weitesten Sinne kultur- und traditionsbewussten Konzeption. Wenngleich die Werke, die aus dieser Bewegung stammen, sich in einigen Hinsichten unterscheiden, kann man die Grundausrichtung doch zusammenfassen als ein abstraktionistisches Vorgehen, ob lyrisch oder geometrisch, dessen Quelle die plastische und dynamische Dimension der arabischen Schrift bleibt.

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gerin wesentlicher Attribute einer kolonialen und mimetischen Kunst betrachteten. In der Tat ging es um eine Infragestellung, die sich herauskristallisierte um eine Debatte über die Besonderheit des Malens in einem Ansatz, der zugleich anders und rückbezogen ist. In diesem Sinne ermöglicht uns die arabische Schrift, ausgehend von einem Element des Kulturerbes, das in seiner plastischen, nicht mehr nur in seiner illustrativen Dimension begriffen wurde, das Piktorale zu bearbeiten und dabei das Feld der Abstraktion der visuellen Künste ästhetisch zu reaktivieren, um es in die Bewegungen der zeitgenössischen und internationalen formalen Revolutionen einzufügen. Die Einfuhrung der Abstraktion in die Malerei durch die kalligraphischen Formenspiele hat sicherlich die Kreation dynamisiert, trotz des Fortbestands des ursprünglichen,und heiligen Gehaltes des Zeichens, das in vielen Ansätzen den Charakter eines Simulakrums beibehält. In Wirklichkeit findet man sich, wenn man die Kalligraphie als bildliches Element wählt, eingebunden in die Konfiguration der sprachlichen Signifikanten selbst, in jene Konfiguration also, in der die piktorale Sprache durch die graphische Darstellung der sprachlichen Zeichen in Besitz genommen wird. Beim Vergleich der chinesischen kalligraphischen Kunst mit dem freien Spiel der Muster in der zeitgenössischen Kunst bemerkte bereits Claude LéviStrauss, dass nichts es ermöglicht, letztere als elementares Formenspiel kombinatorischer Einheiten zu identifizieren, wenn sie dies nicht sind, wogegen die kalligraphische Kunst auf Einheiten beruht, die „eine Eigenexistenz in ihrer Eigenschaft als Zeichen haben, welche durch ein Schriftsystem dafür bestimmt sind, andere Funktionen zu erfüllen". 3 In diesem Sinn ist das traditionelle kalligraphische Kunstwerk Sprache, „weil es sich aus der kontrapunktischen Anpassung zweier Artikulationsniveaus ergibt", nämlich der Ebene der Signifikation und der ästhetischen Ebene der bildnerischen Werte. In der modernen und zeitgenössischen Behandlung der Zeichen der arabischen Schrift ist, so könnte man sagen, die erste Ebene der Artikulation suspendiert, indem ästhetische Eigenschaften zugelassen werden, die zwar die Bedeutung annullieren, deren Schatten jedoch über der graphischen Figur weiter schweben lassen. Faktisch bleibt die Zweideutigkeit erhalten, genährt vom äußeren Schein, und besteht weiter durch die Kraft des Habitus, der durch die Tradition geprägt ist. Und der Künstler bedient sich ihrer in der Verführung eines Spiels von Simulationen, indem er Oszillationen von nicht zustande gekommenen Signifikationen schafft. Der Blick findet sich jedes Mal wieder aus der Aneignung des Lesbaren herausgezogen, um auf das rein bildliche Sehen zurückgebracht zu werden. Eine der markanten Figuren der Bewegung der Lettristen ist der im Jahre 1937 geborene tunesische Künstler Nja Mahdaoui, der aufgrund seines Knowhows neue Verfahrensweisen kreiert hat, durch die es ihm gelang, mit dem 3 Claude Lévi-Strauss, Le cru et le cuit, Mythologique 1, Pion, S. 29.

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Einfügen der arabischen Buchstaben in das Piktorale eine transkreatorische Dynamik einzuführen. Schauen wir uns an, wie er die Behandlung des arabischen Buchstabens zugleich aus der Verankerung im Piktoralen wie auch im Symbolischen emanzipiert hat. Diese Emanzipation wurde noch verstärkt durch seine gegenwärtige Praxis des Vorgehens mit Hilfe neuer Technologien, beispielsweise der Informationsverarbeitung. Während er die dynamischen Möglichkeiten der Kalligraphie bei der Ausführung und der Wiederholung der Geste mit einer bemerkenswerten Geschicklichkeit nützt, führt Mahdaoui durch die Abwechslung voller Strichführungen mit kursiv oder schräg aufgelösten Linien einen Kinetismus ein. Er riskiert jedes Mal eine Herausforderung des Signifikanten, indem er mit Formeñ spielt, die traditionellen Konfigurationen sehr nahe liegen, um diese jedoch sofort zu verwerfen durch Verfahren, die sie außerhalb ihrer Bedeutungen stellen. Er setzt Transgressionen um, indem er Anordnungen von deutlich markierten geometrischen Darstellungen (Viereck, Dreieck und Kreis) und Flüssen sehr feiner Schrift (Ghobar verwandt und mit dem bloßen Auge nicht lesbar) auf chromatischem Grund schafft, die breite Muster durchqueren oder an deren Grenze stoßen. Die räumliche Verteilung der Flächeneinfugungen und die Verflechtungen der Linien werden oft durch den brutalen Bruch geradliniger Strichführungen skandiert. Außerdem wird das Dynamische durch das Strecken der graphischen Darstellung der .Anhänge" betont, die einige Buchstaben anbieten, welche dem Künstler erlauben, mit der Breite des Strichs bis zum Verschwinden seiner Windungen zu spielen, die an ihrem Ende ins Unendliche verfeinert werden. Das Flechtwerk bestimmter Muster, das den verschiedenen graphischen Wiedergaben der arabischen Buchstaben die Rundungen und Eckigkeiten entlehnt, explodiert bei seinem Höhenflug in kleine schwarze Vierecke, die an das Interpunktionszeichen erinnern, das in der Tat, wie ursprünglich, die Spur der Anwendung der Spitze des Kalamos (der aus dem Schilfrohr geschnittenen Feder) ist. Das Ganze bildet dreidimensionale, dynamische und autonome Figuren, die nicht auf Kalligramme reduzierbar sind, deren Struktur sie zuweilen nahe legen. In bestimmten Darstellungen befreit sich die Linie aus dem graphischen Gefüge, um zu einem gewalttätigen Schnitt im Korpus des Werks zu werden, der umkippt. Das sind also rein formale Kombinationen, in denen sich auch eine Ästhetik der Anwesenheit/Abwesenheit heiliger Zeichen abspielt. Aber das ist zugleich auch und vor allem eine Beschäftigung mit den transkreatorischen Potentialitäten der Kalligraphie, die sich in eine Verteilung abstrakter Linien auf einen offenen bildlichen Raum verwandelt. Es ist, wie Deleuze sagen würde, „eine vitale Kraft, die der Abstraktion eigen ist, die den glatten Raum durchzieht"; die abstrakte und kinetische Linie ist zu verstehen als „Affekt eines glatten" und anorganischen - „Raumes". 4 4

Gilles Deleuze/Felix Guattari, Mille plateaux, éd. Minuit, Paris 1980, S. 623.

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Das Werk von Nja Mahdaoui ist insbesondere auch von Interesse wegen der Erkundung der plastischen Effekte der arabischen Schrift auf unterschiedlichen Trägermaterialien, die sowohl mit dem Bildfenster brechen als auch mit der traditionellen Ornamentierung. Er arbeitet mit chinesischer Tusche auf Schafshäuten, die er gestaltet, indem er sie am Rande verbrennt, und erschafft so auf neue Weise die Verbindung mit den Pergamenten. Ebenso kreiert er Installationen von Korpus und Schrift, indem er Kursives, Schiefes und Eckiges zu Choreographien integriert, bei denen der Korpus selbst zum bildlichen Element wird. Die Möglichkeiten, die durch den Reichtum seiner Muster-Zeichnungen und den quasi-physischen Erwerb der kalligraphischen Gestik geboten werden, bringen ihn zu gemeinsamen Kompositionen mit anderen zeitgenössischen Künstlern, beispielsweise mit dem deutschen Künstler Wolfgang Heuwinkel. Dieser benutzt das Aquarell auf einer Fasertextur, die er mit Kalk und mit Schnitten bearbeitet. Das ergibt geformte Untergründe, bei denen die Farbe ausfranst und den Raum weißglühend und schweflig intensiviert, den der tunesische Maler in der Bewegung einer kräftigen oder fluktuierenden graphischen Gestalt wieder aufnimmt, die das Ganze begrenzt, durchquert oder unterteilt. Diese poetische Vermischung befördert das kalligraphische Zeichen und die lyrische Abstraktion in die UnUnterscheidbarkeit.

S ; f; SÉM P l MW a pH »Mi i ' SR : i We B Abb. 2: Nja Mahdaoui/Wolfgang Heuwinkel, Aquarell und Tinte, 1991

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Nja Mahdaoui erkundet die Ressourcen seiner Zeichnungen auch mit Mitteln der Informationstechnologie, die die buchstabenähnlichen Formen vom Schwarzweiß zu unendlichen und multidimensionalen chromatischen Variationen übergehen lassen und luftige Skulpturen produzieren können, welche dem gegenwärtigen Urbanismus entsprechen. Diese virtuelle Verfahrensweise erlaubt ihm zudem, seine abstraktionistischen Kunstwerke in großem Maßstab auf Materialien wie Glas zu übertragen (die verglaste Kuppel eines Gebäudes zeitgenössischer Architektur, ein Projekt am Standort der ALESCO in Tunis) oder sogar auf Flugzeugen umzusetzen. Die Rückkehr zu einem Element, das als Kulturerbe bezeichnet wird, eignet sich also nicht nur für das Zelebrieren der Vergangenheit durch symbolische Praktiken oder durch Rituale, die nach dem nostalgischen Modus oder dem Gründermodell funktionieren. Sie kann auch, wie dies hier der Fall ist, zum Referenzpunkt werden fur den transkulturellen schöpferischen Prozess. In diesem Sinn bedeutet zeitgenössisch zu sein nicht, ein Fremder zu sein gegenüber der Geschichte, den Spuren oder Mythologien, um in einer radikalen Trennung Neues zu produzieren. Zeitgenössisch zu sein könnte verstanden werden als das Einschreiben der eigenen Aktualität in eine Transkreation, die die Bedeutung auf transkulturelle Art und Weise reaktiviert. Dies hängt an der Durchlässigkeit des kreativen Akts, der reich an Erinnerung und Polyvalenz der Erfahrungen ist und offen für die Künftigkeit des Imaginären.

Die zeitgenössische Kunst als transkultureller Widerstand Die künstlerischen Singularitäten erschaffen neue Formen möglicher Subjektivitäten, im Inneren des kulturellen Zugehörigkeitssystems, aber in den Falten, die von der Imagination und vom künstlerischen Schaffen belebt und dynamisiert werden. Hier handelt es sich um eine Neu-Erschaffimg seiner selbst, die dem Individuum erlaubt, durch die Kunst aus den Identifikationsweisen herauszutreten, die kulturell auf eindeutige Weise ausgerichtet sind. Die künstlerische Kreation stellt in diesem Sinne einen Freiheitsspielraum dar, um sich aus den Konformismen und Identitarismen zu lösen und die Gegenwart in ihrer Singularität, Komplexität und Vielfalt zu verstehen. Aus diesen Verschanzungen heraus kann der Künstler sich seine Humanität in ihrer transkulturellen und projizierenden Dimension aneignen. Die Erfahrung der Kunst verweist das Subjekt durch die intime Erfahrung „seiner selbst" und der Dinge in der Kreuzung der Sprachen somit auf eine Zone der Unbestimmtheit, in einen grundlegenden Abstand, wo sich die Frage nach der Bedeutung durch die Öffnung für das Mögliche neu stellt. Diese Öffnung ist genau die des kreativen Akts, der durch Affekte genährt wird, durch Spuren, durch Visionen, deren Wurzeln in einen immer transkulturellen Untergrund reichen.

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Dennoch wirft die Frage nach der künstlerischen Kreation im Maghreb heute angesichts der gängig gewordenen Idee einer globalisierten Kultur, die durch die neuen Technologien und die neue Vorherrschaft des Bildes dominiert wird, das Problem des Widerstandes durch Lokalisierung als transkulturellem Modus auf. Mehr denn je hat die künstlerische Praxis die Freiheit als Voraussetzung, die sich auf konfliktreiche Weise in der Konfrontation des Individuums mit der Alterität der globalisierten Kultur erprobt, die Paul Virilio als „Form öffentlicher Domestikation" bezeichnet, mit ihrem „Kommunismus der turbo-kapitalistischen öffentlichen Emotion, der in der Echtzeit des Austausches gelebt wird". 5 Es ist klar, dass die Künstler aus dem Maghreb weder dem Ansturm und „dem Glitzern" der Bilder entkommen noch der infernalen Maschinerie des Kunstmarktes mit seinen neuen Abwendungs- und Verfremdungsformen. Natürlich ist die Versuchung groß, und die Chancen auf Sichtbarkeit und Existenz auf einem potentiellen Kunstmarkt in den Maghreb-Ländern sind gering. Aber wie man unschwer erraten kann, geschieht es in diesen beschränkten Situationen, dass Künstler sich neue Ressourcen verschaffen, indem sie die Medien der globalisierten Kunst selbst benutzen und dort über einen Prozess der Individuation Formen und Dispositive schaffen, die neu sind, weil ihnen die Singularität des Lokalen innewohnt. Das Beispiel junger Künstler, die die Medien entfremden zum Ausdruck ihrer intimen Erfahrungen in Beziehung mit ihrer mehrfachen Identität ist ein Phänomen, das in den letzten Jahren aufgetaucht ist, ausgehend von den unterschiedlichsten familiären, sozialen oder exogenen Identifikationen. Sie schaffen eigenartige und hybride Dispositive, die die Transkulturalität der Unwirklichkeit des Globalen entgegensetzen. Die künstlerische Arbeit bekleidet immer mehr eine Dimension, die man existenziell nennen kann, eben durch die Tatsache, dass man sich ein Material aneignet und es nach endogenen Ansätzen und Verfahren auf andere Weise expressiv macht. Es geht darum, das Material auf andere Weise in die Wahrnehmung eingehen zu lassen, insbesondere mit dem digitalen Medium, indem man dessen expressive Möglichkeiten nutzt. Diese transkreatorische Bewegung wird durch die Veränderlichkeit der Konstanz des Künstler sich selbst gegenüber ermöglicht, eine Veränderlichkeit, die man Widerstand oder auch Lyrismus nennen könnte, in dem Sinn, wie Merleau-Ponty vom Lyrismus Paul Cézannes spricht, der jener der „immer wieder neu begonnenen Existenz" sei. Der Künstler redynamisiert sein kreatives Verhalten, indem er sich auf andere Weisen des Tuns einlässt, die geeignet sind, neue Kräfte aufzunehmen, die in gleichem Maße auch Wahrnehmungen neuer Affekte sind. Das Beispiel des algerischen Künstlers Ammar Bouras ist in dieser Hinsicht interessant. Nehmen wir seine Video-Foto-Malerei Installation Cyber Shahrazade: Wir stellen fest, dass sie als Aufhänger die mythische Persönlichkeit aus 5 Paul Virilio, L'art à perte de vue, Paris, Galilée 2005, S. 100.

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Rachida Triki

Tausendundeiner Nacht verwendet, die seit dem alten Persien die arabisch-muslimische Phantasie wie auch die des orientalistischen Westens beflügelt hat. Shahrazade fungiert als zugleich mythologisches wie auch erotisches Element, wie der Künstler sagt, um die transhistorische und transkulturelle Verbindung nicht zu verlieren. Das Material des Werks ist selbst ein Prozess; es handelt sich um eine nächtliche Sammlung von Worten aus Chats und CyberBilder, die Dialoge und digitale Selbst-Porträts aus Fragmenten anonymer Frauenkörper sind. Es handelt sich hier um eine neue Methode der Begegnung in virtuellen Zusammenkünften, um die nächtliche Stille und die Wüste zu durchbrechen. Ammar Bouras bringt die Wahrnehmung in dieses neue Regime des Sichtbaren ein, indem er dessen Möglichkeiten nutzt. Er kreiert ein spielerisches Puzzle, ausgehend von virtuellen Fenstern, die er über vertonten Wörtern und chromatisch bearbeiteten Körperteilen eröffnet, wo er das Intime und die Nähe zusammenbringt. In einer Hybridisierung der Mythologie, der Fiktion und des Virtuellen unterwandert der Künstler die Methode globalisierter Kommunikation, um das Verlangen zu reaktivieren und einen Raum des Intimen zu erschaffen. Diese virtuellen Bilder werden als Bilder aufgenommen in ein Palimpsest von arabisch-berberischen und lateinischen graphischen Zeichen, eine Art Tätowierung eines transkulturalisierten Körpers.

Abb. 3: Ammar Bouras, Ange de nuit, 42x65cm, digitaler Abzug auf Leinwand, 2006

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Auf dieser Ebene kann man sagen, fur den Künstler im Maghreb laufe zeitgenössisch zu sein darauf hinaus, Singularitäten einzuschreiben, um eine Anwesenheit in einem im Konsensuellen eingeschlossenen Zeit-Raum zu markieren. Das Phänomen der Kreation arbeitet daran, die Affekte zu aktualisieren, die Entwicklungen und neue Subjektivations-Methoden eröffnen und eine neue Art und Weise gemeinsamen Seins gegen die Einseitigkeit der Erfahrungen und die Eindimensionalität des Menschen.

II. Literatur und Musik

Randa Abou-bakr

LITERATURÜBERSETZUNG UND KULTURELLER AUSTAUSCH: DOMESTIZIERUNG, VERFREMDUNG ODER EIN DRITTER RAUM?

Wer die Entwicklung von Literaturkritik und Kulturtheorie in den letzten Jahrzehnten verfolgt, wird nicht umhin können, eine stetige Bewegung hin zu einer Integration zu entdecken, die die Flexibilität von Konzepten zu unterstreichen und rigide Binaritäten und Barrieren abzubauen versucht. Ob wir von poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Lesweisen literarischer und künstlerischer „Texte" beeinflusst sind oder ein literarisch-kulturelles Phänomen aus liberal-pluralistischer Perspektive betrachten, wir sind aller Wahrscheinlichkeit nach beschäftigt mit einem spontanen Dezentrieren binärer Oppositionen und vorgegebener Essentialitäten. Solche Allgemeinplätze der Literaturkritik und Kulturtheorie sind in jüngster Zeit jedoch neuerdings unter Überprüfung geraten. Das Ergebnis ist keine antithetische Bewegung hin zu einem erneuten rigiden Essentialismus, sondern eher kühne Versuche, Schlüsselbegriffe wie „Multikulturalismus", „Hybridität", „Grenzüberschreitung" und „Differenz" neu zu definieren, aus einer synthetisierten Position heraus, die darauf zielt, Essentialitäten zu betonen, ohne sie zu zentralisieren. Ziel dieses Artikels ist es nicht, solche radikalisierten Revisionen zu besprechen oder eine Auslegung des literarischen und kulturellen Denkens zu geben, dem sie entstammen,1 sondern ausgehend von dieser Voraussetzung die spezifische Anwendung dieses jüngsten Trends im Bereich der literarischen Übersetzung zu untersuchen. Das literarische und kulturelle Denken hat bezeugt, wie die Heraufkunft von Konzepten, welche die Wichtigkeit betonen, Literaturen und Kulturen demokratisch zu betrachten - evident seit der Zeit von Goethes Berufung auf Weltliteratur [dt. i. Orig.] bis zu den Theorien zur vergleichenden Literaturbetrachtung am Ende des 20. Jahrhunderts - , zur Entstehung der Cultural Studies als einem Weg gefuhrt hat, sich mit Kulturen, und in der Konsequenz auch mit Literaturen, in einer nicht-hierarchischen Weise zu befassen. Dies hat noch zu einer weiteren Entwicklung geführt, in der die Rolle der Übersetzung im Prozess der vergleichenden Betrachtung von Literaturen hervorgehoben wird.2 Susan Bassnett und André Lefevre haben 1990 argumentiert, die Verschie1 Das habe ich an anderem Ort getan; vgl. Abou-bakr 2006. 2 Vgl. z. B. Bassnett 1991 und Munday 2001.

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Randa Abou-bakr

bung in der Übersetzungstheorie und -praxis von den Sprachwissenschaften in die Kultur sei bereits ein Indiz dafür gewesen, dass die literarische Übersetzung sich von der Essentialität der Sprache absetzte in Richtung auf den vielschichtigen Raum der Kultur (Bassnett/Lefevre 1990, pass.)· Zusammen mit der Einsetzung der zentralen Rolle von Kultur für den Übersetzungsprozess erfolgt eine Betonung der subjektiven Natur der Übersetzung und des Irrtums, auf den Lawrence Venuti sich in seinem Buch von 1998 bezieht als „Skandale" der Übersetzung, nämlich „akkurate" und „narrensichere" [fool-prooj] Übersetzungen. Ob als berufliche Übersetzer oder Literaturstudenten, Übersetzer von Literatur werden nicht nur „konstant an die Unabdingbarkeit erinnert, zusätzlich zur Sprache auch die Kultur zu kennen", sondern sind aus sich selbst heraus „Agenten von Kultur" (Landers 2001, S. 72-75). Die Verschiebung in der Theorie und Praxis des Übersetzens von der Betonung sprachlicher und formaler Elemente zur Sicht der Übersetzung als eines Aktes der kulturellen Mediation beeinflusst Ansätze des Übersetzens jetzt seit einigen Jahrzehnten. Kein Akt des Übersetzens, so erinnert uns Edwin Gentzier, kann beanspruchen, frei von kultureller Repräsentation zu sein und „verborgene kulturelle Information aufzuzeigen, unterdrückte Bilder und marginalisierte Welt-Sichten". Gentzier zufolge bedeutet die zentrale Rolle der Kultur für den Übersetzungsprozess, dass die Übersetzung, und insbesondere die literarische Übersetzung, eines der fruchtbarsten Gebiete des kulturellen Austausches darstellt, „eines unserer kulturellen Werkzeuge, die uns für ein besseres Verständnis dafür zur Verfügung stehen, wie Kulturen ebenso miteinander verbunden wie voneinander getrennt sind" (Gentzier 2002, S. 217). Was für eine Aufgabe! Da das Zeitalter der post-nationalen Globalisierung eingeläutet worden ist, werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass der Dialog zwischen den Kulturen weder überflüssig noch sporadisch ist. Er geschieht jede Minute, ob wir wollen oder nicht, und angesichts dessen sollte er besser auf so vielen Ebenen wie möglich geschehen, und auf so soliden Grundlagen wie möglich. Wir werden daran erinnert, nicht erst seit den Ereignissen von 9/11 oder den jüngsten ethnischen Spannungen in einigen Teilen Europas, dass kulturelle Begegnungen in unserer globalisierten Welt bis jetzt nicht sonderlich glücklich und ohne Schuld verliefen. Wir werden auf eine Kluft aufmerksam gemacht, die nicht nur durch die Intensität einiger dieser Begegnungen geschaffen wurde, sondern von einem tieferen und vielschichtigeren Ursprung potentiellen Missverstehens und vorgefasster Ideen. Es lohnt sich ferner zu registrieren, dass Gentzlers Perspektive die Fähigkeit des Übersetzens nicht nur zur Verbindung, sondern auch zur Trennung von Kulturen unterstreicht. Dies ist die duale Sicht des Potentials literarischer Übersetzung, an denen sich die Ansätze des Übersetzens orientieren, bis Lawrence Venuti 1995 sein einflussreiches Buch veröffentlicht - The Translator's Invisibility: A History of Translation. Venuti beschreibt zwei prinzipielle Zugangsweisen zu den erheblichen kulturellen Rückständen, die von literarischen

Literaturübersetzung und kultureller Austausch

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Texten erzeugt werden, nämlich „Domestizierung" [

V t*

*s > A A

Abb. 1: Alphas (Abbildungen 1-3 aus Kallir 1961)

zweitausend Jahre hinzog) stellte sich das Zeichen quer, dabei u. a. die Bedeutung des Pfluges assimilierend, um schließlich auf dem Kopf stehend durch einen Querstrich ergänzt zu werden. Der Querstrich verweist auf das Joch und damit auf den kastrierten Ochsen, der zu einer wertvollen Stütze des Ackerbaus wird. „Auf den frühen ägyptischen Darstellungen sind Kühe, nicht Ochsen vor dem Pflug zu sehen. Die Bezähmung des Ochsen ist die große Errungenschaft der sich entwickelnden Agrarzivilisation und stellt, wie die Erfindung des Alphabets, einen Meilenstein im Fortschritt des Menschen dar. Die beiden Ereignisse scheinen sich zeitgleich vollzogen zu haben: wahrscheinlich Anfang des zweiten vorchristlichen Jahrtausends."6 Später sollte sich das Alpha wiederum umdrehen, um die uns bekannte Form anzunehmen, dabei den Prozess einer „Vermenschlichung" der Götter widerspiegelnd. Erzählt das Alpha 4 5 6

Kallir 1961, S. 50. Ebd., S. 23. Ebd., S. 39.

Incognito ergo sum

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also einerseits von der Kastration des Stiers und seiner Verwandlung in ein Symbol fur den Ochsen, so nimmt das Zeichen andererseits auch zunehmend anthropomorphe Gestalt an. Zwar hatten Semiten und Griechen dasselbe Design fur ihren ersten Buchstaben; doch zeigte das (alte) semitische aleph seitwärts, während das griechische alpha aufwärts zeigte. Später wurden auch die semitischen Buchstaben senkrecht gestellt: „Erst als der Buchstabe beginnt, Mensch (bzw. Mann) zu symbolisieren, erscheint er von vorne und stehend. [...] Die Aufrichtung der semitischen Buchstaben um 90 Grad fallt zusammen mit dem Übergang von einem theriomorphischen zu einem anthropomorphischen Weltkonzept; dies scheint uns die eigentliche Erklärung für das Phänomen zu sein. Der Übergang vom aleph, dem Stier, zum alpha, Abbild des Menschenwesens, typisiert dieses Ereignis."7 Alle Buchstaben des Alphabets, so Alfred Kallir, hatten ursprünglich eine sakrale Bedeutung, und oft verweist diese, wie auch beim Alpha, auf eine vielschichtige Fruchtbarkeitssymbolik, was uns zurückfuhrt zum Mittelmeer als dem „Ehebett von Orient und Okzident". Die Bedeutungen, die die Buchstaben assimilierten, bezogen sich nicht nur auf Naturerscheinungen, sondern auch auf Gedanken und stellen insofern auch Ideogramme dar. Ich möchte das nun im Folgenden am Beispiel des „M" darstellen: M wie in Mittelmeer, wie in Monotheismus und in Mater (Mutter und Materie). Der Buchstabe M des lateinischen Alphabets zum Beispiel ist eine Weiterentwicklung der Hieroglyphe fur „Wasser", die in ihrer Ursprungsform noch deutlich als Nachahmung der Wellenbewegung zu erkennen ist. „Mem" bedeutet im Ägyptischen Wasser,

/ΝΛΑΛΛ /ΝΛΛΛΛ, /ΝΛΛΑΛ Abb. 2: Hieroglyphische Notation: Wasser (nu)

1 7

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Abb. 3: Semitische Buchstaben m (li frühes Phönizisch, re frühes Hebräisch)

7 Ebd., S. 77.

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Christina von Braun

und von dieser Hieroglyphe leitet sich sowohl im frühen Phönizischen als auch im frühen hebräischen Alphabet die Buchstabenform fur das „M" ab. Das deutsche „Mittelmeer" und „the mediterranean" sind Worte, die sich aus dieser ursprünglichen Bedeutung entwickelt haben. Das M deutet auf viele Begriffe die mit „Wasser" zusammenhängen: Das ägyptische „ma, mu, mui" bedeutet soviel wie „water, sea, lake, to flow etc." - und der Name Moses, der aus dem Wasser geholt wurde, leitet sich unter anderem auch von dieser Konnotation ab. Das Wasser wiederum steht in enger Beziehung zur Mutter - nicht nur im französischen Homonym von „mer" und „mère". „In Egyptian mama means ,fountain' [...] Hebrew ,mayim' signifies both ,water' and ,womb'." 8 Der Zusammenhang zwischen dem Wasser und der Matrix fuhrt auch dazu, dass Rabbiner heute noch eine befruchtete Eizelle während der ersten 40 Tage als „water in the world" bezeichnen. Diese „mütterliche" Bedeutung des M entwickelte sich später weiter im Konzept der „umma". Der Islamwissenschaftler Ludwig Ammann hat gezeigt, wie eng der Begriff der umma mit dem der „Mutter" verwandt ist - etymologisch wie inhaltlich: „In den semitischen Sprachen, und besonders im Arabischen, wird der Begriff Mutter mit 'umm wiedergegeben, ihr Produkt, das Volk, jedoch als 'umma. Im Arabischen wird der Begriff 'amma - fuhren mit 'imâm -,Führer' und 'immat - Lebensweise weitergeführt, was wahrscheinlich so zu erklären ist, dass die Mutter nach der Geburt das erste Lebewesen ist, dem die Neugeborenen folgen; sie imitieren die Mutter, um den Weg ins Leben zu erlernen. Diese Vorstellung liegt dem Begriff 'umma schon in vorislamischer Zeit zugrunde, so dass das erzogene Produkt von Fortpflanzung und Sozialisation kulturell als etwas gesehen wurde, das durch einen gemeinsamen Lebensstil definiert war." 9 Das M impliziert aber nicht nur Wasser und Mütterlichkeit - „there are also numerous M-words of masculine connotation, or which by metaphor refer to the male sex: master, magi, magic, magister, majesty, might, mass, main, major, maxim, more, most [...]; Latin magnus and Greek megas for ,big'; mammoth, and so on." 10 Eine andere Wurzel dieser maskulinen Konnotation „provides us with ,mind' and ,meaning' [...], in short, with anything ,mental'." 11 Aus dieser männlichen, zur Bedeutung der „Mütterlichkeit" konträren wie ergänzenden Bedeutung des „M" leitet sich wiederum eine dritte Bedeutung ab, die auf den ganzen Bereich der Mitte, des Mediums und der „marriage" verweist: der Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen. Kallir spricht von dem „mingling of male and female", von „mix, medium, middle, moyen" etc. - und auch hier mit übertragener Bedeutung: „The expert though, by medical intervention, may, where there is a breach, mend it." Diese mediale Rolle des „M" zeigt sich auch in der Hierarchie der Buchstaben des Alphabets: „M, the central let8 9 10 11 12

Kallir 1961, S. 243. Ammann 2004, S. 80f. Ebd., S. 243. Ebd., S. 244. Ebd., S. 245.

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ter of the triad L-M-N and of ,ele-m-ent' is the central letter of the alphabet also. The number of the characters of the Latin alphabet was not at all times the same. It varied between nineteen and twenty-six. For periods lasting hundreds of years M was in fact with mathematical precision the central letter, the tenth, the twelfth or thirteenth character respectively from either end of the sign-list." 13

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