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German Pages 272 [273] Year 2001
E I N S T E I N
B Ü C H E R
Herausgegeben von Anthony Grafton und Moshe Idei
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-05-003560-9
Redaktion: Peter-Ulrich Philipsen, Angela Matyssek
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Alle Rechte vorbehalten Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ ISO 9706. Umschlaggestaltung: Carolyn Steinbeck Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Anthony Grafton DerMagus und seine Geschichte(n) 1 Yuri P. Stoyanov Der Magier als Häresiarch in der mittelalterlichen
orthodoxen
Häresiologie
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Valerie I. J. Flint Der Bischof des christlichen Mittelalters und der Magus Der Fall des Thomas Cantilupe 65
Klaus Reichert Von der Wissenschaft zur Magie: John Dee 87
Wilhelm Schmidt-Biggemann Erlösung durch Philologie Der poetische Messianismus Quirinus Kuhlmanns 107 Giuseppe Veltri Der Magier im antiken Judentum Von empirischer Wissenschaft zur Theologie 147
Karl E. Grözinger Wundermann, Helfer und Fürsprecher Eine Typologie der Figur des Ba'al Schern in aschkenasisch-jüdischen Volkserzählungen 169 V
INHALTSVERZEICHNIS
Immanuel Etkes Der Rabbi Israel Ba'al Schern Tov Seine beiden Funktionen als professioneller Magier und Beschützer der Juden 193
Moshe Idel Saturn, Schabbat, Zauberei und die Juden 209 Personenregister 251 Abbildungsnachweise 263
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Der Magus
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n irgendeinem Tag zwischen 1520 und 1540 ging ein Herr namens Georg von Heidelberg eine Treppe herunter, um mit Philipp Melanchton zu frühstücken, bei dem er in Wittenberg weilte. Melanchthon hatte seinen Gast schon mehr als einmal streng getadelt und zur Besserung ermahnt. An diesem Morgen gab Georg ihm darauf die Antwort. Er drohte Melanchthon, bei passender Gelegenheit alle Töpfe und Pfannen des Hauses zum Schornstein hinaus fliegen zu lassen, so daß an diesem Tage niemand etwas zu essen bekommen würde. Melanchthon jedoch bot all die Ironie und den Witz auf, für den die deutschen Professoren seiner Zeit berühmt waren, und erteilte Georg die vernichtende Antwort: »Dass soltu wol lassen, ich schiesse dir in deine kunst.« Der Reformator zeigte keine Furcht, und die Töpfe blieben, wo sie hingehörten. Diese Geschichte ist nicht leicht zu interpretieren - und Palmer und More, die beiden verdienten Wissenschaftler, die diesen und viele andere Texte zusammentrugen, haben diese Aufgabe nicht leichter gemacht, als sie Melanchthons Äußerung mit »you had better not. Hang you and your tricks« übersetzten, da viele englischsprachige Wissenschaftler in der Folge Melanchthons schlagfertige Antwort in dieser stubenrein gemachten Form zitierten.1 1
Philip Mason Palmer u. Robert Pattison More, The Sources of the Faust Tradition. From Simon Magus to Lessing, New York 1936, S. 122.
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Eines jedoch ist klar: Melanchthons Gesprächspartner - uns besser als der historische Faustus bekannt - war ein Magus. Ein Magus, dessen seltsame und beschwerliche Laufbahn schon mehrere Jahrzehnte vorüber war, als Hausierer das erste Faustbuch zu verkaufen begannen und seine Abenteuer von Marktplatz zu Marktplatz immer farbiger ausschmückten. Auch wenn Melanchthon die Macht Fausts, zumindest wenn sie sich gegen einen Diener Gottes richten sollte, offenbar geringschätzte, so hatte er doch keine Bedenken, seine Studenten bei anderen Gelegenheiten mit Berichten von den erstaunlichen Taten des Magiers zu ergötzen. In Wien zum Beispiel hatte Faust einen anderen Magus verschlungen - zumindest war es ihm gelungen, diesen Eindruck zu erwecken, sein Opfer tauchte einige Tage später in einer Höhle wieder auf. 2 Melanchthon, ein leidenschaftlicher Adept der Astrologie, mußte zugeben, daß Faustus - selbst ein erfolgreicher Astrologe, der zehn Gulden für ein Horoskop erhielt - als Magier einige Reputation besaß. Faust war in seiner Zeit kein Einzelfall. Benvenuto Cellini hatte in eben dieser Zeit eine Begegnung mit einer ebenso dunklen und attraktiven Gestalt, einem Nekromanten aus Norcia, einer Region, die schon in der Antike als Heimat der Zauberer und Hexenmeister bekannt war. Der Nekromant führte ihn des Nachts in das Kolosseum, wo er einen schützenden Kreis zog, Würzkräuter verbrannte und Zaubersprüche sprach. Er beschwor nicht nur einen, sondern Tausende von Teufeln herauf, ganze Legionen von ihnen. Nur der unbeugsame Mut Benvenutos und die kräftigen Fürze des sie begleitenden Jungen, vor denen sich die Teufel ekelten, bewahrten die Experimentatoren vor den Folgen ihres unvorsichtigen Handelns. Und der Nekromant aus Norcia war keineswegs der einzige, der in dieser Zeit Experimente anstellte: Er hatte viele Kollegen, deren Dienste nicht nur der große und melancholische Kaiser Rudolf II., sondern auch die weitverzweigte und pragmatische Augsburger Kaufmannsfamilie der Fugger in Anspruch nahmen. 3 Aber die Tatsache, daß es im Europa der frühen Neuzeit Magi gab, sagt uns allein noch sehr wenig. Der Magus der Renaissance ist als sozialer und intellektueller Typus in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten merkwürdig wenig erforscht worden - eine Zeit, in der man sich mit seiner angeblichen Verbündeten, der Hexe, hingegen gründlich beschäftigte und durch ein systematisches Studium der Archivdokumente Klarheit über deren eigentliche Natur und soziale Stellung gewinnen konnte. Norman Cohn, Richard Kieckhefer, Carlo Ginzburg, Robin Briggs und viele andere haben die verwickelte Geschichte des europäischen Hexenwahns in faszinierenden Einzelheiten rekonstruiert. Wir wissen nun, daß sich die klassische 2
Ebd., S. 99 f.
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Vgl. Lyndal Roper, »Bedrohte Männlichkeit. Kapitalismus und Magie in der frühen Neuzeit«, in: dies., Ödipus und der Teufel, Frankfurt/M. 1995, S. 127-146.
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Figur der Hexe, wie sie im Malleus maleficarum beschrieben ist, nicht im frühen Mittelalter herausgebildet hat, wie man immer lehrte, sondern erst im Spätmittelalter, jenem Zeitalter, in dem Europa auf schrecklichste Weise von Aufruhr und Zerrissenheit heimgesucht wurde. In der Zeit des Schwarzen Todes, des Zusammenbruchs der mittelalterlichen Monarchien und der Zersplitterung der allumfassenden katholischen Kirche ergaben die in der Welt des professionellen Gelehrtentums schon lange existierenden Phantasien über Außenseiter eine Mixtur von starker zerstörerischer Wirkung - eine Mixtur, in der sich misogyne und antisemitische Stereotypen mit populären Überzeugungen und altüberlieferten Praktiken auf schreckliche Weise verbanden. Im 15. Jahrhundert wurden Hexenprozesse in großem Ausmaß betrieben. Verdächtige wurden nicht nur einfach angeklagt, jene einfachen Zauber gewirkt zu haben, die weise Männer und Frauen seit Jahrhunderten dazu verwendet hatten, verlorengegangene Gegenstände wiederzufinden oder die Liebe eines anderen Menschen zu gewinnen, sondern sie wurden angeklagt, sich mit dem Teufel verschworen zu haben, obszöne Schwarze Messen abzuhalten und der christlichen Gesellschaft nach Kräften schaden zu wollen. Diese gärende Masse von Anschuldigungen und Haß führte zu Verfolgungen, die, unterbrochen von langen Phasen des Friedens, bis weit ins 17. Jahrhundert andauerten. Sie schlug sich, wie Krämers und Sprengers Malleus maleficarum sowie eine Unmenge minderer Werke beweisen, in der Literatur nieder, aber auch, wie etwa die Bilder Hans Baidungs zeigen, in der bildenden Kunst. Mit ihren Geschichten von Hexen, die den Männern ihre Penisse stahlen und sie bündelweise in Vogelnestern versteckten, um sie dort wie Gewürm oder kleine Stare mit Getreidekörnern zu füttern, wußten die Autoren dieser Literatur über das Aufspüren von Hexen mehr über den Penisneid zu sagen als Freud. Der soziale und politische Hintergrund von Europas großer Hexenjagd ist ähnlich dem der zeitgleichen Verfolgung der Juden in Spanien und im Heiligen Römischen Reich von den Historikern genau erforscht, auch wenn ihre Erklärungen für diese Phänomene, ähnlich wie ihre Erklärungen für den Holocaust, manchmal intellektuell weniger befriedigend sind als ihre detaillierten Beschreibungen. 4 Im Gegensatz dazu gerät der Magus den normalen Historikern weit seltener in den Blick, und sie haben über seine historische Identität und seinen Hintergrund bisher weit weniger zu sagen gewußt. Andererseits besitzen wir von der Antike an eine enorme Menge disparater Informationen über einzelne Magi. Lynn Thorndikes kolossales Werk A History of Magic and Experimental Science5 gibt einen viele Jahrhunderte umspannenden Überblick über Leben und Werk einer Vielzahl von Magi, mit besonderer Berücksichtigung der Epoche der Rezeption und Adaption 4
Eine einfallsreiche Interpretation einiger deutscher Fälle präsentiert L. Roper, »BedrohteMännlichkeit«.
5 Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, New York 1923, 2 1958.
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islamischen Denkens im Westen und der Frühen Neuzeit. Die einzelnen Magi wie Michael Scot, dem historischen Faust und Giordano Bruno gewidmete historische Forschung hat faszinierende biographische und historische Informationen zu Tage gefördert. Man hat auch die Verschmelzung zwischen einigen Versionen der Kabbala und der im späten 15. Jahrhundert in Florenz entstehenden christlichen Magie erschöpfend untersucht. Pierre Behars faszinierende Arbeit über die Herstellung und Verwendung von Talismanen in der Renaissance ist nur das jüngste Exemplar einer großen Reihe monographischer Studien, die bis auf das 17. Jahrhundert und noch weiter zurückgehen. 6 Aber die modernen Wissenschaftler haben es unterlassen, eingehend dem Schicksal des frühneuzeitlichen Magus als sozialem Typus nachzuspüren - mit zwei Ausnahmen. Mit Eliza M. Butler und Frances A. Yates haben sich zwei der talentiertesten und unkonventionellsten Historiker des 20. Jahrhunderts diesem Thema gewidmet. Beide hatten viele Qualitäten gemeinsam. Beide hatten das Glück, ihren Bildungsweg fast vollständig außerhalb des akademischen Establishments gehen zu können. Butler, die Tochter eines Anglo-Iren, trieb ihren Vater mit ihrer Unfähigkeit, irgend etwas zu lernen, zur Verzweiflung und wurde auf den Kontinent geschickt, wo sie mit großem Vergnügen einige Jahre als Schulmädchen in Deutschland und in Paris verbrachte, in den letzten Jahren des alten Regimes und seines Glanzes. In ihrer Zeit in Cambridge, wo sie moderne Sprachen studierte, kam sie fast zum ersten Mal mit dem konventionellen Bildungssystem in Berührung. 7 Yates, die Tochter eines Schiffbauingenieurs, zog während ihrer Kindheit von Werft zu Werft und erwarb einen externen Grad in Französisch an der Universität London. Sie schrieb zwar eine Magisterarbeit, doch begann auch sie ihre Laufbahn als äußerst unabhängige Gelehrte und fand nur wenige Jahre später unter den europäischen Exilanten und britischen Nonkonformisten, die sich im Warburg Institute versammelten, eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, der sie sich anschloß. 8 Beide machten Erfahrungen, die sich ein normaler Akademiker unseres blassen Nachkriegsutopias kaum vorstellen kann: Butler als Militärkrankenschwester in Rußland während der letzten Jahre des Ersten Weltkriegs und Yates im Londoner Sanitätsdienst während der deutschen Luftangriffe 1940/41. Beide waren großartige Schriftstellerinnen, deren beschwörende und farbenreiche Prosa auch heute noch lebendig ist, während die Texte all der vielen konventionelleren Autoren ihrer Zeit unter einer Jahrzehnte alten Staubschicht begraben sind.
6
Vgl. Pierre Béhar, »Les langues occultes de la Renaissance«, Paris 1996.
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Vgl. Eliza M. Butler, Paper Boats, London 1959.
8
Vgl. ihre in dem Band Frances A. Yates 1899-1981, London 1982, gesammelten Erinnerungen.
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Tausende von Lesern kennen die ansteckende Leidenschaft, mit der Yates, ausgehend von versteckten Hinweisen in verstreuten Quellen, der vergessenen Geschichte der kosmopolitischen und friedliebenden Ideale nachspürte, die niemals materielle Gestalt angenommen hatten; die anscheinend mühelose Anmut, mit der sie die Renaissance als eine Revolution charakterisierte, die sich von moderneren Revolutionen nicht durch ihre geringere Radikalität, sondern durch ihre Rückwärtsgewandtheit unterscheidet. In den unmittelbaren Genuß der sengend polemischen Prosa von Butlers berühmtestem Werk, dem wegen seiner Polemik berüchtigten Buch The Tyranny of Greece over Germany, kam in den letzten Jahren hingegen eine viel geringere Zahl von Lesern, und das ist eine Schande. Ich möchte nur ein repräsentatives Beispiel anführen, ihre großartige Beschreibung der Berliner Preußischen Staatsbibliothek, wo sie in den zwanziger Jahren ihre Forschungen über die Jungdeutschen und Fürst Pückler-Muskau betrieb: »Das war ohne Ausnahme die hoffnungsloseste und schrecklichste Institution, an die ich je geraten bin. Gehässigkeit, Obstruktion und Ineffizienz waren mit einem roten Band zu einem gräßlichen gordischen Knoten verfilzt. Im Katalogsaal herrschte Chaos, im Lesesaal Unbarmherzigkeit, im Ausleihsaal glänzte das Personal durch Abwesenheit, und überall stieß man auf Überheblichkeit und Unverschämtheit. Die Beamten müssen geradewegs Kafkas Schloß entstiegen sein; ihr einziger Lebenszweck bestand darin, einem einen Strich durch die Rechnung zu machen und alle Anstrengungen, sie zu überlisten, dadurch zu paralysieren, daß sie in die Kantine verschwanden. Die Stunden, die ich damit verschwendete, darauf zu warten, daß sie aus diesem Schlupfwinkel wieder auftauchten, müssen sich zu Tagen summiert haben; und wenn ich endlich die Bücher bekam, war ich manchmal so schlaff und müde, daß ich kaum noch in der Lage war, sie zu lesen.« 9 Selbst Yates hätte keine glühendere und effektivere Prosa zustande bringen können. Beide waren überrascht, als ihnen spät in ihrem Leben großer Erfolg beschieden war. Butler, die lange Zeit in Manchester Deutsch unterrichtet hatte, wurde 1946 im Alter von 56 Jahren in Cambridge zur Deutschprofessorin ernannt; sie kann durchaus die erste Frau gewesen sein, die an dieser Institution einen Lehrstuhl innehatte. Yates war in den sechziger und siebziger Jahren eine dominierende Figur im Warburg Institute, eine leidenschaftliche Essayistin für die New York Review of Books und hielt spektakuläre Vorträge im Stil von Margaret Rutherford. Sie wurde eine der berühmtesten Intellektuellen in der englischsprachigen Welt und erfreute sich gleichzeitig einer enormen, heimlichen Berühmtheit in den halbdunklen, marihuanaduftenden Zimmern der Blumenkinder, deren Mißtrauen gegenüber dem Establishment und deren Liebe zu Außenseitern und Sonderlingen sie teilte. f
E. M . Butler, Paper Boats, S. 96.
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Beide hatten eine direkte Beziehung zur Vergangenheit, die prosaischere Seelen schockierte. Yates erschreckte ihre Studenten durch das Tempo, mit dem sie die Bibliotheksleitern bis zu den obersten Regalen hinaufeilte, aus denen sie die von ihr so geliebten riesigen lateinischen Foliobände zog. Mehr als einer ihrer hingebungsvollen Schüler entging nur knapp dem Schicksal, von der Wucht herabstürzender Gelehrsamkeit erschlagen zu werden. Viele ihrer Leser erschreckte sie mit kühnen Hypothesen, von denen einige mehr auf ihrem eigenen Gefühl des direkten Kontaktes mit den von ihr studierten Individuen zu beruhen schienen als auf der in normaler geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeit verwendeten Art von Argumenten und Schlußfolgerungen. Butler erstaunte ihren Kreis allerdings noch mehr, da ihr Kontakt mit der Vergangenheit sogar noch unmittelbarer war. Als sie einmal die Unhöflichkeit der Bediensteten der Staatsbibliothek satt hatte und ihr die Handschrift Fürst Pückler-Muskaus unlösbare Rätsel aufgab, ging sie in die Kantine hinunter, wo die aufgebrachten Gesichter des Personals sie wie Kobolde in einem Alptraum umringten und sich noch mehr vor Zorn verzerrten, als sie ein Fenster öffnete und etwas frische Luft hereinließ. Sie suchte dann im Hof Zuflucht, wo sie auf »eine große, geckenhafte Gestalt« traf, »die sich auf einen Ebenholzstock mit Elfenbeingriff stützte und den Brunnen durch ein Monokel betrachtete.« »Unleserlichkeit oben, Feindseligkeit unten?« fragte der Mann. Sie nickte. »Oben wird es morgen leichter sein«, antwortete er, »aber bleiben sie aus der Kantine weg.« Dann schwenkte er seinen Stock und verschwand, und seine Augen vermittelten dabei irgendwie den Eindruck, als riete er ihr, »auf meine Es und Rs aufzupassen«. Am nächsten Tag entdeckte Butler, daß Pücklers Es und Rs einander täuschend ähnlich waren. Sie konnte nun seine Handschrift entziffern und begann mit der Arbeit an einem ihrer erfolgreichsten Bücher. 10 Ihr ganzes Leben lang hat Butler Geister aus den tiefsten Tiefen heraufgerufen, und sie kamen. Als junges Mädchen, so erinnerte sie sich, wurde sie von dem Propheten Hosea belästigt, der immer wieder in ihrem Schlafzimmer auftauchte. Als reife Studentin der Magie sah sie noch seltsamere Dinge, als sie sich auf einem Zauberberg in der Schweiz unter Experimentatoren eines neuen Lebensstiles mischte und als sie Aleister Crowley, den letzten der modernen Magi, in seiner kalten Pension in der Nähe von Hastings aufspürte. Da scheint es kein Wunder zu sein, wenn sich Butler und Yates mit der Figur des Magus beschäftigten. Butler widmete ihr drei dicke, erfolgreiche Bücher - The Myth of the Magus (1948), Ritual Magic (1949) und The Fortunes of Faust (1952). In ihnen erforschte sie nacheinander die Langzeitgeschichte, die literarischen Transformationen und die tatsächlichen Praktiken dieser merkwürdigen Gestalt. Yates befaßte 10
Ebd., S. 106.
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sich in einer sogar noch größeren Zahl von Werken besonders mit der Welt des Renaissance-Magus, von ihrem Meisterwerk Giordano Bruno and the Hermetic Tradition aus dem Jahre 1964 bis zu den kontroversen Werken ihrer letzten Jahre wie The Rosicrucian Enlightenment. Der Vergleich zwischen beiden Ansätzen drängt sich auf. Doch stellt man Butler und Yates nebeneinander, so ist es leider um jede Klarheit geschehen. Denn für die beiden beschrieb die Figur des Magus jeweils eine radikal verschiedene Bahn; vor allem lieferten beide radikal verschiedene Interpretationen seiner Stellung in Kultur und Denken der Frühen Neuzeit. Butler, die bei Jane Harrison, der großen Anthropologin der antiken Welt, studiert hatte, begriff den Magus als einen charakteristischen Typus, den es seit Jahrtausenden gab und der erkennbar immer derselbe war, aber zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Rollen spielte. Frühe Magi wie Zoroaster und Pythagoras verkörperten nach ihrer Ansicht den Magus in seiner höchsten Form. Als religiöse Figuren, die mit prophetischer Weisheit ausgestattet waren, hatten sie ein Leben gelebt, dessen Verlauf bald zu einem festen Schema wurde: eine von Wundern begleitete Geburt, eine Zeit der Zurückgezogenheit, magische Kräfte, Wettkämpfe mit Rivalen, Niederlage und oft ein heroischer Tod, erlitten im öffentlichen Interesse. Die Ankunft Jesu und der Aufstieg des Christentums führten nicht zur Eliminierung des Magus, sondern zu einer radikalen Veränderung seiner Stellung und seines Ansehens. Der von einem Retter und Erlöser zu einem Zauberer und Geisterbeschwörer herabgekommene Magus des christlichen Mittelalters übte zwar die traditionellen magischen Praktiken aus, doch gebrauchte er sie im Dienste neuer und geringerer Ziele. Der Magus erreichte seinen Tiefpunkt, als der Puritanismus der Protestanten noch in der Renaissancezeit die umgänglichere und tolerantere Haltung des traditionellen Katholizismus von der historischen Bühne vertrieb. Butler beschrieb die Schäbigkeit des Renaissance-Magus mit der Genüßlichkeit und Vorstellungskraft eines Tennessee Williams, der eine auseinanderbrechende Familie auf einer heruntergekommenen Plantage beschreibt. Als sie die Transkripte von John Dees Gesprächen mit Geistern las, war sie besonders erstaunt über die offenbar radikale Skepsis des von ihm beschäftigten Mediums und Kristallomanten Edward Kelley. Besonders entzückte sie sein Wunsch, der Geist Madimi solle ihm für zwei Wochen hundert Pfund leihen. Nichts schien ihr typischer für die Degeneriertheit und Seichtigkeit des Renaissance-Magus zu sein als der Trick des Böhmen Zyto, der einer Magd die Illusion suggerierte, sie stünde im Wasser, so daß sie zur Freude aller Zuschauer ihre Röcke bis zur Taille lüftete. Die einst von Männern mit spiritueller Macht praktizierten Rituale wurden nun für schändlich gemeine Zwecke vergeudet. An dieser allgemeinen Einschätzung Butlers ändert auch die Tatsache nichts, daß sie bereit war zuzugeben, daß die Magi eines silberneren Zeitalters
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wie Cagliostro und Madame Blavatsky ein echtes Bedürfnis gehabt hätten, ihre Kräfte zum Nutzen und zur Besserung der Gesellschaft einzusetzen - was aufgrund des mit dem 18. Jahrhundert einsetzenden Niedergangs des religiösen Glaubens und der religiösen Autorität zweifellos möglich geworden war.11 Yates, die brillante Schülerin des Warburg Institute, wußte ebensogut wie Butler, daß die von ihr studierten Magi wie zum Beispiel Giordano Bruno, sich als Erben einer alten Tradition begriffen. Tatsächlich hat niemand mehr als Yates den Einfluß der großen spätägyptischen Gruppe von Texten zur Religion, Magie und Theurgie, des hermetischen Korpus, auf die Renaissancedenker betont (und manchmal überbetont), denen diese Texte als Berichte einer alten Offenbarung galten. Aber Yates interessierte sich mehr für Brüche als für Kontinuitäten, und sie war auch stärker von den Geheimnissen und dem Geraune des historischen Berichts fasziniert als von seinen lautstarken Verkündungen und seinen Platitüden. Auch sie war der Ansicht, daß die Figur des Magiers in der Antike und im Mittelalter ihre Blütezeit erlebt hatte, vor allem wenn das Umfeld für sie besonders günstig war, wie etwa am Hof Friedrichs II. auf Sizilien. Aber der Renaissance-Magus war für sie eine ganz andere Gestalt. Zwar beschwor er wie sein mittelalterlicher Vorgänger Geister, stellte Talismane her und studierte alte Handbücher magischer Praktiken wie das Picatrix, doch er tat dies in einem neuen Kontext. Wie die in der gleichen Zeit auf den Plan tretenden Humanisten, so begriffen sich auch die Renaissance-Magi als Restauratoren eines in ferner Vergangenheit dahingegangenen goldenen Zeitalters, die etwas Totes wieder zum Leben erweckten. Ihre Sicht der Vergangenheit war zudem durch einen Schleier gefiltert, der sie stark verzerrte - einen Schleier, gewebt aus Bruchstücken der hermetischen Schriften und anderer Texte, die sie glauben ließen, ihre magischen Praktiken gingen auf Piaton und noch weiter zurück. Wie sich der weltliche Humanist als Wiederbeleber der vergessenen Weisheit und der politischen Einsichten eines Cicero und eines Tacitus sah, so sah sich der Magier als Wiederbeleber der vergessenen Weisheit und der kosmischen Einsichten eines Zoroaster und eines Hermes. Der weltliche Humanist erwarb Macht und Einfluß an Höfen und bei bürgerlichen Regierungen, denen er diente, indem er Reden und Historien verfaßte. Der Magier erwarb Macht und Einfluß, indem er astrologischen Rat erteilte, zu welcher Zeit ein Fürst am besten welche Kleidung anlegte (Lionello d'Este von Ferrara stimmte seine Garderobe täglich auf die Planeten ab und wählte die Farbe seiner Kleidung nach dem Kriterium, welche an diesem Tag am besten geeignet war, den Einfluß förderlicher Planeten auf ihn herabzuziehen) oder zu welcher Zeit eine Republik ihrem Feldmarschall am besten seinen Marschallstab überreichte (die Signoria von Florenz tat alles, um eine 11
Vgl. Eliza M. Butler, The Myth of the Magus, Cambridge 1948 (Reprint 1997).
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solche Verleihung militärischer Macht in Einklang mit einer günstigen Konstellation der Sterne zu vollziehen). Beide hatten machtvolles, von altehrwürdiger Autorität geadeltes Wissen zu verkaufen - Luxusgüter für wohlunterrichtete und wohlhabende Konsumenten. Dementsprechend erfuhr der soziale Status des Magus, wie Yates argumentierte, in der Renaissance eine Aufwertung. Der Magus der Renaissance verließ die düsteren Kammern hinter den Schlafgemächern und die Palastkeller, in denen der mittelalterliche Magus seine Tränke aus dem Auge des Molchs und der Leber des gotteslästerlichen Juden gemischt hatte, und führte sein Leben im gesunden Tageslicht; er spielte auf seiner Leier orphische Musik und belehrte seine Kunden, wie man die dämonische Macht des Saturns bekämpfen kann, indem man in seiner Umgebung für günstige Farben und Düfte sorgt oder Fahrten aufs Land unternimmt, um den Frühling zu genießen. Für Yates glichen einige Magi des 15. Jahrhunderts eher modernen Psychoanalytikern, da sie, wie Ficino, ihren Patienten eine personalisierte und luxuriöse emotionale Therapie verschrieben, hinter der das Prestige einer großen kulturellen Autorität stand. 12 Vielen prominenten Magi ging es - wie Freud - um mehr als nur um individuelles Glück. Sie glaubten die Welten des Natürlichen, Sozialen und Göttlichen auf eine Weise zu verstehen, die ihnen eine einzigartige Macht verlieh. Wie Yates' Kollege D. P. Walker in seinem klassischen Werk zeigen konnte, behaupteten die Renaissance-Magi seit Ficino und Pico della Mirandola, ihre Kunst liefere den Schlüssel zum Verständnis des Kosmos als Ganzem, ohne dabei den Kanon der christlichen Theologie zu verletzen.1^ Sie beteuerten, oft recht wenig überzeugend, daß sie ihre Magie nicht mittels der den Himmel bewohnenden Dämonen bewirken würden, sondern mittels des Spiritus oder der Quintessenz, jenem nicht faßbaren, aber allgegenwärtigen Medium, das die Planeten mit der Erde verbinde und die schöpferische Kraft Gottes von einer zur anderen Welt übertrage. Wie Pico in einer denkwürdigen Passage seiner Rede De dignitate hominis unter Verwendung des klassischen Bildes vom Weinstock und der Ulme schrieb, »vermählt die Magie die Erde mit dem Himmel«. Die Magi der Renaissance entwickelten eine reichhaltige und hochgelehrte Form der Magie (das eindrucksvollste Beispiel ist das großartige Kompendium De occulta philosophia des Henricus Cornelius Agrippa, einem Zeitgenossen Fausts), die in der Praxis eine Kombination aus dämonischer und talismanischer Magie ganz traditioneller Art und neuer spiritueller Kosmologie des Neuplatonismus der Renaissance darstellte. Und als sich der Himmel über Europa 12
Vgl. dazu vor allem Frances A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964; Teil-
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Vgl. Daniel Pickering Walker, Spiritual and Demonic Magic from Ficino to Campanella, London 1958
ausgabe dt.: Frances A. Yates, Giordano Bruno in der englischen Renaissance, Berlin 1989. (Reprint Notre Dame 1975).
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im späten 16. Jahrhundert verdunkelte, als Glaubensspaltung und Religionskriege die Nationen und Familien zerrissen, predigten einige von ihnen - wie Bruno und Campanella - ihre Botschaft mit immer größerer Inbrunst. Der Renaissance-Magus war nach Yates' Auffassung der erste, der dem Menschen in der natürlichen Welt, die er seinen Bedürfnissen gemäß umgestalten könne, eine aktive Rolle zuerkannte. Damit nahm der Renaissance-Magus eine für die modernen Wissenschaften grundlegende Einstellung vorweg und kann sogar in gewissem Maße als deren Urheber gelten. Er behauptete zudem, seine Fähigkeiten offenbarten ihm eine nahe bevorstehende Veränderung der menschlichen Welt, die noch radikaler ausfallen würde als die gerade stattgefundene. Bruno und Campanella verwendeten die ihnen durch die Magie verliehenen Wahrnehmungskräfte, um die Mysterien des Christentums zu durchschauen, es als Ordnung zu entlarven, die ihr »Verfallsdatum« überschritten habe, und das Entstehen einer neuen Ordnung vorherzusagen. Bruno weissagte den Triumph der ägyptischen Weisheit über die repressive calvinistische und katholische Orthodoxie (ganz zu schweigen von der repressiven akademischen Orthodoxie jener skeptischen Professoren in Paris und Oxford, die ihn in öffentlichen Streitgesprächen gedemütigt hatten, indem sie seine Plagiate und die Unzulänglichkeit seiner Logik aufdeckten). Campanella weissagte die Errichtung eines magischen Utopia in Süditalien, das von den Verdammten der Erde bewohnt sein würde. Beides trat nicht ein. Doch Yates verfocht gegen all ihre Kritiker hartnäckig die Ansicht, ihre Hoffnungen seien von großer Bedeutung gewesen, auch wenn sie sich nicht realisiert hätten. Die Renaissance erlebte nach ihrer Auffassung den - wenn auch tragischen - Triumph eben jenes Magus, der Butler zufolge damals den sozialen und existentiellen Tiefpunkt seiner Laufbahn erreichte. Jede dieser beiden Historiographien des Magus hat große intellektuelle Tugenden aufzuweisen. Jede basiert auf großer Gelehrsamkeit. Jede läßt Quellen Gerechtigkeit widerfahren, die die andere ignoriert oder unterdrückt. Doch können nicht beide im vollen Umfange wahr sein. Und beide lassen ein breites Spektrum drängender historischer Fragen unbeantwortet. In welchem Maße überschnitten sich die Schauplätze, an denen der Renaissance-Magus tätig war, die Aktivitäten, die er betrieb, und die Dienste, die er anbot, mit denen rivalisierender beruflicher und gesellschaftlicher Gruppen? Aufgrund ihres diachronischen Forschungsansatzes stellte sich Butler diese Frage nicht. Und trotz ihres scharfen Blicks für die Parallelen zwischen dem Magus und anderen Figuren der Renaissance hat Yates die Einzigartigkeit und Neuartigkeit des sozialen Typus, den sie identifiziert zu haben glaubte, eher postuliert als bewiesen. Mit Hilfe von Untersuchungen, die den hier vorgezeichneten Linien folgen, sollte man jedoch nicht nur die sich noch immer als brauchbar erweisenden Elemente der von Butler und Yates aufgestellten gegensätzlichen Thesen ermitteln, sondern auch der Forschung einige neue Plattformen
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bieten können, die uns Zwergen die Möglichkeit eröffnen, weiter zu sehen als diese beiden Riesinnen, die sich vor uns abgemüht haben. Die öffentliche Anatomie eines einzelnen Magus - oder zumindest die Präparation des ihn betreffenden Materials - scheint mir ein der zu untersuchenden Zeit angemessenes Verfahren zu sein. Das Opfer, das ich zu sezieren gedenke, ist jener Mann, der uns bereits zu Anfang begegnete: Georg von Heidelberg, diese etwas mysteriöse Gestalt, deren gelebte Abenteuer Spies, Marlowe und Goethe zu literarischen Höhenflügen inspirierten. In den letzten beiden Jahrhunderten hat sich eine reiche Tradition ebenso gelehrter wie exzentrischer Faustforschung entwickelt. Ihre Vertreter haben jedes auch nur irgendwie relevante zeitgenössische Zeugnis zusammengetragen und ausgewertet. Palmer und More stellten vor mehr als sechzig Jahren eine Sammlung dieser Materialien zusammen, und Frank Baron unterzog vor zwanzig Jahren jeden dieser Texte einer gründlichen historischen Überprüfung. Wenn wir dieses Material inspizieren und in einen weiteren Kontext stellen, so haben wir meiner Ansicht nach gute Aussichten, unserem schwer faßbaren Opfer näher zu kommen.^ Wie Frank Baron nachgewiesen hat, wurde Faustus in einem Ort in der Nähe Heidelbergs geboren und auf den Namen Georg getauft. Als junger Mann studierte er an der Universität Heidelberg die Via antiqua (scholastische Philosophie realistischer Schule), wo er die akademischen Grade des Bakkalaureus und, drei Jahre später, des Magisters erwarb. Der Förderung Franz von Sickingens hatte er es zu verdanken, daß er eine Anstellung als Schulmeister fand, die er aber wieder verlor, als er der Sodomie mit den ihm anvertrauten Knaben beschuldigt wurde. Berichte, manche aus erster und viele aus zweiter Hand, erzählen von seiner Wanderschaft durch die Städte des Heiligen Römischen Reiches. Er zog durch die Wirtshäuser, prahlte mit seinen Fähigkeiten und gab bemerkenswerte Kostproben seiner Kunst. Einige dieser Berichte sind Bestandteil eines literarischen Textes oder eines für ein größeres Publikum gedachten Vortrags. Doch eine ganze Reihe von ihnen sind Archivdokumente. Eines dieser Dokumente zum Beispiel vermerkt, daß der Bischof von Bamberg an ihn zehn Gulden für ein Horoskop zahlte; laut einem Ratsprotokoll der Stadt Ingolstadt aus dem Jahre 1528 wurde Faust angewiesen, »dass er seinen Pfennig anderswo verzehre«; und der Stadtrat von Nürnberg verweigerte 1532 »Doctor fausto dem groszen Sodomiten und Nigromántico« einen Geleitbrief. Wie wir sehen werden, bestätigen und ergänzen diese Dokumente einander. Sie enthüllen etwas von dem Ruf, dessen sich Faust erfreute: ein Mann von schlechtem
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Vgl. Frank Baron, Doctor Faustus. From History to Legend, München 1978, sowie ders., Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, München 1982.
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Charakter, aber großer Macht, den Städte gerne ausweisen ließen, aber nicht in den Kerker zu werfen wagten (die Ingolstädter Ratsherren ließen ihn zum Beispiel geloben, »die Obrigkeit nicht zu ahnden noch zu äffen«).15 Wichtiger noch ist, daß die Berichte auch viel darüber aussagen, welche Fertigkeiten Faust zu besitzen behauptete und welchen Praktiken er sich verschrieben hatte. Der Abt Johannes Trithemius zum Beispiel - der selbst oft als klassisches Beispiel des Renaissance-Magus betrachtet wird - beschrieb in einem Brief an den Astrologen Johannes Virdung, wie es einmal beinahe zu einer Begegnung zwischen ihm und Faust kam: »Als ich letztes Jahr aus der Mark Brandenburg zurückkehrte, stieß ich in Gelnhausen zufällig auf eben diesen Mann. Man erzählte mir dort im Wirtshaus viel törichtes Zeug über ihn - Dinge, die er mit großer Unbesonnenheit angekündigt hatte. Als er hörte, ich sei in der Stadt, machte er sich sogleich aus dem Wirtshaus davon und war nicht zu bewegen, mir gegenüberzutreten.«16 Wie Albrecht Dürer, der auf seinen Reisen von Schenke zu Schenke zog und seine Drucke als Geschenke oder für Geld unter die Leute brachte, so verbrachte auch Faust einen großen Teil seines Lebens auf dem Marktplatz und bot seinen Kunden seine Dienste an, oft unter großartigen Versprechungen. »Er zog durch das ganze Land«, erzählte Melanchthon seinen Studenten, »und erzählte von vielen Geheimnissen.«1? Trithemius berichtete auch Genaueres über Fausts Taten beziehungsweise darüber, was Faust tun zu können behauptete: »Der Mann, über den Du mir geschrieben hast, jener Georgius Sabellicus, der sich erdreistet hat, sich den Fürsten der Nekromanten zu nennen, ist ein Vagabund, ein Phrasendrescher und ein Schelm, der Prügel verdient, damit er es hinfort nicht mehr unbesonnen wagt, in aller Öffentlichkeit solch abscheuliche und gegen die Heilige Kirche gerichtete Dinge zu verkünden. Denn was sind die Titel, die sich dieser Mann anmaßt, der sich nicht als Philosoph, sondern als Narr erweist, anderes als Zeichen eines äußerst törichten und kranken Geistes? Denn er hat sich folgenden, ihm angeblich zukommenden Titel zugelegt: Magister Georgius Sabellicus, Faustus Junior, Quelle der Nekromanten, Astrolog, der zweite Magus, Chiromant, Agromant, Pyromant und der Zweite in der Kunst der Weissagung aus Wasser.«18 Für seine Zeitgenossen hatte die Liste der Titel, die Faust beanspruchte, eine präzisere Bedeutung als für uns. Damit behauptete Faust vor allem zwei Fähigkeiten zu besitzen: Einerseits gab er sich als Quelle magischer Praktiken aus, als Zauberer der Zauberer, der - vermutlich mit Hilfe von Engeln oder Dämonen - in der Lage sei, 15
P. M. Palmer u. R. P. More, Sources ofthe Faust Tradition, S. 90.
16
Ebd., S. 84.
v
Ebd., S. 101.
18
Ebd., S. 83 f.
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Zauber zu wirken, die die Ordnung der Natur durchbrechen. Andererseits (und weit ausgiebiger) prahlte er damit, eine ganze Reihe von Künsten zu beherrschen, mittels derer er die Zukunft voraussagen könne. Als Wahrsager deutete er nicht nur die in den Sternen geschriebenen kosmischen Botschaften, sondern auch die in die Handflächen der Menschen geschriebenen individuellen Schicksale, und er las aus Erde, Feuer und Wasser die darin verzeichneten Gefahren und Verheißungen. Zeitgenössische und beinahe zeitgenössische Berichte bestätigen, daß Fausts Aktivitäten in diese beiden Kategorien fielen. Sicherlich hielten ihn seine Zeitgenossen für einen fähigen Magier. Joachim Camerarius - selbst ein gelehrter Astrologe beschrieb Faust als jemanden, der zu »praestigia« greife, zu Taschenspielertricks und betrügerischem Blendwerk, um sein Publikum »mit dem Wind eitelsten Aberglaubens« aufzublähen. 19 Martin Luther erzählte seinen Studenten, daß Faust den Teufel seinen »schwoger« nenne. 20 Andere Quellen berichten, seine Reisegefährten seien ein Hund und ein Pferd gewesen, und er habe einen jämmerlichen Tod erlitten, denn der Teufel habe ihn erwürgt. Sein Körper habe sich auf der Totenbahre immer wieder mit dem Gesicht nach unten gedreht, obwohl er fünfmal wieder auf den Rücken gelegt worden sei. Einem anderen Bericht zufolge fand man ihn eines Morgens tot auf, »das Gesicht auf den Rücken gedreht«. 21 Beide Formen der Nekrogymnastik - wie auch die Tiere, mit denen er reiste - galten als Beweis, daß seine Magie eine teuflische war. Über das Ausmaß von Fausts Macht gingen die Meinungen auseinander, und manchmal sprach sogar dieselbe Person von ihr auf völlig unterschiedliche Weise. Melanchthon zum Beispiel berichtete, Faust habe wie Simon Magus zu fliegen versucht, doch es sei ihm wie Simon mißlungen, und er habe einen bösen Sturz getan. Dieser Kommentar deutet darauf hin, daß der Gottesmann Melanchthon für den Gefolgsmann des Teufels nichts als Verachtung übrig hatte. Mit anderen Worten, die Nekromantie konnte mit billigem Schwindel verbunden sein. Johannes Wier zufolge rächte sich Faust an einem Gastgeber, dem der Wein ausgegangen war, indem er ihm eine Wundersalbe gab, die seinen Bart ohne Zuhilfenahme eines Rasiermesser entfernen sollte. Die Salbe war arsenhaltig und entfernte nicht bloß die Haare, »sondern verbrannte auch die Haut und das Fleisch«, wie das Opfer selbst Wier aufgebracht erzählte. 22 Aber Fausts Magie konnte anscheinend auch bewirken, daß echt teuflische Mächte eingriffen. Um die Brüder eines reichen Klosters in Lüxheim in den Voge-
Ebd., S. 92. 20
Ebd., S. 93.
21
Ebd., S. 98 u. 102.
22
Ebd., S. 106.
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sen zu plagen, die ihm die Gastfreundschaft verweigerten, schickte Faust den Mönchen einen bösen Geist, den sie erst nach Jahren loswerden konnten. 23 Besonders beeindruckend waren offenbar die Überredungskünste Fausts - wie die vielen Zeitgenossen bezeugen, die sich beklagten, daß er ihnen ihr Geld abgenommen und sie dann im Stich gelassen hatte. Andere schrieben ihm jedoch beträchtlich größere Fähigkeiten zu: Sein Pferd habe ihn mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft tragen können. Und einmal habe er teuflische Diener herbeigerufen, die seinen Gästen ein mirakulöses Festmahl von sechsunddreißig Gängen auftischten, während Faust selbst ihre Pokale mit jedem Getränk füllte, das sie sich wünschten, indem er die Trinkgefäße einfach aus dem Fenster hielt. Einer der Diener machte Musik, »so wunderlich, wie wenn ihr etliche auff positiven, querchpfeiffen, zincken, lauten, harfen, posaunen etc. zusammen stimmeten«. 24 Selbst Wier gab, sich selbst widersprechend, zu, daß es nichts gebe, was Faust mit seinen leeren Prahlereien und seinen Versprechungen nicht tun könne. 25 Manche versuchten Fausts Fähigkeiten zu erklären, indem sie sagten, er habe sie gelernt, wie man eine der freien Künste oder Theologie lernt, durch schulmäßiges, methodisches Studium. Melanchthon zum Beispiel erinnerte sich, Faust habe die Magie als Student in Krakau erlernt, »da man dort diese Kunst viel praktizierte und sogar öffentliche Vorlesungen darüber hielt«. 26 Doch selbst im fernen Krakau war Magie kein normaler Bestandteil des Universitätslehrplans. Aber Fausts andere Künste - die der Weissagung - zählten im 16. Jahrhundert ebenso zu den Standardwissenschaften der Universitäten, wie heute die Wirtschaftswissenschaften und die Demographie, ihre modernen Gegenstücke, zu den Standardwissenschaften gehören. Nicht nur in Krakau, sondern auch im katholischen, aristotelischen Padua und im protestantischen, antiaristotelischen Wittenberg boten medizinische Schulen und Fakultäten der Künste ins Detail gehende Vorlesungen über Theorie und Praxis der Astrologie an. Jeder Arzt mußte auf diesem Gebiet zumindest theoretisch beschlagen sein, um zu wissen, wann es ungefährlich war, ein bestimmtes medizinisches Kraut zu verschreiben oder zu sammeln oder an einem bestimmten Teil des Körpers einen Einschnitt vorzunehmen. Auch die meisten Naturphilosophen studierten dieses Fachgebiet. Im Jahr 1528 erzählte Faust dem Rebdorfer Prior Kilian Leib, der sich sehr für das Wettervorhersagen interessierte, »daß Propheten geboren werden, wenn die Sonne
2
3
Ebd., S. 9 6 - 9 8 u. 1 0 4 f .
2
4
Ebd., S. 115.
2
?
26
Ebd., S. 105. Ebd., S. 101; vgl. S. 105.
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und Jupiter im selben Grad stehen«.27 Die Produktion astrologischer Aphorismen dieser Art (von denen Hunderte nötig waren, um die Horoskope einzelner Personen zu interpretieren) war eine Standardbeschäftigung der Astrologen. Astrologen wie Faust nutzten regelmäßig auch noch eine ganze Reihe anderer Künste, von der Chiromantie bis zur Geomantie, um die Resultate ihrer Interpretation des Sternenhimmels zu ergänzen. Caspar Peucer, der in Wittenberg Astronomie lehrte und maßgebende Handbücher über das Thema verfaßte, war der Ansicht, daß sowohl die regelmäßigen, einem bestimmten Muster folgenden Bewegungen der Sterne wie auch solche irregulären, wunderbaren Ereignisse wie die Geburt eines mißgebildeten Kalbes oder das Erscheinen eines Kometen als Ankündigungen bestimmter zukünftiger Ereignisse gesehen werden könnten und sollten. 28 Fausts Vorhersagen genügten - ähnlich wie die von Nostradamus, dem berühmtesten Astrologen des 16. Jahrhunderts - allerdings nicht immer den höchsten technischen Maßstäben. Im Jahre 1534 überprüfte der Humanist Nicolaus Eilenbog im Auftrag des Rechtsgelehrten Petrus Seuter ein Horoskop, das dieser als Werk von »Meister Georg Helmstetter« beschrieb, der es »auf der Grundlage seines astrologischen, physiognomischen und chiromantischen Urteils« erstellt habe. Eilenbog stellte fest, daß es dem Astrologen nicht gelungen war, die Grade des Tierkreises anzugeben, bei denen die zwölf Zeichen des betreffenden Horoskops begannen und endeten, »was hier absolut nötig gewesen wäre«, oder die Planeten »mit ihren Zeichen und Graden« zu bestimmen. Obwohl Ellenbog sich mit einem Urteil über Faust zurückhielt, gestattete er sich doch einen ziemlich kaustischen und sogar abfälligen Kommentar: »Ich schicke Ihnen Ihr Horoskop zurück«, schrieb er an Seuter, »denn ich konnte es nicht in seiner Gesamtheit verstehen, geschweige denn interpretieren, da ich der Chiromantie unkundig bin«. 2 ? Dennoch erfreute sich Faust - wie Nostradamus - in vielen Gegenden als Wahrsager eines soliden Rufs. Für seine Horoskope nahm er, wie wir gesehen haben, stattliche Honorare. Im Jahre 1535 hielt er sich in der letzten Phase der von Jan van Leyden angeführten Sozialrevolution der Wiedertäufer, die das Königreich Gottes ausgerufen hatte, vor Münster auf und sagte voraus, daß der Bischof zu einem bestimmten Zeitpunkt die Stadt erobern würde, die dann tatsächlich in der angekündigten Nacht fiel.30 Noch beeindruckender ist, daß er Philipp von Hutten,
2
7 Ebd., S. 89.
28
Vgl. Kaspar Peucer, Commentarius de praecipuis divinationum
generibus, Wittenberg 1553.
Vgl. Frank Baron, »Who was the Historical Faustus? Interpreting an Overlooked Source«, in: Daphnis 18 (1989), S. 297-302, hier S. 301. Zu Nostradamus und seinen ähnlichen Problemen vgl. Pierre Brind'Amour, Nostradamus astrophile, Ottawa, Paris 1993. 30
P. M. Palmer u. R. P. More, Sources of the Faust Tradition, S. 91.
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dem Führer der Expedition der Welser nach Venezuela, vorhersagte, 1539 werde »ein fast böszes Jahr« - eine Weissagung, deren Zutreffen Philipp später in einem Brief an seinen Bruder bestätigte, denn in diesem Jahr war eine ganze Reihe von spanischen Expeditionen kläglich gescheitert. Auch er selbst sollte dort nur wenige Jahre später zugrunde gehen, so erfolglos wie die anderen. 31 Astrologen fertigten damals regelmäßig Vorhersagen für Kunden an, die riskante Unternehmungen planten (wie das Belagern einer Stadt oder das Eingehen eines kaufmännischen Wagnisses). So mächtige und hochgebildete Patrizier wie Konrad Peutinger und Willibald Pirckheimer lasen diese Texte mit großer Sorgfalt, versahen sie mit Anmerkungen, stellten den Autoren detaillierte Fragen und ließen sich bei ihren Unternehmungen von diesen Prognosen leiten. Melanchthon hatte ein leidenschaftliches Interesse an ihnen. Er schrieb selbst apokalyptische Pamphlete für ein breites Publikum und begünstigte sogar, wie Aby Warburg vor langer Zeit zeigte, die öffentliche Verbreitung der Behauptung, Luther sei nicht 1483, sondern 1484 geboren worden, dem Jahr, in dem eine große Konjunktion von Saturn und Jupiter stattgefunden hatte - eine übrigens auch von dem italienischen Astrologen Luca Gaurico, einem eingeschworenen Feind der Reformation, verfochtene Idee. 32 Melanchthons Vorhersagen betrafen wie die Vorhersagen Fausts das ganze Spektrum vom Erhabenen bis zum Prosaischen, von seinen Bemühungen, den Lauf und das Ende der Weltgeschichte als Ganzes zu bestimmen, bis zu seinen Anstrengungen, aus den Horoskopen seiner Kinder Einzelheiten über ihre Gesundheit herauszulesen. Fausts Vorhersagen bewegten sich also, kurz gesagt, sowohl hinsichtlich der Thematik als auch hinsichtlich der Methodik im normalen Bereich. Auch die Aufnahme, die sie fanden, entsprach durchaus dem Üblichen. Nicht nur Abenteurer wie von Sickingen und von Hutten, auch bedeutende Kleriker wie Georg Schenk, der Bischof von Bamberg, glaubten, Faust könne aus den Sternen die Zukunft deuten. Andere waren entschieden anderer Meinung. Der Humanist Conrad Mutianus Rufus zum Beispiel hörte ihn »in einer Schenke daherschwätzen« und erklärte: »Seine Behauptungen sind eitel, wie die Behauptungen aller Wahrsager, und seine Physiognomie hat nicht mehr Gewicht als eine Wasserspinne.« 33 Doch es war ganz normal, daß sich die Astrologen und die Astrologie mit einer komplexen Mischung aus Leichtgläubigkeit und Skepsis konfrontiert sahen. In Wittenberg, im
31
Ebd., S. 95 f.
32
Vgl. Aby Warburg, »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten«, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische
Klasse 1919, Nr. 26;
vgl. Reinhart Staats, »Luthers Geburtsjahr 1484 und das Geburtsjahr der evangelischen Kirche 1519«, in: Bibliothek und Wissenschaft 18 (1984), S. 61-84. 33 P. M. Palmer u. R. P. More, Sources of the Faust Tradition, S. 87 f.
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Schatten der mächtigen Residenz des Kurfürsten, wurden die Studenten der Künste von Melanchthon selbst in Astrologie unterrichtet. Luther hingegen verhöhnte die Astrologen, die für 1524 fälschlicherweise eine Hochwasserkatastrophe prophezeit, aber den Bauernaufstand von 1525 vorherzusagen versäumt hatten, bei dem sich Hunderttausende deutscher Bauern gegen ihre Herren erhoben. Beide Männer indes beobachteten die Kometen, die sie für Wunder innerhalb der Atmosphäre hielten, mit prüfendem und ängstlichem Blick. 34 Was also war Faust? Spielte diese Schwellenfigur mit ihren unterschiedlichsten Interessen und ihrer offenbar ebenso vielfältigen Reputation, ihrem düsteren und schwankenden Status, eine historisch besondere und identifizierbare soziale und kulturelle Rolle? Das Material zeigt, daß Faust zumindest drei verschiedene Rollen spielte - miteinander verwandte, aber nicht identische Rollen, von denen jede mit anderen sozialen und kulturellen Identitäten verbunden war, zwischen denen die Historiker bisher noch keinen sehr engen Zusammenhang gesehen haben. Soziale Rollen beginnen mit individuellen Ansprüchen, und das Verständnis individueller Ansprüche beginnt damit, das Vokabular der Zeit zu verstehen. Bislang habe ich den Begriff >Magus< in einem so weiten Sinne verwendet, wie er in der modernen Geschichtsschreibung üblich ist: als ein nicht fest umrissenes Synonym für >gelehrter Naturmagier< oder dergleichen. Aber was meinte Faust, wenn er sich selbst zum Beispiel einen »magus secundus« nannte? Die Quellen lassen stark darauf schließen, daß er sich zumindest in technischer, wenn nicht gar in genealogischer Hinsicht als direkter Nachfahre der alten Magi begriff. Die Vorstellung von den Weisen aus dem Morgenland war ein fester Bestandteil der Renaissancekultur. In den Evangelien war beschrieben, wie sie, von einem Stern geführt, kamen, um das Jesuskind zu besuchen und ihm Geschenke zu bringen. Tausende von Gemälden der Anbetung und Dutzende von Dreikönigsprozessionen, angeführt von Bruderschaften der Magi (wie etwa in Florenz), hatten der europäischen Vorstellungswelt ihre Namen, ihr Aussehen und ihre magischen Kräfte eingeprägt. Die neu entdeckten griechischen Werke von Herodot, Diodorus Siculus und anderen hatten ihnen einen historischen Ort und eine historische Identität verliehen und sie als Anhänger Zoroasters identifiziert, jene priesterlichen Magier, die mit den persischen Armeen
34
Vgl. z. B. Robin B. Barnes, Prophecy and Gnosis, Stanford 1988; Sachiko Kusukawa, The Transformation of Natural Philosophy. The Case of Philip Melanchthon, Cambridge 1995; Paolo Zambelli, »Astrologi consiglieri del principe a Wittenberg«, in: Annali dell'Istituto Storico Italo-Germanico
in Trento 18
(1992), S. 497-543; ders., »Der Himmel über Wittenberg. Luther, Melanchthon und andere Beobachter von Kometen«, in: ebd., 20 (1994), S. 39-62.
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der Antike marschiert waren. Aus ihrer alten Weisheit hatte Piaton die zentralen Lehrsätze seiner Philosophie gewonnen.^ Für Marsilio Ficino - dessen Werk De vita im 16. und 17. Jahrhundert eines der verbreitetsten und am häufigsten nachgedruckten und plagiierten Handbücher der Magie war - waren die durch die Bibel bezeugten Magi nicht nur von überragender Bedeutung für die von ihm selbst geübten Künste der Naturmagie und Astrologie, sondern sie galten ihm auch als zentrale Figuren der Geschichte der menschlichen Kultur überhaupt. Bei seiner Verteidigung gegen den Vorwurf, ein Christ sollte mit solchen Praktiken nichts zu schaffen haben, zitierte er die biblischen Magi als Zeugen zu seinen Gunsten: Waren diese heidnischen Magier, fragte er, nicht die ersten, die Jesus erkannten und anbeteten?36 In seiner leidenschaftlichen Predigt Über den Stern der Magi erklärte er genau, wie Magi und Magie, Christentum und Astrologie zusammenkamen. Jene drei als die Weisen aus dem Morgenland bekannten Magi hatten, so erzählte Ficino den Florentinern, »aus den Gesetzen der Astrologie und bestimmten, mit diesen Gesetzen übereinstimmenden Wundern damals den Schluß gezogen, nun werde der König geboren, der die Welt durch seine wunderbare Macht zum Bessern wenden würde. Denn wenn sie einen Kometen als günstig und heilbringend beurteilen, dann erkennen sie, daß ihm die Natur von Sonne, Jupiter und Venus eignet.« 37 Die Magi ersahen aus der reinen, hellen Farbe des Kometen, daß er kein ungünstiges saturnisches oder marsianisches, sondern ein äußerst vielversprechendes Vorzeichen war, das die drei günstigen, heilbringenden Planeten in sich vereinte. Die drei Planeten standen, wie der Komet selbst, im Zeichen des Sagittarius oder Schützen. Die Magi folgten dem Kometen zu dem neugeborenen König und boten ihm Geschenke dar, die nach astrologischen Prinzipien ausgewählt waren: Gold, das die lebensspendende Kraft der Sonne repräsentierte; Weihrauch, der die gratia der Venus repräsentierte; und Myrrhe, die die Macht Jupiters repräsentierte, aller Verderbnis zu widerstehen. 38 Die Magi praktizierten, kurz gesagt, genau jene Art von astrologischer Magie, die Ficino selbst seinen Kunden offerierte; zwischen dem modernen Magus und jenen alten Magi bestand eine vollkommene Identität. Im
35 Für eine allgemeine Darstellung vgl. Rab Hatfield, »The Compagnia de'Magi«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 33 (1970), S. 107-161; sowie Richard C. Trexler, The Journey ofthe
Magi,
Princeton 1997, Kap. 3. Zur Bedeutung und Entwicklung der griechischen bzw. lateinischen Begriffe magos und magus sowie der mit ihnen verbundenen Tätigkeiten vgl. Fritz Graf, Gottesnähe Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996. 36 Vgl. Marsilio Ficino, Opera omnia, Basel 1576, S. 572 f. 37 Ebd., S. 489. 38
Ebd., S. 490.
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und
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Europa der Renaissance - wo sich mächtige Individuen, wie die Kinder des Cosimo de'Medici, regelmäßig als die Magi kostümierten und deren Mission öffentlich neu inszenierten - war das Einschlagen der Laufbahn eines Magus gleichbedeutend mit der Übernahme einer bekannten Rolle im geheiligten christlichen Drama. Von all den prisci theologi, die die Renaissancephilosophen so eifrig auflisteten und diskutierten, waren die Magi vielleicht diejenigen, von denen man sich das lebendigste Bild machen konnte. 39 Gewiß machen einige der magischen Aktivitäten Fausts nicht den Eindruck, als hätten sich auch schon die Magi mit ihnen abgegeben. Aber auch einige der Aktivitäten Ficinos können kaum als charakteristisch für die biblischen Magi gelten. Moderne Historiker haben der orphischen Musik und der introspektiven, emotional scharfsichtigen Studie über Melancholie viel Aufmerksamkeit gewidmet, auf deren Grundlage Ficino reiche und entsprechend veranlagte Freunde wie Lorenzo de'Medici zu behandeln suchte. Im Gegensatz dazu wußten sie nur wenig über seine Empfehlung zu sagen, alternde Gelehrte sollten sich verjüngen, indem sie die Milch eines bereitwilligen jungen Mädchens oder das Blut eines bereitwilligen jungen Mannes trinken (nach meinen Beobachtungen haben zeitgenössische Leser von Ficinos De vita diese Empfehlungen auf den Rändern ihrer Kopien des Buches mindestens mit ebenso vielen Zeichen des Interesses und der Zustimmung kommentiert und ausführlich zusammengefaßt wie seine Verweise auf Zoroaster und die alten Magi). 40 Gravierte Talismane, von denen Ficino offenbar glaubte, sie könnten die Macht der Planeten herabziehen, waren von jüdischen wie christlichen Magiern des Mittelalters schon immer hergestellt worden. Indem Ficino diese magischen Zeichen mit der Tradition der drei Magi verknüpfte, gab er ihnen eine neue, glorreiche Abstammung, doch ihre Verwendungsweise erfuhr durch ihn wohl kaum eine radikale Veränderung. Faustus begriff sich selbst, so meine ich, zumindest zeitweise als eine Reinkarnation der biblischen Magi. Und er war keineswegs der erste, der in der Reichweite der von ihm praktizierten Künste einen Beweis für seine hohe intellektuelle und spirituelle Abkunft erblickte. Der Magus legte sich, kurz gesagt, in der Renaissance schon früh sowohl eine religiöse als auch eine magische Identität zu, doch war damit keineswegs zwangsläufig ein Eintreten für Reformprogramme verbunden, wie sie später Bruno und Campanella aufstellten.
39 Vgl. den überzeugend argumentierenden Aufsatz von Stephen M. Buhler, »Marsilio Ficino's De Stella magorum and Renaissance Views of the Magi«, in: Renaissance Quarterly 43 (1990), S. 348-371. Zur betreffenden Textstelle vgl. Marsilio Ficino, Three Books on Life, hg. u. übers, von Carol V. Kaske und John R. Clark, Binghamton 1989, II, 11, S. 196-199.
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Eine soziale Identität legt man sich nicht nur selbst zu, sondern sie wird einem auch zugeschrieben: Ein Professor zum Beispiel ist nicht nur der unabhängige, skrupulöse, gelehrte Intellektuelle, als der er sich selbst sieht, sondern auch der parasitäre, müßige, unrealistische Intellektuelle, als den ihn nicht nur viele seiner Studenten sehen, sondern auch die meisten Menschen, die außerhalb der Universität leben. Magi stehen in einem langen Interaktionsprozeß mit ihrem Publikum und ihren Kunden. Wenn sie erfolgreich sind, dann teilen sie mit ihrem Publikum einen aus der Zusammenarbeit entstandenen Bewußtseinszustand, in dem die Magie, wie Ariel Glucklich in seiner faszinierenden Untersuchung über Magie im heutigen Indien gezeigt hat, ganz eindeutig funktioniert. 41 Ihre Identität wird im Verlauf dieser Zusammenarbeit durch jene Menschen geschaffen, die ihre Autorität akzeptieren. Aber diese Identität kann überraschend komplexer Natur sein. Betrachten wir zum Beispiel Melanchthons äußerst aufschlußreiche Äußerung über die von Faust praktizierte Magie: »Der Teufel ist ein wunderbarer Handwerker [mirabilis artifex], denn durch eine gewisse Kunst kann er Dinge erreichen, die natürlich sind und von denen wir nichts wissen. Denn er kann mehr, denn die Menschen können.« 4 2 Melanchthon beschreibt in dieser Textpassage den Magier als jemanden, der nicht von Gott, sondern vom Teufel Hilfe und Inspiration erhält. Die Kunst des Teufels beschreibt er darüber hinaus als die Kunst eines äußerst erfindungsreichen Handwerkers, dessen Fähigkeiten durch das Werk von Männern wie Faust am deutlichsten bewiesen würden. Dieser Kommentar deutet ebenso wie einige andere darauf hin, daß Faust für seine Zeitgenossen zwei eng verwandte Rollen ausfüllte - und vielleicht auch darauf, daß dieser Eindruck bei ihnen nicht zuletzt aufgrund der von Faust selbst gegebenen deutlichen Hinweise entstand. Die regelmäßigen Reaktionen der Zeitgenossen auf Faust als einem »Nekromanten« machen in ihrer eindeutigen Kombination aus Respekt vor seiner Macht und Entsetzen vor seinem Gebrauch dieser Macht folgendes deutlich: Wenn Faust sich als modernes Gegenstück zu jenen Magi begriff, die Jesus ihre Aufwartung machten, so haben andere ihn oft als modernes Gegenstück zu Simon Magus begriffen, der die Macht Jesu kaufen wollte - und ihn zugleich zu sehr fürchtete, um ihm den Prozeß zu machen. Ficino und andere Autoren der Zeit verwendeten das Wort magus nicht nur in jener bereits erörterten höheren Bedeutung, sondern auch in diesem zweiten, pejorativen Sinne. Zwar hat Faust von sich nicht offen behauptet, er sei sowohl jene als auch diese Art von 41 42
Vgl. Ariel Glucklich, The End of Magic, Oxford, New York 1997. P. M. Palmer u. R. P. More, Sources of the Faust Tradition, S. 99: »Diabolus est mirabilis artifex; potest enim aliqua arte efficere, quae sunt naturalia, quae nos non scimus. Denn er kan mehr, den die menschen können«.
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Magus und praktiziere sowohl göttliche als auch teuflische Künste, doch ich vermute, daß er es sehr wohl angedeutet und zu erkennen gegeben hat. Melanchthon betont in seiner zitierten Äußerung jedoch nicht nur den teuflischen Ursprung von Fausts Wissen, sondern auch den natürlichen Charakter der »Kunst«, mit deren Hilfe der Teufel Dinge und Menschen manipuliert. Melanchthon nennt Fausts Lehrmeister, den Teufel, einen »wunderbaren Handwerker« und weist damit noch auf eine andere Rolle hin, die Faust für einige Zeitgenossen erfüllte. Seit dem 12. Jahrhundert hatten Scharen von anonymen Handwerkern und Baumeistern die europäische Welt dadurch in Erstaunen versetzt, daß sie steinerne Brücken über Flüsse schlugen, für Burgen und Kirchen hohe Türme erbauten und mit Hilfe von Mühlen die Kräfte des Windes und des Wassers nutzten. Ermutigt durch diese Erfolge versprach Roger Bacon, daß ein genaues Studium der Natur noch größere Wunder zeitigen würde, wie riesige Brennspiegel, sich ohne Zugtiere oder Segel fortbewegende Fahrzeuge und ähnliches mehr. Im späten 14. Jahrhundert hatte sich in Italien wie auch in weiten Teilen des Heiligen Römischen Reiches eine neue soziale Schicht innovativer Handwerker, Ingenieure und Baumeister herausgebildet. Die Angehörigen dieses neuen Standes beherrschten für gewöhnlich ein weites Spektrum technischen Könnens. Filippo Brunelleschi und Leon Battista Alberti, um nur zwei berühmte Beispiele zu nennen, entwarfen und schufen illusionistische Gemälde, errichteten neuartige Bauwerke und erfanden neue Militärtechniken - eine Kombination von Fertigkeiten und Interessen, deren Kenntnis durch Fausts Zeitgenossen Dürer und andere in den Norden gelangte. Wie die Magier der Renaissance, so übten auch die Techniker und Ingenieure dieser Epoche ihre Kunst öffentlich aus. Und wie die Magier, so fanden sich auch die Ingenieure häufig harscher Kritik ausgesetzt. Brunelleschi äußerte sich verbittert gegenüber seinem jüngeren Kollegen Taccola: »Laß nicht viele an deinen Erfindungen teilhaben, sondern nur die wenigen, die die Wissenschaften verstehen und lieben.« Manche würden das Werk des Erfinders kritisieren - nur um es einige Monate oder ein Jahr später zu stehlen. Andere, dümmere, fänden diese neuen Erfindungen bloß lächerlich und würden zum Ingenieur sagen: »Tu mir den Gefallen und laß mich mit diesem Zeug in Ruhe.« Wie der Magus, so war auch der Ingenieur eine Gestalt, die große Macht besaß und häufig im Zentrum erbitterter Kontroversen stand. 43 Doch Brunelleschi nutzte jede Gelegenheit, um seine Kunstfertigkeit genau auf die Weise öffentlich zu demonstrieren, vor der er seinen jüngeren Kollegen gewarnt 43
Vgl. Lynn White, »Medieval Astrologers and Late Médiéval Technology«, in: Viator 6 (1975), S. 295308; Hélène Vérin, La gloire des ingénieurs, Paris 1993; Paolo Galluzzi, Mechanical Marvels, Florenz 1997-
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hatte. Er entwarf immer wieder Bühnenmaschinerien, die bei Festzügen wie dem der florentinischen Bruderschaft der Magi verblüffende Effekte erzielten. Er wurde wegen der Maschinerie, mit der er am Himmelfahrtstage einen jungen Jesusdarsteller auf das Dach der Kirche von S. Maria del Carmine beförderte, fast ebenso berühmt wie wegen der Gerüstbauten, mit deren Hilfe er die Kuppel des Domes in Florenz errichtete. Und er demonstrierte seine Entdeckungen über die Perspektive anhand von sorgfältig ausgeführten Gemälden, die er gerade auf jenen Plätzen der Stadt allen Vorbeikommenden zeigte, die auf den Bildern dargestellt waren. All diese Zurschaustellungen von Kunstfertigkeiten richteten sich gleichzeitig an zwei verschiedene Publikumsgruppen: an die kleinere Gemeinschaft der Sachkundigen, die ihre Feinheiten zu würdigen vermochten, und an den größeren Kreis der Bürger, die durch ihre Eleganz zumindest in Erstaunen zu versetzen waren. Der manchmal den Nobilitätsstatus der italienischen Künstler für sich reklamierende Dürer wurde häufig dafür gelobt, deren wunderbare Fertigkeiten zu besitzen - zum Beispiel von Erasmus, der in einer berühmten, von Erwin Panofsky brillant analysierten Textpassage schrieb, Dürer könne abbilden, was eigentlich nicht abzubilden sei, und selbst »Wolken auf einer Wand« bloß mittels schwarzer Linien darstellen. 44 Wie Carlo Ginzburg uns kürzlich in seiner brillanten Studie über Jean Fouquet erinnert hat, galt dem Renaissancekünstler die Malerei gegenüber dem Erfinden von Kriegsfahrzeugen, die sich selbst fortbewegten, oder dem Herstellen von Kanonen, die nicht zerplatzten, nicht unbedingt als höhere oder wichtigere Kunstfertigkeit.45 Leonardo führte die Malerei bekanntlich auf der Liste der Dienste, die er Ludovico Sforza anbot, als letzte seiner Fähigkeiten an, hinter seinen großartigen Leistungen auf allen Gebieten der Militärtechnik. Der Renaissancekünstler war, kurz gesagt, kein Spezialist, der eine einzige Kunstfertigkeit beherrschte, sondern ein Lieferant von Wundern aller Art, der die Öffentlichkeit verblüffte und in Erstaunen versetzte. Auch Faust war ein Meister in vielen Fertigkeiten, die er alle öffentlich vorzuführen liebte - bei Auftritten, die er, wie wir an einem Beispiel gleich sehen werden, mit enormer Virtuosität inszenierte. Melanchthons Kommentar rechtfertigt also die These, daß Fausts Gewerbe in der Skala der im 16. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich üblichen Berufe eine sehr labile Position besaß - eine Position, die zu der Stellung eines Künstlers wie
44
Vgl. Erwin Panofsky, »>Nebulae in parieteThe Ladies from Outside < ./mi is i
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Quirinus Kuhlmann (1651-1689)
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ERLÖSUNG DURCH PHILOLOGIE
Taubmannus, Grotius, Opitz, Barthius, Iscanus 66 , Gryphius, Muretus, Erasmus!« Die zweite Serie, wie jede durch ein Rufzeichen gekennzeichnet, zeigt Kuhlmann als den Königspropheten, beginnend mit Henoch, der die biblische Weisheit verkörpert, und endend mit dem letzten Propheten des Alten Testaments, Johannes dem Täufer. »Henoch, Josophus, Davides, Josua, Moses, Elias, Daniel, Salomon, Elisa, Johannes!« Die dritte Gruppe ist die der heilsgeschichtlichen Könige, die himmlische Macht und politische Theologie in der Weltgeschichte repräsentieren. Kuhlmanns Gewand zeigt sein Königtum, er trägt eine purpurne »vestis regia«. 67 In der Subskription erscheinen fünf Könige - wohl auch ein Hinweis auf die Fünfte Monarchie: »Cyrus, Alexander, Constantin, Karl, Fridericus!« Die Reihe beginnt mit Cyrus, dem Begründer des Persischen Reiches, der Israel von Babylon nach Jerusalem gehen hieß 68 , er wird gefolgt von Alexander dem Großen und dem Römer Konstantin, dem ersten christlichen Kaiser. Karl - die deutsche Version des Namens - meint wohl Karl den Großen und kann interpretiert werden als die besondere Aufgabe des Deutschen Reiches im Verlauf der Weltgeschichte. Diese ist eine Veränderung der traditionellen Interpretation von Daniels vier Reichen. Nach Hieronymus wurden die vier Apokalyptischen Tiere als das Assyrische, Persische, Griechische und Römische Reich interpretiert, und die Kontinuität von römischem und deutschem Reich war Teil der Selbstinterpretation des italienisch-deutschen Heiligen Römischen Reichs im Mittelalter. Dem sei, wie ihm wolle. »Friedrich« meint jedenfalls den »Winterkönig« von Böhmen, der 1621 auf dem Weißen Berge bei Prag besiegt wurde, derjenige, dem geweissagt worden war, er werde den endgültigen Sieg des Protestantismus in Böhmen erringen. Friedrich ist der wahre Erbe Karls des Großen, und der wahre, endgültige Friedrich wird der König der Fünften Monarchie sein, nämlich Kuhlmann. Genau dieses ist die Klimax der bemerkenswerten Steigerung in der vierten Serie der Subskription. Hier zeigt sich Kuhlmanns millenaristischer Auftrag: »Liliger, Juvenis, Artista, Sophata!« »Liliger« ist der Träger von Böhmes Reich der Rosen und der Lilien. Als Symbol dieses königlichen und prophetischen Amts trägt Kuhlmann die Brosche mit den drei Kronen des ewigen, trinitarischen Reiches und das Tripel66
Iscanus, Joseph von Exeter (vor 1 1 8 0 - 1 2 1 0 ) , ein mittelalterlicher Dichter. Sein De hello Troiano wurde zuerst in Basel 1558 als Darete Phrygii de hello Troiano, libri 6 a Cornelio nepote in Latinum
conversi
und erneut 1583 zusammen mit der Ilias in Folio gedruckt. Weitere Auflagen: Antwerpen 1608 und Mailand 1669. Unter dem richtigen Autornamen wurde es von Samuel Dresenius, Frankfurt 1620 und 1623 veröffentlicht, von J. More London 1675, mit Dyctus Cretensis und Dares Phrygius in usum Delphini, Amsterdam 1702 und London 1825. 67
Vgl. E. Sackur, Sibyllinische Texte und Forschungen, S. 168.
68
Jesaja 41, 2: Der Gerechte aus dem Osten.
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kreuz von Henochs biblischer Weisheit. »Iuvenis« weist auf den jugendlichen König, der seit dem jüdischen Aufstand gegen die Römer erwartet wurde und der erneut von der Sibylla Tiburtina geweissagt wurde. 69 Das Portrait selbst zeigt das leuchtende Angesicht. »Frigerans« ist der biblische Hinweis auf Kuhlmanns apokalyptische Rolle aus der Apostelgeschichte 3, 20, wo die »kühlende Zeit« prophezeit wird. »Artista« meint den »Elias Artista«, der neben Henoch als der zweite Zeuge in der Geheimen Offenbarung galt, der die Apokalypse ankündigte. 70 »Sophata«, der weiseste, deutet auf das apokryphe biblische Buch der Weisheit, Kuhlmann sieht sich selbst als den reinen Spiegel des Vaters (Sap. 7, 26). Von dieser typologischen Inkarnation der Weisheit in Kuhlmann ist der Schritt zur letzten, der fünften Stufe, der zur größten Nähe Gottes. Die Gattung dieses letzten Schritts ist das Gebet. Dieses zeigt das göttliche Amt, das Kuhlmann erhalten zu haben beansprucht: »O Pater. Haec tua sunt. Haec ad te cuncta reflexit.«
IV. Spekulative Philologie 1. Das wirkende Wort Der Titel von Kuhlmanns Sammlung mystischer Gedichte ist Kühlpsalter. Das merkwürdige Wort spielt natürlich auf den biblischen Psalter an: Kuhlmann beansprucht, die Psalmen neu zu schreiben, um seine Fünfte Monarchie - sein Kühlreich - zu eröffnen. Der Terminus »Kühl« stammt von Kuhlmanns Interpretation der Vulgata-Übersetzung der Apostelgeschichte 3,20: »Poenitemini igitur, et convertemini ut deleantur peccata vestra: Ut cum venerint tempora refrigeri a conspectu Domini, et miserit eum qui praedictus est vobis: Jesum Christum.« (»So tut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden getilgt werden, auf daß da komme die Zeit der Erquickung von dem Angesicht des Herrn und er sende den, der euch zuvor zum Christus bestimmt war.«) Kuhlmann bezog das Versprechen des »refrigeri«, der Kühlung, auf sich und seinen Namen 7 1 und folglich auf seine offenbarte Poesie. Das Wort, das Kuhlmann als reinkarnierte Sophia und als spiritueller
Vgl. Fußnote 27; Flavius Josephus, Bellum Judaicum VI, 4, 5. Vgl. E. Sackur, Sibyllinische Texte und Forschungen, S. 185. 70
Ebd., S. H2. Wilhelm Bousset, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des neuen Testaments und der alten Kirche, Göttingen 1895, S. 134 ff. Die umfassendste barocke Darstellung - noch immer unentbehrlich - ist: Thomas Malvenda, De Antichristo libri undecim, Rom 1604. Dort zu Elias Artista und Henoch Buch 9, S. 452-479.
71
Vgl. W. Dietze, Quirinus Kuhlmann, S. I34ff.
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Christus schreibt, beansprucht poetisch, die Ankunft dieser »kühlenden« Zeit zu verkünden und diese Ankunft zugleich hervorzurufen. Gottes Wort hat die Kraft, die Ankunft der dritten Zeit zu befehlen, und das Ziel des Kühlpsalters ist, diesen Befehl hervorzurufen. Das Buch beansprucht, poetisch zu beschreiben, daß die dritte neue Periode, das 1000jährige Reich der Welt, gerade im Kommen ist. Das Aussprechen der magischen und poetischen Worte wird die neue Zeit der Rosen und Lilien eröffnen. Deshalb hat das Buch zwei Genres von Gedichten: Die ersten sind »Kühljubel« darüber, daß diese Zeit schon gekommen sei, die anderen sind bange und drängende Bitten, daß die neue Zeit nun endlich kommen solle. Beide Gattungen sind selbstverständlich komplementär. Der Böhmist Kuhlmann übernahm Böhmes Lehre von der Schöpfung, die ihr Zentrum in der Theologie des Wortes hatte. Diese Lehre wurzelte in den philonischen und augustinischen Kommentaren zum Buch Genesis. Für den jüdischchristlichen Kontext lag das selbstverständliche Hauptargument darin, daß das göttliche Wort schöpferische Kraft hatte. »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und leer, Finsternis lag über dem Abgrund. Und Gott sprach: Es werde Licht - Fiat lux - , und es ward Licht« (Gen. 1 , 1 - 3 ) . Diese drei ersten Verse der Genesis beschreiben die Schöpfung der Welt durch die Kraft des Wortes, das entscheidende Wort ist »Fiat«. Die Schöpfung wird natürlich als Schöpfung aus dem Nichts begriffen, und deshalb ruft der Befehl »Fiat« die Dinge in die Existenz. Dieses »Fiat« ist die zentrale Bedeutung der Sprache: Sprache bezeichnet nicht etwas, was schon existiert; gerade im Gegenteil: Gottes Wort, seine primordiale Idee der Dinge, die geschaffen werden sollen, wird als vorweltliche Existenz begriffen, aus der die Dinge in ihr weltliches Dasein gerufen werden; Gottes Befehl für dieses Hervortreten in die Existenz heißt »Fiat«. In dieser Theorie besteht die Essenz der Sprache im Befehl, nicht in der Denotation. Der Befehl »Fiat« bringt die Dinge aus ihrer Existenz in Gottes Gedanken zu ihrer äußeren Existenz. Diese Interpretation des »Fiat« aus Gen. 1 , 3 war seit Philo von Alexandriens Schöpfungsinterpretation nicht ungewöhnlich, sie wurde von Böhme und Kuhlmann geteilt. Die Lehre vom schöpferischen »Fiat« läßt sich leicht mit den ersten Versen des Prologs zum Johannes-Evangelium verbinden: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Schon im Anfang war es bei Gott; durch ihn sind alle Dinge geworden, und nichts, was geworden ist, ward ohne das Wort. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtete in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht begriffen. [... ] Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh. 1, 1 - 5 u. 14). Dieser Text war die wichtigste Quelle zur spekulativen Christologie in der christlichen Tradition. Christus erscheint hier in drei Funktionen: 1. Er ist der innertrinitarische
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Logos, der Sohn des Vaters. 2. Er ist das Wort, durch das die Welt erschaffen wurde. 3. Er ist Fleisch geworden. In unserem Fall ist die Lehre von der Schöpfung durch das Wort der wichtigste Punkt. Wie konnte Schöpfung erklärt werden? Böhme stellte sich in philonischer und origenistischer Tradition die Schöpfung in zwei Schritten vor. Der erste Schritt war die Konzeption der Welt durch das Wort. Das Resultat bestand in einer idealen, spirituellen Welt, den causae primordiales der stoischen und platonischen Tradition, die auch als Sapientia, Schechina und Weisheit gedeutet wurde. In dieser Weisheit hatte die gesamte Konzeption Gottes von seiner Welt ihre spirituelle Einheit. Gottes Gedanken wurden so als die spirituelle Voraus-Existenz der Welt begriffen; und diese Ideen wurden durch das »Fiat« extramentale Wirklichkeit. Diese jüdischchristliche Adaptation des stoischen Konzepts der logoi spermatikoi hatte allerdings eine entscheidende Schwierigkeit: Ihre Existenz war allein spirituell, vor Raum und Zeit, einzig in Gottes Weisheit wohnend. Die göttliche Weisheit enthielt die logoi spermatikoi, die lebendigen geistigen Samen aller Dinge, die werden sollten. Für den Schritt nach draußen in die raum-zeitliche, kontingente Existenz war der Befehl »Fiat« unerläßlich. Dieser Übergang von der ewigen mentalen Existenz in eine extramentale Existenz war der Augenblick des Beginnens; es war der Ausgang des lebendigen Worts in seine äußere Existenz. Das »Fiat« brachte die mentalen Seminalgründe, die Konzepte der Dinge, zu ihrer äußerlichen Vollkommenheit, zu Stand und zu Wesen. Der Ausgang der Dinge in die extramentale Existenz zeigte die ewige Anwesenheit von Gottes wirkendem Wort im Verlaufe der Zeit. Das ist auch die apokalyptische Funktion des »Verbum fiat«. Die Ankunft des millenaristischen Messias konnte nur als ein Prozeß des Wirklich-Werdens begriffen werden, als ein Ausgang noch verborgener Ereignisse »aus der Dunkelheit zum Licht«. Der millenaristische Messias erschloß die neue Welt, so wie das »Fiat« den geistigen Seminalgründen ihre äußere Existenz erschloß. Seine Kraft war die des mächtigen »Fiat« der ersten Schöpfung. Menschen, die in der Gnade Gottes standen, konnten die kommenden Zeiten schon in ihren Herzen spüren? 2 und so die kommende »Rosen- und Lilienzeit«genießen. Die Samen der Dinge waren die göttlichen Ideen, die unbeschädigt die Zeiten der Sünde überstanden hatten, sie mußten durch die ewige Kraft des göttlichen Wortes ins Sein gerufen werden. Des-
72
Vgl. Caspar Schwenckfeldt, Catechismus. Vom Worte des Creutzes/ und vom Unterscheide des Worts des Geistes und des Buchstabens, was auch proprie und eigentlich Gottes Wort sey, in: Der Erste Theil der schrifftlichen und orthodoxen Bücher und schrifften des Edlen/ theuren/ von Gott hochbegnadeten
und
Gottseligen Mans Caspar Schwenckfelds, Frankfurt/M. 1564. 73
Vgl. die Belege bei W. Dietze, Quirinus Kuhlmann, S. 414 (Fn. 27) u. S. 415 (Fn. 30), besonders die Schriften der Prophetin Tannecke Denys, Die Christliche lilien-blum, Amsterdam 1662.
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halb war die zukünftige Herrlichkeit in der Schöpfung verborgen. Wer die verborgene Schönheit der Dinge wahrnehmen konnte, fühlte schon die Sehnsucht der Natur nach ihrer Vollendung in der »Rosen- und Lilienzeit«. Es war die Kraft des Neuen Himmels und der Neuen Erde, die im letzen Kapitel der Apokalypse (Apok. 21, 2 , 1 0 - 1 2 ) vorhergesagt worden war und die schon in den Herzen der Frommen fühlbar war: »Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Mann. [... ] Komm, ich will dir das Weib zeigen, die Braut des Lammes. Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederfahren aus dem Himmel von Gott, die hatte die Herrlichkeit Gottes. Und ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall. Und sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore.« Das Konzept des schaffenden Wortes ist auch der Kern von Böhmes Hochschätzung der deutschen Sprache. Böhme sah das Deutsche ganz nah an Gottes Sprache, denn er erkannte im Deutschen die Spuren von Gottes schaffenden Worten wieder. Deshalb war die deutsche Sprache fähig, die ewige, geistige Kraft der spirituellen Samen der Dinge zu erwecken. Dieses Konzept der schöpferischen »Ursprache«, die eine enge Verbindung zum Wesen der Dinge hatte, wurde von Kuhlmann übernommen. Kuhlmann versuchte, in dieser Ursprache das Werden der Dinge hervorzurufen und zugleich darzustellen, indem er die Substantive - »Dingwörter« - verbalisierte. So eröffnete die Sprache durch ihre Verzeitlichung ihre mimetische Form, den zeitlichen Charakter von Aufgang und Werden. Diese Verzeitlichung bedeutete theologisch, daß Kuhlmann versuchte, den Prozeß der Schöpfung durch das Wort nachzuahmen, um den primordialen Stand der Schöpfung in Gottes dritter Ankunft, der Apokalypse, wiederherzustellen. Genau dieses ist die messianische Rolle, in der Kuhlmann sich selbst sah. Mit seiner Poesie repräsentierte er das göttliche Wort, er machte das Wort präsent, das in der ersten Schöpfung Fleisch angenommen hatte, das typologisch durch den ersten Adam und die erste Eva dargestellt wurde. In seiner zweiten Verwirklichung war das Wort im gekreuzigten Jesus Christus Fleisch geworden. Das Wort sollte schließlich vollendet werden durch Quirinus Kuhlmann, den neuen »Jesuel«, und seine Frau, die neue Eva, Maria Anglicana. Kuhlmann nannte sich selbst Jesu-el, und seine neue Gemeinde sollte aus »Jesuelitern« bestehen. Er benutzte eine besondere Interpretation des hebräischen »El«, der als der erste göttliche Name in Isidor von Sevillas Etymologien erscheint: »Primum apud Hebraeos Dei nomen El dicitur; quod alii Deum, alii etymologiam eius exprimentes, iox^QÖ^, id est fortem interpretati sunt, ideo quod nulla infirmi-
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täte opprimitur, sed fortis est et sufficiens ad omnia perpetranda.« 74 Kuhlmann interpretiert Gottes Macht im Sinne von Dionysius Areopagitas Himmlischer Hierarchie als eine hypostatische Person, einen Engel: »29. Das heilige El, der nähme des grossen Engels, der mit den Seelen über di Himmel triumfiret, ist Uns durch alle Zehen L [möglicherweise die zehn Sephiroth als die zehn göttlichen Kräfte, W. S.-B.] nun in dem nahmen der Jesueliter widererstattet, und wird als das Israel der Christen der Jesueliter, das dreieinige Königreich Christi begrüßet werden. 30. Freuet euch, ihr Himmel! Frohlokke, du Erde! Die Kühlungszeit, davon alle Propheten vom anbeginne der Welt gesprochen, knospet albereit seine lilien und Rosenknospen, und mus nunmehro das Unkraut von dem Weitzen in der grossen Erndte der letzten Weltstunde geschiden w e r d e n . « 75 2. Poetische Apokalypse Das ist der Augenblick, in dem die Apokalypse beginnt, ein Moment, der im vielleicht intensivsten Gedicht des Kühlpsalters besungen wird, wo Kuhlmann versucht, die wirkende Kraft des Wortes zu benutzen und Gottes endgültige Offenbarung von der Dunkelheit zum Licht, von Schwachheit zur Stärke zu erflehen: Es besingt den Moment, in dem Gottes Gegenwart aufscheint. 76 Das Gedicht ist datiert: »Als er aus Amsterdam den 19. August geheim ausreiste, durch Rom und Aleair nach Jerusalem gedenkend; noch geheimer in der 144 stunde mit wundern nach Amsterdam zurückgetriben ward; und am allergeheimsten zukünfftige Jerusalemsche Verhohlenheiten austhönte den 29. Aug. 1680.« 77 »1.11. Recht dunkelt mich das dunkel, Weil Wesenheit so heimlichst anbeginnt! O seltner Glükkskarfunkel! Es stroemt, was euserlich verrinnt, Und wird ein Meer, was kaum ein bächlein gründt.« 74
Isidor von Sevilla, Etymologiae, VII, 1,3, hg. v. Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911.
75 Quirinus Kuhlmann, Kühlpsalter, Bd. 1, S. 203. 76
Sibylle Rusterholz beschreibt die Verbindung zwischen Johannes vom Kreuz und Kuhlmann ausführlich (Rusterholz, »Klarlichte Dunkelheiten. Quirinus Kuhlmanns 62. Kühlpsalm«). Zur mystischen Tradition dieses Topos vgl. Alois M. Haas, »Die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes. Mystische Leiderfahrung nach Johannes vom Kreuz«, in: ders., Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt/M. 1996, S. 446-464.
77
Quirinus Kuhlmann, Kühlpsalter, Bd. 2, S. I2f. Der 2.(12) Kühlpsalm. Die doppelte Verszählung indiziert, daß es das zweite Gedicht in einer Gruppe ist, diese umfaßt 10 Verse. Die Verse haben je fünf Zeilen, das Reimschema ist a-b-a-b-b.
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Diese erste Strophe verbindet Dunkelheit und Anfang. Der Anfang ist das erste Scheinen der Wesenheit, der Essenz der Dinge, die Gottes primordialen Ideen entsprechen, die am Ende der Zeiten wiederkehren werden. Es ist ein seltenes Glück, an diesem entscheidenden Moment der Heilsgeschichte dabeizusein. Das erste Licht scheint gleich einem Glücksstein, einem Edelstein, der die Helligkeit und den Blitz des ersten Beginns darstellt, der je heller ist, je dunkler die Nacht ist, vor der er aufscheint. Dieses ist allerdings ein völlig innerliches Ereignis, der innere Strom, der einen Ozean füllt, ist von außen kaum als Rinnsal wahrnehmbar. »2.12.1 dunkler, imehr lichter: I schwärzer A.L.L.S. i weisser weisst sein Sam. Ein himmlisch Aug ist Richter: Kein Irdscher lebt, der was vernahm; Es glänzt imehr, i finster es ankam.« Die Strophe beginnt mit dem für die mystische Tradition typischen Verhältnis von Dunkel und Licht. Die merkwürdige Schreibung von »A.L.L.S.« zeigt eine kabbalistische Benutzung von Buchstaben: Das L, ausgesprochen als »EL«, repräsentiert das »El«, die Kraft des Gottesnamens; A kann Anfang und S kann Schluß heißen, dann bedeutet das A.L.L.S. die Universalität des gotterfüllten Raums 78 ; »El« ist der Name von Gottes Kraft, die zum Licht wird und sich als der Same seiner Fruchtbarkeit zeigt. Die Konfrontation von schwarz und weiß hat eine alchemistische Bedeutung: Schwarz (gelegentlich blau) ist der kälteste Grad der Erhitzung (von Kohle und Eisen), weiß der heißeste. Daß die weiße Farbe den Samen des Kommenden ankündigt, ist einer Darstellung des Beginnens geschuldet, die neuplatonischen Ursprungs ist. Der zweite Aphorismus des Buchs der XXIV Philosophen beschreibt Gottes spontane generative Kraft: »Monas, monadem ex se gignens, in se unum reflectens ardorem.« 7 ? Der Prozeß beschreibt den spontanen Anfang der Reflexion vom unnennbaren Eins in die Reflexion seiner selbst: Im Augenblick dieser Reflexion erzeugt die Hitze der Liebe zwischen der Monade und ihrem Bild ein blitzendes Licht. Weil dieser Moment der Spekulation die schlechthin erste Bewegung ist, der absolute Anfang, ist dieser Ursprung des Lichts zugleich der Ursprung des Lebens, denn Leben ist die Fähigkeit zur geordneten Bewegung. Das ist der Grund, weshalb der Samen weiß ist. Der ewige Prozeß des Werdens ist die Theogonie, die das ewige innertrinitarische Leben ist. Nur Gottes himmlisches Auge kann diesen innergött78 Diese Interpretation schließt nicht aus, daß es auch Amsterdam, London, Lutetia (Edinburgh) und Smyrna bedeutet, Städte, an denen die göttliche Kraft für Kuhlmann präsent war. 79 Françoise Hudry (Hg.), Le livre des XXIVphilosophes,
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Grenoble 1979, S. 89.
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liehen Prozeß wahrnehmen und die Übertragung des göttlichen Lebens auf die Schöpfung bestimmen, um die Zeit zu beginnen. Kein Wesen war bislang (außer Kuhlmann?) in der Lage, diesen ewigen Prozeß göttlicher Selbstschöpfung wahrzunehmen, wie er jetzt in seiner Pracht erscheint. »3.13. Ach nacht! Und nacht, di taget! O Tag, der nacht vernünftiger Vernunfft! Ach Licht, das Kaine plaget, Und helle strahlt der Abelzunfft! Ich freue mich ob deiner finstern Kunfft.« »Ach« ist die Silbe, die die innersten Gefühle ausdrückt, sie erscheint erneut im letzten Vers als »ächzen«. Mit diesem intensiven Anruf ist die Nacht bedacht, als die Zeit, in der jede Prozessualität möglich wird. »Ach nacht!« Es ist genau der Moment, wo die Nacht weicht und zum Tage wird, es ist der Moment der deutlichen Offenbarung von Gut und Böse, das ist ein revolutionärer Moment. Die Pracht von Gottes letztem Tag ist für die irdische, »vernünftige« Vernunft verdunkelt, unwahrnehmbar, »nacht vernünftiger Vernunft«. Gottes Gnaden-Licht peinigt die Söhne Kains und leuchtet dem Geschlecht Abels. Der Dichter freut sich der verborgenen Ankunft dieses Lichtes. Der Topos des dunklen Anfangs stammt von Plotin und erscheint bei Dionysius Areopagita. In seiner Mystischen Theologie gibt Dionysius seinem Schüler Timotheus die Anweisung, die Stufen mystischer Erkenntnis emporzusteigen, sich von allem Weltlichen zu befreien, noch vom »Sein und Nichtsein, und unbewußt emporgezogen zu werden in eine Einheit, die, soweit erreichbar, über allem Wesen und Wissen ist. Denn durch die Unwiderstehlichkeit und vollkommene Ekstase in alle Reinheit von dir selbst und allem wirst du in die Höhe erhoben, zu dem überseienden Strahl göttlicher Dunkelheit, wenn du dich völlig gereinigt hast und frei von allem geworden bist.« 80 »4.14. O längsterwartes Wunder! Das durch den kern des gantzen Baums auswächst! Du fängst neu Edens zunder! Ei über, sih mein hertze lächst! Es ist genug: Höhr, was es innigst ächst.«
80
Dionysius Areopagita. Mystische Theologie
1,1.
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In seinem Mysterium Magnum beschreibt Böhme den Prozeß der Schöpfung als das wahre Mysterium, weil in diesem Prozeß Gott die Differenz seiner selbst schuf. 81 Durch dieses Wunder des Ursprungs wurde die Welt geschaffen. Diese Primordialwelt ist auch der Typ der Welt, die wiederkommen wird. Diese Wiederkunft ist das längst erwartete Wunder. Deshalb ist der Garten Eden der Typ der Welt, der am Ende wiederkehren wird: der Kern des Paradiesbaums wird auswachsen und sich in seiner ewigen Herrlichkeit, dem göttlichen Lebensfeuer des Paradieses entfalten. In einer direkten Anrede bedrängt der Dichter seinen Gott, dieses Werk zu beginnen: »Du fängst neu Edens zunder« und er eröffnet dem geliebten Gott die Sehnsucht seines Herzens: »Ei liber, sih mein herze lächst.« Die Sehnsucht des Herzens ist ein Gemeinplatz mystischer Literatur, um die spirituelle Begierde des Mystikers nach Erfüllung durch den Geliebten zu beschreiben. »Es ist genug.« zitiert Elias in der Wüste (1 Kön. 19, 4). »Hör«, nimmt das »sih« der vorigen Zeile auf; »ächst« ist die Verbalisierung des »Ach« vom Beginn der dritten Strophe. 5.15. O unaussprechlichst Blauen! O lichtste Roeth! O übergelbes Weis! Es bringst, was ewigst, schauen Beerdt di Erd als Paradeis; Entflucht den fluch, durchsegnet iden reis. Nachdem Kuhlmann den Typus der Welt, wie sie erscheinen soll, beschrieben hat, wird der Werdensprozeß als Licht-Werden beim Erglühen beschrieben. Die Steigerung erinnert an die alchemistische Farbordnung: Das erste Stadium ist blau (und schwarz), das mittlere ist rot, die heißeste Farbe ist weiß, eben noch mehr als gelb oder golden; weiß ist auch die Farbe des göttlichen Samens. Der Prozeß des Lichtwerdens bringt zur Erscheinung, was Gott in seiner ewigen Weisheit gedacht hat. Zugleich spielt die Böhmesche Farbendeutung hier eine Rolle: Böhme interpretierte die drei Farben als die Hauptfarben des Regenbogens, der für ihn eine »Figur« des jüngsten Gerichts ist. 82 Hier ist die primordiale Paradieswelt in ihrer
81
Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, »Das Geheimnis des Anfangs. Einige spekulative Betrachtungen im Hinblick auf Böhme«, in: Jan Garewicz u. Alois Maria Haas (Hg.), Gott, Natur, Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption, Wiesbaden 1995, S. 113-127.
82
Vgl. J. Böhme, Mysterium magnum, Kap. 33, 27-30: »Denn der Regenbogen hat die Farbe aller drey Principien: als des ersten Principii Farbe, ist roth und dunckelbraun, bedeutet die Finster-und Feuer Welt als das erste Principium, das Reiche Gottes Zornes. Des anderm Principii Farbe ist weiß und gelbe, ist die Majestätische Farbe angedeutet, als das Bild der H.Welt, Gottes Liebe. Des dritten
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endgültigen Verwirklichung beschrieben; das Wort »ewigst« ist entweder eine Kontraktion von »ewig ist« oder, wahrscheinlicher, in der Tradition der Überbietungstopik der Superlativ von ewig. Diese allerewigste Existenz wird sichtbar erscheinen; das himmlische Paradies wird auf Erden real, sie kommt zu ihrem primordialen Wesen, das himmlische Paradies macht die Erde erst zur wahren, neuen Erde: »Beerdt di Erd als Paradeis«. Dieses Paradies hebt den Fluch der Erbsünde auf und erlöst die gefallene Natur: »durchsegnet iden reis«. »6.16. O Erdvir! Welches Strahlen? Der finsterst ist als vor di lichtste Sonn. Krystallisirtes Prahlen! Die Welt bewonnt di Himmelswonn: Sie quillt zurükk, als wäre si der Bronn.« Die Entfaltung der göttlichen Gnade und Herrlichkeit, die im letzten Vers begonnen worden ist, wird in dieser Strophe fortgesetzt und gesteigert: Die Erde wird nun zum Spiegel, der Gottes-Herrlichkeit, reflektiert. »Erdvir« verweist auf die vier Elemente: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Diese Elemente beginnen zu strahlen, nachdem sie ihre primordiale Form bekommen haben; und noch der dunkelste Strahl ist heller als die hellste Sonne: »Der finsterst ist als vor di lichtste Sonn«. »Krystallisirtes Prahlen«, vielleicht das intensivste Bild und die konziseste Formulierung des gesamten Gedichts, zeigt die Erde als einen Kristall, der von Gottes überquellender Kraft erstrahlt. Die so überbordend begnadete Welt strahlt himmelwärts empor principii Farbe ist grün und blau, blau vom Chaos, und grün vom Wasser und Salpeter, da sich im Schracke des Feuers der Sulphur und Mercurius scheidet, so gibts unterschiedliche Farben, welche uns andeuten die innern geistlichen Welten, welche in den 4 Elementen verborgen stehen. 28. Dieser Bogen ist die Figur des jüngsten Gerichts, wie sich die inneren geistlichen Welten werden wieder offenbaren, und die 4 Elementische Welt in sich verschlingen. 29 Und ist das Gnaden-Zeichen des Bundes, welches Zeichen im Bunde den Richter der Welt andeutet, als Christum, welcher in allen drey Principien am Ende der Tage wird erscheinen: Als nach dem Feuer-Zeichen ein strenger Richter über die Turbam, und alles was darinnen erfunden wird werden, wird er das Feuer-Gerichte offenbaren, und die Turbam anzünden, daß das erste Principium wird in seiner feurischen Eigenschaft erscheinen, denn alle Dinge dieser Welt Wesen müssen im Feuer des ersten Principii, als im Centro der ewigen Natur, bewehret werden: Allda wird die Turba aller Wesen im Feuer verschlungen werden. 30. Und nach dem Lichts-Zeichen wird Er mitten im Feuer, als ein lieblich Angesichte allen Heiligen erscheinen, und die seinen in seiner Liebe und Sanftmuth vor des Feuers-Flammen bewahren.« Wenn die Farben blau rot weiß, wie bei Johannes vom Kreuz, auch die göttlichen Farben sind, dann bedeutet das, daß Gott sich in seiner Weisheit auch selbst offenbart. Bei Johannes vom Kreuz ist blau die Farbe des Heiligen Geistes, rot die Farbe des Vaters, und weiß/gelb die des Sohnes. Vgl. Rusterholz, »Klarlichte Dunkelheiten. Quirinus Kuhlmanns 62. Kühlpsalm«, S. 244.
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und teilt ihre Wonne dem Himmel mit, als wäre sie selbst der Ursprung dieser göttlichen Gnade und Herrlichkeit. »7.17. Welch wesentliches Bildnis? Erscheinst du so Geheimste Krafftfigur? Wi richtigst, was doch wildnis? O Was vor zahl? Ach welche spur? Du bists, nicht Ich! Dein ist Natur und Cur!« Das »wesentliche Bildnis« spielt auf christologische Dogmatik an: Das erste Bildnis überhaupt ist Christus als das innertrinitarische Bildnis Gottes. Von diesem ist der primordiale Adam abgeleitet, der Urmensch vor der Sünde. Dieses wesentliche, primordiale Bildnis ist auch der göttliche Logos, der die Macht hat, die Dinge zu verwirklichen. Für diesen Prozeß, bei dem die primordialen Gedanken in die Realität gerufen werden, ist die göttliche Kraft erfordert, und das Symbol dieser Kraft ist »EL« oder »L«.83 Die Kraftfigur, die erscheint, ist die Form der Formen, das Symbol der göttlichen Kraft und Ordnung, durch die das ursprüngliche Chaos in der ersten Schöpfung gezähmt wurde. Das Symbol erscheint nun wieder, um die Wildnis für Gottes letzte Ankunft auszurichten. Ordnung und Wesen haben den Charakter von Zahlen; und so sind die Spuren von Gottes Ordnung überall sichtbar. Dieses »L« oder »El« ist insbesondere das Symbol von Gottes Anwesenheit in Quirinus Kuhlmann; und so ist, in der Rückkehr der göttlichen Gnade von der Erde in den Himmel, der mystische Messias ebenfalls anwesend. In diesem Prozeß ist Gott allgegenwärtig; und auch wenn es so scheint, als sei er im Prozeß der Rückkehr der Gnade zum Himmel ununterscheidbar von seinem irdischen Reflex geworden, so bleibt diese Verherrlichung der Welt doch sein Wille und seine Ordnung: »Du bists« - nicht Ich - »dem Ruhm und Ehre gebühret«. »8.18. Di Krön ist ausgefüllet, Di Tausend sind auch überall ersätzt: Geschehen, was umhüllet; sehr hoher röth, höchst ausgeätzt, Das alle kunst an ihr sich ausgewetzt.« Die Herrschaft im Millennium ist nun vollkommen; es wird deutlich, daß die göttliche Ordnung, die Erde und Himmel verband, nicht nur natürlich, sondern auch
83
Übrigens ist dies »L« die Umkehrung des hebräischen »Waw«, das als Symbol des Paradiesbaums gilt.
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politisch ist: Das ist die Herrschaft der 24 Ältesten der Geheimen Offenbarung. Ihr tausendjähriges Reich steht bevor; die »Tausend« zitiert Daniels ApokalypseVision: »Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm.« 84 Die Geschichte der Welt ist beendet. Alles ist geschehen, was vorher noch verborgen war und sich in irdischen Zeiten erfüllen mußte. Diese Zeiten waren Leidenszeiten. Diese Vergangenheit wird mit alchemistischer Terminologie als die Zeit der Reinigungsglut interpretiert: Es ist die rote Glut, die alles erfüllt, alle Kunst, die das Metall reinigt, ist in der letzten Periode vor dem Millennium, der Leidensperiode der Gerechten, angewandt worden. »9.19. Di Lilien und Rosen sind durch sechs tag gebrochen spat und früh: Si Kräntzen mit libkosen nun dich und mich aus deiner müh. Dein Will ist mein, mein will ist dein: Vollzih.« Lilien und Rosen, Böhmes Symbole der Vollendung im Millennium, sind sechs Tage lang - Symbol der 6000 Jahre der Weltgeschichte - ohne Unterlaß zerbrochen worden. Diese lieblich zärtlichen Blüten sind die Kränze, die diejenigen schmücken, die das Leiden ertragen haben: »Si Kräntzen mit libkosen / Nun dich und mich aus deiner müh.« Sind du und ich die Heiligen der 1000 Jahre, das wahre Volk Zion? Oder Gott/Christus und Kuhlmann? Noch steht das Millennium unmittelbar bevor, es hat eben noch nicht wirklich begonnen: Kuhlmann schreit geradezu die endgültige Ankunft Gottes herbei; und er benutzt die mystische Tauschformel, die an das Gebet Christi am Ölberg erinnert: »Aber nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine«, wenn er die letzte Ankunft Gottes erfleht: »Dein Will ist mein, mein will ist dein: Vollzih«. »10.20. Im Jesuelschem Schimmer Pfeiln wir zugleich zur Jesuelschen Krön: Der Stoltz ist durch dich nimmer! Er ligt zu fus im höchstem höhn. Ein ander ist mit dir der Erb und Sohn.« Es scheint, daß sich in dieser letzten Strophe die Ankunft Gottes und die Vergottung des Menschen glücklich ereignet hat. Gottes Kraft ist in Jesu-el, das ist Kuhlmanns
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Daniel
7 , 1 0 ; v g l . Apok.
2 0 , 4 f.
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ERLÖSUNG DURCH PHILOLOGIE
geistlicher Name, anwesend. In Jesueis Schimmer erscheint die Kraft des neuen Vermittlers zwischen der Welt und Gott; und in diesem Glanz - der Kraft des »El« fliegen wir - Kuhlmann erfindet die kühne Verbalisierung »pfeilen« - ins himmlische »Kühlreich«, die Jesuelsche Krön. Im neuen Vermittler spiegelt sich Gottes Liebe zur Menschheit und die begnadete neue Liebe der Menschheit zu Gott; der teuflische Ursprung der Sünde, der Stolz, liegt unterworfen, gedemütigt und gebunden unter Gottes Füßen. 85 Die Sünde ist verschwunden. Gott regiert und der neue Mensch, offensichtlich der dritte Adam, ist gekommen. Der neue Adam ist, gemeinsam mit Christus, des Vaters Erbe und Sohn.
8
'
Vgl. i Kor. 15, 21-25: »Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn gleichwie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeglicher aber in seiner Ordnung: Der Erstling Christus; danach die Christus angehören, wenn er k o m m e n wird; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, überantworten wird, wenn er vernichtet haben wird alle Herrschaft und alle Obrigkeit und Gewalt. Denn er muß herrschen, bis daß er >alle Feinde unter seine Füße lege< (Psalm 1 1 0 , 1 ) . Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn >alles hat er unter seine Füße getan< (Psalm 8, 7). Wenn er aber sagt, alles sei Untertan, ist's offenbar, daß ausgenommen ist der, der ihm alles Untertan hat. Wenn aber alles ihm Untertan sein wird, alsdann wird auch der Sohn selbst Untertan sein dem, der ihm alles untergetan hat, auf daß Gott sei alles in allem.«
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Der Magier im antiken Judentum Von empirischer Wissenschaft zur Theologie Giuseppe Veltri
W
ill man sich mit Magie auseinandersetzen, so steht man als erstes vor der Eingrenzung ihres semantischen Feldes. Den Religions- oder Wissenschaftshistoriker verweist dieser Aspekt auf das in aller Breite erörterte Problem, wie sich denn die Magie zur Wissenschaft verhalte, was wiederum zumeist in das allseits bekannte Dilemma mündet, ob solch ein Wort zu gebrauchen nun angemessen sei oder nicht. Die Welt der modernen Natur- und Geisteswissenschaften verbietet es natürlich, sich der Magie auf naivem Wege anzunähern - handelt es sich doch um einen Ausdruck, der bekanntermaßen seit der Aufklärung mit zahlreichen ideologischen Konnotationen belastet ist, ganz zu schweigen von den religiösen und rechtlichen Implikationen, die ihm spätestens seit den Anfängen schriftlicher Überlieferung zukommen. 1 Ein semantisches Substitut gibt es für dieses Phänomen jedoch nicht, so daß man sich ihm als solchem zu stellen hat, um
1
Zum modernen Gebrauch des Ausdrucks magisch mit Bezug auf die griechisch-römische Antike vgl. Robert Charles Philipps, »The Sociology of Religious Knowledge«, in: Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, II, 16, 3, Berlin, New York 1986, S. 2723 ff. Zudem: H. S. Versnel, »Some Reflections on the Relationship Magic-Religion«, in: Numen 38 (1991), S. 177-197, sowie Peter Schäfer, »Merkavah Mysticism and Magic«, in: Joseph Dan u. Peter Schäfer (Hg.), Gershom Scholem's »Major Trends in Jewish Mysticism« 50 Years After. Proceedings of the Sixth International Conference on the History of Jewish Mysticism, Tübingen 1993, S. 59-78.
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GIUSEPPE VELTRI
es gegenüber Begriffen wie Religion und Wissenschaft überhaupt profilieren zu können. Trotz gewisser Schwierigkeiten bei seinem Gebrauche habe ich mich schon allein deshalb für den Ausdruck entschieden, weil er auf praktische und heuristische Weise zu verstehen hilft, womit wir es hier zu tun haben. 2 Um zunächst einmal von einem Lehrsatz der Aristotelischen Philosophie auszugehen: Die allererste Voraussetzung menschlicher Kommunikation besteht in der Kategorisierung partikularen Wissens, auch wenn eine Kategorie, wie die Nominalisten des Mittelalters sagen würden, als leeres Wort betrachtet werden muß. E. E. Evans-Pritchard meint dazu: »Der Versuch, Magie als solche, gleichsam ihre Substanz zu erforschen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Sie wird verständlicher, wenn man sie nicht nur in Beziehung zu empirischen Aktivitäten sieht, sondern auch in Beziehung zu anderen religiösen Vorstellungen, als Teil eines Denksystems«.3 Ich will die Frage lieber anders stellen, weil ich dem Autor nicht zustimmen kann, wenn er von Magie unter Bezug auf und innerhalb eines »Denksystems« spricht. 4 Die Kategorie »System« impliziert die Unterordnung von Vorstellungen, Begriffen und Realia - also eine typisch philosophische Objektivierung. Wenn es um Magie geht, will ich als ihr semantisches und historisches Umfeld lieber die »holistische Welt« ansetzen, die Welt, in der menschliche Wesen leben und handeln, inmitten der sie an die Natur, an Götter, an die Gegenwart und die Zukunft glauben und sich vor ihnen fürchten. Nichtsdestoweniger ist EvansPritchard natürlich zuzustimmen, wenn er darauf abstellt, daß Magie nur mit Bezug auf die unterschiedlichen Aspekte menschlichen Lebens verständlich ist. Magie an sich ist in der Tat ein leerer Begriff, mit dem eine historische und wesens2
Vgl. hierzu Jens-Heinrich Niggemeyer, Beschwörungsformeln
aus dem »Buch der Geheimnisse«
(Sefär
ha-razîm). Zur Topologie der magischen Rede, Hildesheim, New York 1975, S. 63. Außerdem: Michael D. Swartz, »Scribal Magic and its Rhetoric. Formal Patterns in Médiéval Hebrew and Aramaic Incantation Texts from the Cairo Genizah«, in: Harvard Theological Review 83 (1990), S. 171. Indes schreibt P. Schäfer, »Merkavah Mysticism and Magic«, S. 74: »Den Ausdruck >Magie< einfach zu eliminieren, wäre ein allzu vereinfachendes Vorgehen. Das Problem der Beziehung zwischen Magie und Religion ist nicht einfach dadurch zu lösen, daß man die Magie als nichtexistent erklärt.« 3
Edward Evan Evans-Pritchard, Theorie über primitive Religion, Frankfurt/M. 1981, S. 159, zitiert bei Robert A. Markus, »Augustine on Magic. A Neglected Semiotic Theory«, in: Revue des Études Augustiniennes 40 (1994), S. 375.
4
In einer äußerst fruchtbaren Diskussion zu Evans-Pritchards Konzeption von Magie hat die Anthropologin Maureen Bloom klargestellt, sein »Denksystem« sei nichts anderes als eine Übersetzung oder Anverwandlung des deutschen Begriffs der »Weltanschauung«. Selbst wenn dies die Bedeutung des Ausdrucks erklären sollte, würde ich doch dafür plädieren, ihn gänzlich zu vermeiden, und zwar wegen der philosophischen und anthropologischen Erblast des modernen Begriffs »System«. Bemerkenswerterweise ist die Debatte um die systematische Natur der Magie schon sehr alt (vgl. hierzu etwa Origenes, Contra Celsum, I, 24).
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D E R M A G I E R IM A N T I K E N J U D E N T U M
mäßige Beziehung von Subjekten zu ihrer psychischen, historischen, eingebildeten und wirklichen Welt und Umgebung definiert werden soll. Gerade das Zentrum jeder magischen Praktik, der Magier, führt auf nachdrückliche Weise vor, wie seine (wirkliche oder illusorische) Macht lediglich als Beziehung verständlich zu werden vermag. Denn wie ein Schauspieler kann er ohne sein Publikum nicht existieren und nicht handeln. In fast allen geschichtlichen Epochen, sicherlich aber nach der Erfindung der Schrift, ist der Magier das am häufigsten konsultierte, doch ebenso das am häufigsten verschmähte Mitglied seines Gemeinwesens, und dies wegen seiner angeblichen Macht über Gegenstände, Menschen und künftige Ereignisse. Ihn sah man als Meister; man sagte ihm besondere Fähigkeiten nach, wenn es darum ging, übernatürliche Kräfte und Energien zu kontrollieren, die man wiederum zum Heilen oder zur Wahrsagekunst, ebenso jedoch zur Schädigung oder gar zum Töten bestimmter Personen benötigte. Um die Macht des Magiers innerhalb der antiken und mittelalterlichen Gesellschaft zu verstehen, muß man in Rechnung stellen, daß seine Autorität auf der wahrhaften oder auch nur trügerischen Befähigung beruhte, Dinge zu tun, die andere nicht tun konnten. Von diesem Standpunkt aus ist es offensichtlich, weshalb das Hauptanliegen der antiken und mittelalterlichen Gelehrten darin bestand, die Natur der Magie zu erforschen und den wirklichen, den authentischen Magier als solchen zu erkennen. Wenn die Magie indes als der hermeneutische Versuch definiert wird, die Wirklichkeit zu interpretieren und damit zu verändern, dann hat das antike und mittelalterliche Gelehrtentum in seinem Unterfangen, die Macht der Hermeneutik (durch Kritik, durch Anfechtung oder Einverständnis) zu verstehen, allerdings Beträchtliches geleistet. 5 Was dies für das rabbinische Judentum bedeutet, liegt mithin auf der Hand. Handelt es sich doch um eine autoritative Elite von Gelehrten, für die die hermeneutischen Regeln praktisch die einzigen Mittel waren, um Wissen zu erwerben und, was nur naheliegt, ihre Macht gegen unliebsame Mitstreiter wie Magier, Ärzte und Astrologen zu verteidigen. Was das rabbinische Judentum dazu zwang, die Magie zu untersuchen, ihr entgegenzuwirken oder sich ihrer anzunehmen, war nicht die Angst vor deren Mächtigkeit 6 , sondern die Behauptung des Magiers, er 5 Zur Magie als hermeneutischem Phänomen vgl. Edward Evan Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt/M. 1988, S. 39-76. Zudem: Peter Brown, »Sorcery, Demons, and the Rise of Christianity«, in: Mary Douglas (Hg.), Witchcraft Confessions and Accusations, London 1970, S. 17-45. Schließlich: John G. Gager, Curse Tablets and Binding Spells from the Ancient World, New York, Oxford 1992, S. 23 sowie mein Buch Magie und Halakha. Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen 6
Judentum, Tübingen 1997, S. i f f .
Vgl. indes Tosefta, Shabbató, 12, wo es »wegen Zauberei« (mipne harashin) heißt. Zur von der Magie ausgehenden Gefahr und zur Notwendigkeit, gegen die Magie die Magie selbst in Anschlag zu
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könne die Wirklichkeit entgegen aller gewöhnlichen Erfahrung und aller »natürlichen« Grundsätze verändern. 7 Ausgehend von der Auseinandersetzung um die Magie waren die rabbinischen Akademien in antiker und frühmittelalterlicher Zeit folglich einer ganzen Reihe hermeneutischer, wissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Fragen ausgesetzt: Gingen die Entdeckungen der Magier und Ärzte lediglich auf Illusionen, auf Kunstgriffe oder etwa auf die Anwendung übernatürlicher bzw. unbekannter natürlicher Kräfte und Phänomene zurück? Sollte der Magier tatsächlich übernatürliche Kräfte zu nutzen wissen, wie ist dann seine Inanspruchnahme göttlicher Energien möglich und theoretisch zu erklären? Aus dem monotheistischen Glauben ergab sich als direkte Konsequenz ein theologisches Dilemma: Wenn die Magie von Gott stammt - und sie muß von ihm stammen - , könnte sie dann auch gegen seinen Willen gebraucht werden? Oder ist die Macht Gottes von seinem Willen unabhängig? Die derart möglich gewordene Existenz einer zweiten, vielleicht bösen, jedenfalls klar unterschiedenen und eigengesetzlichen Macht im Himmel untergräbt wiederum jede monotheistische Vorstellung. 8 Nun treten, sobald man sich der Magie und den Magiern zuwendet, zwei sehr wichtige Aspekte der rabbinischen Mentalität zutage: (1) die Bereitschaft, auch andere Erkenntnisquellen als den biblischen Text und die mündliche Tradition zu akzeptieren - schließlich nahmen die Rabbiner die Errungenschaften und Praktiken auch der Medizin und der Astrologie bereitwillig auf; (2) ihre Hartnäckigkeit, wenn es darum geht, Magie und Wissenschaft dadurch zu kritisieren, daß die Kunstgriffe des Magiers aufgedeckt werden. Gleichwohl ging ihre pragmatische Einstellung den scientiae et artes gegenüber fast immer Hand in Hand mit dem Glauben an die magische oder theurgische Macht des Wortes, einer wesentlich
bringen, vgl. Babylonischer
Talmud, Pesahim 8b, die Antworten von R. Shlomo b. Adret, i, 413, sowie
R. Shlomo ben Yehiel Luria, § 3, »... die Magie mittels Magie zu zerstören« (levattel 7
kishufbe-kishuf).
Für eine Bibliographie zu Magie, Naturwissenschaft und Wundern sei der Leser verwiesen auf Otto Weinreich, Antike Heilungswunder.
Untersuchungen zum Wunderglauben
der Griechen und
Römer,
Gießen 1909 (Reprint Berlin 1969), überdies auf Dennis Duling, »The Eleazar Miracle and Solomon's Magical Wisdom in Flavius Josephus' >Antiquitates Judaicae< 8,42-49«, in: Harvard Theological Review 78 (1985), S. 1-25, zudem auf Howard Clark Kee, Medicine, Miracle and Magic in New Testament Times, Cambridge, New Rochelle, Melbourne, Sydney 1986, auf Jacob Neusner, »Science and Magic, Miracle and Magic in Formative Judaism. The System and the Différence«, in: ders. u. a. (Hg.), Religion, Science and Magic. In Concert and in Conflict, New York 1989, S. 61-81, schließlich auf François Bovon, »Miracles, magie et guérison dans les Actes apocryphes des apôtres«, in: Journal of Early
Christian
Studies3 (1995), S. 245-260. 8
Zu den besagten »zwei Mächten« vgl. Alan F. Segal, Two Powers in Heaven. Early Rabbinic about Christianity and Gnosticism, Leiden 1977.
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Reports
D E R M A G I E R IM A N T I K E N J U D E N T U M
neoplatonischen und hermetischen Vorstellung. Später sollte die eingehendere Betrachtung dieses Aspekts der Magie zur Konzeption vom »Zustand des göttlichen Namens« führen, d. h. von Bedingungen, in denen die magische Macht als solche angemessen oder unangemessen genutzt wird. Mit Hinblick auf diese philosophische und theologische Entwicklung will ich einige Texte aus dem frühen Mittelalter zitieren und erläutern.
i. Der Magier oder Magus im rabbinischen Judentum Schon sehr alt ist die Herausforderung, Magie, Wissenschaft und Künste zu definieren, ihre wechselseitigen Einflußsphären einzugrenzen und die Folgen ihrer jeweils eingesetzten subjecta agentia zu bewerten. Beispielsweise war die Frage, wie Magie und Medizin zu verstehen seien, schon allein wegen ihrer rechtlichen Implikationen von lebenswichtiger Bedeutung. Und das ist auch der Grund, weshalb die Zubereitung und der Einsatz von farmaka (von »Zaubertränken«) einem Gesetzestext zufolge, der bereits auf das Jahr 479 v. Chr. zurückgeht, als Kapitalvergehen zu bestrafen war.9 Hippokrates, der berühmte Vater der griechischen Schulmedizin, riet Ärzten und Hebammen nicht nur davon ab, an Dämonen und böse Kräfte zu glauben, sondern empfahl ihnen auch, nicht abergläubisch (adeisidaimones) zu sein. 10 Piaton setzt sich in seinen Gesetzen (Kap. 11, 933 d-e) mit den Folgen einer Schädigung oder Tötung durch Vergiftung auseinander: »Wer durch Gift jemanden schädigt, ihn selbst oder einen seiner Sklaven, ohne ihn aber zu töten, oder wer den Herden oder Bienenstöcken desselben einen anderweitigen oder selbst tödlichen Schaden zufügt, der soll, wenn er ein Arzt ist und wegen geheimnisvoller Beeinflussung verurteilt wird, mit dem Tode bestraft werden; ist er aber ein Laie, so soll es in das Ermessen des Gerichtshofes gestellt sein, die angemessene Strafe oder Buße über ihn zu verhängen. Wenn aber einer überführt wird durch Behexung oder Beschwörung oder irgendwelche Zaubersprüche oder sonstige derartige geheimnisvolle Mittel Unheil gestiftet zu haben, so soll er, wenn er ein Seher oder Zeichendeuter ist, mit dem Tode bestraft
9 Vgl. Wilhelm Dittenberger (Hg.), Sylloge Inscriptionum
Graecarum, Bd. I, Leipzig 3 i9i5, Nr. 37; vgl.
auch John G. Gager, »Introduction«, in: ders., Curse Tablets and Binding Spells from theAncient World, a. a. O., S. 23. 10
Vgl. Ludwig Edelstein, »Greek Medicine in its Relationship to Religion and Magic«, in: Owsei Temkin u. C. Lilian Temkin (Hg.), Ancient Medicine. Selected Papers of Ludwig Edelstein, Baltimore 1967, S. 220 ff.
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werden; ist er aber kein Seher, so soll mit ihm ebenso verfahren werden wie mit dem Laien bei der körperlichen Einwirkung; auch hier nämlich soll der Gerichtshof zuständig sein für Bestimmung der Strafe oder Buße.« 11 Das entscheidende Kriterium in dieser rechtlichen Debatte ist nicht die Tat an sich, mag sie nun eine fatale oder weniger folgenreiche Verletzung beibringen, sondern in welchem Maße mit professionellem Sachverstand zu Werke gegangen wurde. Handelt es sich um einen Arzt, so muß er sich der Gefahren einer Vergiftung bewußt sein; handelt es sich um einen Propheten oder Wahrsager, so können ihm die Auswirkungen seines Tuns nicht gleichgültig sein. Folglich ist es die professionelle Qualifikation der betreffenden Person, die den Arzt vom Privatmann unterscheidet, schließlich sind ihm ja die Auswirkungen seines Handelns bewußt. Das Bewußtsein dessen, ein Magier oder Doktor, ein Prophet oder Wahrsager zu sein, steht zusammen mit der eigentlichen Beweislage im Mittelpunkt der rabbinischen Debatte um die subiecta agentia, um die berufliche Qualifikation. 12 Das antike Judentum hat sich mit der Magie in aller Breite auseinandergesetzt. In den rabbinischen Schulen der ersten Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung kam es zu einer äußerst intensiven Diskussion über die Benennung verbotener Bräuche, Berufe und Glaubenssätze. Ausgangspunkt dieser halachischen Debatte war der Text der Bibel, so wie er für gewöhnlich und traditionellerweise gelehrt und gelernt wurde. Für die moderne Forschung stellt diese Prämisse des rabbinischen Judentums auch das erste methodische Hindernis dar: Schließlich ist nicht ohne weiteres festzustellen, wo genau die Grenzen zwischen Exegese und historischer Aktualisierung, zwischen empirischen Fakten und rechtlichen Präzedenzfällen (maase) gezogen wurden oder was lediglich aus dem Text der Bibel hermeneutisch abgeleitet und was aus der Erfahrung übernommen wurde. Die rabbinische Halacha pendelt zwischen Bibel und Geschichte, zwischen Rhetorik und Erfahrung hin und her. Was wir den rabbinischen Texten abgewinnen können, hat mit den tatsächlichen Bedingungen jener Zeit womöglich nicht das mindeste zu tun, doch kann andererseits nicht einfach vorausgesetzt werden, hierbei sei es lediglich um eine akademische Übung gegangen. Nur wenn man mit methodischem Zweifel an die rabbinische Literatur herangeht, sind deren Aussagen als historische Tatsachen zu gebrauchen.
11
Piaton, Gesetze, übers, u. erl. v. Otto Apelt, Bd. 2, Buch 7-12, Leipzig 1916, S. 470.
12
Dieses Kriterium spielt eine große Rolle - man vergleiche nur etwa die Diskussion um den offiziellen meturgeman in Babylonischer Talmud, Qiddushin 49a sowie mein Buch Eine Tora für den König Talmai. Untersuchungen zum Übersetzungsverständnis Literatur, Tübingen 1994, S. 210 f.
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in der jüdisch-hellenistischen
und
rabbinischen
D E R M A G I E R IM A N T I K E N J U D E N T U M
Wenn wir uns der Magie als Dokument des Rechts zuwenden, sollte ein zweiter, komplementärer Aspekt nicht unberücksichtigt bleiben: Weil die Rabbinen keine Exekutivgewalt mehr hatten, waren die Urteilssprüche ihrer Gerichte, so es denn überhaupt zu solchen kam, potentiell wirkungslos. In der griechisch-römischen und rabbinischen Gesetzgebung begegnete man der Magie hauptsächlich mit dem Strafrecht und dabei mit Strafen, die vorsätzlichem Mord entsprachen. Es ist legitim, ja unvermeidlich, sich darüber zu wundern, wie die Rabbinen ihre Machtlosigkeit beim Vollzug eines Urteilsspruchs 13 mit dem »künstlichen« Nimbus rechtlicher Unabhängigkeit versöhnen konnten, den sie unter Nichtbeachtung der wirklichen Situation nach außen kommunizierten. 1.1 Magi u n d »Amoriter« Bei der Auseinandersetzung mit dem rabbinischen Begriff des Magiers geraten wir in eine terminologische Schwierigkeit. 14 Der Babylonische Talmud, dessen letzte Redaktion nicht früher als im 5. Jahrhundert n. Chr. stattfand, ist die einzige rabbinische Quelle, die die Magi mit einer Klasse persischer Priester identifiziert und sie bei ihrem eigentlichen Namen zu nennen weiß: magushta oder magush/a. Die babylonischen Lehrer kannten ihre Funktion: Laut Talmud Bavli, Sota 22a ist ein Tanna einem magush ähnlich, weil beide mnemotechnisch repetieren, was sie nicht wirklich verstehen (raten magusha we-la yada' ma'y amar tane tanna we-la yada' ma'y amar).15 Ebenso kannten die babylonischen Lehrer ihre Haupttätigkeit: Der Talmud Bavli, Shabbat 75 a identifiziert den Magus in einer halachischen Diskussion mit dem Astrologen, um damit entscheiden zu können, ob das Tun des Magus als »Zauberei« oder aber als »Gotteslästerei« betrachtet werden soll. 13
Dies ist freilich eine vexata quaestio. Zur Behauptung des Origenes, Epistula ad Africanum 20, zu rabbinischer Zeit sei es zu einigen geheimen Verhandlungen mit Todesurteil gekommen vgl. Martin Jacobs, Die Institution des jüdischen
Patriarchen. Eine quellen- und traditionskritische
Studie zur
Geschichte der Juden in der Spätantike, Tübingen 1995, S. 248-251. 14
Bei den folgenden Bemerkungen zu den Magi in rabbinischen und römischen Quellen stütze ich mich - nicht selten wortwörtlich - auf mein Buch Magie und Halakha sowie meine folgenden Beiträge: »The Rabbis and Pliny the Eider. Jewish and Greco-Roman Attitudes to Magic and Empirical Knowledge«, in: Poetics Today 19 (1998), S. 63-89; »The >Other< Physicians. The >Amorites< of the Rabbis and the Magi of Pliny«, in: Koroth 13 (1998-99), S. 37-54; »On the Influence of >Greek Wisdom