Zwischenbilanzen: Thüringen und seine Nachbarn nach 20 Jahren 9783412215705, 9783412209469


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Zwischenbilanzen: Thüringen und seine Nachbarn nach 20 Jahren
 9783412215705, 9783412209469

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Zwischenbilanzen

Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg

Herausgegeben von Hans-Joachim Veen Volkhard Knigge Torsten Oppelland in Verbindung mit Jorge Semprún † Bernhard Vogel Hans-Peter Schwarz Eckhard Jesse Gilbert Merlio Ehrhart Neubert Lutz Niethammer Mária Schmidt Karl Schmitt Robert Traba

Zwischenbilanzen Thüringen und seine Nachbarn nach 20 Jahren

Herausgegeben von Hans-Joachim Veen

Redaktion: Daniela Frölich

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gefördert durch das Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: ullstein bild – Momentphoto/Oliver Killig

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: General Druck, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20946-9

Inhalt

Hans-Joachim Veen Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Bildungsgedächtnis & Aufarbeitung Klaus Manger Herzland deutscher Kultur? Thüringen und Weimar im europäischen Bildungs­gedächtnis − Mit einem Plädoyer für Rekultivierung . . . . . . . . . . . 15 Volkhard Knigge Die Umgestaltung der DDR-Gedenkstätten nach 1990. Ein Erfahrungsbericht am Beispiel Buchenwalds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Peter Maser Der lange Weg in die Andreasstraße. Anmerkungen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen . . . . . . . 53 Föderalismus & Politische Kultur Heinrich Oberreuter Die Rolle der »neuen« und »alten« Länder im deutschen Bundesstaat . . . . 77 Karl Schmitt Thüringen im Wandel politischer Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Peter März Zwischen Pizza und Klößen. Die eigenwillige bayerische Staatlichkeit zwischen lateinisch-mediterraner und protestantisch-teutonisch mitteldeutscher Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

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Inhalt

Inhalt

Wirtschaftsentwicklung & demografischer Wandel Matthias Machnig Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Norbert Schremb Erfolgreicher Aufbau: Der Wirtschaftsstandort Thüringen aus mittelständischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Marion Eich-Born Demografischer Wandel als Chance für Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ulrich Blum Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen: Entwicklungsstrategien für die neuen Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Peter Frey Greentech – Chance für Mitteldeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Chancen für ein Europa der Regionen Roland Sturm Chancen für ein Europa der Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Eugenie Trützschler von Falkenstein Zur Rolle der Euroregionen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Johannes Beermann Ein sächsischer Blick auf die Chancen für ein Europa der Regionen . . . . . 235 Podiumsdiskussion der Referenten Chancen für ein Europa der Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Hans-Joachim Veen

Einführung

Das 10. Internationale Symposium der Stiftung Ettersberg fand im Oktober 2011 in Weimar statt und war dem Freistaat Thüringen und seinen Nachbarn gewidmet. Gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern, der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, wollten wir einen Beitrag zur Bilanzierung des Wiederaufbaus Thüringens nach mehr als zwei Jahrzehnten leisten und untersuchen, wohin sich Thüringen entwickelt hat und vor welchen Herausforderungen es zukünftig steht. Der vorliegende Band dokumentiert zahlreiche Beiträge dieses Symposiums und konnte um weitere Themen ergänzt werden, für die in dem knappen zeitlichen Rahmen der Tagung kein Raum gewesen war. Angesichts der nach der Wiedervereinigung vorgefundenen Thüringer Gedenkstättenlandschaft, die vom »antifaschistischen« Buchenwald dominiert wurde, kam der grundlegenden Umgestaltung der prominenten DDRGedenkstätte nach 1990 zentrale Bedeutung zu. Dazu gehörte u. a. ihre Ausdifferenzierung in das nationalsozialistische Konzentrationslager, das mit Vorrang historisch angemessen dargestellt werden musste, und das sowjetische Internierungslager, das Speziallager Nr. 2, das zu DDR-Zeiten gänzlich tabuisiert worden war. Hierzu konnten wir von Volkhard Knigge, dem langjährigen Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und MittelbauDora, einen vorzüglich informierenden Beitrag von 2006 über diesen schwierigen Umgestaltungsprozess in geringfügig gekürzter Form nachdrucken. Ergänzt wird dieser Beitrag zur Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen durch einen aktualisierenden Aufsatz von Peter Maser, der das letzte Jahrzehnt der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur in Thüringen am Beispiel der künftigen Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, einer ehemaligen MfS-Untersuchungshaftanstalt in Erfurt, detailliert und kritisch in den Blick nimmt. Marion Eich-Born, die als Staatssekretärin den Abendempfang einleitete, hat diese Einleitung auf unsere Bitte hin zu einem eigenständigen Beitrag über den demografischen Wandel in Thüringen ausgebaut und damit eine wesentliche Entwicklungsdeterminante des Freistaats »als Chance« präzisiert. Peter März hat die Betrachtung der Nachbarn Thüringens um den eigenwilligen bayerischen Nachbarstaat pointenreich ergänzt und Eugenie

8 Einführung von Trützschler schließlich mit der angrenzenden Euregio Egrensis beispielhaft die Rolle der Euroregionen in Europa beleuchtet. Im Folgenden geht es also vor allem um den facettenreichen Ist-Zustand eines jungen Bundeslandes, um sein Selbstverständnis und seine kulturhistorische Bedeutung in Deutschland und für seine deutschen und europäischen Nachbarn. Dabei werfen wir auch Seitenblicke auf unsere mitteldeutschen und südlichen Nachbarn Sachsen und Bayern und fragen – die Perspektive europäisch erweiternd – nach den Chancen für ein Europa der Regionen. Der rühmenden Metaphern gibt es viele: »Grünes Herz Deutschlands«, »Zentrum deutscher und europäischer Kultur«, »Kernland der Reformation«, »Land der Residenzen«, »Denkfabrik«, »Talentschuppen schlechthin«, »Geburtsstätte des Bauhauses«, auch wenn diese kaum vier Jahre währte, und speziell mit Blick auf Weimar: »Wiege der deutschen Klassik«, aber auch der Barbarei von Buchenwald in Hitlers »Mustergau«. Über Jahrhunderte galt Thüringen schließlich als »Musterland der Kleinstaaterei«, was den Berliner Historiker Heinrich von Treitschke 1882 zu dem harschen Urteil über Thüringen führte: »Fast alle anderen Stämme nahmen doch irgend einmal einen Anlauf nach dem Ziele politischer Macht, die Thüringer niemals. Unsere Kultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts.«1 Aber bei aller Kleinstaaterei mit zeitweise bis zu 30 staatlichen Territorien, wie Steffen Raßloff in seiner Geschichte Thüringens weiß�2, bestand doch über die Jahrhunderte hinweg eine eigentümliche landsmannschaftliche Verbundenheit, die sich auf das Königreich der Thüringer im 6. Jahrhundert und auf die glanzvolle ludowingische Landgrafschaft Thüringens im 12. und 13. Jahrhundert berufen konnte. Erst im 19. Jahrhundert gab es ernsthafte Bestrebungen für eine Einigung Thüringens, die dann im 20. Jahrhundert in drei Anläufen verwirklicht werden konnte. In der Weimarer Republik wurde 1920 aus sieben ehemaligen Herzog- und Fürstentümern der Freistaat Thüringen mit der Hauptstadt Weimar gebildet. Keine 13 Jahre später, am 14. Februar 1933, vertagte sich der VI. Thüringer Landtag »auf unbestimmte Zeit«. Thüringens Staatlichkeit endete 1933 mit der Gleichschaltung der Länder im Dritten Reich. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebte der Freistaat für kurze Zeit wieder auf, 1945 wurde er in der SBZ noch um die ehemals preußischen Gebiete mit Erfurt erweitert, das 1948 Hauptstadt wurde. Doch hatte auch dieses Thüringen, wie schon erwähnt, nur ein kurzes Leben. Bereits 1952 1 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Zweiter Teil, Bis zu den Karlsbader Beschlüssen, 7. Aufl., Leipzig 1912 (zuerst 1882), S. 395. 2 Vgl. Steffen Raßloff: Geschichte Thüringens, München 2010.

Einführung

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wurde es im Zuge der Einführung des demokratischen Zentralismus in der DDR faktisch wieder aufgelöst und in die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl aufgeteilt. Mit der deutschen Wiedervereinigung stand Thüringen am 3. Oktober 1990 schließlich zum dritten Mal im kurzen, aber wechselvollen 20. Jahrhundert vor der Aufgabe, sich neu zu gründen, zu finden, sich selbst zu bestimmen und sich in die Bundesrepublik und seine europäische Nachbarschaft einzufügen. Staatliche Selbstfindung und Entwicklung ist eine komplexe Aufgabe. Karl Schlögel hat diese Selbstfindung in der ihm eigenen prägnanten Lyrik formuliert: »Es meint: Sich Innewerden, zum Verständnis der eigenen Gewordenheit gelangen, leben können ohne Fremdidentifikationen und ohne Zwangsidentifizierungen; es bedeutet der eigenen Geschichte innewerden und sie als die eigene erkennen und anerkennen, sich mit ihr aussöhnen, wenn schon nicht sich in sie zu schicken. Es bedeutet: Herausfinden, was man sich selbst zumuten kann, was man sich selber zutraut – und dies immer in Auseinandersetzung mit anderen, die einen umgeben. Es ist Verzicht auf Eskapismus, auf Alleingänge. Man findet sich nicht auf Kosten von anderen. Sich selbst finden ist das Gegenteil von Flucht nach vorn. Es ist etwas, wozu man Gelassenheit braucht.«3

Diese Gelassenheit und dieses Selbstvertrauen hat das Land zu Beginn der 1990er Jahre offenbar gefunden und eine der ersten Herausforderungen, die sich für die neuen Bundesländer nach der Einheit stellten, gut bewältigt: die Verfassunggebung. Der Prozess der staatlichen Selbstfindung ist rechtlich in eine Landesverfassung geronnen, die am 16. Oktober 1994 nach einer Volksabstimmung endgültig in Kraft trat. Die Verfassung des Freistaats Thüringen weist Besonderheiten und Eigenprägungen auf, die es verdienen, hervorgehoben zu werden. Zwar ist die Verfassunggebung in den Ländern keine autonome Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt, da die Bundesländer an die übergeordneten Grundsätze der Verfassung der Bundesrepublik, das Grundgesetz, gebunden sind. Dieses gibt in Artikel 28 (1) vor, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Bundesländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen muss. Damit soll das notwendige Mindestmaß an verfassungsrechtlicher Homogenität in den Verfassungsordnungen von 3 Karl Schlögel: Die ostmitteleuropäischen Völker und Deutschland zwischen nationaler Selbstfindung und europäischer Integration, in: Christine Lieberknecht (Hg.): Orientierung im Umbruch. Analysen zur Lage Deutschlands seit 1990, Rudolstadt/Jena 1999, S. 422.

10 Einführung Bund und Ländern sichergestellt werden. Gleichwohl haben die »Mütter und Väter« der Thüringer Verfassung eine Reihe eigener Akzente gesetzt. Das beginnt bereits mit der Präambel, die fast schwärmerisch akzentuiert ist: »In dem Bewusstsein des kulturellen Reichtums und der Schönheit des Landes, seiner wechselvollen Geschichte, der leidvollen Erfahrungen mit überstandenen Diktaturen und des Erfolges der friedlichen Veränderungen im Herbst 1989, in dem Willen, Freiheit und Würde des Einzelnen zu achten, das Gemeinschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu ordnen, Natur und Umwelt zu bewahren und zu schützen, der Verantwortung für zukünftige Generationen gerecht zu werden, inneren wie äußeren Frieden zu fördern, die demokratisch verfasste Rechtsordnung zu erhalten und Trennendes in Europa und der Welt zu überwinden, gibt sich das Volk des Freistaats Thüringen in freier Selbstbestimmung und auch in Verantwortung vor Gott diese Verfassung.«

Weiterhin ist die Thüringer Verfassung »durch eine Reihe zukunftsweisender politischer Festlegungen geprägt, die auch heute […] von besonderer Innovationskraft zeugen«, so resümieren die Freiburger Öffentlichrechtler Thomas Würtenberger und Patricia Wiater ihre Analyse der Thüringer Verfassung.4 Zukunftsweisend und innovativ sind in der Tat eine Reihe von Staatszielbestimmungen und Verfassungsaufträgen, die sich im ersten Abschnitt der Verfassung mehrfach um die Ausgestaltung der Grundrechte ranken und diese anreichern. So wird im Artikel 9 das Recht auf Mitgestaltung des politischen Lebens im Freistaat bekräftigt und ausdrücklich auf Parteien und Bürgerbewegungen hin akzentuiert, was sicherlich nicht nur als eine besondere Würdigung der Bürgerbewegungen in der Friedlichen Revolution zu verstehen ist. Im Artikel 12 wird die Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger durch öffentlich-rechtlichen Rundfunk gewährleistet und durch »Ausgewogenheit der Verbreitungsmöglichkeiten zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Veranstaltern« einer zunehmenden Dominanz der Privaten ein Riegel vorgeschoben. Auch das Petitionsrecht ist in der Thüringer Landesverfassung präziser als im Grundgesetz geregelt, indem ein »Anspruch auf begründeten Bescheid in angemessener Frist« festgelegt wird, eine Regelung, die die Akzeptanz staatlicher Entscheidungen fördern und die Funktion der politischen Integration verbessern kann. Im Artikel 20 schließlich wird nicht nur das Recht eines jeden Menschen auf Bildung und der freie Zugang zu den Bildungseinrichtungen gewährleistet, es wird auch ausdrück4 Vgl. Thomas Würtenberger/Patricia Wiater: Grundzüge der Thüringer Verfassung, in: Karl Schmitt (Hg.): Thüringen. Eine politische Landeskunde, 2. Aufl., Baden-Baden 2011, S. 49 ff.

Einführung

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lich betont, »begabte, behinderte und sozial benachteiligte sind besonders zu fördern.« Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen, mithin ein anthropologisch akzentuierter Umweltschutz, ist ein wichtiger Zweig, dem im bunten Bouquet der Staatsziele ein eigener Abschnitt gewidmet wird. Einerseits werden darin der Schutz des Naturhaushaltes, der Artenschutz, der Bodenschutz, der Ausgleich von Umweltschäden, der sparsame Umgang mit Naturgütern und Energien sowie eine umweltgerechte Energieversorgung postuliert, auf der anderen Seite wird aber auch angemahnt, dass die von Menschen verursachten Umweltschäden zu beseitigen oder auszugleichen seien. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch der Tierschutz Aufnahme in die Verfassung gefunden hat. Mit Blick auf das Wirtschaftsleben werden die Grundsätze einer »sozialen und der Ökologie verpflichteten Marktwirtschaft« im Artikel 38 festgeschrieben. Darüber hinaus bekräftigt der Freistaat seine ständige Aufgabe, »jedem die Möglichkeit zu schaffen, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte und dauerhafte Arbeit zu verdienen« (Artikel 36). Die Freiheit der Kunst, Wissenschaft und Forschung wird nicht nur garantiert (Artikel 27); darüber hinaus wird betont, dass Kultur, Kunst und Brauchtum, aber auch Denkmäler der Kultur und der Geschichte den Schutz und die Förderung des Landes genießen. Allerdings gilt für alle in der Thüringer Verfassung niedergelegten Staatsziele einschränkend, dass es zwar die Pflicht des Freistaates ist, »nach seinen Kräften und im Rahmen seiner Zuständigkeiten« ihre Verwirklichung »anzustreben und sein Handeln danach auszurichten«, so der Artikel 43, aber einklagbare individuelle Rechte resultieren daraus nicht. Demzufolge können, und das macht die Ambivalenz der durchweg anspruchsvollen Staatszielbestimmungen aus, beim Bürger durch die Landesverfassung politische Hoffnungen geweckt werden, deren Erfüllung der Politik zwar aufgegeben ist, sich aber teilweise bereits der Länderkompetenz entzieht, weil sie in die übergeordnete Zuständigkeit des Bundes fallen, der in seinen Staatszielbestimmungen im Grundgesetz deutlich zurückhaltender ist. So bleibt die Thüringer Verfassung als eine hochgradig politisch-programmatische zu würdigen, die ambitioniert neue Herausforderungen des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen, der Nachhaltigkeit und der erweiterten politischen Partizipation in den Blick nimmt und dem politischen Handeln Zukunftsperspektiven gibt. Der Landesverfassunggeber hat seine Spielräume mutig und phantasievoll genutzt und einen ambitionierten Rahmen für die Entwicklung des politischen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Lebens in Thüringen geschaffen.

12 Einführung Wie dieser Verfassungsrahmen ausgefüllt wird von der Politik, den Parteien, der Wirtschaft, den Kultureinrichtungen und wie die Einbettung in den deutschen Föderalismus und in die europäische Nachbarschaft gelungen ist, wird in den folgenden Beiträgen präsentiert.

Klaus Manger

Herzland deutscher Kultur? Thüringen und Weimar im europäischen Bildungs­ gedächtnis − Mit einem Plädoyer für Rekultivierung

Es musste im Mittelalter erst die ältere Stammesgliederung in Deutschland zerbrechen, bevor in der künftigen Vielfalt von Landesherrschaften und Territorien der mittelhochdeutsche Dichter Ebernand von Erfurt zu Beginn des 13. Jahrhunderts nicht ohne Stolz betonen konnte, er sei ein »Durenc«.1 Er war ein Thüringer, der auch schon den Anspruch erhob, thüringisch zu sprechen. Für einen Außenstehenden wie den englischen Franziskaner Bartholomäus Anglicus war Thüringen um die Mitte jenes 13. Jahrhunderts ein »Land fast überall von Gebirgen umgeben und geschützt, im Inneren aber eben, außerordentlich fruchtbar, der Weinberge nicht entbehrend, mit vielen Städten, starken Burgen […] durch Flüsse, Teiche und Seen gut bewässert, von sehr gesunder Luft, mit üppigsten Weiden, voll von Viehherden, und in seinen Bergen werden Edelsteine und Metalle gefunden.«2

Nur eben leider nicht genug. Wir wissen, wie diese naturräumliche Einheit immer wieder politisch zerrissen wurde, seit die »Toringi« im Jahre 531 durch ihre Niederlage gegen die Franken ihre politische Eigenständigkeit verloren. Auch das von Bonifatius für Thüringen gegründete Bistum Erfurt konnte nicht auf Dauer zu einer Eigenständigkeit beitragen, weil es schon bald in der Diözese Mainz aufging. Bis zur Reformation bildete so Mainz das geistliche Zentrum, und schon nach dem Aussterben der Ludowinger 1247 wurde die Landgrafschaft der in Meißen, Torgau und Dresden wurzelnden Dynastie weltliche Kraft. Somit halten wir als Merkmal fest: Thüringen hatte keine politische Mitte. Das 1 Vgl. Matthias Werner: »Ich bin ein Durenc«. Vom Umgang mit der eigenen Geschichte im mittelalterlichen Thüringen. Antrittsvorlesung an der FriedrichSchiller-Universität Jena am 30. November 1993, in: Philosophische Fakultät: Antrittsvorlesungen I, Jenaer Universitätsreden 2, Jena 1997, S. 67–91, hier S. 75. 2 Ebenda.

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Klaus Manger

musste so noch kein Nachteil sein. Dieses Land der Territorien, Residenzen, Städte entfaltete eine eigene Wirksamkeit aus den Städten, Erfurt voran, sowie aus den Residenzen heraus. Dass hierunter Weimar eine Sonderrolle zukam – ich sollte sagen: zukommt, denn schließlich gilt es unser heutiges europäisches Bildungs­gedächtnis mitzubedenken –, steht außer Frage. Doch Weimars Sonderrolle will ich einen Moment noch zurückstellen. Zuvor ist nämlich eine andere Frage drängend: Was heißt »Herzland deutscher Kultur«? Vermeiden sollte man Assoziationen an das »grüne Herz«, das sich, wie der Anlass für den Spatenstich zum Gauforum und zur Errichtung eines Konzentrationslagers in Thüringen3 zeigt, schon seit 1926 in ein braunes Herz zu wandeln begonnen hatte, da 1936 die NSDAP bereits auf ihr 10-jähriges Bestehen in Thüringen zurückblicken konnte. Was also heißt »Herzland«? Thüringen hatte nicht nur, sondern es war auch trotz der episodischen Weimarer Republik keine politische Mitte. Wir müssen einen kleinen Umweg nehmen, um das verhältnismäßig junge, noch nicht im Grimmschen Wörterbuch auffindbare Wort vom Herzland zu verstehen. Der bukowinische Dichter Alfred Margul-Sperber (1898–1967) schreibt ein bestürzend beschauliches Gedicht in gereimten vierversigen Strophen »Auf den Namen eines Vernichtungslagers«4: Daß es bei Weimar liegt, vergaß ich lang. Ich weiß nur: man hat Menschen dort verbrannt. Für mich hat dieser Ort besondern Klang, Denn meine Heimat heißt: das Buchenland.

Zu den von Margul-Sperber geförderten Dichtern gehört der 22 Jahre jüngere Landsmann Paul Celan (1920–1970), dessen Wirklichkeitsschrecken sich in einer neuen, von der Tradition absetzenden, sie vielfach widerrufenden Poetik niederschlägt. Inmitten der Vernichtung des osteuropäischen Judentums, die ihm die Mutter, den Vater, Verwandte, Freunde raubte, wird er zum Dichter, setzt auf das Wort. Und dieses Gedicht gewordene Wort setzt er – mit einem u. a. bei Ossip Mandelstamm gefundenen Bild − als »Flaschenpost« aus, in der Hoffnung, dass diese Flaschenpost an Land, wörtlich »an Herzland viel3 Vgl. Jens Schley: Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937–1945, Köln/Weimar/Wien 1999; Gedenkstätte Buchenwald (Hg.): Konzentrations­lager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, erstellt von Harry Stein, Göttingen 1999. 4 Marcel Reich-Ranicki u. a. (Hg.): Frankfurter Anthologie, Bd. 7, mit der Interpretation »Das Schöne war des Schrecklichen Anfang« von Peter Horst Neumann, Frankfurt am Main 1983, S. 195–198.

Thüringen und Weimar im europäischen Bildungs­gedächtnis

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leicht«, gespült werde.5 Dieses »Herzland«, so Celan in seiner Dankesrede für den Bremer Literaturpreis 1958, ist das ansprechbare Du. Darum geht es, um einen aufnahmebereiten Ort der Begegnung, wo ein Gespräch entstehen kann. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), der die Schwierigkeiten eines solchen Gesprächs über konfessionelle, politische, territoriale Grenzen hinweg im »Nathan« veranschaulicht, wo in Jerusalem Christentum, Judentum und Islam aufeinandertreffen, hat mit seinem Verständnis von einer »Sprache des Herzens«6 den Grund für das Jahrhundert der Aufklärung und, wie zu wünschen ist, für die Makroepoche der Moderne gelegt. »Wer mit unserm Herzen sprechen und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muß ebensowohl Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu belehren denkt.«7 Stellvertretend für die großen Weimarer Autoren gibt uns Friedrich Schiller (1759–1805) den »Schlüssel« an die Hand, der uns zugleich auch die großen Zeitgenossen in der Folge Lessings aufschließt: »Willst du die andern versteh’n, blick in dein eigenes Herz.«8 Jene Sprache des Herzens bildet eine, wenn nicht die Voraussetzung für das »Herzland«, von dem aus wir auf die Traditionen deutscher Kultur blicken, soweit sie mit Thüringen und Weimar im europäischen Bildungsgedächtnis verankert sind. Das Herzland ist ein Resultat anthropologischer Zentrierung. Das verlangt freilich nach einer kleinen methodischen Delikatesse, die uns nochmals auf Schiller verweist. Der Universalhistoriker eröffnet seine Jenaer Uni-Laufbahn9 mit einer methodischen Überlegung, die uns, denke ich, ganz schnell überzeugt. Der Universalhistoriker blickt einerseits auf einen Gänsemarsch von nationalen, regionalen Einzelgeschichten – speziell für Thüringen gewissermaßen vom Urthüringer in Bilzingsleben herauf bis zum Laser5 Paul Celan: Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen [26. Januar 1958], in: ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt am Main 1983, Bd. 3, S. 185 f. 6 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 20. Stück: Den 7. Julius 1767, in: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in fünfundzwanzig Teilen, hrsg. von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen, Bd. 5, Berlin u. a. [1925], S. 99. 7 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 27. Stück, in: Lessings Werke, a. a. O., Bd. 5, S. 128. 8 Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe [NA], Bd. 2 I, hrsg. von Norbert Oellers, Weimar 1983, S. 320. 9 Ders.: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, in ders.: Werke. Nationalausgabe, Bd. 17, a. a. O., S. 359–276.

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Physiker in Jena oder zum Experten für Virtual Reality in Ilmenau. Anderseits hat er es neben diesem diachronen Längsschnitt mit einem Patchwork von nationalen und regionalen Einzelgeschichten zu tun, also mit einem synchronen Ensemble. Es grenzt immer wieder an die Quadratur des Zirkels, genealogische und systematische Aspekte unter einen Hut zu bringen. Schiller macht eine Anleihe bei seinen universalhistorischen Kollegen Johann Christoph Gatterer und August Ludwig von Schlözer, aber auch bei Kant, und sagt, man müsse dieses Aggregat von heterogenen (dia- und synchronen) Einzelteilen zum System erheben,10 also daraus gewissermaßen ein Bild gewinnen. Dichterisch veranlagt, wie er auch als Historiker ist, überrascht er uns mit der Projektion: »in den Wellen des Rheins spiegeln sich Asiens Reben.«11 Das kennzeichnet die menschliche und da besonders die künstlerische Wahrnehmung, selbst das Fernste zusammenzudenken. Das gibt uns den Schlüssel an die Hand, jetzt nicht in Längs- oder Querschnitten verfahren zu müssen. Vielmehr können wir uns wie in einem Kristallgitter bestimmte, relevante Symmetriezentren aussuchen und diese als besondere Höhepunkte thüringischer und europäischer Geschichte markieren. Denn allein eine Geschichte der Literatur in Thüringen würde das Format eines Beitrags bei weitem überfordern. Ich möchte deshalb drei markante Punkte herausgreifen, die ihrerseits veranschaulichen, dass es sich dabei zugleich um in Thüringen gelegene europäische Kristallisationskerne handelt. Ein erster Kristallisationskern ist zu umschreiben mit den Stichworten Heinrich von Ofterdingen, Elisabeth und Meister Eckhart, mit dem wir in das lange 13. Jahrhundert blicken. Mit dem zweiten Kristallisationskern berühren wir die in Weimar gegründete Fruchtbringende Gesellschaft und das Musikland Thüringen im 17. Jahrhundert. Und der dritte Kristallisationskern führt uns vor Augen, dass, was sich in Weimar und Jena ausgangs des 18. Jahrhunderts entwickelt, zugleich beispielsweise Dalbergzeit ist und heute nicht nur aus dem europäischen, sondern wohl auch globalen Bildungsgedächtnis nicht mehr wegzudenken ist. Je näher wir an unsere eigene Gegenwart heranrücken, desto differenzierter fallen unsere, seit dem 19. Jahrhundert bereits durch Fotografien unterstützten Wahrnehmungen aus. Anders gesagt: Die Bilder und Zeugnisse häufen sich. Deshalb fällt es schwer, aus Weimars silbernem Alter und dem Europäer Franz Liszt oder Friedrich Nietzsche oder Henry van de Velde und Walter Gropius mit dem Bauhaus, zwischen der Weimarer Malerschule, Harry Graf Keßler oder der Erfurter Expressionistensammlung von Alfred 10 Ebenda, S. 373. 11 Ebenda, S. 365.

Thüringen und Weimar im europäischen Bildungs­gedächtnis

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Hess oder aus Zeiss, Schott und Abbe in Jena einen weiteren Kristallisationskern zu bilden. Deshalb belasse ich es bei den genannten Drei. Vornehmlich werden wir durch alle diese Beobachtungen in den europäischen Raum und darüber hinaus gewiesen. Jede historische oder geographische Isolation wäre problematisch. Hinzuzudenken sind die 1392 in Erfurt und 1558 in Jena gegründeten Universitäten, die 1754 gegründete Akademie nützlicher, heute gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, daneben die Hospital- und Klosterkultur sowie die auf verhältnismäßig engem Raum miteinander rivalisierende Residenzkultur, diese sogar in besonderem Maße (auch wenn wir uns hier mehrenteils unter Mindermächtigen bewegen), weil Residenzen wie Universitäten Musensitze sind, die über Künstler und Hofhandwerker verfügen, wo die Musen, die Künste und Wissenschaften beheimatet sind, Architektur, Malerei, Bildhauerei, Musik und dergleichen, speziell die Kirchenmusik nicht zu vergessen. Im ersten Kristallisationskern begegnen sich Mythos und Historie etwa um jene Zeit, da Ebernand von Erfurt erstmals so etwas wie eine Thüringer Identität zu erkennen gab, da er betonte, er sei ein »Durenc«. Um 1260 berichtet das mittelhochdeutsche Gedicht vom Sängerkrieg auf der Wartburg, der von Heinrich von Ofterdingen, zeitweise vermeintlicher Verfasser des ›Nibelungenliedes‹, in der Romantik Romanheld des Novalis, ausgelöst worden sei. Sein Preislied auf den Herzog Leopold von Österreich wird allerdings vom Lob Walthers von der Vogelweide oder Wolframs von Eschenbach auf Landgraf Hermann von Thüringen überboten. Doch bedarf es eines Schiedsrichters, als den man Meister Klingsor aus Ungarland beruft. Johannes Rothe gewinnt um 1420 aus den Erzählungen, zu denen auch die Lebensbeschreibung Dietrichs von Apolda gehört, eine bemerkenswerte Motivverknüpfung, indem er Klingsor, den Ungarn, in Eisenach die Geburt der ungarischen Prinzessin Elisabeth und ihre künftige thüringische Landesherrschaft vorhersagen lässt. Daher rührt die Datierung des Sängerwettstreits auf das Jahr 1206, ein Jahr vor Elisabeths Geburt (1207–1231). Soweit ist das alles Legende. Aber mit der Historie der bereits fünf Jahre nach ihrem Tod heiliggesprochenen Elisabeth von Thüringen, die ihre europäische Verbreitung als Schutzpatronin des Deutschen Ordens gefunden hat, betreten wir historischen Boden, der uns eine sympathische, jugendliche, von selbstloser Nächstenliebe gekennzeichnete Frau vor Augen führt, deren kirchliche und künstlerische Rezeption ihr Gedächtnis in Europa lebendig erhalten hat. Das Oratorium des gleichfalls ungarischen Europäers Franz Liszt, »Die Legende von der Heiligen Elisabeth« (1862), zu den Bildern von Moritz von Schwind auf der Wartburg legt davon beredtes Zeugnis ab. Zudem ist uns die opulente Landesausstellung von 2007 in bester Erinne-

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rung, die gleichfalls das europäische Profil der Wahlthüringerin nachgezeichnet hat. Die thüringische Mythenwelt böte reichlich weitere Anknüpfungspunkte, die von der Wartburg und der Venuswelt der Hörselberge gleichfalls aus dem Hochmittelalter in die spätromantische Rezeption etwa in des Liszt-Schwiegersohnes Richard Wagner »Tannhäuser« (1845) führte, der diesen wie Heinrich von Ofterdingen urkundlich nicht belegten Minnesänger mit dem Sängerkrieg auf der Wartburg kombiniert. Wenn man bedenkt, wie im 19. Jahrhundert die Architekturzitate der Wartburg in der Wohnkultur des Bürgertums Aufnahme fanden, wie Opern und die Salonmalerei von überbordenden Sagen- und Legendenstoffen spätromantischer Provenienz nur so wimmelten, so kann man den Kulturschock vielleicht besser einschätzen, der sich im 20. Jahrhundert dadurch einstellte, dass sich beispielsweise das Bauhaus aller historistischen Dekoration entledigte und auf funktionsbetontes Bauen setzte oder dass Kasimir Malewitsch mit seinem »Schwarzen Quadrat auf weißem Grund« (1913)12 die völlige Gegenstandslosigkeit propagierte, indem er wie auf einer Schiefertafel alles Bildhafte wegwischte. Aber auch wir wollen ja weniger in den Geschichten als in der Geschichte uns umsehen, die wir mit der von Ungarn nach Thüringen gekommenen Elisabeth bereits als Europäerin aufgespürt haben. Die andere europäische Lichtgestalt dieses 13. Jahrhunderts ist der aus Tambach bei Gotha stammende Eckhart von Hochheim (vor 1260 – ca. 1328), dessen Dominikanerkarriere ihn von Erfurt wiederholt nach Paris, 1303 zum ersten Provinzial der neuen Provinz Saxonia, nach Frankreich, Italien, zuletzt als Häretiker verschrien, wohl an den päpstlichen Hof nach Avignon führte. Seine Spiritualität, wahrscheinlich hat er noch Albertus Magnus in Köln gehört, seine neue Form der Volkssprache führen ihm einen großen Leserkreis seiner Predigten zu, die die wohl weiteste Verbreitung neben dem ohnehin reichen Werk fanden. Für Johannes Tauler war er der »liebwerte Meister«.13 Besonders starke Rezeption erfuhr Meister Eckhart durch Nikolaus von Kues (1401–1464). Mit diesem Nikolaus von Kues gelangen wir in die vorreformatorische Reformphase beispielsweise in Erfurter Klöstern. Das belegt derzeit die Ausstellung des Erfurter Stadtarchivs »Altera Roma – Erfurt und das geistliche

12 Vgl. Wolfram Hogrebe: Beuysianismus. Expressive Strukturen der Moderne, München 2011, S. 68–74. 13 Georg Steer: Eckhart von Hochheim, in: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 3, Gütersloh/München 1989, S. 171– 176, hier S. 174.

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Zentrum der Christenheit im Spätmittelalter«.14 Es ist nützlich, diesen Hintergrund zu kennen, um den Werdegang des Augustinermönchs Martin Luther in Erfurt besser zu verstehen, der mit seiner Bibelübersetzung auf der Wartburg, auch wenn wir sie aller Legendenbildung entkleiden, eine Sprachleistung ersten Ranges vollbrachte. Einhundert Jahre nach dem Reformationsjahr, also 1617, genau am 24. August 1617, nach dem Begräbnis der Herzogin Dorothea Maria von Anhalt in Weimar, wurde hier von Hofmarschall Caspar von Teutleben sowie den Herzögen Johann Ernst, Friedrich und Wilhelm von Sachsen-Weimar, Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen, seinem gleichnamigen Sohn und den Brüdern von Krosigk angeblich die Fruchtbringende Gesellschaft gegründet.15 Angeblich deshalb, weil jenes Begräbnis bereits am 5. August stattfand. Von den angegebenen Anhalter Gründungsmitgliedern war an diesem Tag niemand zugegen. Das Datum wird im Gesellschaftsbuch 1646 erstmals genannt. Der Erzschreinhalter Georg Neumark berichtet 1668, ihm habe Herzog Wilhelm von der Gründung ausführlich erzählt und »darneben gnädigst befohlen«, jenen 24. August 1617 als Gründungsdatum anzugeben.16 Mit dieser im Zeichen des Palmbaums gegründeten Gesellschaft der Fruchtbringer haben wir einen zweiten Kristallisationskern vor uns. Nach italienischem Vorbild ist das eine höfische Sozietät mit Akademiefunktionen und eine politisch motivierte Sammlungsbewegung, die – wenigstens anfangs – vor allem Offizieren Zugang zur höfischen Geselligkeit bot, sie mit dem adligen Tugendkanon und einem über die Sprache vermittelten nationalen Wertesystem vertraut machen sollte, um sie offenkundig auch mental auf den Kampf gegen die kaiserlich-katholische Vorherrschaft auszurichten.17 Das macht das Gründungsjahr einhundert Jahre nach der Reformation so bedeut14 Rudolf Benl: Altera Roma. Erfurt und das geistliche Zentrum der Christenheit im Spätmittelalter. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Erfurt (11. Juli – 28. Oktober 2011), hrsg. von der Landeshauptstadt Erfurt, Erfurt 2011, bes. S. 6–8 sowie S. 50 ff. 15 Georg Schmidt: Die Anfänge der Fruchtbringenden Gesellschaft als politisch motivierte Sammlungsbewegung und höfische Akademie, in: Klaus Manger (Hg.): Die Fruchtbringer – eine Teutschhertzige Gesellschaft, Jenaer Germanistische Forschungen, Neue Folge, Bd. 10, Heidelberg 2001, S. 5–37. 16 Georg Neumark: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum, Nürnberg 1668, ND München 1970, S. 9. Vgl. Georg Schmidt: Die Anfänge der Fruchtbringenden Gesellschaft als politisch motivierte Sammlungsbewegung und höfische Akademie, a. a. O., S. 15–21. Außerdem Michael Ludscheidt: Georg Neumark (1621– 1681). Leben und Werk, Jenaer Germanistische Forschungen, Neue Folge, Bd. 15, Heidelberg 2002, S. 251–307. 17 Georg Schmidt: Die Anfänge der Fruchtbringenden Gesellschaft als politisch motivierte Sammlungsbewegung und höfische Akademie, a. a. O., S. 7 f.

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sam. Für den Tag, das Fest des Apostels Bartholomäus am 24. August, sind, so meine These, die Perikopentexte der Tagesliturgie aussagekräftig, die neben der Lesung aus dem Paulusbrief an die Korinther (1Kor 12, 27–31) die Apostelerwählung nach dem Lukasevangelium (Lk 6, 12–19) vergegenwärtigen.18 Auf der frühesten Darstellung, einem Kupferstich von 1622, sitzen tatsächlich zwölf Mitglieder der Gesellschaft an einem Tisch.19 Das ist genau die Zeit, in der die Tätigkeit der Sozietät greifbar wird, die insgesamt in ihrer Arbeit als eine »Teutschhertzige« Gesellschaft in Erscheinung tritt.20 Jeder »teutsch­ hertzige Gesellschafter« war nach dem Geist kulturpatriotisch gefordert, auf dass man ihn an den Früchten erkennen könne (Mt 7,20). Sprache, Wissenschaft und Künste gehören folglich zur kulturpatriotischen Pflege der Fruchtbringer. Zwar ist schwer begründbar, weshalb Heinrich Posthumus Reuß (1572–1635) erst vergleichsweise spät, 1630, als Nummer 201 in die am Ende knapp 900 Personen umfassende Sozietät aufgenommen worden ist.21 Auch lassen sich keinerlei Hinweise auf konkrete Beziehungen dieses Geraer Fürsten zu jener Gesellschaft finden. Aber zum einen sind sechs der Reußen Mitglieder geworden, und zum anderen rechtfertigt das mustergültige Vorbild des Heinrich Posthumus, dass wir ihn hier als ein herausragendes Beispiel anführen, dessen Frömmigkeit neben seinem praktischen Sinn für Schulwesen, Gewerbeansiedlung, Ordnung der Finanzen, Verwaltung selbst im Überbietungsdrang des Barock einen Höhepunkt des protestantischen Leichenbegängnisses hervorbringt. Dazu muss man wissen, dass Heinrich Schütz (1585−1672) aus Köstritz reußisches Landeskind und mit dem Fürsten in der Neuordnung der Kirchen-, Hof- und Stadtmusik verbunden 18 Klaus Manger: Teutschhertziger Kulturpatriotismus in der Fruchtbringenden Gesellschaft, in: Klaus Manger (Hg.): Die Fruchtbringer, a. a. O., S. 79–104, bes. S. 98–102. 19 ������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Klaus Manger (Hg.): Die Fruchtbringer, a. a. O. Zum Stich von Peter Isselburg vgl. ebenda, S. 25 f., sowie S. 102–104 mit Bezug auf Andreas Herz: »Wältz recht«. Fruchtbringerisches Zeremoniell und sein Hintergrund in einem Stich Peter Isselburgs, in: Ferdinand van Ingen/Christian Juranek (Hg.): Ars et amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998, Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 28, Amsterdam/Atlanta, GA 1998, S. 353–408 und Abb. 1 und 2. 20 Carl Gustav von Hille: Der Teutsche Palmbaum: Das ist / Lobschrift von der Hochlöblichen / Fruchtbringenden Gesellschaft […], Nürnberg 1647, ND München 1970, S. 188. 21 ��������������������������������������������������������������������������� Vgl. Hagen Enke: Heinrich Posthumus Reuß (1572/95–1635) und die Fruchtbringende Gesellschaft, in: Klaus Manger (Hg.): Die Fruchtbringer, a. a. O., S. 39–60.

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ist.22 Heinrich Posthumus Reuß – Posthumus, weil er nach dem Tod seines Vaters geboren wurde − bereitete seine eigenen Begräbnisfeierlichkeiten vor,23 indem er in seinen Planungen verschiedene Elemente gedanklich so verknüpfte, dass liturgische Texte, Predigt, Musik das Leichenbegängnis in ihrer Verknüpfung überhöhten. Dazu kam ein von ihm in Auftrag gegebener kupferner Sarg, der in einer sorgfältigen Ordnung mit biblischen Sprüchen beschriftet und verziert wurde. Dieses vom Fürsten zusammengestellte Spruchprogramm wurde in zeitlicher Nähe zur Beisetzung in der alten Geraer Johanneskirche am 4. Februar 1636 auch gedruckt und bildet die Textgrundlage für das erste deutschsprachige Requiem, das Heinrich Schütz, der erste große unter den vielen nennenswerten Musikern im Land, unter dem Titel »Musicalische Exequien« vertont hat. Der Sarkophag bildet außerdem einen der ersten, wenn nicht den ersten der beschrifteten Sarkophage, soweit wir nach Auskunft des Kasseler Museums für Sepulkralkultur wissen. Und er ist erhalten. Damit haben wir das kostbare Zeugnis, gewissermaßen das Libretto der »Musicalischen Exequien«, in Form eines kupfernen Dachtruhensarges, der in materialer und spiritualer Einheit zugleich jene Beisetzungsfeierlichkeiten von 1636 in textlicher, religiöser, kunsthistorischer, liturgischer, musikalischer Koinzidenz vergegenwärtigt.24 Im Bildungsgedächtnis der Menschen rückt dieses teutschhertzige Monument aufgrund seiner von protestantischer Frömmigkeit zeugenden Schlichtheit und spirituellen Präzision dieses spezifischen Totenkults neben die Pyramiden, Mausoleen und Grabmonumente anderer Kulturen. Ein dritter Kristallisationskern lenkt uns erneut auf Weimar, das als Residenzstadt freilich angesichts der im 18. Jahrhundert immer stärker nach vorn drängenden Naturwissen­schaften auch komplementär zur Universitätsstadt Jena zu sehen ist. Ein Sonderforschungs­bereich, der in Jena von 1998 bis 2010 gearbeitet hat, hieß dementsprechend auch: »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800«. Auf eine zuvor ungekannte Höhe wurde das Herzogtum SachsenWeimar und Eisenach geführt, nachdem die früh verwitwete Herzogin Anna Amalia nach einem Prinzenlehrer vor allem des Erbprinzen Carl August 22 ���������������������������������������������������������������������������� Vgl. Ingeborg Stein: Ausländische Palmfrüchte oder heimischer Roggen? Reußischer Erntesegen gesiebt und gesichtet – Heinrich Posthumus Reuß, Heinrich Schütz und die Fruchtbringer, in: Klaus Manger (Hg.): Die Fruchtbringer, a. a. O., S. 123–154, hier S. 124 f. 23 Heike Karg: Die Sterbens-Erinnerung des Heinrich Posthumus Reuß (1572– 1635). Konzeption seines Leich-Prozesses, Jena 1997. 24 ������������������������������������������������������������������������ Dies.: Das Leichenbegängnis des Heinrich Posthumus Reuß 1636 – Ein Höhepunkt des protestantischen Funus, Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, Bd. 17, Kassel 2010.

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Ausschau gehalten und dafür 1772 Wieland gewonnen hatte. Wieland wechselte von der Universität Erfurt an den Weimarer Hof, wo ihm der Unterricht bis zur Volljährigkeit des Erbprinzen 1775 oblag. Zwei Monate nach dessen Geburtstag und Regierungsantritt kam Anfang November 1775 ­Goethe nach Weimar. Und 1776 folgte Herder. Schiller begann bekanntlich 1789 an der Universität, die heute seinen Namen trägt. Das sind die dürren Daten einer Entwicklung, der kein Masterplan zugrunde lag und die dennoch Resultate zeitigte, die Staunen machen. Die Genannten sind alle bis an ihr Lebensende in Weimar geblieben. Man muss sich das vorstellen: vier Dichter und Schriftsteller, einer von ihnen Theologe, Schiller eigentlich Arzt, dann Universalhistoriker, Wieland und Goethe in besonderem Maße Rechtsdenker und Goethe, abgesehen von seinem politischen Amt, obendrein insbesondere nach seiner italienischen Reise zunehmend Naturforscher, darunter mit einer vierzig Jahre hindurch erarbeiteten, tausendseitigen »Naturlehre« von den Farben, die neben dem sechzig Jahre hindurch gewachsenen »Faust« sein umfänglichstes Werk darstellt. Das alles ist hier nicht auszubreiten. Allein schon ein Blick auf die Quantitäten der riesigen Sammlungen in bildender Kunst, an Handschriften, an Steinen und Mineralien, in Osteologie, technischen Apparaten, Botanik oder Musikalien ließe die Tragweite jener Fragestellungen, Untersuchungen, Beschäftigungen ermessen. Wie hätten eine Fürstin, ein Fürst mehr Ruhm in ihrer Regentschaft versammeln können! War die Gelehrtenkultur zu Anfang des 18. Jahrhunderts noch stark lateinisch geprägt, die politische und Adelskultur französisch, die Musikkultur italienisch, so gab es zu Ende des Jahrhunderts alles auch auf Deutsch. Allerdings war durch den Schlossbrand von 1774, der neben der Hofkirche auch das Hoftheater vernichtet hatte, die Opern- und Theaterentwicklung in Weimar gebremst. Man muss sich veranschaulichen, dass das Herzogtum in seiner großen Zeit über kein räumliches Regierungszentrum verfügte. Das Schloss blieb bis Anfang des 19. Jahrhunderts Ruine. Das lässt auf wenig üppige ökonomische Ressourcen schließen. Man muss sich deshalb bewusst machen, was in Thüringen um 1800, speziell in Sachsen-Weimar, trotz einem gewissen Mangel dennoch gelang. Das meint nicht nur die Heiratspolitik, die zur Verbindung mit der russischen Großfürstin Maria Pawlowna führte, oder die Erhebung zum Großherzogtum 1815. Sondern das meint die aus den geistigen Ressourcen hervorgetriebene kulturelle Blüte, die man als ein Goldenes Zeitalter gefasst hat, zu dem sich die Ära Liszt als ein Silbernes Alter verhielt. Ich will aber gerade weg vom Mythos Weimar.25 Seine Historie 25 Vgl. Peter Merseburger: Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht, Stuttgart 1998.

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ist schon so üppig, dass wir sie nicht noch mythisch verbrämen wollen. Seine Stilisierungen sind schon immens und versammeln zu der mit Bethlehem verglichenen Kleinheit Allusionen auf Jerusalem, Athen und Rom. Für Wieland wird Weimar gar zum Berg Ararat, wo die Arche der Kultur Land gewinne.26 Im Gegenzug beglaubigt der Kulturtourist Franz Kafka Weimars große Geschichte, weil er, nachdem er die Orte, die Häuser besucht hat, sagt, er habe ihre Personen alle auf dem Friedhof wiedergefunden.27 Eine Thüringen mit Europa verbindende Episode lässt uns am 8. April 1787 nach Palermo blicken. Es ist Ostersonntag. »Glocken- und Orgelschall, Chorgesang der Processionen und der ihnen entgegnenden geistlichen Chöre konnten wirklich das Ohr derjenigen verwirren, die an eine so lärmende Gottesverehrung nicht gewöhnt waren.«28 Goethe ist in den Palast des Vizekönigs am oberen Ende der Stadt eingeladen, kommt etwas zu früh und wird von einem kleinen, munteren Mann angesprochen, den er »sogleich für einen Malteser« erkennt.29 Als dieser hört, dass der Fremde ein Deutscher ist, fragt er nach, ob jener ihm Nachricht von Erfurt zu geben wisse, wo er, der Malteser, selbst einige Zeit sehr angenehm zugebracht habe. Dazu Goethe: »Auf seine Erkundigungen nach der von Dacherödischen Familie, nach dem Coadjutor von Dalberg konnte ich ihm hinreichende Auskunft geben, worüber er sehr vergnügt nach dem übrigen Thüringen fragte.«30 Graf Statella, der Malteser, kam schon bald darauf nach Weimar und bestellte an Charlotte von Stein Grüße von Goethe, so dass sie am 1. Juni 1787 an Charlotte von Lengefeld, später verheiratete Schiller, schreiben 26 Wieland am 7. Oktober 1776 an Merck wie zuvor am 4. Oktober 1776 an Gleim: Wielands Briefwechsel, Bd. 5, bearb. von Hans Werner Seiffert, Berlin 1983, S. 561 und 557. Vgl. Klaus Manger: Weimars besonder Loos. Zur anfänglichen Selbstinszenierung des Ereignisses Weimar–Jena, in: Fenster zur Welt: Deutsch als Fremdsprachenphilologie, Festschrift für Friedrich Strack, hrsg. von Hans-Günther Schwarz, Christiane von Stutterheim und Franz Loquai, München 2004, S. 47–73. 27 Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923. Reisetagebücher, unter dem 4. Juli 1912, Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod, Taschenbuchausgabe in sieben Bänden, Bd. 7, Frankfurt am Main 1976, S. 483. 28 Goethe: Italiänische Reise, II, 8. April 1787, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen [WA], I. Abtheilung: Goethes Werke, 31. Bd., Weimar 1904, WA I, 31, 107. 29 ���������������������������������������������������������������������������� Goethe: WA I, 31, 108. Vgl. Gerhard Müller: Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena, Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800: Ästhetische Forschungen, Bd. 6, Heidelberg 2006, S. 277 f., und mit Bezug auf Cagliostro sowie die Absicht, Malta zu besuchen, S. 283–290. 30 Goethe: WA I, 31, 108.

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konnte: »Stellen Sie sich vor, daß ich durch Goethe vom Graf Statella ein Compliment bekommen habe; er hat ihn bei dem Gouverneur von Sicilien gesehen.«31 Vermittels solcher Kommunikation konnten die ohnehin guten Verbindungen zwischen Weimar und Erfurt nur noch enger werden. Dabei spielte neben der Männer- die Frauenebene keine unbedeutende Rolle. Die besonders enge Beziehung der Lengefeld-Schwester Caroline von Beulwitz zu Dalberg,32 ihre Verbindung mit Caroline von Dacheröden, Tochter des Erfurter Kammerpräsidenten, die 1791 – im Jahr nach Schillers Hochzeit – sich mit Wilhelm von Humboldt verheiratete, ließen sich als ein eigenes Kommunikationsnetzwerk betrachten. Goethes Palermobericht jedoch ist zu korrigieren. Von Carl von Dalberg konnte er so als Coadjutor am Ostersonntag noch nicht wissen, da er von seiner Wahl zum vorgesehenen Nachfolger des Mainzer Erzbischofs und Kurfürsten erst in Neapel erfuhr.33 So konnte er in seinem Brief an Herzog Carl August, der diese Wahl mitbetrieben hatte, am 27. Mai 1787 ausrufen: »Viel Glück! zu Dahlbergs Erwählung! ich hoffe ihm auf meiner Rückreiße aufzuwarten.«34 Der Glückwunsch zu Carl Augusts Erfolg bei Dalbergs Wahl ist darin unverkennbar. Die Begegnung in Palermo soll aber ihrer Pointe nicht beraubt sein. Graf Statella erkundigte sich außerdem mit bemerkenswerter Anteilnahme nach Weimar. Noch wusste er nicht, wen er vor sich hatte. »›Wie steht es denn‹«, sagte er, ›mit dem Manne, der zu meiner Zeit jung und lebhaft, daselbst Regen und schönes Wetter machte? Ich habe seinen Namen vergessen, genug aber, es ist der Verfasser des Werthers.‹«35 Man bedenke, welche Rolle das spielt, dass die Berühmten zugleich Autoren sind. Würde man doch ohne diesen Bezug auf ihre Werke von ihnen kaum gesprochen haben. Napoleon wird sich 1808 gleichfalls mit Goethe über den »Werther« wie dann auch mit 31 Charlotte von Schiller an ihre Freunde, hrsg. von Ludwig von Urlichs, 2 Bde., Bd. 2, Stuttgart 1860–1865, S. 259. 32 Vgl. Klaus Manger: Schillers Widmungen, in: Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung, hrsg. von Klaus Manger in Verbindung mit Nikolas Immer (Ereignis Weimar–Jena. Kultur um 1800: Ästhetische Forschungen, Bd. 15), Heidelberg 2006, S. 421–444, bes. S. 433 ff. 33 ���������������������������������������������������������������������������� Die Wahl Dalbergs zum seit dem 1. April 1787 einstimmig designierten Coadjutor, bestätigt vom Papst am 17. April 1787, erfolgte offiziell de iure am 5. Juni 1787. Die Kenntnis von diesen Vorgängen bereits am 8. April 1787 wäre ungewöhnlich. Vgl. jetzt Herbert Hömig: Carl Theodor von Dalberg (1744–1817) – Staatsmann und Kirchenfürst im Schatten Napoleons, Paderborn 2011, bes. S. 109–130. 34 Goethe: WA IV, 8, 222. 35 Goethe: WA I, 31, 108.

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Wieland unterhalten. In Palermo aber erwiderte, als ob er sich bedächte, Goethe nach einer kleineren Pause: »Die Person, nach der ihr euch gefällig erkundigt, bin ich selbst!« Und Goethe fährt fort: »Mit dem sichtbarsten Zeichen des Erstaunens fuhr er zurück und rief aus: ›Da muß sich viel verändert haben!‹ ›O ja!‹ versetzte ich, ›zwischen Weimar und Palermo hab’ ich manche Veränderung gehabt.‹«36 Was sich in Weimar, Jena und Thüringen zwischen 1772, Wielands Ankunft im Herzogtum, und 1832, Goethes Todesjahr, an Veränderungen allein in Sachen Kommunikationsverdichtung (Zeitschriften, Dichtungen, Abhandlungen, Oper, Theater, Schauspielmusik, bildende Künste) ergeben hat, ist hier nicht auszubreiten. Und doch wollen wir zum Schluss fragen: Was charakterisiert und wofür steht das von dem Viergestirn und vielen anderen daran beteiligten Personen entwickelte Modell, das sich weltgeschichtlich in unser kulturelles Gedächtnis eingeprägt hat und das immer mit Weimar verbunden bleiben wird? Das sei an einem sehr ausschnitthaften Beispiel veranschaulicht, das uns auch nochmals das auf die Beteiligung des aufnahmebereiten Lesers angewiesene Herzland vor Augen führt. Im ersten Vierteljahr 1780 erscheint in Wielands Zeitschrift »Der Teutsche Merkur« sein Versepos »Oberon«, das es im 19. Jahrhundert − neben Goethes »Hermann und Dorothea« (1797) − nicht nur aufgrund von Carl Maria von Webers gleichnamiger Oper zu immenser Bekanntheit gebracht hat. Das Liebespaar Hüon und Rezia (christianisiert Amanda) erfährt darin, aufgrund der zeitkürzenden Erzählung seines Bediensteten Scherasmin, wie es zum Fluch des Elfenkönigs Oberon, einem ein wenig dogmatisch veranlagten Gnom, gekommen ist, dass dieser so lange von seiner Gemahlin Titania getrennt sein will, Bis ein getreues Paar, vom Schicksal selbst erkohren, Durch keusche Lieb’ in Eins zusammen fließt, Und, probefest in Leiden wie in Freuden, Die Herzen ungetrennt, auch wenn die Leiber scheiden, Der Ungetreuen Schuld durch seine Unschuld büßt.37

Pikanterweise ist die von Scherasmin erzählte Ehebruchsgeschichte der Auslöser für die Eheentzweiungsgeschichte, die das Götterpaar auseinanderbringt. 36 Ebenda. 37 Christoph Martin Wieland: Oberon. Ein romantisches Heldengedicht in zwölf Gesängen, hrsg. von Sven-Aage Jørgensen, 6. Gesang, 101. Stanze, Stuttgart 1990, S. 128.

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Nichts kann ihn seines Schwurs entbinden, Bevor […] Zwey Liebende, wie er’s verlangt, sich finden.38

Ich kürze das notwendigerweise ab. Das Liebespaar Hüon und Amanda versteht die Erzählung. Sie trifft bei ihm auf Herzland. Vom Erzählkalkül Wielands kann sich heute, möglichst laut lesend, jeder Leser selbst überzeugen. Es ist so großartig, dass Goethe unmittelbar nach seiner Lektüre das einzige Mal, dass er – von Dichter zu Dichter − so etwas tat, Wieland einen Lorbeerkranz übersandte. Das Liebespaar aber, nun wiederholt auf die Probe gestellt, bewahrt sich bis in seinen ihm zugedachten Tod auf dem Scheiterhaufen seine Liebe – und wird gerettet. Kurz gesagt: Das Liebespaar erlöst das Elfenkönigspaar, so dass am Ende der Triumph der Liebe steht. Ein Menschenpaar hat das schier Unmögliche fertiggebracht und das aus Shakespeares »Sommernachtstraum« herüberversetzte Elfenpaar von dem fürchterlichen Fluch erlöst.39 Wer bei solcher Liebeskraft von Menschen an die »Zauberflöte« denkt, ahnt schon, wieso diese Mozartoper zur Favoritoper in Weimar wurde,40 wo man im Tiefurter Park zudem das erste Mozartdenkmal auf deutschem Boden errichtet hat. Den Zauber dieser Aufklärungsmärchen befördert, wie in Emanuel Schikaneders Libretto die Zauberflöte, so in Wielands Epos das von Oberon dem Hüon mitgegebene Zauberhorn. Die von Wieland im »Oberon« inszenierte menschliche Liebesgeschichte und göttliche Versöhnungsgeschichte begründen, weshalb wir in einer auf der Bühne in der Regel gestrichenen Szene ausgerechnet im »Faust I« auf das ironisierende Intermezzo treffen, das in Kenntnis der mit Staunen wahrzunehmenden Vorgänge »Oberons und Titanias goldne Hochzeit« heißt.41 Es ist das nach Shakespeares Vorbild eingerückte Theater, das uns am Ende der »Walpurgisnacht« diesen »Walpurgisnachtstraum« vor Augen führt. Die Faust­ exegese hat diese Szene überwiegend für schwach und entbehrlich gehalten

38 Ebenda, 6. Gesang, 103. Stanze, S. 129. 39 Vgl. Klaus Manger: Digression im Epos: Wielands ›Oberon‹, in: ders./WielandArchiv Biberach (Hg.): Wieland-Studien, Bd. 4, Heidelberg 2005, S. 110–119. 40 Vgl. Carl August Hugo Burkardt: Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung 1791–1817 (Theatergeschichtliche Forschungen, Bd. I), Hamburg/Leipzig 1891; Klaus Manger: Weimar um 1800 in der Gewalt des Mozartischen Genius, in: Laurenz Lütteken/Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.): Mozarts Lebenswelten. Eine Zürcher Ringvorlesung 2006, Kassel u. a. 2008, S. 252–273. 41 Goethe: Faust I, V. 4223–4398: Walpurgisnachtstraum oder Oberons und Titanias goldne Hochzeit. Intermezzo, WA I, 14, 213–223.

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und das darin obwaltende Genie auf einem niedrigen Stand gesehen.42 In Wirklichkeit ist es eine Scharnier- und Schlüsselszene zwischen Faust, Erster und Zweiter Teil. Denn am Schluss der Szene fordert Ariel, der aus Shakespeares »Sturm« hierher versetzte Ariel, dazu auf: »Auf zum Rosenhügel!«43 Dort, wo wir wieder auf Ariel treffen, zu Beginn von »Faust II«, da liegt der Titelheld tatsächlich »auf blumigen Rasen gebettet«.44 Was sagt uns das? Zunächst haben diese Texte ein eigenes inneres Spiel miteinander getrieben. Zuerst wurden sie an das Herzland der Autoren gespült. Sie nahmen die Anregungen von Ariost, Shakespeare u. a. auf, so Wieland, dass Goethe seinerseits auf witzige Weise an Wieland anknüpfen konnte. Dieser kleine Blick in die Weimarer Werkstatt verrät uns allerdings ihr weltbürgerlich angelegtes ästhetisches Programm, das aus den Aufklärungsmärchen besonders sichtbar wird: das autonome Handeln Einzelner, Liebender, die, wenn sie wollen, wie der Dichter zeigt, zu weltbewegendem Handeln in der Lage sind. Der Held der Antike, Herkules, vollbringt in Wielands »Alceste« (1773) die menschlichste seiner sprichwörtlichen Taten, indem er herzbewegt seinem Freund Admet die Gemahlin aus dem Totenreich zurückholt.45 Menschliches, mündiges Handeln in Gedicht, Erzählung, Schauspiel allenthalben: Man muss die Werke nur kennen! Was ließen sich aus Thüringens Geschichte für mediale Bilderbögen entwickeln, die zudem von der Historie auf die hier hervorgebrachten Werke verwiesen und überhaupt Verknüpfungsarbeit leisteten. Waren beispielsweise Mutianus Rufus, Eobanus Hessus, Adam Ries, Ulrich von Hutten, Crotus Rubianus, Martin Luther und Faust möglicherweise zugleich in Erfurt? Vielleicht ist 42 Vgl. Albrecht Schöne: Walpurgisnacht, in: ders.: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte, München 1982, S. 107–216, hier S. 112 ff. die Diskussion zum Stellenwert des »Intermezzo«. Klaus Manger: Goethes Welttheater, in: ders. (Hg.): Goethe und die Weltkultur, Ereignis Weimar–Jena. Kultur um 1800: Ästhetische Forschungen, Bd. 1, Heidelberg 2003, S. 365–402, bes. S. 381 ff. 43 Goethe: Faust I, V. 4394: WA I, 14, 222. 44 Goethe: Faust II, Erster Act: Anmuthige Gegend: WA I, 15.1, 3. Vgl. Klaus Manger: Unvermindert aktuell. Wielands Digression im ›Oberon‹ und Goethes Intermezzo im ›Faust‹ (2004), in: ders./Wieland-Archiv Biberach (Hg.): WielandStudien, Bd. 6, Heidelberg 2010, S. 179–194. 45 Wieland: Alceste, Leipzig 1773, Dritter Aufzug, V. 130 ff., und Fünfter Aufzug, V. 38 ff., Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma, Bd. 10.1, bearb. von Hans-Peter Nowitzki und Tina Hartmann (Oßmannstedter Ausgabe), Berlin/New York 2009, S. 439 ff. und 449 ff.; vgl. Tina Hartmann: Alceste, in: Jutta Heinz (Hg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2008, S. 170–173.

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das weniger wichtig. Aber welche Kristallisationskerne sich mit Elisabeth und Meister Eckhart im 13., mit der Fruchtbringenden Gesellschaft im 17. oder mit Weimar vom 18. ins 19. Jahrhundert ergeben, das sollte allen Ablenkungen zum Trotz in unserem Herzland mehr als nur gewusst werden, nämlich lebendig bleiben.

Postscriptum: Plädoyer für Rekultivierung Menschliches Leben ist immer schon kulturelles Leben. Natur unterscheidet den Wald nicht von den Bäumen. Indem wir Menschen jedoch mit Urteilskraft in einen Dialog mit den menschlichen Leistungen der Geschichte treten – keineswegs nur der Künste, aber da besonders, wird uns Kultur lebendig, atmen wir in ihr. Wem Kultur heute ein Anliegen sein will, sie aber zur Marke, zur Münze verkleinert, dem droht sie verloren zu gehen. Aus solcher Gefahr erwächst unser aller Bedürfnis nach Rekultivierung. An diesem Prozess können ein Ministerium, das »Kultur« in seinem Namen trägt, und ein Land, das sich selbst als »Kulturland« ausstellt, nicht unbeteiligt bleiben. Es war nicht herauszubekommen, wer das schwer begreifliche Wort – Thüringen sei ein zu kleines Land, als dass es große Wissenschaft hervorbringen könne – in die Welt gesetzt hat. Als Wieland und Goethe für Weimar die Kleinheit Bethlehems in Anspruch nahmen, betonten sie gerade, wie aus kleinen Verhältnissen Großes hervorgehen könne. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass große Entwicklungen auf geographische, politische und quantifizierbare Größe angewiesen sind. Ein Bonmotjäger muss schon sehr abwesend sein, wenn ihm nichts Besseres vor die Flinte springt. Wieso aber hat man auch, vor allem wenn es tatsächlich aus den Reihen der Politik stammen sollte, das Malmot nicht sofort zurückgewiesen? Immerhin verdeutlicht es, welcher Anstrengungen es bedarf, sich dem, was man in Thüringen ererbt, auch in Zukunft gewachsen zu zeigen. »Kultur gehört zur Kernmarke Thüringens«, heißt es im Grußwort des Thüringer Ministers für Bildung, Wissenschaft und Kultur auf der Gründungsveranstaltung des Thüringer Kulturrates am 31. März 2011 in Erfurt. Dieser Kulturrat ist ein Zusammenschluss von acht Fachverbänden, der »eine starke Stimme im Kulturbetrieb« sei und sich absetze von »anmaßender politischer Instrumentalisierung von Kultur«46. Jüngste Aufgabenstellungen des 46 �������������������������������������������������������������������������� Christoph Matschie: Grußwort zur Gründungsveranstaltung des Thüringer Kulturrates, 31. März 2011 in Erfurt, online abrufbar unter www.thueringen.de/de/ tmbwk/aktuell/ reden/54693/uindex.html [28.11.2011].

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Ministeriums haben sich niedergeschlagen im »Leitbild Kulturland Thüringen«47 vom 8. Februar 2011 sowie im »Kulturkonzept des Freistaats Thüringen«48 vom 9. Juni 2009. Vorausgegangen war der vom Ministerium in Auftrag gegebene »Kulturwirtschafts­bericht«49 vom Januar 2009, dem auch das »Spezialkonzept Kulturtourismus Thüringen 2015«50 aus dem Thüringer Wirtschaftsministerium vom April 2011 insofern verpflichtet ist, als es aus der unterdurchschnittlich auf Kulturwirtschaft spezialisierten Situation Thüringens eine nachhaltige »kulturtouristische Destination« ableitet und eine Gestaltung des Themenmarketings im Kulturtourismus zur Profilierung des Kulturreiselandes Thüringen fordert. Markenkernwerte der Tourismusmarke Thüringen kommen mit den Hauptsäulen Kultur und Städte deshalb in den Blick, weil dieses Segment von den Marktforschungen als wichtiger Wachstumsmarkt ausgewiesen wird. Als die drei besucherstärksten Kultureinrichtungen sind die Klassik Stiftung Weimar, die Gedenkstätte Buchenwald Weimar und die Wartburg-Stiftung Eisenach ermittelt. Aber erste Identifikationsgrößen für Thüringen sind Wurst und Wald. Wenn folglich, weil das Kulturland Thüringen ein Magnet ohnegleichen ist, der Kulturtourismus angekurbelt werden soll, muss man auf die Klassikerstädte und auf die Residenzkultur setzen. Aber wer sorgt dafür, dass die »Kultursenioren von Morgen«51 noch wissen, was sich gedanklich mit den so genannten Klassikerstätten verbindet? Wenn nämlich die Inhalte verloren gegangen sein werden, sind auch die Marken wertlos. Die zunehmend beobachtbare Entfernung von aufgeklärter Mündigkeit begünstigt einen Orientierungsverlust, den angesichts der immensen Wissensüberwältigung am ehesten diejenigen erleiden, denen die aus Bildung resultierende Urteilskraft und das Gespür für Sinnstiftung abhanden zu kommen drohen. Schillers empha47 Vgl. www.thueringen.de/de/tmbwk/kulturportal/leitbild/content.html [28.11.2011]. 48 Kulturkonzept des Freistaats Thüringen, Erfurt 2009, online abrufbar unter www.thueringen.de/imperia/md/content/tkm/kulturportal/endfassung_kulturkonzept_2009.pdf [28.11.2011]. 49 Thüringer Kultusministerium (Hg.): 1. Kulturwirtschaftsbericht Thüringen. Kulturwirtschaft und öffentlicher Kultursektor: Verflechtungen und Entwicklungspotenziale, Erfurt 2009. Online abrufbar unter www.thueringen.de/imperia/md/ content/tkm/aktuelles/ pressemitteilungen/kulturwirtschaftsbericht_thueringen. pdf [28.11.2011]. 50 Spezialkonzept Kulturtourismus Thüringen 2015. Endbericht, bearb. von dwifConsulting GmbH, München 2011. Online abrufbar unter www.thueringen.de/ imperia/md/content/tmwta/tourismus/spezialkonzept_kulturtourismus_th__ ringen_2015.pdf [01.12.2011]. 51 Spezialkonzept Kulturtourismus Thüringen 2015, a. a. O., S. 28.

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tische Bejahung des menschlichen Spiels setzt eine prinzipiell zu unterscheidende Opposition von Faktischem und Fiktivem voraus. Um die Bedeutung der Weimarer Autoren um 1800 einschätzen und im Gedächtnis behalten zu können, bedarf es sicher gewisser Grundkenntnisse, vor allem aber einer gehörigen Portion Verständnis ihrer Lebensleistung und ihrer Werke. Kulturelle Identität, wie sie der Thüringer »Kulturwirtschaftspolitik« vorschwebt, ist folglich mit Leben zu erfüllen. Das erwähnte »Leitbild Kulturland Thüringen« versteht sich, wie es heißt, »als Beitrag zur Beschreibung unserer kulturellen Identität. Es ist die Vergewisserung über die Bedeutung unserer Kunst und Kultur. Es definiert unseren Weg und unsere kulturpolitischen Ziele.« Auf den dreieinhalb Seiten wird das Wort Kultur als Substantiv, Adjektiv oder in Komposita rund 130 Mal gebraucht. »Thüringen ist ein Kulturland. Das ist unser Kapital!«, heißt es im »Kulturkonzept«. Dieses Kapital sei zu einem »Markenzeichen Thüringens« fortzuentwickeln, wozu es nicht nur finanzieller Mittel, sondern vor allem engagierter Menschen bedürfe, »die dem Kulturland Thüringen ›Herz‹ und ›Seele‹ geben.« Die reiche »Denkmallandschaft«, das »dichteste Theater- und Orchesternetz aller deutschen Flächenstaaten«, die reiche Museumslandschaft, Sammlungen, Archive, hervorgegangen aus dem fürstlichen Repräsentationsbedürfnis thüringischer Landesherren, verlangen nach »Substanzerhaltung«. Das Kulturkonzept müsse sich an der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landeshaushalts ausrichten, was vereinfacht gesagt bedeutet: es steht unter »Haushaltsvorbehalt«. Über dem sich aus öffentlich finanziertem Sektor, gemeinnützigem Sektor und gewinnorientierter Kulturwirtschaft zusammensetzenden »Kultursektor« brauen sich dunkle Wolken zusammen. Was ist, wenn der überbetonte Kulturtourismus ausbleibt, wenn die erwerbswirtschaftlich arbeitenden Kultur- und Kreativunternehmen die Kulturwirtschaft nicht ausreichend versorgen? Seine Materialisierung und erwerbswirtschaftliche Ausbeutung verkennen, dass Weimar im Weltkulturerbe ausdrücklich als »Geisteszentrum« benannt ist. Wie soll man das quantifizieren? Im »Leitbild« heißt es zutreffend, Kultur sei Dialog. Das von Weimar aus in Gang gesetzte Weltgespräch kommt jedoch vor lauter Kulturbeflissenheit gar nicht in den Blick. Welcher Anstrengungen bedarf es, die Disposition dafür zu schaffen und zu erhalten, an dieses Weltgespräch anknüpfen zu können? Wenn uns die Inhalte aus dem Blick geraten, die sich mit dem Schatzhaus Thüringen verbinden, was nützt dann die touristische Vermarktung der Zeugen, die keinem mehr etwas sagen. Ein Reizwort wie »kulturelle Bildung« lässt leicht übersehen, dass zum einen Universitäten keine Ausbildungsstätten sind und zum anderen Bildung nur über den reflexiven Prozess des Sich-Bildens zu haben ist.

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Was ließe sich für die »intellektuelle Bildung« und »Selbstverwirklichung« junger Menschen aus dem Geist der Klassiker gewinnen, wenn man sie auf Lehrer- wie auf Schülerseite nur kennte. Nichts gegen eine Exkursion zu Shakespeare in Stratford! Aber wer weiß, dass der »deutsche Shakespeare«, so zuerst in Erfurt 1781, die längste Phase seines Lebens in Jena gelebt und dort seine »Geschichte des Dreißigjährigen Krieges« und die »Wallenstein«Trilogie geschrieben hat? Das Cicerone-Projekt der Klassik Stiftung Weimar ist zu fördern, weil es sich mit Inhalten befasst. Dagegen läuft der ins Auge gefasste Kompetenznachweis Kultur Gefahr, Jugendlichen die erhofften Schlüsselkompetenzen in Form eines vollgestempelten Bildungspasses zu bestätigen, weil er Besuche von Kultureinrichtungen belohnt. So wichtig die Auseinandersetzung mit zwei Diktaturen in Deutschland ist, so merkwürdig ist die als Anliegen daraus abgeleitete »Demokratieerziehung«. Um es klar zu sagen: Es sind nicht so sehr kulturpolitische Vorgaben zu machen, sondern die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass neugierige Jugendliche die Fragen an ihr Herkommen, mit denen Themenmarken des Kulturtourismus überfordert sind, stellen und auch kompetent beantwortet bekommen. Wer, weil er das für ein »Alleinstellungsmerkmal« hält, auf die zahlungskräftige und zugleich hoffentlich anspruchsvolle Zielgruppe von Kulturtouristen schielt, der muss den Kulturschatz kundenkompatibel aufbereiten. Wie stellt man ein Grünes Gewölbe der Literatur aus? Wichtigste Werke der Weltliteratur kommen im Kulturkonzept des Freistaates gar nicht vor. Stattdessen heißt es: »Die zahlreichen Thüringer Städte mit starkem historischen Profil, das reiche kulturelle Erbe, namhafte Persönlichkeiten der Geistesgeschichte und auch ein lebendiges Brauchtum auf engstem Raum sind so nirgends sonst anzutreffen und demzufolge ein Alleinstellungsmerkmal Thüringens.«52 Wie soll sich aus solch einem Markenartikel Kapital schlagen lassen? »Hier geht der Weltgeist spazieren«, lautet der Untertitel der aktuellen Kulturbroschüre der Thüringer Tourismus GmbH. Diese soll zu einem »Kultur-Marathon« verführen. Das vollmundig behauptete »weltweit bekannte Signum der ›Kulturlandschaft Thüringen‹« veranlasst das Land, sich als »Kulturstaat« zu verstehen.53 Dieses Kulturkonzept greift als Kulturtourismuskonzept entschieden zu kurz. Die dafür verantwortlich zeichnen, haben offenkundig mit dem Geist Elisabeths, Meister Eckharts, Luthers, Cranachs, Bachs, Wielands, Herders, Goethes, Schillers, Liszts, um nur einige zu nennen, wenig Berührung. Der 2009 vorgelegte erste Thüringer »Kulturwirtschaftsbericht« hat zum Ziel, die Wertschöpfung in Thüringen transparent zu machen. Wert heißt hier 52 Kulturkonzept des Freistaats Thüringen, a. a. O., S. 75. 53 Ebenda, S. 84 und 94.

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Geldwert und hat eine gigantische Materialisierung und Ökonomisierung von Gegenständen zur Voraussetzung, die zu diesem Zweck quantifiziert und folglich entspiritualisiert worden sind. Ein Blick auf die Wertschöpfungs­ tabelle zeigt, dass der Thüringer Anteil im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland um die 0,6 Prozent pendelt. Man muss sich in Erinnerung rufen, wie hoch die Bedeutung des Kulturlandes Thüringen angesetzt und seine weltweite Wirksamkeit beansprucht worden ist. Da klafft ein tiefer Riss zwischen spiritueller Bedeutung und materieller Quantifizierung. Vielleicht ist ja die Prämisse falsch. Selbstverständlich bleibt Kultur Thüringens größte Stärke. Aber was zeitigt das für Folgerungen? Iphigenie findet, wie das am Ettersberg uraufgeführte Stück verdeutlicht, im Barbarenland des Königs Thoas mehr Achtung und Zuneigung als in der eigenen Familie. Millionen, nicht nur Asiaten, lernen Deutsch, weil sie Goethe im Original lesen wollen. Und wir? Wie solide auch immer die Grundlagen für die Thüringer Kulturwirtschaftspolitik, von der der Ministeriumsbericht spricht, durchgerechnet sein mögen, die Inhalte bleiben dabei auf der Strecke. Der Weg in die Moderne führt vielfach über Statistiken. Aber welche Augenwischerei geschieht bei diesen in Modellen, Tabellen, Diagrammen sich niederschlagenden Quantitäten. Man stelle sich vor, Goethe als politischer Gestalter, der sich um 1800 vor prinzipiell gleiche Probleme gestellt sah, hätte mit Statistiken seinen Gestaltungswillen bremsen müssen. Es braucht eine Schubumkehr, auch wenn der momentan gängige Quantitätenweg europa- und weltweit begangen wird. Wie der Staat, so eine bedeutende Markierung durch Wieland oder Schiller, für die Bürger da ist, stehen Verwaltungen im Dienst gemeinschaftlicher Organisation – und nicht umgekehrt. Übertriebene Reglementierung und Regulierung sind immer schädlich. Erst wenn man, was sich mit den geschichtlich in Thüringen erbrachten Leistungen verbindet, auf die Kulturwirtschaft oder gar Kulturtourismuswirtschaft herunterbricht und vor diesem Hintergrund Thüringen in einer gewissen Bedeutungslosigkeit versinken sieht, wird erahnbar, aus welchem Zynismus so ein Malmot wie das vom zu kleinen Land für große Wissenschaft entspringt. Eine bürokratisch gedrosselte Kultur ist keine, die diesen Vorzugsnamen verdient. Studenten sind keine Bildungskunden, Touristen keine Kulturkunden, Bürger keine Staatskunden. Dies bewusst zu halten, bedarf es der angemahnten Rekultivierung.

Volkhard Knigge

Die Umgestaltung der DDR-Gedenkstätten nach 1990. Ein Erfahrungsbericht am Beispiel Buchenwalds*

Der folgende Erfahrungsbericht zur Neukonzeption ehemaliger DDRGedenkstätten am Beispiel der damaligen »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald« gehört zur Geschichte der Entwicklung gesamtdeutscher historischer Erinnerung ab 1989/90, die sich der besonderen Bedeutung der (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ebenso bewusst ist, wie sie die (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit Stalinismus und kommunistischer Diktatur nicht außer Acht lässt. Da nicht vorausgesetzt werden kann, dass die institutionelle Verfassung der Gedenkstätte Buchenwald bekannt ist, zunächst einige Anmerkungen dazu: Die Gedenkstätte ist Teil der »Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora«, die im März 1994 vorerst als unselbstständige Stiftung öffentlichen Rechts nach entsprechendem Gesetzgebungsverfahren im Thüringer Landtag durch Erlass des damaligen Thüringer Ministers für Wissenschaft und Kunst, Dr. Ulrich Fickel (FDP), ins Leben gerufen wurde. Mit Gesetz vom 17. März 2003 wurde die Stiftung selbstständig, ist also seitdem rechtsfähige Stiftung öffentlichen Rechts mit Sitz in Weimar. Abgesehen von Liegenschaften, Gebäuden und Einrichtungen besitzt die Stiftung kein Vermögen. Sie erhält vielmehr zu gleichen Teilen Zuwendungen von Bund und Freistaat, die je nach Haushaltslage variieren können. Seit 1998 ist der Haushalt weitgehend gedeckelt. Der Stiftungszweck ist in Paragraf 2 des Stiftungsgesetzes wie folgt festgelegt: »Zweck der Stiftung ist es, die Gedenkstätten als Orte der Trauer und der Erinnerung an die dort begangenen Verbrechen zu bewahren, wissenschaftlich begründet zu gestalten und sie in geeigneter Weise zugänglich zu machen, sowie Bildung und Erziehung durch die Erforschung und Vermittlung damit verbundener Vorgänge zu fördern. Dabei ist in der Gedenkstätte Buchenwald die Geschichte des nationalsozialistischen Konzentrationslagers mit Vorrang zu behandeln. Die *

Gekürzter Nachdruck des gleichnamigen Beitrags in: Peter März/Hans-Joachim Veen (Hg.): Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 91–108.

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Geschichte des sowjetischen Internierungslagers ist in angemessener Form in die wissenschaftliche Arbeit einzubeziehen. In der Gedenkstätte Mittelbau-Dora ist die besondere Problematik des Mißbrauchs von Häftlingen für die Herstellung von Vernichtungswaffen zu berücksichtigen. Ferner ist die Geschichte der politischen Instrumentalisierung der Gedenkstätten zu Zeiten der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik darzustellen.«1

Um den Stiftungszweck erfüllen zu können, sind in Buchenwald zwischen 1992 und 1999, also in nur sieben Jahren, vier Dauerausstellungen geschaffen worden. Für zwei von diesen, nämlich die zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers und die zur Geschichte der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald« hat die Stiftung eigens neue Bauten errichtet. Zur Bildungsinfrastruktur gehören ferner eine ebenfalls neu aufgebaute internationale Jugendbegegnungsstätte, Besucherinformationen in der Stadt Weimar und in der Gedenkstätte selbst sowie eine große Fachbuchhandlung. Geschaffen wurden auch Denkmale für vor 1990 in Buchenwald nicht erwähnte oder marginalisierte Opfergruppen, das gesamte ehemalige Lagergelände ist außerdem – unter anderem mit archäologischen Mitteln – historisch erschlossen worden. Der größte Teil des ehemaligen Lagers, einschließlich der Speziallagergrabfelder, war bis 1990 der Überwucherung preisgegeben. Dass sich der Bund seit 1992 an der Finanzierung der Gedenkstätte Buchenwald beteiligt, ist der letzten, das heißt der ersten demokratisch gewählten Regierung der DDR zu verdanken. Sie hat die Gedenkstätte als Kultureinrichtung von gesamtnationaler Bedeutung im Einigungsvertrag festgeschrieben. Die heute vierzig festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stammen ungefähr je zur Hälfte aus den alten und den neuen Bundesländern, wobei einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den neuen Ländern auch nach 1990 eingestellt worden sind, also nicht zum Personal der ehemaligen »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald« gehörten. Zwei pädagogische Mitarbeiterinnen stammen aus Osteuropa, eine aus Chile, also gewollt aus postdiktatorischen Ländern jenseits der deutschen Grenzen. Hinzu kommen Zeitvertrags- und Drittmittelstellen, Honorarkräfte und junge Freiwillige aus Ost- und Westeuropa sowie aus Übersee, die für längere Zeit in der Gedenkstätte mitarbeiten. Erfasste die letzte DDR-Zählung noch 130.000 Besucher jährlich, so kommen heute ohne Anordnung von oben zwischen 500.000 und 600.000 Menschen pro Jahr in die Gedenkstätte. Zirka 25 Prozent sind Ausländer aus aller Welt. Ich selbst bin seit September 1994 im Amt und damit der sechste 1 Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen, Nr. 5, 3. April 2003, S. 197.

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Direktor nach Überwindung der SED-Diktatur und der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, zählt man die letzte DDR-Direktorin mit, die im September 1989 ihr Amt an- und im Frühjahr 1991 zurücktrat. Sechs Direktoren bzw. kommissarische Leiter in vier Jahren – allein diese Zahl wirft ein Licht darauf, wie schwierig die Neukonzeption Buchenwalds gewesen und wie turbulent sie zum Teil verlaufen ist. »Streit um Buchenwald« lautete eine in jenen Jahren fortwährend wiederholte Schlagzeile, zum Beispiel in Bezug auf Auseinandersetzungen im Vorfeld der Feiern des fünfzigsten Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald im April 1995 oder auf die zeitgleich eröffnete neue Dauerausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers. Die Feierlichkeiten zum sechzigsten Jahrestag der Befreiung wie die zum 55. Jahrestag der Auflösung des sowjetischen Speziallagers 2005 verliefen hingegen frei von solchen Konflikten. Der ehemalige Speziallagerhäftling Lothar Hädicke stellte beispielsweise in Bezug auf die Veranstaltungen in Erinnerung an das sowjetische Speziallager fest: »Thüringen und die Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald haben auch hier wieder Maßstäbe für den Umgang mit der Vergangenheit gesetzt«2. Auch Imre Kertész, den ich 1995 das erste Mal nach Weimar und in die Gedenkstätte eingeladen hatte, schrieb mir im April 2005 neuerlich, wie sehr er die Arbeit der Stiftung schätze. Die Auseinandersetzungen um Buchenwald, die ihren Höhepunkt in der Zeit zwischen 1993 und 1997 hatten, lassen sich ohne das Wissen um Buchenwalds Stellung in der DDR nicht verstehen. Zudem werfen sie ein Licht darauf, wie wenig die Bundesrepublik, in der arbeitende Gedenkstätten bzw. Gedenkstätten als Lernorte ganz überwiegend erst ab Mitte der achtziger Jahre in der Regel durch bürgerschaftliches Engagement in Verbindung mit Überlebenden von unten erstritten wurden, auf den Umgang mit großen KZGedenkstätten vorbereitet war. Welches Unwissen bestand und welche Feindbilder zirkulierten, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass in Bezug auf die Erarbeitung der neuen Dauerausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers konservative Blätter wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Bild verlauten ließen, in Buchenwald wollten »rote Socken« durch Verhinderung der Neukonzeption die DDR stellvertretend konservieren und bewahren, während zeitgleich in Blättern wie dem Neuen Deutschland oder Unsere Zeit behauptet wurde, die Enkel Adenauers seien dabei, den DDR-Antifaschismus zu zerschreddern. Politisch motivierte Behaup2 »Unser Standpunkt«, hg. v. d. Beratungs- und Dokumentationsstelle für Verfolgte stalinistischer Willkür – BSV Leipzig e. V., Große Fleischergasse 12, 04109 Leipzig.

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tungen bzw. Projektionen, die einander logisch ausschließen, haben die Neukonzeption kontinuierlich begleitet und lassen sich auch heute noch finden, sodass ich selbst nicht immer genau weiß, in welche Schublade ich – bzw. die Stiftung – gerade abgelegt worden bin: in die Schublade der die deutsche Schuld verharmlosenden oder gar leugnenden anti-antifaschistischen Rechten oder in die der diktaturverharmlosenden, »vaterlandszersetzenden« Linken. Wie bereits angedeutet lassen sich die Auseinandersetzungen um die Neukonzeption der Gedenkstätte ohne Berücksichtigung der Funktion Buchenwalds für die DDR nicht verstehen. Im September 1958 weihte DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl im Beisein hoher politischer Funktionäre aus dem gesamten Ostblock weniger eine geschichtswissenschaftlich fundierte Gedenk- und Bildungsstätte ein als vielmehr das erste Nationaldenkmal der DDR. Dessen Hauptzweck bestand in der auf Loyalitätsbildung abzielenden Legitimierung der DDR als dem aus antifaschistischem Widerstandskampf hervorgegangenen neuen, anderen, besseren Deutschland. Entsprechend selektiv war das hier vermittelte Geschichtsbild, genauso wie der Umgang mit dem ehemaligen Lager als Denkmal aus der Zeit. Die ab 1954 gezeigten Ausstellungen konzentrierten sich vor allem auf die deutschen kommunistischen Häftlinge – sofern sie systemloyal waren – und stellten deren Geschichte dem Grundnarrativ der Gedenkstättengestaltung entsprechend als »durch Sterben und Kämpfen zum Sieg« dar. Geschichten und Schicksale ganzer Häftlingsgruppen blieben ausgeblendet oder kamen nur am Rande vor. Die der Struktur der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager inhärente Grauzone zwischen Tätern und Opfern, etwa in Gestalt der von der SS mit Absicht geschaffenen Welt der mit abgeleiteter Macht ausgestatteten Funktionshäftlinge, kam als solche nicht vor. Aufstieg und Erfolg des Nationalsozialismus wurden gesellschaftlicher, kultureller und politischer Komplexität und Konkretion weitgehend entkleidet und der Dimitroff’schen Faschismus-Doktrin entsprechend eher verdunkelt als anschaulich gemacht. Alles in allem hatte das Erinnerungsprogramm manichäischen Charakter: Während in der DDR die Wurzeln des Faschismus vollständig ausgerottet worden wären, galt der Westen – und insbesondere die Bundesrepublik – als nach wie vor latent faschistisch. Das 1945 unzerstört befreite und auch nach Auflösung des Speziallagers 1950 noch erhaltene Lager wurde auf unveröffentlichten Beschluss des Politbüros der SED vom Oktober 1950 gemäß der oben skizzierten Sinngebung beinahe vollständig abgerissen: Minimierung der Relikte zur Maximierung historisch-politischer Sinngebung. So verschwand gänzlich aus der Gedenkstätte unter anderem auch der Bereich des 1942/43 entstandenen so genann-

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ten »Kleinen Lagers«, das der Sterbeort im KZ Buchenwald war, der von Bruno Apitz noch 1945 in einer Broschüre der KPD Leipzig bewegend beschrieben wurde. Selbst kommunistische Überlebende mussten die Erfahrung machen, dass ihre Proteste und Hilferufe, das Lager vollständig als Mahnmal zu erhalten, wirkungslos verhalten. Ein bedeutender Teil der Elite der deutschen kommunistischen Häftlinge des KZ Buchenwald geriet Ende der vierziger Jahre in die Mühlen von Parteikontrollkommissionsverfahren und stalinistischen Säuberungen, darunter auch solche, die sich bereits seit der Befreiung am 11. April 1945 hartnäckig für die Errichtung einer Gedenkstätte in Weimar bzw. auf dem Ettersberg eingesetzt hatten. Sie verloren jeden Einfluss auf Aufbau und Gestaltung der Gedenkstätte und mussten froh sein, wenn sie der Verhaftung entgingen. Erst ab Mitte der fünfziger Jahre wurden Betroffene wie Walter Bartel oder der zwischenzeitlich im GULag umgekommene Ernst Busse heimlich rehabilitiert. Sie mussten sich aber auf die Rolle von Traditionsfiguren beschränken und gewannen keinen entscheidenden politischen Einfluss auf die Geschicke der DDR mehr. Erfahrungsgeschichtlich gesehen stand die »Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald« 1990 deshalb für höchst Heterogenes: Den einen war sie tatsächlich legitimes Nationaldenkmal am Zentralort (deutschen) antifaschistischen Heldentums, ausgewählte Gruppen ehemaliger KZ-Häftlinge hatten hier – über die DDR hinaus – höchste Würdigung, andere tiefe Missachtung bzw. nie wirklich Zugang und Teilhabe erfahren. Ehemalige sowjetisch Internierte hatten ihre Geschichte gleichsam verschlucken müssen und die Tilgung ihrer Spuren, einschließlich der Verwischung der Gräber, erlebt. Die Hauptakteure der Gedenkstättenerrichtung waren bereits einmal – und auch noch von ihrem eigenen Staat – bedroht und um die Gedenkstätte gebracht worden. Darüber hatten Kommunisten wie sie selbst ihre Integrität und Leistung als Widerstandskämpfer massiv in Frage gestellt. Und nicht zuletzt erinnerten sich viele ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR an Gedenkstättenbesuche, die sie als ritualisiert, wenn nicht bevormundend erlebt hatten, und standen der Gedenkstätte deshalb misstrauisch, wenn nicht sogar ablehnend gegenüber. Von der DDR Überzeugte klammerten sich im Gegensatz dazu an Buchenwald fest. Was manche schleifen wollten, wollten andere konservieren. In dieser Situation tat die Thüringer Landesregierung das im Sinne demokratischer Geschichtskultur einzig Angemessene: Mitte September 1991 berief der Wissenschaftsminister eine Historikerkommission zur Erarbeitung von Leitlinien für die Neukonzeption. Dadurch setzte die Landesregierung ein in seiner Bedeutung nicht zu überschätzendes Zeichen: Die ehemals dem Kulturministerium der DDR direkt unterstellte Gedenkstätte sollte nun

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gerade nicht mehr nach staatlichen – also politischen – Vorgaben gestaltet werden. Zu den Legendenbildungen der neunziger Jahre gehörte, diese Kommission je nach politischer Sichtweise als eindeutig rechts bzw. links – was immer damit gemeint war – zusammengesetzt zu bezeichnen. Tatsächlich kennzeichneten sie Pluralität und Fachkompetenz. Mitglieder waren Eberhard Jäckel (Vorsitzender), Konrad Adam, Barbara Distel, Lothar Gall, Ulrich Herbert, Eberhard Kolb, Manfred Messer­schmidt, Manfred Overesch, Reinhard Rürup, Christoph Stölzl und Wolfgang Wippermann. Die Kommission hat insgesamt drei Mal vor Ort getagt und zur ersten und letzten Sitzung Vertreter nationaler und internationaler Opferverbände hinzugezogen, darunter des Zentralrats der Juden in Deutschland, des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma, des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD) und der Initiativgruppe Buchenwald 1945–1950. In der ersten Sitzung wurde Übereinstimmung erzielt, dass sowohl an das Konzentrationslager als auch an das sowjetische Speziallager zu erinnern sei. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung sollte im Sinne historisch gebotener kritischer Selbstreflexion auf dem nationalsozialistischen Konzentrationslager liegen und dieser die Auseinandersetzung mit der Geschichte des sowjetischen Speziallagers nachgeordnet werden und nicht untergeordnet, wie auch heute noch gelegentlich fälschlich behauptet wird. Empfohlen wurde, die Erinnerungsstätten räumlich voneinander zu trennen. Im Blick auf die 1984/85 letztmalig erneuerte KZ-Ausstellung konstatierte die Kommission die Notwendigkeit umfassender Neugestaltung entsprechend des Forschungsstandes, im Blick auf die endgültige Gestaltung einer »Gedenkstätte zum Speziallager 2 für eine Ausstellung bzw. Dokumentation« die Notwendigkeit »weiterer Aufklärung und langfristiger Forschung«. In der dritten Sitzung wurde unter anderem der heutige Standort des Speziallagermuseums direkt gegenüber dem großen Grabfeld 1 unmittelbar hinter der nördlichen Lagergrenze empfohlen sowie die Einrichtung einer Ausstellung zur Gedenkstätte in der DDR und ihrer »Verwendung zum Zwecke der Staatspropaganda und politischen Instrumentalisierung«.3 Am 17. September 1992 debattierte der Thüringer Landtag die Empfehlungen und schloss sich ihnen einstimmig an. Breiter hätte die Neukonzeption demokratisch nicht legitimiert werden können. Empfohlen hatte die Kommission auch, die damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätte an der Erarbeitung der neuen Ausstellun3 ��������������������������������������������������������������������������� Gedenkstätte Buchenwald (Hg.): Zur Neuorientierung der Gedenkstätte Buchenwald. Die Empfehlungen der vom Minister für Wissenschaft und Kunst des Landes Thüringen berufenen Historikerkommission, Weimar-Buchenwald 1992.

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gen zu beteiligen. Auf diese Weise trug sie der Tatsache Rechnung, dass 1989/90 ein gedenkstätteninterner Prozess der Selbstüberprüfung begonnen hatte, und setzte zugleich darauf, dass die zukünftigen Gremien der Stiftung – Stiftungsrat, wissenschaftliches Kuratorium und Häftlingsbeiräte – die Arbeit an der Neukonzeption aufmerksam und kritisch begleiten würden, also eine Evaluation »by doing« gewährleistet sei. Ausdruck des Prozesses innerer Selbstkritik waren unter anderem die Veröffentlichung eines Positionspapiers im Dezember 1989, in der Gedenkstättenmitarbeiter forderten, sich auch mit dem »Nachkriegslager« zu befassen, die Errichtung eines Holzkreuzes im Februar 1990 als erster Markierung des heutigen Speziallagergrabfeldes 1, ein erstes Treffen von zweihundert ehemaligen Speziallager­ internierten und deren Angehörigen im Juni 1990 mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte zu Fragen der Lagergeschichte sowie die Einrichtung der ersten provisorischen Ausstellung zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers am 14. September 1990. Gewiss war die Entscheidung, die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der »Nationalen Mahnund Gedenkstätte Buchenwald« an der Neukonzeption zu beteiligen, riskant, aber diese Entscheidung war auch mutig und sie hat sich gelohnt. Statt pauschal vorzuverurteilen, setzte diese Empfehlung auf überprüfbare Bewährung durch Arbeit an der Sache und gegebenenfalls auch auf dienstrechtlich zu sanktionierende Nicht-Bewährung. Zugleich setzte sie so ein Zeichen gegen mannigfaltige Behauptungen und Ängste, die Westdeutschen kämen als Usurpatoren. Die heutige breite Akzeptanz der Arbeit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Ost- und Westdeutschland und darüber hinaus resultiert nicht zuletzt daraus, dass in Buchenwald im wirklichen Wortsinn west-ostdeutsche Gemeinschaftsarbeit geleistet worden ist. Verschwiegen sei nicht, dass das Leben mit dieser Entscheidung nicht immer leicht war. Da gab es einerseits ernst zu nehmende Besorgnisse unter anderem aus Kreisen der DDR-Bürgerbewegung, ob dieses Experiment auf Grund von DDR-Vorgeschichte und -Prägungen der ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überhaupt gelingen könne. Da gab es andererseits abzuweisende vordergründige Polemiken, die alle ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne genauere Hinsicht kollektiv auf Lebenszeit unter Verdacht stellen bzw. abstrafen wollten. Wenn heute jedoch beispielsweise Günther Rudolph, der Vorsitzende des Häftlingsbeirats des Speziallagers, wie zahlreiche andere ehemalige Internierte auch, von Dr. Bodo Ritscher, der maßgeblich die Aufarbeitung und Veröffentlichung der Geschichte des Speziallagers in Buchenwald mit in Gang setzte und mittlerweile in der »science community« als anerkannter Sachkenner gilt, als »unserem Bodo« spricht, dann ist

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dies ein deutlicher Beleg dafür, dass sich das Risiko gelohnt hat. Gesagt werden muss aber auch, dass die Stiftung mehrmals die Überprüfung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch die Gauck-Behörde veranlasst hat. Wie sich dabei zeigte, war der Stasispitzel an der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald« – das mag nach einem billigen Krimi-Klischee klingen – der Gärtner, was darauf hinweist, dass in Buchenwald nicht zuletzt die unvermeidlichen Ost-West-Kontakte zwischen Besuchern unter Beobachtung standen. Der Gärtner wurde entlassen. 1995 musste auch das einzige ostdeutsche Mitglied des wissenschaftlichen Kuratoriums, Prof. Dr. Olaf Groehler, wegen Zusammenarbeit mit der Stasi aus diesem Gremium ausscheiden. Der in den Empfehlungen der Historikerkommission erreichte und von allen, auch von den verschiedenen Opfergruppen und -verbänden mitgetragene Konsens hatte zunächst keinen Bestand. Die Gründe dafür sind vielfältig. Bei der Besetzung der Gedenkstättenleitung bewies das Wissenschaftsministerium anfangs keine glückliche Hand. Im März 1991 musste der erste neu berufene Leiter nach nur zweiwöchiger Amtszeit zurücktreten, weil er seine DKP-Mitgliedschaft verschwiegen hatte. Sein fachlich kaum ausgewiesener Nachfolger machte die ehemalige Parteisekretärin zu seiner rechten Hand und übergab ihr weitgehende Vollmachten. So, wie er sich Anfangs unkritisch hinter die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellte – nicht einmal Einsicht in die Personalakten hat er genommen –, charakterisierte er sie 1993/94 öffentlich ebenso pauschal als restaurativ, obwohl die bis dahin geleistete Arbeit, wie eine Untersuchung im Auftrag des Wissenschaftsministeriums im Frühjahr 1994 ergab, dem keinesfalls entsprach. Zu erwarten war auch nicht, dass sich die Langzeitprägungen ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers wie auch des Speziallagers über Nacht in Luft auflösen würden. Drei einander teils inhaltlich, teils sozialpsychologisch entgegenstehende Gedächtnistypen lassen sich in diesem Zusammenhang grob unterscheiden: Erstens das dogmatische Gedächtnis jener ehemaligen kommunistischen Häftlinge, die sich mit Zustimmung der SED bis dahin als alleinige Sachwalter Buchenwalds hatten fühlen können. Zweitens das skeptische Gedächtnis derjenigen KZ-Überlebenden, die in den Jahrzehnten zuvor in Buchenwald kaum, verzerrt oder gar nicht repräsentiert waren und die darüber hinaus oft auch mit der bundesrepublikanischen »Vergangenheitsbewältigung« nicht nur gute Erfahrungen gemacht hatten. Man denke nur an die Schwierigkeiten und Lücken bei der justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen, an die hinhaltende und selektive Entschädigungspolitik oder die verspätete und häufig nicht gern gesehene Gründung von Gedenk- und Bildungsstätten an den authentischen Orten. Diesen ehemaligen Häftlingen wurde nun ein enormer Vertrauensvorschuss in Bezug auf die Neukonzep-

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tion »ihrer« Gedenkstätte abverlangt. Gleiches galt drittens auch für die ehemals im sowjetischen Speziallager Internierten, die auf Grund des Beschweigens ihrer Geschichte in der DDR oft gezwungen gewesen waren, über Jahrzehnte mit einem gestauten Gedächtnis zu leben, und die in Westdeutschland häufig die Erfahrung gemacht hatten, dass das Interesse an ihrer Geschichte spätestens mit dem Mauerbau weitgehend erlosch. Außerdem mangelte es an gesichertem Wissen sowohl in Bezug auf die Geschichte des Konzentrations- wie des Speziallagers – ein Vakuum, in dem die Legenden blühten. Umfassende Forschungen zur Geschichte des KZ Buchenwald hatte es in Westdeutschland nicht gegeben. Die am weitesten entwickelte Geschichte der sowjetischen Speziallager war 1979 von Karl Wilhelm Fricke als Teil seines Buches »Politik und Justiz in der DDR« vorgelegt worden. Auf nicht mehr als dreißig Seiten konnte er hier die Geschichte aller Lager behandeln – deutlicher kann der seinerzeitige Quellen- und Informationsmangel nicht zum Ausdruck kommen.4 Eine umfassende und differenzierte Forschung zu allen Fassetten der Geschichte Buchenwalds zu betreiben, hieß deshalb nicht nur, so viele unbeschriebene Seiten wie möglich zu füllen, sondern bedeutete zwangsläufig auch, existierende Geschichtsbilder und Wertungen auf den Prüfstand zu stellen. Dass hierdurch Geschichtsbilder wie auch politische Gewissheiten und Positionen in Frage gestellt und sogar delegitimiert wurden, war ebenso unausweichlich wie der strukturell unvermeidliche Konflikt zwischen Historikern und Zeitzeugen. So ernst Zeitzeugenberichte zu nehmen sind und so unabdingbar sie hinsichtlich bestimmter Fragen waren, so waren sie doch immer, wie alle anderen historischen Quellen auch, kritisch in Bezug auf Sachgehalt und Geltungsanspruch zu hinterfragen. Es wundert deshalb nicht, dass sowohl von kommunistischer Seite wie von ehemaligen Speziallagerhäftlingen die Forderung erhoben wurde, man möge den Historikern endlich »das Handwerk legen«. Wie aber wäre dann die Versachlichung von Konflikten und die Einrichtung umfassender, inhaltlich hinterfragbarer und transparenter Ausstellungen möglich geworden? Bevor ich einige der defizitärsten und konfliktträchtigsten Geschichtsbilder umreiße, möchte ich anmerken, dass ich es als besonders unangemessen, wenn nicht sogar als unanständig empfunden habe, wenn historische Konkretion und differenzierte Betrachtung – erst recht von politischer Seite – der einen Geschichte eingefordert und begrüßt wurden, die jeweils andere davon aber ausgenommen sein sollte, angeblich um die Opfer 4 ������������������������������������������������������������������������������ Karl Wilhelm Fricke: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1990 [zuerst 1979].

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vor Kränkung zu schützen. Messen mit zweierlei Maß hätte die Neukonzeption, gerade an einem Ort jahrzehntelanger politischer Funktionalisierung wie Buchenwald, neuerlich bis ins Innerste delegitimiert. Als unhaltbar erwiesen sich – um nur zwei Leitmotive der DDR-Buchenwald-Geschichtsschreibung anzusprechen – sowohl die Behauptung uneingeschränkter, selbstloser Solidarität deutscher kommunistischer Funktionshäftlinge als auch die Legende, das Konzentrationslager sei aus eigener Kraft vom Lagerwiderstand unter Führung deutscher Kommunisten befreit worden. Vielmehr nutzten kommunistische Kapos ihre Stellung in erster Linie zum Schutz politischer Parteigänger, aber auch für die Bekämpfung politischer Gegner. Und die Deutung der Befreiung als autarke Selbstbefreiung diente nicht nur der Selbstlegitimation der kommunistischen Elite im KZ Buchenwald, sondern hing auch damit zusammen, dass am Vormittag des 11. April 1945 aus politischer Sicht die »falschen« Truppen, nämlich Einheiten der III. US-Armee, Teile des Lagers überrollt und die SS zur Flucht veranlasst hatten. Zur bitteren Kehrseite dieser Geschichtsdarstellung gehört, dass sie nicht nur ideologischen Funktionen folgte, sondern auch den tatsächlichen, nicht zuletzt von Kommunisten in Buchenwald geleisteten Widerstand und Schutz anderer als solchen nicht wahrnahm und dadurch letztendlich entwertete. Gleichfalls als unhaltbar erwies sich die DDRDarstellung der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald«. Diese wurde ausschließlich als gemeinschaftliches Aufbau- und Erinnerungswerk ohne jede Bevormundung, Pression und Zensur bar aller Funktionalisierung dargestellt. Allein der Umgang mit Fritz Cremer, dem Schöpfer der Buchenwald-Plastik befreiter Häftlinge in der Mahnmalsanlage von 1958, widerlegt diese Darstellung. Die quellengesättigte Dekonstruktion des DDR-Buchenwald-Geschichts­ bildes mittels der bereits erwähnten Ausstellung – der ersten zur politischen Konstruktion und Funktionalisierung von Erinnerung in Deutschland – stieß, wie nicht anders zu erwarten war und wie auch seinerzeit die neue KZAusstellung, nicht nur auf Zustimmung, sondern auch auf entsprechende Ablehnung. Im Sommer 1992 begann eine enge Forschungskooperation mit dem Archiv der Russischen Föderation, durch die Historiker der Gedenkstätte Buchenwald als erste Deutsche Einblick in bis dahin geheime Aktenbestände zu sowjetischen Speziallagern und namentlich zu Buchenwald erhalten hatten. Auch diese Forschungen führten zu Ergebnissen, die die DDR-Behauptung eindeutig widerlegten, im sowjetischen Speziallager Nr. 2 seien ausschließlich Nazi- und Kriegsverbrecher gefangen gehalten worden. Trotz unabweislicher Belege wurde und wird dieser Befund jedoch noch häufig genug ignoriert.

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Andererseits ließen sich aber auch keine Geschichtsbilder halten, die die Existenz sowjetischer Speziallager auf deutschem Boden abgekoppelt von der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland und dessen Raubund Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sehen wollten, die der Unterscheidung zwischen Internierten und von sowjetischen Militärtribunalen Verurteilten – letztere gab es im Speziallager Nr. 2 nicht – oder den jeweiligen Verhaftungszeitpunkten keinerlei Bedeutung zumaßen, oder die behaupteten, die Speziallager hätten ausschließlich zur Ausschaltung demokratischer Opponenten gegen die Sowjetisierung der SBZ/DDR gedient. Beispielsweise verzeichnet das Gedenkbuch für verfolgte Sozialdemokraten nur vier Häftlinge für das Speziallager Buchenwald, von denen jedoch bei genauerer Hinsicht einer zuvor NSDAP-Blockleiter gewesen ist und ein anderer niemals in einem Speziallager gefangen gehalten wurde. Demgegenüber erinnert sich der ehemalige Speziallagerhäftling Ernst-Emil Klotz in seinem Buch »So nah der Heimat. Gefangen in Buchenwald 1945–1948« zutreffend: »So war denn Buchenwald nicht nur das Lager der Fünfzigjährigen und das Lager der kleinen Leute. Es war zugleich das Lager der Blockleiter, der Kassierer, der Helfer und kleinen Parteigenossen.«5 Hinzugefügt werden muss, dass das Speziallager Nr. 2 darüber hinaus auch das Lager der vielen gänzlich Unbelasteten und einer noch nicht genau quantifizierbaren, aber deutlich identifizierbaren Gruppe tatsächlich Schwerbelasteter war, wie dem nachweislich an Euthanasiemorden beteiligten Arzt Dr. Gerhard Wischer oder dem Kommandeur der Sicherheitspolizei im Sperrgebiet des KZ Mittelbau, SS-Obersturmbannführer Helmut Bischoff. Die Stiftung hat nie im Zweifel gelassen, dass NSBelastungen weder bagatellisiert noch verschwiegen, aber auch nicht dafür genutzt werden dürfen, die Menschen verschlingende, jede Vorstellung von gerechter Strafe ad absurdum führende stalinistische Internierungspraxis nachträglich zu legitimieren. Beides hätte die Arbeitet der Gedenkstätte neuerlich delegitimiert. Maßlose Übertreibung und gezielte Desinformation einerseits und absichtsvolle Bagatellisierung andererseits gingen bei den Auseinandersetzungen um die Umgestaltung der beiden vorgefundenen Speziallager-Grabfelder zu Friedhöfen und bei der Einrichtung der Ausstellung zur Speziallagergeschichte nur zu häufig Hand in Hand. Beispielsweise behauptete Emil Carlebach 1993 für die ehemalige DDR-Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald unter der Überschrift »Reichskriegsflagge über Buchenwald? Eine zweite

5 Ernst-Emil Klotz: So nah der Heimat. Gefangen in Buchenwald 1945–1948, Bonn 1992, S. 54.

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Rudolf-Heß-Walhalla in Vorbereitung«,6 Buchenwald werde »zu einem neuen Sammelpunkt der Neonazis, die sich bisher auf das Grab des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß beschränken müssen.« Auf der anderen Seite blendete die Rede von den kleinen NS-Funktionsträgern als per se unschuldigen Mitläufern deren tatsächliche Funktion – beispielsweise als »Blockwarte« – im nationalsozialistischen Verfolgungsapparat aus. Detlef Schmiechen-Ackermann hat diese Funktionen umfassend beschrieben: Es handelte sich dabei um politische Überwachung der Bevölkerung, Unterstützung der Gestapo im Sinne von Hilfspolizisten, Zuarbeit für die Judenverfolgung durch Registrierung von »Rassefeinden«, Propagierung der NS-Ideologie und Organisation der inneren Front.7 Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Bei der Beschreibung dieser Funktionen geht es nicht um eine nachträgliche pauschale Verurteilung, wohl aber darum aufzuzeigen, was ebenso wenig pauschal verharmlost werden darf und welche Mehrschichtigkeiten und Ambivalenzen ausgehalten und für demokratische Erinnerungskultur fruchtbar gemacht werden müssen. Die Tatsache, dass der »Verband der Opfer des Stalinismus« ein Verfahren wegen Volksverhetzung gegen mich in Gang setzen konnte – als Volksverhetzung wertete er die Benennung von NS-Belastungen bei Internierten – zeigt, mit welcher Wucht man die Differenzierung (politischer) Geschichtsbilder zum Teil abwehren wollte und wie tief verwurzelt offenbar die Vorstellung war, dass Geschichtsbilder herrschaftlich zu verordnen seien. Das Verfahren selbst wurde schnell eingestellt. Natürlich haben auch das DDR-Geschichtsbild und der DDR-Geschichtsunterricht das ihre zum Aufbau solcher Konflikte beigetragen. Nicht nur, weil die Geschichte der Speziallager und der dorthin verbrachten Menschen beschwiegen worden ist, sondern auch deshalb, weil in der DDR nie eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus geschrieben wurde, die auch die Alltagsdeutschen jener Zeit in den Blick nahm, statt sie durch die Fokussierung auf die Hitler-Clique und die Kapitalisten als angebliche Alleinverursacher des Desasters aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Nicht zuletzt die »Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald« hatte in diesem Zusammenhang eine entlastende Funktion, indem sie Besuchern zu verstehen gab, dass die Faschisten eigentlich immer die anderen gewesen waren: »[…] wir haben nicht gelernt, uns mit der Vergangenheit, mit der 6 Siehe dazu Die Glocke vom Ettersberg, Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora/Freundeskreis e. V., Nr. IV/1993 und Thomas Bickelhaupt: Buchenwald – ein Köder für Neo-Nazis?, in: Neue Zeit vom 28. Dezember 1993. 7 Detlef Schmiechen-Ackermann: Der »Blockwart«. Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparat, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 4/2000, S. 575–602.

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faschistischen Mitläufergeneration unserer Eltern auseinanderzusetzen, […] weil nur zu schnell von unbewältigter Vergangenheit zu einer neuen, lichten Zukunft übergegangen wurde.«8 Dass die selbstkritische Auseinandersetzung mit diesem Teil der Geschichte des Nationalsozialismus auch in Westdeutschland sehr schwer gefallen ist und nicht wenigen nach wie vor schwer fällt, soll hier keinesfalls unterschlagen werden. Zu den besonders anspruchsvollen Aufgaben der Neukonzeption Buchenwalds gehörte vor diesem Hintergrund die Gestaltung des Erinnerungsortes an die Geschichte des Speziallagers Nr. 2 und der Menschen, die dort gelitten haben bzw. zu Tode gekommen sind. Im Dezember 1991 begann eine Archäologin mit der sorgfältigen und behutsamen Feststellung der einzelnen Gräber. Jede der weit über tausend aufgefundenen und jeweils mit mehreren Leichnamen belegten Grablagen hat die Stiftung durch eine menschenhohe Stahlstele gekennzeichnet, die sich deutlich gegen den (ausgelichteten) Wald abhebt, der diese Gräber einmal unkenntlich machen sollte. Direkt gegenüber dem Grabfeld 1 befindet sich das schlichte, in seiner äußeren Hülle absichtlich hermetisch gehaltene Ausstellungsgebäude, das so bereits als Gebäude auf den hermetischen Einschluss der Internierten, auf den Charakter des Lagers als Schweigelager verweist. Bewusst durchbrochen wird die dem Grabfeld zugewandte Fassade durch einen gesichtsbreiten verglasten, die Hermetik irritierenden Spalt. Genau vor diesem liegt im Inneren, eingebunden in die Ausstellung, das Totenbuch mit mehr als siebentausend Namen, über das der Blick auf Gräber und Stelen fällt. Zwei Trauerplätze sind heute Teil dieses Grabfeldes. Zum einen der Ort, an dem die Gedenkstätte 1990 das erste Kreuz errichtet hat und an dem seither Angehörige persönlich gewidmete Gedenkzeichen – zumeist weitere Kreuze – aufgestellt haben. Zum anderen ein Versammlungsplatz gegenüber dem Eingang zur Ausstellung, auf dem zunächst – auf Anregung des Häftlingsbeirats – von der Gedenkstätte eine Kopie des ersten Erinnerungskreuzes von 1990 aufgestellt wurde und auf dem sich heute ein der Gesamtgestaltung angepasstes höheres Kreuz befindet. Verschiedentlich wurde diese Gestaltung aus politischen Gründen – ästhetische Sozialisation mag auch eine Rolle gespielt haben – für absichtlich stillos und hässlich erklärt. Manche denunzierten das Museumsgebäude gar als absichtsvoll versteckten »Kartoffelkeller« und unterschlugen dabei in der Regel die Existenz des großflächigen Gräber- und Stelenfeldes. Andere haben

8 Rosemarie Gratz am 3. Januar 1990 in AK Zwo des 2. Programms des Fernsehens der DDR.

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auf Anhieb verstanden, was hier zum Ausdruck gebracht werden sollte, so zum Beispiel Margot Meyer-Rühle von Lilienstern, die mir 1998 schrieb: »Mich hat das Spezialschweigelager Buchenwald II mit den Zeugnissen im Museum und Gräberfeld sehr beeindruckt. Ich schicke Ihnen eine Niederschrift mit. […] Ich muß sagen, die Lösung mit dem Totenwald ist besser als jede andere.«9

Der ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete und Speziallagerhäftling Dr. Erhart Glaser schrieb gleich nach der Einweihung der Anlagen im Mai 1997: »Nun einige Bemerkungen zu dem im ganzen recht gelungenen Unternehmen. Im Gegensatz zu Herrn […] finde ich die architektonische Lösung des Gebäudes in keiner Weise stillos (FAZ v. 26. 05. 97). Im Gegenteil, es ist durch diesen Bau gelungen, einiges von dem deutlich zu machen, was auch in den Reden [der Zeitzeugen; d. Verf.] am Sonntag anklang. Das quasi Verstecken hinter dem Magazingebäude, wenn man vom Torhaus guckt, symbolisiert die zeitliche Abfolge der Geschehnisse, die in den beiden Gebäuden dokumentiert werden. Es war eben erst Hitler da, und nur durch seine Politik konnten die Sowjets ins Land kommen. Die Nähe zum Grabfeld schafft einen unmittelbaren Bezug zu den Toten«.10

Vielleicht haben mittlerweile ja auch einige Mitglieder der so genannten autonomen Antifa begriffen, was diese Stelen und dieser Wald zum Ausdruck bringen wollen: Dass nämlich niemand das Recht hat, Menschen aus jedem Recht zu verstoßen und verschwinden zu lassen, und dass Unrecht nicht durch Unrecht aus der Welt gebracht werden kann. Noch im April 1996 überzogen sie Stelen mit Mülltüten und stießen einige der von Angehörigen gesetzten Grabkreuze um, ein Übergriff, der umgehend auch von den Verbänden der Konzentrationslagerhäftlinge scharf verurteilt und von der Gedenkstätte zur Anzeige gebracht wurde. Das hier Umrissene weist exemplarisch darauf hin, dass es die Opfer, wie es so oft heißt, nicht gibt. Stattdessen gibt es individuelle Menschen, die ihre Geschichte tragen, sie auf ihre eigene unterschiedliche Weise verarbeiten, sie deuten und Schlüsse aus ihr ziehen. In öffentlichen und erst recht in geschichtspolitischen Auseinandersetzungen wird dies aber nur zu leicht vergessen oder willentlich missachtet. Dort werden Opfer – wie es für die DDR typisch war – sehr schnell zu angeblich homogenen Kollektivsubjekten 9 Margot Meyer-Rühle von Lilienstern in einem Brief vom 6. April 1998 an die Gedenkstätte Buchenwald. 10 ����������������������������������������������������������������������������� Dr. Erhart Glaser in einem Brief vom 27. Mai 1997 an die Gedenkstätte Buchenwald.

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vereinheitlicht, in deren Namen dann von politisch Ambitionierten der einen oder der anderen Couleur gesprochen werden kann. Auch solche anmaßenden Funktionalisierungen haben zum Aufschaukeln von Konflikten beigetragen. Mit der Würdigung von Opfern, auch wenn dies nach außen hin immer wieder behauptet wird, haben solche Praktiken hingegen nichts zu tun. Echte Würdigung nimmt die einzelnen Menschen einschließlich der gegebenenfalls mit ihren Geschichten verbundenen Ambivalenzen ernst und erkennt gerade dadurch unzweideutig das Leid an, das Menschen erfahren haben. So, wie es die Enkelin eines im Speziallager Nr. 2 Umgekommenen getan hat, die 1996 auf eine um einen Baum im Speziallagergräberfeld 1 geschlungene große weiße Schleife folgendes Memento schrieb: »Meinem geliebten armen Großvater Curt Rühle von Lilienstern zum 50. Todestag. Gestorben am 8. Jan. 1946. Seine Enkelin Astrid Rühle. 8. Jan. 1996. [Darunter hatte sie ein Herz gemalt; d. Verf.] Er war Generalmajor und Opfer seiner soldatischen Obrigkeitstreue, die auch vor Hitler nicht Halt gemacht hat. Ich wünschte, er hätte sich verweigert. Er möge in Frieden ruhen.«

Gewiss, solche Erinnerungsarbeit ist schmerzhaft und kostet Mühen des Herzens und des Verstandes. Aber sie ist möglich und kann befördert werden durch eine Gedenkstättenarbeit, die ernst nimmt, dass Erinnerung ohne begründetes, konkretes historisches Wissen schnell zur Manipulation wird; die bedenkt, dass Gelände- und Ausstellungsgestaltungen die Nutzung und Entfaltung der eigenen historischen Vorstellungskraft befördern müssen, anstatt Menschen vordergründig affektiv zu übermächtigen, damit aus Berührung und Empathie, aus Kenntnissen und Erkenntnissen eigenständige historische Urteilskraft erwachsen kann. Die Gedenkstättenarbeit muss sich hinsichtlich der Beförderung demokratischer Kultur darüber im Klaren sein, wie unabdingbar die Ausbildung individueller gesellschaftlicher Sensibilität und Verantwortungsbereitschaft im Gegensatz zur Einforderung und Ausformung von Gefolgschaft ist. Sie sollte Konkretion, Vielschichtigkeit, Komplexität und Ambivalenz nicht als Last, sondern als Herausforderung und Chance begreifen, weil gerade dadurch kurzschlüssige, eindimensionale und selbstgefällige Antworten in Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unmöglich werden, sondern fruchtbare Fragen provoziert werden und kritische Reflexionsprozesse in Gang kommen können.

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Literaturhinweise Knigge, Volkhard: Buchenwald. Tatort – Gedenkstätte – Museum. Gedächtnisarbeit für die Zukunft, in: Eva Schulz-Jander u. a. (Hg.): Erinnern und Erben in Deutschland. Versuch einer Öffnung, Kassel 1999. Ders.: Erinnerungsarbeit in der Gedenkstätte Buchenwald, in: Reinhold Boschki/Dagmar Mensink (Hg.): Kultur allein ist nicht genug. Das Werk von Elie Wiesel. Herausforderung für Religion und Gesellschaft, Stuttgart 1998. Ders.: Fritz Cremer. Buchenwald-Denkmal, in: Monika Flacke (Hg.): Auftragskunst der DDR 1949–1990, München/Berlin 1995. Ders.: Gedenkstättenarbeit zwischen Aufklärung und humanitärem Anspruch, in: WerkstattGeschichte, Nr. 16/April 1997. Ders.: Die Geschichte der Gedenkstätte Buchenwald, Begleitheft zur Dauerausstellung, Weimar-Buchenwald 1999. Ders.: Vom Mythos zum Museum. Forschung in der Gedenkstätte Buchenwald, in: Thüringer Museumshefte, Nr. 2/1997. Ders.: »Opfer. Tat. Aufstieg.« Vom Konzentrationslager Buchenwald zur Nationalen Mahn- und Gedenkstätte der DDR, Leipzig-Spröda 1997 [= Bd. 1 von: Volkhard Knigge/Jürgen M. Pietsch/Thomas A. Seidel (Hg.): Versteinertes Gedenken. Das Buchenwalder Mahnmal von 1958, 2 Bde., Leipzig-Spröda 1997]. Ders.: Vom provisorischen Grabdenkmal zum Nationaldenkmal, in: Bauwelt, Nr. 39/20. Oktober 1995. Ders.: Im Schatten des Ettersberges. Von den Schwierigkeiten der Vernunft. Unbefragte Traditionen und Geschichtsbilder, in: WerkstattGeschichte, Nr. 14/Oktober 1996. Ders./Lüttgenau, Rikola-Gunnar u. a.: Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Speziallager Nr. 2 1945–1950. Zwei Lager an einem Ort – Geschichte und Erinnerungskonstruktion, Weimar-Buchenwald 1998. Ders./Ritscher, Bodo (Hg.): Totenbuch Speziallager Buchenwald 1945–1950, Weimar-Buchenwald 2003. Mironenko, Sergej/Niethammer, Lutz u. a. (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, 2 Bde., Berlin 1998. Niethammer, Lutz: Der »gesäuberte« Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, Berlin 1994. Reif-Spirek, Peter/Ritscher, Bodo (Hg.): Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit »doppelter Vergangenheit«, Berlin 1999. Ritscher, Bodo u. a. (Hg.): Internierungspraxis in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Erfurt 1993.

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Ders. u. a.: Das sowjetische Speziallager Nr. 2 1945–1950. Katalog zur ständigen Ausstellung, Göttingen 1999. Ders. u. a. (Hg.): Die sowjetischen Speziallager in Deutschland. Eine Bibliographie, Göttingen 1996. Stein, Harry: Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen Ausstellung, Göttingen 1999. Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hg.): Die Neukonzeption der Gedenkstätte Buchenwald, Weimar 2001. Zimmer, Hasko: Der Buchenwald-Konflikt. Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Wiedervereinigung, Münster 1999.

Peter Maser

Der lange Weg in die Andreasstraße. Anmerkungen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen

Die Aufarbeitung der SED-Diktatur im Freistaat Thüringen ist in den letzten Jahren kräftig in Bewegung geraten, dabei aber auch ins Gerede gekommen. Der folgende Bericht stammt von einem engagierten Beobachter aus dem unmittelbaren geographischen Grenzbereich zu Thüringen, der an vielen Diskussionen und Klärungsprozessen zur Zukunft der Aufarbeitung in Thüringen direkt beteiligt war. Eine irgendwie vollständige Dokumentation und Bewertung dieser Entwicklungen wird jedoch nicht angestrebt. Der Beobachter, der seit 1992 auf manchen Ebenen und auf unterschiedliche Weise an der Formierung der Aufarbeitung der SED-Diktatur im vereinigten Deutschland beteiligt war und ist, hat sich in den letzten Jahren, in denen er die Thüringer Irrungen und Wirrungen in Sachen Aufarbeitung der SED-Diktatur aus nächster Nähe kennenlernte, oft gefragt, was die Herbeiführung tragfähiger Kompromisse in Sachen Aufarbeitung gerade im Freistaat so außerordentlich schwierig macht. Dieser Bericht versucht, erste, keineswegs auf Vollständigkeit bedachte und durchaus von der persönlichen Sicht des Berichterstatters bestimmte Beobachtungen und Antworten auf diese Frage zu formulieren.1 Es geht um Thüringen als Beispiel für gelingende Aufarbeitung der SED-Diktatur, aber auch um die Schwierigkeiten, die diesen notwendigen politisch-historischen und psychologischen Prozess wohl fast zwangsläufig begleiten – und das nicht nur in Thüringen. Einzelne Namen, Daten und Texte sollen hier dementsprechend eine nachgeordnete Rolle spielen. Aber nicht nur in Thüringen wird immer deutlicher: Die Aufarbeitung der Aufarbeitung wird nicht mehr lange auf sich warten lassen dürfen.

1 Das Manuskript wurde im Juni 2012 abgeschlossen.

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Vom »Grenzland« zu »Deutschlands starker Mitte« Thüringen bezeichnet sich gern regierungsamtlich als »Deutschlands starke Mitte«. Irgendwo bei Niederdorla oder in Landstreit bei Eisenach, vielleicht aber auch in Dingelstädt-Silberhausen/Eichsfeld soll ja der Mittelpunkt Deutschlands liegen. Entsprechende Ansprüche von Besse bei Kassel oder Krebeck im Landkreis Göttingen müssen demgegenüber als nicht hinreichend begründet zurückgewiesen werden. Weshalb aber gibt es im Freistaat, der von den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Hessen und Bayern lückenlos umschlossen wird, dann vier »Grenzmuseen«? So fragen nicht nur immer mehr jüngere Bewohner dieses deutschen Binnenlandes. Sie können sich schon nicht mehr vorstellen, dass Thüringen bis 1989 im Westen und Süden durch eine Grenze von 763 km Länge, an der der Schießbefehl der SED-Machthaber galt und jeder »Grenzdurchbruch« mit Stacheldraht, Betonsperrmauern, Wachtürmen, Selbstschuss- und Hundefreilaufanlagen verhindert werden sollte, von der Bundesrepublik getrennt war. 1989/90 erfasste die Friedliche Revolution auch ganz Thüringen. Nicht nur in Erfurt, Gera und Suhl, den damaligen Bezirkshauptstädten, flammte der Protest gegen die Zumutungen der SED-Machthaber auf: Aktionen gab es ebenso in Nord- und Sondershausen, in Eisenach, Bad Salzungen, Meiningen, Hildburghausen, Ilmenau, Rudolstadt, Saalfeld, Weimar, Jena, Pössneck, Lobenstein, Greiz, Zeulenroda, Schmölln, Altenburg, Eisenberg, Apolda und an noch manch anderen Orten. Eine von der Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Hildigund Neubert, 2009 entworfene und herausgegebene Karte setzt diese Vielfalt des Protests und des demokratischen Aufbruchs in Thüringen sehr eindrücklich ins Bild.2

Die Thüringer Aufarbeitungs- und Gedenkstättenlandschaft An Orten und Einrichtungen, wo in Thüringen die SED-Diktatur aufgearbeitet und ihrer Opfer gedacht wird, fehlt es schon heute eigentlich nicht. Aber das Gesamtbild dieser Aufarbeitungs- und Gedenkstättenlandschaft präsentiert sich noch immer recht zufallsbestimmt und diffus. Eine ministeriale Aufstellung aus dem Herbst 2008 listet vier Grenzlandmuseen (Eichs2 Die Karte ist als PDF-Dokument online abrufbar unter: www.thueringen.de/ imperia/md/content/text/justiz/strasse_menschenrechte_friedliche_revolution_ pdf.pdf [01.02.2012].

Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen

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feld-Teistungen, Schifflersgrund, Mödlareuth und Point Alpha), zwei Haftgedenkstätten (Amthordurchgang Gera, MfS-Haftanstalt Andreasstraße Erfurt [i. G.]), drei Aufarbeitungsinitiativen (Geschichtswerkstatt Jena e. V. und Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« in Jena sowie das Bürgerkomitee des Landes Thüringen e. V. in Zella-Mehlis) und drei Opfer- bzw. Zeitzeugenverbände (Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V., Gesellschaft für Zeitgeschichte e. V., Freiheit e. V.) auf, die vorwiegend mit Projektmitteln und teilweise mit institutioneller Förderung des Thüringer Kultusministeriums3 arbeiten. Hinzu kommen die Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung mit Sitz in Weimar, die Landesbeauftragte des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, die Außenstellen Erfurt, Gera und Suhl des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen sowie die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora mit der Erinnerung an das Sowjetische Speziallager Nr. 2, die auf unterschiedliche Weise an der Aufarbeitung der SED-Diktatur beteiligt und institutionell durch Landes- bzw. Bundesmittel abgesichert sind. Hinzu kommt schließlich noch der im Herbst 2010 gegründete AufRecht e. V., eine Abspaltung von Freiheit e. V. Die Vielfalt der Akteure und Aktivitäten zur Aufarbeitung der SEDDiktatur in Thüringen spiegelt in ihrer Kleinteiligkeit nicht nur die Vielfalt eines in der jeweiligen Region gewachsenen bürgerrechtlichen und bürgerschaftlichen Engagements im heutigen Freistaat wider, sondern hat wohl auch noch manches mit weiterwirkenden Mentalitätsstrukturen des bis 1920 in sieben Freistaaten zergliederten thüringischen Raums zu tun. Die Fülle der Aufarbeitungsadressen bedeutet für Thüringen einerseits gewiss einen großen Reichtum der Angebote und Möglichkeiten. Andererseits präsentiert sich die thüringische Aufarbeitungslandschaft damit zugleich als wenig strukturiert, unzureichend koordiniert und schon deshalb nicht zukunftsfest, weil die Finanzierung der verschiedenen Initiativen noch nicht verlässlich geklärt ist. Was ursprünglich Stärke und Bodenhaftung bedeutete, nämlich das Herauswachsen der Aufarbeitungseinrichtungen aus dem bürgerrechtlichen bzw. bürgerschaftlichen Engagement der jeweiligen Region, wird auf andere Weise noch – je länger je mehr – zum Problem: Die Zeitzeugen, ob Bürgerrechtler oder Opfer der SED-Diktatur, haben inzwischen vielfach das Rentenalter erreicht. Zu ehrenamtlichem Einsatz bereiter Nachwuchs lässt sich aber nur 3 Seit 2009 Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (TMBWK).

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schwer finden, da Oppositionellen- und Opfer-Schicksale eben nicht direkt vererbbar sind. Welchen Problemen sich die Kinder und Enkel der Opposition in der DDR und der Opfer der SED-Diktatur inzwischen tatsächlich gegenübersehen, ist allerdings bisher weder in den Kreisen der unmittelbar Betroffenen noch in der zeitgeschichtlichen Forschung angemessen beachtet worden. Auch die regionale Verhaftung der meisten ehrenamtlich getragenen Einrichtungen, die zunächst ihre Stärke war, erweist sich inzwischen – je länger je mehr – auch als Schwäche, bedingt sie doch eine ständig geringer werdende Streubreite der einzelnen Gedenkorte, was die bearbeiteten Themen, die Qualität der Expositionen und die Zahl der Besucher betrifft.

Der Geschichtsverbund Thüringen Aus allen diesen Gründen bezeichnete das vom Thüringer Kultusminister berufene »Expertengremium zur Beratung der Nutzungskonzepte für eine künftige Gedenkstätte im ehemaligen MfS-Untersuchungsgefängnis Andreasstraße« in seinen Empfehlungen vom Herbst 2008 die »Weiterentwicklung der thüringischen Gedenkstättenlandschaft zu einem Geschichtsverbund (als) unvermeidlich« und wies der »Gedenkstätte Andreasstraße« in diesem Verbund die Aufgabe zu, »einen zentralen Ort der Präsentation der regionalen und lokalen Projekte zu bieten, eine Thüringer Gedenk- und Lerntopographie sichtbar zu machen«, die »Professionalisierung der lokalen und regionalen Aufarbeitungsprojekte […] zu befördern« und »eine gemeinsame Plattform der Öffentlichkeitsarbeit durch Koordination und materielle Sicherstellung zu gewährleisten«4. Der »Geschichtsverbund Thüringen« konstituierte sich am 11. Juni 2009 als »Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« von damals 18 Mitgliedern. Bis 2012 wurde er von der Stiftung Ettersberg moderiert, danach übernahm das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« (ThürAZ) die Geschäftsführung. Eine optisch attraktive und sachlich hilfreiche Broschüre stellt inzwischen die am Geschichtsverbund beteiligten Einrichtungen vor.5 In seinem Geleitwort verbindet KultusStaatssekretär Prof. Dr. Thomas Deufel hohe Erwartungen mit der Neugrün4 Expertengremium zur Beratung der Nutzungskonzepte für eine künftige Gedenkstätte im ehemaligen MfS-Untersuchungsgefängnis Andreasstraße: Empfehlungen zum Gedenk- und Lernort Andreasstraße und seiner zukünftigen Position in der Thüringer Geschichtskultur, vom 30. September 2008, S. 4. 5 �������������������������������������������������������������������������� Geschichtsverbund Thüringen (Hg.): Geschichtsverbund Thüringen. Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Gera 2010.

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dung und spricht von »Profilbildung, Professionalisierung, Qualitätssicherung, Erfahrungsaustausch, Gewinnung von Synergieeffekten und nicht zuletzt dem Ausbau einer vielfältig vernetzten ›Lernlandschaft Thüringen‹, die insbesondere im Bereich der politischen Bildung auch Landesgrenzen überschreiten sollte.«6 In der Pressemitteilung zur konstituierenden Sitzung des »Geschichtsverbundes Thüringen« wurden solche weitreichenden Absichten bereits wieder zusammengestrichen: »Der ›Geschichtsverbund Thüringen – Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der SED-Diktatur‹ wird dazu beitragen, die bisher gewachsene, vielfältige und demokratische Aufarbeitungslandschaft in Thüringen als solche zu erhalten, nachhaltig zu sichern und weiter zu professionalisieren.«7

In der mehrheitlich beschlossenen Arbeitsordnung des Geschichtsverbundes werden die von Staatssekretär Deufel genannten Ziele zwar notiert, zugleich wird aber auch einschränkend darauf insistiert: »Die Mitglieder des Geschichtsverbundes arbeiten gleichberechtigt und unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit […] zusammen.«8 Erste greifbare Ergebnisse auf dem Wege hin zu einer vertieften Zusammenarbeit wurden der Öffentlichkeit vorgelegt. Programmatisch erklärte der Geschichtsverbund in seiner »Landeskonzeption zur Aufarbeitung der SEDDiktatur in Thüringen« vom Oktober 2010: »Die Thüringer Aufarbeitungslandschaft wird seit 1990 vor allem von zivilgesellschaftlichen Initiativen bestimmt, die dezentral und mit großem bürgerschaftlichem Engagement die Aufarbeitung der SED-Diktatur angestoßen haben und betreiben. Diese Vielfalt ist ein Reichtum, garantiert sie doch zugleich einen demokratischen und vielschichtigen Zugang zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Diese zu wahren, zu verstetigen, weiter zu vernetzen und in der deutschen wie auch europäischen Aufarbeitungslandschaft zu verankern, ist Anliegen dieses Landeskonzeptes. Ein weiteres Ziel besteht darin, die nachhaltige Profilierung der Thüringer Aufarbeitungsinstitutionen zu stärken, politische Bildungsarbeit im

6 Geleitwort von Staatssekretär Prof. Dr. Thomas Deufel, in: ebenda, S. 1. 7 ��������������������������������������������������������������������������� Pressemitteilung zur konstituierenden Sitzung des »Geschichtsverbundes Thüringen – Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« im Thüringer Landtag am 11. Juni 2009, online abrufbar unter: www.geschichtsverbund-thueringen.de [01.06.2012]. 8 Siehe Ordnung des »Thüringer Geschichtsverbundes – Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 11. Juni 2009.

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Freistaat zu fördern, Qualitätsstandards zu sichern und Entwicklung zu ermöglichen.«9

Die Phase des Kennenlernens und sich zum gemeinsamen Tun Zusammenfindens dauert insgesamt jedoch deutlich länger, als Optimisten zunächst annehmen wollten. Neben den Gründen, die auch mit den kleinteiligen Strukturen Thüringens zu tun haben mögen, sind es jedoch vor allem die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt, die seit Jahren die Zusammenarbeit in der thüringischen Aufarbeitungslandschaft erschweren. Was in Zukunft an interner und öffentlichkeitswirksamer Zusammenarbeit aber möglich sein könnte, illustriert beispielhaft die Erklärung des Geschichtsverbundes zu einer in Gera von der NPD organisierten Veranstaltung am 17. Juni 2011 sowie dem Konzert »Rock für Deutschland« am 6. August 2011 unter dem Motto: »Nie wieder Kommunismus – Freiheit für Deutschland«, in der Klartext gesprochen wird: »Als Institutionen, die sich mit der Aufarbeitung des Unrechtes beschäftigen, das die SED auch im Namen des Kommunismus an den Menschen in der DDR verübte, ist es für uns unerträglich zu erleben, wie die NPD den Slogan ›Nie wieder Kommunismus – Freiheit für Deutschland‹ für ihre ideologische Propaganda missbraucht. Die Begründung der NPD, mit diesem Konzert an die Opfer des 17. Juni 1953 und des Mauerbaus 1961 erinnern zu wollen, ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die zu DDR-Zeiten für ein freiheitliches und demokratisches Land kämpften. Die NPD instrumentalisiert mit diesem Slogan gezielt die Opfer der SED-Diktatur für ihre eigenen, antidemokratischen Interessen. Die Mitglieder des Geschichtsverbundes verwahren sich gegen derartige Kampagnen.«10

Solche gemeinsamen Stellungnahmen sind ein begrüßenswerter Anfang. Das vom Kultusministerium einberufene Expertengremium Andreasstraße hatte in seinen Empfehlungen aber deutlich mehr gefordert, nämlich »inhaltliche Profilbildung der einzelnen Einrichtungen«, »Entwicklung eines untereinander abgestimmten Profils der Einrichtungen«, »gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit« und «wissenschaftliche Fundierung der Aufarbeitung im Geschichts9 Vgl. Geschichtsverbund Thüringen (Hg.): Landeskonzept zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen, vorgelegt vom Geschichtsverbund Thüringen – Arbeitsgemeinschaft zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Oktober 2010, S. 3. 10 Pressemitteilung des Geschichtsverbundes Thüringen vom 16. Juni 2011 zu den geplanten Veranstaltungen der NPD am 17. Juni und 6. August 2011 in Gera, online abrufbar unter: www.geschichtsverbund-thueringen.de [01.06.2012].

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verbund und bei den einzelnen Gedenkstätten und Initiativen«.11 Von diesem Forderungskatalog ist bis jetzt wohl kaum etwas wirklich angegangen worden, vorerst belässt man es bei vorsichtigen Begegnungen in größerem Zeitabstand.

Die »Landesförderkonzeption für Gedenkstätten und Lernorte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« Was da im Einzelnen zumindest allmählich zu diskutieren und umzusetzen wäre, hat eine Historiker-Kommission für eine »Landesförderkonzeption für Gedenkstätten und Lernorte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«12 dann in ihrem Bericht vom 4. Dezember 2010 nach Anhörung der verschiedenen Aufarbeitungsinitiativen und Autopsie der Thüringer Gedenkstätten genauer beschrieben und dabei folgende Ziele und Prinzipien herausgestellt: – »Ermöglichung einer umfassenden Auseinandersetzung mit den grundlegenden Aspekten der SED-Diktatur und ihrer Überwindung – Bewahrung des Gedächtnisses an Mut und Zivilcourage bei der Überwindung der SED-Diktatur sowie die angemessene Würdigung deren Opfer – Bewahrung der dezentralen Aufarbeitungslandschaft – Etablierung und Durchsetzung hoher fachlicher Standards sowie – Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit«.13

Ob das alles in dem noch immer einigermaßen unstrukturierten Geschichtsverbund auf den Weg gebracht, durchgesetzt und mit den Finanzierungsmöglichkeiten des Freistaates über das TMBWK abgestimmt werden kann, scheint allerdings fraglich. Wo aber die Ziele klar sind, finden sich dann auch die Wege! Landtag, Landesregierung und TMBWK kamen mittlerweile auf den weitgehend vergessenen Vorschlag der Historiker-Kommission zurück, eine »Fachkommission zur Förderung und Fortentwicklung der Aufarbeitungs11 Expertengremium zur Beratung der Nutzungskonzepte für eine künftige Gedenkstätte im ehemaligen MfS-Untersuchungsgefängnis Andreasstraße, a. a. O., S. 4 f. 12 ���������������������������������������������������������������������������� Vgl. Bericht und Empfehlungen der Historiker-Kommission für eine »Landesförderkonzeption für Gedenkstätten und Lernorte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«, online abrufbar unter: www.thueringen.de/imperia/md/content/tmbwk/ kulturportal/aufarbeitungsed-diktatur/empfehlungen_der_historiker-kommission_mit_anlage.pdf [01.06.2012]. 13 Ebenda, S. 4.

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und Gedenkstättenlandschaft zur SED-Diktatur im Freistaat Thüringen« beim TMBWK einzurichten: »Die Fachkommission sollte über eine weitestgehende Unabhängigkeit von jenen Einrichtungen verfügen, deren Förderanträge sie bewertet. Ihre Mitglieder müssen fachlich hoch ausgewiesen sein. Die von ihnen repräsentierten Einrichtungen dürfen kein Eigeninteresse an den von der Kommission zu bewertenden Förderungen besitzen. Über die Bewertung von Projektförderanträgen hinaus soll die Fachkommission die Entwicklung der Aufarbeitungslandschaft und der Förderstruktur sowie die Umsetzung des neuen Landesförderkonzeptes auswerten. […] Die Fachkommission gibt ihre Empfehlungen dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur ausschließlich zur Verwendung von Landesfördermitteln ab. Die an das Ministerium gerichteten Förderanträge werden an die Fachkommission weitergeleitet, die diese Anträge bewertet und Förderempfehlungen erarbeitet. Auf der Grundlage dieser Empfehlungen reicht das Land die Fördermittel aus und prüft deren Verwendung.«14

Diese Struktur könnte funktionieren, wenn sie denn endlich institutionalisiert wird, die Förderverfahren in Thüringen transparent machen, das TMBWK fachlich entlasten und so etwas wie eine ständige »Evaluierung« der geförderten Einrichtungen installieren. Die betroffenen Einrichtungen sollten die Tätigkeit der Kommission also eher als Hilfe denn als Bedrohung wahrnehmen und nutzen. Aber das alles wird erst Chancen auf Verwirklichung haben, wenn die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt, wie sich die Einrichtung in Zukunft nennen soll, ihre Tätigkeit endlich aufnehmen und den ihr zukommenden Platz in der Thüringer Aufarbeitungslandschaft einnehmen kann.

Die MfS-Untersuchungshaftanstalt in der Erfurter Andreasstraße In der Wahrnehmung einer weiteren Thüringer Öffentlichkeit spielt der Begriff »Andreasstraße« bisher leider entweder überhaupt keine Rolle oder eine negative, weil er für Auseinandersetzungen steht, die für Außenstehende seit langem kaum mehr nachvollziehbar sind. Was ist nun aber die Andreasstraße bzw. was soll aus der ehemaligen MfS-Untersuchungshaftanstalt zukünftig werden?

14 Ebenda, S. 5 f.

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Zunächst einmal handelt es sich um das 1874/79 errichtete Gebäude des Erfurter Gerichtsgefängnisses beim Domplatz, das das zuständige Landesdenkmalamt einmal als den »bedeutendsten Gefängnisbau Thüringens« gewürdigt hat.15 Das mag für Thüringen einigermaßen stimmen, hat aber für den Gefängnisbau im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts wenig Aussagekraft. Solche »öffentlichen Nutzbauten«, zu denen auch Schulen, Rathäuser, Krankenanstalten sowie sogar Kirchen und Synagogen gehörten, wurden in allerlei »Baukunden« normiert vorgestellt und von lokalen Regierungsbaumeistern dann den örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen angepasst. Baufachliche Untersuchungen ergaben 2009 für die Andreasstraße allerdings das verheerende Bild von »einem Bauwerk, das von standortbezogenen Gründungsproblemen über Baufehler und konstruktive Mängel in der Herstellung bis zu nutzungsbedingten Veränderungen und ungeeigneten Reparaturen nie frei von Mängeln war«16. Bereits 1915/16 wurde ein Abriss der Anlage erwogen, und 1954 musste die Haftanstalt »wegen Einsturzgefahr« sogar teilweise geschlossen werden. 2009 wurde von fachkundiger Seite schließlich geurteilt: »Der heutige Zeugniswert des Gebäudes als ehemaliger Musterbau für ein großes Gefängnis ist daher eher gering.«17 Die Nutzung der Andreasstraße durch die NS-Justiz bedarf noch genauerer Aufklärung, sie hat im Rahmen der politischen Repressionen des NSRegimes in Erfurt aber wohl keine hervorgehobene Rolle gespielt. Von 1945 bis 1948 befand sich der Gebäudekomplex in sowjetischer Hand, wurde gelegentlich auch als Verwahrort für einzelne Häftlinge benutzt, vor allem aber als Magazin. Nach der Freigabe des Gebäudes durch die SMA Thüringen (SMATh) im Februar 1948 wurden hier wieder eine Haftanstalt für Untersuchungsgefangene und ein Strafgefängnis zur Verbüßung von KurzHaftstrafen etabliert. Ab März/April 1952 quartierte sich dann auch das MfS mit seiner Untersuchungshaftanstalt dort ein. Bis 1989 sollen zwischen 5.700 und 6.500 Menschen hier vom MfS für kürzere oder längere Zeit inhaftiert und repressiert worden sein. Die Berichte ehemaliger Häftlinge bezeugen eindrucksvoll, dass auch in der Andreasstraße alle MfS-typischen Unmenschlichkeiten praktiziert wurden, um jeden Ansatz von Opposition zu verhindern.

15 ����������������������������������������������������������������������������� Vgl. Andrea Herz: Die Erfurter Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit 1952 bis 1989, Erfurt 2006, S. 9. 16 Projektgesellschaft ehemalige Justizvollzugsanstalt Erfurt MBH & Co. KG: Denkmalpflegerische Zielstellung, Hausen 2010, S. 3. 17 Ebenda, S. 1.

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Die letzten MfS-Häftlinge dürften am 27. Oktober 1989 das Gebäude verlassen haben. Am 4. Dezember des gleichen Jahres besetzten Erfurter Bürgerrechtler, vor allem von der Oppositionsgruppe Frauen für Veränderung, als erste in der DDR überhaupt die Bezirksverwaltung des MfS in der Andreasstraße 38. Ab dem nächsten Tag wurden die Akten der MfS-Kreisdienststelle Erfurt im obersten Stockwerk der inzwischen schon leerstehenden Haftanstalt in der Andreasstraße 32 gesichert. Das hatte zur Folge, dass diese Etage ab Herbst 1989 baulich praktisch nicht mehr verändert wurde. Von 1990 bis 2003 wurde das Haftgebäude dann als Justizvollzugsanstalt des Freistaates Thüringen weitergenutzt, bevor nach einigem Leerstand, der Überlegungen zum Abriss des Gebäudekomplexes in zentraler Erfurter Lage auslöste, ab 2005 erste Bemühungen um den »historischen Ort MfS-Anstalt« durch Ausstellungen und von ehemaligen Häftlingen veranstaltete Führungen einsetzten. Die Resonanz, die diese spontanen Bemühungen auslösten, unterstrichen nachdrücklich die politische Notwendigkeit, an diesem für Thüringen zentralen Ort politischer Repression durch das SED-Regime eine der Geschichte des Ortes angemessene Gedenkstätte einzurichten. Am 30. August 2005 besuchte Ministerpräsident Dieter Althaus die Andreasstraße und die dort gezeigte »Einschluß-Ausstellung« und erklärte: »Es ist wichtig, daß diese Stätte des Stasi-Terrors nicht vollkommen abgerissen wird. […] Wenn wir jüngeren Generationen ersparen wollen, daß sich diese Geschichte jemals wiederholt, müssen wir solche Anschauungsbeispiele als Gedenkstätten bewahren.«18

Damit war der Startschuss für jene »unendliche Geschichte« gegeben, deren Ende jetzt allmählich absehbar scheint, die aber alle direkt Beteiligten und die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen insgesamt in der öffentlichen Wahrnehmung schwer beschädigt zurücklässt. Hatten sich doch das TMBWK, die von diesem berufenen Kommissionen und Expertengremien von Wissenschaftlern und Zeitzeugen, die auch untereinander und teils sogar in sich zerstrittenen Zeitzeugen- und Opferverbände sowie nicht zuletzt die Thüringer Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR über mehrere Jahre hin tief in Auseinandersetzungen miteinander verstrickt. Der Gang der Ereignisse muss hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Die Gesellschaft für Zeitgeschichte e. V. hat auf ihren Internetseiten eine recht umfangreiche und vor allem seriöse Chronik der Irrungen und Wirrungen, der Aktionen und Boykotte, der Erklärungen und Gegenerklä18 Vgl. www.andreasstrasse-erfurt.de/doku/BesuchAlthaus.pdf [01.02.2012].

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rungen, der Beschimpfungen, Verleumdungen und Verdächtigungen sowie der Falschaussagen und Berichtigungen zusammengestellt, die die Auseinandersetzungen um die Andreasstraße in ein trübes Licht rücken.19 Durch entsprechende Onlinerecherchen lassen sich die Belege dazu noch rasch multiplizieren. Die Kontroversen um die Andreasstraße wurden ja zu einem ganz erheblichen Teil über das Internet ausgetragen und dort dokumentiert. Wenn hier auch auf Einzelheiten nicht näher eingegangen werden soll, so sollen doch einige Hauptpunkte zumindest kurz benannt werden, die für die Andreasstraßen-Debatte symptomatisch wurden und zeigen, was bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur alles schiefgehen kann.

Politische Führung und Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen Ganz offensichtlich fehlte es von Anfang an an entschiedener politischer Führung in Thüringen, als es darum ging, die Zukunft des »historischen Ortes MfS-Anstalt« organisatorisch und inhaltlich zu präzisieren und zu sichern. Man kann es auch anders ausdrücken: Es fehlte den Regierungen im Freistaat, ganz gleich welcher politischer Einfärbung, lange an dem Willen und der politischen Kraft, sich mit den anstehenden Sachproblemen wirklich auseinanderzusetzen. Vielmehr ließen sich die Spitzen der Politik in Thüringen immer wieder von einer sehr kleinen, aber lautstarken Gruppe von Aktivisten »durch die Manege treiben«, die die Aufarbeitung der SED-Diktatur mit einem kompromissunfähigen Alleinvertretungsanspruch überzogen und damit dem demokratischen Diskurs zu entziehen versuchten. Landtag und Kabinett haben sich viel zu wenig mit klaren Positionen in die Entwicklung eingeschaltet, obwohl doch rasch deutlich wurde, welche Schwierigkeiten hier aufgetürmt wurden. Eine Landtagsdebatte, die das Thema aufgegriffen und ihm gerecht geworden wäre, hat nicht stattgefunden. Die wenigen Erklärungen, zu denen sich die Regierungsspitze veranlasst sah, waren vor allem vom Bemühen um Konfliktbegrenzung, also dem Ausweichen vor notwendigen Sachentscheidungen, getragen. Das alles trug nicht zum Frieden bei, sondern faule Kompromisse vergrößerten nur die Unruhe um die Andreasstraße. Insgesamt setzte man auf vom Kultusministerium moderierte Aushandlungsprozesse in mehreren Expertengruppen, in denen ausgewiesene Zeithistoriker mit Vertretern von Zeitzeugen- und Opferverbänden sowie der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zusammenarbeiten sollten. Die 19 Vgl. www.gesellschaft-zeitgeschichte.de [01.02.2012].

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zumeist einstimmig oder doch mit sehr großer Mehrheit verabschiedeten Empfehlungen dieser Gremien wurden auf politischer Ebene stets mit Dank entgegengenommen, dann aber – wenn überhaupt – nur zögerlich oder abgeschwächt umgesetzt. Die Schwierigkeiten, in Erfurt zu effektivem politischem Handeln in Sachen Andreasstraße zu finden, erklären sich vor allem daraus, dass zumindest von einem von der Thüringer Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen »betreuten« Opferverband von Anfang an in allen offenen Fragen Alleinvertretungsansprüche angemeldet und Maximalforderungen erhoben wurden. Diese gipfelten in der von Freiheit e. V. unter ihrem ehemaligen Vorsitzenden Joachim Heise immer wieder neu erhobenen Forderung nach Übernahme der Trägerschaft für den in der Andreasstraße zu errichtenden »Gedenk- und Lernort«, der zudem nur als ausschließliche Haftgedenkstätte vorstellbar sei. Beide Forderungen wurden in den vom TMBWK berufenen Expertengremien aus Wissenschaftlern und Vertretern der Zeitzeugen und Opferverbände mehrfach mit großer Mehrheit zurückgewiesen, da es Freiheit e. V. an den hierzu notwendigen fachlichen und personellen Kompetenzen fehlt. Nach genauer Durchsicht der im Freistaat Thüringen vorhandenen Möglichkeiten entschieden sich alle mit der Frage der Trägerschaft befassten Gremien und endlich auch das Thüringer Kabinett im Januar 2009 eindeutig für die Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung, in der ausgewiesene Sachkompetenz und nachgewiesene Verwaltungserfahrung nach Anpassung ihrer Satzung und ihrer Strukturen eine gute Grundlage für die künftige Arbeit in der Andreasstraße bieten.20 Die Gründung der unselbstständigen Einrichtung »Gedenken – Erinnern – Lernen. Thüringer Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur« durch Erlass der Landesregierung im Juli 2009 war von vornherein eher als Episode »in Vorbereitung der Gründung einer selbstständigen Stiftung«21 gedacht. Die im November 2011 beschlossene Fusion von Stif20 Vgl. die Empfehlungen zum Gedenk- und Lernort Andreasstraße und seiner zukünftigen Position in der Thüringer Geschichtskultur aus dem Jahr 2008, a. a. O., S. 6, sowie die Empfehlungen der Historiker-Kommission für eine »Landesförderkonzeption für Gedenkstätten und Lernorte zur Aufarbeitung der SEDDiktatur« von 2011, a. a. O., S. 11 ff. 21 Vgl. die Präambel des Erlasses der Thüringer Landesregierung über die Errichtung einer unselbständigen Stiftung »Gedenken – Erinnern – Lernen. Thüringer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 27. Juli 2009. Der Erlass ist unter www.bejm-online.de/fileadmin/projekte/gfz/download/Microsoft_Word _-_0618_Erlass_zur__Errichtung_der_Stiftung_Gedenken_-Andreasstrasse.PDF dokumentiert [01.02.2012].

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tung Ettersberg und der Thüringer Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur zu einer »neuen« Stiftung unter dem Titel »Stiftung Ettersberg. Europäische Diktaturforschung – Aufarbeitung der SED-Diktatur – Gedenkstätte Andreasstraße« soll im Juni 2012 Wirklichkeit werden und der Andreasstraße endlich eine gesicherte institutionelle Grundlage bieten.

Was soll in der Andreasstraße gezeigt werden? Neben der Frage, wer sinnvollerweise die Trägerschaft für die neue Gedenkund Bildungsstätte übernehmen soll, wurde sehr rasch ein weiteres Konfliktfeld eröffnet, auf dem es darum ging, was in der Andreasstraße künftig gezeigt werden solle. Auch hier gab es wieder – von der Landesbeauftragten nachdrücklich unterstützte – Maximalforderungen des Freiheit e. V., die darauf hinausliefen, ausschließlich die ehemals in der Andreasstraße Inhaftierten könnten – vertreten durch Freiheit e. V. – darüber bestimmen, was dem Ort und seiner Geschichte angemessen sei, nämlich eine reine MfS-Haftgedenkstätte. Die Fachhistoriker und Vertreter der anderen Aufarbeitungsinitiativen vertraten demgegenüber geschlossen die Meinung, die Andreasstraße, die im Dezember 1989 als erste MfS-Bastion in der DDR von Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern besetzt wurde, müsste zumindest auch die Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR gegenwärtig halten und darüber hinaus – trotz sehr beengter Raumverhältnisse – in exemplarischer Auswahl maßgebliche Facetten der SED-Diktatur in Erinnerung rufen, da es sonst in der Landeshauptstadt keinen Ort gäbe, wo beispielhaft die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur geführt wird. Der Streit um eine »Konzeption« für die Andreasstraße zog sich über viele Monate hin und erreichte immer wieder auch eine irritierte Öffentlichkeit, die letztlich nur registrierte, dass offensichtlich unter den »Aufarbeitern« selbst nichts als bitterer Streit darüber herrscht, was und wie aufgearbeitet werden soll. Die Erarbeitung einer ersten »Konzeption für die künftige Dauerausstellung« in der Gedenk- und Bildungsstätte konnte auf der Grundlage einer »Zielstellung«, die die vom TMBWK berufene »Arbeitsgruppe Andreasstraße« verabschiedet hatte, im Frühsommer 2011 abgeschlossen und mit der Gegenstimme der Thüringer Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen beschlossen werden. Diese Konzeption sah im Wesentlichen vor, auf Wunsch ehemaliger Häftlinge die oberste Etage des Haftgebäudes ohne jede weitere Zutat oder Veränderung im Zustand von Ende 1989 zu »konservieren«, um die »Aura« der Räumlichkeiten zu erhalten. Im ersten Obergeschoss war die Etablierung einer Dauerausstellung zu ausgewählten Aspekten der SED-

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Diktatur konzipiert. Auch die Erinnerung an Opposition, Widerstand und die Friedliche Revolution sollte einen angemessenen Platz erhalten. Wo es möglich und sachlich geboten war, sollten auf unterschiedliche Weise die »Schicksale der Zeitzeugen« einbezogen werden. Am 15. Juni 2011 beschäftigte sich der Stiftungsrat der unselbstständigen Stiftung »Gedenken – Erinnern – Lernen«, der ausschließlich – sieht man einmal von der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ab – fachfremd mit Politikern und Ministerialen besetzt ist, mit dem inzwischen als »Grobkonzept« klassifizierten Papier und stimmte ihm »als Basis für die weitere Ausgestaltung der geplanten Dauerausstellung« zu. Wer nun allerdings geglaubt hatte, damit wäre auch inhaltlich für die Andreasstraße ein gewisses Maß an Klarheit geschaffen, sah sich getäuscht. In wohl doch typischer Politikermanier fiel der Beschluss 1/2011 des Stiftungsrates nach verbaler Zustimmung zur Konzeption wieder auf Positionen zurück, die seit 2007 in allen damit befassten Gremien mit überwältigender Mehrheit obsolet gestellt worden waren. Da wurde ohne Rückhalt im Text behauptet, »die Konzeption setzt schwerpunktmäßig bei den Schicksalen der Zeitzeugen an und geht davon aus, dass Lebensgeschichten eine zentrale Rolle spielen«22. Genau das, »große Geschichte« vor allem in der »kleinen Geschichte« darzustellen, hatten die verschiedenen Gremien, die mit der Andreasstraße beschäftigt waren, aber immer wieder zurückgewiesen. An dieser Stelle sei die Nachzeichnung der Thüringer Irrungen und Wirrungen der Aufarbeitung der SED-Diktatur abgebrochen, zumal sich in der ersten Jahreshälfte 2012 neue Entwicklungen abzeichnen. Die Trägerschaft der Stiftung Ettersberg für die Andreasstraße ist nicht nur beschlossen, sondern bestimmt auch schon die Vorbereitungsarbeiten für die dort geplante Dauerausstellung. Eine von der Agentur ikon Ausstellungen aus Hannover entwickelte »Feinkonzeption« für die Ausstellung in der Andreasstraße, die auch öffentlich zur Diskussion gestellt wurde, bietet inzwischen eine sehr brauchbare Grundlage für alle Weiterarbeit. Im Spätherbst werden die umfangreichen Rekonstruktionsmaßnahmen am historischen Hafthaus und der Neubau eines Veranstaltungsgebäudes im Komplex Andreasstraße zum Abschluss gebracht werden. Es wächst die Hoffnung, dass die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt tatsächlich am 4. Dezember 2012 eröffnet werden kann und bereits mit ihrer Außengestaltung unübersehbar die doppelte Geschichte dieses Ortes thematisiert: Erinnerung an die Opfer der SED-Diktatur und an die Vollendung des Sturzes der SED-Diktatur in 22 Vgl. www.thueringen.de/de/tmbwk/aktuell/presse/56231/uindex.htm [01.02.2012].

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Erfurt mit der Besetzung der MfS-Bezirksverwaltung in der Andreasstraße durch Bürgerrechtler und insbesondere durch Frauen aus verschiedenen Oppositionsgruppen.

Exkurs: Zur Rolle und Bedeutung der Zeitzeugen Bevor abschließend die Zukunft der Erinnerung und Aufarbeitung der SEDDiktatur in Thüringen erörtert werden soll, muss noch einmal ein Blick zurückgeworfen werden in die Vergangenheit der Thüringer Aufarbeitung. Die Entstehung der verschiedenen Grenzmuseen und Aufarbeitungsinitiativen verlief über Jahre hin spontan, basisnah und einigermaßen problemlos, sieht man einmal von der immer unzureichenden finanziellen Absicherung der thüringischen Aufarbeitungslandschaft und den generellen Schwierigkeiten ab, die sich zwangsläufig dann ergeben, wenn die Zeitzeugen allmählich in den Hintergrund treten. Zum Problemfall wurde die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen erst in dem Moment, als die ehemalige MfSUntersuchungshaftanstalt in der Erfurter Andreasstraße vor rund zehn Jahren als »Gedenk- und Bildungsstätte« auf die Tagesordnung kam. Die persönlichen Ambitionen einiger weniger, die immer wieder mit schrillen Interventionen und Aktionen die Debatte lähmten, müssen hier nicht mehr in Erinnerung gerufen und auf ihre Motive hin analysiert werden. Ungleich wichtiger ist das Sachproblem, das in Thüringen, obwohl es dringend nötig gewesen wäre und manche verbitternde Auseinandersetzung hätte ersparen können, niemals deutlich angesprochen wurde: Es geht um die Zeitzeugen und Opfer der SED-Diktatur, ihre Rolle und Bedeutung in der Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie ihre Ansprüche an die Erinnerungskultur im vereinigten Deutschland. Als Organisationen ehemaliger Häftlinge und Zeitzeugen treten in Thüringen Freiheit e. V. (gegr. 2007) und die Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS, gegr. 1950 in West-Berlin, nach 1990 auch als Landesverband Thüringen aktiv) auf. Die Gesellschaft für Zeitgeschichte e. V. (gegr. 1999), in der sich vor allem die aktiven Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler zusammengefunden haben, die entscheidend an der Besetzung der Erfurter MfSZentrale beteiligt waren, fühlt sich insbesondere dem Erbe der Friedlichen Revolution verpflichtet und hat sich stets kritisch-konstruktiv an den Diskussionen um die Zukunft der Andreasstraße beteiligt und maßgeblich dafür gesorgt, dass die doppelte Erinnerung – einerseits an die MfS-Haft und andererseits an die Beendigung der MfS-Herrschaft im Rahmen der Friedlichen Revolution – in der Andreasstraße ihren Platz findet. Der Verein »Auf-

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Recht e. V.« wurde erst im Oktober 2010 von ehemaligen Mitgliedern des Freiheit e. V. gegründet und bemüht sich seitdem um eine kooperativ ausgerichtete Beteiligung an den Diskussionen um die Andreasstraße. Genaue Mitgliederzahlen der genannten Vereinigungen sind nicht bekannt. Die VOS soll immerhin »mehrere hundert Mitglieder« in acht Bezirksgruppen vereinen. Die Zahl aller wirklich Aktiven in diesen Verbänden dürfte aber die 50 kaum übersteigen. Diese sind teilweise unter sich zerstritten, erheben aber den Anspruch, allein die »ehemaligen Häftlinge«, die »Opfer« und »Zeitzeugen« zu vertreten. Dieser Anspruch relativiert sich schon im Blick auf die Zahlen: In der SBZ/DDR gab es zwischen 1945 und 1989 bis zu 250.000 politische Gefangene, davon entfielen mindestens 10.000 auf Thüringen, wo allein in der Andreasstraße in den 40 Jahren der SEDDiktatur etwa 6.500 Menschen inhaftiert gewesen sein sollen. Genauere und verlässlichere Zahlen liegen bedauerlicherweise nicht vor. Um ein zutreffendes Bild von Resistenz, Opposition und Widerstand in der DDR zu gewinnen, muss man sich aber auch dessen bewusst sein, dass »nur« ein bis maximal zwei Prozent der DDR-Bevölkerung mit dem MfS in Berührung kamen, aber allein drei Millionen in die Bundesrepublik flohen und 176.000 Menschen mit Hilfe eines Ausreiseantrags die DDR verließen. Hinzugenommen werden müssen darüber hinaus all die ungezählten Menschen, die in der Schule und Hochschule, in den Betrieben und im Wohngebiet den unterschiedlichsten Repressionsmaßnahmen der SED-Diktatur teils zeitweilig, oft aber auch lebenslänglich ausgesetzt waren. Die politischen Gefangenen waren die prominenteste Gruppe der in der DDR Repressierten, aber es hängt unmittelbar mit dem Charakter der Diktatur in einem ummauerten Land zusammen, dass sie nur ein Teilsegment der Repressionslandschaft bilden. Es gab auch unzählige Opfer der SED-Diktatur außerhalb von Gefängnismauern. Im Blick auf die in Thüringen – und nicht nur dort – erhobenen Alleinvertretungsansprüche einzelner Verbände mit dann doch sehr geringen Mitgliederzahlen muss nach deren Legitimation natürlich nicht nur unter dem Aspekt des Zahlenabgleichs gefragt werden, sondern auch der inhaltlichen Berechtigung. Das liegt nicht zuletzt angesichts der bitteren Streitigkeiten nahe, die bis hin zu Stasi-Verdächtigungen unter den Verbandsmitgliedern selber reichten. Die Strafvorwürfe und Haftgründe in den vom MfS durchgeführten Verfahren erreichten eine große Vielfalt. Das reichte von bewusstem politischem Widerstandshandeln über tatsächliche oder vermeintliche Spionage, die ganze Bandbreite oppositionellen bzw. renitenten Verhaltens und Redens von versuchter Republikflucht bis hin zu tatsächlichen oder behaupteten Wirt-

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schaftsstraftaten. Nicht wenige gerieten als »zufällige« Opfer ohne jede eigene Mitwirkung in die Fänge des MfS, andere gelangten durch gezielte Provokationen in MfS-Haft, um so ihren Freikauf durch die Bundesrepublik zu erzwingen. Häftlinge im Zusammenhang mit allgemeiner Kriminalität tauchen in den MfS-Akten immer nur dann auf, wenn ihre Delikte staatsgefährdende Aspekte aufwiesen (Brandstiftungen, »kriminelle Jugendbanden« etc.). Verschwindend gering, in der Andreasstraße sollen es nicht mehr als 0,3 Prozent der Häftlinge gewesen sein, blieb die Zahl der tatsächlichen NSTäter, die das MfS in der Frühzeit der DDR gleichsam zufällig identifizieren und ihrer Aburteilung zuführen konnte. Generell gilt aber für alle, die die MfS-Haft erlitten: Keiner der vom MfS Inhaftierten hätte jemals den MfStypischen Unmenschlichkeiten ausgesetzt werden dürfen. Zumindest überall da, wo das MfS aktiv war, präsentierte sich der SED-Staat als Unrechtsstaat! Dass die Rolle und Bedeutung der Zeitzeugen insgesamt sehr differenziert zu werten ist, hat die Diskussion der letzten Jahre deutlich gemacht. Den Zeitzeugen gibt es überhaupt erst seit dem Eichmann-Prozess 1961, der Begriff »Zeitzeuge« wird allerdings ursprünglich 1975 erstmals belegbar und steht in direktem Zusammenhang mit der Hausse der Oral History. Gerne wird vom »Zeitzeugen als natürlichem Feind des Historikers« gesprochen. Das trifft aber nur dann zu, wenn sich Zeitzeugen dem kritischen Diskurs der Geschichtswissenschaft unter Hinweis auf ihre ganz spezielle, nicht hinterfragbare Deutungskompetenz in Bezug auf die eigene Biographie entziehen. Die »Deutungskonkurrenz zwischen biographisch konnotierter Erinnerungskultur und wissenschaftlicher Zeitgeschichtsschreibung« (Christoph Classen) lässt sich nicht aufheben, trägt aber zu einer wünschenswerten »Pluralisierung der Geschichtserzählungen« bei. Auf die Rolle der Zeitzeugen in den Medien, es sei nur an die Knoppschen Zeitzeugen-Schnipsel-Interviews zur Bestätigung der jeweiligen »Meistererzählung« erinnert, muss hier nicht eingegangen werden. Zeitzeugen machen Ausschnitte aus der Geschichte anschaulich und erlebbar, vermögen in der Regel allerdings die historischen Zusammenhänge eher nicht klar zu machen. Peer Pasternack hat das Problem 2008 auf den Punkt gebracht: »Die dominierenden Entwicklungslinien einer Zeit erschließen sich erst einer distanzierten, vom Einzelerleben abstrahierenden Betrachtung – zeitlich, räumlich oder kognitiv distanziert und analytisch abstrahierend. Wir haben es hier mit einer unaufhebbaren Diskrepanz von Zeitzeugenschaft und Zeitgeschichtsschrei-

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bung zu tun. Diese zeigt sich in einer ›Deutungskonkurrenz‹ (Konrad Jarausch) zwischen Zeitzeugen und Zeithistorikern.«23

Die Probleme verschärfen sich ungemein, wo Zeitzeugen als Opfer von exzessiver Gewalt und Ungerechtigkeit zu Wort kommen. Das hat u. a. mit schwer zu definierenden und zu diagnostizierenden Traumata zu tun, die bis hin zum »narrativen Kontrollverlust« führen können. Zeitzeugen sind »subjektive Quellen«, die aus der Erinnerung heraus berichten, von der Alexander von Plato einmal sagte: »Nichts ist so trügerisch wie die Erinnerung oder das Gedächtnis, überlagert von neuen Ereignissen und Erfahrungen.«24 Die Erinnerung der Zeitzeugen wird ganz entscheidend von ihrem erinnerungskulturellen Umfeld oder dem sie prägenden »kollektiven Gedächtnis« (Maurice Halbwachs) mitbestimmt: Welche Erzählung verschafft Aufmerksamkeit, menschliche Anteilnahme und politische Zustimmung? Zeitzeugen, vor allem die Opfer unter ihnen, agieren zumeist – und das ist ganz natürlich, weil es viel mit der Empathie der selbst nicht Betroffenen zu tun hat – in einer Aura des Authentischen. Wenn es einmal zu durchschlagend kritischen Nachfragen kommt, werden diese drastisch fast immer aus dem Kreis der Haftkameraden erhoben. Auf der einen Seite scheinen Zeitzeugen und Opfer den unmittelbaren Zugang zu vergangener Wirklichkeit zu eröffnen, auf der anderen Seite limitieren und bestimmen sie diesen Zugang zugleich durch ihre Emotionalität, die Hinweise auf Erfahrungsdifferenzen (»Ihr habt das ja nicht miterlebt!«) und den berechtigten Anspruch auf Respekt vor ihrem persönlichen, schweren Schicksal. Dieser eingeforderte und zumeist auch freiwillig gewährte Respekt der Nichtbetroffenen macht kritische Überprüfungen und Einordnungen von Zeitzeugenaussagen immer zu moralisch riskanten Vorgängen, wenn er diese nicht überhaupt unmöglich macht. Die Durchsetzung des Beutelsbacher Konsenses von 1976 mit seinem »Überwältigungsverbot«25 bleibt deshalb immer wieder auf der Strecke, weil eine methodische und historische Qualifizierung der Zeitzeugen eigentlich eine contradictio in adiecto einschließt, lebt doch der Respekt vor dem Zeit23 Peer Pasternack: Wissenschaft und Politik in der DDR, in: Deutschland Archiv, 41. Jg., Nr. 3/2008, S. 510–519, hier S. 516. 24 ������������������������������������������������������������������������������ Alexander v. Plato: Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 13. Jg., Heft 1/2000, S. 7. 25 ����������������������������������������������������������������������������� Vgl. Hans-Georg Wehling: Konsens à la Beutelsbach, in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977, S. 179 f. Der Beutelsbacher Konsens im Wortlaut, online abrufbar unter: www.bpb.de/die_bpb/88G2RH,0,Beutelsbacher_Konsens.html [01.06.2012].

Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen

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zeugnis gerade aus der Achtung vor dem vermeintlich direkten Zeugnis aus der individuellen Geschichte und dem Anspruch des Zeitzeugen: »Meine Biographie gehört mir!« Die Sentenz des podolischen Mystikers und Begründers des Chassidismus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, des Rabbi Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tov (Meisters des guten Namens), vom »Geheimnis der Erlösung« wird bedauerlicherweise fast immer aus dem Zusammenhang gerissen und damit falsch zitiert. Der Rabbi sagte nämlich: »Vergessen verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.« Nur so macht der Satz einen Sinn, und zwar einen spezifisch innerjüdischen, und ist in Yad Vashem am richtigen Platz. Das seit der Weizsäcker-Rede vom 8. Mai 1985 üblich gewordene, aus seinem ursprünglichen Zusammenhang jedoch zumeist herausgerissene Teilzitat aber hat nichts mehr mit der Meinung des »Meisters des guten Namens« zu tun und gibt letztlich nur die weitverbreitete Auffassung wieder: Erinnerung tut gut. Das kann so sein, wenn auch die gegenteilige Behauptung, dass nur das Vergessen das Überleben von Einzelnen und Gemeinschaften ermöglicht, ebenso ihre Begründungen gefunden hat und bis zum Ersten Weltkrieg als »Prinzip des Vergebens und Vergessens, also der Amnestie und der Amnesie« die »Umgangsweisen mit vergangenen Gewalttätigkeiten« (Helmut König) zwischen den Völkern und Staaten bestimmte. Erst mit dem Versailler Vertrag von 1919 wurde diese »Vergangenheitsbewältigung« obsolet. »Nun sind staatliche Gewaltakte nicht mehr ein Schicksal, das man nur beklagen und vergessen kann, sondern ein Unrecht, das bestraft und erinnert werden muss«, wie Helmut König auf der Suhler Geschichtsmesse erläuterte.26 Einige radikale Zeitzeugen um die Erfurter Andreasstraße erhoben den Anspruch, nur sie allein könnten mit ihrem persönlichen Zeugnis voller Emotion und Empathie weitergeben, was war und was wahr ist. Sie blendeten dabei völlig aus, welch komplizierte Angelegenheit die Erinnerung ist. Erinnerung ist zunächst immer persönlich und damit nur Teilmenge einer unübersehbar großen Zahl möglicher Erinnerungen. Weil Erinnerungen persönlich sind, können sie miteinander in Konkurrenz treten und haben ihre eigenen Wahrheiten, die nicht zu hinterfragen sind, sondern geglaubt werden müssen. Erinnerungen sind wandelbar – im Ablauf der Generationen sowieso, aber auch schon im Leben der Einzelnen. Erinnerungen werden von außen 26 ���������������������������������������������������������������������� Helmut König: Politik und Gedächtnis. Warum braucht der Mensch Erinnerung?, Vortrag im Rahmen der 5. Geschichtsmesse der Bundesstiftung Aufarbeitung: Die Zukunft der Aufarbeitung – Demokratie und Diktatur in Deutschland und Europa nach 1945, am 8. März 2012 in Suhl.

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her – von der Gesellschaft überhaupt, aber auch von bestimmten Gruppen oder der Familie – geprägt. So entstehen die »Erinnerungsgemeinschaften«, von denen Max Weber sprach. Die Erinnerung senkt tiefgreifende Sonden in die Vergangenheit, die aber immer nur einzelne Punkte zu treffen vermögen. Graben sich viele solcher Sonden in ein Gebiet ein, so entsteht ein immer dichter gerastertes, in sich aber nicht konsistentes Bild, das auch dann, wenn es in das Licht der Wissenschaft gerückt wird, ständig für neue Betrachtung offen bleibt. Solche Erkenntnisse sollten zu Zurückhaltung und Mäßigung Anlass geben. Anmaßende Rechthaberei und Alleinvertretungsansprüche in Bezug auf die historische Wahrheit fügen der Aufarbeitung der SED-Diktatur immensen Schaden zu. Diese kann nur als ein Prozess der vielen Beteiligten und der prinzipiellen Offenheit Erfolg haben.

Die Zukunft der Aufarbeitung Zur Jahresmitte 2012 hin wächst die Hoffnung, dass die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße nach vielen Querelen, unnötigen Verzögerungen, bitteren Zwistigkeiten und politischen Unzulänglichkeiten doch allmählich Gestalt annimmt. Die bauliche Gestaltung der Anlage ist im Wesentlichen abgeschlossen. Der Gedanke hat sich durchgesetzt, dass die Andreasstraße ihren Auftrag als ausschließliche MfS-Haftgedenkstätte verfehlen würde, sondern hier eine Gedenk- und Bildungsstätte entstehen muss, in zentraler Lage mitten in der thüringischen Landeshauptstadt, aber nicht etwa als »zentrales Anleitungsinstitut« eines »Thüringischen Geschichtskombinats Aufarbeitung«, wie von böswilliger Seite kolportiert wurde. An diesem Ort sollen die Aufarbeitung der SED-Diktatur insgesamt, das Gedenken an die Schrecken des MfS-Regimes, vor allem aber an die Selbstbefreiung in der Friedlichen Revolution 1989 auch in Thüringen ihren angemessen Platz erhalten. Die Andreasstraße wird sich in dem, was und wie sie es zeigt, immer wieder wandeln müssen. Akzentverschiebungen inhaltlicher Art, das Einarbeiten neuer historischer Erkenntnisse und Objekte sowie die Reaktion auf sich ändernde Interessen und Rezeptionsanforderungen der Besucher werden auch diese Gedenk- und Bildungsstätte zu einer Einrichtung werden lassen, die ihrem Sinn und Zweck nur dann entspricht, wenn sie das in Erfurt ja nicht unbekannte Prinzip des »semper reformanda« praktiziert. Hans-Joachim Veen forderte deshalb in der Gedenkstätte Amthordurchgang in Gera: »Die Aufarbeitung kann nur als ein offener Prozess funktionieren, der zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedliche Blickwinkel hat: Für Opfer der SED-

Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen

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Diktatur kann es hilfreich sein, sich mittels individueller Aufarbeitung von den Diktaturfolgen zu befreien und zu selbstbewussten Bürgern in der Demokratie zu werden. Der post-totalitären Gesellschaft hilft Aufarbeitung, die Verantwortlichen der Diktatur auszumachen, sie zur Verantwortung zu ziehen, über Schuld und Sühne zu diskutieren und damit am Ende eine neue Grundlage des friedlichen Miteinanders durch Demokratie und Rechtsstaat sicherzustellen.«27

Das eigentliche politische Ziel jeder Aufarbeitung einer diktaturgeprägten Vergangenheit muss also die Stärkung der Demokratie in Gegenwart und Zukunft sein. Alle Erinnerungen an die Schrecken der diktatorischen Herrschaft bleiben letztlich auf die Vergangenheit fixiert und deshalb folgenlos, wenn sie nicht als wichtiger Teil in das Ganze der Demokratieerziehung als fortdauernde Aufgabe eingebunden werden. 1963 veröffentlichte Theodor W. Adorno seinen oft zitierten Aufsatz »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?«, in dem er vor dem Hintergrund der NS-Diktatur über die Gegenwart vor fünfzig Jahren urteilte: »Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, daß sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen. Sie wird als ein System unter anderen empfunden, so wie wenn man auf einer Musterkarte die Wahl hätte zwischen Kommunismus, Demokratie, Faschismus, Monarchie; nicht aber als identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit. Sie wird eingeschätzt nach dem Erfolg oder Mißerfolg, an dem dann auch die einzelnen Interessen partizipieren, aber nicht als Einheit des eigenen Interesses mit dem Gesamtinteresse.«28

An diesem Zustand der deutschen Verhältnisse hat sich auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Sturz der SED-Diktatur zumindest in Ostdeutschland wenig geändert. Eine umfassende und fortwährende Aufarbeitung der Vergangenheit ist um der Gegenwart und Zukunft der Demokratie willen in unserem Land und in Europa notwendig. Schon vor fünfzig Jahren warnte Adorno, dass die umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit einem Vergessen entgegenwirken müsse, »das nur allzuleicht mit der Rechtfertigung des Vergessenen sich zusammenfindet«. Darum geht es auch bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen und insbesondere in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt. 27 Hans-Joachim Veen: »Aufarbeitung« – Eine Frage der Vergangenheit oder der Zukunft?, Vortrag in der Gedenk- und Begegnungsstätte im Torhaus des Vereins »Gedenkstätte Amthordurchgang« am 23. Februar 2012 in Gera. 28 Theodor W. Adorno: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?«, in: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Berlin 1968, S. 125–146, hier S. 130.

Föderalismus & Politische Kultur

Heinrich Oberreuter

Die Rolle der »neuen« und »alten« Länder im deutschen Bundesstaat

Das mir zugedachte Thema kann im Rahmen dieses Beitrags unmöglich erschöpfend behandelt werden. Geht man es kulturwissenschaftlich und kulturkritisch an, demokratietheoretisch oder im Sinne der Forschung zur politischen Kultur? Oder fragt man historisch, mit Blick auf das politische System, speziell unter dem Gesichtspunkt der hochinteressanten Entwicklungen des Föderalismus? Diese Entwicklungen haben nicht zuletzt durch den Vereinigungsprozess neue Wendungen und neue Stoßrichtungen erfahren, wenn auch keine, die wir für perfekt hielten; aber perfekt kann ein föderalistisches System offensichtlich nie sein. Der deutsche Föderalismus ist, wie die Amerikaner sagen würden, kein »layer cake«, sondern ein »marble cake« – keine Schichttorte, sondern ein Marmorkuchen. Er ist auf Kooperation, Vermischung und Verwischung angelegt. Alle gegenteiligen Versuche scheitern an der politischen Wirklichkeit, auch an der Wirklichkeit, die das Verhältnis der alten und neuen1 Bundesländer mitstrukturiert. Sie scheitern nicht zuletzt an der unterschiedlichen Leistungskraft der Länder und an der Notwendigkeit, diese in einem föderalistischen demokratischen Gemeinwesen auszugleichen. Ich will meinen Versuch, das Thema zu umkreisen, in drei Schritten angehen: Im ersten Teil geht es um die Popularität der Föderalismusidee, auch mit Blick auf die Identitätsstiftung und Integrationsleistung im Vereinigungsprozess. Hier ist auf einiges hinzuweisen, was mittlerweile vielleicht in Vergessenheit geraten ist. Zweitens möchte ich einige Bemerkungen zur Wirtschafts- und Finanzkraft als differenzierende Faktoren dieses Verhältnisses anschließen – diesseits und jenseits der Ost-West-Perspektive. Drittens soll die politisch-kulturelle Entwicklung gestreift werden.

1 ����������������������������������������������������������������������������� Die so genannten »neuen« Länder verfügen im Übrigen historisch über weit längere Tradition als westdeutsche Bindestrich-Konstruktionen der Nachkriegszeit.

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Heinrich Oberreuter

Priorität und Popularität der Föderalismusidee

Am 5. Juli 1990 veröffentlichten die westdeutschen Ministerpräsidenten »Eckpunkte für den Föderalismus im vereinten Deutschland«. Sie schrieben: »Ein einheitliches Deutschland darf schon von seiner Größe und seinem Gewicht her kein Nationalstaat im historischen Sinne sein. Er wird noch in viel stärkerem Maße ein entschieden föderativ geprägter Bundesstaat sein müssen. Seine künftige Struktur wird stärker als bisher die Eigenstaatlichkeit der Länder zur Geltung zu bringen haben.«2

Dies war zu Beginn dieses Prozesses eine Absage an die unitarisierenden und politikverflechtenden Entwicklungen in der alten westdeutschen Republik, an denen die Länder schmerzlich gelitten hatten. Die westdeutschen Ministerpräsidenten schlugen, wie sie sagten, auch im Interesse der künftigen Länder auf dem Gebiet der DDR eine Reihe von Verfassungsänderungen vor: eine Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern, Autonomie in bestimmten Steuerfragen und Verbesserungen bei der Gesetzgebungskompetenz, wie sie dann teilweise und ansatzweise 15 Jahre später verwirklicht worden sind. Vor allem sollte jene Bestimmung fallen, die der Politik seit 1949 die Herstellung der »Einheitlichkeit« der Lebensverhältnisse zur Aufgabe gemacht hatte. 1990 schon schlugen die Ministerpräsidenten vor, nur noch von »Gleichwertigkeit« zu sprechen. So geschah es auch, weil unmittelbar evident gewesen ist, dass das Postulat der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse angesichts der Modernitäts- und Leistungsdefizite sowie des zu erwartenden geringen Steueraufkommens im ehemaligen Gebiet der DDR die westdeutschen Länder überfordern würde, einige von ihnen sogar existentiell. Unklar ist, warum im Grundgesetz bei der legislatorischen Kompetenzzuweisung (Art. 72) die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Gleichwertigkeit3 gewandelt worden ist, aber ausgerechnet bei der Finanzverfassung ihre Einheitlichkeit bestehen blieb (Art. 106,3): ein die Logik auf den Kopf stellender Widerspruch, der wahrscheinlich der Dynamik und der Unübersichtlichkeit der Veränderungsprozesse geschuldet ist. Die Erkenntnis, dass auch im Föderalismus letztendlich die Gleichheit, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nicht erzielt werden kann, bestand jedenfalls. Mit Blick auf die Ausgangslage der Vereinigung könnte natürlich 2 Vgl. www.eurostudium.uniroma1.it/documenti/frontoni/laender.doc [12.02.2012]. 3 Dazu Edmundt Brandt: Gleichwertige Lebensverhältnisse als Rechtsproblem, Berlin 2006.

Die Rolle der »neuen« und »alten« Länder im deutschen Bundesstaat

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die Gleichwertigkeit so etwas wie ein Maximalziel darstellen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es einen vernünftigen ökonomischen und vor allem psychologischen Maßstab für beide Begriffe gibt. Aus pluralistischer Sicht ist jeder Begriff von Einheitlichkeit in gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen ohnehin kritisch zu bewerten. Mit dem Begriff der Gleichwertigkeit tauchen zusätzliche Interpretationsprobleme auf. Man sollte sie verfassungstheoretisch so behandeln wie das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz, nämlich als einen Handlungsauftrag, auf bestimmten Politikfeldern tätig zu werden, ohne dass dieser Auftrag einen abschließenden Zustand der Realisierung des ihm zugrunde liegenden Prinzips definieren könnte. Ein zweites Rechtsproblem ist im Vereinigungsprozess damals schon angedacht worden und hat große Wirksamkeit im Kontext mit Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes entfaltet: der Austausch der Bedürfnisklausel gegen die Erforderlichkeitsklausel. Der Bund sollte in der konkurrierenden Gesetzgebung nicht mehr tätig werden dürfen, wenn er nur das Bedürfnis dafür sieht, sondern allein, wenn sein Handeln tatsächlich erforderlich ist. Dieser Problemkreis hat Karlsruhe später zu einem geradezu dramatischen Urteil veranlasst, als es um das Recht von Juniorprofessoren ging. Das Verfassungsgericht vertrat im Kern die These, die Erforderlichkeit einer Aktivität des Bundes in der konkurrierenden Gesetzgebung hänge quasi von einem Notstand ab, der in der zu regelnden Materie zum Zerfall der Rechtseinheit führe. Die verfassungspolitische Vordringlichkeit und Popularität des Föderalismus gilt auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. In Westdeutschland besitzt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung keine Kenntnis davon, dass die ehemalige DDR zunächst als föderaler Staat gegründet worden war und die Länder 1952 wieder zum Verschwinden gebracht wurden. Als die Staatspartei die Idee der Vereinigung unter ihren politischen Vorzeichen scheitern sah, schaltete sie auf das ohnehin angestrebte Modell des Zentralismus um und gründete jene weisungsgebundenen 15 Bezirke, die in der DDR kaum Popularität errangen. Die Menschen haben sie im Herbst 1989 vielleicht nicht primär wegdemonstriert. Aber sie haben sehr eindringlich zum Ausdruck gebracht, dass sie diese Gebilde nicht mehr haben wollten. Wer im Frühjahr 1990 in Thüringen und Sachsen unterwegs war, sah beide Freistaaten überschwemmt mit den die eigene Identität zum Ausdruck bringenden Landesfahnen und Landesfarben, mit der Deutschlandfahne auch: geradezu ein Ausbruch an identitätsstiftenden Symbolen, der im Westen kaum vorstellbar erschien. Bernhard Vogel hat treffend im Blick auf die fahnenumrankte Dresdener Kundgebung mit Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 geschrieben: »Schwarz-rot-goldene Fahnen waren durch das Heraustrennen

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eines ungeliebten Emblems leicht zu beschaffen. Die weiß-grünen sächsischen Fahnen nur schwer.«4 Für die vieltausendfach geschneiderten Fahnen Thüringens gilt das ebenso. Es ist hochinteressant, dass nach dem Ruf »Wir sind das Volk!« und »Wir sind ein Volk!« der Ruf »Wir wollen unsere Länder wieder haben!« eigentlich der dritte verfassungspolitische Aufschrei in diesem Land gewesen ist. Noch unter der Regierung Modrow hatte eine Kommission für drei ostdeutsche Länder plädiert: Mecklenburg, Brandenburg und SachsenThüringen. Das Plädoyer war nicht erfolgreich. Die Entscheidung fiel zugunsten der alten historischen Tradition. Identitätsbildung und Identitätsstiftung waren dadurch viel eher zu realisieren als durch funktionalistisch motivierte artifizielle Konstruktionen. Gleichwohl wurde diese Diskussion damals im Osten ziemlich intensiv geführt. Karlheinz Blaschke z. B. hatte für die Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament« einen Aufsatz über Föderalismusreform geschrieben und diesem eine Skizze beigegeben, wie er sich als sächsischer Landeshistoriker – als guter Sachse war wahrscheinlich Sachsen im Zentrum – die Neustrukturierung des Bundesgebietes Ost vorstellte.5 Dass es kaum Reaktionen auf die Publikation dieses Aufsatzes gab, hat ihn verwundert. Allerdings war er mit der Vielzahl vergeblicher Neugliederungsvorschläge in der Geschichte des Westens und ihrer mäßigen Popularität nicht vertraut. Ihnen widerstreitet, was Föderalismus auf emotionaler Ebene Popularität verleiht: Identität. An ihr scheitert jener Funktionalismus, der – sagen wir einmal – aus der opulenten Position des Freistaates Bayern z. B. dem Saarland (mit seiner besonderen Geschichte!) Selbstauflösung und Anschluss an Rheinland-Pfalz empfiehlt, von dem sein zweiter Ministerpräsident Peter Altmeier ehedem immer als »Land aus der Retorte« gesprochen hatte. Dennoch sei auf eine zweite Dimension hingewiesen: So wie klassische historische Traditionen in der Tat regionale Identität mit Wirksamkeit bis in die Zeiten der Globalisierung hinein stiften, so erfüllen offensichtlich auch neu gegründete administrative Einheiten (z. B. die Bindestrichkonstruktionen in der Nachkriegszeit in Westdeutschland) mit den Jahren identitätsstiftende Funktionen. Aus der Sicht tausendjähriger Landesgeschichte wirkt es verblüffend, den Beitrag eines Bundespräsidenten aus Anlass des 50. Jubiläums von Nordrhein-West-

4 Bernhard Vogel: Die Bundesrepublik Deutschland – eine Erfolgsgeschichte: Dank oder trotz des Föderalismus?, in: Matthias Herdegen u. a. (Hg.): Staatsrecht und Politik, München 2009, S. 533. 5 Karlheinz Blaschke: Alte Länder – Neue Länder: Zur territorialen Neugliederung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 27/1990, S. 39–54.

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falen zu lesen.6 Doch in der Tat entstand aus diesen Konstruktionen der Besatzungsmächte, politisch gefördert und besonders von regionalen Medien unterstützt, ein neues Landesbewusstsein. Administrative Strukturen bilden Bewusstsein, und Bewusstsein sucht sich offensichtlich auch administrative Strukturen, zumindest dann, wenn jene, die – wie die SED-Bezirke – diese Funktion ehedem innehatten, ganz offensichtlich wie das ganze System keine Popularität besaßen. Trotz aller zeitgenössischen Kritik an seinem Funktionieren gehört der Föderalismus offensichtlich zur politischen Kultur und Mentalität der Deutschen – kein Wunder angesichts der verspäteten Nationsbildung. Als im Westen die Alliierten den Ministerpräsidenten die Frankfurter Dokumente mit dem Auftrag übergaben, eine Verfassung föderalistischen Typs zu schaffen, haben sie den Deutschen nicht, wie heute manche Publizisten schreiben, den Föderalismus oktroyiert. Theodor Heuss begegnete damals dieser »Zumutung« mit der Frage: »Was ist denn eigentlich ein föderativer Typ? Ein föderativer Typ hat unendlich viele Spielarten. Wir wissen, dass wir keinen zentralistischen Staat bekommen, und wir wollen ihn auch nicht.«7 Daraus ist zweierlei zu folgern: Der Föderalismus ist kein Oktroi der Alliierten. Er entsprach, wie viele Quellen belegen, dem verfassungspolitischen Willen der Westdeutschen. Zum Zweiten gab es auf keiner Seite – damals und auch heute nicht – unumstrittene Konzepte. Konfliktlinien über die Ausgestaltung dieses Strukturprinzips zogen sich durch die deutschen Parteien ebenso hindurch wie durch die Besatzungsmächte selbst, ohne die das Grundgesetz wohl zentralistischer geworden wäre. Umstritten war nicht das Prinzip, sondern seine Ausgestaltung. Ein derartiger Streit gehört aber in den normalen Erfahrungshorizont von Verfassungspolitik. Am Föderalismusproblem wäre das Grundgesetz fast gescheitert. Es gab erhebliche Auseinandersetzungen zwischen den Amerikanern, den Franzosen, den Briten, den Deutschen und auch innerhalb aller Akteure. Welche Konflikte hat Konrad Adenauer mit dem Bayern Hans Ehard ausgefochten, mit den süddeutschen Föderalisten in Baden-Württemberg, welche Streitigkeiten der amerikanische Hochkommissar John McCloy mit seiner heimischen Administration in Washington! Interessant ist aber auch, dass kluge Mitglieder des Parlamentarischen Rates damals schon die unitarisierende Entwicklung, von welcher der Staats6 �������������������������������������������������������������������������� Siehe Roman Herzogs Vortrag zum 50. Jahrestag der Konstituierung des Landtags von Nordrhein-Westfalen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, Nr. 83/1996, S. 900 ff. 7 Theodor Heuss zit. n. Volker Otto: Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, Düsseldorf 1971, S. 103.

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rechtler Konrad Hesse später sprach8, unter dem Zwang der sich modernisierenden Lebensverhältnisse für unvermeidlich hielten. Carlo Schmid berichtet davon, dass die Diskussion über diese zu erwartende Tendenz zwar gelegentlich auftrat, und fügt dann schön schwäbisch hinzu: »doch hatte die Mehrheit nicht den Mut, der Katze die Schelle umzuhängen«9. Speziell im Blick auf die ostdeutschen Länder lässt sich feststellen, dass die föderale Orientierung in der Vereinigungsphase ein Mittel zur Integrationsstiftung gewesen ist. Den Ländern kam damals in der Übergangsphase eine eigene Handlungs- und Gestaltungsebene zu. Richard Schröder hat zehn Jahre nach diesem Vereinigungsprozess festgestellt: »Die Wiedereinrichtung der östlichen Länder hat die deutsche Einigung erleichtert. Als das Dach DDR abgerissen war, waren darunter fünf neue Dächer. Noch immer fühlen sich manche Ostdeutsche im vereinigten Deutschland unbehaust, aber doch in ihrem Land zu Hause.«10

Was ist das anderes als Identitätsstiftung? Als der SED-Staat zerfallen und die Vereinigung noch nicht vollzogen war, stifteten die Länder Identität und Integration vor Ort – gesamtdeutsch sogar institutionell eine föderale Solidarität und Amtsidentität. Als in Erinnerung an die letzte zum Scheitern verurteilte gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz von 1947 im Dezember 1990 auf Einladung Max Streibls an historischem Ort in München die erste Zusammenkunft unter den neuen Bedingungen stattfand, betonte Gerhard Schröder als amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die Freude, dass es niemandem gelungen sei, »die 16 Ministerpräsidenten auseinanderzudividieren«.11 Der Bund hatte versucht, im Einheitsprozess Länderrechte zu beschneiden und durch die Errichtung eines Bundesaufbauministeriums den Aufbau Ost zentral zu leiten und damit die eben gegründeten Ostländer ans Gängelband zu nehmen. Stattdessen wurde Aufbauhilfe durch Partnerschaften zwischen Ost- und Westländern geleistet, von der kommunalen bis zur ministeriellen Ebene. Dieses personelle Engagement hat nicht zuletzt den Kompetenzgewinn, den Angleichungs- und 8 Konrad Hesse: Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962. 9 Carlo Schmid: Bund und Länder, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 255. 10 Richard Schröder: Rede zum Festakt 50 Jahre Deutscher Bundesrat, Bonn, 6. September 1999, zit. n. Albert Funk: Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik, Paderborn 2010, S. 352. 11 Zit. n. Albert Funk: Kleine Geschichte des Föderalismus, a. a. O., S. 352.

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Modernisierungsprozess erheblich beschleunigt – nach meinen eigenen Erfahrungen in aller Regel in fruchtbarer Symbiose, Einfühlungsvermögen in diese singuläre Konstellation und die historische Situation vorausgesetzt. Dass es daran gelegentlich mangelte, sei konzediert – ändert aber nichts an der Solidarleistung der Westländer und ihren positiven Effekten. Zudem fand auch im Osten eine interessante Personalrekrutierung schon auf den mittleren Führungsebenen statt, die ausgeprägte eigene Talente und Kompetenzen zur administrativen Entfaltung brachte – durchaus mit originärem Gestaltungswillen. Auch in dieser Hinsicht bildeten sich Ost-West-Symbiosen, sogar in der Absicht, Fehlentwicklungen aus dem Westen im Osten nicht zu wiederholen. Profilierte Ostdeutsche sind eigene Wege gegangen (wie z. B. in Sachsen im Bildungs- und Hochschulbereich), durchaus im Bewusstsein, hier auch – bei Fortfall ideologischer Bindungen – eigene praktische Stärken zu besitzen, von neuen Ideen ganz zu schweigen. Profilierte Aufbauhelfer wie profilierte Persönlichkeiten aus dem Osten haben nicht selten erstrebt, Spielräume auszureizen, sogar alternative Wege zu gehen, soweit die Rechtsordnung es zuließ.12 Eigeninteressen und Gestaltungskompetenz schaffen Landesbewusstsein. Integrierend wirkten nicht zuletzt die in der Föderalismusdiskussion traditionell vielfach problematisierten Selbstkoordinierungsgremien der Bundesländer wie z. B. die Kultusminister- oder die Innenministerkonferenz. Dort führt jedes Land seine eigene Stimme. Von Beginn an sind die ostdeutschen Minister und Ministerpräsidenten dort selbstständig und selbstverantwortlich aufgetreten. Bei gleichem Stimmrecht unterlagen sie keinerlei Diskreditierung. Differenzierend mag der Mangel an politischer Erfahrung gewirkt haben, der sich aber rasch legte. Die Bundesrepublik West ist von den Ländern her konstruiert worden. Der Prozess der neuen Staatswerdung in der Wiedervereinigung weist, bei einer unvergleichbaren Konstellation mit einer existenten starken Bundesgewalt, wenigstens in Ansätzen verwandte Züge auf. Jedenfalls haben sich die östlichen Länder in Kooperation mit den westlichen in den föderalen Strukturen etabliert, bevor sich die neue gesamtdeutsche Bundesgewalt konstituiert hatte. 12 ����������������������������������������������������������������������������� Ich rekurriere hier auf eigene Erfahrungen als Gründungsdekan an der TU Dresden, die diesen Selbstentfaltungsprozess und die Zusammenführung unterschiedlicher Horizonte unmittelbar erlebbar machten. Vgl. dazu Achim Mehlhorn: Spezielle Kompetenz durch interdisziplinäre Synergie, in: Werner Patzelt/Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hg.): Res publica semper reformanda, Wiesbaden 2007.

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Wirtschafts- und Finanzkraft als differenzierende Faktoren

Anders als bei der grundsätzlichen Entwicklung föderaler Mentalitäten gab und gibt es bei der Wirtschafts- und Finanzkraft keinen Gleichklang. Insofern ist im Osten wie bei schwachen Ländern im Westen Wettbewerbsföderalismus nicht populär. Die ökonomische Situation begrenzt Handlungsoptionen – mittlerweile aber nicht nur im Osten. Die »neuen« Länder sind von Beginn an Kostgänger der alten gewesen, was sie nicht grundsätzlich, wohl aber in den Dimensionen von der Mehrzahl der Westländer unterscheidet. Nach den jüngeren Differenzierungsprozessen gibt es nicht nur starke (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg) und schwache (Berlin, Bremen und alle östlichen Bundesländer) Länder, sondern eine mittlere (der Rest der Westländer) Kategorie. Im Länderfinanzausgleich sind nur die Starken Geber, alle anderen Nehmer. Die nach diesem, bei den Zahlern zunehmend umstrittenen Mechanismus an die östlichen Länder überwiesenen Summen sind jüngst leicht rückläufig. Abbildung 1: Länderfinanzausgleich in Deutschland: Geberländer (Minuswerte) & Empfängerländer (Pluswerte), Summe 1995 bis 2010 in Milliarden Euro

BY

-34,3

HE

-32,3

BW

-29,9

NW

-11,4 -5,2

HH SH

1,3

SL

1,9

RP

4,2

HB

6,2

NI

6,2

MV

7,1

BB

8,7

TH

9,2

ST

9,5

SN

16,3

BE ‐40

‐30

‐20

‐10

42,3 0

10

20

30

40

50

Quelle: Bundesfinanzministerium; eigene Darstellung.

Der Finanzausgleich ist nur einer der sichtbarsten Indikatoren der ökonomischen Verhältnisse. Im Wechsel Nordrhein-Westfalens auf die Empfängerseite im Jahr 2008 und ab 2010 spiegeln sich Westinseln des Niedergangs,

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denen Ostinseln des Aufstiegs – »blühende Landschaften« – gegenüberstehen, die wettbewerbsfähig sind, ohne dass die grundsätzliche Konstellation dadurch wesentliche Korrekturen erführe. Hierin liegt der Irrtum jener westlichen Kommunal- und Regionalpolitiker, die aus ihren Betroffenheiten die privilegierte Förderung des Ostens kritisieren. Nach wie vor ist im Osten flächendeckend das Bruttoinlandsprodukt erheblich geringer, die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch, das Wohnniveau schwächer und die Bevölkerungsentwicklung dramatischer als im Westen.13 Die hohen Erwartungen, die, hat man einmal bei den Leipziger Montagsdemonstrationen zugehört, in die soziale Marktwirtschaft gesetzt worden sind, haben sich nicht erfüllt, auch nicht die des Westens in den relativ raschen Erfolg seiner Leistungsfähigkeit. Diese Fehleinschätzungen sind auf dem Hintergrund der gewiss verkannten historischen und ökonomischen Dimensionen des Systemwandels zu relativieren, trotz des Vorteils eines ungeheuren Ressourcentransfers von West nach Ost, den die anderen Transformationsstaaten nicht zu verzeichnen hatten. In dieser beispiellosen Herausforderung sind auch Fehler unvermeidlich gewesen. Der Thüringer Ministerpräsident Bernhard Vogel pflegte hierzu zu bemerken, bei der nächsten Wiedervereinigung mache man mit Sicherheit alles besser. Trotz unstrittiger Konsolidierung steht die Frage, ob die östlichen Bundesländer dauerhaft in der Rolle der Transferempfänger bleiben werden. Es bestehen Zweifel an einem selbsttragenden Wachstum, denn Ostdeutschland hat einen Verbrauchsüberhang von 40 % des BIP, der von Transferleistungen und Kapitalzuflüssen zu stützen ist. Von 1991 bis 2010 sind ca. 1,2 Billionen Euro von West nach Ost geflossen. Neben dem Fonds Deutsche Einheit sind dabei der Solidarpakt I und II, der Länderfinanzausgleich und die sozialpolitisch motivierten Ausgaben zu berücksichtigen (Rentensystem, Arbeitsmarkt). Durch den Fonds Deutsche Einheit flossen 82,2 Milliarden Euro (1990–1994), durch den Solidarpakt I 94,5 Milliarden Euro (1995–2004) und im Rahmen des Solidarpakts II werden 156 Milliarden Euro (2005–2019) erwartet. Der Länderfinanzausgleich (einschließlich Berlin) beträgt etwa sechs Milliarden Euro jährlich, was etwa 80 % der gesamten Transfers in diesem System ausmacht.14 Etwa ein Drittel der ostdeutschen Wertschöpfung ist auf Mittel aus sozialen und staatlichen Transfersystemen angewiesen. Zu berück13 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2011. 14 ����������������������������������������������������������������������������� Klaus Schröder: Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – Eine Wohlstandsbilanz. Gutachten für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Berlin 2009, S. 88; generell zu fast allen Wirtschaftsdaten der neuen Länder: Ulrich Blum u. a.: 20 Jahre deutsche Einheit: Die ostdeutsche Transformation im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, 2. Aufl., Halle (Saale) 2010.

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sichtigen ist, dass in Fortsetzung der Flucht- und Ausreisebewegung früherer Jahrzehnte gut ausgebildete Arbeitskräfte abwandern, wodurch erhebliche Verluste an potentieller Finanz- und Produktivkraft für die ostdeutschen Bundesländer entstehen, wogegen die hochproduktive westdeutsche Wirtschaft von diesen Arbeitskräften profitiert. Von 1989 bis Ende 2008 haben etwa 1,7 Millionen Menschen das Gebiet der ehemaligen DDR verlassen.15 Dennoch ist auf dem Hintergrund des Zerfalls der DDR und ihrer Wirtschaft, Infrastruktur und Gesellschaft eine enorme Aufbauleistung zu würdigen. Dabei verlaufen die Entwicklungen auf regionaler Ebene sehr unterschiedlich. Daher lässt sich immer weniger von Ostdeutschland als einer einheitlichen Region sprechen. Auch schätzen die Ostdeutschen die deutlichen Einkommensverbesserungen und die beachtlichen Aufbauleistungen, entgegen der weit verbreiteten Meinung im Westen, durchaus positiv ein. Beachtliche Wohlstandsverbesserung und Angleichung der Lebensverhältnisse lassen sich anhand harter Fakten belegen. Wirtschaftskraft und Einkommen: Nach amtlicher Statistik erreichten die neuen Bundesländer und Berlin ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 22.702 Euro, die alten Bundesländer ohne Berlin 31.086 Euro. Der Osten erzielt damit ein Einkommen von 73 % des Westens. 1991 lag diese Relation noch bei 33,8 %, 1995 bei 67,1 %. Rechnet man Berlin heraus, dann liegt die Relation aktuell etwa bei 70 %.16 Verfügbare Einkommen: Die verfügbaren Einkommen liegen im Osten bei ca. 78 % des Westniveaus (1991: 58,5 %; 1995: 75,2 %). Dabei hat sich das Preisniveau weitgehend angepasst; es liegt etwa bei 92 % des Westens. Berücksichtigt man diese Kaufkraftunterschiede, dann lag das reale verfügbare Einkommen in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) bei 85 % des 15 ������������������������������������������������������������������������� Hierzu Nicola Hülskamp: Blühende Landschaften oder leere Einöde? Demografische Probleme in den neuen Bundesländern, in: Wirtschaftsdienst, Nr. 5/2007, S. 296–308; Joachim Ragnitz: Demografische Entwicklung in Ostdeutschland: Tendenzen und Implikationen, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, Heft 2/2009, S. 110–121. Siehe auch Bundesministerium des Innern (Hg.): Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, Berlin 2011, S. 8 ff. 16 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, a. a. O., Anhang, S. 7, sowie Gerhard Heseke: Bruttoinlandsprodukt, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland, Köln 2005, S. 92; Joachim Ragnitz: Ostdeutschland heute: Viel erreicht, viel zu tun, in: ifo Schnelldienst, Nr. 18/2009, S. 43–51; Klaus-Günter Deutsch/Sascha Brok: Aufbruch Ost. Die Wirtschaftsentwicklung in den östlichen Bundesländern, in: Deutsche Bank Research, Nr. 458 vom 2. September 2009.

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Westniveaus, bei den Versichertenrenten sogar bei 125 %.17 Allerdings hat sich die Anpassung der Einkommensunterschiede bei den Erwerbstätigen in den letzten Jahren verlangsamt. Wirtschaftswachstum: Nach dem anfänglichen Aufholprozess kann Ostdeutschland seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre keine deutlich höheren Wachstumsraten des BIP erzielen. Die Konjunkturentwicklung gleicht sich immer mehr der westdeutschen an. In der Wirtschaftskrise ist der Rückgang des Sozialproduktes (2009: -3,3 %) zwar moderater als in Westdeutschland (-4,9 %) ausgefallen.18 Doch in der Folge konnte sich dieses rascher erholen. Die wirtschaftliche Konvergenz stagniert damit weiter. Wirtschaftsstruktur: Der Strukturwandel geht in den neuen und alten Bundesländern in ähnliche Richtung, doch bleiben Unterschiede bestehen. So kommt der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern noch immer eine größere Bedeutung zu als im Westen, wenn auch das verarbeitende Gewerbe inzwischen stark wächst. Zudem ist im Osten der Anteil von Branchen mit geringerem Qualifikationsprofil stärker vertreten. Es fehlen größere Unternehmen (insbesondere Konzernzentralen). Zudem ist die Eigenkapitalausstattung der kleineren und mittleren Unternehmen zu gering und die Wertschöpfungsketten, Exportorientierung und Innovationskraft der Wirtschaft noch unterentwickelt. Deshalb ist eine Akzentverschiebung in der Wirtschaftspolitik erforderlich, die sich allmählich von der Förder- zur Standortpolitik entwickeln sollte. Arbeitslosenrate: Problem bleibt indes der Arbeitsmarkt, doch hat sich die Arbeitslosenrate trotz der Krise in den letzten Jahren von ca. 15 % im Jahre 2005 auf ca. 12 % im Jahr 2010 (im Westen: 6,6 %) zurückentwickelt, bleibt aber immer noch fast doppelt so hoch wie im Westen.19 Dennoch haben die Arbeitsmarktreformen auch in Ostdeutschland gewirkt. Die Probleme sind aber in einigen Regionen und Problemgruppen (Langzeitarbeitslose) gravierender. Lohnstückkosten: Der Aufbau eines modernen Kapitalstocks ist gelungen, wie sich an der Wettbewerbsfähigkeit zeigt. Ein Indikator hierfür sind die Lohnstückkosten, die in der Gesamtwirtschaft um ca. 3,5 % über denjenigen 17 Siehe Anmerkung 16 sowie den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, a. a. O., Anhang, S. 4. 18 Hierzu auch Ulrich Blum u. a.: 20 Jahre deutsche Einheit, a. a. O., sowie detailliert aufgeschlüsselt: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, a. a. O., Anhang, S. 13. 19 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, a. a. O., Anhang, S. 3 und 8.

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in Westdeutschland liegen, im verarbeitenden Gewerbe jedoch deutlich (um ca. 10 %) darunter.20 Dies offenbart gewaltige Produktivitätsfortschritte. Hätte das föderale System den Ländern in Ost und West mehr Spielräume geben müssen, um ihren je spezifischen Bedingungen Rechnung zu tragen und einen produktiven Wettbewerb um bessere Politik auszulösen? Zu lange wurden die Fördermittel für den Osten Infrastrukturinvestitionen gewidmet, zu langsam änderte sich dies zugunsten einer unternehmensnahen Investitionspolitik. Zudem hat man es lange versäumt, flächendeckende Unterstützung zugunsten von Wachstumspolen aufzugeben. Eine der größten Herausforderungen ist die Bewältigung des demografischen Wandels, bei dem die östlichen Länder Vorreiter sind. Die ohnehin schon vorhandene Ost-West-Migration wirkt verschärfend. Vorweggenommen wird hier eine gemeinsame Entwicklung: Sie führt Deutschland bis 2060 auf 64,7 Millionen Einwohner (2010: 81,5 Mio.) und reduziert die Erwerbsfähigen zwischen 20 und 64 Jahren von etwa 50 Millionen 2010 auf etwa 32,6 Millionen 2060.21 Abbildung 2: Bevölkerungsabnahme in den Bundesländern 2060 gegenüber 2010 (in %) Sachsen-Anhalt

-42

Thüringen

-41

Mecklenburg-Vorpommern

-36

Brandenburg

-35

Saarland

-33

Sachsen

-31

Niedersachsen

-22

Bundesdurchschnitt

-21

Schleswig-Holstein

-21

Nordrhein-Westfalen

-20 -19

Hessen

-19

Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg

-16

Berlin

-16

Bayern

-15

Bremen

-14

Hamburg

-6 -45

-40

-35

-30

-25

-20

-15

-10

-5

0

Quelle: Ergebnisse der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung nach Ländern; eigene Darstellung.

20 Siehe Anmerkung 15. 21 Vgl. die 12. Koord. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes.

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Die ostdeutschen Länder, ihr Gesicht und ihr Wirtschaftswachstum sind davon früher und härter betroffen. In den nächsten zehn Jahren rechnen die ostdeutschen Ministerpräsidenten mit einem Minus von 900.000 Einwohnern. 400.000 Wohnungen werden nicht mehr zu vermieten sein. Ihren Abriss zu subventionieren sei erforderlich – zumindest sektoral das Gegenteil von Aufbau.22 In den nächsten 15 Jahren kommt es zu einer Polarisierung der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland: Gewinner werden die westdeutschen Ballungszentren (außer dem Ruhrgebiet) und der Nordwesten Deutschlands sein. Zu den Verlierern werden das östlichen Westfalen, die Peripherie im Süden (Bayerischer Wald) und besonders Ostdeutschland zählen. Regionen in West- und Ostdeutschland müssen ihre Rolle neu definieren und diesen Wandel gestalten. Da er langsam verläuft, ist die Politik durchaus in der Lage, negativen Entwicklungen in der Altersstruktur vor allem durch Qualifizierungsmaßnahmen gegenzusteuern. In Ostdeutschland bringt dieser demografische Wandel jedoch keine Entlastung für den Arbeitsmarkt. Im Gegenteil, Untersuchungen zeigen dort einen starken Rückgang der Arbeitskräfte im hochqualifizierten Segment. Da dessen Vorgaben fehlen, wird auch eine deutlichere Verringerung der Arbeitslosigkeit bei Erwerbsfähigen mit mittleren und geringen Qualifikationen verhindert. Östliche wie westliche Bundesländer unterliegen gravierenden Veränderungen, wobei die Bevölkerungsentwicklung im Osten noch dramatischer verläuft als im Westen. Dadurch verschärfen sich die prekären Dimensionen der Ost-West-Situation: Die Länder zwischen Elbe und Oder bleiben auf Transferleistungen angewiesen, bei aller dort sichtbaren Leistungsentfaltung einzelner. Ähnlich den westdeutschen Erfahrungen gibt es auch in Ostdeutschland zunehmende, nicht zuletzt durch landespolitische Intentionen bedingte Differenzierungen. In Ost- wie in Westdeutschland prägen sich deutliche regionale Unterschiede vor allem zwischen den wirtschaftlich schwächeren Nordländern und dem stärkeren Süden heraus – auch dem Süden innerhalb des Ostens. Somit besteht nicht mehr nur das typische WestOst-Gefälle, sondern auch ein Nord-Süd-Gefälle, denn auch im Westen sind ausgesprochene Problemregionen entstanden.

22 �������������������������������������������������������������������������������� Siehe den Bericht über ein Treffen der Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder mit der Bundeskanzlerin: Ostgipfel im Porsche-Werk, in: Frankfurter Allgemeine vom 7.10.2011.

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Unterschiedliche Prägungen der politischen Kultur

Den sich in der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte anbahnenden Wandel im Parteiensystem und im Wahlverhalten haben die östlichen Länder erheblich dynamisiert. In Ostdeutschland war der pragmatische Wählertyp von Beginn an vorherrschend. Zwei Diktaturen hinterließen über sechs Jahrzehnte eine sozial weitgehend entstrukturierte Gesellschaft: Traditionen wurden gebrochen, Milieus aufgelöst und nivelliert. Schon 1990 erwiesen sich fast alle Annahmen über die Orientierungen der Wähler in den neuen Ländern als falsch. Von den Anhängern der SED und ihrer Nachfolgeorganisationen abgesehen, besaßen diese keine gewachsenen Parteibindungen. Die Ostdeutschen wählen »modern«, pragmatisch, nutzen- und situationsorientiert und nicht entlang sozialstruktureller Determinanten. Nach denen hätte die CDU in der ersten gemeinsamen Wahl nie dominieren dürfen. Etabliert haben sich diese Wähler als ein nach wie vor nennenswertes und stabiles Potential und im System auch eine zusätzliche Partei als ausgeprägte Vertreterin ihrer spezifischen, von der prekären sozialen Situation bestimmten und sich in der östlichen Region bündelnden Interessen. Biographische und nostalgische Motive sind dagegen im Rückzug begriffen, während die ideologischen mehr im Westen verbreitet sind. Allerdings hatte die parteipolitische Repräsentation dieser regionalen Interessen nie die Chance, sich ähnlich hegemonial zu entwickeln wie bei der CSU in Bayern. Um den tieferen Differenzen in der politischen Kultur nachzuspüren, die sich auch nach zwei Jahrzehnten nicht abgeschliffen haben, empfiehlt es sich, nicht nur institutionell, sondern auch normativ anzusetzen. Normativ ruhten die Bundesrepublik Deutschland und die DDR auf gänzlich unterschiedlichen Fundamenten. Das wäre nicht von Belang, hätten diese für die Perspektiven der Demokratie keine Bedeutung. Sie sind aber weder grundsätzlich bedeutungslos (woran schon jene zeitgenössischen DDR-Analysen gescheitert sind, welche Wertfragen bewusst ausgeklammert haben), noch sind sie es politisch, weil die gesamtdeutsche Demokratie, die Moderne überhaupt, zunehmend vor ethischen Herausforderungen steht, die auf diesen gegensätzlichen Sozialisationshintergründen sozialverträgliche, zugleich die Ansprüche einer wertgebundenen Ordnung erfüllende Antworten verlangen. Nicht nur, dass auch der moderne Staat zur Legitimitätsgewinnung auf einen Grundbestand an vorpolitischen, konsentierten Wertvorstellungen angewiesen bleibt,23 die in beiden Gesellschaften unterschiedlich angelegt 23 Klassisch: Ernst Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65.

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und anerzogen gewesen sind; auch der wissenschaftliche Fortschritt setzt z. B. in der Entwicklung von Gentechnologie und Biomedizin, wie die Praxis lehrt, Menschenwürde und Humanität auf die politische Tagesordnung. Kein Geringerer als Jürgen Habermas hat empfohlen, Orientierungen in den Überlieferungen der Religionen zu suchen24 und damit Opportunismus, Indifferenz, Materialismus und Progressismus eine Absage erteilt. Dort, wo Habermas eine Lösung sucht, findet sich in Deutschland ein Problem, weil die Entkirchlichung in Ostdeutschland nicht zuletzt durch die Einwirkungen der Diktatur nicht nur im Vergleich zu Westdeutschland, sondern auch zu Osteuropa (selbst wenn Polen unberücksichtigt bleibt) und zu Europa insgesamt am weitesten fortgeschritten ist – und anhält.25 So manche politische Einstellung hat sich angenähert, die Einstellung zur Religiosität nicht. Damit steht bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung jener potentielle Kitt der Sozialverfassung, an den Habermas erinnert, nicht zur Verfügung. Dieser deutsche »Sonderfall« tieferer ethischer Differenzen als anderswo wird auch in Zukunft Konsensbildungen in normativ sensiblen Politikbereichen26 erschweren, wobei Religion gewiss nicht die einzige moralische Ressource ist, aber in diesem Kontext als paradigmatisch angesehen werden kann. Auf der Systemebene haben sich die Vertrauensdaten weitgehend angeglichen – bei Justiz und Polizei aufgrund der neuen Erfahrungen auf erfreulichem, bei Bundestag und Bundesregierung auf beklagenswert niedrigem Niveau. Die Demokratie, ihre Idee und ihre normativen Prinzipien sind im Osten schon 1990 zunächst ähnlich hoch, gelegentlich sogar höher bewertet worden als im Westen27 – offensichtlich als Kontrastprogramm zu den eigenen politischen Erfahrungen. Allerdings sind die für die Bewertung des

Geburtstag, Stuttgart 1967, S. 75–94; ders.: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007. 24 »Sie bewahren die Dimensionen unseres gesellschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, in denen noch die Fortschritte der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung abgründige Zerstörungen angerichtet haben, vor dem Vergessen.« So Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, S. 13. 25 Heiner Meulemann: Religiosität: Immer noch die Persistenz eines Sonderfalls, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30–31/2006, S. 15–22. 26 Erinnert sei an den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlkampf, in dem der Fortbestand des DDR-Abtreibungsrechts eines von zwei zentralen Themen gewesen ist. 27 Vgl. Detlef Pollack: Wie ist es um die innere Einheit Deutschlands bestellt?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30–31/2006, S. 3–7.

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Föderalismus wesentlichen Einschätzungen der Rolle des Bundesrates und der Landesregierungen im Osten deutlich niedriger als in den Westländern.28 Fragt man jedoch nicht die normative Ebene ab, sondern die Zufriedenheit mit der Praxis und der Leistung der Demokratie, vermindert sich die Zustimmung, wie das verallgemeinerungsfähige Beispiel Thüringen lehrt. Bei dieser Fragestellung liegen die östlichen Werte von Beginn an kontinuierlich 20 Prozentpunkte unter den westlichen. Sie sind seit 1990 sogar gesunken und haben insoweit die Kluft zwischen Ost und West vergrößert. Inzwischen beeinflusst die Unzufriedenheit mit der Praxis auch die einst überraschend breite Akzeptanz der Prinzipien. Abbildung 3: Beispiel Thüringen: Demokratieunterstützung im Zeitverlauf 2001 bis 2011 (in %)

Quelle: Karl Schmitt/Jürgen H. Wolff: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Staatsaufgaben und Staatsausgaben, Ergebnisse des Thüringen Monitors 2011, Jena 2011, S. 71.

Für die sich verschärfenden Unterschiede gewinnt die neue Erfahrung nach der Vereinigung an Bedeutung. Ursache dafür ist der altbekannte Zusammenhang zwischen der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage und der Demokratiezufriedenheit. Die hohen idealisierten Erwartungen an die soziale Marktwirtschaft, auch an die Gestaltungskraft der Politik, sind enttäuscht worden. An dieser ganz entscheidenden Stelle gibt es eine wesentliche Diffe28 �������������������������������������������������������������������������� Siehe Norbert Grube: Nähe und Distanz: Föderale Einstellungen der Bevölkerung in 60 Jahren Bundesrepublik, in: Jahrbuch des Föderalismus, Nr. 10/2009, S. 155 f.

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renz im Demokratieverständnis: Die Westdeutschen verbinden damit ein liberales, sozial abgestütztes Modell, die Ostdeutschen eine Synthese von Demokratie und Sozialismus, welche Gleichheit vor Freiheit und eine Stärkung des Sozialstaates samt Staatsinterventionismus favorisiert. Ob das auf Dauer ein signifikanter Unterschied zu der Bevölkerung in den alten Bundesländern bleibt, ist eine offene Frage, denn auch im Westen nimmt eine paternalistische Staatserwartung zu. Der Zusammenhang zwischen Selbstentfaltung und Selbstverantwortung löst sich immer mehr auf. Insofern könnten sich die alten und die neuen Bundesländer mentalitätsmäßig auf diesem problematischen Felde ähnlicher werden als es gemeinsam zuträglich ist. Der Sonderfall Deutschland bestätigt bei allen inneren Differenzen eine generelle internationale Entwicklung, welche die deutsche überlagert und eine intensive Diskussion um schwindendes politisches Vertrauen hervorgerufen hat.29 Es gibt objektive Gründe für Vertrauensentzug: sozialer und ökonomischer Wandel, Wirtschaftskrisen, Instabilität sozialer Sicherungssysteme, Verunsicherungen durch die Globalisierung, Umweltkrisen, Beschleunigung der Informationssysteme, Medieneinfluss, Wert- und Bildungswandel – all dies weithin ohne politisch vermittelte, wenigstens relative Verlässlichkeit ausstrahlende Zukunftsperspektive. Gerade die Ungewissheit der Lebensführung und der Wirtschaftslage haben nicht nur in allen europäischen Staaten die Bedeutung der leistungsorientierten Vertrauensressourcen wachsen lassen und die der emotionalen reduziert; zumindest haben sie diesen die Kraft genommen, Leistungsdefizite nachhaltig zu überspielen. Was schwindet, ist die diffuse Unterstützung des politischen Systems30 als langfristige affektive Bindung – sei sie auf Output-Zufriedenheit, sei sie auf Wertund Normenkongruenz zurückzuführen, mit der sich aktuelle Leistungs­ defizite auffangen lassen: ein gemeinsames Problem auch für Ost- und Westländer. 29 Susann J. Pharr/Robert D. Putnam: Disaffected Democracies. What’s troubling the Trilateral Countries?, Princeton 2000; Martin K. W. Schweer (Hg.): Vertrauen im Spannungsfeld politischen Handelns, Frankfurt am Main u. a. 2003; Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1972; Francis Fukuyama: Trust. The Social Virtues and the Creation of Prosperity, New York 1995; Martin Hartmann/Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main/New York 2001; Russell Hardin: Trust, Cambridge 2008; Rainer Schmalz-Bruns/Reinhard Zintl (Hg.): Politisches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation, BadenBaden 2002. 30 David Easton: A Reassessment of the Concept of Political Support, in: British Journal of Political Science, 5 (1975), S. 435–457.

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Thüringen im Wandel politischer Kulturen

1 Einleitung Wer den Wandel politischer Kulturen in Thüringen beschreiben, wer ihn gar erklären will, der kann seinen Zeithorizont nicht auf die zwei Jahrzehnte seit der Wiedervereinigung Deutschlands beschränken, der kann sich auch nicht damit begnügen, diese neuere Entwicklung lediglich mit der DDR-Ära zu kontrastieren. Er muss in der Epoche ansetzen, in der auch in Thüringen die Fundamente moderner Staatlichkeit gelegt worden sind: in der Epoche der Konstitutionalisierung, der Parlamentarisierung und der Demokratisierung – im 19. Jahrhundert. Nun standen in dieser Epoche die heute zur Erfassung politischer Mentalitäten gebräuchlichen Methoden der empirischen Sozialforschung noch nicht zur Verfügung; wir sind also auf das Zeugnis von Zeitgenossen angewiesen. Ein solcher in der Regel sehr aussagekräftiger Berichterstatter ist der Begründer der deutschen Volkskunde, der aus dem Rheingau stammende Wilhelm Heinrich Riehl, dem wir die prägnantesten zeitgenössischen Charakterbilder deutscher politischer Landschaften in der Mitte des 19. Jahrhunderts verdanken. Leider ist in unserem Fall auf Riehl kein Verlass: Unglücklicherweise ist er auf seinen Forschungsreisen nicht nach Thüringen gekommen, sodass wir uns mit dem Urteil eines Autors sächsischer Herkunft begnügen müssen, der einige Jahrzehnte nach Riehl in Berlin Karriere gemacht hat: Heinrich von Treitschke. Dieser schreibt über die Thüringer Kleinstaatenwelt zu Anfang des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Wartburgfest und der Gründung der Burschenschaft: »Und wo hätte auch dieser romantische Studentenstaat so zuversichtlich, so selbstgefällig, so ganz unbekümmert um die harten Thatsachen der Wirklichkeit sein naives Traumleben führen können, wie hier inmitten der gemüthlichen Anarchie eines patriarchalischen Völkchens, das den Ernst des Staates nie gekannt hatte? Unter allen den Unheilsmächten, welche unserem Volke den Weg zur staatlichen Größe erschwerten, steht die durchaus unpolitische Geschichte dieser Mitte Deutschlands vielleicht obenan. Fast alle deutschen Stämme nahmen doch

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irgend einmal einen Anlauf nach dem Ziele politischer Macht, die Thüringer niemals. Unsere Cultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts.«1

Dieses schneidende, ja vernichtende Urteil über die politischen Verhältnisse Thüringens ist in unserem Zusammenhang in doppelter Hinsicht von Interesse. Erstens, weil es auf ein Spezifikum der politischen Entwicklung Thüringens verweist: seine territoriale Zersplitterung.2 Hier überdauerte die Vielzahl der Miniaturstaaten auf kleinstem Raum auch die Flurbereinigungen Napoleons und des Wiener Kongresses. Erst 1920 wurde das Land Thüringen geschaffen, zunächst allerdings in kleinthüringischem Format, mit der Hauptstadt Weimar, ohne die preußischen Gebiete. Erst die 1945 vorübergehend herrschende amerikanische Besatzungsmacht schuf »Großthüringen« mit den preußischen Gebieten einschließlich Erfurts. In dieser Gestalt erstand Thüringen 1990 neu, nachdem es 1952 durch die drei Bezirke Erfurt, Gera und Suhl ersetzt worden war. Zweitens verhilft uns Treitschkes scharfe Kontrastierung von einerseits »Kultur« (er erinnert an den Hof der Minnesänger auf der Wartburg, die Reformation Luthers, die Weimarer Klassik der Goethezeit) und andererseits des »Staates« (des deutschen Machtstaats, der nach Weltgeltung strebt) zu einem besseren Verständnis dessen, was mit »politischer Kultur«, dem zentralen Begriff unseres Themas, gemeint ist. Für Treitschke gehörten Kultur und Politik in strikt getrennte Sphären. Im Begriff der »politischen Kultur« erscheinen dagegen beide Sphären eng miteinander verbunden. Allerdings bezeichnet »politische Kultur« nicht etwa die politischen Aspekte von »Kultur« im herkömmlichen Verständnis, also politische Aspekte der Kunst, der Literatur oder der Musik. Vielmehr hat sich der Begriff aus einem völlig anderen Kontext, aus der amerikanischen strukturfunktionalistischen Sozialwissen­ schaft stammend, in den 1960er und 1970er Jahren im deutschen Sprachraum eingebürgert.3 Hier figuriert »politische Kultur« als Komplementärbegriff zu 1 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 2. Teil, 5. Aufl., Leipzig 1897, S. 395. Von einem »Jammerbild Thüringens« spricht auch Friedrich Engels: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 235. 2 Vgl. Jürgen John (Hg.): Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1994; ders.: Selbst- und Fremdwahrnehmungen Thüringens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Thüringer Landtag (Hg.): Thüringen – junges Land mit alten Wurzeln, Erfurt 2003, S. 8–28. 3 Paradigmatisch Gabriel A. Almond/Sidney Verba: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963. Zu Genese und Tragfähigkeit des Konzepts Franz U. Pappi: Politische Kultur. Forschungsparadig-

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dem der »politischen Struktur«. So wie politische Systeme Institutionen, also eine »politische Struktur« aufweisen, so haben sie auch eine »politische Kultur«, d. h. mehr oder weniger dazu passende politische Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürger. So gesehen kann ein politisches System nur dann funktionieren, wenn seine »Kultur« seiner »Struktur« angemessen ist. In diesem Sinn ist eine Demokratie, ein System mit demokratischer politischer Struktur und entsprechenden Institutionen, auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass ihre Bürger eine demokratische politische Kultur besitzen, die sie befähigt und motiviert, ihre Bürgerrolle auszufüllen. Die Weimarer Republik ist nicht zuletzt deshalb untergegangen, weil sie eine Demokratie mit zu wenig politischer Kultur, mit zu wenig Demokraten war. Die folgende Skizze der politischen Kultur in Thüringen nähert sich ihrem Gegenstand aus zwei Perspektiven: erstens einer historischen Perspektive, indem sie den Blick auf die Entwicklung derjenigen politischen Kräfte richtet, die die politische Kultur der Bürger in modernen Demokratien am stärksten prägen und in deren Konfigurationen sich zugleich die vorherrschenden Strömungen am deutlichsten abzeichnen: die politischen Parteien. Zunächst ist also die Entwicklung der Parteienkonstellation in Thüringen von ihrer Entstehungszeit bis zur Gegenwart zu skizzieren. Zweitens geht sie der Kernfrage nach, vor der eine Beschreibung des gegenwärtig erreichten Standes der Demokratieentwicklung steht: Inwieweit hat der demokratische Verfassungsstaat zwei Jahrzehnte nach seiner Wiedergründung in Thüringen Wurzeln geschlagen?

2

Entwicklungen der Thüringer Parteienlandschaft

Der historische Moment, in dem die gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse Thüringens in Gestalt einer neuen Parteienlandschaft sichtbar wurden, war die Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990. Bekanntlich sorgte das Ergebnis der Volkskammerwahl für eine große Überraschung. Entgegen allen Erwartungen und allen Prognosen wurde nicht die SPD, sondern die Allianz für Deutschland aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch klarer Wahlsieger. Und im stark industrialisierten Thüringen schnitt die SPD, ähnlich wie in Sachsen, noch schlechter ab als im DDR-Durchschnitt. Wie ist dieser deutliche Wahlsieg der Allianz zu erklären? Warum wurden die Hoffmata, Fragestellungen, Untersuchungsmöglichkeiten, in: Max Kaase (Hg.): Politische Wissenschaft und politische Ordnung, Festschrift für Rudolf Wildenmann, Wiesbaden 1986, S. 279–292.

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nungen enttäuscht, die die SPD an das Wiedererstehen der Partei im »roten Mitteldeutschland« geknüpft hatte? Wie kam es dazu, dass gerade in Thüringen, wo in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg durch die Parteitage von Eisenach (1869), Gotha (1875) und Erfurt (1891) große Kapitel der Geschichte der Sozialdemokratie geschrieben worden waren, die SPD keineswegs wieder die Stärke erreichte, die einer Industrielandschaft auf protestantischem Boden entspricht? Es hat nach den Überraschungen des Jahres 1990 nicht an Überlegungen gefehlt, warum die herkömmlichen sozialstrukturellen Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens, die im Westen Deutschlands noch mehr oder minder greifen, im Osten Deutschlands offenkundig versagt hatten. Diese Überlegungen lassen sich in drei Hypothesen zusammenfassen: 1.) Die PlebiszitHypothese: Diese Erklärung hebt auf die Einmaligkeit der Situation von 1990 ab und sieht die Wahlen dieses Jahres in erster Linie als Plebiszit über Tempo und Modalitäten der deutschen Vereinigung, bei dem langfristige, sozialstrukturell verankerte Parteibindungen naturgemäß kaum zum Zug kommen konnten. 2.) Die Tabula-Rasa-Hypothese: Diese Erklärung geht noch einen Schritt weiter. Sie stellt nicht nur die Wirksamkeit solcher Parteibindungen unter den besonderen Bedingungen des Jahres 1990 in Frage, sondern bestreitet deren Existenz in der DDR grundsätzlich. In dieser Sicht haben vierzig Jahre Sozialismus und zuvor zwölf Jahre Nationalsozialismus sämtliche Voraussetzungen sozialstrukturell verankerter Parteibindungen zerstört: zum einen durch die Ausschaltung des Parteienwettbewerbs (zunächst durch die völlige Zerschlagung der mit der NSDAP konkurrierenden Parteien, später durch die Einordnung der 1945 gegründeten Parteien in das SED-gesteuerte Blockparteiensystem), zum anderen durch die Planierung des sozialen Unterbaus des Parteiensystems (Gleichschaltung der Interessenorganisation; Egalisierung in Richtung einer »Volksgemeinschaft«, später einer »sozialistischen Menschengemeinschaft«). 3.) Die Erosions-Hypothese: Nach dieser Erklärung ist die soziale und politische Landschaft nicht erst durch die »Planierraupe« (Alf Mintzel) des Nationalsozialismus und des realen Sozialismus eingeebnet worden, sondern war schon zuvor durch Erosionsprozesse in der Schlussphase der Weimarer Republik konturenlos geworden.4 4 So datiert der Göttinger Parteienforscher Franz Walter in Wiederaufnahme der These von M. Rainer Lepsius den Untergang der alten sozialdemokratischen »Herrlichkeit« in Thüringen auf den Anfang der 1930er Jahre. Vgl. M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel u. a. (Hg.): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 1966, S. 371–393; Franz Walter: Thüringen – einst Hochburg der sozialistischen Arbeiterbewegung?, in: Internationale wis-

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Die Erosionsthese und mit ihr die Tabula-Rasa-These sind für das westliche Deutschland stark relativiert, wenn nicht widerlegt worden.5 Denn die klassischen Milieus waren hier auch nach 1945 offensichtlich noch vital genug, um ein Parteiensystem wiedererstehen zu lassen, das stark den traditionellen Mustern folgte. Aber wie lagen die Dinge in Thüringen? Haben die Milieus auch hier die NS-Zeit, ja vielleicht sogar die DDR-Ära überdauert? Sind sie demnach 1990 nur deshalb nicht sichtbar geworden, weil die Volkskammerwahl in Wirklichkeit ein Plebiszit über die Wiedervereinigung war? Eine Antwort auf diese Fragen erfordert einen Blick auf die Entwicklung der Thüringer Parteienlandschaft. Thüringen zeichnete sich von jeher durch eine außergewöhnlich vielgestaltige politische Landschaft aus. Das ergab sich schon allein daraus, dass in der Entstehungsphase der Parteien im Kaiserreich, also noch vor der Bildung des Landes Thüringen 1920, in den einzelnen thüringischen Staaten stark variierende Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung gegeben waren.6 Große Unterschiede der Verfassungsentwicklung, des Wahlrechts und der politischen Orientierungen der regierenden Fürstenhäuser ließen ein vielgestaltiges und stark fragmentiertes Parteiensystem entstehen. Diese Vielgestaltigkeit der politischen Landschaft Thüringens wurde durch die nach der Reichsgründung von 1871 einsetzende wirtschaftliche Entwicklung noch gesteigert.7 Sie machte Thüringen bis zur Jahrhundertwende zur vierten großen Industrieregion Deutschlands, nach dem rheinisch-westfälischen Revier, Oberschlesien und Sachsen. Doch konzentrierte sich diese Entwicklung auf Südthüringen (Suhl und Schmalkalden), auf den Industriegürtel von Altenburg im Osten bis Eisenach im Westen, sowie auf einige Städte. Die übrigen Gebiete des Nordens und der Mitte sowie südlich des Thüringer Waldes blieben von einer meist klein- und mittelbäuerlichen Landwirtschaft geprägt.

senschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, H. 1/1992, S. 21–39. 5 Vgl. Alf Mintzel: Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit. Ein Lehrbuch, Opladen 1984, S. 244 ff.; Karl Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt am Main 1992, S. 164 ff.; Karl Schmitt: Konfession und Wahlverhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989, S. 53 f., 114 ff. 6 Grundlegend Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens, Bd. 5, 2. Teil, Köln/Wien 1978; Ulrich Hess: Geschichte Thüringens 1866–1914, Weimar 1991; zusammenfassend Andreas Dornheim: Thüringen, territorial und politisch-kulturell zersplittert, in: Der Bürger im Staat, 43. Jg., Nr. 4 /1993, S. 264–270. 7 Vgl. Ulrich Hess: Geschichte Thüringens 1866–1914, a. a. O., S. 95 ff.

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Auf dieser Grundlage hat sich Thüringen während des Kaiserreiches einerseits zu einer Hochburg der Sozialdemokratie entwickelt.8 Bei den letzten Reichstagswahlen vor dem Ersten Weltkrieg (1912) konnte die SPD hier 48 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen (gegenüber 35 Prozent im Reichsdurchschnitt). Von den fünfzehn Wahlkreisen reichsweit, in denen die SPD 1912 die absolute Mehrheit erreichte, lagen nicht weniger als sechs in Thüringen: Sonneberg-Saalfeld, die Fürstentümer Reuß ältere und jüngere Linie sowie Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt und Erfurt-Schleusingen-Ziegenrück. Andererseits herrschten auch 1912 in den dominant landwirtschaftlich geprägten Wahlkreisen Thüringens andere Kräfteverhältnisse. Hier blieben Mehrheiten aus Fortschritt und Konservativen bzw. Antisemiten (Mühlhausen-Langensalza, Weimar), aus Fortschritt und Wirtschaftspartei (Nordhausen, Meiningen-Hildburghausen) oder aus Nationalliberalen und Wirtschaftspartei bzw. Antisemiten (Eisenach-Dermbach, Schwarzburg-Sondershausen) erhalten. Die Zentrumspartei schließlich erzielte wie eh und je im Wahlkreis Heiligenstadt-Worbis (Eichsfeld) mit 83 Prozent eines ihrer reichsweit besten Ergebnisse. In der Weimarer Republik blieben diese Vielgestaltigkeit und die starken Kontraste der politischen Landschaft Thüringens erhalten.9 Sie gewannen nun deshalb eine neue Qualität, weil mit der Gründung des Freistaats Thüringen 1920 die starken Spannungen auf der neuen Landesebene ausgetragen werden mussten. Die »kleinthüringische Lösung« (ohne die preußischen Gebiete mit Erfurt) hat die zunehmende Polarisierung des Parteienfeldes in starke linke und rechte Lager, die sich wechselseitig verstärkten, gefördert.10 Denn noch deutlicher als im Reich war die Parteienkonstellation im Land Thüringen geprägt von einer Schwäche der Parteien der republikanischen Mitte und der starken Stellung der radikalen Flügelparteien (USPD, KPD, Vereinigte Völkische Liste, Völkisch-Nationaler Block, NSDAP). Das war 8 In Schwarzburg-Rudolstadt wurde 1871 erstmals ein Sozialdemokrat in einen deutschen Landtag gewählt. Vgl. Gerhard A. Ritter: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980. 9 Jürgen W. Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann: Wahlen und Abstim­ mungen in der Weimarer Republik: Materialien zum Wahlverhalten 1919–1933, München 1986. 10 Vgl. Herbert Gottwald/Gerhard Müller: Zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Bd. 1, Jena 1992, S. 8–41; Hans Fenske: Sachsen und Thüringen 1918–1933, in: Klaus Schwabe (Hg.): Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten 1815– 1933, Boppard 1983, S. 185–204.

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nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass das Zentrum in der thüringischen Landespolitik der Zwischenkriegszeit keine Rolle spielte (die katholischen preußischen Gebiete mit dem Eichsfeld gehörten nicht zum Freistaat Thüringen). Die Polarisierung der politischen Kräftekonstellation führte dazu, dass 1930 in Thüringen als erstem der deutschen Länder die NSDAP an einer Regierungskoalition beteiligt wurde.11 Dies verschaffte der nationalsozialistischen Agitation eine legale Basis. Der Erfolg dieser Agitation zeigte sich im erdrutschartigen Wahlsieg der NSDAP (43 Prozent) bei der Landtagswahl von 1932, der die Partei in Thüringen endgültig an die Regierung brachte. Ihren Durchbruch in Thüringen verdankte die NSDAP nicht allein dem Zusammenbruch der liberalen Parteien sowie ihren Stimmengewinnen in den Hochburgen des Thüringischen Landbundes und der DNVP. Die NSDAP konnte darüber hinaus auch in einige der traditionellen Hochburgen der Linken einbrechen.12 Die geringste Resonanz fand die NSDAP im Eichsfeld; auch noch bei der Reichstagswahl von 1933 blieb sie im Kreis Worbis mit 25 Prozent der Stimmen weit hinter dem Zentrum (59 Prozent) zurück. Insgesamt gesehen hat also der Durchbruch der NSDAP die politische Landschaft Thüringens in kurzer Zeit drastisch verändert. Allerdings stellt sich die Frage, ob er dauerhafte Spuren hinterlassen hat. Oder ist, wie im 11 Donald R. Tracey: The Development of the National Socialist Party in Thuringia 1924–1930, in: Central European History, 8/1975, S. 23–50; ders.: Der Aufstieg der NSDAP in Thüringen, in: Detlef Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 49–74. Zur Strategie Hitlers in Thüringen Günter Neliba: Wilhelm Frick und Thüringen als Experimentierfeld für die nationalsozialistische Machtergreifung, in: Detlef Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, a. a. O., S. 75–96; Fritz Dickmann: Die Regierungsbildung in Thüringen als Modell der Machtergreifung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 14. Jg., Heft 4/1966, S. 454–464; Lothar Ehrlich/Jürgen John (Hg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, Köln/ Weimar/Wien 1998; Manfred Overesch: Hermann Brill in Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 165–236. 12 Eine genauere Betrachtung zeigt, dass diejenigen Hochburgen der Linken dem Ansturm des Nationalsozialismus besser standhielten, in denen sich, begünstigt durch die großindustrielle Struktur, ein fest gefügtes Arbeitermilieu mit ausdifferenziertem Vereinswesen und starker Parteiorganisation herausgebildet hatte. Hingegen wandten sich in den haus- und kleingewerblich geprägten Industriegebieten vornehmlich des Thüringer Waldes, in denen sich ein solches Milieu nur in Ansätzen entwickelt hatte, offensichtlich viele Arbeiter der neuen Hoffnungsträgerin NSDAP zu. Vgl. Franz Walter: Thüringen – einst Hochburg der sozialistischen Arbeiterbewegung?, a. a. O., S. 34 ff.

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westlichen Deutschland nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches«, eine Konstellation wiedererstanden, wie sie vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus bestanden hatte? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich an den Ergebnissen der Thüringer Landtagswahl im Herbst 1946 ablesen.13 Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Alternativen des Parteienfeldes 1946 stark eingeschränkt waren. Nur drei Parteien waren zu dieser halbwegs freien Wahl zugelassen: neben der im April 1946 aus der Vereinigung von SPD und KPD hervorgegangenen SED nur die LDP und die CDU. Weiterhin hatten beträchtliche kriegs- und nachkriegsbedingte Bevölkerungs­ verschiebungen einen Bevölkerungszuwachs Thüringens von 20 Prozent mit sich gebracht. Vor diesem Hintergrund ist das Ausmaß der Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen der Thüringer Landtagswahl von 1946 und den Wahlen vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus Ende der 1920er Jahre umso bemerkenswerter. Erstens entsprach das quantitative Gewicht der großen politischen Lager 1946 in der Größenordnung demjenigen in den 1920er Jahren. Die SED – mit 49 Prozent wie in den übrigen Ländern der SBZ knapp unter der absoluten Mehrheit – übertraf damit leicht den kombinierten Stimmenanteil (46 Prozent) von SPD und KPD bei der Reichstagswahl von 1928. Auch die LDP lag 1946 mit 29 Prozent in der Größenordnung des liberalen Stimmenanteils (DDP, DVP, Wirtschaftspartei) von 1928 (23 Prozent). Die CDU blieb mit 19 Prozent hinter dem kombinierten Ergebnis von Zentrum, DNVP und Landbund (24 Prozent) zurück. Zweitens bestätigt sich das vom Gesamtergebnis nahe gelegte Bild der Kontinuität bei regionaler Betrachtung.14 Die SED war 1946 dort stark, wo vor 1933 SPD und KPD stark gewesen waren. Die vier Kreise, in denen sie 1946 mehr als 60 Prozent der Stimmen erzielte (Altenburg-Land, Arnstadt13 Karl-Heinz Hajna: Die Landtagswahlen 1946 in der SBZ: Eine Untersuchung der Begleitumstände der Wahl, Frankfurt am Main 2000. 14 Zur Korrelation der Parteianteile auf Kreisebene Karl Schmitt: Thüringen 1990: Die Neuformierung einer politischen Landschaft, in: ders./Torsten Oppelland (Hg.): Parteien in Thüringen. Ein Handbuch, Düsseldorf 2008, S. 21–39, hier S. 32. Vgl. Jochen Hardt/Karl-Heinz Hajna/Britta Oltmer: Thüringen 1946. Freie Wahlen im Übergang vom Nationalsozialismus zum Kommunismus, in: Detlef Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, a. a. O., S. 507– 530, deren detaillierte Analyse auf Gemeindeebene zum gleichen Ergebnis kommt. Zum Vergleich mit der SBZ bzw. DDR insgesamt Karl Schmitt: Politische Landschaften im Umbruch. Das Gebiet der ehemaligen DDR 1928–1990, in: Oscar W. Gabriel/Klaus Troitzsch (Hg.): Wahlen in Zeiten des Umbruchs, Frankfurt am Main 1993, S. 403–441.

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Stadt, Sonneberg und Suhl), waren bereits in den 1920er Jahren Hochburgen der Parteien der Linken gewesen. Ähnliches gilt für die LDP, die in den thüringischen Städten am besten abschnitt. Sie erreichte 1946 dort Ergebnisse von 40 Prozent und mehr, wo schon seinerzeit die kombinierten Stimmenanteile von DVP, DDP und Wirtschaftspartei teilweise weit über 30 Prozent gelegen hatten (Apolda, Eisenach, Erfurt, Nordhausen, Weimar). Ein ähnliches Muster zeigt sich für die CDU nur hinsichtlich der früheren Zentrumshochburg im Eichsfeld (Kreis Worbis: 63 Prozent). Drittens sind die statistischen Zusammenhänge zwischen den Wahlergebnissen von 1946 und denen der Vorkriegszeit umso stärker, je mehr man in die Anfangsjahre der Weimarer Republik zurückgeht. Die politische Landschaft Thüringens, wie sie in den Landtagswahlen vom Herbst 1946 sichtbar wurde, war somit nicht die Vorkriegslandschaft schlechthin. Wiedererstanden waren vielmehr die Konturen, die Thüringen in den zwanziger Jahren vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus gekennzeichnet hatten.15 Das heißt: Die Erosionsprozesse der späten Weimarer Republik bei Liberalen, Konser­va­tiven und teilweise auch Linksparteien hatten keine dauerhaften Spuren hinterlassen. Über die NS-Ära und Kriegszeit hinweg waren organisatorische, programmatische und personelle Kontinuitäten bei Parteien und Wählern offensichtlich stark genug gewesen, um die Unter­brechung demokratischer Wahlen während einer knappen halben Generation zu überbrücken. Die Landtagswahl von 1946 in Thüringen erscheint somit – ähnlich wie die erste Bundestagswahl von 1949 im Westen – eher als Übergang von der Weimarer Republik zur Nachkriegszeit denn als »Neubeginn nach einer imaginären Stunde Null«. Überspitzt formuliert kann man in diesen beiden Wahlen gewissermaßen »die letzten Weimarer Wahlen«16 sehen. Dass eine einschneidende Zäsur in der Entwicklung der politischen Landschaft Thüringens jedenfalls nicht in NS-Zeit und Krieg zu setzen ist, sondern später stattgefunden hat, wird vollends deutlich, wenn die Volkskammerwahl 1990, die erste freie Wahl in Thüringen nach 1946, in den Blick genommen wird. In starkem Kontrast zur Kontinuität über die Zeit der nationalsozialis15 Dieser Befund widerspricht der Erosions-Hypothese von Walter und Lepsius (vgl. Anmerkung 4). Eine differenziertere Argumentation später bei Franz Walter: Von der roten zur braunen Hochburg: Wahlanalytische Überlegungen zur Resonanz der NSDAP in den beiden thüringischen Industrielandschaften, in: Detlef Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, a. a. O., S. 143–164. 16 Jürgen Falter: Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn, in: Politische Vierteljahresschrift, 22. Jg., Heft 3/1981, S. 236– 263, hier S. 260.

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tischen Herrschaft hinweg, in der die Landtagswahl von 1946 noch stand, markierte 44 Jahre später die Volkskammerwahl von 1990 einen deutlichen Umbruch. Erstens haben sich nun die globalen Stärkeverhältnisse der Parteien drastisch gewandelt. Die CDU17 erreichte 1990 in Thüringen im Verein mit ihren Partnern in der Allianz für Deutschland 60 Prozent und verdreifachte damit ihren Anteil von 1946; die Liberalen kamen mit 5 Prozent nur auf ein Sechstel des früheren LDP-Anteils; die SPD kam auf knapp 18 und die PDS auf 11 Prozent – will man das addieren, so blieben gemeinsam nur 29 Prozent gegenüber einem SED-Anteil 1946 von 49 Prozent. Zweitens macht ein Blick auf die räumliche Verteilung der Parteien das Ausmaß des Umbruchs augenfällig. Die traditionellen Hochburgen der Sozialdemokratie zwischen Eisenach, Sonneberg und Altenburg waren verschwunden. Die SPD konnte hier, wenn überhaupt, nur durchschnittlich reüssieren (Maximum: 23 Prozent in Eisenach und Jena). In allen Industriezentren Thüringens (mit Ausnahme der Städte Gera und Jena) erreichte die CDU-geführte Allianz (teilweise starke) absolute Mehrheiten. Die PDS war am stärksten in den Bezirkshauptstädten Erfurt, Gera und Suhl. Vor allem aber hatte sich die traditionell zwischen den politischen Lagern stark zerklüftete politische Landschaft Thüringens deutlich eingeebnet: Die Parteien verteilten sich landesweit ziemlich gleichmäßig.18 Als Gesamtergebnis des historischen Rückblicks ist somit ein völliger Umbruch der politischen Landkarte Thüringens festzuhalten. Und: Seine Ursachen sind in der Zeit nach 1946 zu suchen, also entweder in den vierzig Jahren der DDR oder in den spezifischen Umständen der Wahl des Jahres 1990. 17 Auf die CDU allein entfielen 52,5 Prozent; sie erzielte damit in Thüringen das mit Abstand beste Ergebnis im Vergleich der neuen Länder einschließlich Sachsens (CDU: 43,4 Prozent). 18 ������������������������������������������������������������������������������������� Eine statistische Analyse (vgl. Karl Schmitt: Thüringen 1990, a. a. O., S. 34) unterstreicht diese Veränderungen der Konturen der Thüringer Parteienlandschaft. Das PDS-Ergebnis von 1990 weist nur einen schwach positiven, das SPD-Ergebnis sogar einen leicht negativen Zusammenhang mit dem der SED von 1946 auf. Demgegenüber zeigen sich für die CDU und die Liberalen zwar jeweils positive statistische Zusammenhänge zwischen ihrem Abschneiden 1990 und 1946; diese fallen jedoch schwächer aus als diejenigen zwischen der Landtagswahl 1946 und den Weimarer Reichstagswahlen und sind im Falle der CDU auf ihre wiedererstandene Hochburg im Eichsfeld (Kreis Worbis 1990: 70 Prozent) zurückzuführen. Dieses Bild ändert sich auch dann nicht wesentlich, wenn man die Weimarer Ära (Reichstagswahl 1928) in die Betrachtung einbezieht: Die Zusammenhänge bleiben schwach, Zeichen eines deutlichen Umbruchs der politischen Landschaft.

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Was liegt näher, als aus dem Ergebnis der Volkskammerwahl, das so deutlich den in ihrem Vorfeld gehegten Erwartungen widersprach und das einen so drastischen Bruch mit den Thüringer Wahltraditionen darstellte, vor allem einen Schluss zu ziehen: Nicht langfristige, sozialstrukturell vermittelte Bindungen an Parteien hatten diese Wahlentscheidung bestimmt, sondern die Orientierung der Wähler an der Lösung politischer Sachfragen, konkret: Tempo und Modalitäten der deutschen Vereinigung. So gesehen war die Volkskammerwahl eine reine Themenwahl, ein Plebiszit.19 Zweifellos war die Situation im Frühjahr 1990 insofern historisch einmalig, als die deutsche Vereinigung die alles andere in den Hintergrund drängende Entscheidungsfrage der Wahl war. Während die Parteien der Allianz am entschiedensten eine rasche Vereinigung und eine radikale Veränderung des wirtschaftlichen und politischen Systems forderten, trat die PDS für einen langsamen Vereinigungsprozess und die Erhaltung möglichst vieler Elemente der alten Ordnung ein. Die Position der SPD war ambivalent: Willy Brandt plädierte für die Einheit, Oskar Lafontaine warnte vor ihren sozialen Folgen. So gesehen kann die Volkskammerwahl durchaus als Plebiszit über Tempo und Modalitäten der deutschen Vereinigung interpretiert werden, bei der die Position der Allianz die Unterstützung der Mehrheit der Wähler fand. Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich, dass diese naheliegende Interpretation der Volkskammerwahl, derzufolge die wahlentscheidenden Trends die Wählerschaft mehr oder minder gleichmäßig erfassten, die Zugehörigkeit zu einzelnen sozialen Gruppen also keine große Rolle spielte, das Kind mit dem Bade ausschüttet. Eine Analyse der Wählerschaften der einzelnen Parteien mit Hilfe von Umfragedaten20 zeigt nämlich, dass diese sozialstrukturell keineswegs konturenlos waren: Die CDU wurde von der überwiegenden Mehrheit der Arbeiter unterstützt, und dies im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen weit überproportional. Mit ca. zwei Drittel der Protestanten und drei Viertel der Katholiken im Vergleich zu nur einem Drittel der Konfessionslosen votierten die Mitglieder der christlichen Kirchen noch deutlicher für die Union. Dagegen waren die Wähler der SPD in der Arbeiterschaft und unter den Kirchenmitgliedern vergleichsweise schwach vertreten, die der PDS in diesen Gruppen sogar weit unterproportional.

19 So am prägnantesten Dieter Roth: Die Wahlen zur Volkskammer in der DDR, in: Politische Vierteljahresschrift, 31. Jg., Heft 3/1990, S. 369–393. 20 Forschungsgruppe Wahlen: Wahltag-Befragung. Wahl zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990, Mannheim 1990.

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Hier wird eine Zuordnung der einzelnen sozialen Gruppen zu den Parteien sichtbar, die teils gewohnte, teils bislang unbekannte Züge trägt. Während die Unterstützung der CDU durch die katholischen Wähler sich in das traditionelle Muster fügt, stellt das Wahlverhalten der Protestanten und vor allem das der einzelnen Berufsgruppen einen deutlichen Bruch sowohl mit dem historischen als auch mit dem in Westdeutschland seit jeher dominierenden Muster dar. Der SPD und noch mehr der PDS, den Parteien, die sich in die Tradi­tion der Arbeiterbewegung stellen, fehlte eine breite Basis in ihrem klassischen Wählerpotential, das in seiner Mehrheit für die CDU optierte. Das bedeutet, dass sozialstrukturelle Faktoren wie im Osten Deutschlands generell so auch in Thüringen ihre Bedeutung für das Wahlverhalten keineswegs eingebüßt haben. Es wäre also voreilig, sich für das Gebiet der DDR von der Vorstellung einer sozialstrukturellen Fundierung der Parteien gänzlich zu verabschieden. Mehr noch: Die beiden für das deutsche Parteiensystem traditionell konstitutiven Konfliktdimensionen, der Staat-KircheKonflikt und der Klassenkonflikt, sind wieder sichtbar geworden, wenn auch in der modifizierten Form, wie sie sich aus der politischen und gesellschaftlichen Struktur der DDR ergab. Der Staat-Kirche-Konflikt, in Deutschland ursprünglich nur für den katholischen Bevölkerungsteil bedeutsam, wurde in der DDR auf die evangelische Kirche ausgeweitet.21 Ungeachtet zeitweise starker Bemühungen um einen Modus Vivendi war die gesamte DDR-Ära von einer Frontstellung zwischen sozialistischem Staat und beiden Kirchen geprägt, die auch den bewusst evangelischen Bevölkerungsteil auf den Weg der Politisierung und Formierung zu einer abgegrenzten Gruppe zwang, ein Weg, der bereits im Kirchenkampf unter dem Nationalsozialismus begonnen hatte und der sie nun an der Seite der Katholiken zur Unterstützung der Christdemokraten führte. Hatte somit der Staat-Kirche-Konflikt in der DDR eine Zuspitzung und Generalisierung erfahren, so war auch der zweite für das deutsche Parteiensystem bedeutsame Konflikt, der Klassenkonflikt, keineswegs obsolet geworden. Im Gegensatz zur offiziellen Selbstinter­pretation der DDR-Gesellschaft waren mit der Beseitigung der auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln gründenden alten Rangordnung die Interessengegensätze gesellschaftlicher Gruppen nicht entfallen, war keineswegs eine Egalisierung von Positionen und Lebenschancen durchgesetzt worden. Stattdessen war eine »bürokratisch

21 Vgl. Christoph Kleßmann: Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft, 19. Jg., Heft 1/1993, S. 29–53.

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verfasste sozialistische Ständegesellschaft«22 entstanden, die neue Interessengegensätze und neue soziale Hierarchien entstehen ließ, an deren Spitze nun die Parteinomenklatura und die Führungskader im Wirtschafts- und Verwaltungsapparat standen und an deren unterem Ende sich wieder die reale Produktionsarbeiterschaft fand. Unter diesen Umständen ist es keineswegs überraschend, dass 1990 einerseits die Arbeiterschaft in ihrer Mehrheit ihre Unzufriedenheit mit den DDR-Verhältnissen und ihre Erwartungen an einen radikalen Wandel in eine Wahlentscheidung für die klarste Alternative, die Unionsparteien, umsetzte, während andererseits die SED-Führungsschicht und die über Parteikarrieren in ihre Position gekommenen Leitungskader weit überproportional für die PDS votierten, was gut in das Bild der hohen PDS-Anteile in den Bezirkshauptstädten Gera, Suhl und Erfurt passt. Allerdings war die (teilweise neue) Zuordnung von Sozialstruktur und Parteiensystem, so wie sie in der Volkskammerwahl von 1990 in Thüringen wie in der DDR generell zutage getreten war, durchaus labil. Denn die Dauerhaftigkeit und Solidität der Koalitionen zwischen den einzelnen Konfessions- und Berufsgruppen einerseits und den Parteien andererseits war sehr unterschiedlich. Als vergleichsweise belastbar war die Bindung der Mitglieder der christlichen Kirchen an die Union einzuschätzen, da sie durch mehr oder minder festgefügte Sozialmilieus abgestützt wurde. Ebenso sicher konnte die PDS auf die Loyalität der alten SED-Führungsschicht zählen.23 Dagegen war nicht ohne weiteres damit zu rechnen, dass die Arbeiterschaft und die abhängig Beschäftigten insgesamt, die 1990 mehrheitlich für die Union votiert hatten, mit dieser eine dauerhafte Koalition eingegangen waren. Denn sie hatten sich nicht zu einer gesellschaftlichen Großgruppe formiert – mangels ausgeprägtem Sonderbewusstseins, mangels spezifischer Gruppennormen und auch mangels einer politisch handlungsfähigen Organi­ sationsstruktur etwa in Gestalt von Gewerkschaften. Insgesamt stellten somit diejenigen Gruppen, deren Parteipräferenzen vergleichsweise fest lagen (Kirchenmitglieder, Ex-SED-Milieu), in der Wählerschaft lediglich eine Minderheit dar. Deshalb verfügten auch die Union und die PDS nur über schwache Sockel von Stammwählern. Die große Mehrheit der Wähler dagegen war 22 Artur Meier: Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B40/1990, S. 3–14. 23 Die starke familiäre und außerfamiliäre Verdichtung der Sozialbeziehungen der PDS-Mitglieder deutet auf die Herausbildung eines neuen Milieus hin. Vgl. Karl Schmitt: Parteimitglieder in Thüringen, in: Hartmut Esser (Hg.): Der Wandel nach der Wende. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik in Ostdeutschland, Wiesbaden 2000, S. 91–112.

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nicht in festgefügte soziale Milieus eingebunden und somit offen für eine Veränderung ihrer Parteipräferenzen. In den zwei Jahrzehnten seit dem Wiedererstehen des Freistaats Thüringen hat eine solche Neupositionierung eines großen Teils der Wählerschaft in der Tat stattgefunden.24 An die Stelle der Wiedervereinigung, also der polarisierenden Frage nach Tempo und Radikalität der Abkehr vom alten System, war die Frage nach dem Vollzug der Vereinigung getreten. Hier ging es um die Gestaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs und die Bewältigung von dessen Folgen. Im Ergebnis hat sich die Kräftekonstellation zu Lasten der CDU und zu Gunsten der PDS/LINKEN verschoben. Die CDU konnte ihren sehr guten Start bei der Volkskammerwahl 1990 nicht dazu nutzen, sich als hegemoniale »Thüringen-Partei« zu etablieren, konnte aber ihre Position als stärkste politische Kraft verteidigen. Der SPD gelang es nicht, aus den Schwächen der CDU Kapital zu schlagen. Sie fiel im zweiten Jahrzehnt nach der Vereinigung bei Landtagswahlen unter die 20-ProzentMarke und damit auf den dritten Rang der Thüringer Parteien zurück. Dagegen stieg die PDS/LINKE, die 1990 von vielen noch auf den Absterbeetat gesetzt worden war, kontinuierlich zur zweitstärksten politischen Kraft in Thüringen auf. Sozialstrukturell gesehen wurden diese Kräfteverschiebungen erwartungsgemäß am stärksten von der Arbeiterschaft getragen. Der 1990 überproportionale Anteil der Unionswähler unter den Arbeitern ging stark zurück und wird inzwischen vom Anteil der Wähler der LINKEN übertroffen. Damit hat die Wählerschaft der PDS auf dem Weg zur LINKEN ein neues Profil erhalten: nicht mehr die »sozialistische Intelligenz« macht den Schwerpunkt aus, sondern die organisierte Arbeitnehmerschaft. Ebenso erwartungsgemäß erwies sich im Unterschied zu den Berufsgruppen die Zuordnung der Konfessionsgruppen zu den Parteien als vergleichsweise stabil. Die Präferenz der kirchlich gebundenen Wähler für die CDU ist im Wesentlichen erhalten geblieben. Aber auch hier ist eine gewisse Abschwächung der Loyalität der LINKEN zugute gekommen: Zwei Jahrzehnte nach seinem Ende ist der Kirchenkampf der DDR-Zeit soweit verblasst, dass es für Mitglieder der christlichen Kirchen keinem Tabubruch mehr gleichkommt, die SED-Nachfolgepartei zu wählen. Während insgesamt die Bedeutung der 24 Aktualisierte Überblicksdarstellungen zu Parteien und Wahlen in Thüringen bei Karl Schmitt/Torsten Oppelland: Politische Parteien in Thüringen 1990–2011, 2. Aufl., Erfurt 2012; sowie Karl Schmitt: Wahlen: Kontinuität und Umbruch, in: ders. (Hg.): Thüringen. Eine politische Landeskunde, 2. Aufl., Baden-Baden 2011, S. 111–134.

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Gruppenzugehörigkeit für die Parteipräferenz nachlässt, gewinnen andere Faktoren an Gewicht: das von den Parteien präsentierte Führungspersonal und die diesem zugeschriebene Kompetenz, die als vordringlich wahrgenommenen Probleme zu lösen.25 Überblickt man die Gesamtentwicklung der Thüringer Parteien von ihrer Entstehung bis zur Gegenwart über alle politischen und gesellschaftlichen Umbrüche hinweg, so werden Kontinuitätslinien, aber auch deutliche Zäsuren sichtbar. Das zur Zeit des Kaiserreichs entstandene Thüringer Parteiensystem war Ausdruck der extremen Vielgestaltigkeit des Landes. Die von Anfang an auf der Grundlage der Zugehörigkeit zu sozialer Schicht und Konfession beruhende Parteienkonstellation konnte sich erst seit 1920, nach der Bildung des Landes Thüringen, in einem gemeinsamen staatlichen Rahmen entfalten. Im Ergebnis entstanden Parteien, die soziale Großgruppen (Milieus) repräsentierten, indem sie als deren »politische Aktionsausschüsse« (M. Rainer Lepsius) fungierten. Insofern die Milieus den Charakter von Gesinnungsgemeinschaften hatten, waren die sie repräsentierenden Parteien auch Weltanschauungsparteien, also mehr als bloße Interessenvertretungen. Das zerklüftete, die sehr unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Landesteilen reflektierende Thüringer Parteiensystem, dem zumal auf Grund der Konfessionsverteilung im Land eine starke politische Mitte fehlte, polarisierte sich in der Zwischenkriegszeit in starke Lager auf der Linken und der Rechten, bis schließlich die NSDAP eine Parteidiktatur errichtete und die anderen Parteien zerschlug. Ihr Ziel einer Einebnung der Gesellschaft zu einer »Volksgemeinschaft« erreichte die NS-Diktatur jedoch nicht. Wie die Landtagswahl 1946 zeigte, waren auch in Thüringen die sozialen Fundamente der Parteien hinreichend intakt geblieben, dass auf ihnen das milieuzentrierte Vorkriegsparteiensystem wieder entstehen konnte. Was aber der ersten Einparteiendiktatur auf deutschem Boden nicht gelungen war, gelang der zweiten: die Zerstörung der Grundlagen des hergebrachten Parteiwesens. Mehr als vier Jahrzehnte organisatorischer Gleichschaltung und Unterdrückung freier Interessen­artikulation haben die Infrastruktur der historisch gewachsenen sozialen Milieus mit Ausnahme 25 Wie stark diese Orientierung auf Personen und Kompetenz im Land und im Bund den Wählermarkt (auch) in Thüringen inzwischen verflüssigt hat, zeigen die drastischen Schwankungen der Stimmenanteile der Parteien innerhalb kurzer Zeit. So erzielte die CDU bei der Bundestagswahl 1998 29 Prozent, bei der Landtagswahl 1999 51 Prozent, bei der Bundestagswahl 2002 29 Prozent und bei der Landtagswahl 2004 43 Prozent. Bei der SPD waren die Pendelausschläge nicht geringer: Bundestagswahl 1998 35 Prozent, Landtagswahl 1999 19 Prozent, Bundestagswahl 2002 40 Prozent, Landtagswahl 2004 15 Prozent.

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kirch­licher Restbestände beseitigt. Die von Partei und Staat monopolisierte und gelenkte Zuweisung von Lebenschancen hat die gesellschaftliche Selbstorganisation zugunsten der Forderung nach staatlicher Fürsorge obsolet gemacht. Und schließlich hat die ritualisierte Zwangspolitisierung und Massenmobilisierung durch die Einheitspartei und ihre Massenorganisationen einen Überdruss an parteiförmigem Engagement überhaupt erzeugt. So standen am Ende der SED-Herrschaft zwar der Protest, die Aufkündigung von Loyalität und das Aufbegehren insbesondere der vom System Benachteiligten, doch wurde die »Friedliche Revolution« gegen die Unterdrücker und Privilegierten von Bürgerbewegungen und nicht von Parteien getragen. Trotz des Überwinterns von Restbeständen der traditionellen Parteien in Gestalt der Blockparteien war eine Revitalisierung des hergebrachten Thüringer Parteiensystems nur sehr begrenzt möglich. Dies zeigt paradigmatisch das Scheitern des Versuchs der aus Theologen und naturwissenschaftlichtechnischer Intelligenz zusammengesetzten Führungs­gruppen der SPD, an den großen Vorkriegstraditionen der Thüringer Sozialdemokratie anzuknüpfen. Die aus den Frontstellungen unter der SED-Herrschaft erwachsenen Koalitionen bestimmter Gruppen mit Parteien schwächen sich ab: Der StaatKirche-Konflikt verblasst ebenso, wie die Loyalität oder Gegnerschaft zum untergegangenen System überhaupt für die gegenwärtige politische Wirklichkeit an Deutungskraft einbüßt. Zwar hat inzwischen eine Vielzahl neuer Konflikte die alten Frontstellungen überrollt; keiner von ihnen ist jedoch so massiv und wirkmächtig, dass er zur Bildung neuer Milieus geführt hätte. Die heutigen Parteien Thüringens tragen somit zwar noch Spuren ihrer Ursprünge im 19. Jahrhundert, unterscheiden sich jedoch in ihrem Charakter wesentlich von ihren Vorgängerformationen. Ohne tiefgreifende Verwurzelung in unterscheidbaren Gesellschafts­gruppen sind sie vergleichsweise freischwebende und bewegliche Organisationen zur Artikulation, Aggregation und Durchsetzung von Interessen und zur Mobilisierung für politische Ziele. Sie repräsentieren nicht mehr Gesinnungen, Weltanschauungen oder Ideologien mehr oder weniger fest umrissener Bevölkerungsgruppen. Dadurch ist die traditionelle Zerklüftung, wenn nicht Polarisierung der politischen Landschaft Thüringens weitgehend eingeebnet worden. Die Parteien haben dadurch aber auch an Bedeutung als Ausdruck unterschiedlicher politischer Kulturen und zugleich an Prägekraft für sie verloren.

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Verwurzelung der Demokratie in der politischen Kultur Thüringens

Seit 1990 ist Thüringen wieder ein demokratischer Verfassungsstaat. Die Thüringer Verfassung garantiert die politischen Rechte der Bürger und das ordnungsgemäße Funktionieren der Institutionen des Freistaats; schon zuvor hatte die letzte Volkskammer der DDR die kommunale Selbstverwaltung wiederhergestellt. Inwieweit entsprechen diesem demokra­tischen Rahmen demokratische Einstellungen der Thüringer, inwieweit füllen sie ihn durch demokratisches Verhalten aus? Antworten auf diese Fragen bietet der Thüringen-Monitor, der seit dem Jahr 2000 regelmäßig Daten zur politischen Kultur Thüringens erhebt.26 Zunächst ist nach Einstellungen zur politischen Ordnung zu fragen. Denn Demokratie als Ordnungsprinzip des politischen Systems ist auf die Unterstützung ihrer Bürger angewiesen. Hier zeigt sich, dass Demokratie mit nur geringen Schwankungen von ca. 80 Prozent der Thüringer als beste Staatsidee bejaht wird. Fast ebenso hoch und ebenfalls konstant ist der Anteil derjenigen, die mit der Verfassungsordnung zufrieden sind. Nur wenige derjenigen, die die Demokratie als Prinzip ablehnen, gehen so weit, eine Diktatur zu befürworten. Die konsequenten Antidemokraten machen nur eine (zudem noch schrumpfende) Minderheit von weniger als zehn Prozent aus. Dagegen wird die Umsetzung der Demokratie weithin als unbefriedigend empfunden: Nur ein von Jahr zu Jahr zwischen 40 und 50 Prozent schwankender Anteil der Thüringer ist mit der Demokratie zufrieden, so wie sie in der Praxis funktioniert. Für die Robustheit der Verankerung der Demokratie spricht jedoch, 26 Die im Folgenden referierten Befunde beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, auf die Ergebnisse der Erhebungen des Thüringen-Monitors (Repräsentative Stichprobe/Jahr: 1.000 Befragte). – Bisherige Schwerpunktthemen (neben der Dauerbeobachtung zur Demokratie): Verhältnis zu Ausländern/Rechtsextremismus (2000, Drucksache des Thüringer Landtags (LT-Drs.) 3/1106); Jugend und Politik (2001, LT-Drs. 3/1970); Familie und Politik (2002, LT-Drs. 3/2882); Einstellungen zur Demokratie (2003, LT-Drs. 3/3765); Gerechtigkeit und Eigenverantwortung. Einstel­lungen zur Reform des Sozialstaats (2004, LT-Drs. 4/551); 1990–2005: Das vereinigte Deutschland im Urteil der Thüringer (2005, LT-Drs. 4/1347); Thüringens Zukunft aus Bürgersicht: Erwartungen, Herausforderungen, Gestaltungsmöglichkeiten (2006, LT-Drs. 4/2485); Bildung in einer sich wandelnden Gesellschaft (2007, LT-Drs. 4/3860); Soziale Marktwirtschaft in Thüringen (2008, LT-Drs. 4/4734); Beziehungen und Verhältnis der Generationen (2010, LTDrs. 5/1120); Staatsaufgaben und Staats­ausgaben (2011, LT-Drs. 5/3396). – Dem Autorenteam gehörten neben dem Verfasser (2000–2011) an: Klaus Dicke (2000– 2003), Michael Edinger (2000–2010), Daniel Gerstenhauer (2010), Andreas Hallermann (2001–2008) und Jürgen H. Wolff (2011).

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dass Unzufriedenheit mit dem praktischen Funktionieren die prinzipielle Bejahung der Demokratie nicht beeinträchtigt. Parallel zur Bejahung der Demokratie als Ordnungsprinzip ist eine zunehmende »Thüringen-Identität« zu konstatieren. Von 2000 bis 2011 hat sich der Anteil der Befragten, die sich selbst als »Thüringer« verstehen, von 45 auf 56 Prozent erhöht (27 Prozent verstehen sich als »Deutsche«, 11 Prozent als »Ostdeutsche« und 5 Prozent als »Europäer«). Das hohe und stabile Niveau der Wertschätzung der Demokratie als Staatsidee, die Bejahung der demokratischen Verfassungsordnung und schließlich die rückläufige Neigung, eine Diktatur als (Reserve-)Lösung in Betracht zu ziehen – diese Befunde zusammen­genommen vermitteln das Bild einer Konsolidierung positiver Grundeinstellungen zur Demokratie in Thüringen. Damit eine Demokratie auf Dauer Bestand hat, genügt es jedoch nicht, dass ihre Bürger demokratische Grundsätze und Verfahren gutheißen. Demokratie ist kein »Selbstläufer«: Sie verlangt aktive Bürger, die Politik als ihre eigene Angelegenheit betrachten, die sie ernst nehmen und ihr einen wichtigen Platz in ihrem Leben einräumen. Welchen Stellenwert Politik im Leben der Bürger einnimmt, lässt sich daran ablesen, wie sehr sie politische Verhältnisse wahrnehmen und politische Vorgänge verfolgen. Vier von fünf Thüringern interessieren sich für Politik. Hoch ist auch die in den Befragungen bekundete Bereitschaft zum politischen Engagement. Der Anteil der politisch Apathischen, also derjenigen, die jede Form politischer Betätigung ablehnen, ist mit ca. einem Zehntel nur eine kleine Minderheit. Etwa die Hälfte der Thüringer ist zu den politisch Aktiven zu rechnen, die sich bereits auf die eine oder andere Weise politisch engagiert haben. Ein Drittel war bisher passiv, schließt aber politische Aktivitäten nicht grundsätzlich aus. Insgesamt ist nicht nur ein starke Bereitschaft zu niedrigschwelligen und sporadischen Beteiligungsformen (Unterschriften, Demonstrationen), sondern auch zu anspruchsvollem und zeitaufwändigem Engagement, wie etwa der Mitarbeit in Parteien, Bürgerinitiativen oder der Bürgerbeteiligung an Bauvorhaben vohanden. Ein Vergleich der bereits praktizierten politischen Partizipation mit der geäußerten Bereitschaft zu zukünftiger Beteiligung zeigt ein beträchtliches, bislang noch nicht ausgeschöpftes Potenzial – Ausdruck der Vitalität der Zivilgesellschaft in Thüringen, wie sie auch in einem starken ehrenamtlichen Engagement in vielen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar wird.27 27 Ein Drittel der Thüringer ist ehrenamtlich engagiert, ein weiteres Viertel war es in der Vergangenheit. Vgl. Karl Schmitt/Oliver Lembke: Ehrenamtliches Engagement im Freistaat Thüringen, Bd. 1, Jena 2002, S. 38 f.

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Allerdings sind auch Problembereiche der politischen Partizipation unübersehbar. Der augenfälligste betrifft die Wahlbeteiligung. Seit 1990 ist die Beteiligung an den Wahlen aller Ebenen in Thüringen deutlich gesunken: Bei Bundestagswahlen ging sie bis 2009 von 76 auf 65 Prozent, bei Landtagswahlen von 72 auf 56 Prozent und bei Kommunalwahlen von 81 auf 53 Prozent zurück. Ist die sinkende Wahlbeteiligung in Thüringen eher als ein Symptom der Krise der Demokratie oder aber als ein Anzeichen der Normalisierung nach Jahrzehnten der Zwangspolitisierung (mit Wahlbeteiligungsraten nahe 100 Prozent) zu bewerten? Eine Antwort auf diese Frage ist deshalb schwierig, weil abstrakt weder eine Höchst- noch eine Mindestmarke der einer »gesunden« Demokratie angemessenen Wahlbeteiligung definierbar ist: Eine hohe Beteiligung steht ebenso wenig notwendig für »Gesundheit«, wie eine niedrige Beteiligung notwendig für »Krankheit« steht. Denn dass sich an der Reichstagswahl von 1930 erstmals mehr als 80 Prozent und an der letzten von 1933 knapp 90 Prozent beteiligten, war nicht ein Zeichen der Blüte, sondern eines der Krise der Weimarer Republik. Dass sich 95 Prozent der Thüringer an der Volkskammerwahl vom März 1990 beteiligten, war einer einmaligen historischen Situation geschuldet und kann kein sinnvoller Maßstab für die folgenden Wahlen sein. Und dass in der Schweiz die Beteiligung an den Wahlen zur ersten Kammer des Parlaments, dem Nationalrat, 1979 erstmals unter 50 Prozent gefallen ist und seither zwischen 42 und 49 Prozent schwankt, muss nicht bedeuten, dass eine der ältesten Demokratien Europas sich auf dem Weg in den Untergang befindet. In Thüringen deutet einiges darauf hin, dass neben der Entscheidung für Kandidaten und Parteien auch die Beteiligung an einer Wahl überhaupt zunehmend Gegenstand einer Entscheidung wird, für die es gute Gründe geben muss: Die Thüringer unterscheiden klar zwischen den Ebenen, halten Entscheidungen im Bund für wichtiger als im Land, in den Kommunen und in Europa und beteiligen sich je nach dem Gewicht des Einsatzes, um den es bei jeder einzelnen Wahl geht. Zwar halten sie es für die Pflicht eines jeden Bürgers in der Demokratie, regelmäßig zur Wahl zu gehen, doch behalten sie sich in ihrer Mehrheit die Entscheidung darüber vor, ob sie im konkreten Fall dieser Norm folgen oder nicht. Ob eine sinkende Wahlbeteiligung mit einem solchen demokratischen Reifungsprozess einhergeht oder ob in ihr eher politische Apathie und Verdrossenheit zum Ausdruck kommen, ist offen. Es bleibt das Faktum, dass zwischen einem Drittel und der Hälfte der Wahlberechtigten die wichtigsten, den Bürgern rechtlich garantierten (und wenig aufwändigen) Gelegenheiten zur Mitentscheidung nicht in Anspruch nimmt. Weniger für einen Reifungsprozess als vielmehr für Apathie spricht aller-

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dings der Befund, dass vier Monate nach der Landtagswahl 2009 und einem an dramatischen Entwicklungen reichen Wahljahr nur jeder fünfte Thüringer in der Lage war, diejenigen Parteien zu nennen, die im Thüringer Landtag vertreten sind.28 Als eindeutig negativ für die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen in Thüringen ist die starke Schrumpfung der Parteimitgliedschaften zu bewerten. Rechnet man alle Parteien zusammen, so gibt es derzeit insgesamt etwa 25.000 Parteimitglieder in Thüringen.29 Seit 1992 hat sich die Gesamtmitgliederzahl der Parteien halbiert; weit größere Verluste hatten sie jedoch schon davor erlitten. Im Sommer 1989 hatte die SED noch 300.000 bis 400.000, die CDU 30.000 und LDPD und NDPD zusammen 40.000 Mitglieder in Thüringen gehabt. Zwar kann man den im Herbst 1989 einsetzenden Rückzug aus den Altparteien als Reaktion auf die Zwangspolitisierung der DDR-Zeit und ihn ebenso wie den Rückzug aus der aufgezwungenen Mitgliedschaft in einer Vielzahl von Massenorganisationen durchaus als Zeichen einer Normalisierung werten. Dass hier aber keineswegs wieder eine »Normallage« eingetreten ist, zeigt sowohl der Blick auf den Westen Deutschlands als auch der historische Rückblick. Denn derzeit erreicht (auf die Wahlberechtigten bezogen) die Mitgliederdichte der Thüringer CDU mit 12.000 Mitgliedern nur die Hälfte, die der Thüringer SPD mit 4.000 Mitgliedern nur ein Sechstel des westdeutschen Vergleichswerts. Und in historischer Perspektive ist in Erinnerung zu rufen, dass die im Sommer 1945 wiedergegründete Thüringer SPD im März 1946 vor ihrer Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED nicht weniger als 92.000 Mitglieder aufzuweisen hatte.30 Mit dieser schwachen Mitgliederdecke sind die Parteien zu Funktionärsund Mandatsträgerparteien geschrumpft. Selbst die »großen« Parteien können in der Fläche nicht organisatorisch präsent sein, noch reicht ihr Perso­ nalreservoir zur Nominierung von Kandidaten für die Vielzahl kommunaler Wahlämter. Hier schlägt die kleinräumige Siedlungsstruktur Thüringens zu

28 ����������������������������������������������������������������������������� Vgl. Michael Edinger/Daniel Gerstenhauer/Karl Schmitt: Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2010. Beziehungen und Verhältnis der Generationen in Thüringen, Jena 2010, S. 71 ff. 29 Vgl. Karl Schmitt/Torsten Oppelland: Politische Parteien in Thüringen 1990– 2011, a. a. O., S. 42. 30 Vgl. Werner Müller: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), in: Martin Broszat/Hermann Weber (Hg.): SBZ-Handbuch, München 1990, S. 460–480, hier S. 480. Vgl. Matthias Bettenhäuser/Sebastian Lasch: Die SPD, in: Karl Schmitt/ Torsten Oppelland (Hg.): Parteien in Thüringen, a. a. O., S. 139–221, hier S. 140 ff.

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Buche.31 Dieses Vakuum bietet Kräften von den Rändern des politischen Spektrums die Möglichkeit, sich auf dem flachen Land eine Basis zu verschaffen. Zudem werden mitgliederschwache Parteien abhängig von staatlicher Parteienfinanzierung. So werden drei Viertel des hauptamtlichen Personals der Thüringer Parteien (ohne Mandatsträger) aus öffentlichen Mitteln finanziert.32 Die Ursachen für die geringe Bereitschaft, sich in Parteien zu engagieren, sind in drei Richtungen zu suchen. Erstens hat verständlicherweise generell und selbst bei denjenigen, die sich 1989 in der Friedlichen Revolution aktiv engagiert hatten, eine Konzentration auf die private Bewältigung des wirtschaftlichen Umbruchs stattgefunden. Zweitens fehlt den Parteien – wie bereits angesprochen – weithin ein gewachsener Milieu-Unterbau als Rekrutierungsreservoir.33 Schließlich ist drittens ein weit verbreiteter Anti-ParteienAffekt zu konstatieren, der sich etwa darin äußert, dass die Parteien im Vergleich aller politischen Institutionen das geringste Vertrauen genießen. Die Geringschätzung, ja Verachtung der Parteien speist sich aus verschiedenen Quellen. Am verständlichsten ist noch der Versuch, auf diese Weise Konsequenzen aus der eigenen DDR-Vergangenheit zu ziehen: Man will politisch nicht noch einmal auf das falsche Pferd und deshalb vorsichtshalber auf gar kein Pferd setzen – eine Reaktion, die schon aus dem Jahre 1945 bekannt ist. Auf Dauer problematischer dürfte jedoch die Parteienaversion sein, die in obrigkeitsstaatlichen Denk- und Verhaltensmustern wurzelt, die in Deutschland eine lange Tradition haben. Diese Muster werden deutlich, wenn der Blick darauf gerichtet wird, welchen Institutionen die Thüringer Vertrauen schenken und welchen nicht. Hier zeigt sich, dass mit der Polizei und den Gerichten die ausführenden, der Politik entzogenen rechtsstaatlichen Institutionen erheblich mehr Vertrauen 31 ���������������������������������������������������������������������� Zwei Drittel der 936 Gemeinden Thüringens haben weniger als 1.000 Einwohner (Gebietsstand 1.1.2011). Allein in den Stadt- und Gemeinderäten sind mehr als 10.000 Mandate zu vergeben. Vgl. Jürgen Maier/Karl Schmitt: Kommunales Führungspersonal im Umbruch, Wiesbaden 2008, S. 35 ff. 32 Vgl. Karl Schmitt/Torsten Oppelland: Gelungene Konsolidierung?, in: dies. (Hg.): Parteien in Thüringen, a. a. O., S. 486 ff. 33 Für diese Annahme spricht die weit überdurchschnittliche Mitgliederdichte in Gebieten, in denen Milieuverdichtungen noch erkennbar sind, so der CDU im katholischen Eichsfeldkreis (Mitgliederdichte 19,2 Prozent) und der PDS/ LINKEN in den ehemaligen Bezirkshauptstädten Suhl (10,6), Gera (7,7) und Erfurt (4,6), in denen sich die früheren Partei-, Staats- und Wirtschaftskader konzentrieren. Vgl. Karl Schmitt/Torsten Oppelland (Hg.): Parteien in Thüringen, a. a. O., S. A25, Tabelle 3.3.

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genießen als die Kerninstitutionen des demokratischen Verfassungsstaats: die Regierungen und die Parlamente, in denen in kontroverser Auseinandersetzung Problemlösungen vorbereitet und Entscheidungen getroffen werden. So erfreulich es ist, dass die Justiz und die Polizei nach ihrer politischen Instrumentalisierung in der DDR-Ära sukzessive wieder hohes Ansehen erworben haben, so deutet doch das Faktum, dass die Entscheidungsinstitutionen deutlich weniger Vertrauen genießen, auf eine Schwachstelle der politischen Kultur hin. Denn diese Vertrauenskluft ist nicht etwa der Funktionslogik parlamentarischer Systeme zuzuschreiben, sondern Ausdruck tradierter obrigkeitsstaatlicher Denkmuster, nach denen staatliche Leistungen und Konsens positiv und Interessengegensätze und Streit negativ bewertet werden.34 So vertreten zwischen der Hälfte und zwei Drittel der Thüringer die Auffassung, dass es in einer Demokratie mehr auf das Ergebnis von Politik als auf die politische Beteiligung ankomme und dass die Austragung von Interessenkonflikten dem Allgemeinwohl schade. Hier werden Züge eines Demokratieverständnisses sichtbar, das die staatlichen Institutionen vornehmlich an den von ihnen erbrachten Leistungen misst, der Vertretung von Interessen misstraut und die Austragung von Konflikten scheut. In einem solchen obrigkeitsstaatlich geprägten Staatsverständnis besteht die Beziehung von Bürger und Staat im Kern in einem Verhältnis von Treue gegen Sorge, von Loyalität gegen Leistung. Die Rolle des Bürgers reduziert sich auf die eines Leistungsempfängers. Es wäre zu kurz gegriffen, in diesem Demokratieverständnis allein ein Erbstück des DDR-Sozialismus zu sehen. Seine Wurzeln reichen viel tiefer in die Traditionen des deutschen Obrigkeitsstaates zurück, die in der DDR allerdings intensiv kultiviert und konserviert wurden. Nach einem seiner prominenten Vertreter kann man es das »Hindenburg-Syndrom« nennen; nach der Wahl des kaiserlichen Generalfeldmarschalls zum Reichspräsidenten 1925 wurde eine Gedenkmedaille geprägt, auf der das Motto des Gewählten zu lesen war: »Für das Vaterland beide Hände – aber nichts den Parteien«.35 Gut drei Jahrzehnte zuvor hatte der Jenaer Oberbürgermeister Dr. Heinrich Singer seine Festansprache zum Empfang des Altreichskanzlers Otto von 34 So das Ergebnis einer genaueren Analyse im Thüringen-Monitor 2010, a. a. O., S. 78 f. 35 Vgl. Christian Graf von Krockow: Die Parteien und die politische Kultur des Konflikts, in: ders./Peter Lösche (Hg.): Parteien in der Krise, München 1986, S. 49–58, hier S. 49. Peter Lösche: Parteienverdrossenheit ohne Ende? Polemik gegen das Lamentieren deutscher Politiker, Journalisten, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 26. Jg., Heft 1/1995, S. 149–159.

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Bismarck auf dem Jenaer Marktplatz im Juli 1892 unter das Motto gestellt: »Das Vaterland – nicht die Partei«. Ungeachtet dieser langen Tradition ist gegenwärtig auch in Thüringen die DDR-Nostalgie das wirkmächtigste Medium des obrigkeitsstaatlichen Antipluralismus. Für etwa die Hälfte der Thüringer hatte die DDR mehr gute als schlechte Seiten und war die DDR kein Unrechtsstaat; jeder fünfte wünscht sich die »sozialistische Ordnung« zurück. Seit 1989 ist im Zeitverlauf nicht etwa ein Verblassen der Erinnerung an die DDR, sondern vielmehr eine nachträgliche Aufhellung, eine retrospektive Verklärung festzustellen.36 Dass dies auch für die nachwachsende Generation derjenigen gilt, die keine persönliche Erfahrung in der DDR mehr gemacht haben, geht auf die Tradierung eines positiven DDR-Bildes durch Elternhaus und Schule37 zurück. Ein positives DDR-Bild ist nicht per se problematisch. Warum sollte ein privates Lebensschicksal in der Rückschau nicht auch dann Zufriedenheit erwecken können, wenn es zeitlich mit der DDR-Ära zusammenfällt? Widerstand gegen rückwirkende Entwertung eines Lebens oder wichtiger Lebensabschnitte ist nicht nur verständlich, sondern auch ehrenwert. Zum Problem werden retrospektive Verklärung und unbeirrtes Klammern an Grundsätzen der alten Zeit jedoch dann, wenn sie Ausdruck einer Wirklichkeitsverweigerung in Vergangenheit und Gegenwart oder Ausdruck des Rückgriffs auf einfache Lösungen komplexer Probleme sind. Als Anzeichen dafür können statistische Zusammenhänge zwischen DDR-Nostalgie und rechtsextremen Einstellungen gesehen werden, wie sie in den Befunden des ThüringenMonitors sichtbar werden: Je positiver die DDR bzw. die sie tragenden Grundsätze einge­schätzt werden, desto wahrscheinlicher ist eine Neigung zu rechtsextremen Einstellungen (und umgekehrt). Diese Zusammenhänge deuten darauf hin, dass es zwischen DDR-Nostalgie und Rechtsextremismus Affinitäten in den Wertmustern und Politikvorstellungen gibt, deren gemeinsamer Nenner in der politischen Kultur des deutschen Obrigkeitsstaates besteht. Der Rechtsextremismus erscheint im Licht der Erkenntnisse der letzten Monate in der öffentlichen Wahrnehmung als akute Bedrohung. Und er stellt 36 Vgl. die Befunde des Instituts für Demoskopie, Allensbach, für das erste Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung; zusammengestellt und ausgewertet bei Klaus Schröder: Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, München 2006, S. 328 ff. 37 ������������������������������������������������������������������������ In vielen Thüringer Schulen gab auch lange nach 1990 nostalgisch gestimmtes Personal der DDR-Volksbildung den Ton an. Nur wenige der seit Anfang der 1990er Jahre in Thüringen neu ausgebildeten Sozialkundelehrer fanden im Land eine Anstellung.

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weit mehr als die Schnittstelle mit der DDR-Nostalgie nahelegt, in seiner Ideologie und in seiner Praxis eine radikale Infragestellung der Grundprinzipien des demokratischen Verfassungsstaats dar. Rechts­extremismus läuft der Wertordnung des Grundgesetzes diametral zuwider, da die Prämisse der Ungleichwertigkeit der Menschen den Kern seiner Ideologie ausmacht, die sich in Einstellungen wie Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Chauvinismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus und Befürwortung einer rechten Diktatur äußert. Für eine angemessene Einschätzung der Ursachen wie der Auswirkungen des Rechtsextre­mismus ist eine sorgfältige Unterscheidung verschiedener Erscheinungs­ formen dringend geboten. In der öffentlichen Auseinandersetzung wird oft gleichgesetzt, was empirisch nicht identisch ist und nur geringe Schnittmengen aufweist: rechtsextreme Einstellungen, die gewalttätige (jugendliche) Subkultur und der parteiförmig organisierte Rechtsextremismus. Am weitesten (auch in Thüringen) verbreitet sind rechtsextreme Einstellungen. In den vergangenen zwölf Jahren schwankte der Anteil der Thüringer, die solchen Einstellungen mehr oder minder zuneigen, zwischen 13 und 23 Prozent. Von den als rechtsextrem einzustufenden Einstellungen ist Ausländerfeindlichkeit häufiger anzutreffen als etwa die Verharmlosung des Nationalsozialismus oder die Befürwortung einer Diktatur, eine angesichts eines Ausländeranteils in Thüringen von zwei Prozent bemerkenswerte Tatsache. Eine Erklärung liegt in der vielfach und auch in Thüringen bestätigten Kontakt-These: Ausländerfeindlichkeit nimmt mit zunehmender Intensität des Kontakts mit Ausländern ab. Die (jugendliche) gewalttätige Subkultur, auf die sich die mediale Beachtung in jüngster Zeit konzentriert, wird durch den Thüringer Landesverfassungsschutz beobachtet; die Zahl der beteiligten Personen liegt im dreistelligen Bereich. Ihre Straftaten werden von den Strafverfolgungsbehörden mit 1.000 bis 1.200 jährlich beziffert; darunter sind 40 bis 60 Fälle von Gewaltkriminalität; mehr als 70 Prozent der Straftaten entfallen auf Propagandadelikte oder auf Volksverhetzung.38 Auch der parteiförmig organisierte Rechtsextremismus in Thüringen��ist seinem personellen Umfang nach im dreistelligen Bereich zu beziffern. Obwohl die NPD die DVU und die Republikaner organisatorisch weitge38 Thüringer Innenministerium: Verfassungsschutzbericht 2010, Erfurt 2011, S. 40 ff. 39 Vgl. Janine Patz/Torsten Oppelland: Rechtsextreme Parteien: NPD, DVU und »Republikaner«, in: Karl Schmitt/Torsten Oppelland (Hg.): Parteien in Thüringen, a. a. O., S. 433–469.

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hend aufgesaugt hat, ist ihre Mitgliederstärke rückläufig (2007: 550, 2010: 350).40 Thüringen ist das einzige der Länder auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, in dem keine der rechtsextremen Parteien seit 1990 in den Landtag gelangt ist. Das Maximum erreichte die NPD mit 3,7 Prozent bei der Bundestagswahl 2005 und mit 4,3 Prozent bei der Landtagswahl 2009. Schon ein Blick auf die quantitativen Relationen zeigt, dass die einzelnen Erscheinungsformen sich auf unterschiedliche Trägergruppen beziehen. Der Anteil von Personen mit rechtsextremen Einstellungen übertrifft nicht nur die Anteile rechtsextremer Gewalttäter und der Mitglieder rechtsextremer Parteien um ein Vielfaches, sondern auch deren Wählerschaft. Rechtsextreme Einstellungen sind somit wesentlich weiter verbreitet als rechtsextremes Verhalten. Hinzu kommen Unterschiede im Sozialprofil der einzelnen Gruppen. Zwar ist Rechtsextremismus generell ein Unterschichtenphänomen. Gleichwohl unterscheiden sich Angehörige von gewalttätigen Subkulturen und Mitglieder wie Wähler rechtsextremer Parteien von den rechtsextrem Gesinnten in der Bevölkerung insgesamt dadurch, dass sie sich ganz überwiegend aus Männern der jüngeren Generation rekrutieren. Es kann daher nicht überraschen, dass nur ein geringer Teil der rechtsextrem Eingestellten ihre Gesinnung in parteipolitische Aktivitäten umsetzt. Ihre Neigung, zur Wahl zu gehen, ist vergleichsweise gering; nur ein Bruchteil wählt eine rechtsextreme Partei, die weit überwiegende Mehrheit eine der etablierten Bundestagsparteien. Eine Neigung zur Apathie ist auch hinsichtlich der übrigen Formen politischer Beteiligung unverkennbar. Zwar können sich rechtsextrem Eingestellte häufiger als andere Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele vorstellen; vier von fünf unter ihnen lehnen dieses Mittel jedoch ab. Angesichts der überproportionalen Apathie von rechtsextrem Eingestellten ist eine direkte Umsetzung von Gesinnung in Handeln relativ selten. Das hat Konsequenzen für eine realistische Einschätzung des Gefahrenpotenzials, das von ihnen ausgeht: Szenarien einer akuten Bedrohung der demokratischen Institutionen durch rechtsextreme Einstellungen erscheinen unbegründet. Allerdings reicht die Verbreitung der Denkmuster weit über den Einzugsbereich gewaltbereiter Gruppen und die Wählerschaft rechtsextremer Parteien hinaus, zumal immunisierende Sperren wie die Mitgliedschaft in Kirchen oder Gewerkschaften im Unterschied zum Verhalten kaum wirksam sind. Das eigentliche Gefahrenpotential rechtsextremer Einstellungen ist nicht in der direkten Stimulierung von Handeln, sondern in einer latenten, indirek40 Thüringer Innenministerium: Verfassungsschutzbericht 2010, a. a. O., S. 17 f.

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ten Wirkung zu sehen. Zum einen ermutigt ein für sie günstiges Meinungsklima gewaltbereite Täter zu ihren Übergriffen. Zum anderen halten rechtsextreme Einstellungen permanent ein breites Reservoir ideologischer Versatzstücke verfügungsbereit, aus dem sich autoritäre Bewegungen zur Rechtfertigung nach innen und zur Massenmobilisierung nach außen bedienen können. Und schließlich entziehen sie der Gesellschaft wichtige Energien, die diese für ihren Bestand wie für ihre Weiterentwicklung braucht. Rechtsextreme Einstellungen stellen Fehlverarbeitungen von Friktionen und Belastungen dar, die der soziale Wandel moderner Gesellschaften zwangsläufig mit sich bringt. Statt Einzelne und Gruppen durch Konflikt­ austragung zur kreativen Lösung dieser Probleme zu führen, bieten rechtsextreme Weltbilder eine Reduktion der pluralen Wirklichkeit auf FreundFeind-Schemata, die Projektion von Ursachen auf Sündenböcke und die Delegation von Verantwortung an autoritäre Lösungen. Sie ermutigen zur permanenten Verweigerung von Lernleistungen, die ein aktiver Umgang mit der sozialen Umwelt erfordert, lassen letztlich nur die Alternativen Apathie oder irrationale Gewalt zu und blockieren damit die Kräfte, auf die eine lebendige Gesellschaft angewiesen ist. Letztlich lässt sich Rechtsextremismus als Weigerung verstehen, mit den Friktionen und Belastungen sozialen Wandels produktiv umzugehen. Da sozialer Wandel aber ein konstitutives Merkmal moderner Gesellschaften ist, ist Rechtsextremismus als »normale Pathologie«41 solcher Gesellschaften anzusehen. Nimmt man diese Feststellung ernst, so muss die Bekämpfung des Rechtsextremismus darauf abzielen dabei zu helfen, mit den Existenzbedingungen moderner Gesellschaften leben zu lernen. Wenn die Verschiedenheit von Lebensweisen, wenn die Konflikte und Unsicher­heiten nicht beseitigt werden können, dann kommt es darauf an, dass sie nicht als Bedrohung erfahren werden müssen, sondern als Herausforderung angenommen werden können. Die beste Prophylaxe gegen Rechtsextremismus verhindert deshalb das Abgleiten in Apathie und den Griff nach Ersatzlösungen dadurch, dass sie dazu befähigt, sich an sich verändernde Lebensverhältnisse anzupassen. Sie ist daher eine Aufgabe auf Dauer. Was für die Bekämpfung des Rechtsextremismus gilt, gilt in gleicher Weise auch für die Konsolidierung von Demokratie überhaupt. Mit der Etablierung noch so perfekter demokratischer Institutionen ist es nicht getan. Denn jede Generation muss neu lernen, sich dieser Institutionen zu bedienen 41 Erwin K. Scheuch/Hans-Dieter Klingemann: Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 12/1967, S. 11–29, hier S. 15.

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und sie, wenn notwendig, an neue Herausforderungen anzupassen. Die »Mühen der Ebene« (Bert Brecht), in denen die Konsolidierung einer demokratischen politischen Kultur in Thüringen auch mehr als zwanzig Jahre nach der Neugründung des Freistaats steckt, werden also nie enden. Die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur wird somit ein unabgeschlossenes und unabschließbares Kapitel seiner Geschichte bleiben.

Peter März

Zwischen Pizza und Klößen. Die eigenwillige bayerische Staatlichkeit zwischen lateinisch-mediterraner und protestantisch-teutonisch mitteldeutscher Welt

1 Nation, Nationalstaat und Region Nationen und Nationalstaatsbildungen folgen keineswegs vorgegebenen Determinanten, wie es etwa im preußisch-kleindeutschen Geschichtsbild von Heinrich von Treitschke oder Heinrich von Sybel1 mehr oder weniger selbstverständlich angenommen wurde. Nationalstaaten werden politisch gewollt, mitunter sogar nur von tonangebenden Minoritäten wie zuletzt offenkundig im Falle der Slowakei. Nationale Identitäten sind im Regelfall nicht Resultat irgendeiner, kommunikative Inklusion herstellenden Gärung, sondern politische und mit ihnen mediale Elitenprojekte, wie im deutschsprachigen Raum im Falle Österreichs forciert nach 1945. Es gibt auf der heutigen europäischen Landkarte frühere Regionen, die zu Nationalstaaten wurden, wie die Niederlande, souverän seit dem Westfälischen Frieden 1648, es gibt Staatsbildungen, die gewissermaßen in einem größeren Rahmen mediatisiert wurden, wie Schottland im 17. Jahrhundert2, und es gibt schließlich Länder, welche über ganz lange Zeitstrecken einem größeren föderalen oder konföderalen Ganzen angehörten, mehrfach auf dem Sprung zur souveränen Verselbstständigung waren und es dann nicht dorthin brachten – im deutschen Falle sind an erster Stelle Bayern und Sachsen3 zu nennen. Preußen, das im von ihm geschaffenen Nationalstaat weitgehend aufging, bleibt hier ausgeklammert. 1 Heinrich von Sybel: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. vornehmlich nach den preußischen Staatsakten, Nachdruck, Ausgabe Merseburg, Leipzig 1930, 3 Bde.; Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Nachdruck, Leipzig 1927, 5 Bde. 2 Michael Maurer: Geschichte Schottlands, 2. Aufl., Stuttgart 2011, S. 147 ff. 3 Vgl. Siegfried Weichlein: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 2004.

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Bemerkenswert ist ferner die Unbestimmtheit des Begriffes »Region«. Im deutschen Sprachgebrauch ist für Mittelalter und Frühe Neuzeit zunächst vom Territorium oder mit Otto Brunner4 vom Land die Rede – und Länder (nicht »Bundesländer« als subsumierte Größen!) sind noch immer die Entitäten, die das Grundgesetz unterhalb der Gesamtstaatsebene kennt. Der bayerische wie auch der baden-württembergische Fall wirft darüber hinaus ein Spezialproblem auf: Die, wenn man sie so nennen will, Regionen Bayern und Baden-Württemberg beinhalten vielfach fragmentierte Subgrößen, gewissermaßen Subregionen, wobei man im bayerischen Falle mit der platten Zuteilung in Altbayern, Franken und Schwaben noch viel zu grob und undifferenziert verfährt: hinzuzunehmen sind an erster Stelle die konfessionellen Fragmentierungen, dazu viele weitere Bezüge, etwa die klassisch-mitteleuropäische Nähe der Oberpfalz zum mitteleuropäisch-böhmischen Raum.

2 Die politische Topografie des modernen Staatsbayerns Bayern als Gesamtregion präsentiert sich vor allem als etatistische Größe, geformt in den letzten beiden Jahrhunderten. Das bayerische Staatsprogramm profilierte das Land im 19. Jahrhundert gegen die politisch-militärischen Großmächte Preußen und Österreich mittels Kunst und Kultur.5 Die einschlägige Forschung hat gezeigt, dass dieser Eigenweg zumindest noch in den ersten Jahrzehnten des Bismarckreiches ein förmliches Einschmelzen sozusagen unter eine virtuelle deutsche Gesamtpickelhaube erfolgreich verhindert hat, wider alle billigen Klischees. Diese Selbstbehauptung gelang, ganz sicher treten hier auch manche Parallelen zur jüngsten Geschichte auf, mittels einer effektiv eingesetzten Geschichts- und Symbolpolitik wie einer Infrastrukturpolitik, die dafür sorgte, dass die bayerischen Magnetnadeln nicht einfach nur nach Mitteldeutschland oder Berlin ausgerichtet wurden. Wesentliches Stichwort dafür ist die bayerische Eisenbahnpolitik. Sie war mit Erfolg auch nach der Reichsgründung von 1871 bestrebt, das infrastrukturelle und mit ihm politische Eigengewicht Bayerns zu erhalten: Das Netz blieb auf die Hauptstadt München hin orientiert, die so – mittels zeitnaher Zustellung von Tageszeitun­gen von hier in die bayerische »Provinz« – als 4 Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965. 5 Vgl. insbesondere Andreas Kraus: Die Regierungszeit Ludwig I. (1825–1848), in: Alois Schmid (Hg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4: Das Neue Bayern von 1800 bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 2003, S. 129 ff.

Die eigenwillige bayerische Staatlichkeit

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politisch-mediales Zentrum gestärkt wurde. Weiterhin gab es mehr grenzüberschreitende Verbindungen nach Österreich und mit ihm Böhmen als nach Norden, und vor allem stellte die Verstaatlichung der bayerischen Eisenbahnen in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Münchner Politik sicher, dass sie nicht doch in die Obhut des neu gegründeten Reiches gerieten. Zugleich aber muss man die geostrategischen bzw. topografischen Voraussetzungen sehen: Bayern ist im Lauf der Jahrhunderte gewissermaßen geografisch gewandert, verkürzt gesagt vom südlichen Europa in den deutschen Kernraum.6 Es grenzt nicht mehr, wie im frühen Mittelalter, an die Adria und an die ungarische Tiefebene und wie zeitweise in der Napoleonischen Ära an den Gardasee, sondern es ist vielmehr seit der deutschen und europäischen territorialen Flurbereinigung des Wiener Kongresses Anrainer der klassisch-mitteldeutschen Regionen, mit dem Beitritt des Landesteiles Coburg nach dem Ersten Weltkrieg sogar unmittelbar nach Thüringen hineinreichend – und es grenzt im westlichen Unterfranken an einen ökonomischen Zentralraum des heutigen Deutschlands, an den Rhein-Main-Ballungsraum. Bayern ist damit in seiner politischen Topografie, was die medial so gern transportierten alpinen Klischees vielfach verdecken, vor allem auch ein Land in Richtung der deutschen Mitte.

3 Mitteldeutschland als deutsche Zentralregion zwischen dem Süden und Niederdeutschland Sprechen wir heute von Mitteldeutschland7 als einer spezifischen, länder­ übergreifenden Kulturregion, dann subsumiert der Begriff die drei Länder bzw. Freistaaten Sachsen, Sachen-Anhalt und Thüringen. »Mitteldeutschland« ist, zumal von polnischer Seite, über längere Zeit als ein sehr prekärer Begriff gesehen worden: Ihm eigne ein revisionistischer Anspruch, was die 6 Vgl. Peter März: Bayern im Gesamtstaat. Unsystematische Überlegungen zu einer alten Beziehung, in: Andreas Dornheim/Sylvia Greiffenhagen (Hg.): Identität und politische Kultur, Stuttgart 2003, S. 213–230, insb. S. 218: »Gerade der Zusammenbruch des napoleonischen Frankreichs 1814 und 1815 hatte nun allerdings förmlich eine Achsendrehung für die politische Geographie Bayerns zur Folge […]. Mit den Gewinnen im heutigen Unterfranken und vor allem mit der linksrheinischen Pfalz 1816 […] verstärkte sich […] seine mittel- und westdeutsche Position.« 7 Vgl. Michael Richter/Thomas Schaarschmidt/Mike Schmeitzner (Hg.): Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Landeszentrale für politische Bildung Sachsen, Dresden 2007.

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früheren deutschen Territorien östlich der Oder-Neiße-Linie betrifft. Denn nach solchem Verständnis seien dann sie das – verloren gegangene, aber irgendwie doch noch nicht wirklich aufgegebene – Ostdeutschland. Diese Kontroverse, viel Staub hat sie ohnehin nie aufgewirbelt, gibt es nicht mehr. Mitteldeutschland bezeichnet heute etwas ganz anderes als in den 1950er und 1960er Jahren, als klassische Annahmen noch von einem als dreigeteilt anzusehenden Deutschland ausgingen, etwa nach der seinerzeitigen Lesart des »Kuratoriums Unteilbares Deutschland«. Mitteldeutschland ist vielmehr ein spezifischer Kulturraum, weder – um es zunächst sehr vergröbert zu sagen – süddeutsch-katholisch noch ostelbisch-niederdeutsch. Es ist ein Raum mit großen dynastischen Traditionen, wobei dem Haus Wettin8 die zentrale Bedeutung zukommt, in vielem eine kleinteilige Mittelgebirgslandschaft, weithin geprägt durch eine sehr protestantische Ernsthaftigkeit, durch große ökonomische Innovationskraft mit vielfachen Pionierrollen im Prozess der industriellen Revolution, vielfach schon zuvor durch ein hoch entwickeltes Manufakturwesen. Zentralort deutscher Geschichte ist Mitteldeutschland als die Heimatregion der Reformation wie der deutschen Klassik. Und im Sinne historisch-politischer Topografie auf deutschem Boden ließe sich ganz einfach hinzufügen: Mitteldeutschland ist die Region zwischen Süddeutschland und Preußen.

4 Sachsen als Referenzgröße Die eigentliche mitteldeutsche Referenzgröße für Bayern ist Sachsen, nicht Thüringen. Beide waren – und sind – geschlossene Staaten mittlerer Größe, von vergleichbarer quantitativer Dimension zumindest bis zum Wiener Kongress und bis zur damaligen Halbierung Sachsens zum Vorteil der preußischen Monarchie. Beide sind über viele Jahrhunderte geprägt durch eine Dynastie, Bayern durch das Haus Wittelsbach, Sachsen durch das Haus Wettin, die jeweils einen europäischen Macht- und Mitgestaltungsanspruch verfocht, dabei die Potenzen ihres Landes teilweise weit überbeanspruchte und mit ihrer überspannten Intention scheiterte: Bayern unter Kurfürst Max Emanuel im Spanischen Erbfolgekrieg, als es europäische Großmacht werden wollte, Sachsen in der Zeit seiner Personalunion mit Polen von 1697 bis 1763, die den Wettinern zumindest schon einmal auf dem Weg über Polen 8 Vgl. für die dominante, in Dresden regierende Linie der »Albertiner«, daneben die Linien der »Ernestiner« in Thüringen, Frank-Lothar Kroll (Hg.): Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2004.

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einen Königstitel eintrug.9 Beide spielten im Deutschen Bund von 1815 bis 1866 führende Rollen im so genannten Dritten Deutschland zwischen den Großmächten Österreich und Preußen, rivalisierten dabei, wobei Sachsen in den letzten Jahren dieses Staatenbundes mit seinem Außenminister Graf Beust10, dem konzeptionell wohl bedeutendsten Gegenspieler Bismarcks, gewiss über die größere staatsmännische Kapazität verfügte. Beiden gelang es mit spezifischen Anstrengungen im Bereich von Bildungs-, Infrastruktursowie historischer Symbolpolitik in der Zeit des Kaiserreiches, Status und Identität in beachtlichem Maße zu wahren, und beide knüpften in gewisser Weise in der Nachkriegszeit an eine derartige »Sonderrolle« wieder an, wenn auch deutlich phasenverschoben: Bayern durch seine ökonomische Modernisierung, durch die förmlich übermächtige Präsenz seiner – damaligen – Hegemonialpartei CSU und durch die politische Kontrastierung der CSU-Kabinette in München mit der sozialliberalen Regierung in Bonn unter den Ministerpräsidenten Goppel und Strauß, insgesamt von 1962 bis 1988.11 Sachsen als politisches Land gab es erst wieder mit der deutschen Wiedervereinigung von 199012, aber diese wurde in Sachsen vor allem auch als Wiedergeburt des eigenen Staates gesehen; insofern kommt ihm unter den so genann9 Vgl. Jochen Vötsch: Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u. a. 2003; siehe auch Peter März: Territorien, Nation, Föderation, Europa. Plädoyer für Ergänzungen zu einer deutschen Gesamtgeschichte, in: Günther Heydemann/Eckhard Jesse (Hg.): 15 Jahre deutsche Einheit. Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen, Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Band 89, Berlin 2006, S. 19–67, hier S. 25: »Sachsen und Bayern sind wohl jene beiden Territorien, deren Dynastien sich immer wieder durch Ambitionen für eine Großmachtbildung bestimmen ließen, es am Ende gegenüber Brandenburg-Preußen jedoch nicht schafften.« 10 Vgl. Jonas Flöter: Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850–1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Köln/Weimar/Wien 2001. 11 Vgl. Karl-Ulrich Gelberg: Vom Kriegsende bis zum Ausgang der Ära Goppel (1945–1978) sowie Ausblick, in: Alois Schmid (Hg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4, a. a. O., S. 857 ff. 12 Vgl. Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hg.): Die politische »Wende« 1989/90 in Sachsen, Köln/Weimar/Wien 1995; vgl. Helmut Kohl: Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 1020, zu seinem spektakulären Besuch am 19. Dezember 1989 in Dresden mit dem Tenor »Bundesland Sachsen grüßt den Kanzler«; ferner Kurt H. Biedenkopf: 1989–1990. Ein deutsches Tagebuch, Berlin 2000, S. 318, zu seiner Nominierung als Spitzenkandidat der sächsischen CDU für die erste freie Landtagswahl: »Den größten Beifall erhielt ich für mein Versprechen, dafür zu sorgen, dass Sachsen wieder der Freistaat Sachsen werde.«

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ten neuen Ländern zweifellos eine politisch-identitäre Sonderrolle zu, wortmächtig ausgeformt in der Regierungszeit von Ministerpräsident »König« Kurt Biedenkopf, die unmittelbar ab 1990 stilbildend wirkte.

5 Bayern und Thüringen Bayern und Thüringen hingegen unterscheiden sich schon deutlich nach der Entwicklung ihrer politischen Strukturierung: Bayern, der große, geschlossene Zentralkörper im deutschen Süden seit dem Wiener Kongress von 1814/15, Thüringen, ein Kulturraum aus mehr als einem halben Dutzend Herzog- bzw. Großherzogtümern wie Fürstentümern, die miteinander vor allem um kulturelle Geltung wetteiferten, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Weimar und Meiningen.13 Analog auf Bayern übertragen, hätte dies quasi bedeutet, dass es hier – weiterhin – eine Vielzahl von – katholischen und evangelischen – Fürstentümern gegeben hätte, wie bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Hochstifte in Bamberg und Würzburg, wie die weltlichen Residenzen in Ansbach und Bayreuth, ferner eine so große Stadtrepublik wie die Freie Reichsstadt Nürnberg. Dies alles, von unzähligen kleineren Herrschaften ganz abgesehen, war der Flurbereinigung des napoleonischen Zeitalters zum Opfer gefallen. Auch mit dem Entstehen des thüringischen Freistaates nach dem Ersten Weltkrieg blieben deutliche strukturelle Divergenzen erhalten: Thüringen grenzte weiterhin – und grenzt – an bayerische Landesteile, die zwar mundartlich durchaus verwandt, aber in großen Teilen katholisch, nicht evangelisch geprägt sind. In der Zwischenkriegszeit hatte sich in Bayern nach den Wirren im Land bis zum Hitlerputsch vom 9. November 1923 schließlich eine stabile Regierungsstruktur etabliert, bei der die katholische Sammlungspartei BVP (Bayerische Volkspartei) in einer hegemonialen Position stand, abgelöst erst durch einen aus Berlin orchestrierten nationalsozialistischen Staatsstreich im Land am 9. März 1933. In Thüringen war ein scharfer Antagonismus über die ganze Zeit der Weimarer Republik bestimmend, wobei zunächst das linke »Lager« aus SPD und USPD tonangebend war, danach ein sehr akzentuiert

13 Zu Meiningen und seiner dynastisch geförderten Theaterpolitik Alfred Erck/ Hannelore Schneider: Georg II. von Sachsen-Meiningen. Ein Leben zwischen ererbter Macht und künstlerischer Freiheit, 2. Aufl., Zella-Mehlis/Meiningen 1999.

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illiberal-rechtes mit der ersten Regierungsbeteiligung der NSDAP auf deutschem Boden, bereits im Jahre 1930.14 Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und der sich stetig verfestigenden deutschen Teilung war die Ausprägung einer spezifisch bayerischthüringischen Quasi-Familiengeschichte schon grundsätzlich kaum möglich. Hinzu kam indes, dass Thüringen im Rahmen der marxistisch-leninistischen Unitarisierung auf dem Boden der DDR als Land 1952 beseitigt wurde. Und in den grenznahen Bereichen zu Bayern dominierte offenkundig ein besonders militant-aggressiver Sozialismus, wie etwa im Bezirk Suhl. Erst die Beseitigung der Teilung Deutschlands 1989/90 bot die Chance, in Politik, Wirtschaft und Kultur ein neues bayerisch-thüringisches Nahverhältnis herzustellen. Dabei hatte Bayern gewichtige Wettbewerber auf westdeutschem Boden, zumal das Land Hessen. Beide, Thüringen und Hessen, definieren sich in besonderer historischer Nähe, wobei sich hier auch die »revolutionären« Übergangszeiten von 1989/90 auswirken15: Die damalige hessische CDU unter ihrem Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Walter Wallmann war auf die sich in Thüringen seit September 1989 neu formierenden parteipolitischen Emanzipationen vom Vormund SED wie die sich dann anbahnenden strukturellen Wandlungen besonders initiativ und offen zugegangen, hatte auch, anders als Teile der Bundes-CDU, der sich aus den Block-Zwängen lösenden CDU auf thüringischem Boden überdurchschnittlich viel Vertrauen entgegengebracht. Dieser Input wirkte gewissermaßen »über den Tag 14 Zu Bayern vgl. Heinz Hürten: Revolution und Zeit der Weimarer Republik, in: Alois Schmid (Hg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4, a. a. O., S. 440–499, darin insb. Bayern unter Heinrich Held (1924–1933), hier S. 489 ff. Nach dem Entstehen der NSDAP im Land und dem Hitlerputsch vom 9. November 1923 in München gelang es insbesondere der harten Repressionspolitik von Innenminister Karl Stützel (BVP), den Aufstieg der Partei nach ihrer Wiedergründung 1925 in Bayern bemerkenswert einzugrenzen, mit Ausnahme der traditionell deutschnational orientierten evangelischen Gebiete in Franken. Ganz anders in Thüringen: Hier kam es 1924 zum Machtwechsel von links nach rechts, 1926 in Weimar zum ersten Reichsparteitag der NSDAP, im Januar 1930 zur ersten NSDAP-Regierungsbeteiligung in Deutschland mit Wilhelm Frick als Innen- und Kultusminister und nach den Landtagswahlen vom 31. Juli 1932 zur Bildung eines reinen NSDAP-Kabinetts unter Gauleiter Fritz Sauckel. Vgl. die teils dramatischen Schilderungen bei Manfred Overesch: Hermann Brill in Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Ulbricht und Hitler, Bonn 1992. 15 Vgl. Andreas Dornheim/Stefan Schnitzler (Hg.): Thüringen 1989/90. Akteu­re des Umbruchs berichten, Erfurt 1995; ferner Michael Richter/Martin Rißmann (Hg.): Die Ost-CDU. Beiträge zu ihrer Entstehung und Entwicklung, Köln/Weimar/ Wien 1995.

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hinaus« im Sinn einer »special relationship« beiderseits der Werra. Bayern und Thüringen – das erscheint heute und vor allem perspektivisch als eine deutsche Normalkonstellation, wo Süden und Mitte ineinander übergehen und bei der der nördliche Partner in manchem vielleicht sogar daran ist, um hier einmal Walter Ulbricht zu bemühen, zu überholen ohne einzuholen, denkt man nur an die wissenschaftlich-technische Leuchtturmfunktion, die mittlerweile Jena mit seiner Universität gewonnen hat. Doch zurück zum Fokus auf Bayern.

6 Die bayerischen Spezifika: Modernisierung und parteipolitische Sondersituation Zwei Konstanten scheinen die Region Bayern über das 19. wie über das 20. Jahrhundert hinweg zu kennzeichnen: einmal die Modernisierungskonstante, entschieden forciert von einer kompetenten und entschlossenen Bürokratie, die vor allem im 19. Jahrhundert vielfach im Kontrast insbesondere zu den altbayerischen katholisch-konservativen Milieus im Lande stand. Im Zusammenhang damit steht zum Zweiten die Ausprägung einer (partei-)politischen Sondersituation, mindestens von 1868 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reichend: Die Rede ist von einer bemerkenswerten Kontinuität seit den damaligen Wahlen zum Zollparlament, dem Vorläufer des Reichstages, die die neu gegründete, konfessionell katholische Bayerische Patriotenpartei mit bäuerlichen und kleinbürgerlichen wie katholisch-aristokratischen, gerade auch fränkischen Wurzeln (u. a. die Familien Franckenstein und Guttenberg)16 gegen die nationalliberalen Modernisierer in München und vor allem in Berlin spektakulär gewann. Abgesehen von der für die CSU kennzeichnenden wie unabdingbaren Entwicklung zur christlich-interkonfessionellen Volkspartei, die weithin erst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts gelang, ist damit, was die parteipolitische Kontrastierung zwischen Bayern und dem Gesamtstaat anbelangt, eine bemerkenswerte Konstante beschrieben. Bayern war als Region nach dem Zweiten Weltkrieg in vielerlei Hinsicht Nutznießer der Entwicklung im Allgemeinen wie durch den Kalten Krieg im Besonderen. Bayern profitierte von der Verlagerung von Konzernen, auch 16 Zur Herausbildung dieses parteipolitisch geformten, zunächst ganz katholischen, populistisch-volksparteilichen Milieus gegen »Berlin« im Kontext der Reichsgründung die Biographie Karl Otmar von Aretins: Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart 2003; in wenigstens mittelbarer Kontinuität zur 1868 – Wahlen zum Zollparlament – entstandenen »Patriotenpartei«, später Bayerisches Zentrum, steht die CSU bis heute.

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und gerade von deren Hauptquartieren, dank der Vertreibung durch den real existierenden Sozialismus über den Eisernen Vorhang. An erster Stelle ist hier der Weltkonzern Siemens zu nennen, der nach Erlangen und München ging. Hier manifestiert sich zugleich ein wesentlicher Unterschied zu den Regionen unter dem Diktat des Staatssozialismus bis 1989/90: Die Konzernzentralen der großen Unternehmungen nahmen verstärkt ihren Sitz in West- und Süddeutschland ein – und diese Entwicklung lässt sich bis heute und wohl auf absehbare Zeit, auch unter Einschluss Berlins, nicht rückgängig machen. Bayern profitierte in der weiteren Folge von der Verlagerung politischer und ökonomischer Gravitationsfelder innerhalb der alten Bundesrepublik. Das politische und ökonomische Kernland der alten Bundesrepublik war Nordrhein-Westfalen. Parallel zur Schwächung von Bergbau, Eisen- und Stahlproduktion an Rhein und Ruhr17 erfolgte auch eine Verlagerung der politischen Schwergewichte. Sie wurde insbesondere für die Unionsparteien signifikant, als sich als dritter Bundeskanzler in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit geschlossener bayerischer Unterstützung der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt-Georg Kiesinger gegen seine nordrhein-westfälischen Wettbewerber Gerhard Schröder und Rainer Barzel durchsetzte, wenige Tage vor Bildung der ersten Großen Koalition 1966.18 Die bayerische Prosperität beruhte in der späteren ökonomischen Rekonstruktionsphase der alten Bundesrepublik wesentlich auf Schwerpunktsetzungen im Konsumgüter- und Freizeitbereich19, von Automobilen über Tonbandgeräte bis zu Sportschuhen. Hinzu kamen etatistische Leistungen der klassischen bayerischen Administration, die die Voraussetzungen in Infrastruktur und Wissenschaft schufen. Hinzu kam ferner, auf der parteipolitischen Ebene, der Umbau der CSU zur wirklich breit angelegten Integrations­ partei. Erst ab Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre gelang ihr der Schritt zur Andockung bzw. Integration bisheriger nationalliberaler, evangelischer und ursprünglich deutschnatio­naler Milieus. Des Weiteren avancierte sie auch zur führenden Arbeitnehmerpartei im Lande.20 Damit waren wesent17 Siehe Dieter Düding: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946–1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008, darin insbesondere die »Wendewahl« 1966, S. 507 ff. 18 Die Abläufe bei Philipp Gassert: Kurt Georg Kiesinger 1904–1988, München 2006, S. 493: »Den Ausschlag gab […] Strauß.« 19 Vgl. Dirk Götschmann: Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhun­dert, Regensburg 2010, S. 420 ff. 20 Siehe dazu – aus Eigensicht – Hanns-Seidel-Stiftung (Hg.): Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU 1945–1995, München 1995, insb. die Beiträge von Wolfgang Krieger: Franz Josef Strauß und die zweite Epoche in der Geschichte

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liche Voraussetzungen für ihre fortan nun über Jahrzehnte währende Hegemonialposition geschaffen, symbolhaft zum Ausdruck gebracht in der Aneignung bayerischer Heraldik wie der weiß-blauen Farben – und dies galt für alle Landesteile, auch für das herkömmlich rot-weiße Franken. Die CSU profitierte weiter von der Struktur der klassischen bayerischen Protestsituation, nun gegen die sozialliberale Koalition von 1969 bis 1982, gewissermaßen in der Kontinuität des antipreußischen Protests von 1868.

7 Die bayerische Gegenwart nach der deutschen und europäischen Revolution von 1989/90 Eine aktuelle Bestandsaufnahme wird zu dem Resultat führen, dass für Veränderungen der Position Bayerns als spezifische deutsche und europäische Region weniger die Zäsur der deutschen und europäischen Wiedervereinigung von 1989/90 Bedeutung hat: ob zwölf Millionen Bayern unter 60 Millionen Bundesdeutschen oder unter 80 Millionen Deutschen – das ist nachrangig. Veränderungen und Amalgamierungen gehen vielmehr vor allem von längerfristigen strukturellen Prozessen aus, einige davon seien abschließend thesenhaft hervorgehoben: – die Stärke der – auch innerdeutschen – Migration nach Bayern, die beachtlich zum Abschmelzen der CSU-Hegemonie21 beigetragen hat und möglicherweise weiterhin beiträgt, – in Verbindung damit die Frage nach der Perpetuierung der parteipolitischen Sondersituation Bayerns, – die Mediatisierung des politischen Systems des Landes trotz mancherlei grundgesetzlicher Föderalismusreformen, insbesondere durch das immer weitergehende Anziehen der Schraube der europäischen Integration, – gravierende strukturelle Divergenzen unter den deutschen Ländern, die ebenfalls bislang politisch eher mit Nivellierungs- als mit Wettbewerbsstrategien beantwortet werden, bis hinein in die Bildungspolitik, der CSU, S. 163–193, Alf Mintzel: Bayern und die CSU – Regionale politische Traditionen und Aufstieg zur dominierenden Kraft, S. 195–252, und Heinrich Oberreuter: Konkurrierende Kooperation – Die CSU in der Bundespolitik, S. 319–332. 21 ��������������������������������������������������������������������������� Vgl. zur Situation der CSU in Bayern nach der für sie desaströsen Landtagswahl 2008 – und den Perspektiven – Gerhard Hopp/Martin Sebaldt/Benjamin Zeitler (Hg.): Die CSU. Strukturwandel, Modernisierung und Herausforderungen einer Volkspartei, Wiesbaden 2010.

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– die Wiederentdeckung Mitteleuropas als einer Bezugsebene bayerischer Politik, die ein Stück mehr Autonomie von der »Berliner Republik« zeitigen könnte. Ausgangspunkt dieser letzten Überlegung ist das sich deutlich verbessernde bayerisch-tschechische und damit bayerisch-böhmische Verhältnis. Wenn es gelingt – und Tendenzen in diese Richtung verdichten sich –, die bisherigen Barrieren zwischen Bayern und der Tschechischen Republik, die wesentlich auf die Vertriebenenproblematik zurückgehen, gewissermaßen positiv in ein Ferment gemeinsamer kultureller Identitätsbezüge umzufunktionieren, dann gewänne Bayern an dieser Stelle ein beachtliches Stück Spielraum auch außerhalb des Rahmens des heutigen deutschen Bundesstaates, und das läge in der Kontinuität seines auch europäischen Anspruches.

Wirtschaftsentwicklung & demografischer Wandel

Matthias Machnig

Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost«

Die Thüringer Wirtschaft kann auf ein erfolgreiches Jahr zurückblicken: 2011 verzeichnete sie ein reales Wachstum von 3,4 Prozent, übertraf damit den bundesweiten Durchschnitt von 3,0 Prozent und ließ mit Bayern oder Nordrhein-Westfalen so manches wirtschaftliches Schwergewicht unter den Bundesländern hinter sich. Erfreulich verlief auch die Umsatzentwicklung in der Thüringer Industrie, die im ersten Quartal 2012 um 5,9 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum und somit stärker als im Bundesdurchschnitt zunahm. Die Zahl der Arbeitslosen schließlich hat zur Jahresmitte 2012 die 100.000er-Marke unterschritten. Die Attraktivität des Standorts Thüringen unterstreichen auch und insbesondere eine Reihe aktueller Standortentscheidungen, Unternehmensansiedlungen und Kapazitätsausweitungen. Um nur einige zu nennen: – Kapazitätsausweitungen beim Motorenhersteller MDC Power in Kölleda oder dem Turboladerspezialisten IHI Charging Systems in Ichtershausen; – Neuansiedelung eines Batterie-Kompetenzzentrums der Robert Bosch GmbH in Eisenach; – Ansiedlung des Buchgroßhändlers Koch, Neff & Volckmar in Erfurt; – Ansiedlung mehrerer Logistikniederlassungen in Erfurt, darunter z. B. der Saturn-Media-Holding, die in Thüringen ihre gesamte europäische OnlineLogistik konzentrieren wird, und des Mode-Versandhändlers Zalando; – schließlich, aber nicht zuletzt: Produktionsausbau des Solarunternehmens Masdar am Erfurter Kreuz und Neubau eines Solarparks bei Gotha. Flankiert werden die Erfolge der Thüringer Unternehmenslandschaft dabei von einer aktiven Wirtschaftsförderung. Durch Maßnahmen insbesondere im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« (GRW) konnten Investitionen in Höhe von über 1,4 Mrd. Euro angeschoben und rund 4.000 Arbeitsplätze neu geschaffen werden.

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20 Jahre Aufholprozess Diese beachtliche Bilanz reiht sich ein in die Thüringer Erfolgsgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte, die von der jüngsten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 lediglich vorübergehend unterbrochen wurde. Thüringen steht mittlerweile bei vielen Kennziffern im Vergleich der ostdeutschen Länder an der Spitze und überholt in einigen Bereichen, wie der Zahl der Industriebeschäftigten je 1.000 Einwohner, auch westdeutsche Länder. Besonders hervorzuheben sind die folgenden positiven Entwicklungen: – In Thüringen ist der Reindustrialisierungsprozess ausgesprochen erfolgreich verlaufen. Der Wertschöpfungsanteil des verarbeitenden Gewerbes liegt seit 2008 über dem Bundesdurchschnitt. Aktuell beläuft er sich auf 22,2 Prozent gegenüber 20,7 Prozent bundesweit. – Thüringer Produkte sind wieder weltweit gefragt. Zuletzt 33,3 Prozent der Industrieumsätze werden im Ausland erwirtschaftet. Das ist noch deutlich weniger als im Bundesschnitt (46,4 Prozent), aber angesichts des Zusammenbruchs der Außenwirtschaftsbeziehungen Anfang der 1990er Jahre beachtlich. – Die Arbeitslosenquote liegt im Mai 2012 bei 8,5 Prozent. Das ist der niedrigste Wert unter den ostdeutschen Bundesländern. Mehr noch: Thüringen liegt in dieser Hinsicht in etwa gleichauf mit Nordrhein-Westfalen. In einigen Thüringer Kreisen – so im Kreis Sonneberg (4,7 Prozent) oder im Kreis Hildburghausen (5,8 Prozent) – herrscht inzwischen annähernd Vollbeschäftigung.

Rückblick: Schwierige Ausgangsbedingungen Die Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte lassen sich nur vor dem Hintergrund erheblicher Altlasten angemessen bewerten: Die DDR war 1989 nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende. Ein Blick zurück erinnert an: – veraltete Betriebsstätten, in die über Jahre nur das Notwendigste zur Aufrechterhaltung der Produktion investiert worden war, – eine häufig kaum mehr funktionsfähige öffentliche Infrastruktur, – der teilweise erschreckende bauliche Zustand der Städte, – erhebliche Umweltverschmutzungen.

Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost

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Diese Liste ließe sich verlängern. Unter dem Strich stand eine im Vergleich zu Westdeutschland und dem Rest der Welt deutlich geringere Wettbewerbsfähigkeit. Die Arbeitsproduktivität der ostdeutschen Betriebe lag damals bei allenfalls 30 Prozent des westdeutschen Niveaus. Entsprechend einschneidend waren die Auswirkungen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, mit der am 1. Juli 1990 die D-Mark in der DDR eingeführt und das Rechts- und Sozialsystem der Bundesrepublik übertragen wurde. Im Rahmen der Währungsunion wurden Löhne, Gehälter und Renten im Verhältnis 1:1 umgestellt. Bei bestehenden Guthaben, Forderungen und Verbindlichkeiten erfolgte die Umstellung überwiegend zum Kurs von 2:1. Vor dem Hintergrund des Produktivitätsgefälles wäre aus ökonomischer Sicht ein Umrechnungskurs von etwa 4,40 DDR-Mark für eine D-Mark angemessen gewesen. Die Währungsunion führte daher zu einer drastischen realen Aufwertung in Ostdeutschland. Da der Handel mit den Partnern aus dem ursprünglichen RGW-Raum von Transferrubel auf frei konvertierbare Währungen umgestellt wurde, wurden ostdeutsche Produkte auf den angestammten Exportmärkten nahezu unverkäuflich. Der ohnehin marode Kapitalstock der DDR-Industrie wurde praktisch über Nacht entwertet. In der Folge ging die Industrieproduktion bis zum Ende des Jahres 1991 auf etwa ein Drittel des Niveaus von 1989 zurück, das Bruttoinlandsprodukt sank um etwa 35 Prozent. Bei der Zahl der Arbeitsplätze ergab sich ein Rückgang von 9,5 auf unter 5 Millionen.

Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost« Heute ist Thüringen auf gutem Weg, an seine Tradition als leistungsstarker Industriestandort in der Mitte Deutschlands und Europas anzuknüpfen. Hierfür stehen moderne Produktionsanlagen, gut ausgebaute Verkehrsverbindungen, leistungsfähige Hochschulen und Forschungseinrichtungen, attraktive Städte und Gemeinden mit hoher Wohnqualität. Nach 20 Jahren Aufbau Ost gibt es in den neuen Bundesländern eine moderne Infrastruktur und Bausubstanz, vielerorts eine leistungsfähige Unternehmenslandschaft in der Breite und bemerkenswerte Erfolgsgeschichten in der Spitze. Viele haben dazu beigetragen: in- und ausländische Unternehmen, die Wirtschaftspolitik, die große gesamtdeutsche Solidarität – vor allem aber das beeindruckende Engagement der Thüringerinnen und Thüringer selbst. Dennoch: Nach einem anfangs sehr raschen Aufholprozess stagniert die wirtschaftliche Angleichung mit den alten Bundesländern seit geraumer Zeit. Im Jahr 2010 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner immer noch

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lediglich 68,8 Prozent des Westniveaus. Der traditionelle Aufbau Ost mit seinen bisherigen Ansatzpunkten hat sich als wirtschaftlicher Impulsgeber für die Region offensichtlich bis zu einem gewissen Grad erschöpft. Gleichzeitig ist augenfällig, dass es eine Reihe von Problemregionen in Westdeutschland gibt, denen es in wichtigen Wohlstandsdimensionen nicht besser geht als dem Durchschnitt Ostdeutschlands. Insgesamt zeigt sich, dass die pauschalen Kategorien Ost und West längst nicht mehr aussagekräftig sind. Zwei Jahrzehnte Aufbau Ost haben zu einer Herausbildung deutlicher Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur zwischen den ostdeutschen Ländern geführt. Dadurch ändern sich auch die wirtschaftspolitischen Herausforderungen: An den Aufbau Ost muss sich ein »Ausbau Ost« anschließen, der diese Ausdifferenzierung und die damit verbundenen unterschiedlichen Problem- und Interessenlagen der einzelnen Länder in den Blick nimmt und größere Spielräume für die Entwicklung auf die jeweilige Situation zugeschnittener Strategien vorsieht.

Zukünftige Handlungsfelder Der Ausbau Ost muss sich auf zwei wesentliche Handlungsfelder richten. Das erste Handlungsfeld bilden Herausforderungen, die grundsätzlich für strukturschwache Regionen in ganz Deutschland relevant sind, aufgrund der Konzentration von Regionen mit Strukturproblemen Ostdeutschland aber in besonderer Weise betreffen. Zu nennen sind hier vor allem: – Der demographische Umbruch: In Thüringen etwa hat sich die Zahl der Schulabgänger seit 2003 halbiert, und das Erwerbspersonenpotenzial wird bis 2030 um bis zu ein Drittel zurückgehen. Diese Entwicklung wird verstärkt durch die Abwanderung vor allem junger, gut qualifizierter Menschen: 2011 stand durchschnittlich per Saldo ein Verlust von 16 Menschen pro Tag zu Buche. Insgesamt ist Thüringens Bevölkerung seit dem Jahr 2000 um 8,7 Prozent geschrumpft. – Die Lohnentwicklung: Auch und insbesondere vor dem Hintergrund der demographischen Verschiebungen müssen Löhne und Gehälter steigen. Thüringen muss attraktiver für Fachkräfte von außen werden, damit unsere Wirtschaft ihren Fachkräftebedarf in den nächsten Jahren decken kann. – Die Arbeitslosigkeit: Wurde die Entwicklung am Arbeitsmarkt zuvor grundsätzlich positiv bewertet, so besteht dennoch weiterhin Raum für Verbesserungen. Demnach lag die Arbeitslosigkeit im Mai 2012 in Ostdeutschland bei 10,6, im Bundesdurchschnitt hingegen bei 6,7, und in

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Westdeutschland sogar nur bei 5,7 Prozent. Auch Thüringens Arbeitslosenquote liegt aktuell noch um die Hälfte über letzterem Wert. Das zweite Handlungsfeld ist eine gezielte Förderung durch die Wirtschaftspolitik, um auf Grundlage der erreichten soliden Basis selbsttragende und spezifische Wachstumskerne zu schaffen und zu sichern, die eine reale Chance haben, sich im Wettbewerb der Erfolgsregionen zu behaupten. Insbesondere gilt demnach: – Thüringens Unternehmen müssen wachsen. Die Wirtschaft ist in besonderer Weise durch kleine und mittlere Betriebe geprägt. Der Umsatzanteil von KMU liegt in Thüringen bei 76 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie im gesamtdeutschen Durchschnitt (Ostdeutschland: 59 Prozent). Das hat Vorzüge wie eine große Flexibilität und schnelle Reaktion auf Marktbewegungen, bringt aber auch strukturbedingte Nachteile mit sich: Zu ihnen gehören tendenziell niedrigere Forschungsintensität, Probleme bei der Erschließung neuer Märkte und bei der Gewinnung von Fachkräften sowie häufig eine geringe Eigenkapitalausstattung. – Die Innovationskraft der Wirtschaft ist noch zu gering. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Ausgaben der privaten Unternehmen für Forschung und Entwicklung fällt – auch bedingt durch die geringe Unternehmensgröße – mit 0,9 Prozent nur halb so hoch aus wie im Durchschnitt der westdeutschen Länder. Dieses Defizit geht Hand in Hand mit fehlender Exzellenz und unterkritischer Masse in der ostdeutschen Hochschullandschaft und bei den außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Neben diesen bekannten Strukturproblemen der ostdeutschen Wirtschaft ist nicht zuletzt auch einer Reihe neuer Fragestellungen nachzugehen: – Wie etwa ist der überdurchschnittlich starke Rückstand der ostdeutschen Städte gegenüber vergleichbaren westdeutschen Städten zu erklären? Welche Konsequenzen sollten beim Ausbau der Forschungslandschaft, bei der Infrastrukturförderung und bei der Entwicklung des Nahverkehrs in der Wohnungs- und Städtebauförderung gezogen werden, um die Thüringer Wachstumskerne zu stärken? – Welche Instrumente sind in den zuvor genannten Bereichen denkbar, um das Zusammenwachsen der Thüringer Agglomerationen – etwa im Rahmen der Impulsregion Erfurt-Weimar-Jena – zu fördern? Inwieweit lassen sich aus unterschiedlichen historisch gewachsenen Verdichtungsprozessen (z. B. des Großraums München mit einer starken Konzentration im Zent-

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Matthias Machnig

rum und des eher dezentral strukturierten Großraums Stuttgart) Handlungsempfehlungen für Thüringen ableiten? – Welche Instrumente sind geeignet, um nach dem Auslaufen des Solidarpaktes II deutschlandweit einen Ausgleich für strukturschwache, besonders von Alterung der Bevölkerung, Abwanderung und Altersarmut betroffene Regionen zu erreichen? Welche Ansatzpunkte ergeben sich diesbezüglich beispielsweise im Länderfinanzausgleich? – Und schließlich: Welcher Weiterentwicklungs- und Anpassungsbedarf besteht angesichts der skizzierten Zielsetzungen des Ausbaus Ost bei der Ausgestaltung der Instrumente sowie bei den Schwerpunktsetzungen der Wirtschaftsförderung?

Trendatlas 2020 Sowohl hinsichtlich der Problemanalyse als auch der konkreten Umsetzung von Handlungsempfehlungen bleibt noch allerhand zu tun: Gefragt ist an dieser Stelle eine aktiv ausgerichtete Wirtschaftspolitik. Es ist zwar richtig, dass sich wirtschaftliche Spezialisierungen im Wettbewerb am Markt herausbilden müssen. Richtig ist aber auch, dass auf individuelle Gewinnmaximierung ausgerichtete Märkte kurzsichtig sind. Längerfristige Erfordernisse, etwa des Klimawandels oder ein über den betrieblichen Vorteil hinausgehender gesellschaftlicher Nutzen, bilden sich in den einzelwirtschaftlichen Kalkülen der Unternehmen nicht ab. Nicht alles, was aus gesellschaftlicher Perspektive sinnvoll ist, lässt sich rein privatwirtschaftlich erreichen. Hier muss der Staat als Pionier auftreten, Einfluss nehmen und Entwicklungen selbst vorantreiben. Nicht überall muss bei Null begonnen werden. Der von meinem Haus in Auftrag gegebene und im März 2011 vorgestellte Trendatlas 2020 etwa bietet eine fundierte Antwort auf die Frage, welche Wirtschaftsbereiche ein herausragendes Wachstumspotenzial für Thüringen bergen und daher besondere Beachtung verdienen: – Darunter fallen erstens anwendungsspezifische Technologien in den Sektoren Automotive, Maschinenbau, Life Sciences und umweltfreundliche Energieerzeugung und -speicherung. – Ferner werden anwendungsübergreifende Querschnittstechnologien im Vordergrund stehen, so die Mess-, Steuer- und Regelungstechnik, Kunststoffe und Keramik, Mikro- und Nanotechnik und Optik/Optoelektronik.

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– Schließlich lassen sich Wachstumsfelder identifizieren, die auf globalen Trends basieren: die Bereiche Service-Robotik, Kreativwirtschaft/Edutainment sowie grüne Technologien. Das ökonomische Potenzial, das den aufgeführten Bereichen prognostiziert wird, ist beachtlich. Der Trendatlas geht von einer Steigerung der Bruttowertschöpfung um bis zu 70 Prozent in den Anwendungs- und Querschnittstechnologien sowie um bis zu 100 Prozent in den trendinduzierten Wachstumsfeldern aus. Absolut bedeutet das insgesamt ein Mehr an Wertschöpfung in Höhe von mehr als 4 Mrd. Euro, mit dem die Schaffung von etwa 50.000 Arbeitsplätzen einhergeht. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um Potenziale, die erschlossen werden müssen. Die Grundvoraussetzungen hierfür lassen sich allgemein mit fünf »Is« umschreiben: Innovationen müssen verstärkt, Investitionen ausgeweitet und eine leistungsfähige Infrastruktur bereitgestellt werden. Darüber hinaus sind die Internationalisierung der Thüringer Wirtschaft sowie die Integration von Talenten und Arbeitskräften voranzutreiben. Daraus ergeben sich eine Reihe ganz konkreter Handlungsempfehlungen, die auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Thüringen abzielen. Dazu zählen insbesondere: – Die Fokussierung der Wirtschaftsförderung auf die genannten Wachstumsfelder etwa im Rahmen revolvierender Fonds und jährlicher Clustergipfel. Wichtiges Instrument könnte an dieser Stelle auch eine zur Landesstrukturbank weiterentwickelte Thüringer Aufbaubank (TAB) sein, die trotz rückläufiger EU-Förderung wesentliche strategische Projekte des Landes finanziell ermöglicht. – Die Förderung des Wachstums der vorhandenen Unternehmen, z. B. durch Entwicklung geeigneter Finanzierungsinstrumente für Unternehmens­ zukäufe und Übernahmen oder die Auflage eines Eigenkapital-Hilfsprogramms mit nachrangigen Darlehen; die Förderung von Unternehmens kooperationen durch bessere Verknüpfung von Anwendung und Forschung bzw. Produkt und Dienstleistung; und schließlich die Verbesserung des Gründerklimas, etwa durch Schaffung geeigneter Instrumente zur Gründungsfinanzierung. Bereits auf den Weg gebracht sind in diesem Zusammenhang die Thüringer Gründerinitiative (ThGi), der Thüringer Gründerfonds, das Thüringer Netzwerk für innovative Gründungen (ThürIng) und das Thüringer Business Angels Netzwerk (THÜBAN). – Die aktive Erschließung von Auslandsmärkten insbesondere durch KMU. Hierzu werden Beratungsangebote ausgebaut. Ferner wurde im April 2011

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Matthias Machnig

eine Außenwirtschaftskonzeption vorgelegt, die Zielmärkte und geeignete Erschließungsmaßnahmen definiert; und bei der Landesentwicklungs­ gesellschaft (LEG) wurde ein neuer Bereich »Thüringen International« angesiedelt. – Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur; dies erfolgt durch den Aufbau eines Pools attraktiver Industrie- und Gewerbeflächen in den wachstumsstarken Regionen, aber auch durch den Ausbau der Breitbandversorgung. Um bis zum Jahr 2015 eine flächendeckende Breitbandversorgung sicherzustellen, ist ein neues Landesprogramm entwickelt worden, für das 12 Mio. Euro aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) zur Verfügung stehen. – Die Sicherung der Fachkräfteversorgung, z. B. durch Initiativen zur Bindung von Hochschulabsolventen an Unternehmen der Region, zur Rückgewinnung von »Auspendlern« oder zur Unterstützung von Fachkräften und Akademikern beim Arbeits- und Wohnortwechsel oder dem Familiennachzug, sowie durch familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Zu diesem Zweck ist im März 2011 die Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung (ThAFF) bei der LEG gegründet worden. – Schließlich: Moderne, wirtschaftsfreundliche Verwaltungsstrukturen, die schnelle, transparente und verlässliche Verfahren ermöglichen und so als wertvoller Dienstleister für Thüringens Unternehmen agieren.

Grüner Motor Thüringen Auch wenn es an mehreren Stellen bereits anklang, verdient ein zukünftiges Handlungsfeld mit zentraler Bedeutung für Thüringen wie auf globaler Ebene eine nähere Betrachtung: Die Rede ist vom ökologischen Umbau unserer Gesellschaften mit dem Ziel einer nachhaltigen Form des Wirtschaftens. Es wird entscheidend sein, diesen Umbau so zu organisieren, dass die Thüringer Wirtschaft gestärkt aus ihm hervorgeht. Eine Schlüsselrolle kommt hier der Rohstoff-, Material- und Ressourceneffizienz zu. So ergab eine Befragung des Münchener Ifo-Instituts im November 2011, dass zwei Drittel der Unternehmen eine steigende Bedeutung von Effizienzmaßnahmen bei der Produktion wahrnehmen. Das gilt insbesondere für Großbetriebe, aber auch für kleine und mittelständische Unternehmen. Dabei ist entscheidend, dass der ökologische Umbau als Chance und nicht als Hindernis begriffen wird: Das Ziel muss lauten, Wachstum ökologisch nachhaltig zu gestalten, und nicht etwa, Wohlstand zu reduzieren. Dass das möglich ist, zeigen etwa Modellrechnungen des Deutschen Instituts für Wirt-

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schaftsforschung. Sofern ein energiewirtschaftliches Leitszenario umgesetzt wird, laut dem 59 Prozent des Bruttostromverbrauchs, 26 Prozent der Endenergie im Wärmebereich sowie 16 Prozent der Endenergie im Kraftstoffbereich durch erneuerbare Energien zu decken sind, steht bis zum Jahr 2030 ein bundesweiter Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 2,9 Prozent in Aussicht. Wird der ökologische Umbau von fachspezifischen Bildungsund Ausbildungsmaßnahmen begleitet, so stellt sich ferner ein Beschäftigungsplus in der Größenordnung von 300.000 Arbeitsplätzen ein. Ein Selbstläufer werden weder die angezeigten Effizienzverbesserungen noch der darüber hinaus notwendige Ausbau erneuerbarer Energien. Das Engagement des Privatsektors ist gefragt, aber auch der Beitrag der Wirtschaftspolitik. Auf Bundesebene ist durch den Ausbau des Übertragungsnetzes für eine adäquate Infrastruktur zu sorgen, und auch international werden koordinierende Maßnahmen benötigt. Thüringen seinerseits – das ist erklärtes Ziel der Landesregierung – hat die Perspektive, zum »Grünen Motor« Deutschlands zu werden. Auf dem Weg dorthin müssen insbesondere die folgenden Herausforderungen gemeistert werden, die die neu gegründete Thüringer Energie- und GreenTech-Agentur (ThEGA) begleiten wird: – Umstellung auf erneuerbare Energien: Die Landesregierung hat sich das Ziel gesetzt, bis 2020 45 Prozent des Nettostromverbrauchs aus regenerativen Quellen zu bestreiten. Das Wirtschaftsministerium hat zu diesem Zweck verschiedene Initiativen gestartet, so das 1000-Dächer-Photovol­ taik-Programm, in dessen Rahmen bisher Anträge für ein Investitionsvolumen in Höhe von 23,5 Mio. Euro bewilligt wurden, die Erstellung eines Potenzialatlas für erneuerbare Energien und eine Brachflächenstudie für Solarparks. – Schaffung von Speicherkapazität: Da die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern im Zeitverlauf schwankt, setzt eine stabile Versorgung hinreichende Speicherkapazitäten voraus. In Thüringen besteht diesbezüglich ein hohes Potenzial in Form von Pumpspeicherkraftwerken. Das Thüringer Wirtschaftsministerium hat daher einen Pumpspeicherkataster durchführen lassen, der mögliche Standorte benennt. Als Resultat unterstützt das Thüringer Wirtschaftsministerium das Stadtwerkekonsortium Trianel GmbH bei der Errichtung eines Pumpspeicherkraftwerks mit einer Leistung von bis zu einem Gigawatt und einem Investitionsvolumen von bis zu einer Mrd. Euro an der Talsperre Schmalwasser in TambachDietharz. – Gezielte Förderung von Effizienzsteigerungen: Enorme Entwicklungssprünge können mittels gezielter Anreizprogramme sowohl in der energe-

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Matthias Machnig

tischen Gebäudesanierung als auch bei der Optimierung industrieller Produktionsabläufe erreicht werden. Diese Punkte sind Bestandteile der Thüringer Effizienzoffensive (ThEO), die energetische Beratungsleistungen für kleine und mittelständische Betriebe fördert. – Elektromobilität: Passend zu seinen Stärken im Automotive-Sektor treibt Thüringen den ökologischen Umbau auch im Bereich der Elektromobilität voran. Zu diesem Zweck wurde das Thüringer Innovationszentrum Elektromobilität (ThIMO) an der TU Ilmenau eröffnet. – Forschung zu und Anwendung von grünen Technologien: Weitere Unterstützung für auch über Effizienzaspekte hinausgehende technologische Verbesserungen bietet das Programm Thüringen-GreenTech. Schließlich haben das Thüringer Wirtschaftsministerium und das Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik in Jena einen Innovationscluster »Green Photonics« auf den Weg gebracht.

Gute Arbeit, starke Wirtschaft Schließlich wird Thüringens Zukunft auch und vor allem am Arbeitsmarkt entschieden. So erfreulich geringe Arbeitslosenzahlen sind, müssen positive Beschäftigungseffekte dennoch von Anstrengungen zur Fachkräftesicherung begleitet werden: 200.000 neue, qualifizierte Arbeitskräfte werden bis Ende des Jahrzehnts benötigt. Dazu gehört einerseits, Qualifizierungsreserven zu heben und so etwa auch Langzeitarbeitslosen den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Hierauf zielt das Thüringer Landesarbeitsmarktprogramm ab, über das mittlerweile mehr als 2.300 Geförderte den Weg in eine Arbeit oder Ausbildung gefunden haben, davon mehr als 1.700 auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Neugestaltung des Thüringer Arbeitsmarkts muss jedoch tiefer greifen, muss allgemein mit besseren Arbeitsbedingungen und gerechten Löhnen einhergehen. Thüringen, soviel ist klar, wird im Wettbewerb der Regionen nur dann bestehen können, wenn es sich über die Qualität seiner Produkte und Dienstleistungen definiert und nicht etwa als Niedriglohnland. Genau dieses Image droht sich allerdings zu verfestigen. Es kann nicht sein, dass ein Drittel der rund eine Million Arbeitnehmer in Thüringen mit einem Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro auskommen muss. Um diesen Entwicklungen Einhalt zu gebieten, sind in erster Linie die Tarifparteien, Unternehmen und Arbeitnehmer gefragt. Deswegen hat das Thüringer Wirtschaftsministerium zusammen mit DGB und IG Metall zur Stärkung von Betriebsräten aufgerufen. Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es,

Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost

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die Rahmenbedingungen so zu stecken, dass Recht und Ordnung am Arbeitsmarkt und ein adäquater Lohnfindungsprozess ermöglicht werden. Die Thüringer Landesregierung hat in jüngerer Vergangenheit wichtige Schritte in diese Richtung unternommen: – Seit Mai 2011 gilt in Thüringen ein neues Vergabegesetz, das die Ausreichung öffentlicher Aufträge an die Einhaltung sozialer und tarifrechtlicher Standards knüpft. Kriterien sind dabei neben der Gewährung von Tariflöhnen nach dem Arbeitnehmerentsende- sowie dem Mindestarbeitsbedingungengesetz Entgeltgleichheit, Förderung der beruflichen Erst­ausbildung und Chancengleichheit von Frauen und Männern. – Seit April 2011 sind Unternehmen, die einen Leiharbeiteranteil von mehr als 30 Prozent ausweisen, von der Förderung durch die GRW-Investitionsförderung ausgenommen, bei einem Leiharbeiteranteil von 10 bis 30 Prozent kommt lediglich ein Basisfördersatz zur Anwendung. – Seit Herbst 2011 ist Lohnkostenförderung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) nur für Arbeitsplätze möglich, die nach Tarif oder einem Mindestlohn von 8,33 Euro bezahlt werden. Gewerbliche Leiharbeit ist ferner gänzlich von der Förderung ausgeschlossen.

Chance Veränderung Im laufenden Jahr haben sich die konjunkturellen Aussichten eingetrübt. Zwar sind die sich abzeichnenden Probleme keineswegs hausgemacht: Stattdessen bereitet vor allem die Krise im Euroraum Sorgen, vor deren Hintergrund auch für die deutsche Volkswirtschaft von geringerem Wachstum ausgegangen werden muss. Umso mehr gilt es für Thüringen, die eigenen Hausaufgaben zu machen. Ganz unabhängig davon, ob beim ökologischen Umbau, bei der Reform des Arbeitsmarkts oder in anderen Bereichen: Thüringen muss seine günstige Ausgangslage nutzen, um zentrale ökonomische Weichenstellungen vorzunehmen. Dazu müssen zunächst die richtigen inhaltlichen Akzente gesetzt werden, um die zuvor dargestellten Wachstumsfelder der Zukunft zu erschließen. Wichtig ist aber darüber hinaus auch, die eigenen Prioritäten und Potenziale in das rechte Licht zu rücken, also Werbung für den Wirtschaftsstandort und Lebensraum Thüringen zu machen. Wenn dieses Land die kommenden Herausforderungen als Chance begreift und sein Selbstbewusstsein, das Vertrauen in die eigenen Stärken nach außen trägt, kann es der Zukunft mit begründeter Zuversicht entgegensehen.

Norbert Schremb

Erfolgreicher Aufbau: Der Wirtschaftsstandort Thüringen aus mittelständischer Sicht

Meine Firma, die Härterei Reese Weimar, ein kleiner, aber feiner mittelständischer Betrieb mit 32 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hat durch Kunden- und Lieferantenkontakte Geschäftspartner in vielen Ländern Europas und der Welt. Wir sind Dienstleister im produzierenden Bereich und begehen im Januar 2012 unser 20-jähriges Firmenjubiläum. Wir haben also in der Praxis die vielen positiven Entwicklungen in Thüringen und in seinen Nachbarländern, bleiben wir bei Bayern, Hessen, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, hautnah miterlebt. Ich möchte im Folgenden in aller Kürze umreißen, was aus meiner Sicht dazu beigetragen hat, dass sich auch kleine mittelständische Betriebe verschiedener Industriezweige in den letzten 20 Jahren in Thüringen gut entwickelt haben. Als wir am 1.1.1992 die Lohnhärterei aus dem ehemaligen VEB Weimarwerk-Kombinat ausgliederten, hatten wir keinerlei Kundenkontakte in andere Bundesländer, und die Anfangseuphorie der ersten Zeit nach der Wiedervereinigung Deutschlands war schon verflogen. In den neuen Bundesländern waren die alten industriellen Strukturen mit dem Wegfall der Planwirtschaft zum Teil nicht mehr lebensfähig. Viele Betriebe in der ehemaligen DDR verfügten nicht über die erforderliche moderne Maschinen- und Anlagentechnik, mussten nicht nur investieren, sondern sich zusätzlich nach neuen Produkten bzw. neuen Märkten und Kunden umschauen. Nach einem gewaltigen Aderlass kann man heute trotz zahlreicher neuer Gewerbegebiete zwar nicht überall auf »blühende Landschaften« blicken, dennoch halte ich die bisherige wirtschaftliche Entwicklung insbesondere in Thüringen für sehr erfolgreich. Wenn man an die Situation Mitte 1991 zurückdenkt und an die teils verheerende damalige Verkehrsinfrastruktur, dann kann man heute nur stolz darauf blicken, was sich hier in den letzten zwei Jahrzehnten getan hat, und das ist auch ein wichtiger Standortvorteil für die Thüringer Betriebe. Die Verkehrsinfrastruktur hat sich in Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern vorbildlich entwickelt: Vorhandene Verkehrswege wurden teilweise dreispurig ausgebaut; neue Autobahnen und Bundesstraßen haben dafür gesorgt,

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Norbert Schremb

dass aus früheren Abenteuerfahrten nun planbare Reisen geworden sind; das Bahnnetz wurde ausgebaut und moderne Flughäfen sind entstanden. Auch die Energienetze mussten modernisiert und ausgebaut werden. Obwohl die Energiepreise in den neuen Bundesländern noch heute wesentlich höher sind als in den Altbundesländern, können wir mit einer hohen Versorgungssicherheit planen und durch kontinuierliche Investitionen in die Energieeffizienz Sparpotenziale entwickeln. Mit dem unbedingt notwendigen Beschluss zum Ausstieg aus der Atomenergie kommen weitere große Herausforderungen auf uns zu. Die Thüringer Industrie erwartet, dass die Energiewende weiterhin wettbewerbsfähige Energiepreise möglich macht und es bei der Versorgungssicherheit keine Probleme geben wird. Das ist auch für die Zukunftsfähigkeit unseres Industriezweigs von zentraler Bedeutung. Gerade beim Ausbau der Netzinfrastruktur ist die Zusammenarbeit aller deutschen Bundesländer notwendig. Ich hoffe, dass hier der eine oder andere über den eigenen Tellerrand hinausschauen wird. Ein wesentlicher Faktor für die positive Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Thüringen ist seit Jahren die wichtige Förderpolitik, die u. a. dem produzierenden Gewerbe in den neuen Bundesländern zugutekommt. Ohne diese Instrumente wären viele Projekte, die Ansiedlung von innovativen Betrieben und wesentliche, mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze verbundene Investitionen nicht möglich gewesen. Hier mussten unsere Nachbarn in Bayern, Hessen und Niedersachsen in den letzten Jahren Verzicht üben und haben über den Länderfinanzausgleich mit zusätzlichen Mitteln Unterstützung geleistet. Für diese großartige Aufbauhilfe möchte ich ausdrücklich danken. Nicht nur deshalb ist Thüringen heute gut aufgestellt. Die Tourismusbranche wächst, die Automobil- und Zulieferindustrie boomt, es entstehen Firmen für alternative Energien, und unsere Traditionsbetriebe wie Carl Zeiss und Jenoptik sind in einigen Geschäftsfeldern Weltmarktführer. Wir verfügen über leistungsstarke Universitäten und haben gut ausgebildete Fachkräfte. Leider ist die demografische Entwicklung und die Abwanderung, bedingt durch eine berufliche Neuorientierung vieler junger Menschen, in Thüringen ein Wermutstropfen. Mit leistungsgerechter Bezahlung müssen wir hier gegensteuern. In unserer Unternehmensgruppe gilt schon längst, dass wir fachlich gut ausgebildeten Arbeitskräfte in etwa so bezahlen wie in den Altbundesländern, sonst könnten wir sie gar nicht halten. Daran müssen wir weiter arbeiten, aber das braucht auch eine gewisse Zeit. Als unser Betrieb im Jahr 1992 mit zwölf Beschäftigten mit einem Nettoumsatz von umgerechnet 600.000 Euro begann, hatten wir kaum Kunden aus unseren Nachbarländern. In der Anfangsphase haben wir zum Teil sogar

Der Wirtschaftsstandort Thüringen aus mittelständischer Sicht

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noch mit alten DDR-Maschinen und Anlagen produziert. Unter diesen Bedingungen war es natürlich doppelt schwer, Kunden aus den anderen Bundesländern davon zu überzeugen, mit uns zusammenzuarbeiten. Nach 20 Jahren, also im Jahr 2011, werden wir einen Jahresumsatz von fünf Millionen Euro erreichen. Dabei realisieren wir allein mit unseren Kunden aus Bayern und Hessen einen Umsatzanteil von fast 50 Prozent. Anfangs noch mehr als kritisch beäugt, haben sich vertrauensvolle Geschäftsbeziehungen entwickelt. Als Beispiel nenne ich das Zitat eines Iraners, der mit seiner hessischen Firma weltweit große Getriebe für Krananlagen exportiert und mittlerweile drei weitere Betriebe in den neuen Bundesländern gegründet hat: »Herr Schremb, wir sind mehr als Geschäftspartner, wir sind Freunde.« Mindestens in diesem Fall sind aus Nachbarn Freunde geworden. Eine Nachahmung ist ausdrücklich erwünscht.

Marion Eich-Born

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

Schon viel ist über den demografischen Wandel in den neuen Ländern lamentiert worden, meist aus dem Blickwinkel der Risikobrille. In der Tat stellt der enorme Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern eine kolossale Herausforderung dar. Unterauslastung, Leerstand und sinkende Einnahmen sind nur einige Facetten der sich ergebenden Problemlagen, die die Tragfähigkeit der Daseinsvorsorge gerade im ländlichen Raum auf den Prüfstand stellen. Damit wird das Postulat der gleichwertigen Lebensverhältnisse, das in unmittelbarem Zusammenhang mit der öffentlichen Daseinsvorsorge steht, in Frage gestellt. Innovative konzeptionelle Lösungsansätze sind gefragt, um der Lage Herr zu werden. Der Beitrag zeigt einige konzeptionelle Entwicklungspfade auf, die den endogenen Potentialen der Regionen ebenso Rechnung tragen wie dem Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft. In jedem Falle gilt, pro-aktiv gegenzusteuern.

Demografischer Wandel: Begriffsbestimmung Der Begriff »demografischer Wandel« steht zuvorderst für demografische Schrumpfungstendenzen, die die gesamte Bundesrepublik Deutschland erfasst haben. Allerdings vollzieht sich dieser Prozess in den neuen Ländern aufgrund des transformationsbedingten wirtschaftlichen Strukturbruchs von der zentralen Verwaltungswirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft tiefgreifender und schneller als in den alten Ländern. Hier zeigt sich in besonderer Weise das Zusammenspiel von ökonomischen Rahmenbedingungen und demografischen Rückkopplungseffekten. Die Entflechtung der Kombinatsbetriebe, die Privatisierung ihrer Filetstücke und die Liquidation der wenig überlebensfähigen Unternehmensteile führten zu einem enormen Verlust an Großbetrieben und Arbeitsplätzen. Dort, wo die Privatisierung gelang, war sie neben der Konzentration auf die Kernkompetenzen und entsprechendem Arbeitsplatzabbau in der Regel auch mit dem Verlust der Headquarterfunktion verbunden. Das bedeutete, Unternehmenszentrale und Forschungsabteilung der ehemals großen Betriebe

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Marion Eich-Born

waren nach der Umstrukturierung außerhalb des Freistaats verankert. Am Standort blieben lediglich verlängerte Werkbänke, die extrem konjunkturanfällig und kaum in der Lage sind, mit innovativen Produkten neue Märkte zu erobern, die wiederum hohe Produktpreise garantieren. Eine nachhaltige Entwicklung der transformierten Unternehmenslandschaft geschweige denn von ihnen ausgelöste regionalökonomische Wachstumseffekte lassen sich unter diesen Voraussetzungen nur sehr eingeschränkt gestalten. Ohne größere Gewinnmargen wiederum lassen sich kaum höhere Löhne generieren. Diese stellen aber eine elementare Voraussetzung dar, um Menschen im Land zu halten bzw. Zuwanderung realisieren zu können. Die Folge dieses Strukturbruchs war ein demografischer Erosionsprozess: Hatte Thüringen 1990 noch 2,7 Mio. Einwohner, so waren es 20 Jahre später nur noch 2,2 Mio. Das entspricht einem Verlust von 14 Prozent gegenüber 1990. Die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung geht für 2030 wiederum von einer weiteren erheblichen Abnahme der Bevölkerung bis auf 1,8 Mio. aus.1 Der Schrumpfungsprozess wurde und wird von zwei Komponenten bestimmt, der geografischen und der natürlichen Bevölkerungskomponente (vgl. Abbildungen 1 und 2). Die geografische Komponente konstituiert sich aus Abwanderung und Zuwanderung. Wird das Wendejahr 1989 einbezogen, so haben mehr als eine Million Einwohner den Freistaat Thüringen verlassen, wohingegen im gleichen Zeitraum 749.463 Personen zugewandert sind. Daraus resultiert eine geografisch bedingte Bevölkerungsabnahme in Höhe von 251.226. Das entspricht 52,5 Prozent der Gesamtverluste. Allein 1989 und 1990 verließen 80.000 Thüringerinnen und Thüringer den Freistaat, die meisten gingen in die alten Bundesländer. Paradoxerweise geht das demografische Erstarken der alten Bundesländer ursächlich auf das Konsumverhalten der Menschen in den neuen Bundesländern zurück. Die plötzliche Erweiterung des deutschen Marktgebiets war mit einer schlagartigen Nachfrage nach Westprodukten bei gleichzeitigem Nachfrageeinbruch für Ostprodukte in den neuen Bundesländern verbunden. Daraus resultierte ein gestiegener Arbeitskräftebedarf in den Unternehmen der alten Bundesländer, die zugleich mit erheblich höheren Löhnen ein schnell umsetzbares Wohlstandsangebot an die neuen Bundesbürger unterbreiten konnten. Umgekehrt verhieß der kolossale Arbeitsplatzeinbruch in den neuen Ländern auf lange Sicht nicht viele verheißungsvolle Möglichkeiten zur Gestaltung eines persönlichen wirt-

1 ������������������������������������������������������������������������ Thüringer Landesamt für Statistik (TLS) (Hg.): 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Erfurt 2010.

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Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

schaftlichen Aufschwungs. All dies waren ganz entscheidende Push- und Pull-Faktoren für den demografischen Prozess. Von 1992 bis 1996 deutete sich zunächst eine geografische Demografiewende an. Die wenn auch sehr niedrigen positiven Wanderungssalden dieser Zeitspanne reflektieren die Aufbruchstimmung, die mit dem nahezu abgeschlossenen unternehmensbezogenen Umbau durch die Treuhandanstalt und den vereinbarten Beschäftigungsgarantien in den ersten Folgejahren verbunden war. Seit 1997 ist der Wanderungssaldo bis heute allerdings wieder negativ, wenn auch in den letzten Jahren mit rückläufigem Trend. Für die zukünftige Entwicklung des Freistaats erweist sich jedoch die selektive Abwanderung der überwiegend jungen, qualifizierten Einwohner als nachhaltig negativ, denn sie wären die kreativen und innovativen Impulsgeber für erfolgreiche Unternehmens- und Regionalentwicklungen. In zweifacher Hinsicht problematisch ist die selektive Abwanderung der jungen, hochqualifizierten Frauen, die zusätzlich als poten­tielle Mütter der nachfolgenden Generation im Freistaat Thüringen verloren gegangen sind. Abbildung 1: Geografische Bevölkerungsentwicklung Thüringens 1985–2010 Anzahl

50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0 1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Jahr

‐10.000 ‐20.000 ‐30.000 ‐40.000 ‐50.000 über die Landesgrenzen Zugezogene

über die Landesgrenzen Fortgezogene

Saldo Zu‐/Wegzug

Quelle: TLS 2011, Darstellung Cathleen Röhrig.

Die natürliche Bevölkerungskomponente ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Geborenen und Gestorbenen. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass sich bereits zu DDR-Zeiten ein nicht unerheblicher Rückgang der Fer-

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Marion Eich-Born

tilität abzeichnete. Für 1980 wies die Statistik noch über 40.000 Neugeborene aus, im Verlauf der 1980er Jahre gingen die Geburten jedoch kontinuierlich zurück und erreichten 1989 schließlich nur noch knapp über 31.000. Unmittelbar vor der Wende lag die Geburtenrate noch bei 2,5 je Frau im gebärfähigen Alter zwischen 15 und 45 Jahren. Mit der ökonomischen Systemwende kam es bei dieser Bevölkerungskomponente zu einem tiefgreifenden Einbruch: Die Geburtenrate sank 1994 auf einen bedrohlichen Tiefststand von 0,77. Das bedeutete im gleichen Jahr lediglich 12.721 Neugeborene. In den Folgejahren stabilisierten sich die Geburtenzahlen auf dem westdeutschen Niveau (1,4). Auch wenn sich mit diesem Wert ein Ausgleich gegenüber den alten Ländern entwickelt hat, so wirkt der Einbruch der Geburten Mitte der 1990er Jahre mehr als 20 Jahre später als demografisches Echo nach: Die damals nicht geborenen potentiellen Mütter können auch 20 Jahre später keinen Beitrag zum Generationenvertrag im Freistaat Thüringen leisten. In der Summe stehen für den Zeitraum von 1989 bis 2010 insgesamt 385.714 Geborene 612.603 Gestorbenen gegenüber, woraus sich ein negativer natürlicher Saldo von 226.889 ergibt. Das entspricht einem Anteil von 47,5 Prozent am Bevölkerungsverlust. Abbildung 2: Natürliche Bevölkerungsentwicklung in Thüringen 1985–2010 Anzahl

20.000 15.000 10.000 5.000 0 1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Jahr

‐5.000 ‐10.000 ‐15.000 ‐20.000 ‐25.000 ‐30.000 ‐35.000 Lebendgeborene

Gestorbene ( ohneTotgeborene )

Saldo Geborene/Gestorbene

Quelle: TLS 2011, Darstellung Cathleen Röhrig.

Die Entwicklung der beiden Bevölkerungskomponenten über die letzten 20 Jahre hinweg hat im Zusammenwirken mit der ohnehin erhöhten Lebens-

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Demografischer Wandel als Chance für Thüringen 101 99 97 95 93 91 89 87 85 83 81 79 77 75 73 71 69 67 65 63 61 59 57 55 53 51 49 47 45 43 41 39 37 35 33 31 29 27 25 23 21 19 17 15 13 11 9 7 5 3 1

Männer

2010 2030

25 000 20.000 15.000

10.000

5.000

Abbildung 3: Bevölkerungs­ pyramide des Freistaats Thüringen 2010 und 2030

Frauen

2010 2030

Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik 2011.

5.000

10.000

15.000

20.000

25.000

erwartung zu einer beschleunigten Überalterung beigetragen, die auch zukünftig progressiv fortschreiten wird, wie der Kontrast des Balkendiagramms (2010) und des Liniendiagramms (2030) in Abbildung 3 deutlich macht.

– Die Generation der bis zu 20-Jährigen sank von 25,4 % auf 14,3 % bis 2010 und wird bis 2030 auf diesem Prozentanteil an der Gesamtbevölkerung verbleiben, wenn auch mit deutlich niedrigerem absoluten Wert.2 2 Ebenda.

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Marion Eich-Born

– Die Generation der Erwerbsfähigen von 20 bis unter 65 Jahren stieg dagegen leicht an: von 60,9 % auf 62,6 %, bis 2030 schrumpft diese Basis jedoch auf bedrohliche 49 %. – Die Generation der Senioren (65 und älter) nahm dagegen von 13,7 % auf 23,1 % zu, bis 2030 wird sie auf 39 % anwachsen.3 – In Verbindung mit der höheren Lebenserwartung hat diese strukturelle Verschiebung zu einer deutlichen Anhebung des Durchschnittsalters geführt: 1990: 37,4 Jahre, 2010: 46 Jahre, 2030: 51,4 Jahre.4 – Die Bevölkerungspyramide legt das Defizit an Frauen zwischen 23 und 31 Jahren offen. Die Altersgruppe erreicht im Gegensatz zu den Männern die Marge 15.000 für keinen Jahrgang.

Demografischer Wandel: ein geografisch und zeitlich differenzierter Prozess Wird die Bevölkerungsentwicklung einer räumlich differenzierten Analyse auf Kreis- und Gemeindeebene unterzogen, so zeichnet sich ein heterogenes Bild ab. Über den gesamten Zeitraum der letzten 20 Jahre hinweg kristallisieren sich Gewinner- und Verliererregionen heraus, für die die Wechselwirkungsrelationen von harten und weichen Standortfaktoren verantwortlich zeichnen dürften. Unter den Kreisen kann lediglich die kreisfreie Stadt Weimar auf einen, wenn auch geringen, Zuwachs der Einwohner (+1,9 %) verweisen. In der Rangfolge schließt sich Jena mit dem geringsten Bevölkerungsverlust (-0,5 %) an (vgl. Tabelle 1). Beide Standorte verfügen über Hochschulen, die Bauhaus Universität und die Musikhochschule in Weimar und die Friedrich-SchillerUniversität als auch die Ernst-Abbe-Fachhochschule in Jena, die Chancen für eine Verstetigung jungen Lebens und eines entsprechenden Lebensstils bergen. Während sich Weimar als Kulturwiege des Freistaats einen Namen erworben hat, der global bekannt ist, und mit diesem Prädikat über eine hohe Anziehungskraft für potentielle Neubürger verfügt, kann Jena auf eine historisch lang angelegte Unternehmenstradition verweisen. Die Ankerpersönlichkeit Carl Zeiss legte 1846 mit der Gründung seiner mechanischen Werkstatt die Wurzeln für den späteren Industriestandort, den er über die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Chemiker Otto Schott und dem Physiker Ernst Abbe schließlich zu einem Technologiestandort ausbaute, bei dem die Vernetzung von Unternehmen und Wissenschaft die besten Voraus3 Ebenda. 4 Ebenda.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

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setzungen für immer wieder neue Innovationspfade schuf. Der transformationsbedingte Umbau hat zwar einen erheblichen Arbeitsplatzeinbruch bewirkt, aber zugleich die Basis für die zukünftigen Entwicklungskerne rund um die Optik neu belebt. Eine Veröffentlichung des Kompetenznetzwerks OptoNet e. V. weist für den Standort Jena und seine weitere Umgebung 100 Unternehmen aus, die einen Jahresumsatz von 1,32 Mrd. Euro erwirtschaften. 24 % dieser Unternehmen bekunden, mit ihrem Hauptprodukt die Technologieführerschaft innezuhaben. Die räumliche Nähe von Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen ist für diese Entwicklung eine Grundvoraussetzung. Stellvertretend für die vielen Institute sei an dieser Stelle auf das Institut für Photonische Technologien und das Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik verwiesen. Den öffentlichen Forschungseinrichtungen kommt vor dem Hintergrund der damaligen Privatisierungsergebnisse, die zum Abbau der Forschungsabteilungen beigetragen haben, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Zuge des Transformationsprozesses zu. Schließlich ist es auch mit ihrer Hilfe gelungen, das industrielle Paradigma des Standortes Jena erheblich zu diversifizieren, sich auf neue technologische Entwicklungspfade zu begeben, die eine Lösung konkreter ökonomischer und gesellschaftlicher Probleme anbieten. Neben der optischen Technologie haben weitere Zukunftstechnologien mit entsprechenden Innovationsaktivitäten in Jena Fuß gefasst bzw. ihren historisch angelegten Entwicklungspfad ausbauen können, wie etwa die Medizintechnik, die Bioanalytik, die Photovoltaik und die Pharmakologie. Auch wenn Jena seit 1990 insgesamt Bevölkerung verloren hat, ist der geografische Saldo seit 2006 kontinuierlich positiv mit einem Zuwachs in toto von 2.635 Einwohnern. Das entspricht einem relativen Zugewinn von 2,5 %. Ebenso geht die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung bis 2030 von einer weiteren Zunahme aus. Aufgrund seiner jüngeren demografischen Entwicklung, der unternehmerischen, branchenstrukturellen sowie wissenschaftlichen Basis kann Jena mit Fug und Recht als Leuchtturm des Freistaats Thüringen bezeichnet werden.

160 Tabelle 1:

Marion Eich-Born

Bevölkerungsentwicklung 1990–2010 nach kreisfreien Städten und Landkreisen

Kreisfreie Stadt Landkreis Land

Einwohner 31.12.1990

Einwohner 31.12.2010

Stadt Erfurt

224.461

204.994

-19.467

-8,7

Stadt Gera

134.116

99.262

-34.854

-26,0

Stadt Jena

105.610

105.129

-481

-0,5

Stadt Suhl

57.318

38.776

-18.542

-32,3

Stadt Weimar

64.246

65.479

+1.233

+1,9

Stadt Eisenach

49.610

42.750

-6.860

-13,8

Eichsfeld

116.808

105.195

-11.613

-9,9

Nordhausen

105.462

89.963

-15.499

-14,7

Wartburgkreis

151.750

130.560

-21.190

-14,0

Unstrut-HainichKreis

126.349

108.758

-17.591

-13,9

Kyffhäuserkreis

103.084

81.449

-21.635

-21,0

SchmalkaldenMeiningen

152.128

129.982

-22.146

-14,6

Gotha

153.198

138.056

-15.142

-9,9

Sömmerda

83.687

72.877

-10.810

-12,9

Hildburghausen

76.363

67.007

-9.356

-12,3

128.622

112.350

-16.272

-12,7

Weimarer Land

88.640

84.693

-3.947

-4,5

Sonneberg

73.165

59.954

-13.211

-18,1

SaalfeldRudolstadt

144.983

116.818

-28.165

-19,4

Saale-HolzlandKreis

93.857

86.809

-7.048

-7,5

Saale-Orla-Kreis

105.131

87.799

-17.332

-16,5

Greiz

132.073

107.555

-24.518

-18,6

Altenburger Land

129.086

98.810

-30.276

-23,5

2.599.747

2.235.025

-364.722

-14,0

635.361

556.390

-78.971

-12,4

1.964.386

1.678.635

-285.751

-14,5

Ilm-Kreis

Thüringen Kreisfreie Städte Landkreise

Quelle: TLS Thüringen 2012.

Bevölkerungsveränderung 1990–2010 absolut

Bevölkerungsveränderung 1990–2010 in Prozent

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

161

Unter den kreisfreien Städten nimmt die heutige Landeshauptstadt eine Zwitterstellung ein. Traditionsbedingt verfügt sie kaum über eine nennenswerte industrielle Basis. Sie war schon zu DDR-Zeiten Bezirkshauptstadt, und die Funktionsübernahme als Landeshauptstadt hat einen sektoralen Strukturbruch abgefedert. Aus diesem Grund liegt der Bevölkerungsverlust in den letzten 20 Jahren mit -8,7 % erheblich unter dem durchschnittlichen Bevölkerungsverlust des Freistaats (-14,0 %). Seit 2006 haben die Einwohnerzahlen bis heute kontinuierlich um insgesamt 2.336 zugenommen. Ursächlich für diese Entwicklung ist ein positives Zusammenwirken von harten und weichen Standortfaktoren. Erfurt zählt aufgrund seiner Stadtgeschichte und der ausgesprochen gelungenen Restaurierung seiner historischen Bausubstanz aus allen bedeutenden Bauzeitaltern zu den schönsten Städten der Bundesrepublik Deutschland. In den vergangenen Jahren ist es der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) gelungen, die neu geschaffenen infrastrukturellen Vorteile für den Ausbau des sekundären und tertiären Sektors in einem neuen Industrie- und Gewerbepark am Erfurter Kreuz zu nutzen. Mit der neu gebauten A 71, die als Nord-Süd-Achse die west-ostverlaufende A4 westlich von Erfurt quert, ist die Stadt nicht nur im rein geografischen, sondern auch im verkehrsstrategischen Sinne in die Mitte Deutschlands gerückt. Dies hat zu zahlreichen Neuansiedlungen am Erfurter Kreuz beigetragen (78 Unternehmen mit insgesamt 4.745 Beschäftigten: Stand nach LEG 2010). Jedoch anders als im Falle Jenas ist hier ein weniger technologieintensives Branchenspektrum anzutreffen. Allein 35  % der Ansiedlungen sind dem Handel zuzuordnen. In den letzten Wochen hat das Erfurter Kreuz ebenfalls als Logistikstandort auf sich aufmerksam gemacht. Zalando wird in Kürze eine neue Niederlassung mit ca. eintausend Beschäftigten eröffnen. Drei weitere Logistiker sind schon am Standort tätig. Allerdings lässt sich von dieser Branche kaum eine Steigerung des regionalen Wohlstands erwarten, denn die niedrigen Löhne können den regionalen Wirtschaftskreislauf kaum verstärken. Technologisch zukunftsweisender sind die Unternehmen der Solarindustrie (5), wenn es gelingen würde, über beständige Innovation der aufholenden Solarbranche aus China auch weiterhin den Rang abzulaufen. Die Kürzungen der Markteinführungssubventionen werden jedoch den chinesischen Modulen Tür und Tor des deutschen Marktes öffnen. Außerdem sind die Automobilindustrie (4), die Medizintechnik (2) und der Maschinenbau (5) mit Unternehmen präsent, einige Firmen sind mit der Wissenschaft in räumlicher Nähe, der TU-Ilmenau, vernetzt. Ein Blick auf Karte 1 (S. 163) zeigt die Impulswirkung der Städte Weimar, Jena und Erfurt auf das Hinterland. Für die beiden letzten Dekaden ist die

162

Marion Eich-Born

Suburbanisierungswirkung in den umliegenden Nachbargemeinden offensichtlich. Karte 2 legt den Trend für den Zeitraum von 2006 bis 2009 und die damit verbundene Stabilisierung des Prozesses offen. Die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Karte 3) weist für den im Süden an die Stadt Erfurt angrenzenden Ilmkreis und den Jena in Form eines Mantels nahezu vollständig umschließenden Saale-Holzland-Kreis die niedrigsten demografischen Schrumpfungsraten aus. Intraregional dürften sich wie in den vergangenen Jahren auch weitere Wachstumsinseln innerhalb dieser Landkreise etablieren. Es ist Aufgabe der Wirtschafts- und Regionalentwicklungspolitik, diese Prozesse zu analysieren, die möglichen Impulswirkungen der drei Wachstumskerne Weimar, Jena und Erfurt auf die Wachstumsinseln im Umland zu identifizieren und in entsprechender Weise gezielt zu unterstützen. Interessant dürfte in diesem Zusammenhang insbesondere die Entwicklung entlang des Flusslaufs der Saale werden mit Dornburg-Camburg im Norden Jenas. Hier stellen neben dem idyllischen Blick auf den Fluss die attraktive Schlosslandschaft und der Weinanbau an den Saaletalhängen nicht zu unterschätzende weiche Standortfaktoren dar. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass die Gründungsväter und -mütter der 2004 geschaffenen Kommunalen Arbeitsgemeinschaft Region Erfurt – Weimar/Weimarer Land – Jena in jedem Falle sehr weitsichtig gewesen sind, zumal sich diese Entwicklung damals noch nicht statistisch nachweisen ließ. Die Impulsregion sollte in jedem Fall um die beiden Landkreise Ilm und Saale-Holzland erweitert werden. Als Problemregionen stellen sich über beide Dekaden hinweg der Kyffhäuserkreis (-21 %) und das Altenburger Land (-23,5 %), aber auch die kreisfreien Städte Gera (-26 %) und Suhl (-31 %) dar. Dort sind die demografischen Schrumpfungsprozesse weit über dem Thüringer Durchschnitt (-14 %), selbst in der jüngeren Vergangenheit bzw. in der Vorausberechnung ist dieser Trend ungebrochen. Hier gilt es, den ländlichen Raum mit seinen spezifischen Potentialen weiter in Wert zu setzen. Die südliche Korona der Nachbarlandkreise zu Bayern, Saale-Orla (-16,5 %), Saalfeld-Rudolstadt (-19,4 %), Sonneberg (-18,1 %), aber auch der Nachbarkreis zu Sachsen, Greiz (-18,6 %), liegen mit ihren Bevölkerungsverlusten der vergangenen 20 Jahre ebenfalls über dem Thüringer Durchschnittswert, allerdings unterhalb der 20-Prozent-Marge. Insbesondere für die drei erstgenannten dürfte die Nähe zum prosperierenden Bayern die Bereitschaft zur letztendlichen Abwanderung unterstützen. Das katholische Eichsfeld spielt im Reigen der Landkreise durchaus eine besondere Rolle. Die Bevölkerungsabnahme ist mit -9,9 % kaum merklich höher als in der Landeshauptstadt. Die Arbeitsplatzangebote in den nah gelegenen größeren Städten von Hessen und Niedersachsen in Verbindung mit der historisch gewachsenen Ortsverbunden-

Hrsg.: TMBLV, Ref. 31, Raumbeobachtung Quelle: TLS 2011, eig. Berechnungen

SchmalkaldenMeiningen

Wartburgkreis

Eisenach Jena Jena

Saale-Orla-Kreis

Saale-HolzlandKreis

Saalfeld-Rudolstadt

Sonneberg

Ilm-Kreis

Hildburghausen

Suhl

Gotha

Weimar

Weimarer Land

Sömmerda

Erfurt

Kyffhäuserkreis

Unstrut-Hainich-Kreis

Eichsfeld

Nordhausen

Greiz

Gera

im Bau

Bestand

Autobahn

Altenburger Land

stabile Einwohnerzahl bzw. Anstieg

Rückgang um bis zu 10%

Rückgang um 10% bis 15% (Wert für Thüringen: 14,4%)

Rückgang um 15% bis 20%

Rückgang um 20% und mehr

Karte 1

Entwicklung der Bevölkerungszahl Thüringer Gemeinden im Zeitraum 1990 bis 2010

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

163

heit lassen die Trennung von Wohnen und Arbeiten gut miteinander vereinbaren. Auch der Landkreis Gotha (-9,9 %) profitiert von der räumlichen Nähe zu einer ökonomischen Wachstumsregion, in diesem Fall Erfurt.

Hrsg.: TMBLV, Ref. 31, Raumbeobachtung Quelle: TLS 2010, eig. Berechnungen Gebietsstand: 31.12.2009

Hildburghausen

Suhl

Saalfeld-Rudolstadt

Weimarer Land

Weimar

Sömmerda

Sonneberg

Erfurt

Ilm-Kreis

Kyffhäuserkreis

Gotha

Unstrut-Hainich-Kreis

Schmalkalden-Meiningen

Wartburgkreis

Eisenach

Eichsfeld

Nordhausen

Saale-Orla-Kreis

Saale-Holzland-Kreis

Jena

Greiz

Gera

Altenburger Land

stabile Entwicklung oder Zuwachs

geringe Verluste (bis 2%)

durchschnittliche Verluste (2% bis 4%)

starke Verluste (4% bis 6%)

sehr starke Verluste (6% und mehr)

Karte 2

Entwicklung der Bevölkerung der Thüringer Gemeinden von 2006 bis 2009 in % (01.01.2006 = 100%)

164 Marion Eich-Born

Leinefelde-Worbis

Gotha

Ruhla Friedrichroda

Suhl

Ilmenau

Hrsg.: TMBLV, Raumbeobachtung Quelle: TLS 2011, eigene Berechnungen

Grabfeld

Hildburghausen Eisfeld

Roßleben

Eisenberg

Stadtroda Hermsdorf

Bad Klosterlausnitz Gera

Ronneburg

Saalfeld/ Saale

Sonneberg

Sonneberg

Lauscha

Neuhaus a.Rw.

Schleiz

Bad Lobenstein

Saale-Orla-Kreis

Saalfeld-Rudolstadt

Gößnitz

Schmölln

Altenburger Land

Altenburg

Meuselwitz

Weida Kahla UhlstädtNeustadt/Orla Kirchhasel Rudolstadt Greiz Pößneck Bad Blankenburg Königsee Unterwellenborn Zeulenroda-Triebes Greiz

Jena

Dornburg-Camburg

Zuwachs

Rückgang bis zu 10%

Rückgang um 10% bis 20%

Rückgang um 20% bis 30%

Saale-Holzland-Kreis

Blankenhain

Bad Berka

Weimar Apolda

Weimarer Land

Kölleda Sömmerda

Ilm-Kreis

Schmalkalden- Hildburghausen Meiningen Schleusingen

Meiningen

Zella-Mehlis

Floh-Seligenthal SteinbachHallenberg Schmalkalden

Ohrdruf

Artern

Rückgang um 30% und mehr

Veränderung der Einwohnerzahl nach der 12. kBV

Karte 3

Vorausberechnung der Bevölkerung der Ober- und Mittelzentren sowie der Städte über 5.000 Einwohner und der verbleibenden Kreisgebiete von 2009 bis 2030

Sömmerda

Erfurt

Arnstadt

NesseApfelstädt

Drei Gleichen

Gotha Wutha-Farnroda Waltershausen

Bad Salzungen

Wartburgkreis

Gerstungen

Bad Langensalza

Hörselberg-Hainich Eisenach

Bad Frankenhausen

Kyffhäuserkreis

Sondershausen

Treffurt Unstrut-Hainich-Kreis

Mühlhausen/Thüringen

Eichsfeld

Heiligenstadt

Nordhausen Heringen/Helme Bleicherode

Nordhausen

Ellrich

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

165

166

Marion Eich-Born

Dass der Freistaat den demografischen Paradigmenwechsel erzielen kann, zeichnet sich auch für die Landkreise Nordhausen und Hildburghausen in der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung ab. Die beiden gleichnamigen Kreisstädte erfahren Zuwachs und stellen somit für ihr Umland wiederum impulsgebende Wachstumskerne dar.

Zentrale Orte und demografischer Wandel Die geografisch differenzierte Betrachtung des demografischen Wandels unterstreicht die Bedeutung von zentralen Orten für die weitere Entwicklung des Freistaats: Sie sind in der Tat die Ankerpunkte und Impulsgeber für die weitere Entwicklung. Thüringen verfügt auf Basis seiner langjährigen Geschichte mit den vielen Kleinstaaten und Fürstentümern über ein nahezu homogenes Netz von Klein- und Mittelstädten. Nicht umsonst wird Thüringen als das Land der Residenzen bezeichnet (über 30 aus über 400 Jahren)5. Die Impuls gebende Wirkung vollzieht sich quasi in einem Kaskaden­ modell: Ausgehend von den Oberzentren/kreisfreien Städten mit günstigen infrastrukturellen und ökonomischen Standortvoraussetzungen folgen schließlich die Mittelzentren als Impulsgeber für ihr Umland. In den Unterzentren haben sich diese Impulswirkungen nur sehr eingeschränkt oder noch gar nicht entfalten können. Dieser Tatbestand hat in Verbindung mit den finanzpolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu einer heißen Diskussion über Anpassungsmaßnahmen im Zentrale-Orte-System geführt. Die finanzpolitischen Herausforderungen lassen sich an zwei Eckpunkten festmachen: – Weniger Finanzausgleichsmittel: Aufgrund der Bevölkerungsverluste werden sich im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs Mindereinnahmen von 50 Mio. Euro jährlich für den Freistaat ergeben. – Weniger zusätzliche Transferleistungen: Auslaufen der Ziel-1-Förderung, degressive Entwicklung des Solidarpakts bis 2019. 2010 erhielt der Freistaat noch 1,7 Mrd. Euro Solidarpaktmittel, mit Blick auf den Jahreshaushalt entsprach das jedem sechsten darin veranschlagten Euro. Bis 2019 wird diese Position auf Null heruntergefahren.6 5 Thüringer Minister für Bau, Landesentwicklung und Verkehr (Hg.): 1. Entwurf Landesentwicklungsprogramm LEP Thüringen 2025. Kulturlandschaft im Wandel. Herausforderungen annehmen. Vielfalt bewahren. Veränderungen gestalten, Erfurt 2011, S. 20. 6 Ebenda, S. 8.

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Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

Im Zuge dieser Finanzdiskussionen wurden Forderungen nach einer Aufhebung des dreistufigen Zentrale-Orte-Systems laut, zumindest aber nach einer erheblichen Reduzierung der Unterzentren gemessen an den veränderten Einwohnerpotenzialen durch den demografischen Wandel. Die gemäßigtere Variante dieser Argumentationslinie vertritt die Forderung nach Einstellung der Differenzierungen wie Mittelzentren mit Teilfunktionen oder Grundzentren mit Teilfunktionen eines Mittelzentrums. Die andere Argumentationslinie fordert eine Flexibilisierung der Funktionszuweisungen (vgl. Tabelle 2) auf Basis der demografischen Gegebenheiten. Denkbar ist in diesem Sinne die Beibehaltung der Grundzentren, allerdings mit flexiblen Daseinsgrundfunktionen. Arzt und Apotheke als Grundvoraussetzung eines Grund­ zentrums können auch durch das in Mecklenburg-Vorpommern verfolgte »Konzept der Schwester Agnes«, die ambulant Patienten mit einfachen medizinischen Diensten versorgt (Überprüfung des Blutdrucks, Verbandswechsel, einfache psychologische Betreuung von Patienten), wie dem ambulanten Hausarzt, der die Medikamentenversorgung in Kooperation mit Schwester Agnes sicherstellt, ersetzt werden.7 Tabelle 2:

Funktionszuweisungen für die zentralen Orte

Unterzentrum Unterste Verwaltungsbehörde Post Kirche Mittelpunktschule Geschäfte der Grundversorgung Apotheke Arzt und Zahnarzt Sparkasse Bäuerliche Genossenschaft

Mittelzentrum Oberzentrum Alles aus den Unterzentren Alles aus den Mittelzentren Vollausgebaute höhere Schule Berufsschule Krankenhaus Facharzt

Waren- und Kaufhäuser

Notar, Anwalt Steuerberater Kulturelle Angebote

Theater Museen Regionalbehörden Wirtschaftsgebäude

Spezialgeschäfte Hoch- und Fachschulen Spezialkliniken

Quelle: LEP 2001, unveröffentlichter Entwurf des LEP 2004.

7 ������������������������������������������������������������������������� Thomas Kopetsch: Ärztliche Versorgungsplanung auf Knopfdruck, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 14– 17; Jürgen Herdt: Sonderexpertise Gesundheitswesen, in: ebenda, S. 9 f.

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Marion Eich-Born

Ländlicher Raum: Neue Aufgabenfelder für die Organisationsstruktur der traditionellen landwirtschaftlichen Basis Längst haben sich die Agrargenossenschaften in den neuen Ländern eine Vielfalt von neuen Aufgaben gesucht, mit denen sie auch zur Daseinsvorsorge im ländlichen Raum einen Beitrag leisten. Beispielhaft sei an dieser Stelle die Agrargenossenschaft Bösleben in der Nähe von Erfurt dargestellt, die neben dem alten Kerngeschäft der Tier- und Pflanzenproduktion eine Vielzahl neuer Standbeine aufgebaut hat, wie etwa die Bauernscheune Bös­ leben, die für Festivitäten vermietet wird, die Tankstelle, an der Biodiesel angeboten wird, der Agrarshop, in dem zusätzlich technische Agrarprodukte zum Verkauf angeboten werden, ein Partyservice, ein Menüdienst (Essen auf Rädern), die Landschmaus-Fleischerei, die Pension Schwalbennest oder der Futtermittelhandel.8 Ländlicher Raum: Das neue Aufgabenfeld Erneuerbare Energien Eines der erfolgreichsten Beispiele für eine gelungene Regionalentwicklung im ländlichen Raum ist der Standort Güssing im Burgenland/Österreich, der Anfang der 1990er Jahre ähnliche Merkmale aufwies wie die Landkreise im Freistaat Thüringen unmittelbar nach der Wende: ländlich geprägter Raum mit dem Städtchen Güssing (deutlich unter 5.000 Einwohner) innerhalb des gleichnamigen Bezirks (ca. 26.000 Einwohner), zweistellige Arbeitslosenquoten, Abwanderung und Wochenpendler zur Bundeshauptstadt Wien. Diesem freien Spiel der Kräfte, das die regionalen Disparitäten zwischen der Wachstumsregion Wien und der Region Güssing im Burgenland immer weiter ausbaute, wollte der damals neu gewählte Bürgermeister ganz im Sinne Myrdals9 pro-aktiv durch den Aufbau eigener Produktionen für den lokalen Markt und die Entwicklung eigener Wirtschaftskreisläufe entgegensteuern. Er stellte die Weichen für einen innovativen, auf erneuerbare Energien setzenden Entwicklungspfad auch mit dem Ziel, das kleine Städtchen Güssing zu einem Mekka der erneuerbaren Energien auszubauen. 1991 war die regionale Wertschöpfung im Energiesektor für alle drei Märkte – Strom, Wärme und Verkehr – in einem massiven Ungleichgewicht. Während knapp über 600.000 Euro an Wert für die Erzeugung von Energie 8 Vgl. den Internetauftritt der AGRAR Genossenschaft Bösleben e. G. unter www. kornbett.de. 9 ���������������������������������������������������������������������������������� Myrdal 1974, in: Ludwig Schätzl: Wirtschaftsgeografie 1. Theorie, 8. Aufl., Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, S. 44.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

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am Standort verblieben, gingen der Region 6,2 Mio. Euro für den Einkauf extern produzierter Energie verloren. Seit 1991 wurden die erneuerbaren Energien breit diversifiziert ausgebaut: Photovoltaik, Solar, Biomasse, Erdwärme. Längst wurde das Projekt von der Stadt auf den Bezirk Güssing ausgedehnt. Die bedeutendsten Großanlagen der Region sind ein BiomasseFernheizwerk, eine Biodieselanlage und ein Biomasse-Kraftwerk sowie eine Methanisierungsanlage. Im Umkreis von Güssing gibt es heute schon mehr als 30 weitere Anlagen auf der Basis unterschiedlichster Technologien. Schon 2005 konnte die regionale Wertschöpfung im Energiebereich auf 13,6 Mio. Euro erhöht werden, 2011 waren es bereits 22 Mio. Euro. Ein entscheidender Katalysator auf diesem Weg war das 1996 gegründete Europäische Zentrum für Erneuerbare Energien, das nachhaltige, regionale und kommunale Konzepte zur Einsparung von Energie und zur Nutzung erneuerbarer Energien erarbeitet. Es versteht sich als Netzwerker, der Wirtschaft, Forschung und Anlagenbauer zu konkreten Fragestellungen zusammenführt. Zu dem direkten Wohlstandseffekt kamen dank der günstigen Energiepreise in der Region und eines konsequenten Marketings nach innen und außen weitere indirekte Multiplikatoreffekte hinzu: die Neuansiedlung von 50 Betrieben, die Schaffung von mehr als 1.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen sowie eine Diversifizierung der wirtschaftlichen Standbeine nicht nur im Energiesegment, sondern auch im Ökotourismus. Der Versorgungsgrad mit erneuerbarer Energie liegt für Wärme bereits bei 71,73 %, für Strom bei 33,73 % und für Treibstoff bei 46,67 %. Weil die Bedarfe in den letzten zwei genannten Märkten ganz besonders schnell ansteigen, sollen die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in diesen beiden Segmenten in Zukunft verstärkt werden. Mit starken Netzwerken kleine Unternehmen einbinden »Es lohnt, die Potenziale der neuen Länder in wirtschaftlichen Zukunftsfeldern genauer zu betrachten und sie über Netzwerk- und Clustermanagement gezielter wirtschaftspolitisch zu begleiten.«10 So heißt es in einer Studie, die im Auftrag des Ostbeauftragten der Bundesregierung vom Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development Rostock erstellt wor10 ��������������������������������������������������������������������������� Gerald Braun/Marion Eich-Born (Hg.): Wirtschaftliche Zukunftsfelder in Ostdeutschland. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Der Beauftragte des Bundes für die Neuen Länder an das Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development, Rostocker Beiträge zur Regional- und Strukturforschung, Rostock 2008.

170

Marion Eich-Born

den ist. Der Freistaat Thüringen verfügt über ein beachtliches endogenes Potenzial in den sechs von der Studie bearbeiteten Zukunftsfeldern: Optik, Gesundheitswirtschaft inklusive Medizintechnik, Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie, Nanotechnologie und neue Werkstoffe. Ein zentrales Problem der neuen Länder generell ist jedoch die schon erwähnte Unternehmensstruktur: 95 % der Unternehmen haben weniger als 50 Beschäftigte und 85 % haben weniger als 20 Beschäftigte. Für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung des Freistaats ist das Wachstum dieser kleinen Unternehmen eine wesentliche Voraussetzung, denn die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Unternehmensansiedlungen von außen eher rar sind, sodass sich für die kleinen Unternehmen auch nicht so viele Chancen bieten werden, sich im Fahrwasser der Großen durch Einbindung in deren Wertschöpfungsketten weiterzuentwickeln. Auch wenn die exogene Wachstumsstrategie, Ansiedlung von außen, unbedingt weiterverfolgt werden muss, sollte die endogene Wachstumsstrategie, die Entwicklung der kleinen zu größeren Unternehmen, stärker in den Fokus der Wirtschaftsund Regionalentwicklungspolitik gerückt werden.11 Ein Blick auf die Betriebsdichte nach Kreisen im Freistaat Thüringen unterstützt diese These, denn die Stärke des Landes liegt in der im Vergleich zum Bundesdurchschnitt eindeutig höheren Betriebsdichte. Besonders ins Auge stechen die Landkreise Saale-Orla, Sonneberg, Schmalkalden-Meiningen, Wartburg, Hildburghausen und Ilm. Abbildung 4: Betriebsdichte der Industrie nach Thüringer Kreisen 2009

Betriebe je 100.000 EW

80

60

40

20

0 SON SM

WK HBN EA SHL

IK

SÖM GTH AP

WE

EF

EIC

UH NDH KYF SOK SLF

J

ABG SHK GRZ

G

TH BRD

Quelle: berechnet nach TLS 2010, Berechnung und Darstellung Cathleen Röhrig.

11 Marion Eich-Born: Mit starken Netzwerken kleine Unternehmen in den Wandel einbinden – das Projekt COMET stellt sich vor, in: Südthüringische Wirtschaft (hrsg. v. IHK Südthüringen), Nr. 6/2009, S. 7 f.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

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Diese Stärken gilt es durch eine intelligente Politik zu stärken, die die Kooperation von Unternehmen auf der Produktionsebene in Netzwerken und die Verbindung von Forschungseinrichtungen und Unternehmen zur Generierung innovativer Produkte in so genannten Clustern fördert. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: – Wie können sich potenzielle unternehmerische Partner finden, um gemeinsam die Wertschöpfungskette für ein Produkt zu gestalten? Dies ist insbesondere bei der kleinen Struktur der Unternehmenslandschaft schwierig, denn die Statistik erfasst lediglich die Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten umfassend. Es ist daher kein Wunder, wenn »sich Unternehmer­ nachbarn erst auf einer IHK-Veranstaltung kennenlernen, (dies) ist auch 20 Jahre nach der Wende keine Seltenheit« (Peter Traut, IHK-Präsident Südthüringen). Wir brauchen dringend Transparenz in der kleinteiligen Unternehmenslandschaft, denn ohne diese müssen auch Cluster- und Netzwerkmanager zwangsläufig im Nebel stochern.12 – Welche dieser Unternehmen sind in Zukunftsfeldern tätig, die mit ihren Produkten Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit geben? – Wie lassen sich die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Forschungsverbünde aufnehmen? Mit anderen Worten, wo wird was produziert, welche Forschungsfragen ergeben sich, um die hergestellten Produkte innovativer zu gestalten, welche Forschungseinrichtungen sind hierfür geeignet? Die Erfolgsgeschichte von Güssing fußt im Wesentlichen auf diesem Ansatz, dass Netzwerkorganisatoren Unternehmen, Forschung und Politik in der Frage der erneuerbaren Energien zusammengeführt haben. Diese Erfolgsgeschichte lässt sich auch in anderen Zukunftsfeldern realisieren. Eine Datenbank der Bundesagentur für Arbeit kann zur erforderlichen Transparenz der Unternehmenslandschaft im Freistaat Thüringen in Verbindung mit Unternehmensbefragungen einen wesentlichen Beitrag leisten. Im Übrigen lassen sich auf diese Weise auch Schrumpfungsregionen an die Wachstumsregionen des Freistaats andocken. Multitasking in der Einzelhandelsnahversorgung Der Lebensmittelhandel ist eine grundsätzliche Daseinsvorsorge, der in ländlichen Schrumpfungsregionen in Frage steht. In den letzten 20 Jahren hat sich 12 Ebenda.

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Marion Eich-Born

der Lebensmittelhandel ganz massiv aus der Fläche zurückgezogen. Laut einer Studie der IHK Erfurt macht dieser Rückzug 20 % der Einzelhandelsfläche aus dem Wendejahr aus.13 Allerdings haben vereinzelte Ketten, wie etwa Tegut und Rewe, das »Lädchen für alles« bzw. die »Nahkauf-Läden« im Zuge des demografischen Wandels als Chance für ihre Unternehmensentwicklung erkannt. Der Tegut-Chef Thomas Gutberlet hat die Läden auf dem Land mit einer Größe von 100 bis 300 qm als »zeitgemäße Neuschöpfung einer Verkaufsform« für Ältere bezeichnet. Die zunehmend alternde Gesellschaft benötigt eine ortsnahe Versorgung, die mit dem Angebot von BioProdukten aus der Region kombiniert wird. Bis Ende 2012 sollen 20 bis 25 Läden eröffnet sein, in Thüringen wurde das erste Ladenlokal im Dezember 2011 in Schönstedt eröffnet. Voraussetzung für die Umsetzung ist eine Gemeindegröße von mindestens 1.200 Einwohnern. Mit den Schlagwörtern Flexibilisierung und Bündelung lässt sich das Konzept sehr gut umschreiben, denn neben dem Lebensmittelangebot sind in der Regel auch weitere Funktionen verknüpft, wie etwa Lottodienstleistungen, Post- und Paketservice14, Reinigungsleistungen, aber auch die Funktion des Ortscafés. Oftmals ist das Zustandekommen solcher Multifunktionseinrichtungen das Ergebnis der Eigeninitiative von Ankerpersönlichkeiten vor Ort, die die Entwicklung nicht sich selbst überlassen wollen. Derartige Selbstverantwortungsräume, die mit »Raumpionieren« Lösungen für die Erhaltung von Mindeststandards suchen, werden im Freistaat Thüringen von der Serviceagentur Demografischer Wandel als Best-Practice-Beispiele auf ihrer Internetplattform bzw. auch auf ihren zahlreichen Veranstaltungen in den Regionen kommuniziert. Neue Herausforderungen für die Immobilienwirtschaft im ländlichen Raum Die demografischen Schrumpfungsprozesse führen zwangsläufig zu weiterem Leerstand von Immobilien, seien es Wohnhäuser oder Wirtschaftsgebäude.15 In manchen Orten sind ganze Straßenzüge betroffen, wobei mit dem Brachfallen Gebäudeverfall und Wertminderung der umliegenden nach wie vor bewohnten Immobilien verbunden ist. Da den Eigentümern der Leer13 IHK Erfurt (Hg.): Einzelhandelsatlas, Erfurt 2011, S. 1 ff. 14 Vgl. Stefan Greiving: Sonderexpertise Postwesen, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, a. a. O., S. 8. 15 Hans-Peter Gatzweiler: Daseinsvorsorge und Siedlungsentwicklung. Befunde zum demografischen Wandel aus Sicht der Raumordnung, Berlin 2011; TLG Immobilien: Immobilienmarkt Ostdeutschland 2011. Marktdaten der kreisfreien Städte und Berlins, Berlin 2011.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

173

standsgebäude in der Regel die Finanzmittel für den Abriss fehlen, ist die Einrichtung eines Fonds für Gebäudeabrisse unerlässlich.16 Auch die Erstellung von Demografieatlanten in Gemeinden des ländlichen Raums, die die zu erwartende demografische Entwicklung auf der Basis der derzeitigen Altersstruktur sowie der Kataster- und Liegenschaftsstruktur visualisieren, ist für die weitere Dorf- bzw. Stadtentwicklungsplanung eine Grundvoraus­setzung. Hier lassen sich in der Vorausschau Möglichkeiten für eine neue Innenentwicklung erschließen. Frauen-, kinder- und familienfreundliche Rahmenbedingungen Um insbesondere die jungen Frauen im Freistaat halten zu können bzw. sie aus den anderen Bundesländern anzuwerben, ist neben attraktiven Jobangeboten zugleich ein Lebensumfeld anzubieten, das der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in besonderer Weise Rechnung trägt. Die Flexibilisierung der Nutzungsmöglichkeiten (Schule, Kindergarten; Schule, Altentreff) spielt hierbei ebenso eine Rolle17 wie die Verknüpfung der zuvor genannten Analysen zu den Beschäftigungspotentialen in den regionalen KMU sowie die erwähnte Steuerung der Innenentwicklung auf dem Immobilienmarkt.18 Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Wir brauchen – mehr Selbstverantwortung in den Regionen, Unterstützung für Ankerpersönlichkeiten, – systematische Analyse der endogenen Potentiale in den jeweiligen Regionen, diese Stärken stärken, – dazu zählt u. a. auch: pro-aktive Vernetzung der KMU untereinander als auch mit Forschungseinrichtungen, um Schrumpfungsregionen gezielt an Wachstumsregionen anzudocken und KMU besser in regionale, innovative Wertschöpfungsketten einzubinden, – pro-aktive Ausgestaltung der Energiewende in den Regionen, um den ländlichen Raum zu erneuern, 16 Berlin-Institut (Hg.): Die Zukunft der Dörfer. Zwischen Stabilität und demografischem Niedergang, Berlin 2011. 17 Rainer Winkel: Ergebnisse und Konsequenzen für das Zentrale-Orte-Konzept, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, a. a. O., S. 21–23. 18 Hans-Peter Gatzweiler: Daseinsvorsorge und Siedlungsentwicklung, a. a. O.; TLG Immobilien: Immobilienmarkt Ostdeutschland 2011, a. a. O.

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Marion Eich-Born

– regionales, vorausschauendes Flächenmanagement auf Basis der demografischen Entwicklung, – Rückbau-Fonds, um den Wertverfall bewohnter Immobilien in den Schrumpfungsregionen mit verfallenden Leerstandsimmobilien in unmittelbarer Nachbarschaft zu verhindern, sowie die – Schaffung familienfreundlicher Strukturen.

Literatur Berlin-Institut (Hg.): Die demografische Lage der Nation. Was freiwilliges Engagement für die Regionen leistet, Berlin 2011. Berlin-Institut (Hg.): Die Zukunft der Dörfer. Zwischen Stabilität und demografischem Niedergang, Berlin 2011. Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer: Daseinsvorsorge im demografischen Wandel zukunftsfähig gestalten, Berlin 2011. Braun, Gerald/Eich-Born, Marion (Hg.): Wirtschaftliche Zukunftsfelder in Ostdeutschland. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Der Beauftragte des Bundes für die Neuen Länder an das Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development, Rostocker Beiträge zur Regional- und Strukturforschung, Rostock 2008. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Standardvorgaben der infrastrukturellen Daseinsvorsorge, BMVBS-Online-Publikation, Nr. 13/2010, Berlin 2010. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Raumordnungsstrategien von Bund und Ländern zum demografischen Wandel. Dokumentation der Auslobungskonferenzen im Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge, Berlin 2011. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: Wirtschaftsdaten Neue Bundesländer, Berlin 2011. Eich-Born, Marion: Mit starken Netzwerken kleine Unternehmen in den Wandel einbinden – das Projekt COMET stellt sich vor, in: Südthüringische Wirtschaft (hrsg. v. IHK Südthüringen), Nr. 6/2009, S. 7 f. Färber, Gisela: Finanzielle Rahmenbedingungen der Daseinsvorsorge, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 18–20.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

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Gatzweiler, Hans-Peter: Daseinsvorsorge und Siedlungsentwicklung. Befunde zum demografischen Wandel aus Sicht der Raumordnung, Berlin 2011. Greiving, Stefan: Sonderexpertise Postwesen, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 8. Herdt, Jürgen: Sonderexpertise Gesundheitswesen, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 9 f. IHK Erfurt (Hg.): Einzelhandelsatlas, Erfurt 2011, S. 1 ff. Industrial Asset Management Council (IAMC): Site Selection, Norcross, Georgia 2011. IW Consult GmbH: Bundesländer im Vergleich. Wer wirtschaftet am besten?, Köln 2011. Kopetsch, Thomas: Ärztliche Versorgungsplanung auf Knopfdruck, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1– 11/2010, Berlin 2010, S. 14–17. Optonet (Hg.): Die optische Industrie in Thüringen. Branchenreport 2011, Jena 2012. Schätzl, Ludwig: Wirtschaftsgeografie I. Theorie, 8. Aufl., Paderborn/München/Wien/Zürich 2001. Schmidt, Kerstin: Sicherung der Daseinsvorsorge in Schrumpfungsregionen, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 11–13. Spangenberg, Martin: Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 2. Staatskanzlei des Freistaats Sachsen/Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt/Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr: Eckpunktepapier zur Zusammenarbeit der mitteldeutschen Länder: Gemeinsam den demografischen Wandel gestalten, Erfurt 2011. Thüringer Landesamt für Statistik (Hg.): 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Erfurt 2010.

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Marion Eich-Born

Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr (Hg.): 1. Entwurf Landesentwicklungsprogramm 2025. Kulturlandschaft im Wandel. Herausforderungen annehmen. Vielfalt bewahren. Veränderungen gestalten, Erfurt 2011. TLG Immobilien: Immobilienmarkt Ostdeutschland 2011. Marktdaten der kreisfreien Städte und Berlins, Berlin 2011. Welch-Guerra, Max: Kulturlandschaft Thüringen, Weimar 2010. Winkel, Rainer: Ergebnisse und Konsequenzen für das Zentrale-Orte-Konzept, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 21–23. Winkel, Rainer: Hintergrund und Zielsetzung der Studie »Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte«, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 4–7. Winkel, Rainer: Öffentliche Infrastrukturversorgung im Planungsparadigmenwechsel, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 1–2/2008, S. 41–47.

Ulrich Blum

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen: Entwicklungsstrategien für die neuen Länder

1

Kleinteiligkeit der Wirtschaft als Entwicklungsschranke

Nach der Wende musste die ostdeutsche Wirtschaft privatisiert werden.1 Der Vorrang der Privatisierung vor der Sanierung – auch nicht immer eingehalten und meist nicht nur mit Verpflichtungen belastet, sondern auch mit Morgengaben erleichtert – bei gleichzeitiger Orientierung des Verkaufs an Betriebseinheiten zerstörte die vorhandenen Zuliefer- und Absatzbeziehungen weitgehend, also die heute als so bedeutend erkannte Netzwerkstruktur. Denn die ostdeutsche Wirtschaft war in Bezug auf die Wertschöpfung erheblich tiefer gegliedert als das, was moderne Unternehmen im Westen kannten. In der Tat hatte die sozialistische Zentralisierung, besonders durch die Enteignungen des Mittelstandes in den 1970er Jahren und die anschließende Konzentration der Wirtschaft, genau die gegenläufige Tendenz zur Dezentralisierung im Westen, mit der man sich flexibel auf die Probleme, die die Änderungen in der Weltwirtschaft mit sich brachten, einstellte.2 Die Folge ist, wie die folgende Abbildung verdeutlicht, eine im Vergleich zum Westen kleinteilige Wirtschaft, deren wenige großbetriebliche Formen fast ausschließlich verlängerte Werkbänke sind.

1 Zur Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft siehe Ulrich Blum/Herbert Buscher/Hubert Gabrisch/Jutta Günther/Gerhard Heimpold/Cornelia Lang/ Udo Ludwig/Martin Rosenfeld/Lutz Schneider: Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, IWH-Sonderheft 1/2009, Halle (Saale) 2009. 2 Ulrich Blum/Leonard Dudley: The Two Germanies: Information Technology and Economic Divergence, 1949–1989, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, vol. 155, Nr. 4/1999, S. 710–737; dies.: Blood, Sweat, Tears: Rise and Decline of the East German Economy, 1949–1988, in: Journal of Economics and Statistics, vol. 220, Nr. 4/2000, S. 438–452.

178

Ulrich Blum

Abbildung 1: Umsatzanteile nach Größenklassen 2008

Ostdeutschland

15,9%

Westdeutschland

8,2% 9,1%

0% bis 1 Mio. €

16,2%

24,4%

43,5%

18,0 %

20% 1‐5 Mio. €

64,7%

40%

60% 5‐50 Mio. €

80%

100%

mehr als 50 Mio. €

Quelle: Statistisches Bundesamt (Umsätze der Unternehmen, ohne Umsatzsteuer, Lieferungen und Leistungen über 17.500 €).

Produktivität gibt es nur mit Markt. Technische Produktivitäten sind zwar notwendig, um erfolgreich zu sein, aber eben nicht hinreichend. Deshalb ergab sich die große Problematik, nicht nur die Vorleistungsindustrie auf neue Lieferverflechtungen umorientieren zu müssen, es mussten auch neue Endkunden gefunden werden, denn diese brachen durch die Auflö­sung der Sowjetunion schneller weg, als im Westen neue Märkte erobert werden konnten. Hinzu trat ein gehöriges Maß an »industriellem Mobbing«, das ostdeutsche Unternehmen oft schwer beschädigte. Man denke nur an die Debatte um den FCKW-freien Kühlschrank aus dem Erzgebirge, dem der süddeutsche Konkurrent Explosionsgefahr nachsagte. In der Tat müssen betriebliche Potentiale der Exportorientierung noch stärker als bisher genutzt werden, zumal damit die Produktivität ansteigt.3 Dies ist auch der Grund, »basic industries« nach dem Primäreffekt-Kriterium im Programm der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« (GRW) zu fördern.

3 �������������������������������������������������������������������������� Udo Ludwig/Brigitte Loose/Cornelia Lang: Exportförderung bedarf der Erkundung betrieblicher Potenziale. Befunde für Thüringen, in: IWH Wirtschaft im Wandel, Nr. 5/2008, S. 183–192.

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

2

179

Bedeutung kreativer Regionen

Industrielle Forschung und Entwicklung (F&E) – meist auf den Wettbewerbsmarkt der Produkte zielend – ist in erheblichem Maße an den Standort der Führungszentralen gekoppelt. Insofern sind in den neuen Ländern solche Wirtschaftspolitiken, die »Quasi-Zentralen-Effekte« emulieren und beispielsweise das Ausreichen von Fördermitteln an verlängerte Werkbänke an das Vorhandensein entsprechender F&E-Kapazitäten binden, durchaus förderlich. Das wird vor allem dann essentiell, wenn die Umsetzung von Entwicklungen im industriellen Produktionskontext überprüft werden muss: Lässt sich das neue Bremssystem problemlos am vorhandenen Fließband in Mosel oder Eisenach einbauen? Wie sind die Fertigungseigenschaften eines neuen Mikrochips? Gerade für mittelgroße Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, aber auch für Hochschulen sind derartige Kapazitäten wesentlich und begründen positive Kooperationsmilieus. Der Umbau der ostdeutschen Wirtschaft ist besonders dort geglückt, wo das regional gebundene innovative und industrielle Erbe aus der Zeit der Industrialisierung, das von der DDR an vielen Stellen weitergetragen worden ist, nun zu neuer Blüte geführt werden konnte. Betrachtet man in den neuen Ländern vor allem die horizontalen Cluster, also solche Strukturen, die auf gemeinsamen Technologien aufbauen, so erkennt man die Verbindung von industrieller Tradition und Modernität deutlich. Die entsprechenden Regionen in Thüringen, besonders entlang der Städtereihe Jena – Erfurt – Eisenach, nehmen heute nicht nur im gesamtdeutschen, sondern auch im Weltmarktmaßstab bereits eine dominante Stellung in Bezug auf ihre Innovationsleistung ein. Die folgende Abbildung verdeutlicht, wie stark die regionale Differenzierung der Forschungsleistungen im Osten ist – wie auch im Westen. Als langfristig problematisch erscheint das niedrige Niveau. Die Werte schwanken weit stärker als die Industrialisierungsquoten, die für Forschung und Entwicklung meist die wesentlichen Bezugspunkte sind, was Fragen zur Zukunftsfähigkeit einzelner Regionen aufwirft.

180

Ulrich Blum

Abbildung 2: Interne F&E-Aufwendungen im Wirtschaftssektor im Jahr 2006 je Einwohner

Baden‐ Württemberg Bayern Hessen Hamburg Berlin Niedersachsen Bremen Nordrhein‐ Westfalen Rheinland‐Pfalz Sachsen Thüringen Schleswig‐ Holstein Saarland Sachsen‐Anhalt Mecklenburg‐ Vorpommern

IWH

Brandenburg

0

200

400

600 Euro je Einwohner

800

1000

1200

Quelle: Wissenschaftsstatistik des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, Dezember 2008, Arbeitskreis »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder«, März 2009, Berechnungen und Darstellung des IWH.

3

Clusterdynamik und die Relevanz der Führungsfunktionen

Vertikale Cluster, die von einem dominanten Unternehmen gezogen werden, erlaubten gleich zu Anfang, die wirtschaftliche Lage durch Großinvestitionen und den Aufbau von Beschäftigung zu stabilisieren.4 Hierzu zählen insbesondere die Fahrzeugindustrie, die Mikroelektronik und die Chemie­ industrie. Sie und die Bauinvestitionen erlaubten das erste Überbrücken der Folgen des Zusammenbruchs im gewerblichen Bereich. Die horizontalen Cluster mussten sich erst ausbilden, meist durch staatliche Forschungs- und Innovations­aktivitäten ausgelöst bzw. gerettet. Dann aber waren sie in der Lage, die technologische Kompetenz der Region weit stärker zu ertüchtigen. 4 Zur Systematik der Cluster Ulrich Blum: Institutions and Clusters, in: Charlie Karlsson (Hg.): Handbook on Research on Innovation and Clusters, Cheltenham/Northampton 2008, S. 361–373; zu den Wettbewerbsstrukturen Michael Porter: Clusters and the New Economics of Competition, in: Harvard Business Review, Nov–Dec 1998, S. 77–90.

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

181

Heute besitzen sie den Vorteil, dass die in das Cluster einbezogenen Unternehmen auf der Absatzseite oft wenig Konkurrenz haben, diese aber auf dem Arbeitsmarkt massiv ist. Genau diese aber erlaubt es auch, eine überkritische Ausbildungsqualität vor Ort vorzuhalten. Damit werden Demografie, Human­kapital und vor allem auch eine qualifizierungsorientierte Bildung und Ausbildung bedeutsam. In Thüringen sind damit die Fachhochschulen, die Technische Hochschule in Ilmenau und die Universitäten, insbesondere Jena mit einer langen naturwissenschaftlichen Tradition, von besonderer Bedeutung. Die Reorganisation der Wirtschaft hat Thüringen eine der höchsten Industrialisierungsquoten in Deutschland beschert, es aber nicht vermocht – und das gilt für alle ostdeutschen Bundesländer – eine für die Internationalisierung überkritische Unternehmens­ struktur auf breiter Basis zu schaffen. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Lohnstückkosten (und auch niedrige Lebenshaltungskosten) ist auf Dauer nicht nachhaltig, wenn nicht die erforderlichen Führungsfunktionen aufgebaut werden. Headquarters stehen für rund 30 Prozent der unternehmerischen Wertschöpfung und auf volkswirtschaftlicher Ebene für rund 20 Prozent der Wertschöpfung.5 Von den HDAX Unternehmen liegen vier in den neuen Ländern, davon zwei in Thüringen (Jenoptik und Carl Zeiss Meditec).

5 Ulrich Blum: Deindustrialisierung zerstörte ostdeutsche Führungsfunktionen, in: BVWM Kurier, Teil 1, 13. Jg., Nr. 3/2007, S. 16 f.; Teil 2, 13. Jg., Nr. 4/2007, S. 16 f.; Teil 3, 13. Jg., Nr. 5/2007, S. 16; ders.: Der Einfluss von Führungsfunktionen auf das Regional­einkommen: Eine ökonometrische Analyse deutscher Regionen, in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 6/2007, S. 187–194; ders.: The Impact of Location and Centrality on Regional Income – the Concept of Input Potentials and Regional Production after 20 Years, in: ders./Rolf Funck/Jan Kowalski/ Antoni Kuklinski/Werner Rothengatter: Space – Structure – Economy: A Tribute to August Lösch, Baden-Baden 2007, S. 353–363.

182

Ulrich Blum

Abbildung 3: Lohnstückkosten im Verarbeitenden Gewerbe = (Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer / Bruttowertschöpfung in jeweiligen Preisen je Erwerbstätigen) * 100 250,0

200,0

Index

150,0

100,0

50,0

0,0 1991

1992

1993

1994

1995

Thüringen

1996

1997

1998

1999

2000

alte Bundesländer ohne Berlin

2001

2002

2003

2004

2005

2006

neue Bundesländer einschließlich Berlin

2007

2008

2009

2010

IWH

Quelle: Arbeitskreis »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder«, Stuttgart 2001, 2012, Berechnungen und Darstellung des IWH.

Eine zentrale Frage für derartige horizontale Clusterentwicklungen betrifft die nach dem Innovationskanal, also der Herkunft neuer Ideen, die zunächst in das Inventionssystem eindringen und zu Entwicklungen führen, die anschließend zu Innovationen reifen, also am Markt erfolgreichen neuen Kombinationen, und zum zweiten ist zu klären, welche Branchen den Kanälen zuzuordnen sind. Tidd, Bessant und Pavitt haben die Branchen nach den wesentlichen technologischen Pfaden (Trajektorien) geordnet.6 Sie unterscheiden zwischen zulieferdominierten Sektoren, Sektoren mit Massenproduktionsvorteilen, informationsintensiven Sektoren, wissenschafts­basierten Sektoren und hochspezialisierten Anbietern. Die fünfte Gruppe stellt den interessantesten originären Treiber des technischen Fortschritts dar, der mittels neuer Informationstechnologien aufgewertet wird, da technologische Kenntnisse und kunden­spezifische Rückkopplungen hier besonders relevant sind. Dies gilt zu einem geringeren Grad für die vierte Gruppe, da ein erheblicher Teil des Wissens hier als Wettbewerbselement der Geheimhaltung unterliegt. Gelingt es, 6 Joseph Tidd/John Bessant/Keith Pavitt: Managing Innovation. Integrating Techno­ logical, Market and Organizational Change, Chichester 1997.

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

183

dieses durch Patente zu schützen, findet sich hier ein wesentliches erstes Element der Technologieverbreiterung hin zu den GPT, den general purpose technologies.7 Unternehmensführung und Wirtschaftspolitik sind dabei vor allem über die Potentiale von Headquarter-Kompetenzen und F&E-Fähigkeiten mit den entsprechenden regionalökonomischen Kompetenzen8 und den durch die GPT erzeugten Externalitäten, die auch wachstumswirksam werden, verbunden.9 In der Spezifik der neuen Länder sind horizontale Cluster vor allem Verknüpfungen der vierten und der fünften Gruppe. In der dritten Gruppe ist der unmittelbare Struktureffekt infolge eines hohen Reorganisationsdrucks bei verbesserten Informationstechnologien besonders deutlich. Die ersten beiden Sektoren werden entweder indirekt über ihre Lieferanten oder durch kleine Prozessschritte betroffen sein. Die Einordnung eines Sektors in diese Struktur kann sich ändern – das Verlagswesen wäre früher wohl der zweiten Kategorie zuzuordnen gewesen, heute hingegen eher der dritten. Aus Sicht der neuen Länder bietet die historisch gewachsene Kompetenz im Industriedesign10 weitere wichtige Ansatzpunkte für Markterfolge.

4

Relevanz von externem Wachstum und Marktkonsolidierung

Werden diese Unternehmen der vierten und fünften Kategorie an Gebietsfremde verkauft, so droht damit die Gefahr, dass die Perlen der technologischen Entwicklung, die sich aus dem Mittelstand heraus entwickelt haben, verloren gehen, womit eine »Headquarter-Strategie« unmöglich wird.11 Das liegt unter anderem daran, dass Kapital derzeit noch billig ist, was Übernahmen erleichtert, während die Knappheit an Fachkräften den Neuaufbau einer Produktion, vor allem auch mit einer oft für den Käufer nicht vollständig bekannten Technologie, erschwert. Vor 40 Jahren war das noch umgekehrt, da war es günstiger, einen neuen Unternehmensteil aufzubauen und schwieriger, etwas zu kaufen. Das benachteiligt die Entwicklung in den neuen Ländern. 7 Elhanan Helpman: General Purpose Technologies and Economic Growth, Cambridge, Mass. 1998. 8 Franz Kronthaler: Economic Capability of East German Regions: Results of Cluster Analysis, in: Regional Studies, Nr. 6/2005, S. 739–750. 9 Paul M. Romer: Endogenous Technological Change, in: Journal of Political Economy, Nr. 98/1990, S. 70–102. 10 Zu nennen sind hier insbesondere die Tradition der Burg Giebichenstein, des Bauhauses oder von Junkers. 11 Man erinnere sich daran, dass vor 30 Jahren der heutige globale Konzern SAP ein Mittelständler war.

184

Ulrich Blum

Dabei sollten ostdeutsche Unternehmen eigentlich zum internen Wachstum, aber auch zu Marktkonsolidierung und zu externem Wachstum befähigt sein. Denn empirische Analysen belegen derzeit keine allgemeine Eigenkapitalschwäche bei den ostdeutschen mittelständi­schen Unternehmen. Ganz im Gegenteil, die Eigenkapitalausstattung der kapitalintensiv produzierenden mittelständischen Industrieunternehmen ist dort sogar höher als in Westdeutschland. Dieser grundlegende Befund wird bestätigt durch eine Analyse auf Länderebene, die Schulz, Titze und Weinhold kürzlich, unter Anwendung eines exklusiven Datensatzes des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, erstmalig präsentierten.12 In der Tat weisen insbesondere die Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes in Thüringen und Sachsen vor allem im Vergleich zum Westen sehr hohe Eigenkapitalquoten auf. Dies könnte eine Folge thesaurierter Fördergelder sein. Vorsichtige Hinweise auf Lücken in der Eigenkapitalausstattung lassen sich allenfalls in ausgewählten Branchen des Verarbeitenden Gewerbes und nur in bestimmten Regionen finden, beispielsweise im Maschinenbau des Landes Sachsen-Anhalt. Nachfolgende Grafik zeigt die Zusammenhänge. Abbildung 4: Kapitalausstattung im mittelständischen Verarbeitenden Gewerbe 1998– 2009 (in %)

Quelle: IWH (Anzahl der pro Jahr in die Auswertung eingehenden Unternehmensbilanzen (Minimum/Maximum): Baden Württemberg (3.581/4.946), Brandenburg (150/225), Deutsch­land (16.628/26.483), Mecklenburg-Vorpommern (106/188), Niedersachsen (943/1.665), Sachsen (511/782), Sachsen-Anhalt (163/302), Thüringen (341/468)).

12 Holger Schulz/Mirko Titze/Michaela Weinhold: Eigenkapitalausstattung in den Neuen Ländern teilweise höher als in Westdeutschland, in: Wirtschaft im Wandel, 17. Jg., Nr. 5/2011, S. 180–187.

185

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

Die erhöhte Eigenkapitalquote erlaubt aber auch eine andere Interpretation: Es existieren Fundamentalrisiken im Osten, die, um gegebene, überall in Deutschland sonst gleiche Bankbedingungen zu erfüllen, ein erhöhtes Eigenkapital verlangen. Typische Vermutungen könnten sein: Diversifikation, Größe und Marktorientierung, die allesamt auch mit der verstärkten Vorleistungsorientierung verbunden sind. Zu bedenken ist in jedem Fall, dass für eine Wachstumsstrategie nicht nur der Fachkräftebedarf langfristig als Beschränkung wirken kann; auch verteuerte Ressourcen- und Kapitalkosten sind in Rechnung zu stellen.13

5 Konvergenz Wer behauptet, Thüringen werde im Jahr 2020 einen Lebensstandard wie in Westdeutschland erreicht haben, der verkennt, dass doppelt so hohe Wachstumsraten wie im Schnitt der übrigen Bundesrepublik nicht zu erwarten sind. Eine solche Aussage weckt falsche Hoffnungen und führt im Westen zur Forderung, dann die Hilfen, die nach Auslaufen des Solidarpakts weitgehend aus dem horizontalen Finanzausgleich kommen, vollständig einzustellen. Das ist gefährlich. Tatsächlich ist der Finanzierungsbedarf enorm, er wird aber zunehmend durch den Beitrag Ostdeutscher zur gesamtdeutschen Wirtschaftsleistung relativiert, wie dies die nachfolgende Grafik zeigt: Abbildung 5: Nettotransfers und BIP-Beitrag des Migrationssaldos 1990–2010 100 Billion Euro at current prices

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1990

1992

1994

1996

Nettotransfers

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

BIP‐Beitrag

Quelle: IWH, eigene Berechnungen.

13 Richard Dobbs/Alex Kim/Susan Lund: Growth in a Capital-Constrained World, in: McKinsey Quarterly, Nr. 2/2011, S. 83–93.

186

Ulrich Blum

Seit der Wiedervereinigung haben rund 4,3 Mio. Ostdeutsche, überdurchschnittlich qualifiziert, jung und mehrheitlich weiblich, den Weg nach Westdeutschland gefunden, rund 2,3 Mio. Westdeutsche wanderten in den Osten. Gerade der Süden der Altländer profitiert von dem zusätzlichen Erwerbspotential und der demografischen Stabilisierung. Unterlegt man den Migrationssaldo mit den entsprechenden Pro-Kopf-Einkommen, so liegt bereits heute der dem Westen zusätzlich verfügbare BIP-Beitrag über den Nettotransfers.

6

Aufgaben für Unternehmen und Wirtschaftspolitik

Die bisherige Entwicklung zeigt, dass in einer bezüglich der Standortwahl »flachen Welt«14 der Verschränkung von regionalen Milieufaktoren im Wettbewerb der Wirtschaftsräume und der unternehmensstrategischen Positionierung im Wettbewerbsumfeld eine hohe Bedeutung zukommt. Sie äußert sich vor allem im Wettbewerb um Fachkräfte in einer Interdependenz »sozialer Entwicklungspotentiale« und »beruflicher Entwicklungspotentiale«. Unternehmen in den neuen Ländern sind gefragt, ihre strategische Positionierung im Sinne eines Wachstumswillens zu überdenken, um schlagkräftigere Unternehmenseinheiten mit »Headquarter-Potential« aufzubauen, die in der internationalisierten, globalen Welt als Global Medium-Sized Enterprises (GME) Wachstumspotential besitzen. Der Wille zur Expansion, der oft nicht hinlänglich ausgeprägt ist, muss gestärkt werden. Die Wirtschaftspolitik wird dies mit einer Merger&Acquisition-Build-Strategie flankieren müssen, die vor allem auch die vertikale Integration dann stärkt, wenn dadurch Kernkompetenzen gesichert werden können. Dabei haben die Forschungsund Entwicklungspolitik und -förderung ebenso wie die klassische einzelbetriebliche Förderung neben dem internen vor allem das externe Wachstum verstärkt aufzugreifen. Insbesondere müssen Milieueffekte vor Ort generiert werden, die das Ausschlachten von technologischen Perlen durch Gebietsfremde unattraktiv machen: Faktisch muss der potentielle (gegenwärtige) Verkaufspreis kleiner sein als der fundamentale (in die Zukunft gerichtete und damit risikobehaftete) Ertragswert. Deutschlands industrielle Stärke ruht im Anlagenbau und in der Investitionsgüterindustrie. Hier bieten sich technologische Pfade an, die das Wachs-

14 Thomas L. Friedman: The World is Flat. The Globalized World in the Twentyfirst Century, New York 2004.

187

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

tum langfristig tragen.15 Besser als in besetzten Märkten der Endproduzenten letztlich unterzugehen, wie dies erst die Speicherchip- und nun die Solarmodulbranche vormachen, ist es, weltweit die entsprechenden Anlagen zu liefern oder für Spezialanwendungen Nischen nachhaltig zu besetzen. Auch hier waren die Deutschen immer Meister – es gibt deshalb noch immer einen profitablen Fensterbau, weil ein erheblicher Teil der Produkte auf Maß gefertigt wird. Warum soll dies nicht auch für Dachsysteme im Denkmal- oder Ensembleschutzbereich möglich sein, bei denen eine flächenschlüssige Dachhaut neben Solarelektrik oder -thermie auch die Nässehaut und die Isolierung bietet? Gelingt es nicht, Führungszentralen aufzubauen und auf einen neuen Technologiepfad aufzuspringen, dann wird der Entwicklungspfad der neuen Länder so, wie seit den letzten zehn Jahren, nichts anderes als die Fortsetzung der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR in den 1950er und 1960er Jahren sein – eine 70-Prozent-Wirtschaft in Bezug auf die Leistungsfähigkeit des Westens.16 Diese Entwicklung wurde nur durch die Honecker-Jahre unterbrochen, deren Zentralisierungs- und Enteignungspolitik die DDR so schwächte, dass sie endgültig ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verlor und schließlich wirtschaftlich und politisch kollabierte. Der Aufschwung Ost hat dies wirtschaftlich nur ausgeglichen. Abbildung 6: Entwicklung des Pro-Kopf BIP in Deutschland 1900–2010 35 000

Entwicklung des Pro-Kopf BIP in Deutschland, 1900-2010

per-capita income (€) in prices of 1995

30 000 25 000 20 000 15 000 10 000 5 000 0

1900

1910

1920

1930

Reich+Westdeutschland

1940

1950

1960

Ostdeutschland

1970

1980

1990

2000

2010

Vereintes Deutschland

Quelle: Ulrich Blum: East Germany’s Economic Development Revisited: Path Dependence and East Germany’s Pre- and Post-Unification Economic Stagnation, in: Journal of Post-Communist Economies (erscheint demnächst).

15 Richard R. Nelson/Sydney G. Winter: An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge, Mass./London 1982. 16 Ulrich Blum: An Economic Life in Vain, Path Dependence and East Germany’s Pre- and Post-Unification Economic Stagnation, IWH-Discussion Paper 10, Halle (Saale) 2011.

Peter Frey

Greentech – Chance für Mitteldeutschland

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Die Chance: Mitteldeutschland in der Pole-Position bei neuen Märkten

Die Energiewende hin zur nachhaltigen, ökologisch akzeptablen Energieversorgung und -verwendung schafft den ökonomischen Rahmen für die Entwicklung neuer Technologien – Greentech – und für die Etablierung neuer Wirtschaftsbereiche. Wenn alle gleichermaßen als Newcomer in einem neuen Technologiefeld antreten, verliert die angestammte Dominanz der Etablierten an Bedeutung, und es eröffnen sich die besten Chancen für jene Regionen, die mit der größten Dynamik auf diese neuen Herausforderungen reagieren. In Mitteldeutschland wurden die Chancen auf Teilhabe an diesen neuen Märkten schon frühzeitig genutzt. Hier konnte sich die Wertschöpfungskette der Photovoltaik (PV) zu einer hochattraktiven Industrieregion formieren, die weltweit Beachtung findet. Der Schwerpunkt der deutschen Produktion für Photovoltaik liegt heute in Mitteldeutschland. Der vorliegende Beitrag ist ein Praxisbericht über die Umsetzung eines Strategiekonzeptes für die Solarbranche und über den damit eingeleiteten ökonomischen Umbau in Mitteldeutschland. Es wird aufgezeigt, wie durch Bündelung der Ressourcen in einem strategischen Gesamtkonzept Innovationen auf den Weg gebracht und Unternehmens- und Branchenwachstum in der Region Mitteldeutschland erzielt werden. Die Diffusion der Photovoltaik und damit die Marktentwicklung wurden weltweit durch das deutsche Markteinführungsprogramm im Rahmen einer Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2003 wesentlich beschleunigt. Deutschland ist bis heute weltweit der größte Regionalmarkt für Photovoltaik. Im Jahr 2010 erfolgte hier ein Zubau von 7,3 GW PVLeistung, das sind 44 Prozent des weltweiten Zubaus. Dieser Zuwachs entspricht einem Marktwert von ca. 22 Mrd. Euro für die installierten Systeme. In 2011 wurden sogar 7,5 GW neu installiert, und alle Prognosen deuten darauf hin, dass diese Erfolgsgeschichte fortgesetzt werden kann. An der Marktentwicklungskurve ist zu sehen, wie rasant die Marktdurchdringung in Deutschland in den letzten Jahren verlaufen ist (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: Entwicklung der Solarstromproduktion in Deutschland 1999–2011

Quelle: Solarvalley GmbH.

Damit wird ein unverzichtbarer Beitrag zur Energiewende in Deutschland geleistet. Denn mit der Photovoltaik wird einer der intelligentesten Wege der Stromerzeugung beschritten. Durch direkte Umwandlung des Sonnenlichts in elektrischen Strom mit Hilfe eines Halbleitereffekts im Innern eines Werkstoffs, der selbst im Überfluss vorhanden ist (Silizium), wird die Sonne – mit ihren unerschöpflichen Ressourcen durch die auf ihr ablaufenden Kernprozesse – zur dauerhaften Deckung unseres Energiebedarfs genutzt, nahezu ohne Belastung von Umwelt und Klima. Durch Dezentralität kann die Photovoltaik als einer von drei Pfeilern neben Wind und Biomasse maßgeblich zum Gelingen der Energiewende beitragen: Photovoltaik als vernetzte dezentrale Energiequelle benötigt keinen Ausbau der Hochspannungsleitungen für die Transportnetze, Photovoltaik besitzt hohe gesellschaftliche Akzeptanz, hohe Flexibilität und ein nachgewiesenes hohes Kostensenkungspotential. Andererseits eröffnet der weltweit größte Marktplatz der Photovoltaik für die deutschen Produzenten als Binnenmarkt eine außerordentliche wirtschaftliche Chance. Das globale jährliche Wachstum betrug in den letzten 10 Jahren durchschnittlich über 50 Prozent, wovon auch die deutschen Hersteller und insbesondere Zulieferer profitieren konnten.

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Die Herausforderung: Überwindung struktureller Defizite in Mitteldeutschland

In Mitteldeutschland produzieren heute Unternehmen auf allen Stufen der Wertschöpfungskette der Photovoltaik in verschiedenen Technologien. Hier haben sich in kürzester Zeit autarke Unternehmen oft als integrierte, global agierende Produzenten etabliert, mit allen Unternehmensfunktionen inklusive Forschung und Entwicklung – und nicht nur ausgelagerte Werkbänke wie sonst so häufig in dieser Region. Von der Dynamik des industriellen Aufbaus und dem Pioniergeist einer jungen Branche profitieren auch der Aufbau einer passgenauen externen Forschungsinfrastruktur und der Ausbau von Universitäten und Hochschulen. Diese junge Branche eröffnet der Region die Chance, endlich ihre strukturellen Defizite im Bereich Forschung und Entwicklung (F&E) abzubauen. Hinsichtlich Forschungsintensität rangiert die Wirtschaft in den neuen Bundesländern als Schlusslicht im nationalen Vergleich. Das ist insbesondere dem Umstand geschuldet, dass große Unternehmen, die üblicherweise auch leistungsfähige interne Forschungsabteilungen betreiben, in den neuen Bundesländern Mangelware sind. Einige Länder wie Sachsen und Thüringen können hinsichtlich des F&E-Anteils am regionalen Bruttoinlandsprodukt zwar mit dem mittleren Maß in den alten Bundesländern mithalten. Aber diese Forschung erfolgt zu wenig direkt in den Firmen, weil gerade die Großunternehmen fehlen und die meisten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sich Forschung und Entwicklung gar nicht leisten können (siehe Abbildung 2). Abbildung 2: Forschung und Entwicklung in der Region Mitteldeutschland im nationalen Vergleich

Quelle: Solarvalley GmbH.

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Die Bewältigung dieses Defizits ist die Herausforderung, vor der Mitteldeutschland steht, wenn es von dem Wachstumsmarkt Greentech – insbesondere von der Photovoltaik – profitieren will. Hier setzt die Idee des Spitzenclusters Solarvalley Mitteldeutschland an: »Wir müssen es gemeinsam machen, wenn wir Größennachteile ausgleichen wollen. Wir müssen ein Netzwerk der Innovation aufbauen und Vorsprung dadurch schaffen, dass wir ein umfassendes Innovationskonzept gemeinsam umsetzen.«

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Die Strategie: Innovation durch Kooperation

Die Clusterregion Mitteldeutschland – bestehend aus den drei Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – hat die höchste Dichte an Industrieunternehmen der Photovoltaik in Europa. In 2011 waren 19.500 Mitarbeiter bei den Mitgliedern des Spitzenclusters beschäftigt. Die führenden Produzenten der Region – sie vertreten 47 Prozent des deutschen Photovoltaik-Industrieumsatzes – sind Motor des Innovationskonzeptes Solarvalley Mitteldeutschland (siehe Abbildung 3). Abbildung 3: Das Spitzencluster Solarvalley Mitteldeutschland

Quelle: EuPD/Solarvalley GmbH.

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Derzeit verfolgen 35 Industrieunternehmen, neun Forschungseinrichtungen, fünf Universitäten und fünf Hochschulen sowie diverse Bildungsträger in der gemeinsam vereinbarten Gesamtstrategie die drei inhaltlich miteinander verknüpften Arbeitsbereiche Technologie, Bildung und Vernetzung (siehe Abbildung 4). Abbildung 4: Das Strategiekonzept des Spitzenclusters

Quelle: Solarvalley GmbH.

Mit diesem Konzept konnte sich die Region bei der Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) bereits in der ersten Runde im Jahr 2008 gegenüber einem starken Wettbewerbsumfeld behaupten. Solarvalley Mitteldeutschland wird nun als Spitzencluster über einen Zeitraum von fünf Jahren mit einem Bundeszuschuss von 40 Mio. Euro gefördert. In 98 Einzelprojekten mit einem Gesamtbudget von 120 Mio. Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren wird das Strategiekonzept umgesetzt. Die öffentliche Hand – BMBF und Länderministerien – fördert 50 Prozent der Aufwendungen in den Projekten. Das Cluster wird von der Industrie geführt, die auch die Arbeitsthemen, Partnerauswahl und Finanzierung des Gesamtbudgets verantwortet. Dieser über die Wertschöpfungskette eng verkoppelte Entwicklungsansatz wird durch die regionale Nähe der Akteure in hervorragender Weise unterstützt. Technologie: Die Technologieentwicklung wird im Rahmen einer langfristigen und über alle Stufen der Wertschöpfungskette abgestimmten Innovati-

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onsstrategie zur Erhöhung des Wirkungsgrades der Solaranlagen, zur Verbesserung von Produktzuverlässigkeit und -lebensdauer und zur Reduktion der Produktionskosten forciert. Über allen Innovationen steht das übergeordnete Ziel einer Reduktion der Gestehungskosten für Solarstrom. Hierzu müssen insbesondere die Kosten für das Solarmodul, in dem das Sonnenlicht in Strom umgewandelt wird, deutlich reduziert werden. Das Entwicklungskonzept erstreckt sich von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung in innovativen Produktionstechnologien. Eine besondere Bedeutung für das Erreichen dieser anspruchsvollen Zielsetzung hat die Passfähigkeit der jeweiligen Entwicklungsergebnisse mit der Schnittstelle zur folgenden Wertschöpfungsstufe (siehe Abbildung 5). Abbildung 5: F&E-Programm für Produkt- und Prozessinnovationen im Solarvalley Mitteldeutschland

Quelle: Solarvalley GmbH.

Die Kostenziele für die angestrebten Innovationen orientieren sich an den Erfahrungswerten der Preisentwicklung auf dem Weltmarkt: Bei Verdoppelung der installierten PV-Leistung sinkt der Preis um 20 Prozent. Das Konzept Solarvalley soll dafür sorgen, dass diese Preis-Lernkurve in die Zukunft – unter Wahrung der Margen bei den Produzenten – fortgeschrieben wird (siehe Abbildung 6). Das Konzept hat bereits einen maßgeblichen Beitrag zur Erreichung des Etappenziels »Netzparität« geleistet. Für die vorherrschende Sonneneinstrahlung in der Region Mitteldeutschland wird dies im Jahr 2012

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erreicht. Das heißt, ab diesem Zeitpunkt liegen die Gestehungskosten für Solarstrom bereits unter dem Preis des Haushaltstarifs. Abbildung 6: Preis-Lernkurve: Solarstrom auf dem Weg zum wettbewerbsfähigen Energieträger

Quelle: Adapted from National Renewable Energgy Laboratory/Solarvalley GmbH.

Bildung: Der Bereich Bildung beinhaltet die spezifischen Maßnahmen zur Deckung des Bedarfs an qualifizierten Fach- und Führungskräften auf sämtlichen Qualifikationsebenen. Es soll ein integrales Bildungssystem für alle Wertschöpfungsstufen und Fachdisziplinen sowie für übergreifende strategische Aufgaben, länderübergreifend abgestimmt, etabliert werden (siehe Abbildung 7).

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Abbildung 7: Bildung, Basis für Innovation

Quelle: Solarvalley GmbH.

Vernetzung: Das Clustermanagement unterstützt die Professionalisierung und den Ausbau des Netzwerkes sowie die Koordinierung der Photovoltaik in der Region. Dabei geht es zunächst um die Koordination und administrative Unterstützung von über einhundert Einzelprojekten im Bereich F&E und Bildung, um das Controlling bei der Umsetzung des Strategiekonzeptes und um die Weiterentwicklung der Konzeption. Es geht um die Kommunikation nach innen und nach außen. Besondere Bedeutung haben Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität der Region für nationale und internationale Kapitalgeber, die Koordination des gemeinsamen Auftretens bei internationalen Branchenvertretungen, Expertengremien und politischen Instanzen. Zur operativen Umsetzung wurde eine Clustermanagementplattform für die Netzwerkdienstleistungen mit Regionalbüros in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen installiert, die mit den Branchenvertretungen vor Ort kooperieren.

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Der Weg: Neue Technologien und Produkte

Das F&E-Programm zum Erreichen der Kostenziele wird in einem zeitlich und inhaltlich abgestimmten System von derzeit elf Verbundvorhaben realisiert. Es werden die kristalline und die Dünnschicht-Siliziumtechnologie als

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die derzeit weltweit wichtigsten Technologielinien der Photovoltaik bearbeitet. Daneben werden Forschungsansätze in der Dünnschichttechnologie (CIGS, CdTe) in Einzelprojekten verfolgt. Mit den Arbeitsschwerpunkten in der kristallinen Siliziumtechnologie wird angestrebt, mit möglichst wenig Silizium so viel Strom wie möglich zu erzeugen. Das bedeutet, dass die Dicke der Siliziumscheiben von heute 180 Mikrometer auf ca. 100 Mikrometer verringert und gleichzeitig der Wirkungsgrad von Solarzelle und Solarmodul erhöht werden. Für das übergeordnete Ziel einer Reduktion der Stromgestehungskosten müssen neue Lösungen sowohl auf der Ebene des Produkts als auch auf der Ebene der Produktionstechnologie entwickelt werden. Darüber hinaus sollen die Produktzuverlässigkeit und -lebensdauer über 30 Jahre gewährleistet sein. Bereits im Jahr 2011 wurden die nachfolgenden Meilensteine als Fortschritt gegenüber 2008 erreicht: mehr als 20 Prozent Materialeinsparung, eine Wirkungsgradverbesserung um 20 Prozent, eine Erhöhung der Zuverlässigkeit (Modullebensdauer über 30 Jahre) sowie eine Halbierung des Systempreises. Das industriegeführte F&E-Programm wurde erfolgreich gestartet, die notwendige Kooperationsstruktur ist implementiert und steht nun für die Lösung der noch anstehenden Aufgaben zur Verfügung (siehe Abbildung 8). Abbildung 8: Netzwerkstruktur der Verbundprojekte im Spitzencluster

Quelle: Malik Management/Solarvalley GmbH.

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Die Zwischenbilanz: Höhere Standards in Wissenschaft und Bildung

Die Branche Photovoltaik hat einen außerordentlichen Bedarf an hoch qualifizierten Fach- und Führungskräften. Neben der rein quantitativen Deckung des Personalbedarfs der neu entstandenen Branche liegt hier die Herausforderung in der Erfüllung der Qualitätsansprüche einer Industrie, die sich insbesondere im High-End-Segment international behaupten muss. Das Erreichen der Kostenziele ist eng mit den Innovationsszenarien der Industrieproduktion verkoppelt. Ein integrales, länderübergreifendes Bildungssystem muss diesen Anspruch unterstützen. Als Sofortmaßnahmen wurden neue Bachelorund Masterstudiengänge gestartet, Stiftungsprofessuren eingerichtet und die erste Solarvalley Summer School for Photovoltaics für Bachelor- und Masterstudenten sowie für Doktoranden initiiert und durchgeführt. Am Ende des Jahres 2011 sind folgende Zielmarken realisiert: – – – –

die Qualifizierung von 4.000 Facharbeitern in der Region, die Einrichtung von elf neuen Bachelor- und Masterstudiengängen, die Besetzung von sieben Stiftungsprofessuren, der Aufbau eines Netzwerks akademischer Ausbildung mit drei neuen Landesgraduiertenschulen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen für Spezialthemen der Photovoltaik, – der Aufbau einer Solarvalley Graduate School for Photovoltaics als länder­ übergreifendes Doktorandenkolleg sowie – der Start von 50 Promotionen.

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Der Ausblick: Wirtschaftsregion mit neuer Energie

Mit dem Innovationskonzept von Solarvalley Mitteldeutschland werden die notwendigen Strukturen für eine starke technologische Positionierung auf dem international umworbenen Wachstumsmarkt Greentech entwickelt. Heute zur Halbzeit der Umsetzung des Strategiekonzeptes für das Spitzencluster Solarvalley Mitteldeutschland werden Erfolge quantifizierbar, die sich auch in ganz nüchternen Wirtschaftsdaten widerspiegeln: 1.300 Mio. Euro wurden investiert und 3.500 neue Industriearbeitsplätze wurden geschaffen mit der Option auf weitere 500 Arbeitsplätze nach Abschluss der investiven Maßnahmen. Das ursprüngliche Strategiekonzept wird künftig in zwei Richtungen über den Produktbereich der Module und deren Wertschöpfungsstufen hinaus weiterentwickelt. Denn die künftigen Produkte sind nicht mehr nur ein-

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fache Module. Im Bereich der Architektur beispielsweise erhält die Gebäudehülle mit Hilfe einer entsprechenden Beschichtung eine Zusatzfunktion und wird so zum Stromgenerator. Oder im Bereich des Stromnetzes werden künftig die Solarmodule direkt mit Stromspeichern und einer intelligenten Steuerungselektronik kombiniert und können dann bedarfsgerecht unabhängig vom Sonnenstand den Strom dem Verbraucher zur Verfügung stellen und darüber hinaus wichtige Stabilisierungsfunktionen für das gesamte Stromnetz übernehmen. Gebäude integrierte Photovoltaik: Durch die Zusammenarbeit von Photovoltaik-Modul-Herstellern und Herstellern von Bauprodukten, Anwendern, Fachplanern und Architekten sollen innovative solare Systemlösungen konzipiert werden, die sowohl den technologisch-wirtschaftlichen und funktionalen Bedingungen als auch den gestalterischen Ansprüchen der Architektur und des Orts- und Landschaftsbildes gerecht werden. Systemlösungen hierfür werden das Produktprogramm der Hersteller ergänzen und Alleinstellungsmerkmale außerhalb des hart umkämpften Käufermarktes für Massenprodukte sichern. Beispielhaft für die Initiierung solcher Ansätze ist die inzwischen fest etablierte internationale Kongressreihe BauhausSolar in Erfurt, die im Jahr 2012 bereits zum fünften Mal stattfinden wird. Hier werden im Zusammenspiel von Bauhaus-Tradition – mit ihren Wurzeln in Weimar – und Greentech-Innovation einzigartige Systemlösungen kreiert. Damit verbunden ist die Auslobung des BauhausSolar Awards, ein international ausgeschriebener Zukunftspreis für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Architektur und Fachplanung, Landschaftsgestaltung sowie Stadt- und Regionalplanung. Damit werden – nur am Beginn noch kleine – Zukunftspfade in eine »Neue Kultur der Energie« angelegt, die zur Bewältigung der globalen Herausforderungen so dringend benötigt werden. Netzintegration: Die zunehmend erfolgreiche Diffusion der Photovoltaik erfordert neue Konzepte zur Netzintegration der Module als Solargenerator und die Entwicklung von angepassten, kostengünstigen Speichertechno­ logien. Mit kompletten »Energiemodulen« – ein angepasstes System von Solargenerator, Speicher und elektronischer Netzeinkopplungseinheit mit entsprechenden Netzdienstleistungsfunktionen – können sich die Photovoltaik-Hersteller als Systemlieferanten vom Massengeschäft abheben und im Zukunftsmarkt Greentech behaupten. Die Umsetzung dieses Strategiekonzeptes setzt den Keim für ganz umfassende neue Chancen in der Region Mitteldeutschland: – in der Umweltpolitik: Minderung des CO2-Eintrags in die Atmosphäre durch Einsatz von Solarstrom,

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– in der Wirtschaftspolitik: Photovoltaik als Treiber auf den neuen Greentech-Märkten, – in der Regionalpolitik: Entwicklung Mitteldeutschlands zu einer dynamischen Wirtschaftsregion mit anspruchsvollen Standards in Wissenschaft und Bildung, – in der Unternehmenspolitik: Beschleunigung und Optimierung des Innovationsprozesses zur Festigung der Marktposition. So werden in Mitteldeutschland durch das Spitzencluster Solarvalley Mitteldeutschland neben der Exzellenz bei den Produkt- und Technologieinnovationen, neben der Sicherung von Arbeitsplätzen in einer Zukunftsbranche und neben dem qualitativen Ausbau zu einer Wissens- und Technologie­ region auch die Weichenstellungen zum Wechsel in der globalen Energiestrategie auf die Agenda gesetzt. Die Photovoltaik hat in den vergangenen Jahren einen beispiellosen Boom in der Industrie entfacht. Die Entwicklungserfolge auf dem Weg in die Nutzung der umweltfreundlichen, unerschöpflichen Energiequelle des Sonnenlichts haben weltweit neue Akteure auf den Plan gerufen. Heute können mehr als doppelt so viele Module hergestellt werden, wie der Markt aufnimmt. Eine Wettbewerbsschlacht ist im Gange, die zu einer Marktbereinigung führen wird. In Mitteldeutschland wurde der Versuch unternommen, gute Rahmenbedingungen zu schaffen, indem sich die Industrie, Forschung und Bildung in der Region zusammengeschlossen haben. So sollen Größeneffekte genutzt werden, die Innovationspotenziale der Region effektiv ausgeschöpft und damit grundsätzlich Kostenvorteile erzielt werden. Das ist in der Vergangenheit auch gut gelungen. Die andere Seite ist aber, dass Innovationen Kapital brauchen, damit sie in die Produktion übertragen werden können. In diesem Punkt haben die asiatischen Hersteller den deutschen Herstellern klar den Rang abgelaufen. Dort wird eine staatlich geführte Industriepolitik betrieben, die sich insbesondere auf strategische Zukunftsfelder fokussiert. Und hierzu zählt eben auch die Photovoltaik. Die Staatsbank stellt den chinesischen Firmen nahezu unbegrenzt Kapital zur Verfügung. Das haben diese genutzt, um ihre Produktion entsprechend auszubauen. Mit der Konsequenz: Die großen Fabriken stehen mittlerweile nahezu alle in China, deutsche Firmen sind unter den ersten zehn kaum mehr zu finden. Alle Produzenten weltweit stehen unter einem gewaltigen Kostendruck, derzeit kann wohl niemand auf Renditen setzen. Unternehmen mit gut gefüllter Kasse werden so lange durchhalten, bis sich der Markt bereinigt hat. Solche, die ihre Finanzressourcen aufgebraucht

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haben, etwa weil sie in Innovationen investiert haben, brauchen frisches Kapital. Und wenn dies nicht gefunden wird, gehen sie in die Insolvenz – trotz guter Produktionsauslastung. Dieser Prozess mit ungewissem Ausgang für den Produktionsstandort Deutschland ist gerade im Gange. Klar ist, Produkte für den Massenmarkt können die Chinesen günstiger herstellen. Hierbei ist nicht die oft diskutierte Lohnkostenfrage ausschlaggebend, es geht vielmehr um die angesprochene Kapitalverfügbarkeit. Darin liegt der eigentliche Wettbewerbsvorteil chinesischer Hersteller. Hinzu kommen Fragen der Umweltstandards und Genehmigungsverfahren. Wie schnell kann die Produktionskapazität ausgebaut werden? In diesem Punkt haben die Chinesen ebenfalls den deutschen Produzenten einiges voraus. Die Veredelung von Produkten, da wird sich die Perspektive für deutsche Hersteller eröffnen. Es geht hierbei um Highend-Systeme mit hoher Wertbeständigkeit und hoher Qualität. In der Energietechnik geht es um Anlagen mit Amortisationszeiten von mehr als 20 Jahren. Da ist der Verkaufspreis nur ein Aspekt, optimierte Lebenszykluskosten sind insgesamt weitaus relevanter. Hier sind die Chancen deutscher Hersteller wie Bosch, Solarworld und anderer zu sehen, die dem Investor ein wertbeständiges Produkt anbieten, bei dem er sich darauf verlassen kann, dass es in den nächsten 20 Jahren auch funktioniert und falls doch ein Schadensfall eintreten sollte, der Hersteller das Garantieversprechen auch einlösen wird.

Chancen für ein Europa der Regionen

Roland Sturm

Chancen für ein Europa der Regionen

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Die Vision eines »Europa der Regionen«

Ein »Europa der Regionen« ist empirisch schwer in feste Konturen zu pressen und in historischer Perspektive ständig in Bewegung. Dennoch entstand in Deutschland in den 1980er Jahren die Vision eines »Europa der Regionen«. Wie kam es dazu? In den 1980er Jahren wurde den Europäern erstmals deutlich bewusst, welche Kraft die wirtschaftliche Globalisierung zu entfalten im Stande war. Die damalige japanische Hochtechnologieherausforderung machte den Europäern klar, dass neben dem Wirtschaftsraum USA nun neue Wirtschaftsräume entstanden waren, vor allem der asiatische. Dies veranlasste sie, sich stärker auf die Potentiale der EG zu besinnen und mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 einen Prozess einzuleiten, der zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes zum 1.1.1993 führte. Die Stärkung der EG schien ein weiterer Schritt zur Entmachtung der Nationalstaaten in Europa. Gleichzeitig verstärkte die EG ihre Regionalpolitik und erkannte in diesem Zusammenhang die europäischen Regionen als Partner an. Aus Sicht der Regionen erforderte der grenzenlose Binnenmarkt eigene industriepolitische Initiativen, um Arbeitsplätze und Firmen in den Regionen zu halten.1 Es schien so, als löse die regionale ökonomische Konkurrenz im erweiterten Binnenmarkt die nun nicht mehr vordringliche nationale ökonomische Konkurrenz ab. Die politischen Folgen der geänderten europapolitischen Konstellation fasste der amerikanische Soziologe Daniel Bell in dem Bonmot zusammen: Der Nationalstaat ist zu klein für die großen Probleme und zu groß für die kleinen Probleme heutiger Gesellschaften.2 Der damalige Bundespräsident

1 Vgl. Ulrich Jürgens/Wolfgang Krumbein (Hg.): Industriepolitische Strategien. Bundesländer im Vergleich, Berlin 1991; Roland Sturm: Die Industriepolitik der Bundesländer und die europäische Integration, Baden-Baden 1991. 2 Daniel Bell: Previewing Planet Earth in 2013, Washington Post vom 3. Januar 1988, S. B3.

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Richard von Weizsäcker formulierte 1991 den gleichen Gedanken differenzierter: »Es gibt nicht das Ende des Nationalstaats um seiner selbst willen. Es gibt aber ein für jeden erkennbares Bündel von Hauptaufgaben für Gegenwart und Zukunft, deren Lösung im Nationalstaat nicht erreichbar ist. Wir werden überhaupt nicht darum herumkommen, sukzessive Entscheidungsbefugnisse auf übernationale Organisationen zu übertragen oder in übernationalen Strukturen zu vereinen. Daneben gibt es ein primär menschlich und seelisch begründetes Bedürfnis nach Verankerung, das sich in vielen Teilen Europas ja vor allem in den Regionen erfüllt.«3

Der bayerische SPD-Politiker Peter Glotz veröffentlichte zu diesem Thema ein Buch mit dem Titel: »Der Irrweg des Nationalstaats«.4 In der Fachliteratur wurde ein »Sandwich-Modell«5 diskutiert, wonach der Nationalstaat von der europäischen und der regionalen Ebene flankiert bzw. zwischen beiden eingeklemmt wurde. In der politischen Praxis griffen die Ministerpräsidenten Bayerns und Baden-Württembergs, Max Streibl und Lothar Späth, den Gedanken der Neupositionierung der deutschen Länder in einem »Europa der Regionen« auf. Dieser ließ sich strategisch mit dem Subsidiaritätsprinzip verbinden, das 1992 auch den Weg in die europäischen Verträge fand (Maastricht).6 Max Streibl organisierte Tagungen von Regionalvertretern und bemühte sich, der regionalen Dimension Europas politische Relevanz zu verschaffen. Lothar Späth dachte die Führungsrolle der Regionen konsequent weiter, auch im Hinblick auf die Fähigkeiten der EU im weltweiten technologischen Wettbewerb. Er startete die Initiative »Vier Motoren für Europa«: Die vier führenden Wirtschafts- und Kulturregionen Baden-Württemberg, Rhône-Alpes, Katalonien und Lombardei sollten eine Pionierrolle in der EU übernehmen und als Katalysator für wirtschaftlichen und kulturellen Wandel wirken.7 Auch wenn wir heute in der EU eher die Konflikte von Nationalstaaten wahrnehmen und diese weit davon entfernt sind, wie in den 1980er Jahren 3 Zitiert nach Roland Sturm: Die Industriepolitik der Bundesländer und die europäische Integration, a. a. O. 4 Peter Glotz: Der Irrweg des Nationalstaats, Stuttgart 1990. 5 Vgl. Thiemo W. Eser: Europäische Einigung, Föderalismus und Regionalpolitik, Trier 1991. 6 Roland Sturm: Regions in the New Germany, in: Michael Keating/John Loughlin (Hg.): The Political Economy of Regionalism, London/Portland, OR. 1997, S. 275– 291, hier S. 279. 7 ���������������������������������������������������������������������������� Zu einer neueren Evaluation vgl. Petra Zimmermann-Steinhart: Europas erfolgreiche Regionen, Baden-Baden 2003.

Chancen für ein Europa der Regionen

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vermutet, von der politischen Bühne abzutreten, gibt es in den europäischen Regionen doch ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein. In Deutschland haben sich die großen Länder immer als eigenständige Stimme in der EU gesehen, parteiübergreifend. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise lässt sich der Bogen spannen von den Regierungserklärungen des Sozialdemokraten Wolfgang Clement, der für sein Land aufgrund dessen Größe und wirtschaftlicher Bedeutung eine eigenständigere Rolle in Europa einforderte, bis zu CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, der erwog, NRW in die Benelux-Staatengruppe zu führen.8

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Die Beteiligung der Länder an EU-Entscheidungen

Die europäischen Verträge haben sich im Laufe der Zeit immer mehr den Anliegen der europäischen Regionen geöffnet. Für die deutschen Länder gab es immer zwei Wege, sich im Rahmen der institutionellen Entscheidungswege der EU zu engagieren. Zum einen auf dem Brüsseler Parkett und zum anderen auf dem Umweg der Beteiligung an nationalen Entscheidungen in der Europapolitik. In Brüssel besteht mit dem Ausschuss der Regionen (AdR) seit 1994 auf europäischer Ebene eine institutionalisierte Interessenvertretung der Gemeinden und Regionen Europas. Der Lissabon-Vertrag garantiert dem AdR ein Anhörungsrecht im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Auch eine Subsidiaritätsklage wird dem Ausschuss der Regionen an die Hand gegeben »in Bezug auf Gesetzgebungsakte, für deren Erlass die Anhörung des Ausschusses der Regionen nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgeschrieben ist« (Artikel 8, Protokoll Nr. 2). Es bleibt aus der Sicht von Landesregierungen und Landtagen offen, ob angesichts der Quoren, die im AdR für eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof nötig sein werden, die deutschen Länder für eines ihrer Anliegen Unterstützung finden können. Der AdR sieht sich selbst als wichtigen Akteur im neuen europäischen Regieren und beruft sich dabei auf das Weißbuch »Europäisches Regieren« 8 Zur Diskussion nach dem Maastrichter Vertrag 1992 vgl. u. a. Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Technologie und Europaangelegenheiten (Hg.): Europa der Regionen. Versuch zur Klärung eines Begriffs, Wiesbaden 1993; Rudolf Hrbek/Sabine Weyand: betrifft: Das Europa der Regionen, München 1994; Mario Caciagli: Regioni d’Europa, Bologna 2003, S. 199 ff.; Peter Bußjäger: Regionen mit zwei Geschwindigkeiten? Mythos und Realität des Europas der Regionen, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2007, Baden-Baden 2007, S. 574–588.

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der Kommission von 2001. Legitimatorisch ist nicht unproblematisch, dass der AdR nach seinen eigenen Erhebungen von 2009 weit weniger in der europäischen Bevölkerung verankert ist als nationale Regionen. Sein Bekanntheitsgrad beträgt 24 %. »Zudem wurde ermittelt, dass nur 4 % der Befragten, die den AdR kennen, auch mit dessen Rolle vertraut sind […] Über die Hälfte der Befragten haben angegeben, dass sie überhaupt nichts über die Rolle des AdR wissen (52 %) und weitere 18 % haben spontan geantwortet, dass sie vor der Umfrage noch nie vom AdR gehört hätten.«9

Die deutschen Länder hatten einige Mühe, sich an die Konstruktion und Arbeitsweise des AdR zu gewöhnen. Sie hatten ein Regionalorgan (ohne Beteiligung der Gemeinden) gefordert, das wie der Bundesrat arbeiten sollte.10 Sie sahen mit wachsendem Unbehagen, dass der AdR aus ihrer Sicht zu stark auf kommunale Interessenvertreter Rücksicht nimmt und zu wenig deutlich regionale Interessen in den Entscheidungsprozess der EU einzuspeisen versteht. Im Vorfeld des Europäischen Rates von Nizza (2000) initiierte die belgische Region Flandern eine neue Ebene regionaler Zusammenarbeit, um der Kompetenzausweitung der EU auf Kosten der Regionen entgegenzutreten. Diese Flandern-Initiative war der Beginn einer auf Dauer angelegten Zusammenarbeit der »konstitutionellen Regionen« (also der Regionen, die im nationalen Kontext Verfassungsrang haben und Legislativaufgaben wahrnehmen, abgekürzt: REGLEG), an der sich zunächst neben Flandern das belgische Wallonien, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Katalonien, Schottland und Salzburg beteiligten.11 Sie äußerten Bedenken, »ob der Ausschuss der Regionen in seiner derzeitigen Gestalt und mit seinem gegenwärtigen institutionellen Status den Bedürfnissen und Anliegen der Regionen gerecht werden kann.«12 9 Otto Schmuck: Der Ausschuss der Regionen, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2010, BadenBaden 2010, S. 414–425, hier S. 423. 10 Manfred Degen: Der Ausschuß der Regionen – Bilanz und Perspektiven, in: Franz H. U. Borkenhagen (Hg.): Europapolitik der deutschen Länder, Opladen 1998, S. 103–125, hier S. 103 f. 11 Anna Gamper: Die Regionen mit Gesetzgebungshoheit. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zu Föderalismus und Regionalismus in Europa, Frankfurt u. a. 2004. 12 Zitiert nach Thomas Wiedmann: Abschied der Regionen vom AdR – Der Ausschuss der Regionen vor der Zerreißprobe, in: Europäischen Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2002, BadenBaden 2002, S. 541–551, hier S. 545 f.

Chancen für ein Europa der Regionen

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Bisher haben die »konstitutionellen Regionen« ihre Mitarbeit im AdR noch nicht aufgekündigt, und der AdR tut schon aus Eigeninteresse sein Möglichstes, um seine einflussreichsten Mitglieder einzubinden. Die Stärkung des AdR im Lissabon-Vertrag hat die REGLEG-Gruppe dazu bewogen, dem AdR Unterstützung für seine neue Rolle anzubieten, ohne allerdings ihre eigenständigen Initiativen einzuschränken.13 Sie bilden nun eine interregionale Gruppe innerhalb des AdR neben anderen themenbezogenen interregionalen Gruppen. Zu beobachten ist allerdings die problematische Tendenz, dass der AdR seine Prioritäten in der institutionellen Konkurrenz in Brüssel sieht und weniger als Verteidiger der Interessen seiner Mitglieder. Darauf deutet auch seine Rolle bei der Subsidiaritätskontrolle hin. Die nationalen Parlamente oder die Kammern eines nationalen Parlaments (im deutschen Fall wäre das auch der Bundesrat) können binnen acht Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung des Entwurfs eines Gesetzgebungsakts der EU in einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist. Für die Länder bedeutet dies nicht nur die Möglichkeit, einen solchen Prozess im Bundesrat anzustoßen, sondern auch die Notwendigkeit, durch Kooperation mit anderen europäischen Regionen für einen Einspruch in der EU zu mobilisieren. Hilfestellung hierfür könnte das Subsidiaritätsnetzwerk des Ausschusses der Regionen bieten. Kernstück des Netzwerkes ist eine interaktive Internetplattform, die zwischen 2005 und 2007 errichtet wurde.14 Die Kriterien ebenso wie die Erlaubnis zur Teilnahme am Subsidiaritätsnetzwerk kontrolliert der AdR. Dies ist nicht unbedenklich hinsichtlich des Kontrollanspruchs der deutschen Länder: »Der AdR sammelt wie in einer Blackbox die Subsidiaritätsanalysen. Es hängt vom Ermessen des Berichterstatters ab, in welcher Form er auf die mitunter sehr verschiedenartigen Ergebnisse der Analysen Bezug nimmt. […] Die Mitwirkenden des Netzwerks erhalten nicht einmal eine Information, inwieweit der AdR in 13 Andreas Kiefer: Informelle effektive interregionale Regierungszusammenarbeit: REG LEG – die Konferenz der Präsidenten von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen und ihre Beiträge zur europäischen Verfassungsdiskussion 2000 bis 2003, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2004, Baden-Baden 2004, S. 398–412, hier S. 411 f. 14 Gerhard Stahl/Christian Gsodam: Das Subsidiaritätsnetzwerk des Ausschusses der Regionen, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2008, Baden-Baden 2008, S. 555–569.

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seiner Stellungnahme ihren Bedenken gefolgt ist. Die Mitwirkung am Subsidiaritätsnetzwerk stellt sich somit als eine Einbahnstraße dar.«15

3

Nationale Beteiligung an der Europapolitik

Den Ländern gelang es nicht, ihre ausschließliche Gesetzgebungskompetenz auf Dauer wirkungsvoll vor dem Sog der Europäisierung zu schützen. Es musste deshalb ihr Bestreben sein, wenigstens die nach einer verbindlichen Kompetenzabgrenzung der politischen Ebenen (EU–Bund–Länder) zweitbeste Lösung zu erreichen, nämlich ihre mögliche Mitsprache durch den Bundesrat bei EU-Entscheidungen zu optimieren. Dies gelang begrenzt im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages (1992), der Föderalismusreform I (2006), durch Neuerungen im Lissabon-Vertrag (2009) und aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-­ Vertrag (2009). Tabelle 1: Entwicklung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder in der Europapolitik 1956

Länderbeobachter

1957

Sonderausschuss Gemeinsamer Markt und Freihandelszone des Bundesrates, umbenannt 1965 in Ausschuss für Fragen der Europäischen Gemeinschaft (EG-Ausschuss) und 1992 in Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU-Ausschuss)

1979

Neues Länderbeteiligungsverfahren

1986

Bundesratsverfahren im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte

1992

Neufassung Artikel 23 Grundgesetz

2006

Föderalismusreform I: Neufassung Artikel 23 Grundgesetz und Mithaftungsregeln für die Länder bei EU-Regelverstößen

2009

Lissabon-Vertrag: Subsidiaritätskontrolle und Klagerecht des Bundesrates sowie des Ausschusses der Regionen vor dem Gericht der EU

2009

Begleitgesetze zum Lissabon-Vertrag

Quelle: Roland Sturm/Heinrich Pehle: Das neue deutsche Regierungssystem, 3. Aufl., Wiesbaden 2012.

15 ������������������������������������������������������������������������ Peter Bußjäger: Frühlingserwachen? Über die aufkeimende Liebe der regionalen und nationalen Parlamente an der Mitwirkung in der Europäischen Union, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2009, Baden-Baden 2009, S. 503–513, hier S. 512.

Chancen für ein Europa der Regionen

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Chancen für Europas Regionen

Auch wenn der Traum europäischer Regionalisten vom Ende des Nationalstaats in der EU nicht wahr wurde, ist es den Regionen doch gelungen, sich Anerkennung und Gehör auf europäischer Ebene zu verschaffen. Seit dem Lissabon-Vertrag sind die europäischen Verträge nicht mehr »regionenblind«. In Artikel 4 Absatz 2 EUV heißt es: »Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.«

Statt eines »Europas der Regionen« wurde ein »Europa mit Regionen« verwirklicht. Für die deutschen Länder und insbesondere die Landesparlamente bedeutet die europäische Integration dennoch eine institutionelle und politische Schwächung, die durch die Beteiligungsmöglichkeiten bei EU-Entscheidungen nicht kompensiert werden konnte. Bayern, wie auch andere Regionen, haben als beste Strategie der Interessenvertretung den eigenständigen Lobbyismus in Brüssel zugunsten des Landes entdeckt. Regionale Europaabgeordnete und die Kommission sind »erste Adressen«. Hier – im informellen Bereich – liegen die größten Chancen europäischer Regionen, insbesondere wenn es gelingt, Ad-hoc-Koalitionen mit anderen Regionen und nationalen Regierungen zu bilden. Noch konkreter wird das Europa der Regionen allerdings in der grenzüberschreitenden und interregionalen Zusammenarbeit. Außerhalb des EU-Institutionengefüges, aber häufig gefördert durch die EU, vor allem durch INTERREG-Mittel, haben sich zahlreiche Formen der Zusammenarbeit von europäischen Regionen herausgebildet, an denen sich auch die Länder im Rahmen ihrer Politik in Europa beteiligen. Zu unterscheiden sind hier einerseits die interregionale Zusammenarbeit, also entsprechend der internationalen Zusammenarbeit von Staaten die internationale Zusammenarbeit von Regionen in der EU, nicht selten aber auch von EU-Regionen und von Regionen außerhalb der EU, und andererseits die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, welche Grenzregionen zusammenbringt, die sich darum bemühen, die negativen Folgen von Grenzziehungen zu überwinden. Denn Grenzen können gemeinsame Wirtschaftsräume ebenso behindern wie gemeinsame Problem­lösungen für die Optimierung der Lebensbedingungen der Bevölkerung diesseits und jenseits von Grenzen. Besonders dysfunktional sind Grenzziehungen, die Hürden für die regionale Wirtschaftsentwicklung im Europäischen Binnenmarkt errichten.

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Roland Sturm

In dem Versuch, gemeinsame Probleme zu lösen, liegt das Erfolgsgeheimnis grenzüber­schreitender Zusammenarbeit.16 Wie auch bei der interregionalen Zusammenarbeit traf diese zunächst auf Vorbehalte bei nationalen Regierungen, die ihr Monopol in der Außenpolitik bedroht sahen. Die deutschen Länder haben sich mit großem Erfolg Spielräume in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gesichert. 1992 wurde in Artikel 24 des Grundgesetzes ein Absatz 1a eingeführt, er bestimmt: »Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen.« Damit kann – zumindest was die deutschen Partner angeht – über grenzüberschreitende Tourismusförderung ebenso problemlos entschieden werden wie über grenzüberschreitende Umweltprogramme oder Wirtschaftshilfen. Der Karlsruher Vertrag17 von 1996 hat Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Luxemburg als Vertragspartner eines internationalen Vertrages zusammengebracht, der mit Zustimmung der betroffenen Nationalstaaten einen Rahmen absteckt, innerhalb dessen deren Grenzregionen ohne die Notwendigkeit, sich permanent der Zustimmung der nationalen Regierungen versichern zu müssen, ihre interregionale grenzüberschreitende Zusammenarbeit frei gestalten können. Als Rechtsgrundlage hierfür wurden erstmals die Möglichkeiten des Artikels 24 Absatz 1a GG genutzt. Binationale Einrichtungen können zu ihrer Eigenfinanzierung diesseits und jenseits der Grenze auch Gebühren erheben. Kooperationsfelder für die Grenzregionen, zum Beispiel im Oberrheingebiet, sind unter anderem Industrieansiedlungsprojekte, Verkehrs­verbünde, Müll- und Abwasserentsorgung, Straßenbau, Gewässerschutz oder Flächennutzungspläne.

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Bayern im Bund und in der EU

Es ist nicht überraschend, dass die Rolle Bayerns im Bund und in der EU nicht von derjenigen der CSU im Bund zu trennen ist, dennoch ist die bundes- und die landespolitische Sicht nicht spannungsfrei. Bayerische Interessenvertretung erfordert die Bereitschaft zum Konflikt mit dem Bund, aber 16 Silvia Raich: Grenzüberschreitende und interregionale Zusammenarbeit in einem »Europa der Regionen«, Baden-Baden 1995. 17 Gregor Halmes: Das Karlsruher Übereinkommen und seine bisherige Umsetzung, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2000, Baden-Baden 2000, S. 428–438.

Chancen für ein Europa der Regionen

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auch der EU und, denken wir an den Finanzausgleich, mit den anderen Ländern. Da Bayern aber, anders als dies manche ausländischen Kollegen vermuten, nicht wie Schottland oder Katalonien nach einem höheren Grad staatlicher Unabhängigkeit strebt, wird jede bayerische Landesregierung den Interessenausgleich einem bayerischen Separatismus vorziehen. Wer in Berlin und Brüssel mitspielt, wird auf Regeln verpflichtet – seien es die des Bundesrates, seien es die der Kommission. Die bayerische Beamtenschaft ist sicher erfahren darin, die Grenzen solcher Regeln auszutesten und in Brüssel einen effizienten Lobbyismus, durchaus auch im Schulterschluss mit anderen Regionen, zu betreiben. Zuhause pflegt Bayern die schon erwähnte grenzüberschreitende und interregionale Zusammenarbeit mit erheblichem Engagement. Dabei sein und doch sich selbst treu bleiben, könnte das politische Motto Bayerns lauten. Bayerns Bevölkerung hat dies verinnerlicht. Wie die Untersuchungen unserer Erlangen-Heidelberger Föderalismus-Forschergruppe gezeigt haben, hat die bayerische Bevölkerung kein Problem mit bundesdeutscher Mehrebenenpolitik. Sie identifiziert sich nicht ausschließlich mit Bayern, sondern hat ein ebenenübergreifendes (EU–Bund–Länder) staatsbürgerliches Verständnis entwickelt.18

18 Julia Oberhofer/Julia Stehlin/Roland Sturm: Citizenship im unitarischen Bundesstaat, in: Politische Vierteljahresschrift, 52. Jg., Nr. 2/2011, S. 163–194.

Eugenie Trützschler von Falkenstein

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

1 Die Euroregionen und ihre Stellung in der Europäischen Union Als Euroregionen werden die Zusammenschlüsse von zwei oder mehr Regionen in mindestens zwei europäischen Staaten bezeichnet, die eine gemeinsame Grenze haben, wobei die Größe der Regionen durchaus unterschiedlich sein kann, da der Begriff »Region« unterschiedlich gebraucht wird.1 Die älteste Euroregion entstand bereits 1958 an der deutsch-niederländischen Grenze. Inzwischen gibt es 185 Euroregionen. Jedoch nur 85 sind in der Arbeitsgemeinschaft der europäischen Grenzregionen (AGEG) vereint. Deutsche Gemeinden und Landkreise sind Mitglieder in 12 Euroregionen.2 Hiervon sind acht seit 1990 entstanden: die Euroregion Pomerania, die Euroregion Pro Europa Viadrina, die Euroregion Spree-Neisse-Bober, die Euroregion Neisse-Nisa-Nysa, die Euroregion Elbe/Labe, die Euroregion Erzge1 ��������������������������������������������������������������������������� Zum Regionalismus siehe z. B. Fried Esterbauer (Hg.): Regionalismus. Phänomen, Planungsmittel, Herausforderung für Europa, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1978; Günther Lottes/Georg Kunz: Region, Nation, Europa. Historische Determinanten der Neugliederung eines Kontinents, Heidelberg 1992; John Newhouse: Europe’s Rising Regionalism, in: Foreign Affairs, Jan/Feb 1997, S. 67–83; Christoph Koellreuter: Zunehmende Globalisierung: Herausforderung für die Regionen Europas, Referat anlässlich der Generalversammlung der VRE am 5.12.1996, Basel 1996. Die Bedeutung der Regionen in der EU wurde durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) in der Fassung vom 1. Januar 1995 gewürdigt, in dem der Ausschuss der Regionen ins Leben gerufen wurde (Kapitel 4 Art. 198 des EGVertrages). Siehe hierzu Kai Hasselbach: Der Ausschuss der Regionen in der Europäischen Union; Die Institutionalisierung der Regionalbeteiligung in der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der regionalen und dezentralen Verwaltungsstrukturen in den EU-Mitgliedsstaaten, Jena 1997. Vor der Bildung dieses Ausschusses wurden seit 1986 die Interessen der Regionen in Europa seitens der VRE (Versammlung der Regionen Europas) wahrgenommen. Die VRE hat über 300 Mitglieder, auch aus den mittel- und osteuropäischen Ländern. 2 Vgl. www.aebr.eu/en./memberlist [10.01.2012].

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birge/Krusnohori, die Euregio Egrensis sowie die Euregio Bayerischer Wald – Böhmerwald. Mit ihrem Entstehen wurde die Zusammenarbeit zwischen Regionen wiederhergestellt, die traditionell schon über Jahrhunderte kooperiert hatten oder gar zusammengehörten und die erst durch die Grenzziehungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges und durch die entstehenden militärischen Blöcke in Ost und West getrennt wurden. Die negativen Auswirkungen dieser jahrzehntelangen Trennung zeigten sich unmittelbar nach der Grenzöffnung 1989: Es gab vielfältige Probleme im Güter- und Personenverkehr durch die geringe Anzahl und den schlechten Zustand der Straßen und Schienenwege; ungenügende Grenzübergänge führten zu langen Staus; gravierende Umweltschäden und hohe Arbeitslosenzahlen kamen hinzu. Doch es gab schon sehr früh Menschen vor Ort, die sich für eine grenzüberschreitende Kooperation einsetzten, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Bis heute wird diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit von den lokalen Gebietskörperschaften wahrgenommen und durchgeführt: auf deutscher Seite sind dies Zusammenschlüsse von Landkreisen und kreisfreien Städten, auf tschechischer Seite hingegen, wo es die entsprechende regionale Gliederung nicht gibt, entscheidet jede einzelne Gemeinde selbst, ob sie der Euroregion beitritt oder nicht. Im Rahmen des europäischen Binnenmarktes übernehmen die Euroregionen Aufgaben und Projekte, die zuvor durch die Barrieren an den Staatsgrenzen behindert wurden.3 An den EU-Außengrenzen kommt die Aufgabe hinzu, die Grenzregion schrittweise aus der Randlage herauszuführen, indem neue Brücken zu den EU-Anrainerstaaten gebaut werden und das Wirtschafts-, Währungs- und Lohngefälle an der Grenze gemildert wird. Um notwendige Aufgaben zum Wohle der Bürger auf beiden Seiten der Grenze umzusetzen, sind die Euroregionen Drehscheiben für grenzübergreifende Beziehungen und Kontakte, sie dienen der Wissensvermittlung und Projektrealisierung. Zentrale Bedeutung kommt den Euroregionen bei der Erstellung der Operationellen Programme der Europäischen Union zu. Auf Grundlage dieser Programme werden die Mittel aus den Struktur- und Regionalfonds für die einzelnen Regionen bereitgestellt.4 Um all diese Aufgaben im Sinne der Bürger bewältigen zu können, wäre es sinnvoll, die Mittel für grenzüberschreitende Projekte nicht wie bisher über die nationalstaatliche 3 Bericht der Kommission über die Durchführung des Programms über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Gemeinschaft und Ländern in Mittel- und Osteuropa 1994 (KOM(95)-C4-0142/96). 4 Siehe z. B. das Operationelle Programm des Freistaates Thüringen für den Einsatz der Europäischen Strukturfonds in der Periode von 2007–2013, genehmigt am 26.10.2007 (KOM 2007 CCI-Code: 2007DE161PO001).

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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Ebene, sondern direkt von der Europäischen Union in Brüssel an die Euroregionen zu leiten. Zu den zentralen Akteuren in der Euroregion gehören neben den regionalen und kommunalen Gebietskörperschaften die Sozialpartner wie Verbände, Vereine und Schulen. Sie sollen in thematischen Arbeitskreisen bestmögliche Problemlösungen für die Euroregion erarbeiten. In die Arbeit der Euroregionen müssen möglichst alle wichtigen Akteure beiderseits der Grenze eingebunden werden, um grenzübergreifende Netzwerke zu schaffen.5 Solche Netzwerke dienen nicht nur der wirtschaftlichen und infrastrukturellen Kooperation, sie spielen auch eine Schlüsselrolle bei der Überwindung der soziokulturellen Barrieren im sozialen Sektor, im Bildungsbereich, in der Spracherziehung sowie bei der Lösung von Alltagsproblemen, die sich aus der Grenzsituation ergeben und bei deren Lösung die Zusammenarbeit der Feuerwehren, Krankenhäuser sowie der Polizei beider Staaten von Vorteil ist.

2 Institutionen 2.1 Die Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen (AGEG) Aus der Überlegung, dass Grenzregionen in Europa als Friedensgarant dienen können, wenn Menschen über die nationalen Grenzen hinweg zusammenarbeiten, entstand die Idee zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen (AGEG), die 1971 unter Beteiligung von zehn europäischen Grenzregionen verwirklicht wurde.6 Inzwischen sind mehr als einhundert Grenz- und grenzübergreifende Regionen Mitglieder in der AGEG. Sie ist eine freiwillige Organisation und kein Organ der Europäischen Union. Die AGEG will mit ihren Aktivitäten auf die spezifischen Probleme und Chancen sowie die Verantwortlichkeiten und Aktivitäten der Grenz- und grenzüberschreitenden Regionen hinweisen, deren gemeinsame Interessen gegenüber nationalen und internationalen Institutionen vertreten, die Zusammenarbeit dieser Regionen in ganz Europa initiieren, unterstützen und koordinieren sowie den Austausch von Informationen und Erfahrungen fördern, um aus dem weiten Feld grenzüberschreitender Probleme und Chancen

5 Siehe hierzu den Punkt 2 des Empfehlungsentwurfes im Bericht der Arbeitsgruppe für Internationale Zusammenarbeit des Europarates, ebenda. 6 Association of European Border Regions (AEBR), vgl. www.aebr.eu [10.01.2012].

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gemeinsame Interessen zu identifizieren und zu koordinieren und Lösungsansätze zu definieren.7 Die Arbeitsgemeinschaft unterscheidet zwischen Mitgliedern mit und ohne Stimmrecht. Stimmberechtigt sind europäische Grenz- und grenzübergreifende Regionen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bzw. des Europarates, darüber hinaus Zusammenschlüsse von Grenzregionen innerhalb mehrerer Staaten, solange deren Einzelmitglieder nicht selbstständige Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft sind. Mitglieder ohne Stimmrecht können natürliche Personen, Personenvereinigungen, Institutionen und Institute werden, die auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit tätig sind, sowie Einzelpersonen als Ehrenmitglieder. Die Mitgliederversammlung als das oberste Organ der AGEG wählt den Präsidenten und das Präsidium. Das alle zwei Jahre zu wählende Präsidium ist zuständig für die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Verbänden, es ernennt den Generalsekretär und verfasst grundsätzliche Stellungnahmen.8 2.2 Der Europäische Verbund für grenzüberschreitende Zusammenarbeit Die Tatsache, dass die Kommission der Europäischen Union im Jahr 2004 die Schaffung eines Europäischen Verbunds für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (EVGZ) vorgeschlagen hat9, zeigt, dass man bei der EU die Bedeutung der Grenzregionen als Friedens- und Wirtschaftsfaktor in Europa hoch schätzt. Der Vorschlag war Teil des Kohäsionsgesetzespakets, das aus einer allgemeinen Verordnung, einer Verordnung für den Europäischen Sozialfonds (ESF), für den Kohäsionsfonds und für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) besteht.10 Im Europäischen Parlament wurde kontrovers diskutiert, ob der neu geschaffene Verbund nur den klassischen Grenzregionen offen stehen soll, 7 Vgl. ebenda. 8 Das Präsidium besteht aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten, dem Schatzmeister, dem Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirates und aus mindestens zwanzig Vertretern der Grenzregionen. 9 Grundlage bildet hierbei Artikel 159, Unterabsatz 3, des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Der Artikel 159, Absatz 3, sieht vor, dass spezifische Aktionen außerhalb der Fonds festgelegt werden können, wenn dies der im Vertrag vorgesehenen Zielsetzung, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu verwirklichen, dient. 10 Berichtsentwurf des Europäischen Parlaments über die Rolle der »Euroregionen« bei der Entwicklung der Regionalpolitik. PR\571582DE.doc 9/10 PE 360.073v0100.

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wie es der Europa-Abgeordnete Kyriacos Triantaphyllides11 forderte, oder auch den Regionen, die interregional und transnational zusammenarbeiten, wie sein polnischer Kollege Jan Olbrycht12 vorschlug. Für die zweite Variante spricht, dass die Europäische Union seit 1999 auch die interregionale und transnationale Zusammenarbeit finanziell fördert. Die Gegner befürchteten, dass mit der Schaffung eines nicht nur die Grenzregionen umfassenden Verbundes die ursprüngliche Idee der Euroregionen, als Friedensgarant über die nationalen Grenzen hinweg zu wirken, ausgehöhlt werde und man eine Institution schaffen würde, deren Größe nicht eingrenzbar wäre. Letztlich hat sich Olbrycht mit seiner Argumentation durchgesetzt. Die jetzt vorgesehene Institution trägt den Namen »Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit« (EVTZ).13 Eine entsprechende Verordnung trat zum 1. Janu­ar 2007 in Kraft. Thüringen hat hierzu bereits im Juli 2007 eine Verordnung erlassen, hiernach ist für die Schaffung des EVTZ das Landesverwaltungsamt zuständig.14 Der EVTZ hat zum Ziel, die territoriale, grenzübergreifende, transnationale und interregionale Zusammenarbeit zwischen den regionalen und kommunalen Gebietskörperschaften in der Europäischen Union zu erleichtern und zu fördern, um den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken.15 Er stellt ein neues Rechtsinstrument dar, das es den Beteiligten ermöglicht, auch ohne Strukturfondsunterstützung und ohne die Beteiligung der Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Bestehende zweiseitige Abkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten

11 Kyriacos Triantaphyllides: Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Rolle der »Euroregionen« bei der Entwicklung der Regionalpolitik, Ausschuss für regionale Entwicklung (2004/2257(INI), PE 360.073v01-00 2/10 PR\57158). 12 Jan Olbrycht: Report on the proposal for regulation of European Parliament and of the Counsil on establishing a European grouping of cross-border cooperation (EGCC), 21.06.2005, A6-0206/2005, Committee on Regional Development. 13 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ), Verordnung EG Nr. 1082/2006. 14 Thüringer Verordnung zur Übertragung von Zuständigkeiten nach der Verordnung (EG) Nr. 1082/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (Thüringer EVTZ-Zuständigkeitsverordnung) vom 23. Juli 2007 15 Artikel 1, Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1082/2006 des Europäischen Parlaments Verordnung, a. a. O.

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und/oder regionalen oder lokalen Behörden, beispielsweise das Karlsruher Abkommen16, bleiben in Kraft. Der EVTZ handelt im Rahmen der ihm anvertrauten Aufgaben, deren Ausführung er einem seiner Mitglieder übertragen hat. Die Aufgabe des Verbundes ist die Umsetzung der EU-Programme mit Mitteln aus den Programmen für territoriale Zusammenarbeit der EU und/oder mit nationalen Mitteln.17 In der Verordnung wird ausdrücklich festgelegt, dass die Mitgliedstaaten keine finanzielle Haftung trifft, selbst wenn ihre regionalen und lokalen Gebietskörperschaften Mitglied der EVTZ sind.18 Die Aufgaben, Arbeitsweise und Kompetenzen des Verbundes müssen von den Mitgliedern in einem zu schaffenden Abkommen festgelegt werden.19 Das neu geschaffene Abkommen des EVTZ wird den entsprechenden Mitgliedstaaten, der Kommission sowie dem Ausschuss der Regionen notifiziert. Die Festlegung in Artikel 1 des Abkommens, dass die zuständigen Behörden desjenigen Mitgliedstaates, in dem die EVTZ ihren Sitz hat, gemeinsam mit der Europä­ ischen Union gegenüber dem EVTZ Kontrollbefugnisse über die Verwaltung und Verwendung sowohl nationaler als auch gemeinschaftlicher öffentlicher Mittel ausüben, muss durchaus kritisch betrachtet werden. Seitens der AGEG wurde die Gründung der EVTZ begrüßt, denn aus ihrer Sicht stärkt sie die Bedeutung der Euroregionen in der Europäischen Union. Ähnlich ist seinerzeit die Schaffung des Ausschusses der Regionen durch die Maastrichter Verträge von der Versammlung der Regionen begrüßt worden. Als nicht EU-Organisation hat man damit gewürdigt, dass jahrzehntelange Forderungen endlich in der Politik Gehör gefunden haben. Instrumente dieser Art sind gerade für neue Mitgliedstaaten relevant, da sie einen Nutzen aus den bewährten Praktiken ziehen können. Das Konzept der Euroregionen könnte damit auf weitere zahlreiche Aspekte der Zusammenarbeit ausgedehnt werden.

16 Übereinkommen zwischen der Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Großherzogtums Luxemburg und dem schweizerischen Bundesrat, handelnd im Namen der Kantone Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Jura, über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Stellen [Karlsruhe, 23. Januar 1996], in Kraft getreten am 1. September 1997. 17 Artikel 3, Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1082/2006, a. a. O. 18 Artikel 3, Absatz 4 der Verordnung, ebendort. 19 Artikel 3, Absatz 1 und 2 der Verordnung, ebendort.

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Zwischenzeitlich sind bereits einige Verbünde für territoriale Zusammenarbeit entstanden, z. B. der Eurodistrict SaarMoselle20 oder der Verbund Tirol-Südtirol-Trentino21, die bezogen auf Fläche und Bevölkerung wesentlich größer sind als die bisherigen Euroregionen. Sie setzen die Schwerpunkte der Kooperation auf die Bereiche Wirtschaft und Energie, Grüner Korridor, Gesundheit, Jugend sowie Bildung und Forschung. Ob diese Verbünde auf Dauer auch effektiver sein werden als die Euroregionen, bleibt einstweilen noch offen.

3 Abkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit 3.1 Die Madrider Konvention Die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für das Zusammenwachsen Europas wurde seitens des Europarates bereits Ende der 1970er Jahre klar erkannt. Am 21. Mai 1980 wurde in Madrid das »Europäische Rahmenabkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften«22 (Madrider Konvention) verabschiedet. Das Abkommen greift allgemeine rechtliche und gesellschaftliche Grundsätze auf, auf denen die beiderseitige bzw. mehrseitige Kooperation zwischen den einzelnen Gebietskörperschaften benachbarter souveräner Staaten praktiziert werden soll.23 Diese Zusammenarbeit soll zum wirtschaftlichen Aufschwung und sozialen Fortschritt in der Grenzregion beitragen. Ein funktio20 Vgl. www.saarmoselle.org [10.02.2012]. Dem EVTZ gehören aktuell acht Stadtund Gemeindeverbände an, die über 100 Kommunen vertreten. Der Sitz des EVTZ befindet sich im französischen Sarreguemines (Saargemünd), die Geschäftsstelle im benachbarten Saarbrücken. 21 Die drei Länder unterhalten seit 1995 eine gemeinsame Vertretung in Brüssel. Die Übereinkunft und die Satzung des EVTZ wurden von den drei Landesregierungen Tirol, Südtirol und Trentino am 14.06.2011 unterzeichnet. Der Sitz des EVTZ befindet sich in Bozen. 22 ��������������������������������������������������������������������� Europäisches Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften, Nr. 106/1980. Siehe http://conventions.coe.int/treaty/ger/Treaties/Html/106.htm [10.02.2012]. Die Madrider Konvention wurde am 21. Mai 1980 zur Unterzeichnung vorgelegt und trat am 22. Dezember 1981 in Kraft. 23 ���������������������������������������������������������������������������������� Artikel 1: »Jede Vertragspartei verpflichtet sich, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Gebietskörperschaften in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich und den Gebietskörperschaften im Zuständigkeitsbereich anderer Vertragsparteien zu erleichtern und zu fördern.«, ebenda.

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nierendes grenzüberschreitendes Handeln ermöglicht es den Gemeinden und Regionen, ihre Kompetenzen zu stärken und anstehende Aufgaben zur größeren Zufriedenheit der Bevölkerung zu lösen. Um dies zu erreichen, verpflichten sich die Vertragsparteien in diesem Rahmenabkommen, den Gebietskörperschaften bzw. den ausführenden Behörden, die sich mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit befassen, dieselbe Unterstützung zu gewähren, wie sie dies Behörden im Rahmen der nationalen Kooperation gewähren würden.24 Diese Vereinbarung können alle Mitgliedsstaaten des Europarates unterzeichnen, und mit diesem Schritt verpflichten sie sich, die gutnachbarlichen Beziehungen zu fördern.25 Das Abkommen beinhaltet sechs Grundsätze, die zur Beseitigung der politischen, administrativen und juristischen Barrieren beitragen sollen, welche die direkte gegenseitige Zusammenarbeit der regionalen und kommunalen Organe, die unterschiedlichen Staaten angehören, behindern, ohne die innere Integrität der Verwaltung in den Nationalstaaten zu gefährden. Diese Vereinbarung wurde bewusst als ein Rahmenabkommen abgefasst. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass sie in keinem Fall die institutionelle Organisation oder die Kompetenz der innerstaatlichen Verwaltung erweitert.26 Der nach 1989 veränderten politischen Situation, vor allem aber der inzwischen gemachten Erfahrungen wurde in zwei Zusatzprotokollen Rechnung getragen. Im ersten Zusatzprotokoll von 199527 wurden die Respektierung der Rechte territorialer Körperschaften unterstrichen und die Grundsätze für die ins Leben zu rufenden grenzüberschreitenden Körperschaften dargelegt.28 Das zweite Zusatzprotokoll aus dem Jahr 1998 ging auf den ver24 Artikel 5 und Artikel 6 der Madrider Konvention, ebenda. 25 Artikel 9 der Madrider Konvention, ebenda. 26 Die Anlagen des Rahmenabkommens erhalten Muster für zwischenstaatliche Vereinbarungen und für Vereinbarungen, die unmittelbar zwischen den Organen der Gebietskörperschaften geschlossen werden können. 27 ����������������������������������������������������������������������������� Additional Protocol to the European outline convention on transfrontier cooperation beetween territorial communities or authorities; Nr. 159, Strasbourg, 9.XI.1995, und Protocol to the European outline convention on transfrontier cooperation between territorial communities or authorities concerning interterritorial co-operation; Nr. 169, Strasbourg, 5.V.1998. Das erste Zusatzprotokoll trat 1998 in Kraft, das zweite im Jahr 2001. 28 Das Zusatzprotokoll stellt es den Vertragsparteien frei, ob die von ihnen ins Leben gerufene Körperschaften juristische Person werden oder nicht. Falls diese als juristische Personen in dem Staat, in dem sie ihren Sitz haben, anerkannt werden wollen, müssen diese Körperschaften von allen Vertragsparteien auch als juristische Personen anerkannt werden. Siehe Artikel 3 des ersten Zusatzprotokolls, a. a. O.

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stärkten Wunsch von nicht unmittelbar benachbarten Regionen29 nach Zusammenarbeit ein (interterritorial cooperation)30 und erkannte für diese Regionen die gleichen Grundsätze der Zusammenarbeit an wie für die Grenzregionen. Vor allem die seit den 1990er Jahren an der früheren Ost-WestGrenze ins Leben gerufenen Euroregionen können sich bei der Schaffung von grenzüberschreitenden kommunalen Körperschaften an den in den beiden Protokollen niedergelegten Grundsätzen orientieren.31 Da nach Ansicht des Europarates die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und Regionen für die demokratische Stabilität Europas immer mehr an Bedeutung gewann, schlug die Arbeitsgruppe für interregionale Zusammenarbeit des Europarates32 am 18. September 2009 dem Europarat vor, die grenzüberschreitende Kooperation in größeren Einheiten als es bisher die Euroregionen waren zusammenzufassen und den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) zu fördern. Das am 16. November 2009 in Utrecht verabschiedete dritte Zusatzprotokoll regelt die Kompetenzen dieser neu zu schaffenden Körperschaften.33 3.2 Die Europäische Charta der Grenz- und grenzübergreifenden Regionen Die Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen hat aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen vor allem im Rahmen der Zusammenarbeit von deutsch-französischen bzw. deutsch-niederländischen Grenzregionen und unter Berücksichtigung der »Madrider Konvention« des Europa­ rates die »Europäische Charta der Grenz- und grenzübergreifenden 29 Die Frage, was eine Grenzregion ist, ist nicht klar zu beantworten. Die Praxis zeigt, dass es letztlich eine subjektive Entscheidung einer Stadt bzw. eines Teils eines Gebietes ist, sich als eine Grenzregion zu verstehen. ���������������������� Historische Verbindungen spielen hierbei eine wesentliche Rolle. 30 Artikel 5 des zweiten Zusatzprotokolls, a. a. O.: »For the purpose of the present Protocol, ›mutatis mutandis‹ means that in the Outline Convention and the Additional Protocol, the term ›transfrontier co-operation‹ shall be read as ›interterritorial co-operation‹«. 31 ����������������������������������������������������������������������������� So geht im Artikel 4 das erste Zusatzprotokoll davon aus, dass die grenzüberschreitenden Organe aus den Mitteln der jeweiligen territorialen Organe finanziert werden und auf Grund dessen ihr eigenes jährliches Budget aufstellen. 32 Der Bericht der Arbeitsgruppe wurde während der 17. Plenarsitzung am 28. September 2009 vom Berichterstatter Karl- Heinz Lambert aus Belgien vorgelegt. Der Bericht ist veröffentlicht unter: www.wcd.coe.int [10.02.2012]. 33 www.conventions.coe.int. Dieses Protokoll wurde bisher nur von 13 Staaten (darunter Deutschland) unterzeichnet und ist bis Juli 2012 nicht in Kraft getreten.

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Regionen«34 verfasst. Vor dem Hintergrund sehr typischer Probleme der Grenzregionen in Europa setzt sich diese Charta u. a. für die Umsetzung folgender Ziele ein: – Räume der Begegnung schaffen und soziokulturelle Bedingungen stärken, – Regionen als Motor grenzüberschreitender Zusammenarbeit verstehen, – Brückenfunktionen von Grenz- und grenzüberschreitenden Regionen nutzen, – Wirtschaftliche und infrastrukturelle Hemmnisse und Ungleichgewichte beseitigen, – Nahtstellen europäischer Raumentwicklung glätten. Diese Ziele sollen u. a. durch folgende Maßnahmen verwirklicht werden: – Intensivierung einer nachhaltigen grenzüberschreitenden Raumentwicklung und Regionalpolitik, – Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und der wirtschaftlichen Lage der Region, – Stärkung der Grenzregionen im Europäischen Standortwettbewerb, – Verbesserung der Telematik und Kommunikation, – Verbesserung des grenzüberschreitenden Umwelt- und Naturschutzes, – Förderung der grenzüberschreitenden kulturellen Zusammenarbeit sowie durch – Organisatorische und rechtliche Maßnahmen. In der Grenz- und grenzübergreifenden Zusammenarbeit sieht die Charta den Prüfstein für: – ein friedliches menschliches Miteinander unter Achtung der Verschiedenartigkeit und von Minderheiten, – die Achtung der Grundsätze von Partnerschaft und Subsidiarität, – die aktive Beteiligung von Bürgern, Politikern, Instanzen und gesellschaftlichen Gruppierungen an der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, – Ausgleich, Toleranz und Gleichwertigkeit trotz unterschiedlicher Partner, – soziale, kulturelle, wirtschaftliche Kooperationsverflechtung bis hin zu grenzübergreifender Integration unter Wahrung staatlicher Souveränität, – ein Europa der Bürger, die sich in ihrer regionalen Vielfalt zuhause fühlen.35 34 Die Charta wurde am 20.11.1981 verabschiedet und am 1.12.1995 sowie am 7.10.2004 geändert. Siehe www.aebr.eu/files/publications/Charta_Final_071004. de.pdf [10.02.2012]. 35 Vgl. ebenda.

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Obwohl die Charta weder von einer staatlichen Organisation noch von den Organen der Europäischen Gemeinschaft ausgearbeitet wurde, gilt sie als ein grundlegendes Instrument, auf dessen Basis die Bürger der Grenzregionen zusammen leben und arbeiten. Hervorzuheben ist vor allem ihr Einfluss auf den Abbau von Diskriminierungen gegenüber nationalen Minderheiten in den jeweils anderen Nationalstaaten. Dass die Charta einen Beitrag zur positiven wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der Grenzregionen und damit auf das friedliche Zusammenleben zum Wohle der Bürger entlang der nationalstaatlichen Grenzen leistet, ist inzwischen nachweisbar. So gehören die Euroregionen entlang der französischen und holländischen Grenze, die als erste entstanden sind, inzwischen zu den wirtschaftlich und politisch stabilsten Regionen in Europa.

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Förderung der Grenz- und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit

Auf Grundlage von Artikel 10 des Förderprogramms EFRE (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) förderte die Europäische Kommission im Jahr 1989 zum ersten Mal mit 21 Mio. ECU 14 grenzüberschreitende Pilotprojekte. Auf dieser Basis wurden von der Europäischen Kommission die Leit­linien für eine Gemeinschaftsinitiative für die Grenzgebiete indirekt festgelegt.36 Von den dafür zur Verfügung gestellten rund 1,1 Mrd. ECU wurde der größte Teil in Ziel-1-Regionen eingesetzt. Die Finanzierung über die Gemeinschaftsinitiative INTERREG erfolgte auf der Grundlage von 31 Operationellen Programmen, wobei sie jedoch in ihrer Ausarbeitung bezüglich des Finanzvolumens, der geografischen Ausdehnung und der beteiligten Regionalakteure sehr variierten. Aufgrund des einstimmigen Beschlusses der Staats- und Regierungschefs auf dem Edinburgher Gipfel im Jahre 1992, das Programm INTERREG fortzuführen, verabschiedete die Europäische Kommission Leitlinien für INTERREG II für den Zeitraum von 1994 bis 1999.37 Für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Rahmen von INTERREG II A für die Jahre 1994 bis 1999 waren 2,6 Mrd. ECU vorgesehen. Es wurden vor allem Projekte in den Gebieten gefördert, die an der Binnen- und Außengrenze der Gemeinschaft besondere Entwicklungsprobleme infolge ihrer relativen Isolierung innerhalb der nationalen Volkswirtschaft und der Gemeinschaft haben. Die Projekte sollten die Bedürfnisse der loka36 Siehe dazu das Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 215. 37 Veröffentlicht am 1. Juli 1994 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 180.

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len Bevölkerung berücksichtigen und mit dem Umweltschutz vereinbar sein. Im Rahmen dieser Projekte sollte der Ausbau von Kooperationsnetzen über die Binnengrenzen hinweg erfolgen. Unterstützt werden sollten auch solche Vorhaben, die der Zusammenarbeit mit Drittländern in den Gebieten an der Außengrenze der Gemeinschaft nutzen (Beitrittsländer). Während INTERREG I vor allem Grenzregionen in Ziel 1-, Ziel 2- sowie 5b-Gebieten förderte, umfasste INTERREG II erstmals alle Grenzgebiete der Binnen- und Außengrenzen der Europäischen Union. Seit der Förderperiode 2007–2013 wird die grenzüberschreitende Zusammenarbeit aus dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung EFRE gefördert.38 Da die Grenzregionen als Friedensgarant angesehen werden, unterstützt die Europäische Union im Rahmen der territorialen Zusammenarbeit ausdrücklich Projekte zwischen Nordirland und Irland.39 Der wesentliche Vorteil der Euroregionen liegt sowohl in der praktischen Arbeit als auch im psychologischen Bereich. Euroregionen erkennen Probleme im Vorfeld und vermeiden, dass sie zu großen Konfliktfeldern anwachsen. Sie sind eine Ausgleichsebene zwischen den unterschiedlichen nationalen Strukturen und Kompetenzen. In der Euroregion bewährt sich das Grundprinzip der Subsidiarität, das man nicht nur national-vertikal, sondern auch grenzüberschreitend-horizontal anwenden muss. Euroregionen müssen nicht immer identisch mit Grenzregionen sein. Bezüglich der Verteilung der finanziellen Mittel stehen die Grenzregionen mit den Regionen im Inland in einem verstärkten Konkurrenzkampf. Im Einzelnen bedeutet dies: – Die Mittel der Europäischen Union sind langfristig bereitzustellende Mittel. – Grenzüberschreitende Konzepte und grenzüberschreitende operationelle Programme40 sind gemeinsam in der gesamten Euroregion zu erstellen.

38 Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1783/1999, Amtsblatt der EU L 210/1 vom 31.07.2006. 39 Verordnung (EG) Nr. 1080/2006, Artikel 6, ebendort, sowie 1083/2006 vom 11. Juli 2006, hier Anhang II, Nummer 22. 40 In diesen werden die einzelnen geplanten Maßnahmen spezifiziert, ihre Realisierung sowie die Kontrolle der Durchführung erwähnt. Siehe z. B. das Operationelle Programm des Freistaates Thüringen für den Einsatz der Europäischen Strukturfonds in der Periode von 2007–2013, genehmigt am 26.10.2007; KOM 2007 CCI-Code: 2007DE161PO001.

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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– Für jedes Subprogramm muss ein eigener Lenkungsausschuss gegründet werden. Die Euroregionen müssen in diesem Lenkungsausschuss ein Stimmrecht erhalten. Es geht auf die Dauer nicht, dass Projekte in den Euroregionen aufgrund von Entscheidungen durch europäische/nationale Instanzen verwirklicht werden, die regionale und lokale Ebene aber dafür planen und zahlen muss, ohne das Stimmrecht zu erhalten. – Es sind realisierbare grenzüberschreitende Projekte auszuarbeiten. Diese sollen von Anfang an gemeinsam entwickelt werden. Eine Abkehr von der Vorlage von nationalen Projektlisten, die nachträglich in den Lenkungsausschüssen abgestimmt werden, ist notwendig. – Für die Projekte müssen reelle gemeinsame Kosten- und Finanzpläne erstellt werden. Einige große Projekte sollen durch eine Vielzahl von kleineren und mittleren Projekten ersetzt werden. Über die Projekte muss auf der regionalen Ebene entschieden werden.

5 Thüringen in Europa 5.1 Die Euregio Egrensis Das Gebiet der heutigen Euregio Egrensis41 fand bereits im Mittelalter unter der Bezeichnung »Regio Egire« (1135) oder »Provincia Egrensis« (1218)42 Erwähnung. Der Name leitet sich von der Stadt Eger (Cheb) ab, die seit Jahrhunderten das geistige und politische Zentrum dieser Region bildete. Die Euregio Egrensis wurde bereits 1992 ins Leben gerufen, und nahm am 3. Februar 1993 mit der Unterzeichnung eine Vereinbarung zwischen der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Bayern, der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Vogtland/Westerzgebirge (seit 2007 Arbeitsgemeinschaft Sachsen/Thüringen) und der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Böhmen ihre Arbeit auf.43 Artikel 2 dieser Vereinbarung lautet:

41 Zur regionalen Entwicklung der Euregio Egrensis siehe Peter Jurczek (Hg.): Regionale Entwicklung über Staatsgrenzen, am Beispiel der Euregio Egrensis, Kronach/München/Bonn 1996. 42 Heinrich Gradl: Monumenta Egrana. Denkmäler des Egerlandes als Quellen für dessen Geschichte, A. E. Witz, Eger 1884, 1886. 43 Vgl. zur Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Sachsen/Thüringen e. V. www. euregioegrensis.de, zur Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Bayern e. V. www. euregio-egrensis.de und zur Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Böhmen www.euregio-egrensis.org [10.02.2012].

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»Die Euregio Egrensis hat den Zweck, zur Verständigung und Toleranz beizutragen sowie umfassend, friedlich und partnerschaftlich über die Grenzen zwischen dem Freistaat Bayern, dem Freistaat Sachsen und der Tschechischen Republik hinweg zusammenzuwirken.«44

In der Euregio Egrensis leben etwa zwei Millionen Menschen. Sie umfasst ein Gesamtgebiet von rund 17.000 Quadratkilometern, wovon etwa die Hälfte auf Bayern, 30 Prozent auf Sachsen und Thüringen sowie 20 Prozent auf Böhmen entfällt.45 Zur Euregio Egrensis gehört in Bayern der Bereich der Planungsregion Oberfranken Ost und Oberpfalz Nord, in Sachsen der Vogtlandkreis einschließlich der Stadt Plauen, der Erzgebirgskreis für den ehemaligen Landkreis Aue/Schwarzenberg, in Thüringen die Landkreise Greiz und Saale-Orla-Kreis, in der Tschechischen Republik der Bereich der Landkreise Karlovy Vary (Karlsbad), Tachov, Cheb (Eger) und Sokolov (Falkenau). Abbildung 1: Karte der Euregio Egrensis

Quelle: Euregio Egrensis (Ehm).

44 Zur Organisation der Euregio Egrensis siehe den von den Arbeitsgemeinschaften herausgegebenen Sonderdruck »Euregio Egrensis«, der über die Geschäftsstellen in Plauen, Marktredwitz oder Cheb zu beziehen ist. 45 Vgl. www.euregio-egrensis.de [10.02.2012].

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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Jede Arbeitsgemeinschaft der Euregio Egrensis wählt ein Präsidium und einen Präsidenten. Je drei Vertreter der jeweiligen Präsidien bilden das »Gemeinsame Präsidium der Euregio Egrensis«, welches wiederum aller zwei Jahre aus seiner Mitte einen Gemeinsamen Präsidenten wählt. Zur Wahrnehmung der fachlichen Belange sind in der Euregio Egrensis vier grenzüberschreitende Arbeitsgruppen in den Bereichen 1) Wirtschaft, Verkehr, Arbeitsmarkt, Infrastruktur, 2) Fremdenverkehr und Naherholung, 3) Umwelt und Naturschutz sowie 4) Kultur und Sport eingerichtet worden. Inzwischen arbeitet man jedoch auch projektbezogen zusammen, da sich dies als effektiver erwiesen hat. Um in die Förderprogramme der Europäischen Union aufgenommen zu werden, hat die Euregio Egrensis ein »Trilaterales Entwicklungskonzept« (Bayern, Böhmen und Sachsen) vorgelegt, in das die Thüringer Projekte nachträglich eingearbeitet wurden.46 Die Arbeit der Euregio Egrensis konzentrierte sich bisher vor allem auf die Unterstützung von grenzüberschreitenden Kultur- und Sportveranstaltungen in so genannten »Kleinen Projekten« und damit auf die Begegnung von Menschen, die durch die Grenzen zwischen Ost und West jahrzehntelang voneinander getrennt waren. In der Förderperiode 2007 bis 2013 wurden im Rahmen des Ziel3/Cil3-Programms im sächsisch-thüringischen Teil der Euregio Egrensis bis November 2011 60 solcher Kleinprojekte mit einem Fördervolumen von knapp 700.000 Euro bewilligt. Neben den »Kleinen Projekten«, deren Fördervolumen 15.000 Euro nicht übersteigen darf, werden von der Europäischen Union jedoch auch »Großprojekte« gefördert. 5.2 Thüringer Beispielprojekte Zu den EU-geförderten Großprojekten, die Thüringen initiiert hat, gehört das Projekt »Grenzüberschreitungen – Neue Wege von Land zu Land«, dessen Ziel es ist, mit umfangreichen grenzraumbezogenen Forschungsarbeiten 46 Siehe das Grenzüberschreitende Aktionsprogramm für die Europäische Region der Arbeitsgemeinschaft Egrensis-Nordostbayern-Nordwestböhmen-Sächsisches Vogtland/Westerzgebirge-Thüringer Vogtland, im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft und Arbeit, des Bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung, des Tschechischen Ministeriums für Wirtschaft, des Thüringischen Ministeriums für Bundes- und Europaangelegenheiten, des Sächsischen Staatsministeriums für Umwelt und Landesentwicklung, der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Vogtland/Westerzgebirge, der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Bayern e. V., der Tschechischen Arbeitsgemeinschaft Egrensis, Dresden/Erfurt/München/Prag 1994.

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und Bildungsangeboten einen Beitrag zur verstärkten Identitätsbildung in der Region zu leisten. Daran beteiligt sind zahlreiche Archive, Vereine und Schulen der Region sowie der Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte an der Technischen Universität Chemnitz. In mehreren Forschungsarbeiten sollen in historischer Perspektive die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen während des 19. und 20. Jahrhunderts im mitteldeutsch-westböhmischen Grenzraum untersucht werden. Die Forschungsergebnisse sollen in Fachtagungen, Studienfahrten und Workshops einfließen, um damit das historische Fachwissen gezielt einer breiten, generationenübergreifenden Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Von den bislang 60 realisierten »Kleinprojekten« seien an dieser Stelle vier exemplarisch genannt. Im Rahmen des seit 1998 durchgeführten und 2001 abgeschlossenen Projekts »Das Eigene am Fremden erkennen« wurden Lernprozesse im Unterricht an 15 beteiligten Schulen regionenübergreifend initiiert und begleitet, die auf die Auseinandersetzung mit dem »Eigenen« und dem »Anderen«47 bzw. dem »Fremden« hinzielten. Das dreijährige Gesamtprojekt wendete sich an Schüler und Schülerinnen der Primar- und Sekundarstufe und war nicht auf bestimmte Fächer beschränkt. Ziel des Projektes »Euregio Egrensis – Zukunftslandschaft 2010« war es, neben der Erinnerung auch Fragen der zukünftigen Entwicklung der Region stärker zu thematisieren. Einbezogen wurden vor allem deutsche und tschechische Jugendliche, die in einem vorbereitenden Workcamp ihre Visionen und Vorschläge für die Gestaltung ihrer »Zukunftslandschaft« erarbeiteten. Die Ergebnisse des Workcamps wurden im Herbst 2010 in einer Abschlusspräsentation vorgestellt. An dem Projekt »Die Grenze zwischen den Bruderstaaten: DDR und Tschechoslowakei 1955–1990 im gesamteuropäischen Kontext« beteiligten sich 2010 und 2011 insgesamt 16 Schulen aus Sachsen, Thüringen und der Tschechischen Republik. Ziel des Projektes war es, didaktisches Material für deutsche und tschechische Schulen zur Thematik zu erstellen. Anhand dieses Materials sollten Schülerinnen und Schüler einen Einblick in die Zeit des Kalten Krieges insbesondere an der Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei bekommen. Dabei bestand die Möglichkeit, sich entweder mit dem Gesamtzeitraum oder mit einzelnen Zeitabschnitten zu befassen. Die Schüler arbeiteten mit Quellen, sammelten eigene Materialien und führ-

47 Siehe hierzu Petra L. Schmitz/Rolf Geserick (Hg): Die Anderen in Europa. Nationale Selbst- und Fremdbilder im europäischen Integrationsprozess, Materialien des Adolf Grimme Instituts, Bonn 1996.

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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ten Zeitzeugeninterviews. Das im Ergebnis entstandene didaktische Material konnte zweisprachig deutsch und tschechisch publiziert werden.48 Das Projekt »Alltagsleben an der DDR-ČSSR-Grenze 1960–1989« wurde 2011 mit insgesamt 18 Schulen aus Sachsen, Thüringen und der Tschechischen Republik begonnen. Dabei sollten Schülerinnen und Schüler durch Zeitzeugeninterviews in ihrer unmittelbaren Umgebung erfragen, wie sich das Grenzregime auf das Alltagsleben der Bevölkerung beiderseits der DDRČSSR-Grenze auswirkte. Im Zentrum des Interesses standen folgende Aspekte: Beruf und politisches Engagement, die Tätigkeit gesellschaftlicher Organisationen, die Stellung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen im Staatssozialismus (Arbeiter, Frauen, Jugendliche, Sportler, Künstler), Planwirtschaft, Versorgung und Konsum, Kultur und Sport, die Rolle der offiziellen Medien und ihr Einfluss auf die Gesellschaft, aber auch die inoffizielle Sphäre bis hin zu Freizeitgestaltung und Unterhaltung. Die Schülerergebnisse sowie die Ergebnisse einer Fachtagung sollen 2012 sowohl in Buchform als auch digital in Form einer Ausstellung veröffentlicht werden. Die Idee der europäischen Einigung hat nach 1989 neue Dimensionen erhalten. Damit es aber nicht nur bei der Idee bleibt, müssen Europas Bürger und insbesondere junge Menschen immer neu für sie sensibilisiert, gewonnen, aber vor allem aktiv werden. Hierzu können die Euroregionen mit ihren vielseitigen Angeboten wichtige Beiträge und Impulse liefern.

Literatur Abkommen zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen, dem Land Rheinland-Pfalz, der Wallonischen Region und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens über grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und anderen öffentlichen Stellen, unterzeichnet in Mainz am 8. März 1996, Drucksache 11/7085 Landtag von Baden-Württemberg (11. Wahlperiode), GVNWS 330-SGV-NW 100 01.

48 Eugenie Trützschler von Falkenstein: Die Grenze zwischen den Bruderstaaten. DDR und Tschechoslowakei 1955–1990 im gesamteuropäischen Kontext. Projekt der Stiftung Ettersberg, der Stadt Kraslice und der Karlsuniversität Prag, 2010/ 2011, Weimar/Kraslice 2011. Das Material ist auch zweisprachig online abrufbar unter www.schulportal-thueringen.de [01.02.2012].

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Änderungsvorschläge der AGEG zum Entwurf eines Berichtes über die Rolle der »Euroregionen« bei der Entwicklung der Regionalpolitik (2004/2257(INI) vom 19.07.05. Bericht der Kommission über die Durchführung des Programms über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Gemeinschaft und Ländern in Mittel- und Osteuropa 1994 (KOM(95)-C4-0142/96). Charta des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas, angenommen vom Ministerkomitee am 14. Januar 1994 anlässlich der 506. Sitzung der Delegierten der Minister. Charta Gentium et Regionum, herausgegeben vom Internationalen Institut für Nationalitätenrecht und Regionalismus (INTEREG), München 1996. Communication to the Commission; Implementing and promoting the European Neighbourhood Policy, Brussels, 22 November 2005, SEC(2005)1521. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, vom Europäischen Konvent im Konsensverfahren angenommen am 13. Juni und 10. Juli 2003, dem Präsidenten des Europäischen Rates in Rom überreicht am 18. Juli 2003 (CONV 850/03). Europäische Charta der Grenz- und grenzübergreifenden Regionen, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen [Association of European Border Regions], www.aebr.eu/files/publications/ Charta_Final_071004.de.pdf [10.02.2012]. Europäisches Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusam­ men­arbeit zwischen Gebietskörperschaften [European Outline Convention on Transfrontier Co-operation between Territorial Communities or Authorities], Nr. 106/1980, Madrid, 21.V.1980, http://conventions.coe.int/ treaty/ger/Treaties/Html/106.htm [10.02.2012]. Häberle, Peter: Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden 2001/2002 . Olbrycht, Jan: Report on the proposal for regulation of European Parliament and of the Counsil on establishing a European grouping of cross-border cooperation (EGCC), 21.06.2005, A6-0206/2005, Committee on Regional Development. Protokoll zum Europäischen Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften [Protocol to the European outline convention on transfrontier cooperation between territorial communities or authorities concerning interterritorial co-operation], Nr. 169, Strasbourg, 5.V.1998. Triantaphyllides, Kyriacos: Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Rolle der »Euroregionen« bei der Entwicklung der

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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Regio­nalpolitik, Ausschuss für regionale Entwicklung (2004/2257(INI), PE 360.073v01-00 2/10 PR\57158). Trützschler von Falkenstein, Eugenie: Mittelosteuropa – Nationen, Staaten, Regionen. Die Erweiterung der Europäischen Union aus historischer Perspektive, Frankfurt am Main 2005. Übereinkommen zwischen der Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Großherzogtums Luxemburg und dem schweizerischen Bundesrat, handelnd im Namen der Kantone Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Jura, über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Stellen [Karlsruhe, 23. Januar 1996], in Kraft getreten am 1. September 1997. Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1783/1999, Amtsblatt der EU L 210/1 vom 31.07.2006. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates bezüglich der Schaffung eines europäischen Verbunds für grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Brüssel, den 14.7.2004, KOM (2004)496 endgültig, 2004/0168 (COD). Zusatzprotokoll zum Europäischen Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften [Additional Protocol to the European Outline Convention on Transfrontier Co-operation between Territorial Communities or Authorities], Nr. 159, Strasbourg, 9. XI. 1995.

Johannes Beermann

Ein sächsischer Blick auf die Chancen für ein Europa der Regionen

Eine Diskussion über die Chancen für ein Europa der Regionen scheint vor dem Hintergrund der Euro-Schuldenkrise zunehmend unter dem Eindruck der Frage zu stehen, ob Europa denn überhaupt noch eine Zukunft hat. Die Geschehnisse der vergangenen Monate müssten doch selbst die überzeugtesten Euro- und Europafreunde skeptisch werden lassen. So konnte sich laut Umfragen Ende 2011 fast die Hälfte der Bevölkerung in Sachsen und Thüringen vorstellen, eine eurokritische Partei zu wählen. Sicher wurden im Hinblick auf die europäische Einigung und insbesondere im Rahmen der Euro-Einführung Fehler gemacht. Wären bestimmte Maßnahmen ergriffen bzw. andere unterlassen worden, wäre die Situation in der EU und im Euro-Raum heute gewiss eine andere – bessere. Für die Zukunft ist zunächst jedoch entscheidend, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt, sprich die Maastricht-Kriterien eingehalten werden. Daher hat sich Sachsen im Bundesrat für automatische Sanktionen bei der Verletzung der Maastricht-Kriterien ebenso ausgesprochen wie für die Einführung eines Stabilitätskommissars. Bereits im August 2011 forderten der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine verbesserte Steuerung des Euro-Währungsgebietes. Die Staats- und Regierungschefs der Eurozone sollten ermächtigt werden, verbindliche Vorgaben für die Wirtschaftspolitik zu beschließen. Allenthalben hört man von dem Erfordernis einer europäischen Wirtschaftsregierung. Noch weiter ging Bundesministerin Ursula von der Leyen, die gar die Vereinigten Staaten von Europa forderte. Zentralisierungstendenzen und Forderungen nach zusätzlichen Kompetenzzuweisungen an die Europäische Union also allerorten. Dies zeitigt Konsequenzen bis in die Kompetenzen der Länder hinein. EU-Vorgaben zur Haushaltskonsolidierung und Maßnahmen einer Wirtschaftsregierung werden nicht auf der Ebene der Mitgliedsstaaten aufhören, sondern auch die regionale und kommunale Ebene betreffen. Hinzu kommt, dass in dem Verfahren zur Gründung und Ausdehnung des Rettungsschirms die Entscheidungen durch den Rat getroffen wurden. Etliche Parlamentarier insbesondere in Deutschland waren daraufhin

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Johannes Beermann

der Auffassung, dass die Entscheidungen der parlamentarischen Kontrolle entzogen und sie zu »Abnickern« degradiert würden. Schutz gewährte das Bundesverfassungsgericht diesen zumindest insoweit, als es feststellte, dass die Bundesregierung grundsätzlich verpflichtet sei, bei der Übernahme von Gewährleistungen jeweils die vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses einzuholen. In diesen turbulenten Zeiten brachte ein Brooker in einem BBC-Interview die ohnehin laufende Diskussion darüber, ob die Politik noch Herrin des Geschehens oder nur Getriebene der Märkte sei, mit der Bemerkung auf den Punkt, es gäbe ohnehin bereits eine Weltregierung – und die hieße Goldman Sachs. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sprach gar davon, die zentrale demokratische Frage der nächsten Jahre sei »Demokratie oder Finanzherrschaft«. Wenn nun schon die EU und die Mitgliedsstaaten nicht mehr Herren der Lage sind, welche Bedeutung kommt dann noch den Regionen zu? Haben wir im Spiel der Mächte und Mächtigen denn überhaupt eine Chance, wahrgenommen zu werden und unsere Anliegen zu artikulieren? Dabei ist die Ausgangssituation für die deutschen Länder im EU-Vergleich eigentlich gar nicht schlecht. Deutschland zählt zu den wenigen föderal organisierten Mitgliedsstaaten der EU, und daher ist die Länderbeteiligung über den Bundesrat bereits im Grundgesetz festgelegt. In dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union, dem so genannten EUZBLG, wird dies näher geregelt. Wir sind laut Art. 23 Abs. 4 Grundgesetz an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen und in Angelegenheiten, die schwerpunktmäßig die Landesgesetzgebung betreffen, ist die Stellungnahme des Bundesrates »maßgeblich« zu berücksichtigen. Darüber hinaus hat auch der Vertrag von Lissabon die Position der Länder gestärkt, in dem nunmehr im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung die Länderparlamente als zu Beteiligende anerkannt werden. Mit dem Ausschuss der Regionen (AdR), in dem Sachsen derzeit mit einem Regierungs- und einem Parlamentsvertreter sitzt, hat die EU darüber hinaus auch eine eigene Regionalvertreter-Repräsentanz geschaffen, quasi ein Parlament der Regionen. Dessen Einfluss sollte allerdings nicht überbewertet werden, sagt doch Art. 307 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), dass der AdR »gehört« wird. Seine Stellungnahmen haben keinen für die Institutionen der EU verbindlichen Charakter. Indes besitzt der AdR, wie nunmehr auch die Parlamente der Mitgliedsstaaten, ein eigenes Klagerecht beim EuGH bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip. Wir reden aber nicht nur bei der EU mit, wir sind auch bei ihr vor Ort präsent. So hat jedes Bundesland und natürlich auch Sachsen seine »Interessen-Vertretung« in Brüssel. Interessenvertreter in gewissem Maße sind natür-

Ein sächsischer Blick auf die Chancen für ein Europa der Regionen

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lich auch die aus Sachsen stammenden Abgeordneten im Europäischen Parlament. Ende November 2011 wird die sächsische Staatsregierung eine Kabinettssitzung in Brüssel durchführen und mit mehreren EU-Kommissaren diskutieren. Unser Ministerpräsident Stanislaw Tillich besuchte 2011 bereits zweimal das Europaparlament in Straßburg zu Gesprächen mit Parlamentariern und EU-Kommissaren. Allein hat aber auch eine starke Region wie Sachsen nur eine sehr begrenzte Möglichkeit, im Konzert der Regionen und Interessenvertretungen gehört zu werden. Daher empfiehlt es sich, die Kräfte mit anderen Regionen in Netzwerken zu bündeln. Sachsen tut dies beispielsweise im »Demographic Change Regions Network«, und wir haben es in der Vergangenheit erfolgreich mit einem Netzwerk derjenigen Regionen getan, die allein wegen der seinerzeitigen Neuaufnahme weiterer Staaten in die EU nicht mehr zu den am meisten förderungsbedürftigen Regionen zählten, den so genannten »statistische Effekt-Regionen«. Damit sind wir auch schon bei den Themen, denen sich eine Region in der EU annehmen kann und muss. Wegen der beschränkten Kräfte und Einflussmöglichkeiten gilt es, sich auf das Wichtigste und das Realistische zu konzentrieren. Hierzu zählt für uns insbesondere die Regionalpolitik der EU und damit insbesondere die Frage, wie eine Region von der Strukturfondsförderung optimal profitieren kann. Sachsen erhält in der laufenden Förderperiode ca. vier Milliarden Euro aus Brüssel zur Förderung von Unternehmen, Infrastruktur und vor allem für Arbeitsplätze. Mit diesen Mitteln sind wir immer sorgsam umgegangen und haben viel erreicht. Wir haben jetzt aber auch bei harten Einschnitten in der kommenden Förderperiode viel zu verlieren. Zur Strukturpolitik zählt auch die so genannte Europäische Territoriale Zusammenarbeit, deren Anteil an der Kohäsionspolitik nach den jetzt vorliegenden Entwürfen zur künftigen Strukturpolitik nahezu verdoppelt werden soll. Sachsen engagiert sich in der grenzübergreifenden Zusammenarbeit mit unseren polnischen und tschechischen Nachbarregionen. Dies wollen wir weiter ausbauen. Darüber hinaus stellt die EU seit Beginn der laufenden Förderperiode die Rechtsfigur des Europäischen Verbundes für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) zur Verfügung, den man in etwa als europäischen Zweckverband beschreiben könnte. Hiervon wurde bislang noch recht wenig Gebrauch gemacht, weshalb die EU auch den Anwendungsbereich erweitern und die Gründung vereinfachen will. Ich sehe hier insbesondere die kommunale Seite und die Land­kreis­seite aufgerufen, von dem Angebot Gebrauch zu machen und auf die Nachbarregionen im angrenzenden Ausland zuzugehen. Dabei gibt es mit den vier Euroregionen, an denen Sachsen beteiligt ist, bereits gefestigte Strukturen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. In den Euroregionen Egrensis, Erzgebirge, Elbe/Labe, und Neiße-Nisa-Nysa

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Johannes Beermann

unter Beteiligung polnischer, tschechischer, bayrischer, thüringischer und sächsischer Partner wird grenzüberschreitende Zusammenarbeit praktiziert, die trennende Wirkung von Staatsgrenzen überwunden, grenzüberschreitende Begegnungen der Menschen gefördert und das besondere Potenzial dieser Regionen genutzt. Dies mag zunächst als kurze Bestandsaufnahme unseres Regionalinventars genügen. Wie aber wird sich der Regionalismus in der EU weiter entwickeln? Die Gefährdungen durch Zentralisierungstendenzen habe ich bereits angesprochen, dass die Verordnungsvorschläge für die neue Strukturfondsförderperiode auch als Bekenntnis der EU zu den Regionen und als Stärkung der Regionen-Zusammenarbeit verstanden werden können, ebenfalls. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass jede zentralistische Bewegung gleichzeitig eine regionalistische Gegenbewegung nach sich zieht. Daher ist mir auch um die Zukunft der Regionen in Europa nicht bang. Schließlich liegt der Grundsatz der Subsidiarität dem EU-Recht zugrunde. Nach diesem darf die Europäische Union Aufgaben, die Regionen erfüllen können, diesen nicht nur nicht wegnehmen, sondern muss bereits entzogene, nicht genutzte Kompetenzen wieder zurückgeben. Auch dies wurde im Lissabon-Vertrag festgeschrieben, es harrt aber noch seiner Umsetzung.

Podiumsdiskussion der Referenten

Chancen für ein Europa der Regionen*1

Werner Dieste (Mitteldeutscher Rundfunk) Heute wollen wir mit unseren tschechischen, polnischen, sächsischen und bayerischen Nachbarn auf die »Chancen für ein Europa der Regionen« schauen, und ich freue mich darauf, mit ihnen zu diskutieren. In den Eingangsstatements unserer Podiumsgäste haben wir bereits gehört, dass das Europa der Regionen dort lebt, wo es Beziehungen auf Augenhöhe gibt, wo etwas Konkretes für die Bürger getan wird. Das Europa der Regionen bleibt jedoch nur eine politische Formel, wo es auf der Institutionenebene verharrt. Lassen Sie uns an diesem Punkt einhaken: Das Europa der Regionen lebt also da, wo es von Menschen getragen wird, die konkret etwas tun und Dinge bewegen. Ist dann aber so ein Ausschuss der Regionen überhaupt sinnvoll, oder ist das nicht der Versuch, wieder neue bürokratische Strukturen zu schaffen? Ulla Kalbfleisch-Kottsieper (Thüringer Justizministerium) Der Ausschuss der Regionen (AdR) ist kein europäisches Organ, er hat aber eine Menge an Mitwirkungs- und Anhörungsrechten und -pflichten und er ist vor allem für jene Regionen von Vorteil, die in ihren Heimatländern keine dem deutschen Bundesrat vergleichbare Institution haben. Der AdR ermöglicht den 340 Mitgliedern, von denen die Deutschen nur 24 stellen, eine direkte Mitwirkungsmöglichkeit und Kenntnisnahme von europäischen Vorlagen, die sie sonst nicht hätten. Dabei geht es natürlich nicht immer um Euro-Rettungsschirme, sondern auch um ganz praktische Dinge. Früher gab es z. B. in Italien nur eine so genannte Staat-Regionen-Konferenz, die einmal im Jahr tagte, und dann wurde den Teilnehmern von der *

Die Podiumsdiskussion fand am 22. Oktober 2011 auf dem 10. Internationalen Symposium der Stiftung Ettersberg »Thüringen und seine Nachbarn nach 20 Jahren« in Weimar statt. Die Beiträge wurden redaktionell überarbeitet und gekürzt.

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Podiumsdiskussion der Referenten

Zentralregierung mitgeteilt, wie sich Europa gerade entwickelt hatte. Heute sind über 20 Delegierte aus italienischen Städten und Regionen in Brüssel vertreten und erhalten Zugang zu allen Papieren. Diesen Vorteil können sie konkret nutzen, um die europapolitische Debatte in Italien selbst aktiv mitzubestimmen. Das Europa der Regionen steht also dafür, dass die Regionen in ihren Mitgliedsstaaten gestärkt werden, dass diese mitwirken können an der Entstehung des nationalen Standpunktes, den es zu einer bestimmten europäischen Sache einzunehmen gilt. Übrigens vergeht keine AdR-Sitzung, bei der nicht mindestens ein/e EU-Kommissar/in anwesend ist und seine/ihre Politik erläutert und die entsprechenden Stellungnahmen des AdR entgegennimmt, auf die dann auch reagiert wird. In dieser Hinsicht ist der AdR ein wirklicher Zugewinn. Von der Vision allerdings, der AdR könnte gleichsam eine zweite parlamentarische Kammer in Europa werden, sollten wir uns verabschieden. In Straßburg gibt es ja auch noch den Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates, wo diese sich durchaus langfristig einbringen können. Dr. Johannes Beermann (Sächsische Staatskanzlei) Ich möchte den Traum von der zweiten Kammer noch nicht ganz aufgeben und bin auch von der anfangs genannten Bürokratiekritik nicht überzeugt. Im AdR geht es doch im Grunde um einen Austausch von Argumenten, was vielfach in den Hintergrund tritt. Gerade das ist jedoch Ausdruck des uralten Glaubens, in dem wir in unserer christlich-jüdischen abendländischen Tradition des Argumentierens und Problemlösens verankert sind. Das ist ein ganz wichtiger Wert. Die Probleme vor Ort zu erkennen und dann festzustellen, dass sie in ganz unterschiedlichen Regionen Europas wegen dieser gemeinsamen kulturellen Wurzeln gleich sind, das schweißt Europa doch gerade zusammen. Wir versuchen im Prinzip einen Viel-Kulturen-Staat, ein VielSprachen-Gebilde zusammenzufügen. Wir haben schon eine weitgehende wirtschaftliche Einheit und diskutieren darüber, wir versuchen politische Prozesse in Gang zu halten und soziale Sicherung zu garantieren. Das sind hochkomplexe politische Prozesse, zu denen es keine Alternativen gibt. Denn Europa ist eine Frage von Krieg oder Frieden, wie Helmut Kohl immer gesagt hat. Wenn ich in den Stammbaum meiner Familie in den letzten 300 Jahren schaue, dann hat keiner meiner Vorfahren eine so lange Friedensperiode erlebt wie ich seit nunmehr 50 Jahren. Und im Gegenzug dafür etwas mehr Bürokratie? Das leisten wir uns doch locker!

Chancen für ein Europa der Regionen

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Prof. Dr. Roland Sturm (Friedrich-Alexander-Unversität ErlangenNürnberg) So zugespitzt wird Ihnen an diesem Punkt wahrscheinlich jeder zustimmen. Ich möchte noch einmal die Bedeutung der Anhörungsfunktion unterstreichen, die Frau Kalbfleisch-Kottsieper bereits ansprach, denn diese ist vor allem im informellen Bereich wichtig. Erwähnenswert ist sicher auch, dass der Ausschuss der Regionen inzwischen über ein Klagerecht in Subsidiaritätsfragen vor dem Europäischen Gerichtshof verfügt. Damit hat der AdR eine Art Wächteramt und kann klagen, wenn er der Auffassung ist, dass in bestimmten Bereichen (wo er beraten kann) Kompetenzen europäisiert werden, ohne dass dies durch die Verträge begründet ist, oder wenn es Widerstände aus den Regionen gibt. Wie das ausgeht, wissen wir allerdings nicht, denn bislang gab es meines Wissens noch keine Klage. Um ein realistisches Bild zu zeichnen, möchte ich auch auf eine Umfrage hinweisen, die der Ausschuss der Regionen selbst in Auftrag gegeben hat. Danach liegt der Bekanntheitsgrad des AdR bei 24 Prozent: Vier Prozent sagten, sie kennen den AdR und seien auch irgendwie mit seinen Aufgaben und seiner Arbeit vertraut. 18 Prozent gaben an, sie wüssten, dass es so etwas gibt, aber nicht, was er macht. 52 Prozent antworteten, noch nie davon gehört zu haben. Unterm Strich hat der AdR also einen Bekanntheitsgrad von gerade einmal vier Prozent. Damit will ich nur sagen, wir sollten nicht annehmen, der AdR sei eine Superstruktur, die bis auf die Bürgerebene herunterreicht. Bürgernähe ist und bleibt noch immer eine politische Aufgabe, die auch etwas mit Kompetenzverteilung zu tun hat. Wir brauchen auf der regionalen Ebene Freiräume, um selbstständig handeln zu können. Es gibt z. B. das Karlsruher Abkommen, das die regionale und kommunale Zusammenarbeit über Grenzen hinweg fördert, ohne dass vorab immer die Zustimmung von Berlin oder Paris eingeholt werden muss. Auch wenn der Raum für selbstständige Entscheidungen klein ist, kann man immer noch persönliche Begegnungen pflegen. Aber man will doch auf dieser Ebene auch etwas entscheiden können. Wir sollten in Deutschland durchaus darüber nachdenken (die Föderalismusreform I war da vielleicht noch nicht genug), den Bundes­ländern mehr Möglichkeiten zu geben. Sie haben einfach die besseren Kompetenzen, in den Grenzregionen zu handeln. Wir sollten daran arbeiten, diese Kompetenzen stetig zu verbessern, um die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auch in Zukunft weiterzuentwickeln. Was in diesem Bereich alles möglich ist, wird uns in anderen Ländern schon vorgeführt, schauen wir etwa nach Belgien oder Spanien. Auch in der Wissenschaft sind Dezentralisierung und Effizienz heiß disku-

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tierte Themen. Es gibt viele Überlegungen, wie man Bürger vor Ort direkter an Entscheidungen beteiligen kann, anstatt Entscheidungen nur zu vermitteln. Es gilt also, Europa nicht nur als Projekt zu vermitteln, sondern auch in der konkreten Alltagswelt der Bürger zu verankern. Werner Dieste Herr Horník, Sie hatten in Ihrem Eingangstatement mit Blick auf die Euregio Egrensis und die Kooperation zwischen Sachsen, Thüringen, Bayern und Böhmen betont, dass es bei der Zusammenarbeit in den Regionen auf die Menschen ankommt. Aber wer übernimmt in so einem Prozess dann die Führung? Der gewählte gemeinsame Präsident der Euroregion? Jan Horník (Senat der Tschechischen Republik) Meiner Meinung nach spielt es keine Rolle, woher die einzelnen Menschen kommen – ob das ein Tscheche, ein Bayer oder ein Sachse ist, das ist ganz egal. Es geht vielmehr um Ideen. Die Leute müssen gute Ideen haben und diese verwirklichen können. Sie müssen Visionen haben und Zukunftsperspektiven entwickeln. Früher dachte ich, es sei ein ganz naheliegender Wunsch für jeden, Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Für viele meiner Freunde, Mitarbeiter und für viele Einwohner meiner Grenzgemeinde Boži Dar war dies jedoch durchaus nicht selbstverständlich. Es muss immer einen geben, der die Ideen hat und vorangeht, ganz egal, woher er kommt, auch wenn er dann noch an vielen Stellen Überzeugungsarbeit leisten muss, um seine Vorstellungen umzusetzen. In den Euroregionen gibt es heute schon viele gute Beispiele für gelungene Kooperationen, etwa im Schulbereich. Denn besonders für unsere Kinder sind solche Erfahrungen wichtig. Sie können in Frieden und Demokratie leben. Ich stimme Herrn Beermann völlig zu: Auch ich bin dankbar, in Frieden leben zu können, und ich hoffe, dass auch meine Kinder diese Chance haben werden. Mein 8-jähriger Sohn hat fünf Jahre einen Kindergarten in Deutschland besucht. Das war für ihn ganz normal. Und wenn ich versuche ihm zu erklären, dass hier früher einmal eine abgeriegelte Grenze war, dann versteht er das überhaupt nicht, oder er fragt: »Warum seid ihr nicht im Urlaub nach Spanien geflogen?« Das muss ich keinem Ostdeutschen erklären, einem Polen wahrscheinlich auch nicht. Kinder aus unserer Gemeinde gehen im deutschen Nachbarort in die Grundschule oder auf das Gymnasium – einfach weil es der kürzeste Weg für sie ist. Wir kaufen heute auf der deutschen Seite ein, und die Deutschen kommen zu uns. Das alles hat sich in

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den vergangenen 20 Jahren rasant entwickelt. Wir Politiker haben den Menschen nur die Möglichkeiten gegeben, sie entscheiden selbst, wie sie davon Gebrauch machen. Ich bleibe dabei: Es muss Vordenker geben, und es ist ganz gleich, ob diese aus Böhmen, Sachsen oder Thüringen kommen. Was Herr Beermann sagte, ist für mich ein ganz wichtiger Punkt: Mit etwas mehr Bürokratie habe auch ich kein Problem, wenn wir dafür die Demokratie in Europa sichern, mag diese auch in jedem Staat ihre Besonderheiten aufweisen. Kriege darf es nie wieder in Europa geben, und wir müssen alles daran setzen, dass die radikalen Kräfte von links oder rechts nicht erstarken. Dafür könnt ihr euch in Thüringen, Sachsen und Bayern einsetzen, und wir müssen das in Böhmen ebenso tun. Gerade in Nordböhmen haben wir große Probleme, weil wir zu lange nichts getan haben. Und solche Probleme machen auch an Grenzen nicht halt. Deshalb ist es wichtig, gerade in kleinen konkreten Projekten grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten, denn auch das sichert den Frieden in Europa. Prof. Dr. Heinrich Oberreuter (Universität Passau/Akademie für Politische Bildung Tutzing) Ich möchte doch den einen oder anderen Wermutstropfen in diese schöne emotionale Runde hineinträufeln lassen. Punkt eins: Die Rede davon, dass Europa eine Frage von Krieg oder Frieden sei, war sicher in bestimmten Zeiten angebracht, heute jedoch entbehrt sie ein Stück weit der Rationalität. Früher hatten wir weder eine gemeinsame Währung noch war die Europäische Union so weit entwickelt wie heute. Wir haben unsere Lehren aus der Geschichte gezogen, und in Anbetracht der gemeinsamen Interessenlage in Europa, die auch in einer nicht vollendeten Wirtschaftsunion überaus groß ist, besteht doch nirgendwo in Europa Anlass dazu, die Gefahr eines Krieges an die Wand zu malen. Ich sehe darin nämlich das Problem, dass wir der nachwachsenden jungen Generation eine Propaganda­floskel an den Kopf werfen, mit der diese nichts anzufangen weiß. Im Endeffekt kann mit dieser hohen moralischen Attitüde die überaus wertvolle Europaidee sogar beschädigt werden, weil es nicht konkret ist und nicht rational erklärt werden kann. Punkt zwei: Es mag zahlreiche Menschen geben, die das Konzept der Vereinigten Staaten von Europa propagieren. Das ist nicht neu, aber was verbindet sich mit diesem Gedanken? Man sollte einmal darüber nachdenken, dass dieses Europa schon seit vielen Jahrhunderten besteht und funktioniert, dass politische Kulturen gewachsen sind, dass auf einer gemeinsamen Wertebasis letztendlich unterschiedliche Organisationsformen entstanden sind, die alle dazu dienen, den Kerngehalt des europäischen Denkens umzusetzen. Ich

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sehe keine ernstzunehmenden Stimmen in Europa, die behaupten, die Nationalstaaten würden sich eines Tages überleben und mit ihnen auch die nationalen politischen Kulturen und institutionellen Organisationsformen. Wir sehen doch, dass gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, wo eine europäische Kooperation sinnvoll wäre, das Gegenteil stattfindet. Keine der alten großen Nationen hat ein Interesse daran, außen- oder sicherheitspolitische Kompetenzen wirklich nach Europa zu delegieren. Wir sollten also aufhören, Wolken zu schieben, sondern darüber nachdenken, was realisierbar ist und das auch verwirklichen. Wir sollten uns endlich darüber klar werden, was der Endzustand der europäischen Gemeinschaft sein soll, und Abstand davon nehmen, die Europäische Union im Fokus permanenter Vertiefungs- und Integrationsprozesse zu sehen. In dieser Runde wurde viel von den Menschen gesprochen, die erreicht und mitgenommen werden müssen. Aber das Problem ist: Die Menschen gehen nicht mit. Hier entstehen Diskrepanzen, die die europäische Idee, die mir heilig ist, im Kern beschädigen. Punkt drei: Die Bayern haben den Ausschuss der Regionen in gewisser Weise erfunden. Max Streibl hat diese Idee ins europäische Gespräch gebracht, und hätte er keine Resonanz gefunden, wäre auch nichts daraus geworden. Nur wer sitzt denn im Ausschuss der Regionen? Im AdR sitzen aus Deutschland Landesminister und Landtagsabgeordnete z. B. neben regionalen Bürgermeistern und lokalen oder regionalen Beamten, weil viele Regionen nicht von Ländern mit Staatsqualität vertreten werden, sondern von Leuten mit einem ganz anderen Interesse, einem ganz anderen Hintergrund und einer nicht vergleichbaren Verantwortung. Wollen Sie sich ernsthaft für die Idee aussprechen, einen Ausschuss der Regionen nach Bundesratsmodell bei dieser Art von Repräsentation zu realisieren? Das halte ich für irreal. Wir sollten stattdessen dafür eintreten, konkret in den Regionen auf problemlösender Ebene mit den Bürgern, Bürgermeistern, Landräten und den dortigen Institutionen vernünftig zu agieren, etwa in den Bereichen Straßenbau, Wasserwirtschaft oder bei grenzüberschreitenden Umweltprojekten. Die Euregio ist das angemessene Instrument dafür. Es wäre doch schon wunderbar, wenn das funktionierte, und in vielen Bereichen gibt es bereits gute Ansätze. Konzentrieren wir uns doch darauf, anstatt gleich alles in einen europäischen Himmel zu heben, aus dem es dann so schrecklich wieder auf die Erde fällt und das, was uns eigentlich am Herzen liegt, im Kern beschädigt. Dr. Johannes Beermann Als Chef der Staatskanzlei sitze ich ja eher im Maschinenraum der Politik, und glauben Sie mir, auch im Maschinenraum müssen Sie wissen, wohin die

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Reise geht. Ich muss meinem Vorredner heftig widersprechen. Europa ist nach wie vor eine Frage von Krieg oder Frieden. Wenn wir uns das nicht immer wieder ins Bewusstsein rufen, wird Europa scheitern. In den 1990er Jahren haben sich mitten in Europa, keine Flugstunde von Frankfurt entfernt, europäische Kulturvölker gegenseitig umgebracht. Ich spreche vom Zerfall Jugoslawiens. Man war zuvor davon ausgegangen, dass es in Europa nie wieder Krieg geben würde, und dennoch geschah es. Wir wissen heute zum Beispiel nicht, wie sich die Situation in Griechenland entwickeln wird, ob dort nicht demokratiefeindliche Kräfte erstarken werden. Wer glaubt, Demokratie und Frieden seien selbstverständlich, unterliegt einer massiven politischen Täuschung. Wir müssen jeden Tag genau dafür kämpfen und uns immer aufs Neue ins Bewusstsein rufen, dass beides stets gefährdet bleibt. Genau aus diesem Grund muss auch der Integrationsprozess weiter voranschreiten. Zudem bin ich fest davon überzeugt, dass unsere gemeinsame Währung, der Euro, ebenfalls dazu beiträgt, den Frieden in Europa zu sichern. Wir sind also gut beraten, uns das zumindest ab und an wieder ins Bewusstsein zu rufen. Mir im Maschinendeck hilft es jedenfalls. Ulla Kalbfleisch-Kottsieper Ich möchte auf die Vision der Vereinigten Staaten von Europa eingehen und kann das zwischen zwei Polen tun. Zum einen gehöre ich der Partei an, die das bereits 1925 im Heidelberger Programm gefordert hat. Die Sozialdemokraten haben das zwischenzeitlich zwar vergessen, heute jedoch besinnen und beziehen sie sich wieder darauf. Zum anderen kann ich aus den Reihen der CDU Peter Altmaier nennen, der bis Ende 2011 Vorsitzender der EuropaUnion Deutschlands war, einer über 60 Jahre alten parteiübergreifenden Organisation, deren Präsidium ich auch angehöre. Peter Altmaier hat das Hertensteiner Programm von 1946 in seiner Westentasche, in welchem sich ebenfalls die Vereinigten Staaten von Europa finden. Die Europa-Union erarbeitet gerade ein neues Grundsatzprogramm, und wir werden sicher auch darüber diskutieren, ob eine solche Vision noch zeitgemäß ist. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass wir daran festhalten werden. Ich stimme in dieser Hinsicht Herrn Beermann zu. Wir müssen uns auch emotionale Ziele setzen. Denn wenn wir diese Vision aufgeben, gerade vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise, laufen wir Gefahr, in Beliebigkeit zu verfallen nach dem Motto, Hauptsache man trifft sich und redet über das eine oder andere Problem. Über einige Einwände von Herrn Oberreuter zum Ausschuss der Regionen muss ich mich doch sehr wundern. Warum soll der Bürgermeister einer

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britischen oder griechischen Kleinstadt nicht ebenso viele Kompetenzen haben wie die deutschen Vertreter im AdR? Was ist das für ein Denken? Gerade heute haben wir doch mit Herrn Horník, Bürgermeister einer kleinen grenzenahen böhmischen Gemeinde, jemanden in der Runde, der vielfach bewiesen hat, wie wichtig die Kompetenz der kommunalen Ebene für die Lösung von Problemen vor Ort ist – nicht nur in grenznahen Regionen. Meiner Ansicht nach setzt das Konzept vom Europa der Regionen im Grunde unseren Föderalismus fort. Denn es geht dabei doch um institutionalisierte Solidarität. Der Föderalismus in Westdeutschland hat unter anderem deshalb so gut funktioniert, weil wir einen Finanzausgleich haben. Wir konnten die neuen Länder relativ zügig integrieren, weil es den Solidaritätsaspekt gab, der von uns jetzt auch auf europäischer Ebene erwartet wird. Wenn wir uns die Debatten im Ausschuss der Regionen zur Frage einer künftigen Kohäsionspolitik anschauen, dann geht es nicht immer nur darum, wer die meisten EU-Mittel bekommt. Wir Deutsche haben so viel Solidarität erfahren, gerade auch in den neuen Bundesländern, dass es im Ergebnis doch hinnehmbar ist, wenn wir zukünftig etwas weniger EU-Mittel bekommen, dafür aber andere Regionen mit weit höherem Aufholbedarf mehr. Im grenzüberschreitenden Bereich nutzt uns das übrigens dann auch wieder. Prof. Dr. Roland Sturm Ich möchte die Finalitätsfrage aufgreifen. Man kann zwar wünschen, dass sie einmal geklärt wird, sie ist aber nicht über Nacht zu beantworten. Wenn man die einzelnen Staaten fragt, wohin es gehen soll, wird man eher Blockaden finden, und die Angst vor einer neuen Vertragsrevision ist doch nicht unbegründet, weil man damit alle möglichen Türen öffnet. Das Hallsteinsche Fahrrad, also die Vorstellung, der europäische Einigungsprozess muss immer weitergehen, sonst fällt das Fahrrad um und der Prozess scheitert insgesamt, scheint mir auch nicht die Lösung zu sein. Denn je größer die Herausforderungen werden, desto drängender stellt sich in Europa das Legitimationsproblem. Gerade wenn es um Geld geht, muss man den Bürgern erklären, warum das alles nötig ist und welche Vision dahinter steht. Diese Vermittlung ist ein schwieriger Prozess. Wir sollten uns auch daran erinnern – und das steht in den europäischen Verträgen immer ganz deutlich –, dass Europa nicht nach einem fertigen Bauplan entstand, sondern auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung fußt. Die Nationalstaaten geben in neuen Vertragsschlüssen immer wieder begrenzte Kompetenzen nach Brüssel ab, und daraus entsteht irgendwann ein Gebäude. Aber es gab nie einen Verfassungskonvent, der Europa gleich-

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sam »hergestellt« hätte. Als wir das letzte Mal versucht haben, einen Vertrag Verfassung zu nennen, hat das nicht funktioniert. Es war ein Vertrag und als Lissabon-Vertrag ist er dann auch beschlossen worden. Zum AdR möchte ich noch ergänzen: Seine Struktur könnte man sich unterschiedlich vorstellen, ob er mit 370 Mitgliedern allerdings noch effizient sein kann, darüber kann man streiten. Das würde wohl eine funktionierende Parteipolitik auf dieser Ebene erfordern. Denn im Ausschuss der Regionen wird ja immer stärker parteipolitisch diskutiert und nicht mehr nach Regionen oder Nationen getrennt. Parteien können Interessen bündeln, aber europäische Parteien in dem Sinne haben wir bislang nicht, in denen sich die Bürger direkt wiederfinden würden. Wir haben Parteienverbünde, denen zum Teil gegnerische Parteien angehören. Wir stehen also in gewisser Weise vor einem Dilemma: Wir müssen schon heute Probleme lösen, für die wir vielleicht Visionen bräuchten – Stichwort Finalität –, die noch gar nicht vermittelt sind. Anders gesagt, wenn wir über Visionen reden, lösen wir noch keines der Probleme, und aus diesem Dilemma kommen wir so schnell nicht heraus. Prof. Dr. Robert Traba (Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften) Wir sind alle für Frieden und gegen Krieg. Ob wir dafür aber wirklich neue Strukturen brauchen, da bin ich wie Herr Oberreuter skeptisch. Wir sollten vielmehr beobachten, wofür sich die junge Generation der Europäer interessiert, und uns mit ihren Themen auseinandersetzen, zum Beispiel mit der Occupy-Bewegung. Diese neue Generation fordert Partizipation – ich würde das Verbürgerlichung oder nach Max Weber Vergesellschaftung der Europäischen Union nennen. Das scheint mir ein zentraler Punkt zu sein, wenn wir über die Zukunft Europas sprechen. Dr. Eugenie Trützschler von Falkenstein (Stiftung Ettersberg) Ich möchte etwas zu den Regionen anmerken. Wenn man sich bewusst macht, dass die Vögte von Weida seit 1158 die Gerichtsherren von Eger waren, wird unmittelbar klar: Diese Region hat eine völlig andere Tradition als der Nationalstaat. Was sind 200 Jahre Nationalstaat gegen 800 Jahre Euregio Egrensis, gegen die mehr als 800-jährige vogtländische Identität? Was heißt Nationalstaat, was heißt Nation? Der Begriff Nation muss von den Historikern immer wieder neu diskutiert werden. Wir haben immer gedacht, es gibt eine jugoslawische Nation, das hat sich als falsch erwiesen. Ich betrachte die Euregio

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Egrensis als eine Schicksalsgemeinschaft. Wir müssen nicht über die Zukunft der Regionen diskutieren, denn es gibt sie seit tausend Jahren und sie werden uns alle überleben.

Die Autoren

Johannes Beermann Geboren 1960 in Emsdetten (NRW), Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1990 Promotion in Münster, Anfang der 1990er Jahre im Rahmen des Aufbaus der Ministerialverwaltung im Sächsischen Staatsministerium für Soziales sowie in der Sächsischen Staatskanzlei tätig, 1995–1999 Staatsrat beim Finanzsenator der Freien Hansestadt Bremen, 1999–2003 Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten beim hessischen Ministerpräsidenten, 2002–2003 Leitung des Malteser Hilfsdienstes in der Diözese Limburg, seit 2003 Partner einer Berliner Anwaltskanzlei, im Juni 2008 zum Chef der Sächsischen Staatskanzlei und Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten berufen und im September 2009 als Staatsminister und Chef der Sächsischen Staatskanzlei bestätigt. Ulrich Blum Geboren 1953 in München, Prof. Dr. rer. oec. Dr. h. c., Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Karlsruhe, 1982 Promotion, 1986 Habilitation am Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Karlsruhe; 1987–1992 Professur für Wirtschaftspolitik an der Universität Bamberg, 1991–1994 Gründungsdekan der Fakultät Wirtschaftswissenschaften an der TU Dresden, 1992–2004 dortiger Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung, 2004–2011 Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle und seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung an der Universität Halle-Wittenberg. Forschungsschwerpunkte: Institutionen-, Industrie- und Regionalökonomik und ihre wirtschaftspolitische Umsetzung. Aktuelle Veröffentlichungen: East Germany’s Economic Development Revisited: Path Dependence and East Germany’s Pre- and Post-Unification Economic Stagnation, in: Journal of Post-Communist Economies (erscheint 2013); (Mitautor): Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, IWH-Sonderheft 1/2009, Halle (Saale) 2009; Der Innovationsstandort Ostdeutschland (mit Jutta Günther),

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Die Autoren

in: Bernhard Vogel (Hg.): Standort: Neue Länder. Politik – Innovation – Finanzen, Sankt Augustin/Berlin 2009, S. 95–112. Marion Eich-Born Geboren 1955 in Bonn, Prof. Dr. rer. nat., Studium der Anglistik und Geographie in Bonn und Madison/Wisconsin; 1983–1989 Gymnasiallehrerin, 1989 Promotion zum Dr. rer. nat. an der Universität Bonn, 1990–1995 u. a. Freie Mitarbeiterin bei der Ruhrkohle Umwelt GmbH und der Harpener AG, 1996–1997 Dezernentin im Statistischen Landesamt Mecklenburg-Vorpommern, 1997–2003 Vertretungsprofessur am Geographischen Institut der Universität Greifswald, 2003 dort Habilitation; 2003–2009 Wissenschaftliche Mitarbeit und seit 2007 Deputy Managing Director am Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development, Universität Rostock; 2004–2008 Vertretungs- und Gastprofessuren an den Geographischen Instituten der Universitäten Greifswald und Jena, 2009–2012 Staatssekretärin im Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr; seit März 2012 Geschäftsführerin der Internationale Bauausstellung Thüringen GmbH. Aktuelle Veröffentlichungen: Fit machen für das 21. Jahrhundert. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Regionalpolitik, Hannover 2009; Herausforderungen als Chance begreifen: Zum Ausbau von Zukunftsfeldern in den neuen Ländern, in: Bernhard Vogel (Hg.): Standort Neue Länder. Politik, Innovation, Finanzen, Berlin/Sankt Augustin 2009, S. 77–93; (Mithg.): Wirtschaftliche Zukunftsfelder in Ostdeutschland (mit Gerald Braun), Rostock 2008. Peter Frey Geboren 1946 in Waldshut (Baden), Dr. rer. nat., Studium der Physik in Berlin und Freiburg, 1979 Promotion, nach sieben Jahren in der industriellen Forschung Wechsel in das Forschungsmanagement beim VDI Technologiezentrum in Düsseldorf, Forschungs­ programmentwicklung für das Bun­ desforschungsministerium, danach fünf Jahre als Geschäftsführer eines Beratungsunternehmens in Frankfurt am Main, seit 1995 GesellschafterGeschäftsführer der FreyTec Consulting GmbH Bad Nauheim/Erfurt, ab 2005 Mitglied der Geschäftsleitung des CiS Forschungsinstituts für Mikrosensorik und Photovoltaik in Erfurt, seit 2009 Geschäftsführer der Solar Valley GmbH in Erfurt, die das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Photovoltaik-Netzwerk »Spitzencluster Solarvalley Mitteldeutschland« managt.

Die Autoren

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Volkhard Knigge Geboren 1954 in Bielefeld, Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Oldenburg und Paris, 1986 Promotion, danach wissenschaft­licher Mitarbeiter u. a. am Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums NRW, 1992–1994 Assistent am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, seit 1994 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, 2002 Honorarprofessor für »Geschichte und Öffentlichkeit« an der Universität Jena, seit 2007 dort ordentlicher Professor für »Geschichte in Medien und Öffentlichkeit«, Kurator zahlreicher Dauer-, Sonder- und Wanderausstellungen zur Geschichte von Gesellschaftsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Forschungs­ schwer­ punkte: Erinnerungskultur, Geschichtspolitik und Geschichtsbewusstsein im 20. Jahrhundert, besonders im Kontext europäischer Gedenk­ stätten, Ausstellungen und Denkmäler. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Gulag: Spuren und Zeugnisse 1929–1956. Begleitband zur Ausstellung (mit Irina Scherbakowa), Göttingen 2012; (Mithg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktatur­erfahrung und Demokratieentwicklung (mit Hans-Joachim Veen, Ulrich Mählert und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2011; (Mithg.): Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg, Weimar 2010. Matthias Machnig Geboren 1960 in Wimbern (NRW), Studium der Soziologie, Geschichte, Anglistik und Erziehungswissenschaften in Wuppertal und Münster, 1998–1999 Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, 1999–2002 Bundesgeschäfts­führer der SPD, 2002–2005 Unternehmensberater, u. a. bei Booz Allen Hamilton, ab 2005 Staatssekretär im Bundes­ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, seit 2009 Thüringer Minister für Wirtschaft, Arbeit und Technologie. Aktuelle Veröffentlichungen: (Hg.): Welchen Fortschritt wollen wir? Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand, Frankfurt am Main 2011; Vermessungen – Politik neu orientieren, Berlin 2010; (Mithg.): Wohin steuert Deutschland? Bundestagswahl 2009. Ein Blick hinter die Kulissen (mit Joachim Raschke), Hamburg 2009.

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Die Autoren

Klaus Manger Geboren 1944 in Pößneck (TH), Prof. Dr. phil., Studium der Theologie, Philosophie, Germanistik und Geschichte in Würzburg, Heidelberg, Göttingen und Aachen, 1976 Promotion, 1984 Habilitation an der Universität Heidelberg, 1986 dort Professor für Neuere deutsche Literatur, 1989 an der Universität Erlangen-Nürnberg, seit 1992 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 1998–2006 Sprecher des Sonderforschungsbereichs 482 (Ereignis WeimarJena. Kultur um 1800), seit 2007 Projektleiter der »Historisch-kritischen Wieland-Edition«. Forschungsschwerpunkte: Kollektive Freiheitsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Barock, Aufklärung und Romantik, Literatur des 19. Jahrhunderts, Lyrik im 20. Jahrhundert sowie Literatur und kulturelles Gedächtnis. Aktuelle Veröffentlichungen: (Mithg.): Wieland-Studien, Band 7: Aufsätze, Texte und Dokumente, Heidelberg 2012; Wieland – Mentor der Nation. Ist ein aufgeklärtes Volk leichter zu regieren oder ein unaufgeklärtes?, in: Kristian Kühl/Gerhard Seher (Hg.): Rom, Recht, Religion. Symposion für Udo Ebert zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2011, S. 265–280; Bestseller des 18. Jahrhunderts, in: Anett Lütteken u. a. (Hg.): Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung, Göttingen 2009, S. 17–45. Peter März Geboren 1952 in Erlangen, Dr. phil., Studium der Geschichte, Germanistik und Sozialkunde für das höhere Lehramt an der Universität Erlangen-Nürnberg, 1981 Promotion mit einer Arbeit über die zeitgenössische Diskussion in der Bundesrepublik 1952 über die sowjetische Notenoffensive für ein wiedervereinigtes und neutralisiertes Deutschland und den gleichzeitigen Fortgang der Westintegration, berufliche Stationen: Gymnasialer Schuldienst, Bayerisches Staatsministerium des Innern, Bayerische Staatskanzlei, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Aktuelle Veröffentlichungen: Mythen, Bilder, Fakten: Auf der Suche nach der deutschen Vergangenheit, München 2010; (Mithg.): Die Folgen der Revolution: 20 Jahre nach dem Kommunismus, Köln/Weimar/Wien 2010; Der Erste Weltkrieg. Deutschland zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert, 2. erw. Aufl., Stamsried 2008; An der Spitze der Macht. Kanzlerschaften und Wettbewerber in Deutschland, 2. überarb. Aufl., München 2008.

Die Autoren

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Peter Maser Geboren 1943 in Berlin, Prof. Dr. theol., Studium der Evangelischen Theologie in Halle (Saale), 1971 Promotion, 1988 Habilitation, 1993 Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, 2001–2008 Direktor des Ostkirchen-Instituts sowie Leiter der Abteilung für Christliche Archäologie der Universität Münster, 1995–1998 Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, 1999–2002 Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements«, ab 1998 Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv (SAPMO); seit 1999 Vorsitzender des Fachbeirates Wissenschaft der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, 2010/11 Vorsitzender der Expertenkommission »Gedenk- und Lernort Andreasstraße« bei der Thüringer Landesregierung, Stellv. Vorsitzender der Historiker-Kommission für eine »Landes­ förder­konzeption für Gedenkstätten und Lernorte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« in Thüringen. Aktuelle Veröffentlichungen: Facetten des Judentums. Ausgewählte Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, Nordhausen 2009; Deutsche ZeitBilder: Die Kirchen in der DDR, Bonn 2000 ff.; seit 1995 Mitherausgeber der Internationalen Halbjahresschrift »Kirchliche Zeitgeschichte (KZG)« und seit 1997 der »Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte«. Heinrich Oberreuter Geboren 1942 in Breslau, Prof. Dr. phil., Studium der Politik- und Kommunikationswissenschaft, Geschichte und Soziologie in München, Wissenschaftlicher Assistent am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-MaximiliansUniversität München und beim Deutschen Bundestag, 1978–1980 Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, 1980–2010 Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität Passau, 1991–1993 Gründungsdekan für Geistes- und Sozialwissenschaften an der TU Dresden, Mitglied des Kuratoriums und kurzzeitig (2002/03) auch Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 1993–2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing, Professor und Stellv. Vorsitzender des Kuratoriums der Hochschule für Politik in München. Forschungsschwerpunkte: Politi-

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Die Autoren

sches System der Bundesrepublik Deutschland, Parlamentarismus, Politische Bildung, medien- und kommunikationswissenschaftliche Themen. Aktuelle Veröffentlichungen: Republikanische Demokratie. Der Verfassungsstaat im Wandel, Baden-Baden 2012; Am Ende der Gewissheiten. Wähler, Parteien und Koalitionen in Bewegung, München 2011; Wendezeiten. Zeitgeschichte als Prägekraft politischer Kultur. München 2010. Karl Schmitt Geboren 1944 in Säckingen/Hochrhein (BW), Prof. Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Romanistik an den Universitäten Bonn, Toulouse, Ann Arbor/Michigan und Freiburg, 1977 Promotion, 1985 Habilitation im Fach Politikwissenschaft, 1986–1992 Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität zu Köln, 1992–2008 Professor für deutsche Regierungssysteme an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Mitautor des seit 2000 jährlich erscheinenden Thüringen-Monitors »Politische Kultur im Freistaat Thüringen«. Forschungsschwerpunkte: Parteien, Wahlen, politische Einstellungen, Eliten, Politische Soziologie von Religion und Kirche, Politik in Frankreich. Aktuelle Veröffentlichungen: Politische Parteien in Thüringen 1990–2011 (mit Torsten Oppelland), 2. Aufl., Erfurt 2012; Thüringen: Eine politische Landeskunde, 2. Aufl., Baden-Baden 2011; Politische Kultur im Freistaat Thüringen, Staatsaufgaben und Staatsausgaben, Ergebnisse des Thüringen Monitors 2011 (mit Jürgen H. Wolff), Jena 2011. Norbert Schremb Geboren 1954 in Bochum, seit seiner Ausbildung zum Industriekaufmann 1971–1974 bei der Härterei Reese Bochum beschäftigt, zuletzt als kaufmännischer Leiter; seit 1992 Geschäftsführer der Härterei Reese Weimar GmbH; Präsident des Industrieclub Thüringen, Gründer und Fraktionsvorsitzender des weimarwerk bürgerbündnis im Weimarer Stadtrat, Vorstandsvorsitzender des Vereins zur Förderung des Instituts für Energiewirtschaftsrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und neben weiteren ehrenamtlichen Tätigkeiten auch Mitglied des Industrieausschusses der IHK Erfurt. Roland Sturm Geboren 1953 in Speyer, Prof. Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Geschichte sowie der Anglistik in Berlin, Sheffield, Heidelberg und Stanford,

Die Autoren

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1981 Promotion und 1987 Habilitation in Heidelberg, 1987–1988 Vertretungsprofessur im Fach Verwaltungs­wissenschaften der Universität der Bundeswehr in Hamburg, 1991–1996 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen, 1992 bzw. 2007 Gastprofessuren an der University of Washington (Seattle) und an der Peking Universität, 1993 Mitbegründer des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung an der Universität Tübingen, seit 1996 Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, 2004–2011 Geschäftsführender Vorstand des Zentralinstituts für Regionenforschung der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, Vergleichende Politikwissenschaft, Föderalismus, Politische Ökonomie und Europaforschung. Aktuelle Veröffentlichungen: (Mithg.): »Superwahljahr« 2011 und die Folgen (mit Eckhard Jesse), Baden-Baden 2012; Das neue deutsche Regierungssystem: Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland (mit Heinrich Pehle), 3., aktual. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2012; (Mithg.): Föderalismus als Verfassungsrealität – Deutschland und Kanada im Vergleich (mit Alain-G. Gagnon), Baden-Baden: 2011; (Mithg.): Europas Politik vor neuen Herausforderungen (mit Eckhard Jesse und Gerd Strohmeier), Opladen/Farmington Hills 2011. Eugenie Trützschler von Falkenstein Geboren 1950 in Prag, Dr. phil., nach der Emigration nach München (1967) und abgeschlossener Krankenschwesterausbildung Studium der Pädagogik, Politischen Wissenschaften und Geschichte in München, 1976 Diplom in politischen Wissenschaften, 1980 Promotion in Geschichte, 1982 Zweite Lehramtsprüfung, danach im bayerischen Staatsdienst tätig, seit 1992 Thüringer Beamtin, seit 2010 Forschungsprojekte bei der Stiftung Ettersberg. Forschungsschwerpunkte: Regionalismus und deutsch-tschechischen Beziehungen. Aktuelle Veröffentlichungen: Die Grenze zwischen den Bruderstaaten. DDR und Tschechoslowakei 1955–1990 im gesamteuropäischen Kontext. Projekt der Stiftung Ettersberg, der Stadt Kraslice und der Karlsuniversität Prag 2010/2011, Weimar/Kraslice 2011; Die Aktion Nikola, in: Markus A. Meinke (Hg.): Die tschechisch-bayerische Grenze im Kalten Krieg in vergleichender Perspektive, Regensburg 2011, S. 69–79; (Mithg.): Regional Governance (mit Jürgen Dieringer), Opladen 2010.

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Die Autoren

Hans-Joachim Veen Geboren 1944 in Straßburg (Elsass), Prof. Dr. phil., Studium der Politischen Wissenschaften, der Neueren Geschichte und des Öffentlichen Rechts an den Universitäten Hamburg und Freiburg im Breisgau, 1982–2000 Forschungsdirektor der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 1996 Honorarprofessor für Vergleichende Regierungslehre und Parteienforschung an der Universität Trier, 2000–2002 Projektleiter »Demokratie- und Parteienförderung in Mittel- und Osteuropa« der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2002 Vorstands­ vorsitzender der Stiftung Ettersberg, seit 2008 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums bei der BStU. Forschungsschwerpunkte: international vergleichende Wahl- und Parteienforschung, Geschichte der SED-Diktatur und ihre Aufarbeitung, europäisch vergleichende Diktaturund Transformationsforschung. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktatur­ erfahrung und Demokratieentwicklung (mit Volkhard Knigge, Ulrich Mählert und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2011; (Mithg.): Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus (mit Peter März und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2010; »Wie viel Einheit brauchen wir? Die ›innere Einheit‹ zwischen Gemeinschaftsmythos und neuer Vielfalt«, in: Einsichten und Perspektiven, Heft 3/2010, S. 208 ff.

Personenregister

Abbe, Ernst Karl  19, 158 Adam, Konrad  40 Adenauer, Konrad  37, 81 Adorno, Theodor W.  73 Albertus Magnus  20 Althaus, Dieter  62 Altmaier, Peter  245 Altmeier, Peter  80 Anhalt, Dorothea Maria von  21 Apitz, Bruno  39 Baal Schem Tov (Rabbi Israel ben Elieser) 71 Bach, Johann Sebastian  33 Bartel, Walter  39 Bartholomäus Anglicus  15 Barzel, Rainer  131 Beermann, Johannes  240, 242–245 Bell, Daniel  205 Bessant, John  182 Beulwitz, Caroline von  26 Beust, Friedrich Ferdinand von 127 Biedenkopf, Kurt  128 Bischoff, Helmut  45 Bismarck, Otto von  117, 127 Blaschke, Karlheinz  80 Bonifatius 15 Brecht, Bertold  121 Brunner, Otto  124 Busse, Ernst  39 Carlebach, Emil  45 Celan, Paul  16 f. Classen, Christoph  69 Cranach, Lucas  33

Cremer, Fritz  44 Dacheröden, Caroline von  26 Dalberg, Carl Theodor von  25 f. Deufel, Thomas  56 f. Dieste, Werner  239, 242 Dietrich von Apolda  19 Distel, Barbara  40 Ebernand von Erfurt  15, 19 Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart)  18, 20, 30, 33 Ehard, Hans  81 Eich-Born, Marion  7 Elisabeth von Thüringen  18–20, 30, 33 Fickel, Ulrich  35 Fricke, Karl Wilhelm  43 Gabriel, Sigmar  236 Gall, Lothar  40 Gatterer, Johann Christoph  18 Glaser, Erhart  48 Glotz, Peter  206 Goethe, Johann Wolfgang von  24–30, 33 f. Goppel, Alfons  127 Groehler, Olaf  42 Gropius, Walter  18 Grotewohl, Otto  38 Gutberlet, Thomas  172 Habermas, Jürgen  91 Hädicke, Lothar  37 Halbwachs, Maurice  70 Heise, Joachim  64 Herbert, Ulrich  40 Herder, Johann Gottfried  24, 33

258 Personenregister Hermann von Thüringen  19 Hess, Alfred  18 f. Heß, Rudolf  46 Hesse, Konrad  82 Hessus, Eobanus  29 Heuss, Theodor  81 Hitler, Adolf  8, 48 f. Horník, Jan  242 f., 246 Humboldt, Wilhelm von  26 Hutten, Ulrich von  29 Jäckel, Eberhard  40 Jarausch, Konrad  69 Kafka, Franz  25 Kalbfleisch-Kottsieper, Ulla  239–241, 245 f. Kant, Immanuel  18 Kertész, Imre  37 Keßler, Harry Graf  18 Kiesinger, Kurt-Georg  131 Klotz, Ernst-Emil  45 Knigge, Volkhard  7, 36–38 Kohl, Helmut  79, 240 Kolb, Eberhard  40 König, Helmut  71 Krosigk, Bernhard von  21 Krosigk, Christoph von  21 Kues, Nikolaus von  20 Lengefeld, Charlotte von  25 Leopold von Österreich  19 Lessing, Gotthold Ephraim  17 Leyen, Ursula von der  235 Liszt, Franz  18–20, 24, 33 Ludwig der Jüngere von AnhaltKöthen 21 Ludwig I., Fürst von AnhaltKöthen 21 Luther, Martin  21, 29, 33, 96 Malewitsch, Kasimir  20 Mandelstam, Ossip  16 Margul-Sperber, Alfred  16

März, Peter  7 Maser, Peter  7 Maximilian II. Emanuel von Bayern 126 McCloy, John  81 Merkel, Angela  235 Messerschmidt, Manfred  40 Meyer-Rühle von Lilienstern, Margot 48 Neubert, Hildigund  54 Neumark, Georg  21 Nietzsche, Friedrich  18 Novalis (Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg)  19 Oberreuter, Heinrich  243–245 Ofterdingen, Heinrich von  18–20 Olbrycht, Jan  219 Overesch, Manfred  40 Pasternack, Peer  69 Pavitt, Keith  182 Plato, Alexander von  70 Raßloff, Steffen  8 Reuß, Heinrich Posthumus  22 f. Riehl, Wilhelm Heinrich  95 Ries, Adam  29 Ritscher, Bodo  41 Rothe, Johannes  19 Rubianus, Crotus  29 Rudolph, Günther  41 Rufus, Mutianus  29 Rühle, Astrid  49 Rühle von Lilienstern, Curt  49 Rürup, Reinhard  40 Rüttgers, Jürgen  207 Sachsen-Weimar, Friedrich von  21 Sachsen-Weimar, Johann Ernst von 21 Sachsen-Weimar, Wilhelm von  21 Sachsen-Weimar-Eisenach, Anna Amalia Herzogin von  23

Personenregister

Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl August von  23 f., 26 Sachsen-Weimar-Eisenach, Maria Pawlowna Großherzogin von 24 Sarkozy, Nicolas  235 Schikaneders, Emanuel  28 Schiller, Friedrich  17 f., 24-26, 31, 33 f. Schlögel, Karl  9 Schlözer, August Ludwig von  18 Schmid, Carlo  82 Schmiechen-Ackermann, Detlef  46 Schott, Otto  19, 158 Schremb, Norbert  151 Schröder, Gerhard  82, 131 Schröder, Richard  82 Schulz, Holger  184 Schütz, Heinrich  22 f. Schwind, Moritz von  19 Shakespeare, William  28 f., 33 Singer, Heinrich  116 f. Späth, Lothar  206 Stein, Charlotte von  25 Stölzl, Christoph  40 Strauß, Franz Josef  127 Streibl, Max  82, 206, 244 Sturm, Roland  241 f., 246 f. Sybel, Heinrich von  123

259 Tauler, Johannes  20 Teutleben, Caspar von  21 Tidd, Joseph  182 Tillich, Stanislaw  237 Titze, Mirko  184 Traba, Robert  247 Treitschke, Heinrich von  8, 95 f., 123 Triantaphyllides, Kyriacos  219 Trützschler von Falkenstein, Eugenie  7 f., 247 f. Van de Velde, Henry  18 Veen, Hans-Joachim  72 f. Vogel, Bernhard  79 f., 85 Wagner, Richard  20 Wallmann, Walter  129 Walther von der Vogelweide  19 Weber, Carl Maria von  27 Weber, Max  71, 247 Weinhold, Michaela  184 Weizsäcker, Richard von  206 Wiater, Patricia  10 Wieland, Christoph Martin  24 f., 27–30, 33 f. Wippermann, Wolfgang  40 Wischer, Gerhard  45 Wolfram von Eschenbach  19 Würtenberger, Thomas  10 Zeiss, Carl  19, 150, 158

EuropäischE Dik taturEn unD ihrE ÜbErwinDung scHrif Ten der sTif Tung eT Tersberg Herausgegeben von Hans-JoacHim veen, volkHard knigge, TorsTen oppelland, Jorge semprún †, bernHard vogel, Hans-peTer scHwarz, eckHard Jesse, gilberT merlio, eHrHarT neuberT, luTz nieTHammer, mária scHmidT, k arl scHmiT T, roberT Traba eine auswaHl

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Heinrich Oberreuter

Die Rolle der »neuen« und »alten« Länder im deutschen Bundesstaat

Das mir zugedachte Thema kann im Rahmen dieses Beitrags unmöglich erschöpfend behandelt werden. Geht man es kulturwissenschaftlich und kulturkritisch an, demokratietheoretisch oder im Sinne der Forschung zur politischen Kultur? Oder fragt man historisch, mit Blick auf das politische System, speziell unter dem Gesichtspunkt der hochinteressanten Entwicklungen des Föderalismus? Diese Entwicklungen haben nicht zuletzt durch den Vereinigungsprozess neue Wendungen und neue Stoßrichtungen erfahren, wenn auch keine, die wir für perfekt hielten; aber perfekt kann ein föderalistisches System offensichtlich nie sein. Der deutsche Föderalismus ist, wie die Amerikaner sagen würden, kein »layer cake«, sondern ein »marble cake« – keine Schichttorte, sondern ein Marmorkuchen. Er ist auf Kooperation, Vermischung und Verwischung angelegt. Alle gegenteiligen Versuche scheitern an der politischen Wirklichkeit, auch an der Wirklichkeit, die das Verhältnis der alten und neuen1 Bundesländer mitstrukturiert. Sie scheitern nicht zuletzt an der unterschiedlichen Leistungskraft der Länder und an der Notwendigkeit, diese in einem föderalistischen demokratischen Gemeinwesen auszugleichen. Ich will meinen Versuch, das Thema zu umkreisen, in drei Schritten angehen: Im ersten Teil geht es um die Popularität der Föderalismusidee, auch mit Blick auf die Identitätsstiftung und Integrationsleistung im Vereinigungsprozess. Hier ist auf einiges hinzuweisen, was mittlerweile vielleicht in Vergessenheit geraten ist. Zweitens möchte ich einige Bemerkungen zur Wirtschafts- und Finanzkraft als differenzierende Faktoren dieses Verhältnisses anschließen – diesseits und jenseits der Ost-West-Perspektive. Drittens soll die politisch-kulturelle Entwicklung gestreift werden.

1 ����������������������������������������������������������������������������� Die so genannten »neuen« Länder verfügen im Übrigen historisch über weit längere Tradition als westdeutsche Bindestrich-Konstruktionen der Nachkriegszeit.

78 1

Heinrich Oberreuter

Priorität und Popularität der Föderalismusidee

Am 5. Juli 1990 veröffentlichten die westdeutschen Ministerpräsidenten »Eckpunkte für den Föderalismus im vereinten Deutschland«. Sie schrieben: »Ein einheitliches Deutschland darf schon von seiner Größe und seinem Gewicht her kein Nationalstaat im historischen Sinne sein. Er wird noch in viel stärkerem Maße ein entschieden föderativ geprägter Bundesstaat sein müssen. Seine künftige Struktur wird stärker als bisher die Eigenstaatlichkeit der Länder zur Geltung zu bringen haben.«2

Dies war zu Beginn dieses Prozesses eine Absage an die unitarisierenden und politikverflechtenden Entwicklungen in der alten westdeutschen Republik, an denen die Länder schmerzlich gelitten hatten. Die westdeutschen Ministerpräsidenten schlugen, wie sie sagten, auch im Interesse der künftigen Länder auf dem Gebiet der DDR eine Reihe von Verfassungsänderungen vor: eine Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern, Autonomie in bestimmten Steuerfragen und Verbesserungen bei der Gesetzgebungskompetenz, wie sie dann teilweise und ansatzweise 15 Jahre später verwirklicht worden sind. Vor allem sollte jene Bestimmung fallen, die der Politik seit 1949 die Herstellung der »Einheitlichkeit« der Lebensverhältnisse zur Aufgabe gemacht hatte. 1990 schon schlugen die Ministerpräsidenten vor, nur noch von »Gleichwertigkeit« zu sprechen. So geschah es auch, weil unmittelbar evident gewesen ist, dass das Postulat der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse angesichts der Modernitäts- und Leistungsdefizite sowie des zu erwartenden geringen Steueraufkommens im ehemaligen Gebiet der DDR die westdeutschen Länder überfordern würde, einige von ihnen sogar existentiell. Unklar ist, warum im Grundgesetz bei der legislatorischen Kompetenzzuweisung (Art. 72) die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Gleichwertigkeit3 gewandelt worden ist, aber ausgerechnet bei der Finanzverfassung ihre Einheitlichkeit bestehen blieb (Art. 106,3): ein die Logik auf den Kopf stellender Widerspruch, der wahrscheinlich der Dynamik und der Unübersichtlichkeit der Veränderungsprozesse geschuldet ist. Die Erkenntnis, dass auch im Föderalismus letztendlich die Gleichheit, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nicht erzielt werden kann, bestand jedenfalls. Mit Blick auf die Ausgangslage der Vereinigung könnte natürlich 2 Vgl. www.eurostudium.uniroma1.it/documenti/frontoni/laender.doc [12.02.2012]. 3 Dazu Edmundt Brandt: Gleichwertige Lebensverhältnisse als Rechtsproblem, Berlin 2006.

Die Rolle der »neuen« und »alten« Länder im deutschen Bundesstaat

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die Gleichwertigkeit so etwas wie ein Maximalziel darstellen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es einen vernünftigen ökonomischen und vor allem psychologischen Maßstab für beide Begriffe gibt. Aus pluralistischer Sicht ist jeder Begriff von Einheitlichkeit in gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen ohnehin kritisch zu bewerten. Mit dem Begriff der Gleichwertigkeit tauchen zusätzliche Interpretationsprobleme auf. Man sollte sie verfassungstheoretisch so behandeln wie das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz, nämlich als einen Handlungsauftrag, auf bestimmten Politikfeldern tätig zu werden, ohne dass dieser Auftrag einen abschließenden Zustand der Realisierung des ihm zugrunde liegenden Prinzips definieren könnte. Ein zweites Rechtsproblem ist im Vereinigungsprozess damals schon angedacht worden und hat große Wirksamkeit im Kontext mit Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes entfaltet: der Austausch der Bedürfnisklausel gegen die Erforderlichkeitsklausel. Der Bund sollte in der konkurrierenden Gesetzgebung nicht mehr tätig werden dürfen, wenn er nur das Bedürfnis dafür sieht, sondern allein, wenn sein Handeln tatsächlich erforderlich ist. Dieser Problemkreis hat Karlsruhe später zu einem geradezu dramatischen Urteil veranlasst, als es um das Recht von Juniorprofessoren ging. Das Verfassungsgericht vertrat im Kern die These, die Erforderlichkeit einer Aktivität des Bundes in der konkurrierenden Gesetzgebung hänge quasi von einem Notstand ab, der in der zu regelnden Materie zum Zerfall der Rechtseinheit führe. Die verfassungspolitische Vordringlichkeit und Popularität des Föderalismus gilt auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. In Westdeutschland besitzt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung keine Kenntnis davon, dass die ehemalige DDR zunächst als föderaler Staat gegründet worden war und die Länder 1952 wieder zum Verschwinden gebracht wurden. Als die Staatspartei die Idee der Vereinigung unter ihren politischen Vorzeichen scheitern sah, schaltete sie auf das ohnehin angestrebte Modell des Zentralismus um und gründete jene weisungsgebundenen 15 Bezirke, die in der DDR kaum Popularität errangen. Die Menschen haben sie im Herbst 1989 vielleicht nicht primär wegdemonstriert. Aber sie haben sehr eindringlich zum Ausdruck gebracht, dass sie diese Gebilde nicht mehr haben wollten. Wer im Frühjahr 1990 in Thüringen und Sachsen unterwegs war, sah beide Freistaaten überschwemmt mit den die eigene Identität zum Ausdruck bringenden Landesfahnen und Landesfarben, mit der Deutschlandfahne auch: geradezu ein Ausbruch an identitätsstiftenden Symbolen, der im Westen kaum vorstellbar erschien. Bernhard Vogel hat treffend im Blick auf die fahnenumrankte Dresdener Kundgebung mit Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 geschrieben: »Schwarz-rot-goldene Fahnen waren durch das Heraustrennen

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Heinrich Oberreuter

eines ungeliebten Emblems leicht zu beschaffen. Die weiß-grünen sächsischen Fahnen nur schwer.«4 Für die vieltausendfach geschneiderten Fahnen Thüringens gilt das ebenso. Es ist hochinteressant, dass nach dem Ruf »Wir sind das Volk!« und »Wir sind ein Volk!« der Ruf »Wir wollen unsere Länder wieder haben!« eigentlich der dritte verfassungspolitische Aufschrei in diesem Land gewesen ist. Noch unter der Regierung Modrow hatte eine Kommission für drei ostdeutsche Länder plädiert: Mecklenburg, Brandenburg und SachsenThüringen. Das Plädoyer war nicht erfolgreich. Die Entscheidung fiel zugunsten der alten historischen Tradition. Identitätsbildung und Identitätsstiftung waren dadurch viel eher zu realisieren als durch funktionalistisch motivierte artifizielle Konstruktionen. Gleichwohl wurde diese Diskussion damals im Osten ziemlich intensiv geführt. Karlheinz Blaschke z. B. hatte für die Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament« einen Aufsatz über Föderalismusreform geschrieben und diesem eine Skizze beigegeben, wie er sich als sächsischer Landeshistoriker – als guter Sachse war wahrscheinlich Sachsen im Zentrum – die Neustrukturierung des Bundesgebietes Ost vorstellte.5 Dass es kaum Reaktionen auf die Publikation dieses Aufsatzes gab, hat ihn verwundert. Allerdings war er mit der Vielzahl vergeblicher Neugliederungsvorschläge in der Geschichte des Westens und ihrer mäßigen Popularität nicht vertraut. Ihnen widerstreitet, was Föderalismus auf emotionaler Ebene Popularität verleiht: Identität. An ihr scheitert jener Funktionalismus, der – sagen wir einmal – aus der opulenten Position des Freistaates Bayern z. B. dem Saarland (mit seiner besonderen Geschichte!) Selbstauflösung und Anschluss an Rheinland-Pfalz empfiehlt, von dem sein zweiter Ministerpräsident Peter Altmeier ehedem immer als »Land aus der Retorte« gesprochen hatte. Dennoch sei auf eine zweite Dimension hingewiesen: So wie klassische historische Traditionen in der Tat regionale Identität mit Wirksamkeit bis in die Zeiten der Globalisierung hinein stiften, so erfüllen offensichtlich auch neu gegründete administrative Einheiten (z. B. die Bindestrichkonstruktionen in der Nachkriegszeit in Westdeutschland) mit den Jahren identitätsstiftende Funktionen. Aus der Sicht tausendjähriger Landesgeschichte wirkt es verblüffend, den Beitrag eines Bundespräsidenten aus Anlass des 50. Jubiläums von Nordrhein-West-

4 Bernhard Vogel: Die Bundesrepublik Deutschland – eine Erfolgsgeschichte: Dank oder trotz des Föderalismus?, in: Matthias Herdegen u. a. (Hg.): Staatsrecht und Politik, München 2009, S. 533. 5 Karlheinz Blaschke: Alte Länder – Neue Länder: Zur territorialen Neugliederung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 27/1990, S. 39–54.

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falen zu lesen.6 Doch in der Tat entstand aus diesen Konstruktionen der Besatzungsmächte, politisch gefördert und besonders von regionalen Medien unterstützt, ein neues Landesbewusstsein. Administrative Strukturen bilden Bewusstsein, und Bewusstsein sucht sich offensichtlich auch administrative Strukturen, zumindest dann, wenn jene, die – wie die SED-Bezirke – diese Funktion ehedem innehatten, ganz offensichtlich wie das ganze System keine Popularität besaßen. Trotz aller zeitgenössischen Kritik an seinem Funktionieren gehört der Föderalismus offensichtlich zur politischen Kultur und Mentalität der Deutschen – kein Wunder angesichts der verspäteten Nationsbildung. Als im Westen die Alliierten den Ministerpräsidenten die Frankfurter Dokumente mit dem Auftrag übergaben, eine Verfassung föderalistischen Typs zu schaffen, haben sie den Deutschen nicht, wie heute manche Publizisten schreiben, den Föderalismus oktroyiert. Theodor Heuss begegnete damals dieser »Zumutung« mit der Frage: »Was ist denn eigentlich ein föderativer Typ? Ein föderativer Typ hat unendlich viele Spielarten. Wir wissen, dass wir keinen zentralistischen Staat bekommen, und wir wollen ihn auch nicht.«7 Daraus ist zweierlei zu folgern: Der Föderalismus ist kein Oktroi der Alliierten. Er entsprach, wie viele Quellen belegen, dem verfassungspolitischen Willen der Westdeutschen. Zum Zweiten gab es auf keiner Seite – damals und auch heute nicht – unumstrittene Konzepte. Konfliktlinien über die Ausgestaltung dieses Strukturprinzips zogen sich durch die deutschen Parteien ebenso hindurch wie durch die Besatzungsmächte selbst, ohne die das Grundgesetz wohl zentralistischer geworden wäre. Umstritten war nicht das Prinzip, sondern seine Ausgestaltung. Ein derartiger Streit gehört aber in den normalen Erfahrungshorizont von Verfassungspolitik. Am Föderalismusproblem wäre das Grundgesetz fast gescheitert. Es gab erhebliche Auseinandersetzungen zwischen den Amerikanern, den Franzosen, den Briten, den Deutschen und auch innerhalb aller Akteure. Welche Konflikte hat Konrad Adenauer mit dem Bayern Hans Ehard ausgefochten, mit den süddeutschen Föderalisten in Baden-Württemberg, welche Streitigkeiten der amerikanische Hochkommissar John McCloy mit seiner heimischen Administration in Washington! Interessant ist aber auch, dass kluge Mitglieder des Parlamentarischen Rates damals schon die unitarisierende Entwicklung, von welcher der Staats6 �������������������������������������������������������������������������� Siehe Roman Herzogs Vortrag zum 50. Jahrestag der Konstituierung des Landtags von Nordrhein-Westfalen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, Nr. 83/1996, S. 900 ff. 7 Theodor Heuss zit. n. Volker Otto: Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, Düsseldorf 1971, S. 103.

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Heinrich Oberreuter

rechtler Konrad Hesse später sprach8, unter dem Zwang der sich modernisierenden Lebensverhältnisse für unvermeidlich hielten. Carlo Schmid berichtet davon, dass die Diskussion über diese zu erwartende Tendenz zwar gelegentlich auftrat, und fügt dann schön schwäbisch hinzu: »doch hatte die Mehrheit nicht den Mut, der Katze die Schelle umzuhängen«9. Speziell im Blick auf die ostdeutschen Länder lässt sich feststellen, dass die föderale Orientierung in der Vereinigungsphase ein Mittel zur Integrationsstiftung gewesen ist. Den Ländern kam damals in der Übergangsphase eine eigene Handlungs- und Gestaltungsebene zu. Richard Schröder hat zehn Jahre nach diesem Vereinigungsprozess festgestellt: »Die Wiedereinrichtung der östlichen Länder hat die deutsche Einigung erleichtert. Als das Dach DDR abgerissen war, waren darunter fünf neue Dächer. Noch immer fühlen sich manche Ostdeutsche im vereinigten Deutschland unbehaust, aber doch in ihrem Land zu Hause.«10

Was ist das anderes als Identitätsstiftung? Als der SED-Staat zerfallen und die Vereinigung noch nicht vollzogen war, stifteten die Länder Identität und Integration vor Ort – gesamtdeutsch sogar institutionell eine föderale Solidarität und Amtsidentität. Als in Erinnerung an die letzte zum Scheitern verurteilte gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz von 1947 im Dezember 1990 auf Einladung Max Streibls an historischem Ort in München die erste Zusammenkunft unter den neuen Bedingungen stattfand, betonte Gerhard Schröder als amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die Freude, dass es niemandem gelungen sei, »die 16 Ministerpräsidenten auseinanderzudividieren«.11 Der Bund hatte versucht, im Einheitsprozess Länderrechte zu beschneiden und durch die Errichtung eines Bundesaufbauministeriums den Aufbau Ost zentral zu leiten und damit die eben gegründeten Ostländer ans Gängelband zu nehmen. Stattdessen wurde Aufbauhilfe durch Partnerschaften zwischen Ost- und Westländern geleistet, von der kommunalen bis zur ministeriellen Ebene. Dieses personelle Engagement hat nicht zuletzt den Kompetenzgewinn, den Angleichungs- und 8 Konrad Hesse: Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962. 9 Carlo Schmid: Bund und Länder, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 255. 10 Richard Schröder: Rede zum Festakt 50 Jahre Deutscher Bundesrat, Bonn, 6. September 1999, zit. n. Albert Funk: Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik, Paderborn 2010, S. 352. 11 Zit. n. Albert Funk: Kleine Geschichte des Föderalismus, a. a. O., S. 352.

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Modernisierungsprozess erheblich beschleunigt – nach meinen eigenen Erfahrungen in aller Regel in fruchtbarer Symbiose, Einfühlungsvermögen in diese singuläre Konstellation und die historische Situation vorausgesetzt. Dass es daran gelegentlich mangelte, sei konzediert – ändert aber nichts an der Solidarleistung der Westländer und ihren positiven Effekten. Zudem fand auch im Osten eine interessante Personalrekrutierung schon auf den mittleren Führungsebenen statt, die ausgeprägte eigene Talente und Kompetenzen zur administrativen Entfaltung brachte – durchaus mit originärem Gestaltungswillen. Auch in dieser Hinsicht bildeten sich Ost-West-Symbiosen, sogar in der Absicht, Fehlentwicklungen aus dem Westen im Osten nicht zu wiederholen. Profilierte Ostdeutsche sind eigene Wege gegangen (wie z. B. in Sachsen im Bildungs- und Hochschulbereich), durchaus im Bewusstsein, hier auch – bei Fortfall ideologischer Bindungen – eigene praktische Stärken zu besitzen, von neuen Ideen ganz zu schweigen. Profilierte Aufbauhelfer wie profilierte Persönlichkeiten aus dem Osten haben nicht selten erstrebt, Spielräume auszureizen, sogar alternative Wege zu gehen, soweit die Rechtsordnung es zuließ.12 Eigeninteressen und Gestaltungskompetenz schaffen Landesbewusstsein. Integrierend wirkten nicht zuletzt die in der Föderalismusdiskussion traditionell vielfach problematisierten Selbstkoordinierungsgremien der Bundesländer wie z. B. die Kultusminister- oder die Innenministerkonferenz. Dort führt jedes Land seine eigene Stimme. Von Beginn an sind die ostdeutschen Minister und Ministerpräsidenten dort selbstständig und selbstverantwortlich aufgetreten. Bei gleichem Stimmrecht unterlagen sie keinerlei Diskreditierung. Differenzierend mag der Mangel an politischer Erfahrung gewirkt haben, der sich aber rasch legte. Die Bundesrepublik West ist von den Ländern her konstruiert worden. Der Prozess der neuen Staatswerdung in der Wiedervereinigung weist, bei einer unvergleichbaren Konstellation mit einer existenten starken Bundesgewalt, wenigstens in Ansätzen verwandte Züge auf. Jedenfalls haben sich die östlichen Länder in Kooperation mit den westlichen in den föderalen Strukturen etabliert, bevor sich die neue gesamtdeutsche Bundesgewalt konstituiert hatte. 12 ����������������������������������������������������������������������������� Ich rekurriere hier auf eigene Erfahrungen als Gründungsdekan an der TU Dresden, die diesen Selbstentfaltungsprozess und die Zusammenführung unterschiedlicher Horizonte unmittelbar erlebbar machten. Vgl. dazu Achim Mehlhorn: Spezielle Kompetenz durch interdisziplinäre Synergie, in: Werner Patzelt/Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hg.): Res publica semper reformanda, Wiesbaden 2007.

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Heinrich Oberreuter

Wirtschafts- und Finanzkraft als differenzierende Faktoren

Anders als bei der grundsätzlichen Entwicklung föderaler Mentalitäten gab und gibt es bei der Wirtschafts- und Finanzkraft keinen Gleichklang. Insofern ist im Osten wie bei schwachen Ländern im Westen Wettbewerbsföderalismus nicht populär. Die ökonomische Situation begrenzt Handlungsoptionen – mittlerweile aber nicht nur im Osten. Die »neuen« Länder sind von Beginn an Kostgänger der alten gewesen, was sie nicht grundsätzlich, wohl aber in den Dimensionen von der Mehrzahl der Westländer unterscheidet. Nach den jüngeren Differenzierungsprozessen gibt es nicht nur starke (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg) und schwache (Berlin, Bremen und alle östlichen Bundesländer) Länder, sondern eine mittlere (der Rest der Westländer) Kategorie. Im Länderfinanzausgleich sind nur die Starken Geber, alle anderen Nehmer. Die nach diesem, bei den Zahlern zunehmend umstrittenen Mechanismus an die östlichen Länder überwiesenen Summen sind jüngst leicht rückläufig. Abbildung 1: Länderfinanzausgleich in Deutschland: Geberländer (Minuswerte) & Empfängerländer (Pluswerte), Summe 1995 bis 2010 in Milliarden Euro

BY

-34,3

HE

-32,3

BW

-29,9

NW

-11,4 -5,2

HH SH

1,3

SL

1,9

RP

4,2

HB

6,2

NI

6,2

MV

7,1

BB

8,7

TH

9,2

ST

9,5

SN

16,3

BE ‐40

‐30

‐20

‐10

42,3 0

10

20

30

40

50

Quelle: Bundesfinanzministerium; eigene Darstellung.

Der Finanzausgleich ist nur einer der sichtbarsten Indikatoren der ökonomischen Verhältnisse. Im Wechsel Nordrhein-Westfalens auf die Empfängerseite im Jahr 2008 und ab 2010 spiegeln sich Westinseln des Niedergangs,

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denen Ostinseln des Aufstiegs – »blühende Landschaften« – gegenüberstehen, die wettbewerbsfähig sind, ohne dass die grundsätzliche Konstellation dadurch wesentliche Korrekturen erführe. Hierin liegt der Irrtum jener westlichen Kommunal- und Regionalpolitiker, die aus ihren Betroffenheiten die privilegierte Förderung des Ostens kritisieren. Nach wie vor ist im Osten flächendeckend das Bruttoinlandsprodukt erheblich geringer, die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch, das Wohnniveau schwächer und die Bevölkerungsentwicklung dramatischer als im Westen.13 Die hohen Erwartungen, die, hat man einmal bei den Leipziger Montagsdemonstrationen zugehört, in die soziale Marktwirtschaft gesetzt worden sind, haben sich nicht erfüllt, auch nicht die des Westens in den relativ raschen Erfolg seiner Leistungsfähigkeit. Diese Fehleinschätzungen sind auf dem Hintergrund der gewiss verkannten historischen und ökonomischen Dimensionen des Systemwandels zu relativieren, trotz des Vorteils eines ungeheuren Ressourcentransfers von West nach Ost, den die anderen Transformationsstaaten nicht zu verzeichnen hatten. In dieser beispiellosen Herausforderung sind auch Fehler unvermeidlich gewesen. Der Thüringer Ministerpräsident Bernhard Vogel pflegte hierzu zu bemerken, bei der nächsten Wiedervereinigung mache man mit Sicherheit alles besser. Trotz unstrittiger Konsolidierung steht die Frage, ob die östlichen Bundesländer dauerhaft in der Rolle der Transferempfänger bleiben werden. Es bestehen Zweifel an einem selbsttragenden Wachstum, denn Ostdeutschland hat einen Verbrauchsüberhang von 40 % des BIP, der von Transferleistungen und Kapitalzuflüssen zu stützen ist. Von 1991 bis 2010 sind ca. 1,2 Billionen Euro von West nach Ost geflossen. Neben dem Fonds Deutsche Einheit sind dabei der Solidarpakt I und II, der Länderfinanzausgleich und die sozialpolitisch motivierten Ausgaben zu berücksichtigen (Rentensystem, Arbeitsmarkt). Durch den Fonds Deutsche Einheit flossen 82,2 Milliarden Euro (1990–1994), durch den Solidarpakt I 94,5 Milliarden Euro (1995–2004) und im Rahmen des Solidarpakts II werden 156 Milliarden Euro (2005–2019) erwartet. Der Länderfinanzausgleich (einschließlich Berlin) beträgt etwa sechs Milliarden Euro jährlich, was etwa 80 % der gesamten Transfers in diesem System ausmacht.14 Etwa ein Drittel der ostdeutschen Wertschöpfung ist auf Mittel aus sozialen und staatlichen Transfersystemen angewiesen. Zu berück13 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2011. 14 ����������������������������������������������������������������������������� Klaus Schröder: Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – Eine Wohlstandsbilanz. Gutachten für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Berlin 2009, S. 88; generell zu fast allen Wirtschaftsdaten der neuen Länder: Ulrich Blum u. a.: 20 Jahre deutsche Einheit: Die ostdeutsche Transformation im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, 2. Aufl., Halle (Saale) 2010.

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sichtigen ist, dass in Fortsetzung der Flucht- und Ausreisebewegung früherer Jahrzehnte gut ausgebildete Arbeitskräfte abwandern, wodurch erhebliche Verluste an potentieller Finanz- und Produktivkraft für die ostdeutschen Bundesländer entstehen, wogegen die hochproduktive westdeutsche Wirtschaft von diesen Arbeitskräften profitiert. Von 1989 bis Ende 2008 haben etwa 1,7 Millionen Menschen das Gebiet der ehemaligen DDR verlassen.15 Dennoch ist auf dem Hintergrund des Zerfalls der DDR und ihrer Wirtschaft, Infrastruktur und Gesellschaft eine enorme Aufbauleistung zu würdigen. Dabei verlaufen die Entwicklungen auf regionaler Ebene sehr unterschiedlich. Daher lässt sich immer weniger von Ostdeutschland als einer einheitlichen Region sprechen. Auch schätzen die Ostdeutschen die deutlichen Einkommensverbesserungen und die beachtlichen Aufbauleistungen, entgegen der weit verbreiteten Meinung im Westen, durchaus positiv ein. Beachtliche Wohlstandsverbesserung und Angleichung der Lebensverhältnisse lassen sich anhand harter Fakten belegen. Wirtschaftskraft und Einkommen: Nach amtlicher Statistik erreichten die neuen Bundesländer und Berlin ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 22.702 Euro, die alten Bundesländer ohne Berlin 31.086 Euro. Der Osten erzielt damit ein Einkommen von 73 % des Westens. 1991 lag diese Relation noch bei 33,8 %, 1995 bei 67,1 %. Rechnet man Berlin heraus, dann liegt die Relation aktuell etwa bei 70 %.16 Verfügbare Einkommen: Die verfügbaren Einkommen liegen im Osten bei ca. 78 % des Westniveaus (1991: 58,5 %; 1995: 75,2 %). Dabei hat sich das Preisniveau weitgehend angepasst; es liegt etwa bei 92 % des Westens. Berücksichtigt man diese Kaufkraftunterschiede, dann lag das reale verfügbare Einkommen in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) bei 85 % des 15 ������������������������������������������������������������������������� Hierzu Nicola Hülskamp: Blühende Landschaften oder leere Einöde? Demografische Probleme in den neuen Bundesländern, in: Wirtschaftsdienst, Nr. 5/2007, S. 296–308; Joachim Ragnitz: Demografische Entwicklung in Ostdeutschland: Tendenzen und Implikationen, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, Heft 2/2009, S. 110–121. Siehe auch Bundesministerium des Innern (Hg.): Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, Berlin 2011, S. 8 ff. 16 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, a. a. O., Anhang, S. 7, sowie Gerhard Heseke: Bruttoinlandsprodukt, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland, Köln 2005, S. 92; Joachim Ragnitz: Ostdeutschland heute: Viel erreicht, viel zu tun, in: ifo Schnelldienst, Nr. 18/2009, S. 43–51; Klaus-Günter Deutsch/Sascha Brok: Aufbruch Ost. Die Wirtschaftsentwicklung in den östlichen Bundesländern, in: Deutsche Bank Research, Nr. 458 vom 2. September 2009.

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Westniveaus, bei den Versichertenrenten sogar bei 125 %.17 Allerdings hat sich die Anpassung der Einkommensunterschiede bei den Erwerbstätigen in den letzten Jahren verlangsamt. Wirtschaftswachstum: Nach dem anfänglichen Aufholprozess kann Ostdeutschland seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre keine deutlich höheren Wachstumsraten des BIP erzielen. Die Konjunkturentwicklung gleicht sich immer mehr der westdeutschen an. In der Wirtschaftskrise ist der Rückgang des Sozialproduktes (2009: -3,3 %) zwar moderater als in Westdeutschland (-4,9 %) ausgefallen.18 Doch in der Folge konnte sich dieses rascher erholen. Die wirtschaftliche Konvergenz stagniert damit weiter. Wirtschaftsstruktur: Der Strukturwandel geht in den neuen und alten Bundesländern in ähnliche Richtung, doch bleiben Unterschiede bestehen. So kommt der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern noch immer eine größere Bedeutung zu als im Westen, wenn auch das verarbeitende Gewerbe inzwischen stark wächst. Zudem ist im Osten der Anteil von Branchen mit geringerem Qualifikationsprofil stärker vertreten. Es fehlen größere Unternehmen (insbesondere Konzernzentralen). Zudem ist die Eigenkapitalausstattung der kleineren und mittleren Unternehmen zu gering und die Wertschöpfungsketten, Exportorientierung und Innovationskraft der Wirtschaft noch unterentwickelt. Deshalb ist eine Akzentverschiebung in der Wirtschaftspolitik erforderlich, die sich allmählich von der Förder- zur Standortpolitik entwickeln sollte. Arbeitslosenrate: Problem bleibt indes der Arbeitsmarkt, doch hat sich die Arbeitslosenrate trotz der Krise in den letzten Jahren von ca. 15 % im Jahre 2005 auf ca. 12 % im Jahr 2010 (im Westen: 6,6 %) zurückentwickelt, bleibt aber immer noch fast doppelt so hoch wie im Westen.19 Dennoch haben die Arbeitsmarktreformen auch in Ostdeutschland gewirkt. Die Probleme sind aber in einigen Regionen und Problemgruppen (Langzeitarbeitslose) gravierender. Lohnstückkosten: Der Aufbau eines modernen Kapitalstocks ist gelungen, wie sich an der Wettbewerbsfähigkeit zeigt. Ein Indikator hierfür sind die Lohnstückkosten, die in der Gesamtwirtschaft um ca. 3,5 % über denjenigen 17 Siehe Anmerkung 16 sowie den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, a. a. O., Anhang, S. 4. 18 Hierzu auch Ulrich Blum u. a.: 20 Jahre deutsche Einheit, a. a. O., sowie detailliert aufgeschlüsselt: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, a. a. O., Anhang, S. 13. 19 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011, a. a. O., Anhang, S. 3 und 8.

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in Westdeutschland liegen, im verarbeitenden Gewerbe jedoch deutlich (um ca. 10 %) darunter.20 Dies offenbart gewaltige Produktivitätsfortschritte. Hätte das föderale System den Ländern in Ost und West mehr Spielräume geben müssen, um ihren je spezifischen Bedingungen Rechnung zu tragen und einen produktiven Wettbewerb um bessere Politik auszulösen? Zu lange wurden die Fördermittel für den Osten Infrastrukturinvestitionen gewidmet, zu langsam änderte sich dies zugunsten einer unternehmensnahen Investitionspolitik. Zudem hat man es lange versäumt, flächendeckende Unterstützung zugunsten von Wachstumspolen aufzugeben. Eine der größten Herausforderungen ist die Bewältigung des demografischen Wandels, bei dem die östlichen Länder Vorreiter sind. Die ohnehin schon vorhandene Ost-West-Migration wirkt verschärfend. Vorweggenommen wird hier eine gemeinsame Entwicklung: Sie führt Deutschland bis 2060 auf 64,7 Millionen Einwohner (2010: 81,5 Mio.) und reduziert die Erwerbsfähigen zwischen 20 und 64 Jahren von etwa 50 Millionen 2010 auf etwa 32,6 Millionen 2060.21 Abbildung 2: Bevölkerungsabnahme in den Bundesländern 2060 gegenüber 2010 (in %) Sachsen-Anhalt

-42

Thüringen

-41

Mecklenburg-Vorpommern

-36

Brandenburg

-35

Saarland

-33

Sachsen

-31

Niedersachsen

-22

Bundesdurchschnitt

-21

Schleswig-Holstein

-21

Nordrhein-Westfalen

-20 -19

Hessen

-19

Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg

-16

Berlin

-16

Bayern

-15

Bremen

-14

Hamburg

-6 -45

-40

-35

-30

-25

-20

-15

-10

-5

0

Quelle: Ergebnisse der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung nach Ländern; eigene Darstellung.

20 Siehe Anmerkung 15. 21 Vgl. die 12. Koord. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes.

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Die ostdeutschen Länder, ihr Gesicht und ihr Wirtschaftswachstum sind davon früher und härter betroffen. In den nächsten zehn Jahren rechnen die ostdeutschen Ministerpräsidenten mit einem Minus von 900.000 Einwohnern. 400.000 Wohnungen werden nicht mehr zu vermieten sein. Ihren Abriss zu subventionieren sei erforderlich – zumindest sektoral das Gegenteil von Aufbau.22 In den nächsten 15 Jahren kommt es zu einer Polarisierung der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland: Gewinner werden die westdeutschen Ballungszentren (außer dem Ruhrgebiet) und der Nordwesten Deutschlands sein. Zu den Verlierern werden das östlichen Westfalen, die Peripherie im Süden (Bayerischer Wald) und besonders Ostdeutschland zählen. Regionen in West- und Ostdeutschland müssen ihre Rolle neu definieren und diesen Wandel gestalten. Da er langsam verläuft, ist die Politik durchaus in der Lage, negativen Entwicklungen in der Altersstruktur vor allem durch Qualifizierungsmaßnahmen gegenzusteuern. In Ostdeutschland bringt dieser demografische Wandel jedoch keine Entlastung für den Arbeitsmarkt. Im Gegenteil, Untersuchungen zeigen dort einen starken Rückgang der Arbeitskräfte im hochqualifizierten Segment. Da dessen Vorgaben fehlen, wird auch eine deutlichere Verringerung der Arbeitslosigkeit bei Erwerbsfähigen mit mittleren und geringen Qualifikationen verhindert. Östliche wie westliche Bundesländer unterliegen gravierenden Veränderungen, wobei die Bevölkerungsentwicklung im Osten noch dramatischer verläuft als im Westen. Dadurch verschärfen sich die prekären Dimensionen der Ost-West-Situation: Die Länder zwischen Elbe und Oder bleiben auf Transferleistungen angewiesen, bei aller dort sichtbaren Leistungsentfaltung einzelner. Ähnlich den westdeutschen Erfahrungen gibt es auch in Ostdeutschland zunehmende, nicht zuletzt durch landespolitische Intentionen bedingte Differenzierungen. In Ost- wie in Westdeutschland prägen sich deutliche regionale Unterschiede vor allem zwischen den wirtschaftlich schwächeren Nordländern und dem stärkeren Süden heraus – auch dem Süden innerhalb des Ostens. Somit besteht nicht mehr nur das typische WestOst-Gefälle, sondern auch ein Nord-Süd-Gefälle, denn auch im Westen sind ausgesprochene Problemregionen entstanden.

22 �������������������������������������������������������������������������������� Siehe den Bericht über ein Treffen der Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder mit der Bundeskanzlerin: Ostgipfel im Porsche-Werk, in: Frankfurter Allgemeine vom 7.10.2011.

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Unterschiedliche Prägungen der politischen Kultur

Den sich in der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte anbahnenden Wandel im Parteiensystem und im Wahlverhalten haben die östlichen Länder erheblich dynamisiert. In Ostdeutschland war der pragmatische Wählertyp von Beginn an vorherrschend. Zwei Diktaturen hinterließen über sechs Jahrzehnte eine sozial weitgehend entstrukturierte Gesellschaft: Traditionen wurden gebrochen, Milieus aufgelöst und nivelliert. Schon 1990 erwiesen sich fast alle Annahmen über die Orientierungen der Wähler in den neuen Ländern als falsch. Von den Anhängern der SED und ihrer Nachfolgeorganisationen abgesehen, besaßen diese keine gewachsenen Parteibindungen. Die Ostdeutschen wählen »modern«, pragmatisch, nutzen- und situationsorientiert und nicht entlang sozialstruktureller Determinanten. Nach denen hätte die CDU in der ersten gemeinsamen Wahl nie dominieren dürfen. Etabliert haben sich diese Wähler als ein nach wie vor nennenswertes und stabiles Potential und im System auch eine zusätzliche Partei als ausgeprägte Vertreterin ihrer spezifischen, von der prekären sozialen Situation bestimmten und sich in der östlichen Region bündelnden Interessen. Biographische und nostalgische Motive sind dagegen im Rückzug begriffen, während die ideologischen mehr im Westen verbreitet sind. Allerdings hatte die parteipolitische Repräsentation dieser regionalen Interessen nie die Chance, sich ähnlich hegemonial zu entwickeln wie bei der CSU in Bayern. Um den tieferen Differenzen in der politischen Kultur nachzuspüren, die sich auch nach zwei Jahrzehnten nicht abgeschliffen haben, empfiehlt es sich, nicht nur institutionell, sondern auch normativ anzusetzen. Normativ ruhten die Bundesrepublik Deutschland und die DDR auf gänzlich unterschiedlichen Fundamenten. Das wäre nicht von Belang, hätten diese für die Perspektiven der Demokratie keine Bedeutung. Sie sind aber weder grundsätzlich bedeutungslos (woran schon jene zeitgenössischen DDR-Analysen gescheitert sind, welche Wertfragen bewusst ausgeklammert haben), noch sind sie es politisch, weil die gesamtdeutsche Demokratie, die Moderne überhaupt, zunehmend vor ethischen Herausforderungen steht, die auf diesen gegensätzlichen Sozialisationshintergründen sozialverträgliche, zugleich die Ansprüche einer wertgebundenen Ordnung erfüllende Antworten verlangen. Nicht nur, dass auch der moderne Staat zur Legitimitätsgewinnung auf einen Grundbestand an vorpolitischen, konsentierten Wertvorstellungen angewiesen bleibt,23 die in beiden Gesellschaften unterschiedlich angelegt 23 Klassisch: Ernst Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65.

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und anerzogen gewesen sind; auch der wissenschaftliche Fortschritt setzt z. B. in der Entwicklung von Gentechnologie und Biomedizin, wie die Praxis lehrt, Menschenwürde und Humanität auf die politische Tagesordnung. Kein Geringerer als Jürgen Habermas hat empfohlen, Orientierungen in den Überlieferungen der Religionen zu suchen24 und damit Opportunismus, Indifferenz, Materialismus und Progressismus eine Absage erteilt. Dort, wo Habermas eine Lösung sucht, findet sich in Deutschland ein Problem, weil die Entkirchlichung in Ostdeutschland nicht zuletzt durch die Einwirkungen der Diktatur nicht nur im Vergleich zu Westdeutschland, sondern auch zu Osteuropa (selbst wenn Polen unberücksichtigt bleibt) und zu Europa insgesamt am weitesten fortgeschritten ist – und anhält.25 So manche politische Einstellung hat sich angenähert, die Einstellung zur Religiosität nicht. Damit steht bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung jener potentielle Kitt der Sozialverfassung, an den Habermas erinnert, nicht zur Verfügung. Dieser deutsche »Sonderfall« tieferer ethischer Differenzen als anderswo wird auch in Zukunft Konsensbildungen in normativ sensiblen Politikbereichen26 erschweren, wobei Religion gewiss nicht die einzige moralische Ressource ist, aber in diesem Kontext als paradigmatisch angesehen werden kann. Auf der Systemebene haben sich die Vertrauensdaten weitgehend angeglichen – bei Justiz und Polizei aufgrund der neuen Erfahrungen auf erfreulichem, bei Bundestag und Bundesregierung auf beklagenswert niedrigem Niveau. Die Demokratie, ihre Idee und ihre normativen Prinzipien sind im Osten schon 1990 zunächst ähnlich hoch, gelegentlich sogar höher bewertet worden als im Westen27 – offensichtlich als Kontrastprogramm zu den eigenen politischen Erfahrungen. Allerdings sind die für die Bewertung des

Geburtstag, Stuttgart 1967, S. 75–94; ders.: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007. 24 »Sie bewahren die Dimensionen unseres gesellschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, in denen noch die Fortschritte der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung abgründige Zerstörungen angerichtet haben, vor dem Vergessen.« So Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, S. 13. 25 Heiner Meulemann: Religiosität: Immer noch die Persistenz eines Sonderfalls, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30–31/2006, S. 15–22. 26 Erinnert sei an den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlkampf, in dem der Fortbestand des DDR-Abtreibungsrechts eines von zwei zentralen Themen gewesen ist. 27 Vgl. Detlef Pollack: Wie ist es um die innere Einheit Deutschlands bestellt?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30–31/2006, S. 3–7.

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Föderalismus wesentlichen Einschätzungen der Rolle des Bundesrates und der Landesregierungen im Osten deutlich niedriger als in den Westländern.28 Fragt man jedoch nicht die normative Ebene ab, sondern die Zufriedenheit mit der Praxis und der Leistung der Demokratie, vermindert sich die Zustimmung, wie das verallgemeinerungsfähige Beispiel Thüringen lehrt. Bei dieser Fragestellung liegen die östlichen Werte von Beginn an kontinuierlich 20 Prozentpunkte unter den westlichen. Sie sind seit 1990 sogar gesunken und haben insoweit die Kluft zwischen Ost und West vergrößert. Inzwischen beeinflusst die Unzufriedenheit mit der Praxis auch die einst überraschend breite Akzeptanz der Prinzipien. Abbildung 3: Beispiel Thüringen: Demokratieunterstützung im Zeitverlauf 2001 bis 2011 (in %)

Quelle: Karl Schmitt/Jürgen H. Wolff: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Staatsaufgaben und Staatsausgaben, Ergebnisse des Thüringen Monitors 2011, Jena 2011, S. 71.

Für die sich verschärfenden Unterschiede gewinnt die neue Erfahrung nach der Vereinigung an Bedeutung. Ursache dafür ist der altbekannte Zusammenhang zwischen der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage und der Demokratiezufriedenheit. Die hohen idealisierten Erwartungen an die soziale Marktwirtschaft, auch an die Gestaltungskraft der Politik, sind enttäuscht worden. An dieser ganz entscheidenden Stelle gibt es eine wesentliche Diffe28 �������������������������������������������������������������������������� Siehe Norbert Grube: Nähe und Distanz: Föderale Einstellungen der Bevölkerung in 60 Jahren Bundesrepublik, in: Jahrbuch des Föderalismus, Nr. 10/2009, S. 155 f.

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renz im Demokratieverständnis: Die Westdeutschen verbinden damit ein liberales, sozial abgestütztes Modell, die Ostdeutschen eine Synthese von Demokratie und Sozialismus, welche Gleichheit vor Freiheit und eine Stärkung des Sozialstaates samt Staatsinterventionismus favorisiert. Ob das auf Dauer ein signifikanter Unterschied zu der Bevölkerung in den alten Bundesländern bleibt, ist eine offene Frage, denn auch im Westen nimmt eine paternalistische Staatserwartung zu. Der Zusammenhang zwischen Selbstentfaltung und Selbstverantwortung löst sich immer mehr auf. Insofern könnten sich die alten und die neuen Bundesländer mentalitätsmäßig auf diesem problematischen Felde ähnlicher werden als es gemeinsam zuträglich ist. Der Sonderfall Deutschland bestätigt bei allen inneren Differenzen eine generelle internationale Entwicklung, welche die deutsche überlagert und eine intensive Diskussion um schwindendes politisches Vertrauen hervorgerufen hat.29 Es gibt objektive Gründe für Vertrauensentzug: sozialer und ökonomischer Wandel, Wirtschaftskrisen, Instabilität sozialer Sicherungssysteme, Verunsicherungen durch die Globalisierung, Umweltkrisen, Beschleunigung der Informationssysteme, Medieneinfluss, Wert- und Bildungswandel – all dies weithin ohne politisch vermittelte, wenigstens relative Verlässlichkeit ausstrahlende Zukunftsperspektive. Gerade die Ungewissheit der Lebensführung und der Wirtschaftslage haben nicht nur in allen europäischen Staaten die Bedeutung der leistungsorientierten Vertrauensressourcen wachsen lassen und die der emotionalen reduziert; zumindest haben sie diesen die Kraft genommen, Leistungsdefizite nachhaltig zu überspielen. Was schwindet, ist die diffuse Unterstützung des politischen Systems30 als langfristige affektive Bindung – sei sie auf Output-Zufriedenheit, sei sie auf Wertund Normenkongruenz zurückzuführen, mit der sich aktuelle Leistungs­ defizite auffangen lassen: ein gemeinsames Problem auch für Ost- und Westländer. 29 Susann J. Pharr/Robert D. Putnam: Disaffected Democracies. What’s troubling the Trilateral Countries?, Princeton 2000; Martin K. W. Schweer (Hg.): Vertrauen im Spannungsfeld politischen Handelns, Frankfurt am Main u. a. 2003; Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1972; Francis Fukuyama: Trust. The Social Virtues and the Creation of Prosperity, New York 1995; Martin Hartmann/Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main/New York 2001; Russell Hardin: Trust, Cambridge 2008; Rainer Schmalz-Bruns/Reinhard Zintl (Hg.): Politisches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation, BadenBaden 2002. 30 David Easton: A Reassessment of the Concept of Political Support, in: British Journal of Political Science, 5 (1975), S. 435–457.

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Thüringen im Wandel politischer Kulturen

1 Einleitung Wer den Wandel politischer Kulturen in Thüringen beschreiben, wer ihn gar erklären will, der kann seinen Zeithorizont nicht auf die zwei Jahrzehnte seit der Wiedervereinigung Deutschlands beschränken, der kann sich auch nicht damit begnügen, diese neuere Entwicklung lediglich mit der DDR-Ära zu kontrastieren. Er muss in der Epoche ansetzen, in der auch in Thüringen die Fundamente moderner Staatlichkeit gelegt worden sind: in der Epoche der Konstitutionalisierung, der Parlamentarisierung und der Demokratisierung – im 19. Jahrhundert. Nun standen in dieser Epoche die heute zur Erfassung politischer Mentalitäten gebräuchlichen Methoden der empirischen Sozialforschung noch nicht zur Verfügung; wir sind also auf das Zeugnis von Zeitgenossen angewiesen. Ein solcher in der Regel sehr aussagekräftiger Berichterstatter ist der Begründer der deutschen Volkskunde, der aus dem Rheingau stammende Wilhelm Heinrich Riehl, dem wir die prägnantesten zeitgenössischen Charakterbilder deutscher politischer Landschaften in der Mitte des 19. Jahrhunderts verdanken. Leider ist in unserem Fall auf Riehl kein Verlass: Unglücklicherweise ist er auf seinen Forschungsreisen nicht nach Thüringen gekommen, sodass wir uns mit dem Urteil eines Autors sächsischer Herkunft begnügen müssen, der einige Jahrzehnte nach Riehl in Berlin Karriere gemacht hat: Heinrich von Treitschke. Dieser schreibt über die Thüringer Kleinstaatenwelt zu Anfang des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Wartburgfest und der Gründung der Burschenschaft: »Und wo hätte auch dieser romantische Studentenstaat so zuversichtlich, so selbstgefällig, so ganz unbekümmert um die harten Thatsachen der Wirklichkeit sein naives Traumleben führen können, wie hier inmitten der gemüthlichen Anarchie eines patriarchalischen Völkchens, das den Ernst des Staates nie gekannt hatte? Unter allen den Unheilsmächten, welche unserem Volke den Weg zur staatlichen Größe erschwerten, steht die durchaus unpolitische Geschichte dieser Mitte Deutschlands vielleicht obenan. Fast alle deutschen Stämme nahmen doch

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irgend einmal einen Anlauf nach dem Ziele politischer Macht, die Thüringer niemals. Unsere Cultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts.«1

Dieses schneidende, ja vernichtende Urteil über die politischen Verhältnisse Thüringens ist in unserem Zusammenhang in doppelter Hinsicht von Interesse. Erstens, weil es auf ein Spezifikum der politischen Entwicklung Thüringens verweist: seine territoriale Zersplitterung.2 Hier überdauerte die Vielzahl der Miniaturstaaten auf kleinstem Raum auch die Flurbereinigungen Napoleons und des Wiener Kongresses. Erst 1920 wurde das Land Thüringen geschaffen, zunächst allerdings in kleinthüringischem Format, mit der Hauptstadt Weimar, ohne die preußischen Gebiete. Erst die 1945 vorübergehend herrschende amerikanische Besatzungsmacht schuf »Großthüringen« mit den preußischen Gebieten einschließlich Erfurts. In dieser Gestalt erstand Thüringen 1990 neu, nachdem es 1952 durch die drei Bezirke Erfurt, Gera und Suhl ersetzt worden war. Zweitens verhilft uns Treitschkes scharfe Kontrastierung von einerseits »Kultur« (er erinnert an den Hof der Minnesänger auf der Wartburg, die Reformation Luthers, die Weimarer Klassik der Goethezeit) und andererseits des »Staates« (des deutschen Machtstaats, der nach Weltgeltung strebt) zu einem besseren Verständnis dessen, was mit »politischer Kultur«, dem zentralen Begriff unseres Themas, gemeint ist. Für Treitschke gehörten Kultur und Politik in strikt getrennte Sphären. Im Begriff der »politischen Kultur« erscheinen dagegen beide Sphären eng miteinander verbunden. Allerdings bezeichnet »politische Kultur« nicht etwa die politischen Aspekte von »Kultur« im herkömmlichen Verständnis, also politische Aspekte der Kunst, der Literatur oder der Musik. Vielmehr hat sich der Begriff aus einem völlig anderen Kontext, aus der amerikanischen strukturfunktionalistischen Sozialwissen­ schaft stammend, in den 1960er und 1970er Jahren im deutschen Sprachraum eingebürgert.3 Hier figuriert »politische Kultur« als Komplementärbegriff zu 1 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 2. Teil, 5. Aufl., Leipzig 1897, S. 395. Von einem »Jammerbild Thüringens« spricht auch Friedrich Engels: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 235. 2 Vgl. Jürgen John (Hg.): Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 1994; ders.: Selbst- und Fremdwahrnehmungen Thüringens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Thüringer Landtag (Hg.): Thüringen – junges Land mit alten Wurzeln, Erfurt 2003, S. 8–28. 3 Paradigmatisch Gabriel A. Almond/Sidney Verba: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963. Zu Genese und Tragfähigkeit des Konzepts Franz U. Pappi: Politische Kultur. Forschungsparadig-

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dem der »politischen Struktur«. So wie politische Systeme Institutionen, also eine »politische Struktur« aufweisen, so haben sie auch eine »politische Kultur«, d. h. mehr oder weniger dazu passende politische Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürger. So gesehen kann ein politisches System nur dann funktionieren, wenn seine »Kultur« seiner »Struktur« angemessen ist. In diesem Sinn ist eine Demokratie, ein System mit demokratischer politischer Struktur und entsprechenden Institutionen, auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass ihre Bürger eine demokratische politische Kultur besitzen, die sie befähigt und motiviert, ihre Bürgerrolle auszufüllen. Die Weimarer Republik ist nicht zuletzt deshalb untergegangen, weil sie eine Demokratie mit zu wenig politischer Kultur, mit zu wenig Demokraten war. Die folgende Skizze der politischen Kultur in Thüringen nähert sich ihrem Gegenstand aus zwei Perspektiven: erstens einer historischen Perspektive, indem sie den Blick auf die Entwicklung derjenigen politischen Kräfte richtet, die die politische Kultur der Bürger in modernen Demokratien am stärksten prägen und in deren Konfigurationen sich zugleich die vorherrschenden Strömungen am deutlichsten abzeichnen: die politischen Parteien. Zunächst ist also die Entwicklung der Parteienkonstellation in Thüringen von ihrer Entstehungszeit bis zur Gegenwart zu skizzieren. Zweitens geht sie der Kernfrage nach, vor der eine Beschreibung des gegenwärtig erreichten Standes der Demokratieentwicklung steht: Inwieweit hat der demokratische Verfassungsstaat zwei Jahrzehnte nach seiner Wiedergründung in Thüringen Wurzeln geschlagen?

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Entwicklungen der Thüringer Parteienlandschaft

Der historische Moment, in dem die gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse Thüringens in Gestalt einer neuen Parteienlandschaft sichtbar wurden, war die Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990. Bekanntlich sorgte das Ergebnis der Volkskammerwahl für eine große Überraschung. Entgegen allen Erwartungen und allen Prognosen wurde nicht die SPD, sondern die Allianz für Deutschland aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch klarer Wahlsieger. Und im stark industrialisierten Thüringen schnitt die SPD, ähnlich wie in Sachsen, noch schlechter ab als im DDR-Durchschnitt. Wie ist dieser deutliche Wahlsieg der Allianz zu erklären? Warum wurden die Hoffmata, Fragestellungen, Untersuchungsmöglichkeiten, in: Max Kaase (Hg.): Politische Wissenschaft und politische Ordnung, Festschrift für Rudolf Wildenmann, Wiesbaden 1986, S. 279–292.

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nungen enttäuscht, die die SPD an das Wiedererstehen der Partei im »roten Mitteldeutschland« geknüpft hatte? Wie kam es dazu, dass gerade in Thüringen, wo in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg durch die Parteitage von Eisenach (1869), Gotha (1875) und Erfurt (1891) große Kapitel der Geschichte der Sozialdemokratie geschrieben worden waren, die SPD keineswegs wieder die Stärke erreichte, die einer Industrielandschaft auf protestantischem Boden entspricht? Es hat nach den Überraschungen des Jahres 1990 nicht an Überlegungen gefehlt, warum die herkömmlichen sozialstrukturellen Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens, die im Westen Deutschlands noch mehr oder minder greifen, im Osten Deutschlands offenkundig versagt hatten. Diese Überlegungen lassen sich in drei Hypothesen zusammenfassen: 1.) Die PlebiszitHypothese: Diese Erklärung hebt auf die Einmaligkeit der Situation von 1990 ab und sieht die Wahlen dieses Jahres in erster Linie als Plebiszit über Tempo und Modalitäten der deutschen Vereinigung, bei dem langfristige, sozialstrukturell verankerte Parteibindungen naturgemäß kaum zum Zug kommen konnten. 2.) Die Tabula-Rasa-Hypothese: Diese Erklärung geht noch einen Schritt weiter. Sie stellt nicht nur die Wirksamkeit solcher Parteibindungen unter den besonderen Bedingungen des Jahres 1990 in Frage, sondern bestreitet deren Existenz in der DDR grundsätzlich. In dieser Sicht haben vierzig Jahre Sozialismus und zuvor zwölf Jahre Nationalsozialismus sämtliche Voraussetzungen sozialstrukturell verankerter Parteibindungen zerstört: zum einen durch die Ausschaltung des Parteienwettbewerbs (zunächst durch die völlige Zerschlagung der mit der NSDAP konkurrierenden Parteien, später durch die Einordnung der 1945 gegründeten Parteien in das SED-gesteuerte Blockparteiensystem), zum anderen durch die Planierung des sozialen Unterbaus des Parteiensystems (Gleichschaltung der Interessenorganisation; Egalisierung in Richtung einer »Volksgemeinschaft«, später einer »sozialistischen Menschengemeinschaft«). 3.) Die Erosions-Hypothese: Nach dieser Erklärung ist die soziale und politische Landschaft nicht erst durch die »Planierraupe« (Alf Mintzel) des Nationalsozialismus und des realen Sozialismus eingeebnet worden, sondern war schon zuvor durch Erosionsprozesse in der Schlussphase der Weimarer Republik konturenlos geworden.4 4 So datiert der Göttinger Parteienforscher Franz Walter in Wiederaufnahme der These von M. Rainer Lepsius den Untergang der alten sozialdemokratischen »Herrlichkeit« in Thüringen auf den Anfang der 1930er Jahre. Vgl. M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel u. a. (Hg.): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 1966, S. 371–393; Franz Walter: Thüringen – einst Hochburg der sozialistischen Arbeiterbewegung?, in: Internationale wis-

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Die Erosionsthese und mit ihr die Tabula-Rasa-These sind für das westliche Deutschland stark relativiert, wenn nicht widerlegt worden.5 Denn die klassischen Milieus waren hier auch nach 1945 offensichtlich noch vital genug, um ein Parteiensystem wiedererstehen zu lassen, das stark den traditionellen Mustern folgte. Aber wie lagen die Dinge in Thüringen? Haben die Milieus auch hier die NS-Zeit, ja vielleicht sogar die DDR-Ära überdauert? Sind sie demnach 1990 nur deshalb nicht sichtbar geworden, weil die Volkskammerwahl in Wirklichkeit ein Plebiszit über die Wiedervereinigung war? Eine Antwort auf diese Fragen erfordert einen Blick auf die Entwicklung der Thüringer Parteienlandschaft. Thüringen zeichnete sich von jeher durch eine außergewöhnlich vielgestaltige politische Landschaft aus. Das ergab sich schon allein daraus, dass in der Entstehungsphase der Parteien im Kaiserreich, also noch vor der Bildung des Landes Thüringen 1920, in den einzelnen thüringischen Staaten stark variierende Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung gegeben waren.6 Große Unterschiede der Verfassungsentwicklung, des Wahlrechts und der politischen Orientierungen der regierenden Fürstenhäuser ließen ein vielgestaltiges und stark fragmentiertes Parteiensystem entstehen. Diese Vielgestaltigkeit der politischen Landschaft Thüringens wurde durch die nach der Reichsgründung von 1871 einsetzende wirtschaftliche Entwicklung noch gesteigert.7 Sie machte Thüringen bis zur Jahrhundertwende zur vierten großen Industrieregion Deutschlands, nach dem rheinisch-westfälischen Revier, Oberschlesien und Sachsen. Doch konzentrierte sich diese Entwicklung auf Südthüringen (Suhl und Schmalkalden), auf den Industriegürtel von Altenburg im Osten bis Eisenach im Westen, sowie auf einige Städte. Die übrigen Gebiete des Nordens und der Mitte sowie südlich des Thüringer Waldes blieben von einer meist klein- und mittelbäuerlichen Landwirtschaft geprägt.

senschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, H. 1/1992, S. 21–39. 5 Vgl. Alf Mintzel: Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit. Ein Lehrbuch, Opladen 1984, S. 244 ff.; Karl Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt am Main 1992, S. 164 ff.; Karl Schmitt: Konfession und Wahlverhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989, S. 53 f., 114 ff. 6 Grundlegend Hans Patze/Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens, Bd. 5, 2. Teil, Köln/Wien 1978; Ulrich Hess: Geschichte Thüringens 1866–1914, Weimar 1991; zusammenfassend Andreas Dornheim: Thüringen, territorial und politisch-kulturell zersplittert, in: Der Bürger im Staat, 43. Jg., Nr. 4 /1993, S. 264–270. 7 Vgl. Ulrich Hess: Geschichte Thüringens 1866–1914, a. a. O., S. 95 ff.

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Auf dieser Grundlage hat sich Thüringen während des Kaiserreiches einerseits zu einer Hochburg der Sozialdemokratie entwickelt.8 Bei den letzten Reichstagswahlen vor dem Ersten Weltkrieg (1912) konnte die SPD hier 48 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen (gegenüber 35 Prozent im Reichsdurchschnitt). Von den fünfzehn Wahlkreisen reichsweit, in denen die SPD 1912 die absolute Mehrheit erreichte, lagen nicht weniger als sechs in Thüringen: Sonneberg-Saalfeld, die Fürstentümer Reuß ältere und jüngere Linie sowie Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt und Erfurt-Schleusingen-Ziegenrück. Andererseits herrschten auch 1912 in den dominant landwirtschaftlich geprägten Wahlkreisen Thüringens andere Kräfteverhältnisse. Hier blieben Mehrheiten aus Fortschritt und Konservativen bzw. Antisemiten (Mühlhausen-Langensalza, Weimar), aus Fortschritt und Wirtschaftspartei (Nordhausen, Meiningen-Hildburghausen) oder aus Nationalliberalen und Wirtschaftspartei bzw. Antisemiten (Eisenach-Dermbach, Schwarzburg-Sondershausen) erhalten. Die Zentrumspartei schließlich erzielte wie eh und je im Wahlkreis Heiligenstadt-Worbis (Eichsfeld) mit 83 Prozent eines ihrer reichsweit besten Ergebnisse. In der Weimarer Republik blieben diese Vielgestaltigkeit und die starken Kontraste der politischen Landschaft Thüringens erhalten.9 Sie gewannen nun deshalb eine neue Qualität, weil mit der Gründung des Freistaats Thüringen 1920 die starken Spannungen auf der neuen Landesebene ausgetragen werden mussten. Die »kleinthüringische Lösung« (ohne die preußischen Gebiete mit Erfurt) hat die zunehmende Polarisierung des Parteienfeldes in starke linke und rechte Lager, die sich wechselseitig verstärkten, gefördert.10 Denn noch deutlicher als im Reich war die Parteienkonstellation im Land Thüringen geprägt von einer Schwäche der Parteien der republikanischen Mitte und der starken Stellung der radikalen Flügelparteien (USPD, KPD, Vereinigte Völkische Liste, Völkisch-Nationaler Block, NSDAP). Das war 8 In Schwarzburg-Rudolstadt wurde 1871 erstmals ein Sozialdemokrat in einen deutschen Landtag gewählt. Vgl. Gerhard A. Ritter: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980. 9 Jürgen W. Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann: Wahlen und Abstim­ mungen in der Weimarer Republik: Materialien zum Wahlverhalten 1919–1933, München 1986. 10 Vgl. Herbert Gottwald/Gerhard Müller: Zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Bd. 1, Jena 1992, S. 8–41; Hans Fenske: Sachsen und Thüringen 1918–1933, in: Klaus Schwabe (Hg.): Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten 1815– 1933, Boppard 1983, S. 185–204.

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nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass das Zentrum in der thüringischen Landespolitik der Zwischenkriegszeit keine Rolle spielte (die katholischen preußischen Gebiete mit dem Eichsfeld gehörten nicht zum Freistaat Thüringen). Die Polarisierung der politischen Kräftekonstellation führte dazu, dass 1930 in Thüringen als erstem der deutschen Länder die NSDAP an einer Regierungskoalition beteiligt wurde.11 Dies verschaffte der nationalsozialistischen Agitation eine legale Basis. Der Erfolg dieser Agitation zeigte sich im erdrutschartigen Wahlsieg der NSDAP (43 Prozent) bei der Landtagswahl von 1932, der die Partei in Thüringen endgültig an die Regierung brachte. Ihren Durchbruch in Thüringen verdankte die NSDAP nicht allein dem Zusammenbruch der liberalen Parteien sowie ihren Stimmengewinnen in den Hochburgen des Thüringischen Landbundes und der DNVP. Die NSDAP konnte darüber hinaus auch in einige der traditionellen Hochburgen der Linken einbrechen.12 Die geringste Resonanz fand die NSDAP im Eichsfeld; auch noch bei der Reichstagswahl von 1933 blieb sie im Kreis Worbis mit 25 Prozent der Stimmen weit hinter dem Zentrum (59 Prozent) zurück. Insgesamt gesehen hat also der Durchbruch der NSDAP die politische Landschaft Thüringens in kurzer Zeit drastisch verändert. Allerdings stellt sich die Frage, ob er dauerhafte Spuren hinterlassen hat. Oder ist, wie im 11 Donald R. Tracey: The Development of the National Socialist Party in Thuringia 1924–1930, in: Central European History, 8/1975, S. 23–50; ders.: Der Aufstieg der NSDAP in Thüringen, in: Detlef Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 49–74. Zur Strategie Hitlers in Thüringen Günter Neliba: Wilhelm Frick und Thüringen als Experimentierfeld für die nationalsozialistische Machtergreifung, in: Detlef Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, a. a. O., S. 75–96; Fritz Dickmann: Die Regierungsbildung in Thüringen als Modell der Machtergreifung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 14. Jg., Heft 4/1966, S. 454–464; Lothar Ehrlich/Jürgen John (Hg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, Köln/ Weimar/Wien 1998; Manfred Overesch: Hermann Brill in Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 165–236. 12 Eine genauere Betrachtung zeigt, dass diejenigen Hochburgen der Linken dem Ansturm des Nationalsozialismus besser standhielten, in denen sich, begünstigt durch die großindustrielle Struktur, ein fest gefügtes Arbeitermilieu mit ausdifferenziertem Vereinswesen und starker Parteiorganisation herausgebildet hatte. Hingegen wandten sich in den haus- und kleingewerblich geprägten Industriegebieten vornehmlich des Thüringer Waldes, in denen sich ein solches Milieu nur in Ansätzen entwickelt hatte, offensichtlich viele Arbeiter der neuen Hoffnungsträgerin NSDAP zu. Vgl. Franz Walter: Thüringen – einst Hochburg der sozialistischen Arbeiterbewegung?, a. a. O., S. 34 ff.

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westlichen Deutschland nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches«, eine Konstellation wiedererstanden, wie sie vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus bestanden hatte? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich an den Ergebnissen der Thüringer Landtagswahl im Herbst 1946 ablesen.13 Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Alternativen des Parteienfeldes 1946 stark eingeschränkt waren. Nur drei Parteien waren zu dieser halbwegs freien Wahl zugelassen: neben der im April 1946 aus der Vereinigung von SPD und KPD hervorgegangenen SED nur die LDP und die CDU. Weiterhin hatten beträchtliche kriegs- und nachkriegsbedingte Bevölkerungs­ verschiebungen einen Bevölkerungszuwachs Thüringens von 20 Prozent mit sich gebracht. Vor diesem Hintergrund ist das Ausmaß der Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen der Thüringer Landtagswahl von 1946 und den Wahlen vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus Ende der 1920er Jahre umso bemerkenswerter. Erstens entsprach das quantitative Gewicht der großen politischen Lager 1946 in der Größenordnung demjenigen in den 1920er Jahren. Die SED – mit 49 Prozent wie in den übrigen Ländern der SBZ knapp unter der absoluten Mehrheit – übertraf damit leicht den kombinierten Stimmenanteil (46 Prozent) von SPD und KPD bei der Reichstagswahl von 1928. Auch die LDP lag 1946 mit 29 Prozent in der Größenordnung des liberalen Stimmenanteils (DDP, DVP, Wirtschaftspartei) von 1928 (23 Prozent). Die CDU blieb mit 19 Prozent hinter dem kombinierten Ergebnis von Zentrum, DNVP und Landbund (24 Prozent) zurück. Zweitens bestätigt sich das vom Gesamtergebnis nahe gelegte Bild der Kontinuität bei regionaler Betrachtung.14 Die SED war 1946 dort stark, wo vor 1933 SPD und KPD stark gewesen waren. Die vier Kreise, in denen sie 1946 mehr als 60 Prozent der Stimmen erzielte (Altenburg-Land, Arnstadt13 Karl-Heinz Hajna: Die Landtagswahlen 1946 in der SBZ: Eine Untersuchung der Begleitumstände der Wahl, Frankfurt am Main 2000. 14 Zur Korrelation der Parteianteile auf Kreisebene Karl Schmitt: Thüringen 1990: Die Neuformierung einer politischen Landschaft, in: ders./Torsten Oppelland (Hg.): Parteien in Thüringen. Ein Handbuch, Düsseldorf 2008, S. 21–39, hier S. 32. Vgl. Jochen Hardt/Karl-Heinz Hajna/Britta Oltmer: Thüringen 1946. Freie Wahlen im Übergang vom Nationalsozialismus zum Kommunismus, in: Detlef Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, a. a. O., S. 507– 530, deren detaillierte Analyse auf Gemeindeebene zum gleichen Ergebnis kommt. Zum Vergleich mit der SBZ bzw. DDR insgesamt Karl Schmitt: Politische Landschaften im Umbruch. Das Gebiet der ehemaligen DDR 1928–1990, in: Oscar W. Gabriel/Klaus Troitzsch (Hg.): Wahlen in Zeiten des Umbruchs, Frankfurt am Main 1993, S. 403–441.

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Stadt, Sonneberg und Suhl), waren bereits in den 1920er Jahren Hochburgen der Parteien der Linken gewesen. Ähnliches gilt für die LDP, die in den thüringischen Städten am besten abschnitt. Sie erreichte 1946 dort Ergebnisse von 40 Prozent und mehr, wo schon seinerzeit die kombinierten Stimmenanteile von DVP, DDP und Wirtschaftspartei teilweise weit über 30 Prozent gelegen hatten (Apolda, Eisenach, Erfurt, Nordhausen, Weimar). Ein ähnliches Muster zeigt sich für die CDU nur hinsichtlich der früheren Zentrumshochburg im Eichsfeld (Kreis Worbis: 63 Prozent). Drittens sind die statistischen Zusammenhänge zwischen den Wahlergebnissen von 1946 und denen der Vorkriegszeit umso stärker, je mehr man in die Anfangsjahre der Weimarer Republik zurückgeht. Die politische Landschaft Thüringens, wie sie in den Landtagswahlen vom Herbst 1946 sichtbar wurde, war somit nicht die Vorkriegslandschaft schlechthin. Wiedererstanden waren vielmehr die Konturen, die Thüringen in den zwanziger Jahren vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus gekennzeichnet hatten.15 Das heißt: Die Erosionsprozesse der späten Weimarer Republik bei Liberalen, Konser­va­tiven und teilweise auch Linksparteien hatten keine dauerhaften Spuren hinterlassen. Über die NS-Ära und Kriegszeit hinweg waren organisatorische, programmatische und personelle Kontinuitäten bei Parteien und Wählern offensichtlich stark genug gewesen, um die Unter­brechung demokratischer Wahlen während einer knappen halben Generation zu überbrücken. Die Landtagswahl von 1946 in Thüringen erscheint somit – ähnlich wie die erste Bundestagswahl von 1949 im Westen – eher als Übergang von der Weimarer Republik zur Nachkriegszeit denn als »Neubeginn nach einer imaginären Stunde Null«. Überspitzt formuliert kann man in diesen beiden Wahlen gewissermaßen »die letzten Weimarer Wahlen«16 sehen. Dass eine einschneidende Zäsur in der Entwicklung der politischen Landschaft Thüringens jedenfalls nicht in NS-Zeit und Krieg zu setzen ist, sondern später stattgefunden hat, wird vollends deutlich, wenn die Volkskammerwahl 1990, die erste freie Wahl in Thüringen nach 1946, in den Blick genommen wird. In starkem Kontrast zur Kontinuität über die Zeit der nationalsozialis15 Dieser Befund widerspricht der Erosions-Hypothese von Walter und Lepsius (vgl. Anmerkung 4). Eine differenziertere Argumentation später bei Franz Walter: Von der roten zur braunen Hochburg: Wahlanalytische Überlegungen zur Resonanz der NSDAP in den beiden thüringischen Industrielandschaften, in: Detlef Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, a. a. O., S. 143–164. 16 Jürgen Falter: Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn, in: Politische Vierteljahresschrift, 22. Jg., Heft 3/1981, S. 236– 263, hier S. 260.

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tischen Herrschaft hinweg, in der die Landtagswahl von 1946 noch stand, markierte 44 Jahre später die Volkskammerwahl von 1990 einen deutlichen Umbruch. Erstens haben sich nun die globalen Stärkeverhältnisse der Parteien drastisch gewandelt. Die CDU17 erreichte 1990 in Thüringen im Verein mit ihren Partnern in der Allianz für Deutschland 60 Prozent und verdreifachte damit ihren Anteil von 1946; die Liberalen kamen mit 5 Prozent nur auf ein Sechstel des früheren LDP-Anteils; die SPD kam auf knapp 18 und die PDS auf 11 Prozent – will man das addieren, so blieben gemeinsam nur 29 Prozent gegenüber einem SED-Anteil 1946 von 49 Prozent. Zweitens macht ein Blick auf die räumliche Verteilung der Parteien das Ausmaß des Umbruchs augenfällig. Die traditionellen Hochburgen der Sozialdemokratie zwischen Eisenach, Sonneberg und Altenburg waren verschwunden. Die SPD konnte hier, wenn überhaupt, nur durchschnittlich reüssieren (Maximum: 23 Prozent in Eisenach und Jena). In allen Industriezentren Thüringens (mit Ausnahme der Städte Gera und Jena) erreichte die CDU-geführte Allianz (teilweise starke) absolute Mehrheiten. Die PDS war am stärksten in den Bezirkshauptstädten Erfurt, Gera und Suhl. Vor allem aber hatte sich die traditionell zwischen den politischen Lagern stark zerklüftete politische Landschaft Thüringens deutlich eingeebnet: Die Parteien verteilten sich landesweit ziemlich gleichmäßig.18 Als Gesamtergebnis des historischen Rückblicks ist somit ein völliger Umbruch der politischen Landkarte Thüringens festzuhalten. Und: Seine Ursachen sind in der Zeit nach 1946 zu suchen, also entweder in den vierzig Jahren der DDR oder in den spezifischen Umständen der Wahl des Jahres 1990. 17 Auf die CDU allein entfielen 52,5 Prozent; sie erzielte damit in Thüringen das mit Abstand beste Ergebnis im Vergleich der neuen Länder einschließlich Sachsens (CDU: 43,4 Prozent). 18 ������������������������������������������������������������������������������������� Eine statistische Analyse (vgl. Karl Schmitt: Thüringen 1990, a. a. O., S. 34) unterstreicht diese Veränderungen der Konturen der Thüringer Parteienlandschaft. Das PDS-Ergebnis von 1990 weist nur einen schwach positiven, das SPD-Ergebnis sogar einen leicht negativen Zusammenhang mit dem der SED von 1946 auf. Demgegenüber zeigen sich für die CDU und die Liberalen zwar jeweils positive statistische Zusammenhänge zwischen ihrem Abschneiden 1990 und 1946; diese fallen jedoch schwächer aus als diejenigen zwischen der Landtagswahl 1946 und den Weimarer Reichstagswahlen und sind im Falle der CDU auf ihre wiedererstandene Hochburg im Eichsfeld (Kreis Worbis 1990: 70 Prozent) zurückzuführen. Dieses Bild ändert sich auch dann nicht wesentlich, wenn man die Weimarer Ära (Reichstagswahl 1928) in die Betrachtung einbezieht: Die Zusammenhänge bleiben schwach, Zeichen eines deutlichen Umbruchs der politischen Landschaft.

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Was liegt näher, als aus dem Ergebnis der Volkskammerwahl, das so deutlich den in ihrem Vorfeld gehegten Erwartungen widersprach und das einen so drastischen Bruch mit den Thüringer Wahltraditionen darstellte, vor allem einen Schluss zu ziehen: Nicht langfristige, sozialstrukturell vermittelte Bindungen an Parteien hatten diese Wahlentscheidung bestimmt, sondern die Orientierung der Wähler an der Lösung politischer Sachfragen, konkret: Tempo und Modalitäten der deutschen Vereinigung. So gesehen war die Volkskammerwahl eine reine Themenwahl, ein Plebiszit.19 Zweifellos war die Situation im Frühjahr 1990 insofern historisch einmalig, als die deutsche Vereinigung die alles andere in den Hintergrund drängende Entscheidungsfrage der Wahl war. Während die Parteien der Allianz am entschiedensten eine rasche Vereinigung und eine radikale Veränderung des wirtschaftlichen und politischen Systems forderten, trat die PDS für einen langsamen Vereinigungsprozess und die Erhaltung möglichst vieler Elemente der alten Ordnung ein. Die Position der SPD war ambivalent: Willy Brandt plädierte für die Einheit, Oskar Lafontaine warnte vor ihren sozialen Folgen. So gesehen kann die Volkskammerwahl durchaus als Plebiszit über Tempo und Modalitäten der deutschen Vereinigung interpretiert werden, bei der die Position der Allianz die Unterstützung der Mehrheit der Wähler fand. Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich, dass diese naheliegende Interpretation der Volkskammerwahl, derzufolge die wahlentscheidenden Trends die Wählerschaft mehr oder minder gleichmäßig erfassten, die Zugehörigkeit zu einzelnen sozialen Gruppen also keine große Rolle spielte, das Kind mit dem Bade ausschüttet. Eine Analyse der Wählerschaften der einzelnen Parteien mit Hilfe von Umfragedaten20 zeigt nämlich, dass diese sozialstrukturell keineswegs konturenlos waren: Die CDU wurde von der überwiegenden Mehrheit der Arbeiter unterstützt, und dies im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen weit überproportional. Mit ca. zwei Drittel der Protestanten und drei Viertel der Katholiken im Vergleich zu nur einem Drittel der Konfessionslosen votierten die Mitglieder der christlichen Kirchen noch deutlicher für die Union. Dagegen waren die Wähler der SPD in der Arbeiterschaft und unter den Kirchenmitgliedern vergleichsweise schwach vertreten, die der PDS in diesen Gruppen sogar weit unterproportional.

19 So am prägnantesten Dieter Roth: Die Wahlen zur Volkskammer in der DDR, in: Politische Vierteljahresschrift, 31. Jg., Heft 3/1990, S. 369–393. 20 Forschungsgruppe Wahlen: Wahltag-Befragung. Wahl zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990, Mannheim 1990.

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Hier wird eine Zuordnung der einzelnen sozialen Gruppen zu den Parteien sichtbar, die teils gewohnte, teils bislang unbekannte Züge trägt. Während die Unterstützung der CDU durch die katholischen Wähler sich in das traditionelle Muster fügt, stellt das Wahlverhalten der Protestanten und vor allem das der einzelnen Berufsgruppen einen deutlichen Bruch sowohl mit dem historischen als auch mit dem in Westdeutschland seit jeher dominierenden Muster dar. Der SPD und noch mehr der PDS, den Parteien, die sich in die Tradi­tion der Arbeiterbewegung stellen, fehlte eine breite Basis in ihrem klassischen Wählerpotential, das in seiner Mehrheit für die CDU optierte. Das bedeutet, dass sozialstrukturelle Faktoren wie im Osten Deutschlands generell so auch in Thüringen ihre Bedeutung für das Wahlverhalten keineswegs eingebüßt haben. Es wäre also voreilig, sich für das Gebiet der DDR von der Vorstellung einer sozialstrukturellen Fundierung der Parteien gänzlich zu verabschieden. Mehr noch: Die beiden für das deutsche Parteiensystem traditionell konstitutiven Konfliktdimensionen, der Staat-KircheKonflikt und der Klassenkonflikt, sind wieder sichtbar geworden, wenn auch in der modifizierten Form, wie sie sich aus der politischen und gesellschaftlichen Struktur der DDR ergab. Der Staat-Kirche-Konflikt, in Deutschland ursprünglich nur für den katholischen Bevölkerungsteil bedeutsam, wurde in der DDR auf die evangelische Kirche ausgeweitet.21 Ungeachtet zeitweise starker Bemühungen um einen Modus Vivendi war die gesamte DDR-Ära von einer Frontstellung zwischen sozialistischem Staat und beiden Kirchen geprägt, die auch den bewusst evangelischen Bevölkerungsteil auf den Weg der Politisierung und Formierung zu einer abgegrenzten Gruppe zwang, ein Weg, der bereits im Kirchenkampf unter dem Nationalsozialismus begonnen hatte und der sie nun an der Seite der Katholiken zur Unterstützung der Christdemokraten führte. Hatte somit der Staat-Kirche-Konflikt in der DDR eine Zuspitzung und Generalisierung erfahren, so war auch der zweite für das deutsche Parteiensystem bedeutsame Konflikt, der Klassenkonflikt, keineswegs obsolet geworden. Im Gegensatz zur offiziellen Selbstinter­pretation der DDR-Gesellschaft waren mit der Beseitigung der auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln gründenden alten Rangordnung die Interessengegensätze gesellschaftlicher Gruppen nicht entfallen, war keineswegs eine Egalisierung von Positionen und Lebenschancen durchgesetzt worden. Stattdessen war eine »bürokratisch

21 Vgl. Christoph Kleßmann: Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft, 19. Jg., Heft 1/1993, S. 29–53.

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verfasste sozialistische Ständegesellschaft«22 entstanden, die neue Interessengegensätze und neue soziale Hierarchien entstehen ließ, an deren Spitze nun die Parteinomenklatura und die Führungskader im Wirtschafts- und Verwaltungsapparat standen und an deren unterem Ende sich wieder die reale Produktionsarbeiterschaft fand. Unter diesen Umständen ist es keineswegs überraschend, dass 1990 einerseits die Arbeiterschaft in ihrer Mehrheit ihre Unzufriedenheit mit den DDR-Verhältnissen und ihre Erwartungen an einen radikalen Wandel in eine Wahlentscheidung für die klarste Alternative, die Unionsparteien, umsetzte, während andererseits die SED-Führungsschicht und die über Parteikarrieren in ihre Position gekommenen Leitungskader weit überproportional für die PDS votierten, was gut in das Bild der hohen PDS-Anteile in den Bezirkshauptstädten Gera, Suhl und Erfurt passt. Allerdings war die (teilweise neue) Zuordnung von Sozialstruktur und Parteiensystem, so wie sie in der Volkskammerwahl von 1990 in Thüringen wie in der DDR generell zutage getreten war, durchaus labil. Denn die Dauerhaftigkeit und Solidität der Koalitionen zwischen den einzelnen Konfessions- und Berufsgruppen einerseits und den Parteien andererseits war sehr unterschiedlich. Als vergleichsweise belastbar war die Bindung der Mitglieder der christlichen Kirchen an die Union einzuschätzen, da sie durch mehr oder minder festgefügte Sozialmilieus abgestützt wurde. Ebenso sicher konnte die PDS auf die Loyalität der alten SED-Führungsschicht zählen.23 Dagegen war nicht ohne weiteres damit zu rechnen, dass die Arbeiterschaft und die abhängig Beschäftigten insgesamt, die 1990 mehrheitlich für die Union votiert hatten, mit dieser eine dauerhafte Koalition eingegangen waren. Denn sie hatten sich nicht zu einer gesellschaftlichen Großgruppe formiert – mangels ausgeprägtem Sonderbewusstseins, mangels spezifischer Gruppennormen und auch mangels einer politisch handlungsfähigen Organi­ sationsstruktur etwa in Gestalt von Gewerkschaften. Insgesamt stellten somit diejenigen Gruppen, deren Parteipräferenzen vergleichsweise fest lagen (Kirchenmitglieder, Ex-SED-Milieu), in der Wählerschaft lediglich eine Minderheit dar. Deshalb verfügten auch die Union und die PDS nur über schwache Sockel von Stammwählern. Die große Mehrheit der Wähler dagegen war 22 Artur Meier: Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B40/1990, S. 3–14. 23 Die starke familiäre und außerfamiliäre Verdichtung der Sozialbeziehungen der PDS-Mitglieder deutet auf die Herausbildung eines neuen Milieus hin. Vgl. Karl Schmitt: Parteimitglieder in Thüringen, in: Hartmut Esser (Hg.): Der Wandel nach der Wende. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik in Ostdeutschland, Wiesbaden 2000, S. 91–112.

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nicht in festgefügte soziale Milieus eingebunden und somit offen für eine Veränderung ihrer Parteipräferenzen. In den zwei Jahrzehnten seit dem Wiedererstehen des Freistaats Thüringen hat eine solche Neupositionierung eines großen Teils der Wählerschaft in der Tat stattgefunden.24 An die Stelle der Wiedervereinigung, also der polarisierenden Frage nach Tempo und Radikalität der Abkehr vom alten System, war die Frage nach dem Vollzug der Vereinigung getreten. Hier ging es um die Gestaltung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs und die Bewältigung von dessen Folgen. Im Ergebnis hat sich die Kräftekonstellation zu Lasten der CDU und zu Gunsten der PDS/LINKEN verschoben. Die CDU konnte ihren sehr guten Start bei der Volkskammerwahl 1990 nicht dazu nutzen, sich als hegemoniale »Thüringen-Partei« zu etablieren, konnte aber ihre Position als stärkste politische Kraft verteidigen. Der SPD gelang es nicht, aus den Schwächen der CDU Kapital zu schlagen. Sie fiel im zweiten Jahrzehnt nach der Vereinigung bei Landtagswahlen unter die 20-ProzentMarke und damit auf den dritten Rang der Thüringer Parteien zurück. Dagegen stieg die PDS/LINKE, die 1990 von vielen noch auf den Absterbeetat gesetzt worden war, kontinuierlich zur zweitstärksten politischen Kraft in Thüringen auf. Sozialstrukturell gesehen wurden diese Kräfteverschiebungen erwartungsgemäß am stärksten von der Arbeiterschaft getragen. Der 1990 überproportionale Anteil der Unionswähler unter den Arbeitern ging stark zurück und wird inzwischen vom Anteil der Wähler der LINKEN übertroffen. Damit hat die Wählerschaft der PDS auf dem Weg zur LINKEN ein neues Profil erhalten: nicht mehr die »sozialistische Intelligenz« macht den Schwerpunkt aus, sondern die organisierte Arbeitnehmerschaft. Ebenso erwartungsgemäß erwies sich im Unterschied zu den Berufsgruppen die Zuordnung der Konfessionsgruppen zu den Parteien als vergleichsweise stabil. Die Präferenz der kirchlich gebundenen Wähler für die CDU ist im Wesentlichen erhalten geblieben. Aber auch hier ist eine gewisse Abschwächung der Loyalität der LINKEN zugute gekommen: Zwei Jahrzehnte nach seinem Ende ist der Kirchenkampf der DDR-Zeit soweit verblasst, dass es für Mitglieder der christlichen Kirchen keinem Tabubruch mehr gleichkommt, die SED-Nachfolgepartei zu wählen. Während insgesamt die Bedeutung der 24 Aktualisierte Überblicksdarstellungen zu Parteien und Wahlen in Thüringen bei Karl Schmitt/Torsten Oppelland: Politische Parteien in Thüringen 1990–2011, 2. Aufl., Erfurt 2012; sowie Karl Schmitt: Wahlen: Kontinuität und Umbruch, in: ders. (Hg.): Thüringen. Eine politische Landeskunde, 2. Aufl., Baden-Baden 2011, S. 111–134.

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Gruppenzugehörigkeit für die Parteipräferenz nachlässt, gewinnen andere Faktoren an Gewicht: das von den Parteien präsentierte Führungspersonal und die diesem zugeschriebene Kompetenz, die als vordringlich wahrgenommenen Probleme zu lösen.25 Überblickt man die Gesamtentwicklung der Thüringer Parteien von ihrer Entstehung bis zur Gegenwart über alle politischen und gesellschaftlichen Umbrüche hinweg, so werden Kontinuitätslinien, aber auch deutliche Zäsuren sichtbar. Das zur Zeit des Kaiserreichs entstandene Thüringer Parteiensystem war Ausdruck der extremen Vielgestaltigkeit des Landes. Die von Anfang an auf der Grundlage der Zugehörigkeit zu sozialer Schicht und Konfession beruhende Parteienkonstellation konnte sich erst seit 1920, nach der Bildung des Landes Thüringen, in einem gemeinsamen staatlichen Rahmen entfalten. Im Ergebnis entstanden Parteien, die soziale Großgruppen (Milieus) repräsentierten, indem sie als deren »politische Aktionsausschüsse« (M. Rainer Lepsius) fungierten. Insofern die Milieus den Charakter von Gesinnungsgemeinschaften hatten, waren die sie repräsentierenden Parteien auch Weltanschauungsparteien, also mehr als bloße Interessenvertretungen. Das zerklüftete, die sehr unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Landesteilen reflektierende Thüringer Parteiensystem, dem zumal auf Grund der Konfessionsverteilung im Land eine starke politische Mitte fehlte, polarisierte sich in der Zwischenkriegszeit in starke Lager auf der Linken und der Rechten, bis schließlich die NSDAP eine Parteidiktatur errichtete und die anderen Parteien zerschlug. Ihr Ziel einer Einebnung der Gesellschaft zu einer »Volksgemeinschaft« erreichte die NS-Diktatur jedoch nicht. Wie die Landtagswahl 1946 zeigte, waren auch in Thüringen die sozialen Fundamente der Parteien hinreichend intakt geblieben, dass auf ihnen das milieuzentrierte Vorkriegsparteiensystem wieder entstehen konnte. Was aber der ersten Einparteiendiktatur auf deutschem Boden nicht gelungen war, gelang der zweiten: die Zerstörung der Grundlagen des hergebrachten Parteiwesens. Mehr als vier Jahrzehnte organisatorischer Gleichschaltung und Unterdrückung freier Interessen­artikulation haben die Infrastruktur der historisch gewachsenen sozialen Milieus mit Ausnahme 25 Wie stark diese Orientierung auf Personen und Kompetenz im Land und im Bund den Wählermarkt (auch) in Thüringen inzwischen verflüssigt hat, zeigen die drastischen Schwankungen der Stimmenanteile der Parteien innerhalb kurzer Zeit. So erzielte die CDU bei der Bundestagswahl 1998 29 Prozent, bei der Landtagswahl 1999 51 Prozent, bei der Bundestagswahl 2002 29 Prozent und bei der Landtagswahl 2004 43 Prozent. Bei der SPD waren die Pendelausschläge nicht geringer: Bundestagswahl 1998 35 Prozent, Landtagswahl 1999 19 Prozent, Bundestagswahl 2002 40 Prozent, Landtagswahl 2004 15 Prozent.

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kirch­licher Restbestände beseitigt. Die von Partei und Staat monopolisierte und gelenkte Zuweisung von Lebenschancen hat die gesellschaftliche Selbstorganisation zugunsten der Forderung nach staatlicher Fürsorge obsolet gemacht. Und schließlich hat die ritualisierte Zwangspolitisierung und Massenmobilisierung durch die Einheitspartei und ihre Massenorganisationen einen Überdruss an parteiförmigem Engagement überhaupt erzeugt. So standen am Ende der SED-Herrschaft zwar der Protest, die Aufkündigung von Loyalität und das Aufbegehren insbesondere der vom System Benachteiligten, doch wurde die »Friedliche Revolution« gegen die Unterdrücker und Privilegierten von Bürgerbewegungen und nicht von Parteien getragen. Trotz des Überwinterns von Restbeständen der traditionellen Parteien in Gestalt der Blockparteien war eine Revitalisierung des hergebrachten Thüringer Parteiensystems nur sehr begrenzt möglich. Dies zeigt paradigmatisch das Scheitern des Versuchs der aus Theologen und naturwissenschaftlichtechnischer Intelligenz zusammengesetzten Führungs­gruppen der SPD, an den großen Vorkriegstraditionen der Thüringer Sozialdemokratie anzuknüpfen. Die aus den Frontstellungen unter der SED-Herrschaft erwachsenen Koalitionen bestimmter Gruppen mit Parteien schwächen sich ab: Der StaatKirche-Konflikt verblasst ebenso, wie die Loyalität oder Gegnerschaft zum untergegangenen System überhaupt für die gegenwärtige politische Wirklichkeit an Deutungskraft einbüßt. Zwar hat inzwischen eine Vielzahl neuer Konflikte die alten Frontstellungen überrollt; keiner von ihnen ist jedoch so massiv und wirkmächtig, dass er zur Bildung neuer Milieus geführt hätte. Die heutigen Parteien Thüringens tragen somit zwar noch Spuren ihrer Ursprünge im 19. Jahrhundert, unterscheiden sich jedoch in ihrem Charakter wesentlich von ihren Vorgängerformationen. Ohne tiefgreifende Verwurzelung in unterscheidbaren Gesellschafts­gruppen sind sie vergleichsweise freischwebende und bewegliche Organisationen zur Artikulation, Aggregation und Durchsetzung von Interessen und zur Mobilisierung für politische Ziele. Sie repräsentieren nicht mehr Gesinnungen, Weltanschauungen oder Ideologien mehr oder weniger fest umrissener Bevölkerungsgruppen. Dadurch ist die traditionelle Zerklüftung, wenn nicht Polarisierung der politischen Landschaft Thüringens weitgehend eingeebnet worden. Die Parteien haben dadurch aber auch an Bedeutung als Ausdruck unterschiedlicher politischer Kulturen und zugleich an Prägekraft für sie verloren.

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Verwurzelung der Demokratie in der politischen Kultur Thüringens

Seit 1990 ist Thüringen wieder ein demokratischer Verfassungsstaat. Die Thüringer Verfassung garantiert die politischen Rechte der Bürger und das ordnungsgemäße Funktionieren der Institutionen des Freistaats; schon zuvor hatte die letzte Volkskammer der DDR die kommunale Selbstverwaltung wiederhergestellt. Inwieweit entsprechen diesem demokra­tischen Rahmen demokratische Einstellungen der Thüringer, inwieweit füllen sie ihn durch demokratisches Verhalten aus? Antworten auf diese Fragen bietet der Thüringen-Monitor, der seit dem Jahr 2000 regelmäßig Daten zur politischen Kultur Thüringens erhebt.26 Zunächst ist nach Einstellungen zur politischen Ordnung zu fragen. Denn Demokratie als Ordnungsprinzip des politischen Systems ist auf die Unterstützung ihrer Bürger angewiesen. Hier zeigt sich, dass Demokratie mit nur geringen Schwankungen von ca. 80 Prozent der Thüringer als beste Staatsidee bejaht wird. Fast ebenso hoch und ebenfalls konstant ist der Anteil derjenigen, die mit der Verfassungsordnung zufrieden sind. Nur wenige derjenigen, die die Demokratie als Prinzip ablehnen, gehen so weit, eine Diktatur zu befürworten. Die konsequenten Antidemokraten machen nur eine (zudem noch schrumpfende) Minderheit von weniger als zehn Prozent aus. Dagegen wird die Umsetzung der Demokratie weithin als unbefriedigend empfunden: Nur ein von Jahr zu Jahr zwischen 40 und 50 Prozent schwankender Anteil der Thüringer ist mit der Demokratie zufrieden, so wie sie in der Praxis funktioniert. Für die Robustheit der Verankerung der Demokratie spricht jedoch, 26 Die im Folgenden referierten Befunde beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, auf die Ergebnisse der Erhebungen des Thüringen-Monitors (Repräsentative Stichprobe/Jahr: 1.000 Befragte). – Bisherige Schwerpunktthemen (neben der Dauerbeobachtung zur Demokratie): Verhältnis zu Ausländern/Rechtsextremismus (2000, Drucksache des Thüringer Landtags (LT-Drs.) 3/1106); Jugend und Politik (2001, LT-Drs. 3/1970); Familie und Politik (2002, LT-Drs. 3/2882); Einstellungen zur Demokratie (2003, LT-Drs. 3/3765); Gerechtigkeit und Eigenverantwortung. Einstel­lungen zur Reform des Sozialstaats (2004, LT-Drs. 4/551); 1990–2005: Das vereinigte Deutschland im Urteil der Thüringer (2005, LT-Drs. 4/1347); Thüringens Zukunft aus Bürgersicht: Erwartungen, Herausforderungen, Gestaltungsmöglichkeiten (2006, LT-Drs. 4/2485); Bildung in einer sich wandelnden Gesellschaft (2007, LT-Drs. 4/3860); Soziale Marktwirtschaft in Thüringen (2008, LT-Drs. 4/4734); Beziehungen und Verhältnis der Generationen (2010, LTDrs. 5/1120); Staatsaufgaben und Staats­ausgaben (2011, LT-Drs. 5/3396). – Dem Autorenteam gehörten neben dem Verfasser (2000–2011) an: Klaus Dicke (2000– 2003), Michael Edinger (2000–2010), Daniel Gerstenhauer (2010), Andreas Hallermann (2001–2008) und Jürgen H. Wolff (2011).

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dass Unzufriedenheit mit dem praktischen Funktionieren die prinzipielle Bejahung der Demokratie nicht beeinträchtigt. Parallel zur Bejahung der Demokratie als Ordnungsprinzip ist eine zunehmende »Thüringen-Identität« zu konstatieren. Von 2000 bis 2011 hat sich der Anteil der Befragten, die sich selbst als »Thüringer« verstehen, von 45 auf 56 Prozent erhöht (27 Prozent verstehen sich als »Deutsche«, 11 Prozent als »Ostdeutsche« und 5 Prozent als »Europäer«). Das hohe und stabile Niveau der Wertschätzung der Demokratie als Staatsidee, die Bejahung der demokratischen Verfassungsordnung und schließlich die rückläufige Neigung, eine Diktatur als (Reserve-)Lösung in Betracht zu ziehen – diese Befunde zusammen­genommen vermitteln das Bild einer Konsolidierung positiver Grundeinstellungen zur Demokratie in Thüringen. Damit eine Demokratie auf Dauer Bestand hat, genügt es jedoch nicht, dass ihre Bürger demokratische Grundsätze und Verfahren gutheißen. Demokratie ist kein »Selbstläufer«: Sie verlangt aktive Bürger, die Politik als ihre eigene Angelegenheit betrachten, die sie ernst nehmen und ihr einen wichtigen Platz in ihrem Leben einräumen. Welchen Stellenwert Politik im Leben der Bürger einnimmt, lässt sich daran ablesen, wie sehr sie politische Verhältnisse wahrnehmen und politische Vorgänge verfolgen. Vier von fünf Thüringern interessieren sich für Politik. Hoch ist auch die in den Befragungen bekundete Bereitschaft zum politischen Engagement. Der Anteil der politisch Apathischen, also derjenigen, die jede Form politischer Betätigung ablehnen, ist mit ca. einem Zehntel nur eine kleine Minderheit. Etwa die Hälfte der Thüringer ist zu den politisch Aktiven zu rechnen, die sich bereits auf die eine oder andere Weise politisch engagiert haben. Ein Drittel war bisher passiv, schließt aber politische Aktivitäten nicht grundsätzlich aus. Insgesamt ist nicht nur ein starke Bereitschaft zu niedrigschwelligen und sporadischen Beteiligungsformen (Unterschriften, Demonstrationen), sondern auch zu anspruchsvollem und zeitaufwändigem Engagement, wie etwa der Mitarbeit in Parteien, Bürgerinitiativen oder der Bürgerbeteiligung an Bauvorhaben vohanden. Ein Vergleich der bereits praktizierten politischen Partizipation mit der geäußerten Bereitschaft zu zukünftiger Beteiligung zeigt ein beträchtliches, bislang noch nicht ausgeschöpftes Potenzial – Ausdruck der Vitalität der Zivilgesellschaft in Thüringen, wie sie auch in einem starken ehrenamtlichen Engagement in vielen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar wird.27 27 Ein Drittel der Thüringer ist ehrenamtlich engagiert, ein weiteres Viertel war es in der Vergangenheit. Vgl. Karl Schmitt/Oliver Lembke: Ehrenamtliches Engagement im Freistaat Thüringen, Bd. 1, Jena 2002, S. 38 f.

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Allerdings sind auch Problembereiche der politischen Partizipation unübersehbar. Der augenfälligste betrifft die Wahlbeteiligung. Seit 1990 ist die Beteiligung an den Wahlen aller Ebenen in Thüringen deutlich gesunken: Bei Bundestagswahlen ging sie bis 2009 von 76 auf 65 Prozent, bei Landtagswahlen von 72 auf 56 Prozent und bei Kommunalwahlen von 81 auf 53 Prozent zurück. Ist die sinkende Wahlbeteiligung in Thüringen eher als ein Symptom der Krise der Demokratie oder aber als ein Anzeichen der Normalisierung nach Jahrzehnten der Zwangspolitisierung (mit Wahlbeteiligungsraten nahe 100 Prozent) zu bewerten? Eine Antwort auf diese Frage ist deshalb schwierig, weil abstrakt weder eine Höchst- noch eine Mindestmarke der einer »gesunden« Demokratie angemessenen Wahlbeteiligung definierbar ist: Eine hohe Beteiligung steht ebenso wenig notwendig für »Gesundheit«, wie eine niedrige Beteiligung notwendig für »Krankheit« steht. Denn dass sich an der Reichstagswahl von 1930 erstmals mehr als 80 Prozent und an der letzten von 1933 knapp 90 Prozent beteiligten, war nicht ein Zeichen der Blüte, sondern eines der Krise der Weimarer Republik. Dass sich 95 Prozent der Thüringer an der Volkskammerwahl vom März 1990 beteiligten, war einer einmaligen historischen Situation geschuldet und kann kein sinnvoller Maßstab für die folgenden Wahlen sein. Und dass in der Schweiz die Beteiligung an den Wahlen zur ersten Kammer des Parlaments, dem Nationalrat, 1979 erstmals unter 50 Prozent gefallen ist und seither zwischen 42 und 49 Prozent schwankt, muss nicht bedeuten, dass eine der ältesten Demokratien Europas sich auf dem Weg in den Untergang befindet. In Thüringen deutet einiges darauf hin, dass neben der Entscheidung für Kandidaten und Parteien auch die Beteiligung an einer Wahl überhaupt zunehmend Gegenstand einer Entscheidung wird, für die es gute Gründe geben muss: Die Thüringer unterscheiden klar zwischen den Ebenen, halten Entscheidungen im Bund für wichtiger als im Land, in den Kommunen und in Europa und beteiligen sich je nach dem Gewicht des Einsatzes, um den es bei jeder einzelnen Wahl geht. Zwar halten sie es für die Pflicht eines jeden Bürgers in der Demokratie, regelmäßig zur Wahl zu gehen, doch behalten sie sich in ihrer Mehrheit die Entscheidung darüber vor, ob sie im konkreten Fall dieser Norm folgen oder nicht. Ob eine sinkende Wahlbeteiligung mit einem solchen demokratischen Reifungsprozess einhergeht oder ob in ihr eher politische Apathie und Verdrossenheit zum Ausdruck kommen, ist offen. Es bleibt das Faktum, dass zwischen einem Drittel und der Hälfte der Wahlberechtigten die wichtigsten, den Bürgern rechtlich garantierten (und wenig aufwändigen) Gelegenheiten zur Mitentscheidung nicht in Anspruch nimmt. Weniger für einen Reifungsprozess als vielmehr für Apathie spricht aller-

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dings der Befund, dass vier Monate nach der Landtagswahl 2009 und einem an dramatischen Entwicklungen reichen Wahljahr nur jeder fünfte Thüringer in der Lage war, diejenigen Parteien zu nennen, die im Thüringer Landtag vertreten sind.28 Als eindeutig negativ für die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen in Thüringen ist die starke Schrumpfung der Parteimitgliedschaften zu bewerten. Rechnet man alle Parteien zusammen, so gibt es derzeit insgesamt etwa 25.000 Parteimitglieder in Thüringen.29 Seit 1992 hat sich die Gesamtmitgliederzahl der Parteien halbiert; weit größere Verluste hatten sie jedoch schon davor erlitten. Im Sommer 1989 hatte die SED noch 300.000 bis 400.000, die CDU 30.000 und LDPD und NDPD zusammen 40.000 Mitglieder in Thüringen gehabt. Zwar kann man den im Herbst 1989 einsetzenden Rückzug aus den Altparteien als Reaktion auf die Zwangspolitisierung der DDR-Zeit und ihn ebenso wie den Rückzug aus der aufgezwungenen Mitgliedschaft in einer Vielzahl von Massenorganisationen durchaus als Zeichen einer Normalisierung werten. Dass hier aber keineswegs wieder eine »Normallage« eingetreten ist, zeigt sowohl der Blick auf den Westen Deutschlands als auch der historische Rückblick. Denn derzeit erreicht (auf die Wahlberechtigten bezogen) die Mitgliederdichte der Thüringer CDU mit 12.000 Mitgliedern nur die Hälfte, die der Thüringer SPD mit 4.000 Mitgliedern nur ein Sechstel des westdeutschen Vergleichswerts. Und in historischer Perspektive ist in Erinnerung zu rufen, dass die im Sommer 1945 wiedergegründete Thüringer SPD im März 1946 vor ihrer Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED nicht weniger als 92.000 Mitglieder aufzuweisen hatte.30 Mit dieser schwachen Mitgliederdecke sind die Parteien zu Funktionärsund Mandatsträgerparteien geschrumpft. Selbst die »großen« Parteien können in der Fläche nicht organisatorisch präsent sein, noch reicht ihr Perso­ nalreservoir zur Nominierung von Kandidaten für die Vielzahl kommunaler Wahlämter. Hier schlägt die kleinräumige Siedlungsstruktur Thüringens zu

28 ����������������������������������������������������������������������������� Vgl. Michael Edinger/Daniel Gerstenhauer/Karl Schmitt: Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2010. Beziehungen und Verhältnis der Generationen in Thüringen, Jena 2010, S. 71 ff. 29 Vgl. Karl Schmitt/Torsten Oppelland: Politische Parteien in Thüringen 1990– 2011, a. a. O., S. 42. 30 Vgl. Werner Müller: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), in: Martin Broszat/Hermann Weber (Hg.): SBZ-Handbuch, München 1990, S. 460–480, hier S. 480. Vgl. Matthias Bettenhäuser/Sebastian Lasch: Die SPD, in: Karl Schmitt/ Torsten Oppelland (Hg.): Parteien in Thüringen, a. a. O., S. 139–221, hier S. 140 ff.

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Buche.31 Dieses Vakuum bietet Kräften von den Rändern des politischen Spektrums die Möglichkeit, sich auf dem flachen Land eine Basis zu verschaffen. Zudem werden mitgliederschwache Parteien abhängig von staatlicher Parteienfinanzierung. So werden drei Viertel des hauptamtlichen Personals der Thüringer Parteien (ohne Mandatsträger) aus öffentlichen Mitteln finanziert.32 Die Ursachen für die geringe Bereitschaft, sich in Parteien zu engagieren, sind in drei Richtungen zu suchen. Erstens hat verständlicherweise generell und selbst bei denjenigen, die sich 1989 in der Friedlichen Revolution aktiv engagiert hatten, eine Konzentration auf die private Bewältigung des wirtschaftlichen Umbruchs stattgefunden. Zweitens fehlt den Parteien – wie bereits angesprochen – weithin ein gewachsener Milieu-Unterbau als Rekrutierungsreservoir.33 Schließlich ist drittens ein weit verbreiteter Anti-ParteienAffekt zu konstatieren, der sich etwa darin äußert, dass die Parteien im Vergleich aller politischen Institutionen das geringste Vertrauen genießen. Die Geringschätzung, ja Verachtung der Parteien speist sich aus verschiedenen Quellen. Am verständlichsten ist noch der Versuch, auf diese Weise Konsequenzen aus der eigenen DDR-Vergangenheit zu ziehen: Man will politisch nicht noch einmal auf das falsche Pferd und deshalb vorsichtshalber auf gar kein Pferd setzen – eine Reaktion, die schon aus dem Jahre 1945 bekannt ist. Auf Dauer problematischer dürfte jedoch die Parteienaversion sein, die in obrigkeitsstaatlichen Denk- und Verhaltensmustern wurzelt, die in Deutschland eine lange Tradition haben. Diese Muster werden deutlich, wenn der Blick darauf gerichtet wird, welchen Institutionen die Thüringer Vertrauen schenken und welchen nicht. Hier zeigt sich, dass mit der Polizei und den Gerichten die ausführenden, der Politik entzogenen rechtsstaatlichen Institutionen erheblich mehr Vertrauen 31 ���������������������������������������������������������������������� Zwei Drittel der 936 Gemeinden Thüringens haben weniger als 1.000 Einwohner (Gebietsstand 1.1.2011). Allein in den Stadt- und Gemeinderäten sind mehr als 10.000 Mandate zu vergeben. Vgl. Jürgen Maier/Karl Schmitt: Kommunales Führungspersonal im Umbruch, Wiesbaden 2008, S. 35 ff. 32 Vgl. Karl Schmitt/Torsten Oppelland: Gelungene Konsolidierung?, in: dies. (Hg.): Parteien in Thüringen, a. a. O., S. 486 ff. 33 Für diese Annahme spricht die weit überdurchschnittliche Mitgliederdichte in Gebieten, in denen Milieuverdichtungen noch erkennbar sind, so der CDU im katholischen Eichsfeldkreis (Mitgliederdichte 19,2 Prozent) und der PDS/ LINKEN in den ehemaligen Bezirkshauptstädten Suhl (10,6), Gera (7,7) und Erfurt (4,6), in denen sich die früheren Partei-, Staats- und Wirtschaftskader konzentrieren. Vgl. Karl Schmitt/Torsten Oppelland (Hg.): Parteien in Thüringen, a. a. O., S. A25, Tabelle 3.3.

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genießen als die Kerninstitutionen des demokratischen Verfassungsstaats: die Regierungen und die Parlamente, in denen in kontroverser Auseinandersetzung Problemlösungen vorbereitet und Entscheidungen getroffen werden. So erfreulich es ist, dass die Justiz und die Polizei nach ihrer politischen Instrumentalisierung in der DDR-Ära sukzessive wieder hohes Ansehen erworben haben, so deutet doch das Faktum, dass die Entscheidungsinstitutionen deutlich weniger Vertrauen genießen, auf eine Schwachstelle der politischen Kultur hin. Denn diese Vertrauenskluft ist nicht etwa der Funktionslogik parlamentarischer Systeme zuzuschreiben, sondern Ausdruck tradierter obrigkeitsstaatlicher Denkmuster, nach denen staatliche Leistungen und Konsens positiv und Interessengegensätze und Streit negativ bewertet werden.34 So vertreten zwischen der Hälfte und zwei Drittel der Thüringer die Auffassung, dass es in einer Demokratie mehr auf das Ergebnis von Politik als auf die politische Beteiligung ankomme und dass die Austragung von Interessenkonflikten dem Allgemeinwohl schade. Hier werden Züge eines Demokratieverständnisses sichtbar, das die staatlichen Institutionen vornehmlich an den von ihnen erbrachten Leistungen misst, der Vertretung von Interessen misstraut und die Austragung von Konflikten scheut. In einem solchen obrigkeitsstaatlich geprägten Staatsverständnis besteht die Beziehung von Bürger und Staat im Kern in einem Verhältnis von Treue gegen Sorge, von Loyalität gegen Leistung. Die Rolle des Bürgers reduziert sich auf die eines Leistungsempfängers. Es wäre zu kurz gegriffen, in diesem Demokratieverständnis allein ein Erbstück des DDR-Sozialismus zu sehen. Seine Wurzeln reichen viel tiefer in die Traditionen des deutschen Obrigkeitsstaates zurück, die in der DDR allerdings intensiv kultiviert und konserviert wurden. Nach einem seiner prominenten Vertreter kann man es das »Hindenburg-Syndrom« nennen; nach der Wahl des kaiserlichen Generalfeldmarschalls zum Reichspräsidenten 1925 wurde eine Gedenkmedaille geprägt, auf der das Motto des Gewählten zu lesen war: »Für das Vaterland beide Hände – aber nichts den Parteien«.35 Gut drei Jahrzehnte zuvor hatte der Jenaer Oberbürgermeister Dr. Heinrich Singer seine Festansprache zum Empfang des Altreichskanzlers Otto von 34 So das Ergebnis einer genaueren Analyse im Thüringen-Monitor 2010, a. a. O., S. 78 f. 35 Vgl. Christian Graf von Krockow: Die Parteien und die politische Kultur des Konflikts, in: ders./Peter Lösche (Hg.): Parteien in der Krise, München 1986, S. 49–58, hier S. 49. Peter Lösche: Parteienverdrossenheit ohne Ende? Polemik gegen das Lamentieren deutscher Politiker, Journalisten, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 26. Jg., Heft 1/1995, S. 149–159.

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Bismarck auf dem Jenaer Marktplatz im Juli 1892 unter das Motto gestellt: »Das Vaterland – nicht die Partei«. Ungeachtet dieser langen Tradition ist gegenwärtig auch in Thüringen die DDR-Nostalgie das wirkmächtigste Medium des obrigkeitsstaatlichen Antipluralismus. Für etwa die Hälfte der Thüringer hatte die DDR mehr gute als schlechte Seiten und war die DDR kein Unrechtsstaat; jeder fünfte wünscht sich die »sozialistische Ordnung« zurück. Seit 1989 ist im Zeitverlauf nicht etwa ein Verblassen der Erinnerung an die DDR, sondern vielmehr eine nachträgliche Aufhellung, eine retrospektive Verklärung festzustellen.36 Dass dies auch für die nachwachsende Generation derjenigen gilt, die keine persönliche Erfahrung in der DDR mehr gemacht haben, geht auf die Tradierung eines positiven DDR-Bildes durch Elternhaus und Schule37 zurück. Ein positives DDR-Bild ist nicht per se problematisch. Warum sollte ein privates Lebensschicksal in der Rückschau nicht auch dann Zufriedenheit erwecken können, wenn es zeitlich mit der DDR-Ära zusammenfällt? Widerstand gegen rückwirkende Entwertung eines Lebens oder wichtiger Lebensabschnitte ist nicht nur verständlich, sondern auch ehrenwert. Zum Problem werden retrospektive Verklärung und unbeirrtes Klammern an Grundsätzen der alten Zeit jedoch dann, wenn sie Ausdruck einer Wirklichkeitsverweigerung in Vergangenheit und Gegenwart oder Ausdruck des Rückgriffs auf einfache Lösungen komplexer Probleme sind. Als Anzeichen dafür können statistische Zusammenhänge zwischen DDR-Nostalgie und rechtsextremen Einstellungen gesehen werden, wie sie in den Befunden des ThüringenMonitors sichtbar werden: Je positiver die DDR bzw. die sie tragenden Grundsätze einge­schätzt werden, desto wahrscheinlicher ist eine Neigung zu rechtsextremen Einstellungen (und umgekehrt). Diese Zusammenhänge deuten darauf hin, dass es zwischen DDR-Nostalgie und Rechtsextremismus Affinitäten in den Wertmustern und Politikvorstellungen gibt, deren gemeinsamer Nenner in der politischen Kultur des deutschen Obrigkeitsstaates besteht. Der Rechtsextremismus erscheint im Licht der Erkenntnisse der letzten Monate in der öffentlichen Wahrnehmung als akute Bedrohung. Und er stellt 36 Vgl. die Befunde des Instituts für Demoskopie, Allensbach, für das erste Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung; zusammengestellt und ausgewertet bei Klaus Schröder: Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, München 2006, S. 328 ff. 37 ������������������������������������������������������������������������ In vielen Thüringer Schulen gab auch lange nach 1990 nostalgisch gestimmtes Personal der DDR-Volksbildung den Ton an. Nur wenige der seit Anfang der 1990er Jahre in Thüringen neu ausgebildeten Sozialkundelehrer fanden im Land eine Anstellung.

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weit mehr als die Schnittstelle mit der DDR-Nostalgie nahelegt, in seiner Ideologie und in seiner Praxis eine radikale Infragestellung der Grundprinzipien des demokratischen Verfassungsstaats dar. Rechts­extremismus läuft der Wertordnung des Grundgesetzes diametral zuwider, da die Prämisse der Ungleichwertigkeit der Menschen den Kern seiner Ideologie ausmacht, die sich in Einstellungen wie Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Chauvinismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus und Befürwortung einer rechten Diktatur äußert. Für eine angemessene Einschätzung der Ursachen wie der Auswirkungen des Rechtsextre­mismus ist eine sorgfältige Unterscheidung verschiedener Erscheinungs­ formen dringend geboten. In der öffentlichen Auseinandersetzung wird oft gleichgesetzt, was empirisch nicht identisch ist und nur geringe Schnittmengen aufweist: rechtsextreme Einstellungen, die gewalttätige (jugendliche) Subkultur und der parteiförmig organisierte Rechtsextremismus. Am weitesten (auch in Thüringen) verbreitet sind rechtsextreme Einstellungen. In den vergangenen zwölf Jahren schwankte der Anteil der Thüringer, die solchen Einstellungen mehr oder minder zuneigen, zwischen 13 und 23 Prozent. Von den als rechtsextrem einzustufenden Einstellungen ist Ausländerfeindlichkeit häufiger anzutreffen als etwa die Verharmlosung des Nationalsozialismus oder die Befürwortung einer Diktatur, eine angesichts eines Ausländeranteils in Thüringen von zwei Prozent bemerkenswerte Tatsache. Eine Erklärung liegt in der vielfach und auch in Thüringen bestätigten Kontakt-These: Ausländerfeindlichkeit nimmt mit zunehmender Intensität des Kontakts mit Ausländern ab. Die (jugendliche) gewalttätige Subkultur, auf die sich die mediale Beachtung in jüngster Zeit konzentriert, wird durch den Thüringer Landesverfassungsschutz beobachtet; die Zahl der beteiligten Personen liegt im dreistelligen Bereich. Ihre Straftaten werden von den Strafverfolgungsbehörden mit 1.000 bis 1.200 jährlich beziffert; darunter sind 40 bis 60 Fälle von Gewaltkriminalität; mehr als 70 Prozent der Straftaten entfallen auf Propagandadelikte oder auf Volksverhetzung.38 Auch der parteiförmig organisierte Rechtsextremismus in Thüringen��ist seinem personellen Umfang nach im dreistelligen Bereich zu beziffern. Obwohl die NPD die DVU und die Republikaner organisatorisch weitge38 Thüringer Innenministerium: Verfassungsschutzbericht 2010, Erfurt 2011, S. 40 ff. 39 Vgl. Janine Patz/Torsten Oppelland: Rechtsextreme Parteien: NPD, DVU und »Republikaner«, in: Karl Schmitt/Torsten Oppelland (Hg.): Parteien in Thüringen, a. a. O., S. 433–469.

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hend aufgesaugt hat, ist ihre Mitgliederstärke rückläufig (2007: 550, 2010: 350).40 Thüringen ist das einzige der Länder auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, in dem keine der rechtsextremen Parteien seit 1990 in den Landtag gelangt ist. Das Maximum erreichte die NPD mit 3,7 Prozent bei der Bundestagswahl 2005 und mit 4,3 Prozent bei der Landtagswahl 2009. Schon ein Blick auf die quantitativen Relationen zeigt, dass die einzelnen Erscheinungsformen sich auf unterschiedliche Trägergruppen beziehen. Der Anteil von Personen mit rechtsextremen Einstellungen übertrifft nicht nur die Anteile rechtsextremer Gewalttäter und der Mitglieder rechtsextremer Parteien um ein Vielfaches, sondern auch deren Wählerschaft. Rechtsextreme Einstellungen sind somit wesentlich weiter verbreitet als rechtsextremes Verhalten. Hinzu kommen Unterschiede im Sozialprofil der einzelnen Gruppen. Zwar ist Rechtsextremismus generell ein Unterschichtenphänomen. Gleichwohl unterscheiden sich Angehörige von gewalttätigen Subkulturen und Mitglieder wie Wähler rechtsextremer Parteien von den rechtsextrem Gesinnten in der Bevölkerung insgesamt dadurch, dass sie sich ganz überwiegend aus Männern der jüngeren Generation rekrutieren. Es kann daher nicht überraschen, dass nur ein geringer Teil der rechtsextrem Eingestellten ihre Gesinnung in parteipolitische Aktivitäten umsetzt. Ihre Neigung, zur Wahl zu gehen, ist vergleichsweise gering; nur ein Bruchteil wählt eine rechtsextreme Partei, die weit überwiegende Mehrheit eine der etablierten Bundestagsparteien. Eine Neigung zur Apathie ist auch hinsichtlich der übrigen Formen politischer Beteiligung unverkennbar. Zwar können sich rechtsextrem Eingestellte häufiger als andere Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele vorstellen; vier von fünf unter ihnen lehnen dieses Mittel jedoch ab. Angesichts der überproportionalen Apathie von rechtsextrem Eingestellten ist eine direkte Umsetzung von Gesinnung in Handeln relativ selten. Das hat Konsequenzen für eine realistische Einschätzung des Gefahrenpotenzials, das von ihnen ausgeht: Szenarien einer akuten Bedrohung der demokratischen Institutionen durch rechtsextreme Einstellungen erscheinen unbegründet. Allerdings reicht die Verbreitung der Denkmuster weit über den Einzugsbereich gewaltbereiter Gruppen und die Wählerschaft rechtsextremer Parteien hinaus, zumal immunisierende Sperren wie die Mitgliedschaft in Kirchen oder Gewerkschaften im Unterschied zum Verhalten kaum wirksam sind. Das eigentliche Gefahrenpotential rechtsextremer Einstellungen ist nicht in der direkten Stimulierung von Handeln, sondern in einer latenten, indirek40 Thüringer Innenministerium: Verfassungsschutzbericht 2010, a. a. O., S. 17 f.

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ten Wirkung zu sehen. Zum einen ermutigt ein für sie günstiges Meinungsklima gewaltbereite Täter zu ihren Übergriffen. Zum anderen halten rechtsextreme Einstellungen permanent ein breites Reservoir ideologischer Versatzstücke verfügungsbereit, aus dem sich autoritäre Bewegungen zur Rechtfertigung nach innen und zur Massenmobilisierung nach außen bedienen können. Und schließlich entziehen sie der Gesellschaft wichtige Energien, die diese für ihren Bestand wie für ihre Weiterentwicklung braucht. Rechtsextreme Einstellungen stellen Fehlverarbeitungen von Friktionen und Belastungen dar, die der soziale Wandel moderner Gesellschaften zwangsläufig mit sich bringt. Statt Einzelne und Gruppen durch Konflikt­ austragung zur kreativen Lösung dieser Probleme zu führen, bieten rechtsextreme Weltbilder eine Reduktion der pluralen Wirklichkeit auf FreundFeind-Schemata, die Projektion von Ursachen auf Sündenböcke und die Delegation von Verantwortung an autoritäre Lösungen. Sie ermutigen zur permanenten Verweigerung von Lernleistungen, die ein aktiver Umgang mit der sozialen Umwelt erfordert, lassen letztlich nur die Alternativen Apathie oder irrationale Gewalt zu und blockieren damit die Kräfte, auf die eine lebendige Gesellschaft angewiesen ist. Letztlich lässt sich Rechtsextremismus als Weigerung verstehen, mit den Friktionen und Belastungen sozialen Wandels produktiv umzugehen. Da sozialer Wandel aber ein konstitutives Merkmal moderner Gesellschaften ist, ist Rechtsextremismus als »normale Pathologie«41 solcher Gesellschaften anzusehen. Nimmt man diese Feststellung ernst, so muss die Bekämpfung des Rechtsextremismus darauf abzielen dabei zu helfen, mit den Existenzbedingungen moderner Gesellschaften leben zu lernen. Wenn die Verschiedenheit von Lebensweisen, wenn die Konflikte und Unsicher­heiten nicht beseitigt werden können, dann kommt es darauf an, dass sie nicht als Bedrohung erfahren werden müssen, sondern als Herausforderung angenommen werden können. Die beste Prophylaxe gegen Rechtsextremismus verhindert deshalb das Abgleiten in Apathie und den Griff nach Ersatzlösungen dadurch, dass sie dazu befähigt, sich an sich verändernde Lebensverhältnisse anzupassen. Sie ist daher eine Aufgabe auf Dauer. Was für die Bekämpfung des Rechtsextremismus gilt, gilt in gleicher Weise auch für die Konsolidierung von Demokratie überhaupt. Mit der Etablierung noch so perfekter demokratischer Institutionen ist es nicht getan. Denn jede Generation muss neu lernen, sich dieser Institutionen zu bedienen 41 Erwin K. Scheuch/Hans-Dieter Klingemann: Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 12/1967, S. 11–29, hier S. 15.

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und sie, wenn notwendig, an neue Herausforderungen anzupassen. Die »Mühen der Ebene« (Bert Brecht), in denen die Konsolidierung einer demokratischen politischen Kultur in Thüringen auch mehr als zwanzig Jahre nach der Neugründung des Freistaats steckt, werden also nie enden. Die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur wird somit ein unabgeschlossenes und unabschließbares Kapitel seiner Geschichte bleiben.

Peter März

Zwischen Pizza und Klößen. Die eigenwillige bayerische Staatlichkeit zwischen lateinisch-mediterraner und protestantisch-teutonisch mitteldeutscher Welt

1 Nation, Nationalstaat und Region Nationen und Nationalstaatsbildungen folgen keineswegs vorgegebenen Determinanten, wie es etwa im preußisch-kleindeutschen Geschichtsbild von Heinrich von Treitschke oder Heinrich von Sybel1 mehr oder weniger selbstverständlich angenommen wurde. Nationalstaaten werden politisch gewollt, mitunter sogar nur von tonangebenden Minoritäten wie zuletzt offenkundig im Falle der Slowakei. Nationale Identitäten sind im Regelfall nicht Resultat irgendeiner, kommunikative Inklusion herstellenden Gärung, sondern politische und mit ihnen mediale Elitenprojekte, wie im deutschsprachigen Raum im Falle Österreichs forciert nach 1945. Es gibt auf der heutigen europäischen Landkarte frühere Regionen, die zu Nationalstaaten wurden, wie die Niederlande, souverän seit dem Westfälischen Frieden 1648, es gibt Staatsbildungen, die gewissermaßen in einem größeren Rahmen mediatisiert wurden, wie Schottland im 17. Jahrhundert2, und es gibt schließlich Länder, welche über ganz lange Zeitstrecken einem größeren föderalen oder konföderalen Ganzen angehörten, mehrfach auf dem Sprung zur souveränen Verselbstständigung waren und es dann nicht dorthin brachten – im deutschen Falle sind an erster Stelle Bayern und Sachsen3 zu nennen. Preußen, das im von ihm geschaffenen Nationalstaat weitgehend aufging, bleibt hier ausgeklammert. 1 Heinrich von Sybel: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. vornehmlich nach den preußischen Staatsakten, Nachdruck, Ausgabe Merseburg, Leipzig 1930, 3 Bde.; Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Nachdruck, Leipzig 1927, 5 Bde. 2 Michael Maurer: Geschichte Schottlands, 2. Aufl., Stuttgart 2011, S. 147 ff. 3 Vgl. Siegfried Weichlein: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 2004.

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Bemerkenswert ist ferner die Unbestimmtheit des Begriffes »Region«. Im deutschen Sprachgebrauch ist für Mittelalter und Frühe Neuzeit zunächst vom Territorium oder mit Otto Brunner4 vom Land die Rede – und Länder (nicht »Bundesländer« als subsumierte Größen!) sind noch immer die Entitäten, die das Grundgesetz unterhalb der Gesamtstaatsebene kennt. Der bayerische wie auch der baden-württembergische Fall wirft darüber hinaus ein Spezialproblem auf: Die, wenn man sie so nennen will, Regionen Bayern und Baden-Württemberg beinhalten vielfach fragmentierte Subgrößen, gewissermaßen Subregionen, wobei man im bayerischen Falle mit der platten Zuteilung in Altbayern, Franken und Schwaben noch viel zu grob und undifferenziert verfährt: hinzuzunehmen sind an erster Stelle die konfessionellen Fragmentierungen, dazu viele weitere Bezüge, etwa die klassisch-mitteleuropäische Nähe der Oberpfalz zum mitteleuropäisch-böhmischen Raum.

2 Die politische Topografie des modernen Staatsbayerns Bayern als Gesamtregion präsentiert sich vor allem als etatistische Größe, geformt in den letzten beiden Jahrhunderten. Das bayerische Staatsprogramm profilierte das Land im 19. Jahrhundert gegen die politisch-militärischen Großmächte Preußen und Österreich mittels Kunst und Kultur.5 Die einschlägige Forschung hat gezeigt, dass dieser Eigenweg zumindest noch in den ersten Jahrzehnten des Bismarckreiches ein förmliches Einschmelzen sozusagen unter eine virtuelle deutsche Gesamtpickelhaube erfolgreich verhindert hat, wider alle billigen Klischees. Diese Selbstbehauptung gelang, ganz sicher treten hier auch manche Parallelen zur jüngsten Geschichte auf, mittels einer effektiv eingesetzten Geschichts- und Symbolpolitik wie einer Infrastrukturpolitik, die dafür sorgte, dass die bayerischen Magnetnadeln nicht einfach nur nach Mitteldeutschland oder Berlin ausgerichtet wurden. Wesentliches Stichwort dafür ist die bayerische Eisenbahnpolitik. Sie war mit Erfolg auch nach der Reichsgründung von 1871 bestrebt, das infrastrukturelle und mit ihm politische Eigengewicht Bayerns zu erhalten: Das Netz blieb auf die Hauptstadt München hin orientiert, die so – mittels zeitnaher Zustellung von Tageszeitun­gen von hier in die bayerische »Provinz« – als 4 Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965. 5 Vgl. insbesondere Andreas Kraus: Die Regierungszeit Ludwig I. (1825–1848), in: Alois Schmid (Hg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4: Das Neue Bayern von 1800 bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 2003, S. 129 ff.

Die eigenwillige bayerische Staatlichkeit

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politisch-mediales Zentrum gestärkt wurde. Weiterhin gab es mehr grenzüberschreitende Verbindungen nach Österreich und mit ihm Böhmen als nach Norden, und vor allem stellte die Verstaatlichung der bayerischen Eisenbahnen in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Münchner Politik sicher, dass sie nicht doch in die Obhut des neu gegründeten Reiches gerieten. Zugleich aber muss man die geostrategischen bzw. topografischen Voraussetzungen sehen: Bayern ist im Lauf der Jahrhunderte gewissermaßen geografisch gewandert, verkürzt gesagt vom südlichen Europa in den deutschen Kernraum.6 Es grenzt nicht mehr, wie im frühen Mittelalter, an die Adria und an die ungarische Tiefebene und wie zeitweise in der Napoleonischen Ära an den Gardasee, sondern es ist vielmehr seit der deutschen und europäischen territorialen Flurbereinigung des Wiener Kongresses Anrainer der klassisch-mitteldeutschen Regionen, mit dem Beitritt des Landesteiles Coburg nach dem Ersten Weltkrieg sogar unmittelbar nach Thüringen hineinreichend – und es grenzt im westlichen Unterfranken an einen ökonomischen Zentralraum des heutigen Deutschlands, an den Rhein-Main-Ballungsraum. Bayern ist damit in seiner politischen Topografie, was die medial so gern transportierten alpinen Klischees vielfach verdecken, vor allem auch ein Land in Richtung der deutschen Mitte.

3 Mitteldeutschland als deutsche Zentralregion zwischen dem Süden und Niederdeutschland Sprechen wir heute von Mitteldeutschland7 als einer spezifischen, länder­ übergreifenden Kulturregion, dann subsumiert der Begriff die drei Länder bzw. Freistaaten Sachsen, Sachen-Anhalt und Thüringen. »Mitteldeutschland« ist, zumal von polnischer Seite, über längere Zeit als ein sehr prekärer Begriff gesehen worden: Ihm eigne ein revisionistischer Anspruch, was die 6 Vgl. Peter März: Bayern im Gesamtstaat. Unsystematische Überlegungen zu einer alten Beziehung, in: Andreas Dornheim/Sylvia Greiffenhagen (Hg.): Identität und politische Kultur, Stuttgart 2003, S. 213–230, insb. S. 218: »Gerade der Zusammenbruch des napoleonischen Frankreichs 1814 und 1815 hatte nun allerdings förmlich eine Achsendrehung für die politische Geographie Bayerns zur Folge […]. Mit den Gewinnen im heutigen Unterfranken und vor allem mit der linksrheinischen Pfalz 1816 […] verstärkte sich […] seine mittel- und westdeutsche Position.« 7 Vgl. Michael Richter/Thomas Schaarschmidt/Mike Schmeitzner (Hg.): Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Landeszentrale für politische Bildung Sachsen, Dresden 2007.

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früheren deutschen Territorien östlich der Oder-Neiße-Linie betrifft. Denn nach solchem Verständnis seien dann sie das – verloren gegangene, aber irgendwie doch noch nicht wirklich aufgegebene – Ostdeutschland. Diese Kontroverse, viel Staub hat sie ohnehin nie aufgewirbelt, gibt es nicht mehr. Mitteldeutschland bezeichnet heute etwas ganz anderes als in den 1950er und 1960er Jahren, als klassische Annahmen noch von einem als dreigeteilt anzusehenden Deutschland ausgingen, etwa nach der seinerzeitigen Lesart des »Kuratoriums Unteilbares Deutschland«. Mitteldeutschland ist vielmehr ein spezifischer Kulturraum, weder – um es zunächst sehr vergröbert zu sagen – süddeutsch-katholisch noch ostelbisch-niederdeutsch. Es ist ein Raum mit großen dynastischen Traditionen, wobei dem Haus Wettin8 die zentrale Bedeutung zukommt, in vielem eine kleinteilige Mittelgebirgslandschaft, weithin geprägt durch eine sehr protestantische Ernsthaftigkeit, durch große ökonomische Innovationskraft mit vielfachen Pionierrollen im Prozess der industriellen Revolution, vielfach schon zuvor durch ein hoch entwickeltes Manufakturwesen. Zentralort deutscher Geschichte ist Mitteldeutschland als die Heimatregion der Reformation wie der deutschen Klassik. Und im Sinne historisch-politischer Topografie auf deutschem Boden ließe sich ganz einfach hinzufügen: Mitteldeutschland ist die Region zwischen Süddeutschland und Preußen.

4 Sachsen als Referenzgröße Die eigentliche mitteldeutsche Referenzgröße für Bayern ist Sachsen, nicht Thüringen. Beide waren – und sind – geschlossene Staaten mittlerer Größe, von vergleichbarer quantitativer Dimension zumindest bis zum Wiener Kongress und bis zur damaligen Halbierung Sachsens zum Vorteil der preußischen Monarchie. Beide sind über viele Jahrhunderte geprägt durch eine Dynastie, Bayern durch das Haus Wittelsbach, Sachsen durch das Haus Wettin, die jeweils einen europäischen Macht- und Mitgestaltungsanspruch verfocht, dabei die Potenzen ihres Landes teilweise weit überbeanspruchte und mit ihrer überspannten Intention scheiterte: Bayern unter Kurfürst Max Emanuel im Spanischen Erbfolgekrieg, als es europäische Großmacht werden wollte, Sachsen in der Zeit seiner Personalunion mit Polen von 1697 bis 1763, die den Wettinern zumindest schon einmal auf dem Weg über Polen 8 Vgl. für die dominante, in Dresden regierende Linie der »Albertiner«, daneben die Linien der »Ernestiner« in Thüringen, Frank-Lothar Kroll (Hg.): Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2004.

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einen Königstitel eintrug.9 Beide spielten im Deutschen Bund von 1815 bis 1866 führende Rollen im so genannten Dritten Deutschland zwischen den Großmächten Österreich und Preußen, rivalisierten dabei, wobei Sachsen in den letzten Jahren dieses Staatenbundes mit seinem Außenminister Graf Beust10, dem konzeptionell wohl bedeutendsten Gegenspieler Bismarcks, gewiss über die größere staatsmännische Kapazität verfügte. Beiden gelang es mit spezifischen Anstrengungen im Bereich von Bildungs-, Infrastruktursowie historischer Symbolpolitik in der Zeit des Kaiserreiches, Status und Identität in beachtlichem Maße zu wahren, und beide knüpften in gewisser Weise in der Nachkriegszeit an eine derartige »Sonderrolle« wieder an, wenn auch deutlich phasenverschoben: Bayern durch seine ökonomische Modernisierung, durch die förmlich übermächtige Präsenz seiner – damaligen – Hegemonialpartei CSU und durch die politische Kontrastierung der CSU-Kabinette in München mit der sozialliberalen Regierung in Bonn unter den Ministerpräsidenten Goppel und Strauß, insgesamt von 1962 bis 1988.11 Sachsen als politisches Land gab es erst wieder mit der deutschen Wiedervereinigung von 199012, aber diese wurde in Sachsen vor allem auch als Wiedergeburt des eigenen Staates gesehen; insofern kommt ihm unter den so genann9 Vgl. Jochen Vötsch: Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u. a. 2003; siehe auch Peter März: Territorien, Nation, Föderation, Europa. Plädoyer für Ergänzungen zu einer deutschen Gesamtgeschichte, in: Günther Heydemann/Eckhard Jesse (Hg.): 15 Jahre deutsche Einheit. Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen, Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Band 89, Berlin 2006, S. 19–67, hier S. 25: »Sachsen und Bayern sind wohl jene beiden Territorien, deren Dynastien sich immer wieder durch Ambitionen für eine Großmachtbildung bestimmen ließen, es am Ende gegenüber Brandenburg-Preußen jedoch nicht schafften.« 10 Vgl. Jonas Flöter: Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850–1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Köln/Weimar/Wien 2001. 11 Vgl. Karl-Ulrich Gelberg: Vom Kriegsende bis zum Ausgang der Ära Goppel (1945–1978) sowie Ausblick, in: Alois Schmid (Hg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4, a. a. O., S. 857 ff. 12 Vgl. Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hg.): Die politische »Wende« 1989/90 in Sachsen, Köln/Weimar/Wien 1995; vgl. Helmut Kohl: Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 1020, zu seinem spektakulären Besuch am 19. Dezember 1989 in Dresden mit dem Tenor »Bundesland Sachsen grüßt den Kanzler«; ferner Kurt H. Biedenkopf: 1989–1990. Ein deutsches Tagebuch, Berlin 2000, S. 318, zu seiner Nominierung als Spitzenkandidat der sächsischen CDU für die erste freie Landtagswahl: »Den größten Beifall erhielt ich für mein Versprechen, dafür zu sorgen, dass Sachsen wieder der Freistaat Sachsen werde.«

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ten neuen Ländern zweifellos eine politisch-identitäre Sonderrolle zu, wortmächtig ausgeformt in der Regierungszeit von Ministerpräsident »König« Kurt Biedenkopf, die unmittelbar ab 1990 stilbildend wirkte.

5 Bayern und Thüringen Bayern und Thüringen hingegen unterscheiden sich schon deutlich nach der Entwicklung ihrer politischen Strukturierung: Bayern, der große, geschlossene Zentralkörper im deutschen Süden seit dem Wiener Kongress von 1814/15, Thüringen, ein Kulturraum aus mehr als einem halben Dutzend Herzog- bzw. Großherzogtümern wie Fürstentümern, die miteinander vor allem um kulturelle Geltung wetteiferten, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Weimar und Meiningen.13 Analog auf Bayern übertragen, hätte dies quasi bedeutet, dass es hier – weiterhin – eine Vielzahl von – katholischen und evangelischen – Fürstentümern gegeben hätte, wie bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Hochstifte in Bamberg und Würzburg, wie die weltlichen Residenzen in Ansbach und Bayreuth, ferner eine so große Stadtrepublik wie die Freie Reichsstadt Nürnberg. Dies alles, von unzähligen kleineren Herrschaften ganz abgesehen, war der Flurbereinigung des napoleonischen Zeitalters zum Opfer gefallen. Auch mit dem Entstehen des thüringischen Freistaates nach dem Ersten Weltkrieg blieben deutliche strukturelle Divergenzen erhalten: Thüringen grenzte weiterhin – und grenzt – an bayerische Landesteile, die zwar mundartlich durchaus verwandt, aber in großen Teilen katholisch, nicht evangelisch geprägt sind. In der Zwischenkriegszeit hatte sich in Bayern nach den Wirren im Land bis zum Hitlerputsch vom 9. November 1923 schließlich eine stabile Regierungsstruktur etabliert, bei der die katholische Sammlungspartei BVP (Bayerische Volkspartei) in einer hegemonialen Position stand, abgelöst erst durch einen aus Berlin orchestrierten nationalsozialistischen Staatsstreich im Land am 9. März 1933. In Thüringen war ein scharfer Antagonismus über die ganze Zeit der Weimarer Republik bestimmend, wobei zunächst das linke »Lager« aus SPD und USPD tonangebend war, danach ein sehr akzentuiert

13 Zu Meiningen und seiner dynastisch geförderten Theaterpolitik Alfred Erck/ Hannelore Schneider: Georg II. von Sachsen-Meiningen. Ein Leben zwischen ererbter Macht und künstlerischer Freiheit, 2. Aufl., Zella-Mehlis/Meiningen 1999.

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illiberal-rechtes mit der ersten Regierungsbeteiligung der NSDAP auf deutschem Boden, bereits im Jahre 1930.14 Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und der sich stetig verfestigenden deutschen Teilung war die Ausprägung einer spezifisch bayerischthüringischen Quasi-Familiengeschichte schon grundsätzlich kaum möglich. Hinzu kam indes, dass Thüringen im Rahmen der marxistisch-leninistischen Unitarisierung auf dem Boden der DDR als Land 1952 beseitigt wurde. Und in den grenznahen Bereichen zu Bayern dominierte offenkundig ein besonders militant-aggressiver Sozialismus, wie etwa im Bezirk Suhl. Erst die Beseitigung der Teilung Deutschlands 1989/90 bot die Chance, in Politik, Wirtschaft und Kultur ein neues bayerisch-thüringisches Nahverhältnis herzustellen. Dabei hatte Bayern gewichtige Wettbewerber auf westdeutschem Boden, zumal das Land Hessen. Beide, Thüringen und Hessen, definieren sich in besonderer historischer Nähe, wobei sich hier auch die »revolutionären« Übergangszeiten von 1989/90 auswirken15: Die damalige hessische CDU unter ihrem Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Walter Wallmann war auf die sich in Thüringen seit September 1989 neu formierenden parteipolitischen Emanzipationen vom Vormund SED wie die sich dann anbahnenden strukturellen Wandlungen besonders initiativ und offen zugegangen, hatte auch, anders als Teile der Bundes-CDU, der sich aus den Block-Zwängen lösenden CDU auf thüringischem Boden überdurchschnittlich viel Vertrauen entgegengebracht. Dieser Input wirkte gewissermaßen »über den Tag 14 Zu Bayern vgl. Heinz Hürten: Revolution und Zeit der Weimarer Republik, in: Alois Schmid (Hg.): Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4, a. a. O., S. 440–499, darin insb. Bayern unter Heinrich Held (1924–1933), hier S. 489 ff. Nach dem Entstehen der NSDAP im Land und dem Hitlerputsch vom 9. November 1923 in München gelang es insbesondere der harten Repressionspolitik von Innenminister Karl Stützel (BVP), den Aufstieg der Partei nach ihrer Wiedergründung 1925 in Bayern bemerkenswert einzugrenzen, mit Ausnahme der traditionell deutschnational orientierten evangelischen Gebiete in Franken. Ganz anders in Thüringen: Hier kam es 1924 zum Machtwechsel von links nach rechts, 1926 in Weimar zum ersten Reichsparteitag der NSDAP, im Januar 1930 zur ersten NSDAP-Regierungsbeteiligung in Deutschland mit Wilhelm Frick als Innen- und Kultusminister und nach den Landtagswahlen vom 31. Juli 1932 zur Bildung eines reinen NSDAP-Kabinetts unter Gauleiter Fritz Sauckel. Vgl. die teils dramatischen Schilderungen bei Manfred Overesch: Hermann Brill in Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Ulbricht und Hitler, Bonn 1992. 15 Vgl. Andreas Dornheim/Stefan Schnitzler (Hg.): Thüringen 1989/90. Akteu­re des Umbruchs berichten, Erfurt 1995; ferner Michael Richter/Martin Rißmann (Hg.): Die Ost-CDU. Beiträge zu ihrer Entstehung und Entwicklung, Köln/Weimar/ Wien 1995.

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hinaus« im Sinn einer »special relationship« beiderseits der Werra. Bayern und Thüringen – das erscheint heute und vor allem perspektivisch als eine deutsche Normalkonstellation, wo Süden und Mitte ineinander übergehen und bei der der nördliche Partner in manchem vielleicht sogar daran ist, um hier einmal Walter Ulbricht zu bemühen, zu überholen ohne einzuholen, denkt man nur an die wissenschaftlich-technische Leuchtturmfunktion, die mittlerweile Jena mit seiner Universität gewonnen hat. Doch zurück zum Fokus auf Bayern.

6 Die bayerischen Spezifika: Modernisierung und parteipolitische Sondersituation Zwei Konstanten scheinen die Region Bayern über das 19. wie über das 20. Jahrhundert hinweg zu kennzeichnen: einmal die Modernisierungskonstante, entschieden forciert von einer kompetenten und entschlossenen Bürokratie, die vor allem im 19. Jahrhundert vielfach im Kontrast insbesondere zu den altbayerischen katholisch-konservativen Milieus im Lande stand. Im Zusammenhang damit steht zum Zweiten die Ausprägung einer (partei-)politischen Sondersituation, mindestens von 1868 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reichend: Die Rede ist von einer bemerkenswerten Kontinuität seit den damaligen Wahlen zum Zollparlament, dem Vorläufer des Reichstages, die die neu gegründete, konfessionell katholische Bayerische Patriotenpartei mit bäuerlichen und kleinbürgerlichen wie katholisch-aristokratischen, gerade auch fränkischen Wurzeln (u. a. die Familien Franckenstein und Guttenberg)16 gegen die nationalliberalen Modernisierer in München und vor allem in Berlin spektakulär gewann. Abgesehen von der für die CSU kennzeichnenden wie unabdingbaren Entwicklung zur christlich-interkonfessionellen Volkspartei, die weithin erst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts gelang, ist damit, was die parteipolitische Kontrastierung zwischen Bayern und dem Gesamtstaat anbelangt, eine bemerkenswerte Konstante beschrieben. Bayern war als Region nach dem Zweiten Weltkrieg in vielerlei Hinsicht Nutznießer der Entwicklung im Allgemeinen wie durch den Kalten Krieg im Besonderen. Bayern profitierte von der Verlagerung von Konzernen, auch 16 Zur Herausbildung dieses parteipolitisch geformten, zunächst ganz katholischen, populistisch-volksparteilichen Milieus gegen »Berlin« im Kontext der Reichsgründung die Biographie Karl Otmar von Aretins: Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart 2003; in wenigstens mittelbarer Kontinuität zur 1868 – Wahlen zum Zollparlament – entstandenen »Patriotenpartei«, später Bayerisches Zentrum, steht die CSU bis heute.

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und gerade von deren Hauptquartieren, dank der Vertreibung durch den real existierenden Sozialismus über den Eisernen Vorhang. An erster Stelle ist hier der Weltkonzern Siemens zu nennen, der nach Erlangen und München ging. Hier manifestiert sich zugleich ein wesentlicher Unterschied zu den Regionen unter dem Diktat des Staatssozialismus bis 1989/90: Die Konzernzentralen der großen Unternehmungen nahmen verstärkt ihren Sitz in West- und Süddeutschland ein – und diese Entwicklung lässt sich bis heute und wohl auf absehbare Zeit, auch unter Einschluss Berlins, nicht rückgängig machen. Bayern profitierte in der weiteren Folge von der Verlagerung politischer und ökonomischer Gravitationsfelder innerhalb der alten Bundesrepublik. Das politische und ökonomische Kernland der alten Bundesrepublik war Nordrhein-Westfalen. Parallel zur Schwächung von Bergbau, Eisen- und Stahlproduktion an Rhein und Ruhr17 erfolgte auch eine Verlagerung der politischen Schwergewichte. Sie wurde insbesondere für die Unionsparteien signifikant, als sich als dritter Bundeskanzler in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit geschlossener bayerischer Unterstützung der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt-Georg Kiesinger gegen seine nordrhein-westfälischen Wettbewerber Gerhard Schröder und Rainer Barzel durchsetzte, wenige Tage vor Bildung der ersten Großen Koalition 1966.18 Die bayerische Prosperität beruhte in der späteren ökonomischen Rekonstruktionsphase der alten Bundesrepublik wesentlich auf Schwerpunktsetzungen im Konsumgüter- und Freizeitbereich19, von Automobilen über Tonbandgeräte bis zu Sportschuhen. Hinzu kamen etatistische Leistungen der klassischen bayerischen Administration, die die Voraussetzungen in Infrastruktur und Wissenschaft schufen. Hinzu kam ferner, auf der parteipolitischen Ebene, der Umbau der CSU zur wirklich breit angelegten Integrations­ partei. Erst ab Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre gelang ihr der Schritt zur Andockung bzw. Integration bisheriger nationalliberaler, evangelischer und ursprünglich deutschnatio­naler Milieus. Des Weiteren avancierte sie auch zur führenden Arbeitnehmerpartei im Lande.20 Damit waren wesent17 Siehe Dieter Düding: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946–1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008, darin insbesondere die »Wendewahl« 1966, S. 507 ff. 18 Die Abläufe bei Philipp Gassert: Kurt Georg Kiesinger 1904–1988, München 2006, S. 493: »Den Ausschlag gab […] Strauß.« 19 Vgl. Dirk Götschmann: Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhun­dert, Regensburg 2010, S. 420 ff. 20 Siehe dazu – aus Eigensicht – Hanns-Seidel-Stiftung (Hg.): Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU 1945–1995, München 1995, insb. die Beiträge von Wolfgang Krieger: Franz Josef Strauß und die zweite Epoche in der Geschichte

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liche Voraussetzungen für ihre fortan nun über Jahrzehnte währende Hegemonialposition geschaffen, symbolhaft zum Ausdruck gebracht in der Aneignung bayerischer Heraldik wie der weiß-blauen Farben – und dies galt für alle Landesteile, auch für das herkömmlich rot-weiße Franken. Die CSU profitierte weiter von der Struktur der klassischen bayerischen Protestsituation, nun gegen die sozialliberale Koalition von 1969 bis 1982, gewissermaßen in der Kontinuität des antipreußischen Protests von 1868.

7 Die bayerische Gegenwart nach der deutschen und europäischen Revolution von 1989/90 Eine aktuelle Bestandsaufnahme wird zu dem Resultat führen, dass für Veränderungen der Position Bayerns als spezifische deutsche und europäische Region weniger die Zäsur der deutschen und europäischen Wiedervereinigung von 1989/90 Bedeutung hat: ob zwölf Millionen Bayern unter 60 Millionen Bundesdeutschen oder unter 80 Millionen Deutschen – das ist nachrangig. Veränderungen und Amalgamierungen gehen vielmehr vor allem von längerfristigen strukturellen Prozessen aus, einige davon seien abschließend thesenhaft hervorgehoben: – die Stärke der – auch innerdeutschen – Migration nach Bayern, die beachtlich zum Abschmelzen der CSU-Hegemonie21 beigetragen hat und möglicherweise weiterhin beiträgt, – in Verbindung damit die Frage nach der Perpetuierung der parteipolitischen Sondersituation Bayerns, – die Mediatisierung des politischen Systems des Landes trotz mancherlei grundgesetzlicher Föderalismusreformen, insbesondere durch das immer weitergehende Anziehen der Schraube der europäischen Integration, – gravierende strukturelle Divergenzen unter den deutschen Ländern, die ebenfalls bislang politisch eher mit Nivellierungs- als mit Wettbewerbsstrategien beantwortet werden, bis hinein in die Bildungspolitik, der CSU, S. 163–193, Alf Mintzel: Bayern und die CSU – Regionale politische Traditionen und Aufstieg zur dominierenden Kraft, S. 195–252, und Heinrich Oberreuter: Konkurrierende Kooperation – Die CSU in der Bundespolitik, S. 319–332. 21 ��������������������������������������������������������������������������� Vgl. zur Situation der CSU in Bayern nach der für sie desaströsen Landtagswahl 2008 – und den Perspektiven – Gerhard Hopp/Martin Sebaldt/Benjamin Zeitler (Hg.): Die CSU. Strukturwandel, Modernisierung und Herausforderungen einer Volkspartei, Wiesbaden 2010.

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– die Wiederentdeckung Mitteleuropas als einer Bezugsebene bayerischer Politik, die ein Stück mehr Autonomie von der »Berliner Republik« zeitigen könnte. Ausgangspunkt dieser letzten Überlegung ist das sich deutlich verbessernde bayerisch-tschechische und damit bayerisch-böhmische Verhältnis. Wenn es gelingt – und Tendenzen in diese Richtung verdichten sich –, die bisherigen Barrieren zwischen Bayern und der Tschechischen Republik, die wesentlich auf die Vertriebenenproblematik zurückgehen, gewissermaßen positiv in ein Ferment gemeinsamer kultureller Identitätsbezüge umzufunktionieren, dann gewänne Bayern an dieser Stelle ein beachtliches Stück Spielraum auch außerhalb des Rahmens des heutigen deutschen Bundesstaates, und das läge in der Kontinuität seines auch europäischen Anspruches.

Matthias Machnig

Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost«

Die Thüringer Wirtschaft kann auf ein erfolgreiches Jahr zurückblicken: 2011 verzeichnete sie ein reales Wachstum von 3,4 Prozent, übertraf damit den bundesweiten Durchschnitt von 3,0 Prozent und ließ mit Bayern oder Nordrhein-Westfalen so manches wirtschaftliches Schwergewicht unter den Bundesländern hinter sich. Erfreulich verlief auch die Umsatzentwicklung in der Thüringer Industrie, die im ersten Quartal 2012 um 5,9 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum und somit stärker als im Bundesdurchschnitt zunahm. Die Zahl der Arbeitslosen schließlich hat zur Jahresmitte 2012 die 100.000er-Marke unterschritten. Die Attraktivität des Standorts Thüringen unterstreichen auch und insbesondere eine Reihe aktueller Standortentscheidungen, Unternehmensansiedlungen und Kapazitätsausweitungen. Um nur einige zu nennen: – Kapazitätsausweitungen beim Motorenhersteller MDC Power in Kölleda oder dem Turboladerspezialisten IHI Charging Systems in Ichtershausen; – Neuansiedelung eines Batterie-Kompetenzzentrums der Robert Bosch GmbH in Eisenach; – Ansiedlung des Buchgroßhändlers Koch, Neff & Volckmar in Erfurt; – Ansiedlung mehrerer Logistikniederlassungen in Erfurt, darunter z. B. der Saturn-Media-Holding, die in Thüringen ihre gesamte europäische OnlineLogistik konzentrieren wird, und des Mode-Versandhändlers Zalando; – schließlich, aber nicht zuletzt: Produktionsausbau des Solarunternehmens Masdar am Erfurter Kreuz und Neubau eines Solarparks bei Gotha. Flankiert werden die Erfolge der Thüringer Unternehmenslandschaft dabei von einer aktiven Wirtschaftsförderung. Durch Maßnahmen insbesondere im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« (GRW) konnten Investitionen in Höhe von über 1,4 Mrd. Euro angeschoben und rund 4.000 Arbeitsplätze neu geschaffen werden.

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20 Jahre Aufholprozess Diese beachtliche Bilanz reiht sich ein in die Thüringer Erfolgsgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte, die von der jüngsten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 lediglich vorübergehend unterbrochen wurde. Thüringen steht mittlerweile bei vielen Kennziffern im Vergleich der ostdeutschen Länder an der Spitze und überholt in einigen Bereichen, wie der Zahl der Industriebeschäftigten je 1.000 Einwohner, auch westdeutsche Länder. Besonders hervorzuheben sind die folgenden positiven Entwicklungen: – In Thüringen ist der Reindustrialisierungsprozess ausgesprochen erfolgreich verlaufen. Der Wertschöpfungsanteil des verarbeitenden Gewerbes liegt seit 2008 über dem Bundesdurchschnitt. Aktuell beläuft er sich auf 22,2 Prozent gegenüber 20,7 Prozent bundesweit. – Thüringer Produkte sind wieder weltweit gefragt. Zuletzt 33,3 Prozent der Industrieumsätze werden im Ausland erwirtschaftet. Das ist noch deutlich weniger als im Bundesschnitt (46,4 Prozent), aber angesichts des Zusammenbruchs der Außenwirtschaftsbeziehungen Anfang der 1990er Jahre beachtlich. – Die Arbeitslosenquote liegt im Mai 2012 bei 8,5 Prozent. Das ist der niedrigste Wert unter den ostdeutschen Bundesländern. Mehr noch: Thüringen liegt in dieser Hinsicht in etwa gleichauf mit Nordrhein-Westfalen. In einigen Thüringer Kreisen – so im Kreis Sonneberg (4,7 Prozent) oder im Kreis Hildburghausen (5,8 Prozent) – herrscht inzwischen annähernd Vollbeschäftigung.

Rückblick: Schwierige Ausgangsbedingungen Die Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte lassen sich nur vor dem Hintergrund erheblicher Altlasten angemessen bewerten: Die DDR war 1989 nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende. Ein Blick zurück erinnert an: – veraltete Betriebsstätten, in die über Jahre nur das Notwendigste zur Aufrechterhaltung der Produktion investiert worden war, – eine häufig kaum mehr funktionsfähige öffentliche Infrastruktur, – der teilweise erschreckende bauliche Zustand der Städte, – erhebliche Umweltverschmutzungen.

Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost

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Diese Liste ließe sich verlängern. Unter dem Strich stand eine im Vergleich zu Westdeutschland und dem Rest der Welt deutlich geringere Wettbewerbsfähigkeit. Die Arbeitsproduktivität der ostdeutschen Betriebe lag damals bei allenfalls 30 Prozent des westdeutschen Niveaus. Entsprechend einschneidend waren die Auswirkungen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, mit der am 1. Juli 1990 die D-Mark in der DDR eingeführt und das Rechts- und Sozialsystem der Bundesrepublik übertragen wurde. Im Rahmen der Währungsunion wurden Löhne, Gehälter und Renten im Verhältnis 1:1 umgestellt. Bei bestehenden Guthaben, Forderungen und Verbindlichkeiten erfolgte die Umstellung überwiegend zum Kurs von 2:1. Vor dem Hintergrund des Produktivitätsgefälles wäre aus ökonomischer Sicht ein Umrechnungskurs von etwa 4,40 DDR-Mark für eine D-Mark angemessen gewesen. Die Währungsunion führte daher zu einer drastischen realen Aufwertung in Ostdeutschland. Da der Handel mit den Partnern aus dem ursprünglichen RGW-Raum von Transferrubel auf frei konvertierbare Währungen umgestellt wurde, wurden ostdeutsche Produkte auf den angestammten Exportmärkten nahezu unverkäuflich. Der ohnehin marode Kapitalstock der DDR-Industrie wurde praktisch über Nacht entwertet. In der Folge ging die Industrieproduktion bis zum Ende des Jahres 1991 auf etwa ein Drittel des Niveaus von 1989 zurück, das Bruttoinlandsprodukt sank um etwa 35 Prozent. Bei der Zahl der Arbeitsplätze ergab sich ein Rückgang von 9,5 auf unter 5 Millionen.

Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost« Heute ist Thüringen auf gutem Weg, an seine Tradition als leistungsstarker Industriestandort in der Mitte Deutschlands und Europas anzuknüpfen. Hierfür stehen moderne Produktionsanlagen, gut ausgebaute Verkehrsverbindungen, leistungsfähige Hochschulen und Forschungseinrichtungen, attraktive Städte und Gemeinden mit hoher Wohnqualität. Nach 20 Jahren Aufbau Ost gibt es in den neuen Bundesländern eine moderne Infrastruktur und Bausubstanz, vielerorts eine leistungsfähige Unternehmenslandschaft in der Breite und bemerkenswerte Erfolgsgeschichten in der Spitze. Viele haben dazu beigetragen: in- und ausländische Unternehmen, die Wirtschaftspolitik, die große gesamtdeutsche Solidarität – vor allem aber das beeindruckende Engagement der Thüringerinnen und Thüringer selbst. Dennoch: Nach einem anfangs sehr raschen Aufholprozess stagniert die wirtschaftliche Angleichung mit den alten Bundesländern seit geraumer Zeit. Im Jahr 2010 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner immer noch

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lediglich 68,8 Prozent des Westniveaus. Der traditionelle Aufbau Ost mit seinen bisherigen Ansatzpunkten hat sich als wirtschaftlicher Impulsgeber für die Region offensichtlich bis zu einem gewissen Grad erschöpft. Gleichzeitig ist augenfällig, dass es eine Reihe von Problemregionen in Westdeutschland gibt, denen es in wichtigen Wohlstandsdimensionen nicht besser geht als dem Durchschnitt Ostdeutschlands. Insgesamt zeigt sich, dass die pauschalen Kategorien Ost und West längst nicht mehr aussagekräftig sind. Zwei Jahrzehnte Aufbau Ost haben zu einer Herausbildung deutlicher Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur zwischen den ostdeutschen Ländern geführt. Dadurch ändern sich auch die wirtschaftspolitischen Herausforderungen: An den Aufbau Ost muss sich ein »Ausbau Ost« anschließen, der diese Ausdifferenzierung und die damit verbundenen unterschiedlichen Problem- und Interessenlagen der einzelnen Länder in den Blick nimmt und größere Spielräume für die Entwicklung auf die jeweilige Situation zugeschnittener Strategien vorsieht.

Zukünftige Handlungsfelder Der Ausbau Ost muss sich auf zwei wesentliche Handlungsfelder richten. Das erste Handlungsfeld bilden Herausforderungen, die grundsätzlich für strukturschwache Regionen in ganz Deutschland relevant sind, aufgrund der Konzentration von Regionen mit Strukturproblemen Ostdeutschland aber in besonderer Weise betreffen. Zu nennen sind hier vor allem: – Der demographische Umbruch: In Thüringen etwa hat sich die Zahl der Schulabgänger seit 2003 halbiert, und das Erwerbspersonenpotenzial wird bis 2030 um bis zu ein Drittel zurückgehen. Diese Entwicklung wird verstärkt durch die Abwanderung vor allem junger, gut qualifizierter Menschen: 2011 stand durchschnittlich per Saldo ein Verlust von 16 Menschen pro Tag zu Buche. Insgesamt ist Thüringens Bevölkerung seit dem Jahr 2000 um 8,7 Prozent geschrumpft. – Die Lohnentwicklung: Auch und insbesondere vor dem Hintergrund der demographischen Verschiebungen müssen Löhne und Gehälter steigen. Thüringen muss attraktiver für Fachkräfte von außen werden, damit unsere Wirtschaft ihren Fachkräftebedarf in den nächsten Jahren decken kann. – Die Arbeitslosigkeit: Wurde die Entwicklung am Arbeitsmarkt zuvor grundsätzlich positiv bewertet, so besteht dennoch weiterhin Raum für Verbesserungen. Demnach lag die Arbeitslosigkeit im Mai 2012 in Ostdeutschland bei 10,6, im Bundesdurchschnitt hingegen bei 6,7, und in

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Westdeutschland sogar nur bei 5,7 Prozent. Auch Thüringens Arbeitslosenquote liegt aktuell noch um die Hälfte über letzterem Wert. Das zweite Handlungsfeld ist eine gezielte Förderung durch die Wirtschaftspolitik, um auf Grundlage der erreichten soliden Basis selbsttragende und spezifische Wachstumskerne zu schaffen und zu sichern, die eine reale Chance haben, sich im Wettbewerb der Erfolgsregionen zu behaupten. Insbesondere gilt demnach: – Thüringens Unternehmen müssen wachsen. Die Wirtschaft ist in besonderer Weise durch kleine und mittlere Betriebe geprägt. Der Umsatzanteil von KMU liegt in Thüringen bei 76 Prozent und damit mehr als doppelt so hoch wie im gesamtdeutschen Durchschnitt (Ostdeutschland: 59 Prozent). Das hat Vorzüge wie eine große Flexibilität und schnelle Reaktion auf Marktbewegungen, bringt aber auch strukturbedingte Nachteile mit sich: Zu ihnen gehören tendenziell niedrigere Forschungsintensität, Probleme bei der Erschließung neuer Märkte und bei der Gewinnung von Fachkräften sowie häufig eine geringe Eigenkapitalausstattung. – Die Innovationskraft der Wirtschaft ist noch zu gering. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Ausgaben der privaten Unternehmen für Forschung und Entwicklung fällt – auch bedingt durch die geringe Unternehmensgröße – mit 0,9 Prozent nur halb so hoch aus wie im Durchschnitt der westdeutschen Länder. Dieses Defizit geht Hand in Hand mit fehlender Exzellenz und unterkritischer Masse in der ostdeutschen Hochschullandschaft und bei den außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Neben diesen bekannten Strukturproblemen der ostdeutschen Wirtschaft ist nicht zuletzt auch einer Reihe neuer Fragestellungen nachzugehen: – Wie etwa ist der überdurchschnittlich starke Rückstand der ostdeutschen Städte gegenüber vergleichbaren westdeutschen Städten zu erklären? Welche Konsequenzen sollten beim Ausbau der Forschungslandschaft, bei der Infrastrukturförderung und bei der Entwicklung des Nahverkehrs in der Wohnungs- und Städtebauförderung gezogen werden, um die Thüringer Wachstumskerne zu stärken? – Welche Instrumente sind in den zuvor genannten Bereichen denkbar, um das Zusammenwachsen der Thüringer Agglomerationen – etwa im Rahmen der Impulsregion Erfurt-Weimar-Jena – zu fördern? Inwieweit lassen sich aus unterschiedlichen historisch gewachsenen Verdichtungsprozessen (z. B. des Großraums München mit einer starken Konzentration im Zent-

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Matthias Machnig

rum und des eher dezentral strukturierten Großraums Stuttgart) Handlungsempfehlungen für Thüringen ableiten? – Welche Instrumente sind geeignet, um nach dem Auslaufen des Solidarpaktes II deutschlandweit einen Ausgleich für strukturschwache, besonders von Alterung der Bevölkerung, Abwanderung und Altersarmut betroffene Regionen zu erreichen? Welche Ansatzpunkte ergeben sich diesbezüglich beispielsweise im Länderfinanzausgleich? – Und schließlich: Welcher Weiterentwicklungs- und Anpassungsbedarf besteht angesichts der skizzierten Zielsetzungen des Ausbaus Ost bei der Ausgestaltung der Instrumente sowie bei den Schwerpunktsetzungen der Wirtschaftsförderung?

Trendatlas 2020 Sowohl hinsichtlich der Problemanalyse als auch der konkreten Umsetzung von Handlungsempfehlungen bleibt noch allerhand zu tun: Gefragt ist an dieser Stelle eine aktiv ausgerichtete Wirtschaftspolitik. Es ist zwar richtig, dass sich wirtschaftliche Spezialisierungen im Wettbewerb am Markt herausbilden müssen. Richtig ist aber auch, dass auf individuelle Gewinnmaximierung ausgerichtete Märkte kurzsichtig sind. Längerfristige Erfordernisse, etwa des Klimawandels oder ein über den betrieblichen Vorteil hinausgehender gesellschaftlicher Nutzen, bilden sich in den einzelwirtschaftlichen Kalkülen der Unternehmen nicht ab. Nicht alles, was aus gesellschaftlicher Perspektive sinnvoll ist, lässt sich rein privatwirtschaftlich erreichen. Hier muss der Staat als Pionier auftreten, Einfluss nehmen und Entwicklungen selbst vorantreiben. Nicht überall muss bei Null begonnen werden. Der von meinem Haus in Auftrag gegebene und im März 2011 vorgestellte Trendatlas 2020 etwa bietet eine fundierte Antwort auf die Frage, welche Wirtschaftsbereiche ein herausragendes Wachstumspotenzial für Thüringen bergen und daher besondere Beachtung verdienen: – Darunter fallen erstens anwendungsspezifische Technologien in den Sektoren Automotive, Maschinenbau, Life Sciences und umweltfreundliche Energieerzeugung und -speicherung. – Ferner werden anwendungsübergreifende Querschnittstechnologien im Vordergrund stehen, so die Mess-, Steuer- und Regelungstechnik, Kunststoffe und Keramik, Mikro- und Nanotechnik und Optik/Optoelektronik.

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– Schließlich lassen sich Wachstumsfelder identifizieren, die auf globalen Trends basieren: die Bereiche Service-Robotik, Kreativwirtschaft/Edutainment sowie grüne Technologien. Das ökonomische Potenzial, das den aufgeführten Bereichen prognostiziert wird, ist beachtlich. Der Trendatlas geht von einer Steigerung der Bruttowertschöpfung um bis zu 70 Prozent in den Anwendungs- und Querschnittstechnologien sowie um bis zu 100 Prozent in den trendinduzierten Wachstumsfeldern aus. Absolut bedeutet das insgesamt ein Mehr an Wertschöpfung in Höhe von mehr als 4 Mrd. Euro, mit dem die Schaffung von etwa 50.000 Arbeitsplätzen einhergeht. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um Potenziale, die erschlossen werden müssen. Die Grundvoraussetzungen hierfür lassen sich allgemein mit fünf »Is« umschreiben: Innovationen müssen verstärkt, Investitionen ausgeweitet und eine leistungsfähige Infrastruktur bereitgestellt werden. Darüber hinaus sind die Internationalisierung der Thüringer Wirtschaft sowie die Integration von Talenten und Arbeitskräften voranzutreiben. Daraus ergeben sich eine Reihe ganz konkreter Handlungsempfehlungen, die auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Thüringen abzielen. Dazu zählen insbesondere: – Die Fokussierung der Wirtschaftsförderung auf die genannten Wachstumsfelder etwa im Rahmen revolvierender Fonds und jährlicher Clustergipfel. Wichtiges Instrument könnte an dieser Stelle auch eine zur Landesstrukturbank weiterentwickelte Thüringer Aufbaubank (TAB) sein, die trotz rückläufiger EU-Förderung wesentliche strategische Projekte des Landes finanziell ermöglicht. – Die Förderung des Wachstums der vorhandenen Unternehmen, z. B. durch Entwicklung geeigneter Finanzierungsinstrumente für Unternehmens­ zukäufe und Übernahmen oder die Auflage eines Eigenkapital-Hilfsprogramms mit nachrangigen Darlehen; die Förderung von Unternehmens kooperationen durch bessere Verknüpfung von Anwendung und Forschung bzw. Produkt und Dienstleistung; und schließlich die Verbesserung des Gründerklimas, etwa durch Schaffung geeigneter Instrumente zur Gründungsfinanzierung. Bereits auf den Weg gebracht sind in diesem Zusammenhang die Thüringer Gründerinitiative (ThGi), der Thüringer Gründerfonds, das Thüringer Netzwerk für innovative Gründungen (ThürIng) und das Thüringer Business Angels Netzwerk (THÜBAN). – Die aktive Erschließung von Auslandsmärkten insbesondere durch KMU. Hierzu werden Beratungsangebote ausgebaut. Ferner wurde im April 2011

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Matthias Machnig

eine Außenwirtschaftskonzeption vorgelegt, die Zielmärkte und geeignete Erschließungsmaßnahmen definiert; und bei der Landesentwicklungs­ gesellschaft (LEG) wurde ein neuer Bereich »Thüringen International« angesiedelt. – Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur; dies erfolgt durch den Aufbau eines Pools attraktiver Industrie- und Gewerbeflächen in den wachstumsstarken Regionen, aber auch durch den Ausbau der Breitbandversorgung. Um bis zum Jahr 2015 eine flächendeckende Breitbandversorgung sicherzustellen, ist ein neues Landesprogramm entwickelt worden, für das 12 Mio. Euro aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) zur Verfügung stehen. – Die Sicherung der Fachkräfteversorgung, z. B. durch Initiativen zur Bindung von Hochschulabsolventen an Unternehmen der Region, zur Rückgewinnung von »Auspendlern« oder zur Unterstützung von Fachkräften und Akademikern beim Arbeits- und Wohnortwechsel oder dem Familiennachzug, sowie durch familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Zu diesem Zweck ist im März 2011 die Thüringer Agentur für Fachkräftegewinnung (ThAFF) bei der LEG gegründet worden. – Schließlich: Moderne, wirtschaftsfreundliche Verwaltungsstrukturen, die schnelle, transparente und verlässliche Verfahren ermöglichen und so als wertvoller Dienstleister für Thüringens Unternehmen agieren.

Grüner Motor Thüringen Auch wenn es an mehreren Stellen bereits anklang, verdient ein zukünftiges Handlungsfeld mit zentraler Bedeutung für Thüringen wie auf globaler Ebene eine nähere Betrachtung: Die Rede ist vom ökologischen Umbau unserer Gesellschaften mit dem Ziel einer nachhaltigen Form des Wirtschaftens. Es wird entscheidend sein, diesen Umbau so zu organisieren, dass die Thüringer Wirtschaft gestärkt aus ihm hervorgeht. Eine Schlüsselrolle kommt hier der Rohstoff-, Material- und Ressourceneffizienz zu. So ergab eine Befragung des Münchener Ifo-Instituts im November 2011, dass zwei Drittel der Unternehmen eine steigende Bedeutung von Effizienzmaßnahmen bei der Produktion wahrnehmen. Das gilt insbesondere für Großbetriebe, aber auch für kleine und mittelständische Unternehmen. Dabei ist entscheidend, dass der ökologische Umbau als Chance und nicht als Hindernis begriffen wird: Das Ziel muss lauten, Wachstum ökologisch nachhaltig zu gestalten, und nicht etwa, Wohlstand zu reduzieren. Dass das möglich ist, zeigen etwa Modellrechnungen des Deutschen Instituts für Wirt-

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schaftsforschung. Sofern ein energiewirtschaftliches Leitszenario umgesetzt wird, laut dem 59 Prozent des Bruttostromverbrauchs, 26 Prozent der Endenergie im Wärmebereich sowie 16 Prozent der Endenergie im Kraftstoffbereich durch erneuerbare Energien zu decken sind, steht bis zum Jahr 2030 ein bundesweiter Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 2,9 Prozent in Aussicht. Wird der ökologische Umbau von fachspezifischen Bildungsund Ausbildungsmaßnahmen begleitet, so stellt sich ferner ein Beschäftigungsplus in der Größenordnung von 300.000 Arbeitsplätzen ein. Ein Selbstläufer werden weder die angezeigten Effizienzverbesserungen noch der darüber hinaus notwendige Ausbau erneuerbarer Energien. Das Engagement des Privatsektors ist gefragt, aber auch der Beitrag der Wirtschaftspolitik. Auf Bundesebene ist durch den Ausbau des Übertragungsnetzes für eine adäquate Infrastruktur zu sorgen, und auch international werden koordinierende Maßnahmen benötigt. Thüringen seinerseits – das ist erklärtes Ziel der Landesregierung – hat die Perspektive, zum »Grünen Motor« Deutschlands zu werden. Auf dem Weg dorthin müssen insbesondere die folgenden Herausforderungen gemeistert werden, die die neu gegründete Thüringer Energie- und GreenTech-Agentur (ThEGA) begleiten wird: – Umstellung auf erneuerbare Energien: Die Landesregierung hat sich das Ziel gesetzt, bis 2020 45 Prozent des Nettostromverbrauchs aus regenerativen Quellen zu bestreiten. Das Wirtschaftsministerium hat zu diesem Zweck verschiedene Initiativen gestartet, so das 1000-Dächer-Photovol­ taik-Programm, in dessen Rahmen bisher Anträge für ein Investitionsvolumen in Höhe von 23,5 Mio. Euro bewilligt wurden, die Erstellung eines Potenzialatlas für erneuerbare Energien und eine Brachflächenstudie für Solarparks. – Schaffung von Speicherkapazität: Da die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern im Zeitverlauf schwankt, setzt eine stabile Versorgung hinreichende Speicherkapazitäten voraus. In Thüringen besteht diesbezüglich ein hohes Potenzial in Form von Pumpspeicherkraftwerken. Das Thüringer Wirtschaftsministerium hat daher einen Pumpspeicherkataster durchführen lassen, der mögliche Standorte benennt. Als Resultat unterstützt das Thüringer Wirtschaftsministerium das Stadtwerkekonsortium Trianel GmbH bei der Errichtung eines Pumpspeicherkraftwerks mit einer Leistung von bis zu einem Gigawatt und einem Investitionsvolumen von bis zu einer Mrd. Euro an der Talsperre Schmalwasser in TambachDietharz. – Gezielte Förderung von Effizienzsteigerungen: Enorme Entwicklungssprünge können mittels gezielter Anreizprogramme sowohl in der energe-

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Matthias Machnig

tischen Gebäudesanierung als auch bei der Optimierung industrieller Produktionsabläufe erreicht werden. Diese Punkte sind Bestandteile der Thüringer Effizienzoffensive (ThEO), die energetische Beratungsleistungen für kleine und mittelständische Betriebe fördert. – Elektromobilität: Passend zu seinen Stärken im Automotive-Sektor treibt Thüringen den ökologischen Umbau auch im Bereich der Elektromobilität voran. Zu diesem Zweck wurde das Thüringer Innovationszentrum Elektromobilität (ThIMO) an der TU Ilmenau eröffnet. – Forschung zu und Anwendung von grünen Technologien: Weitere Unterstützung für auch über Effizienzaspekte hinausgehende technologische Verbesserungen bietet das Programm Thüringen-GreenTech. Schließlich haben das Thüringer Wirtschaftsministerium und das Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik in Jena einen Innovationscluster »Green Photonics« auf den Weg gebracht.

Gute Arbeit, starke Wirtschaft Schließlich wird Thüringens Zukunft auch und vor allem am Arbeitsmarkt entschieden. So erfreulich geringe Arbeitslosenzahlen sind, müssen positive Beschäftigungseffekte dennoch von Anstrengungen zur Fachkräftesicherung begleitet werden: 200.000 neue, qualifizierte Arbeitskräfte werden bis Ende des Jahrzehnts benötigt. Dazu gehört einerseits, Qualifizierungsreserven zu heben und so etwa auch Langzeitarbeitslosen den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Hierauf zielt das Thüringer Landesarbeitsmarktprogramm ab, über das mittlerweile mehr als 2.300 Geförderte den Weg in eine Arbeit oder Ausbildung gefunden haben, davon mehr als 1.700 auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Neugestaltung des Thüringer Arbeitsmarkts muss jedoch tiefer greifen, muss allgemein mit besseren Arbeitsbedingungen und gerechten Löhnen einhergehen. Thüringen, soviel ist klar, wird im Wettbewerb der Regionen nur dann bestehen können, wenn es sich über die Qualität seiner Produkte und Dienstleistungen definiert und nicht etwa als Niedriglohnland. Genau dieses Image droht sich allerdings zu verfestigen. Es kann nicht sein, dass ein Drittel der rund eine Million Arbeitnehmer in Thüringen mit einem Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro auskommen muss. Um diesen Entwicklungen Einhalt zu gebieten, sind in erster Linie die Tarifparteien, Unternehmen und Arbeitnehmer gefragt. Deswegen hat das Thüringer Wirtschaftsministerium zusammen mit DGB und IG Metall zur Stärkung von Betriebsräten aufgerufen. Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es,

Vom »Aufbau Ost« zum »Ausbau Ost

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die Rahmenbedingungen so zu stecken, dass Recht und Ordnung am Arbeitsmarkt und ein adäquater Lohnfindungsprozess ermöglicht werden. Die Thüringer Landesregierung hat in jüngerer Vergangenheit wichtige Schritte in diese Richtung unternommen: – Seit Mai 2011 gilt in Thüringen ein neues Vergabegesetz, das die Ausreichung öffentlicher Aufträge an die Einhaltung sozialer und tarifrechtlicher Standards knüpft. Kriterien sind dabei neben der Gewährung von Tariflöhnen nach dem Arbeitnehmerentsende- sowie dem Mindestarbeitsbedingungengesetz Entgeltgleichheit, Förderung der beruflichen Erst­ausbildung und Chancengleichheit von Frauen und Männern. – Seit April 2011 sind Unternehmen, die einen Leiharbeiteranteil von mehr als 30 Prozent ausweisen, von der Förderung durch die GRW-Investitionsförderung ausgenommen, bei einem Leiharbeiteranteil von 10 bis 30 Prozent kommt lediglich ein Basisfördersatz zur Anwendung. – Seit Herbst 2011 ist Lohnkostenförderung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) nur für Arbeitsplätze möglich, die nach Tarif oder einem Mindestlohn von 8,33 Euro bezahlt werden. Gewerbliche Leiharbeit ist ferner gänzlich von der Förderung ausgeschlossen.

Chance Veränderung Im laufenden Jahr haben sich die konjunkturellen Aussichten eingetrübt. Zwar sind die sich abzeichnenden Probleme keineswegs hausgemacht: Stattdessen bereitet vor allem die Krise im Euroraum Sorgen, vor deren Hintergrund auch für die deutsche Volkswirtschaft von geringerem Wachstum ausgegangen werden muss. Umso mehr gilt es für Thüringen, die eigenen Hausaufgaben zu machen. Ganz unabhängig davon, ob beim ökologischen Umbau, bei der Reform des Arbeitsmarkts oder in anderen Bereichen: Thüringen muss seine günstige Ausgangslage nutzen, um zentrale ökonomische Weichenstellungen vorzunehmen. Dazu müssen zunächst die richtigen inhaltlichen Akzente gesetzt werden, um die zuvor dargestellten Wachstumsfelder der Zukunft zu erschließen. Wichtig ist aber darüber hinaus auch, die eigenen Prioritäten und Potenziale in das rechte Licht zu rücken, also Werbung für den Wirtschaftsstandort und Lebensraum Thüringen zu machen. Wenn dieses Land die kommenden Herausforderungen als Chance begreift und sein Selbstbewusstsein, das Vertrauen in die eigenen Stärken nach außen trägt, kann es der Zukunft mit begründeter Zuversicht entgegensehen.

Norbert Schremb

Erfolgreicher Aufbau: Der Wirtschaftsstandort Thüringen aus mittelständischer Sicht

Meine Firma, die Härterei Reese Weimar, ein kleiner, aber feiner mittelständischer Betrieb mit 32 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hat durch Kunden- und Lieferantenkontakte Geschäftspartner in vielen Ländern Europas und der Welt. Wir sind Dienstleister im produzierenden Bereich und begehen im Januar 2012 unser 20-jähriges Firmenjubiläum. Wir haben also in der Praxis die vielen positiven Entwicklungen in Thüringen und in seinen Nachbarländern, bleiben wir bei Bayern, Hessen, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, hautnah miterlebt. Ich möchte im Folgenden in aller Kürze umreißen, was aus meiner Sicht dazu beigetragen hat, dass sich auch kleine mittelständische Betriebe verschiedener Industriezweige in den letzten 20 Jahren in Thüringen gut entwickelt haben. Als wir am 1.1.1992 die Lohnhärterei aus dem ehemaligen VEB Weimarwerk-Kombinat ausgliederten, hatten wir keinerlei Kundenkontakte in andere Bundesländer, und die Anfangseuphorie der ersten Zeit nach der Wiedervereinigung Deutschlands war schon verflogen. In den neuen Bundesländern waren die alten industriellen Strukturen mit dem Wegfall der Planwirtschaft zum Teil nicht mehr lebensfähig. Viele Betriebe in der ehemaligen DDR verfügten nicht über die erforderliche moderne Maschinen- und Anlagentechnik, mussten nicht nur investieren, sondern sich zusätzlich nach neuen Produkten bzw. neuen Märkten und Kunden umschauen. Nach einem gewaltigen Aderlass kann man heute trotz zahlreicher neuer Gewerbegebiete zwar nicht überall auf »blühende Landschaften« blicken, dennoch halte ich die bisherige wirtschaftliche Entwicklung insbesondere in Thüringen für sehr erfolgreich. Wenn man an die Situation Mitte 1991 zurückdenkt und an die teils verheerende damalige Verkehrsinfrastruktur, dann kann man heute nur stolz darauf blicken, was sich hier in den letzten zwei Jahrzehnten getan hat, und das ist auch ein wichtiger Standortvorteil für die Thüringer Betriebe. Die Verkehrsinfrastruktur hat sich in Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern vorbildlich entwickelt: Vorhandene Verkehrswege wurden teilweise dreispurig ausgebaut; neue Autobahnen und Bundesstraßen haben dafür gesorgt,

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Norbert Schremb

dass aus früheren Abenteuerfahrten nun planbare Reisen geworden sind; das Bahnnetz wurde ausgebaut und moderne Flughäfen sind entstanden. Auch die Energienetze mussten modernisiert und ausgebaut werden. Obwohl die Energiepreise in den neuen Bundesländern noch heute wesentlich höher sind als in den Altbundesländern, können wir mit einer hohen Versorgungssicherheit planen und durch kontinuierliche Investitionen in die Energieeffizienz Sparpotenziale entwickeln. Mit dem unbedingt notwendigen Beschluss zum Ausstieg aus der Atomenergie kommen weitere große Herausforderungen auf uns zu. Die Thüringer Industrie erwartet, dass die Energiewende weiterhin wettbewerbsfähige Energiepreise möglich macht und es bei der Versorgungssicherheit keine Probleme geben wird. Das ist auch für die Zukunftsfähigkeit unseres Industriezweigs von zentraler Bedeutung. Gerade beim Ausbau der Netzinfrastruktur ist die Zusammenarbeit aller deutschen Bundesländer notwendig. Ich hoffe, dass hier der eine oder andere über den eigenen Tellerrand hinausschauen wird. Ein wesentlicher Faktor für die positive Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Thüringen ist seit Jahren die wichtige Förderpolitik, die u. a. dem produzierenden Gewerbe in den neuen Bundesländern zugutekommt. Ohne diese Instrumente wären viele Projekte, die Ansiedlung von innovativen Betrieben und wesentliche, mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze verbundene Investitionen nicht möglich gewesen. Hier mussten unsere Nachbarn in Bayern, Hessen und Niedersachsen in den letzten Jahren Verzicht üben und haben über den Länderfinanzausgleich mit zusätzlichen Mitteln Unterstützung geleistet. Für diese großartige Aufbauhilfe möchte ich ausdrücklich danken. Nicht nur deshalb ist Thüringen heute gut aufgestellt. Die Tourismusbranche wächst, die Automobil- und Zulieferindustrie boomt, es entstehen Firmen für alternative Energien, und unsere Traditionsbetriebe wie Carl Zeiss und Jenoptik sind in einigen Geschäftsfeldern Weltmarktführer. Wir verfügen über leistungsstarke Universitäten und haben gut ausgebildete Fachkräfte. Leider ist die demografische Entwicklung und die Abwanderung, bedingt durch eine berufliche Neuorientierung vieler junger Menschen, in Thüringen ein Wermutstropfen. Mit leistungsgerechter Bezahlung müssen wir hier gegensteuern. In unserer Unternehmensgruppe gilt schon längst, dass wir fachlich gut ausgebildeten Arbeitskräfte in etwa so bezahlen wie in den Altbundesländern, sonst könnten wir sie gar nicht halten. Daran müssen wir weiter arbeiten, aber das braucht auch eine gewisse Zeit. Als unser Betrieb im Jahr 1992 mit zwölf Beschäftigten mit einem Nettoumsatz von umgerechnet 600.000 Euro begann, hatten wir kaum Kunden aus unseren Nachbarländern. In der Anfangsphase haben wir zum Teil sogar

Der Wirtschaftsstandort Thüringen aus mittelständischer Sicht

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noch mit alten DDR-Maschinen und Anlagen produziert. Unter diesen Bedingungen war es natürlich doppelt schwer, Kunden aus den anderen Bundesländern davon zu überzeugen, mit uns zusammenzuarbeiten. Nach 20 Jahren, also im Jahr 2011, werden wir einen Jahresumsatz von fünf Millionen Euro erreichen. Dabei realisieren wir allein mit unseren Kunden aus Bayern und Hessen einen Umsatzanteil von fast 50 Prozent. Anfangs noch mehr als kritisch beäugt, haben sich vertrauensvolle Geschäftsbeziehungen entwickelt. Als Beispiel nenne ich das Zitat eines Iraners, der mit seiner hessischen Firma weltweit große Getriebe für Krananlagen exportiert und mittlerweile drei weitere Betriebe in den neuen Bundesländern gegründet hat: »Herr Schremb, wir sind mehr als Geschäftspartner, wir sind Freunde.« Mindestens in diesem Fall sind aus Nachbarn Freunde geworden. Eine Nachahmung ist ausdrücklich erwünscht.

Marion Eich-Born

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

Schon viel ist über den demografischen Wandel in den neuen Ländern lamentiert worden, meist aus dem Blickwinkel der Risikobrille. In der Tat stellt der enorme Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern eine kolossale Herausforderung dar. Unterauslastung, Leerstand und sinkende Einnahmen sind nur einige Facetten der sich ergebenden Problemlagen, die die Tragfähigkeit der Daseinsvorsorge gerade im ländlichen Raum auf den Prüfstand stellen. Damit wird das Postulat der gleichwertigen Lebensverhältnisse, das in unmittelbarem Zusammenhang mit der öffentlichen Daseinsvorsorge steht, in Frage gestellt. Innovative konzeptionelle Lösungsansätze sind gefragt, um der Lage Herr zu werden. Der Beitrag zeigt einige konzeptionelle Entwicklungspfade auf, die den endogenen Potentialen der Regionen ebenso Rechnung tragen wie dem Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft. In jedem Falle gilt, pro-aktiv gegenzusteuern.

Demografischer Wandel: Begriffsbestimmung Der Begriff »demografischer Wandel« steht zuvorderst für demografische Schrumpfungstendenzen, die die gesamte Bundesrepublik Deutschland erfasst haben. Allerdings vollzieht sich dieser Prozess in den neuen Ländern aufgrund des transformationsbedingten wirtschaftlichen Strukturbruchs von der zentralen Verwaltungswirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft tiefgreifender und schneller als in den alten Ländern. Hier zeigt sich in besonderer Weise das Zusammenspiel von ökonomischen Rahmenbedingungen und demografischen Rückkopplungseffekten. Die Entflechtung der Kombinatsbetriebe, die Privatisierung ihrer Filetstücke und die Liquidation der wenig überlebensfähigen Unternehmensteile führten zu einem enormen Verlust an Großbetrieben und Arbeitsplätzen. Dort, wo die Privatisierung gelang, war sie neben der Konzentration auf die Kernkompetenzen und entsprechendem Arbeitsplatzabbau in der Regel auch mit dem Verlust der Headquarterfunktion verbunden. Das bedeutete, Unternehmenszentrale und Forschungsabteilung der ehemals großen Betriebe

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Marion Eich-Born

waren nach der Umstrukturierung außerhalb des Freistaats verankert. Am Standort blieben lediglich verlängerte Werkbänke, die extrem konjunkturanfällig und kaum in der Lage sind, mit innovativen Produkten neue Märkte zu erobern, die wiederum hohe Produktpreise garantieren. Eine nachhaltige Entwicklung der transformierten Unternehmenslandschaft geschweige denn von ihnen ausgelöste regionalökonomische Wachstumseffekte lassen sich unter diesen Voraussetzungen nur sehr eingeschränkt gestalten. Ohne größere Gewinnmargen wiederum lassen sich kaum höhere Löhne generieren. Diese stellen aber eine elementare Voraussetzung dar, um Menschen im Land zu halten bzw. Zuwanderung realisieren zu können. Die Folge dieses Strukturbruchs war ein demografischer Erosionsprozess: Hatte Thüringen 1990 noch 2,7 Mio. Einwohner, so waren es 20 Jahre später nur noch 2,2 Mio. Das entspricht einem Verlust von 14 Prozent gegenüber 1990. Die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung geht für 2030 wiederum von einer weiteren erheblichen Abnahme der Bevölkerung bis auf 1,8 Mio. aus.1 Der Schrumpfungsprozess wurde und wird von zwei Komponenten bestimmt, der geografischen und der natürlichen Bevölkerungskomponente (vgl. Abbildungen 1 und 2). Die geografische Komponente konstituiert sich aus Abwanderung und Zuwanderung. Wird das Wendejahr 1989 einbezogen, so haben mehr als eine Million Einwohner den Freistaat Thüringen verlassen, wohingegen im gleichen Zeitraum 749.463 Personen zugewandert sind. Daraus resultiert eine geografisch bedingte Bevölkerungsabnahme in Höhe von 251.226. Das entspricht 52,5 Prozent der Gesamtverluste. Allein 1989 und 1990 verließen 80.000 Thüringerinnen und Thüringer den Freistaat, die meisten gingen in die alten Bundesländer. Paradoxerweise geht das demografische Erstarken der alten Bundesländer ursächlich auf das Konsumverhalten der Menschen in den neuen Bundesländern zurück. Die plötzliche Erweiterung des deutschen Marktgebiets war mit einer schlagartigen Nachfrage nach Westprodukten bei gleichzeitigem Nachfrageeinbruch für Ostprodukte in den neuen Bundesländern verbunden. Daraus resultierte ein gestiegener Arbeitskräftebedarf in den Unternehmen der alten Bundesländer, die zugleich mit erheblich höheren Löhnen ein schnell umsetzbares Wohlstandsangebot an die neuen Bundesbürger unterbreiten konnten. Umgekehrt verhieß der kolossale Arbeitsplatzeinbruch in den neuen Ländern auf lange Sicht nicht viele verheißungsvolle Möglichkeiten zur Gestaltung eines persönlichen wirt-

1 ������������������������������������������������������������������������ Thüringer Landesamt für Statistik (TLS) (Hg.): 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Erfurt 2010.

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Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

schaftlichen Aufschwungs. All dies waren ganz entscheidende Push- und Pull-Faktoren für den demografischen Prozess. Von 1992 bis 1996 deutete sich zunächst eine geografische Demografiewende an. Die wenn auch sehr niedrigen positiven Wanderungssalden dieser Zeitspanne reflektieren die Aufbruchstimmung, die mit dem nahezu abgeschlossenen unternehmensbezogenen Umbau durch die Treuhandanstalt und den vereinbarten Beschäftigungsgarantien in den ersten Folgejahren verbunden war. Seit 1997 ist der Wanderungssaldo bis heute allerdings wieder negativ, wenn auch in den letzten Jahren mit rückläufigem Trend. Für die zukünftige Entwicklung des Freistaats erweist sich jedoch die selektive Abwanderung der überwiegend jungen, qualifizierten Einwohner als nachhaltig negativ, denn sie wären die kreativen und innovativen Impulsgeber für erfolgreiche Unternehmens- und Regionalentwicklungen. In zweifacher Hinsicht problematisch ist die selektive Abwanderung der jungen, hochqualifizierten Frauen, die zusätzlich als poten­tielle Mütter der nachfolgenden Generation im Freistaat Thüringen verloren gegangen sind. Abbildung 1: Geografische Bevölkerungsentwicklung Thüringens 1985–2010 Anzahl

50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0 1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Jahr

‐10.000 ‐20.000 ‐30.000 ‐40.000 ‐50.000 über die Landesgrenzen Zugezogene

über die Landesgrenzen Fortgezogene

Saldo Zu‐/Wegzug

Quelle: TLS 2011, Darstellung Cathleen Röhrig.

Die natürliche Bevölkerungskomponente ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Geborenen und Gestorbenen. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass sich bereits zu DDR-Zeiten ein nicht unerheblicher Rückgang der Fer-

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Marion Eich-Born

tilität abzeichnete. Für 1980 wies die Statistik noch über 40.000 Neugeborene aus, im Verlauf der 1980er Jahre gingen die Geburten jedoch kontinuierlich zurück und erreichten 1989 schließlich nur noch knapp über 31.000. Unmittelbar vor der Wende lag die Geburtenrate noch bei 2,5 je Frau im gebärfähigen Alter zwischen 15 und 45 Jahren. Mit der ökonomischen Systemwende kam es bei dieser Bevölkerungskomponente zu einem tiefgreifenden Einbruch: Die Geburtenrate sank 1994 auf einen bedrohlichen Tiefststand von 0,77. Das bedeutete im gleichen Jahr lediglich 12.721 Neugeborene. In den Folgejahren stabilisierten sich die Geburtenzahlen auf dem westdeutschen Niveau (1,4). Auch wenn sich mit diesem Wert ein Ausgleich gegenüber den alten Ländern entwickelt hat, so wirkt der Einbruch der Geburten Mitte der 1990er Jahre mehr als 20 Jahre später als demografisches Echo nach: Die damals nicht geborenen potentiellen Mütter können auch 20 Jahre später keinen Beitrag zum Generationenvertrag im Freistaat Thüringen leisten. In der Summe stehen für den Zeitraum von 1989 bis 2010 insgesamt 385.714 Geborene 612.603 Gestorbenen gegenüber, woraus sich ein negativer natürlicher Saldo von 226.889 ergibt. Das entspricht einem Anteil von 47,5 Prozent am Bevölkerungsverlust. Abbildung 2: Natürliche Bevölkerungsentwicklung in Thüringen 1985–2010 Anzahl

20.000 15.000 10.000 5.000 0 1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Jahr

‐5.000 ‐10.000 ‐15.000 ‐20.000 ‐25.000 ‐30.000 ‐35.000 Lebendgeborene

Gestorbene ( ohneTotgeborene )

Saldo Geborene/Gestorbene

Quelle: TLS 2011, Darstellung Cathleen Röhrig.

Die Entwicklung der beiden Bevölkerungskomponenten über die letzten 20 Jahre hinweg hat im Zusammenwirken mit der ohnehin erhöhten Lebens-

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Demografischer Wandel als Chance für Thüringen 101 99 97 95 93 91 89 87 85 83 81 79 77 75 73 71 69 67 65 63 61 59 57 55 53 51 49 47 45 43 41 39 37 35 33 31 29 27 25 23 21 19 17 15 13 11 9 7 5 3 1

Männer

2010 2030

25 000 20.000 15.000

10.000

5.000

Abbildung 3: Bevölkerungs­ pyramide des Freistaats Thüringen 2010 und 2030

Frauen

2010 2030

Quelle: Thüringer Landesamt für Statistik 2011.

5.000

10.000

15.000

20.000

25.000

erwartung zu einer beschleunigten Überalterung beigetragen, die auch zukünftig progressiv fortschreiten wird, wie der Kontrast des Balkendiagramms (2010) und des Liniendiagramms (2030) in Abbildung 3 deutlich macht.

– Die Generation der bis zu 20-Jährigen sank von 25,4 % auf 14,3 % bis 2010 und wird bis 2030 auf diesem Prozentanteil an der Gesamtbevölkerung verbleiben, wenn auch mit deutlich niedrigerem absoluten Wert.2 2 Ebenda.

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Marion Eich-Born

– Die Generation der Erwerbsfähigen von 20 bis unter 65 Jahren stieg dagegen leicht an: von 60,9 % auf 62,6 %, bis 2030 schrumpft diese Basis jedoch auf bedrohliche 49 %. – Die Generation der Senioren (65 und älter) nahm dagegen von 13,7 % auf 23,1 % zu, bis 2030 wird sie auf 39 % anwachsen.3 – In Verbindung mit der höheren Lebenserwartung hat diese strukturelle Verschiebung zu einer deutlichen Anhebung des Durchschnittsalters geführt: 1990: 37,4 Jahre, 2010: 46 Jahre, 2030: 51,4 Jahre.4 – Die Bevölkerungspyramide legt das Defizit an Frauen zwischen 23 und 31 Jahren offen. Die Altersgruppe erreicht im Gegensatz zu den Männern die Marge 15.000 für keinen Jahrgang.

Demografischer Wandel: ein geografisch und zeitlich differenzierter Prozess Wird die Bevölkerungsentwicklung einer räumlich differenzierten Analyse auf Kreis- und Gemeindeebene unterzogen, so zeichnet sich ein heterogenes Bild ab. Über den gesamten Zeitraum der letzten 20 Jahre hinweg kristallisieren sich Gewinner- und Verliererregionen heraus, für die die Wechselwirkungsrelationen von harten und weichen Standortfaktoren verantwortlich zeichnen dürften. Unter den Kreisen kann lediglich die kreisfreie Stadt Weimar auf einen, wenn auch geringen, Zuwachs der Einwohner (+1,9 %) verweisen. In der Rangfolge schließt sich Jena mit dem geringsten Bevölkerungsverlust (-0,5 %) an (vgl. Tabelle 1). Beide Standorte verfügen über Hochschulen, die Bauhaus Universität und die Musikhochschule in Weimar und die Friedrich-SchillerUniversität als auch die Ernst-Abbe-Fachhochschule in Jena, die Chancen für eine Verstetigung jungen Lebens und eines entsprechenden Lebensstils bergen. Während sich Weimar als Kulturwiege des Freistaats einen Namen erworben hat, der global bekannt ist, und mit diesem Prädikat über eine hohe Anziehungskraft für potentielle Neubürger verfügt, kann Jena auf eine historisch lang angelegte Unternehmenstradition verweisen. Die Ankerpersönlichkeit Carl Zeiss legte 1846 mit der Gründung seiner mechanischen Werkstatt die Wurzeln für den späteren Industriestandort, den er über die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Chemiker Otto Schott und dem Physiker Ernst Abbe schließlich zu einem Technologiestandort ausbaute, bei dem die Vernetzung von Unternehmen und Wissenschaft die besten Voraus3 Ebenda. 4 Ebenda.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

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setzungen für immer wieder neue Innovationspfade schuf. Der transformationsbedingte Umbau hat zwar einen erheblichen Arbeitsplatzeinbruch bewirkt, aber zugleich die Basis für die zukünftigen Entwicklungskerne rund um die Optik neu belebt. Eine Veröffentlichung des Kompetenznetzwerks OptoNet e. V. weist für den Standort Jena und seine weitere Umgebung 100 Unternehmen aus, die einen Jahresumsatz von 1,32 Mrd. Euro erwirtschaften. 24 % dieser Unternehmen bekunden, mit ihrem Hauptprodukt die Technologieführerschaft innezuhaben. Die räumliche Nähe von Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen ist für diese Entwicklung eine Grundvoraussetzung. Stellvertretend für die vielen Institute sei an dieser Stelle auf das Institut für Photonische Technologien und das Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik verwiesen. Den öffentlichen Forschungseinrichtungen kommt vor dem Hintergrund der damaligen Privatisierungsergebnisse, die zum Abbau der Forschungsabteilungen beigetragen haben, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Zuge des Transformationsprozesses zu. Schließlich ist es auch mit ihrer Hilfe gelungen, das industrielle Paradigma des Standortes Jena erheblich zu diversifizieren, sich auf neue technologische Entwicklungspfade zu begeben, die eine Lösung konkreter ökonomischer und gesellschaftlicher Probleme anbieten. Neben der optischen Technologie haben weitere Zukunftstechnologien mit entsprechenden Innovationsaktivitäten in Jena Fuß gefasst bzw. ihren historisch angelegten Entwicklungspfad ausbauen können, wie etwa die Medizintechnik, die Bioanalytik, die Photovoltaik und die Pharmakologie. Auch wenn Jena seit 1990 insgesamt Bevölkerung verloren hat, ist der geografische Saldo seit 2006 kontinuierlich positiv mit einem Zuwachs in toto von 2.635 Einwohnern. Das entspricht einem relativen Zugewinn von 2,5 %. Ebenso geht die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung bis 2030 von einer weiteren Zunahme aus. Aufgrund seiner jüngeren demografischen Entwicklung, der unternehmerischen, branchenstrukturellen sowie wissenschaftlichen Basis kann Jena mit Fug und Recht als Leuchtturm des Freistaats Thüringen bezeichnet werden.

160 Tabelle 1:

Marion Eich-Born

Bevölkerungsentwicklung 1990–2010 nach kreisfreien Städten und Landkreisen

Kreisfreie Stadt Landkreis Land

Einwohner 31.12.1990

Einwohner 31.12.2010

Stadt Erfurt

224.461

204.994

-19.467

-8,7

Stadt Gera

134.116

99.262

-34.854

-26,0

Stadt Jena

105.610

105.129

-481

-0,5

Stadt Suhl

57.318

38.776

-18.542

-32,3

Stadt Weimar

64.246

65.479

+1.233

+1,9

Stadt Eisenach

49.610

42.750

-6.860

-13,8

Eichsfeld

116.808

105.195

-11.613

-9,9

Nordhausen

105.462

89.963

-15.499

-14,7

Wartburgkreis

151.750

130.560

-21.190

-14,0

Unstrut-HainichKreis

126.349

108.758

-17.591

-13,9

Kyffhäuserkreis

103.084

81.449

-21.635

-21,0

SchmalkaldenMeiningen

152.128

129.982

-22.146

-14,6

Gotha

153.198

138.056

-15.142

-9,9

Sömmerda

83.687

72.877

-10.810

-12,9

Hildburghausen

76.363

67.007

-9.356

-12,3

128.622

112.350

-16.272

-12,7

Weimarer Land

88.640

84.693

-3.947

-4,5

Sonneberg

73.165

59.954

-13.211

-18,1

SaalfeldRudolstadt

144.983

116.818

-28.165

-19,4

Saale-HolzlandKreis

93.857

86.809

-7.048

-7,5

Saale-Orla-Kreis

105.131

87.799

-17.332

-16,5

Greiz

132.073

107.555

-24.518

-18,6

Altenburger Land

129.086

98.810

-30.276

-23,5

2.599.747

2.235.025

-364.722

-14,0

635.361

556.390

-78.971

-12,4

1.964.386

1.678.635

-285.751

-14,5

Ilm-Kreis

Thüringen Kreisfreie Städte Landkreise

Quelle: TLS Thüringen 2012.

Bevölkerungsveränderung 1990–2010 absolut

Bevölkerungsveränderung 1990–2010 in Prozent

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

161

Unter den kreisfreien Städten nimmt die heutige Landeshauptstadt eine Zwitterstellung ein. Traditionsbedingt verfügt sie kaum über eine nennenswerte industrielle Basis. Sie war schon zu DDR-Zeiten Bezirkshauptstadt, und die Funktionsübernahme als Landeshauptstadt hat einen sektoralen Strukturbruch abgefedert. Aus diesem Grund liegt der Bevölkerungsverlust in den letzten 20 Jahren mit -8,7 % erheblich unter dem durchschnittlichen Bevölkerungsverlust des Freistaats (-14,0 %). Seit 2006 haben die Einwohnerzahlen bis heute kontinuierlich um insgesamt 2.336 zugenommen. Ursächlich für diese Entwicklung ist ein positives Zusammenwirken von harten und weichen Standortfaktoren. Erfurt zählt aufgrund seiner Stadtgeschichte und der ausgesprochen gelungenen Restaurierung seiner historischen Bausubstanz aus allen bedeutenden Bauzeitaltern zu den schönsten Städten der Bundesrepublik Deutschland. In den vergangenen Jahren ist es der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) gelungen, die neu geschaffenen infrastrukturellen Vorteile für den Ausbau des sekundären und tertiären Sektors in einem neuen Industrie- und Gewerbepark am Erfurter Kreuz zu nutzen. Mit der neu gebauten A 71, die als Nord-Süd-Achse die west-ostverlaufende A4 westlich von Erfurt quert, ist die Stadt nicht nur im rein geografischen, sondern auch im verkehrsstrategischen Sinne in die Mitte Deutschlands gerückt. Dies hat zu zahlreichen Neuansiedlungen am Erfurter Kreuz beigetragen (78 Unternehmen mit insgesamt 4.745 Beschäftigten: Stand nach LEG 2010). Jedoch anders als im Falle Jenas ist hier ein weniger technologieintensives Branchenspektrum anzutreffen. Allein 35  % der Ansiedlungen sind dem Handel zuzuordnen. In den letzten Wochen hat das Erfurter Kreuz ebenfalls als Logistikstandort auf sich aufmerksam gemacht. Zalando wird in Kürze eine neue Niederlassung mit ca. eintausend Beschäftigten eröffnen. Drei weitere Logistiker sind schon am Standort tätig. Allerdings lässt sich von dieser Branche kaum eine Steigerung des regionalen Wohlstands erwarten, denn die niedrigen Löhne können den regionalen Wirtschaftskreislauf kaum verstärken. Technologisch zukunftsweisender sind die Unternehmen der Solarindustrie (5), wenn es gelingen würde, über beständige Innovation der aufholenden Solarbranche aus China auch weiterhin den Rang abzulaufen. Die Kürzungen der Markteinführungssubventionen werden jedoch den chinesischen Modulen Tür und Tor des deutschen Marktes öffnen. Außerdem sind die Automobilindustrie (4), die Medizintechnik (2) und der Maschinenbau (5) mit Unternehmen präsent, einige Firmen sind mit der Wissenschaft in räumlicher Nähe, der TU-Ilmenau, vernetzt. Ein Blick auf Karte 1 (S. 163) zeigt die Impulswirkung der Städte Weimar, Jena und Erfurt auf das Hinterland. Für die beiden letzten Dekaden ist die

162

Marion Eich-Born

Suburbanisierungswirkung in den umliegenden Nachbargemeinden offensichtlich. Karte 2 legt den Trend für den Zeitraum von 2006 bis 2009 und die damit verbundene Stabilisierung des Prozesses offen. Die 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Karte 3) weist für den im Süden an die Stadt Erfurt angrenzenden Ilmkreis und den Jena in Form eines Mantels nahezu vollständig umschließenden Saale-Holzland-Kreis die niedrigsten demografischen Schrumpfungsraten aus. Intraregional dürften sich wie in den vergangenen Jahren auch weitere Wachstumsinseln innerhalb dieser Landkreise etablieren. Es ist Aufgabe der Wirtschafts- und Regionalentwicklungspolitik, diese Prozesse zu analysieren, die möglichen Impulswirkungen der drei Wachstumskerne Weimar, Jena und Erfurt auf die Wachstumsinseln im Umland zu identifizieren und in entsprechender Weise gezielt zu unterstützen. Interessant dürfte in diesem Zusammenhang insbesondere die Entwicklung entlang des Flusslaufs der Saale werden mit Dornburg-Camburg im Norden Jenas. Hier stellen neben dem idyllischen Blick auf den Fluss die attraktive Schlosslandschaft und der Weinanbau an den Saaletalhängen nicht zu unterschätzende weiche Standortfaktoren dar. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass die Gründungsväter und -mütter der 2004 geschaffenen Kommunalen Arbeitsgemeinschaft Region Erfurt – Weimar/Weimarer Land – Jena in jedem Falle sehr weitsichtig gewesen sind, zumal sich diese Entwicklung damals noch nicht statistisch nachweisen ließ. Die Impulsregion sollte in jedem Fall um die beiden Landkreise Ilm und Saale-Holzland erweitert werden. Als Problemregionen stellen sich über beide Dekaden hinweg der Kyffhäuserkreis (-21 %) und das Altenburger Land (-23,5 %), aber auch die kreisfreien Städte Gera (-26 %) und Suhl (-31 %) dar. Dort sind die demografischen Schrumpfungsprozesse weit über dem Thüringer Durchschnitt (-14 %), selbst in der jüngeren Vergangenheit bzw. in der Vorausberechnung ist dieser Trend ungebrochen. Hier gilt es, den ländlichen Raum mit seinen spezifischen Potentialen weiter in Wert zu setzen. Die südliche Korona der Nachbarlandkreise zu Bayern, Saale-Orla (-16,5 %), Saalfeld-Rudolstadt (-19,4 %), Sonneberg (-18,1 %), aber auch der Nachbarkreis zu Sachsen, Greiz (-18,6 %), liegen mit ihren Bevölkerungsverlusten der vergangenen 20 Jahre ebenfalls über dem Thüringer Durchschnittswert, allerdings unterhalb der 20-Prozent-Marge. Insbesondere für die drei erstgenannten dürfte die Nähe zum prosperierenden Bayern die Bereitschaft zur letztendlichen Abwanderung unterstützen. Das katholische Eichsfeld spielt im Reigen der Landkreise durchaus eine besondere Rolle. Die Bevölkerungsabnahme ist mit -9,9 % kaum merklich höher als in der Landeshauptstadt. Die Arbeitsplatzangebote in den nah gelegenen größeren Städten von Hessen und Niedersachsen in Verbindung mit der historisch gewachsenen Ortsverbunden-

Hrsg.: TMBLV, Ref. 31, Raumbeobachtung Quelle: TLS 2011, eig. Berechnungen

SchmalkaldenMeiningen

Wartburgkreis

Eisenach Jena Jena

Saale-Orla-Kreis

Saale-HolzlandKreis

Saalfeld-Rudolstadt

Sonneberg

Ilm-Kreis

Hildburghausen

Suhl

Gotha

Weimar

Weimarer Land

Sömmerda

Erfurt

Kyffhäuserkreis

Unstrut-Hainich-Kreis

Eichsfeld

Nordhausen

Greiz

Gera

im Bau

Bestand

Autobahn

Altenburger Land

stabile Einwohnerzahl bzw. Anstieg

Rückgang um bis zu 10%

Rückgang um 10% bis 15% (Wert für Thüringen: 14,4%)

Rückgang um 15% bis 20%

Rückgang um 20% und mehr

Karte 1

Entwicklung der Bevölkerungszahl Thüringer Gemeinden im Zeitraum 1990 bis 2010

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

163

heit lassen die Trennung von Wohnen und Arbeiten gut miteinander vereinbaren. Auch der Landkreis Gotha (-9,9 %) profitiert von der räumlichen Nähe zu einer ökonomischen Wachstumsregion, in diesem Fall Erfurt.

Hrsg.: TMBLV, Ref. 31, Raumbeobachtung Quelle: TLS 2010, eig. Berechnungen Gebietsstand: 31.12.2009

Hildburghausen

Suhl

Saalfeld-Rudolstadt

Weimarer Land

Weimar

Sömmerda

Sonneberg

Erfurt

Ilm-Kreis

Kyffhäuserkreis

Gotha

Unstrut-Hainich-Kreis

Schmalkalden-Meiningen

Wartburgkreis

Eisenach

Eichsfeld

Nordhausen

Saale-Orla-Kreis

Saale-Holzland-Kreis

Jena

Greiz

Gera

Altenburger Land

stabile Entwicklung oder Zuwachs

geringe Verluste (bis 2%)

durchschnittliche Verluste (2% bis 4%)

starke Verluste (4% bis 6%)

sehr starke Verluste (6% und mehr)

Karte 2

Entwicklung der Bevölkerung der Thüringer Gemeinden von 2006 bis 2009 in % (01.01.2006 = 100%)

164 Marion Eich-Born

Leinefelde-Worbis

Gotha

Ruhla Friedrichroda

Suhl

Ilmenau

Hrsg.: TMBLV, Raumbeobachtung Quelle: TLS 2011, eigene Berechnungen

Grabfeld

Hildburghausen Eisfeld

Roßleben

Eisenberg

Stadtroda Hermsdorf

Bad Klosterlausnitz Gera

Ronneburg

Saalfeld/ Saale

Sonneberg

Sonneberg

Lauscha

Neuhaus a.Rw.

Schleiz

Bad Lobenstein

Saale-Orla-Kreis

Saalfeld-Rudolstadt

Gößnitz

Schmölln

Altenburger Land

Altenburg

Meuselwitz

Weida Kahla UhlstädtNeustadt/Orla Kirchhasel Rudolstadt Greiz Pößneck Bad Blankenburg Königsee Unterwellenborn Zeulenroda-Triebes Greiz

Jena

Dornburg-Camburg

Zuwachs

Rückgang bis zu 10%

Rückgang um 10% bis 20%

Rückgang um 20% bis 30%

Saale-Holzland-Kreis

Blankenhain

Bad Berka

Weimar Apolda

Weimarer Land

Kölleda Sömmerda

Ilm-Kreis

Schmalkalden- Hildburghausen Meiningen Schleusingen

Meiningen

Zella-Mehlis

Floh-Seligenthal SteinbachHallenberg Schmalkalden

Ohrdruf

Artern

Rückgang um 30% und mehr

Veränderung der Einwohnerzahl nach der 12. kBV

Karte 3

Vorausberechnung der Bevölkerung der Ober- und Mittelzentren sowie der Städte über 5.000 Einwohner und der verbleibenden Kreisgebiete von 2009 bis 2030

Sömmerda

Erfurt

Arnstadt

NesseApfelstädt

Drei Gleichen

Gotha Wutha-Farnroda Waltershausen

Bad Salzungen

Wartburgkreis

Gerstungen

Bad Langensalza

Hörselberg-Hainich Eisenach

Bad Frankenhausen

Kyffhäuserkreis

Sondershausen

Treffurt Unstrut-Hainich-Kreis

Mühlhausen/Thüringen

Eichsfeld

Heiligenstadt

Nordhausen Heringen/Helme Bleicherode

Nordhausen

Ellrich

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

165

166

Marion Eich-Born

Dass der Freistaat den demografischen Paradigmenwechsel erzielen kann, zeichnet sich auch für die Landkreise Nordhausen und Hildburghausen in der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung ab. Die beiden gleichnamigen Kreisstädte erfahren Zuwachs und stellen somit für ihr Umland wiederum impulsgebende Wachstumskerne dar.

Zentrale Orte und demografischer Wandel Die geografisch differenzierte Betrachtung des demografischen Wandels unterstreicht die Bedeutung von zentralen Orten für die weitere Entwicklung des Freistaats: Sie sind in der Tat die Ankerpunkte und Impulsgeber für die weitere Entwicklung. Thüringen verfügt auf Basis seiner langjährigen Geschichte mit den vielen Kleinstaaten und Fürstentümern über ein nahezu homogenes Netz von Klein- und Mittelstädten. Nicht umsonst wird Thüringen als das Land der Residenzen bezeichnet (über 30 aus über 400 Jahren)5. Die Impuls gebende Wirkung vollzieht sich quasi in einem Kaskaden­ modell: Ausgehend von den Oberzentren/kreisfreien Städten mit günstigen infrastrukturellen und ökonomischen Standortvoraussetzungen folgen schließlich die Mittelzentren als Impulsgeber für ihr Umland. In den Unterzentren haben sich diese Impulswirkungen nur sehr eingeschränkt oder noch gar nicht entfalten können. Dieser Tatbestand hat in Verbindung mit den finanzpolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu einer heißen Diskussion über Anpassungsmaßnahmen im Zentrale-Orte-System geführt. Die finanzpolitischen Herausforderungen lassen sich an zwei Eckpunkten festmachen: – Weniger Finanzausgleichsmittel: Aufgrund der Bevölkerungsverluste werden sich im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs Mindereinnahmen von 50 Mio. Euro jährlich für den Freistaat ergeben. – Weniger zusätzliche Transferleistungen: Auslaufen der Ziel-1-Förderung, degressive Entwicklung des Solidarpakts bis 2019. 2010 erhielt der Freistaat noch 1,7 Mrd. Euro Solidarpaktmittel, mit Blick auf den Jahreshaushalt entsprach das jedem sechsten darin veranschlagten Euro. Bis 2019 wird diese Position auf Null heruntergefahren.6 5 Thüringer Minister für Bau, Landesentwicklung und Verkehr (Hg.): 1. Entwurf Landesentwicklungsprogramm LEP Thüringen 2025. Kulturlandschaft im Wandel. Herausforderungen annehmen. Vielfalt bewahren. Veränderungen gestalten, Erfurt 2011, S. 20. 6 Ebenda, S. 8.

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Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

Im Zuge dieser Finanzdiskussionen wurden Forderungen nach einer Aufhebung des dreistufigen Zentrale-Orte-Systems laut, zumindest aber nach einer erheblichen Reduzierung der Unterzentren gemessen an den veränderten Einwohnerpotenzialen durch den demografischen Wandel. Die gemäßigtere Variante dieser Argumentationslinie vertritt die Forderung nach Einstellung der Differenzierungen wie Mittelzentren mit Teilfunktionen oder Grundzentren mit Teilfunktionen eines Mittelzentrums. Die andere Argumentationslinie fordert eine Flexibilisierung der Funktionszuweisungen (vgl. Tabelle 2) auf Basis der demografischen Gegebenheiten. Denkbar ist in diesem Sinne die Beibehaltung der Grundzentren, allerdings mit flexiblen Daseinsgrundfunktionen. Arzt und Apotheke als Grundvoraussetzung eines Grund­ zentrums können auch durch das in Mecklenburg-Vorpommern verfolgte »Konzept der Schwester Agnes«, die ambulant Patienten mit einfachen medizinischen Diensten versorgt (Überprüfung des Blutdrucks, Verbandswechsel, einfache psychologische Betreuung von Patienten), wie dem ambulanten Hausarzt, der die Medikamentenversorgung in Kooperation mit Schwester Agnes sicherstellt, ersetzt werden.7 Tabelle 2:

Funktionszuweisungen für die zentralen Orte

Unterzentrum Unterste Verwaltungsbehörde Post Kirche Mittelpunktschule Geschäfte der Grundversorgung Apotheke Arzt und Zahnarzt Sparkasse Bäuerliche Genossenschaft

Mittelzentrum Oberzentrum Alles aus den Unterzentren Alles aus den Mittelzentren Vollausgebaute höhere Schule Berufsschule Krankenhaus Facharzt

Waren- und Kaufhäuser

Notar, Anwalt Steuerberater Kulturelle Angebote

Theater Museen Regionalbehörden Wirtschaftsgebäude

Spezialgeschäfte Hoch- und Fachschulen Spezialkliniken

Quelle: LEP 2001, unveröffentlichter Entwurf des LEP 2004.

7 ������������������������������������������������������������������������� Thomas Kopetsch: Ärztliche Versorgungsplanung auf Knopfdruck, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 14– 17; Jürgen Herdt: Sonderexpertise Gesundheitswesen, in: ebenda, S. 9 f.

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Marion Eich-Born

Ländlicher Raum: Neue Aufgabenfelder für die Organisationsstruktur der traditionellen landwirtschaftlichen Basis Längst haben sich die Agrargenossenschaften in den neuen Ländern eine Vielfalt von neuen Aufgaben gesucht, mit denen sie auch zur Daseinsvorsorge im ländlichen Raum einen Beitrag leisten. Beispielhaft sei an dieser Stelle die Agrargenossenschaft Bösleben in der Nähe von Erfurt dargestellt, die neben dem alten Kerngeschäft der Tier- und Pflanzenproduktion eine Vielzahl neuer Standbeine aufgebaut hat, wie etwa die Bauernscheune Bös­ leben, die für Festivitäten vermietet wird, die Tankstelle, an der Biodiesel angeboten wird, der Agrarshop, in dem zusätzlich technische Agrarprodukte zum Verkauf angeboten werden, ein Partyservice, ein Menüdienst (Essen auf Rädern), die Landschmaus-Fleischerei, die Pension Schwalbennest oder der Futtermittelhandel.8 Ländlicher Raum: Das neue Aufgabenfeld Erneuerbare Energien Eines der erfolgreichsten Beispiele für eine gelungene Regionalentwicklung im ländlichen Raum ist der Standort Güssing im Burgenland/Österreich, der Anfang der 1990er Jahre ähnliche Merkmale aufwies wie die Landkreise im Freistaat Thüringen unmittelbar nach der Wende: ländlich geprägter Raum mit dem Städtchen Güssing (deutlich unter 5.000 Einwohner) innerhalb des gleichnamigen Bezirks (ca. 26.000 Einwohner), zweistellige Arbeitslosenquoten, Abwanderung und Wochenpendler zur Bundeshauptstadt Wien. Diesem freien Spiel der Kräfte, das die regionalen Disparitäten zwischen der Wachstumsregion Wien und der Region Güssing im Burgenland immer weiter ausbaute, wollte der damals neu gewählte Bürgermeister ganz im Sinne Myrdals9 pro-aktiv durch den Aufbau eigener Produktionen für den lokalen Markt und die Entwicklung eigener Wirtschaftskreisläufe entgegensteuern. Er stellte die Weichen für einen innovativen, auf erneuerbare Energien setzenden Entwicklungspfad auch mit dem Ziel, das kleine Städtchen Güssing zu einem Mekka der erneuerbaren Energien auszubauen. 1991 war die regionale Wertschöpfung im Energiesektor für alle drei Märkte – Strom, Wärme und Verkehr – in einem massiven Ungleichgewicht. Während knapp über 600.000 Euro an Wert für die Erzeugung von Energie 8 Vgl. den Internetauftritt der AGRAR Genossenschaft Bösleben e. G. unter www. kornbett.de. 9 ���������������������������������������������������������������������������������� Myrdal 1974, in: Ludwig Schätzl: Wirtschaftsgeografie 1. Theorie, 8. Aufl., Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, S. 44.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

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am Standort verblieben, gingen der Region 6,2 Mio. Euro für den Einkauf extern produzierter Energie verloren. Seit 1991 wurden die erneuerbaren Energien breit diversifiziert ausgebaut: Photovoltaik, Solar, Biomasse, Erdwärme. Längst wurde das Projekt von der Stadt auf den Bezirk Güssing ausgedehnt. Die bedeutendsten Großanlagen der Region sind ein BiomasseFernheizwerk, eine Biodieselanlage und ein Biomasse-Kraftwerk sowie eine Methanisierungsanlage. Im Umkreis von Güssing gibt es heute schon mehr als 30 weitere Anlagen auf der Basis unterschiedlichster Technologien. Schon 2005 konnte die regionale Wertschöpfung im Energiebereich auf 13,6 Mio. Euro erhöht werden, 2011 waren es bereits 22 Mio. Euro. Ein entscheidender Katalysator auf diesem Weg war das 1996 gegründete Europäische Zentrum für Erneuerbare Energien, das nachhaltige, regionale und kommunale Konzepte zur Einsparung von Energie und zur Nutzung erneuerbarer Energien erarbeitet. Es versteht sich als Netzwerker, der Wirtschaft, Forschung und Anlagenbauer zu konkreten Fragestellungen zusammenführt. Zu dem direkten Wohlstandseffekt kamen dank der günstigen Energiepreise in der Region und eines konsequenten Marketings nach innen und außen weitere indirekte Multiplikatoreffekte hinzu: die Neuansiedlung von 50 Betrieben, die Schaffung von mehr als 1.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen sowie eine Diversifizierung der wirtschaftlichen Standbeine nicht nur im Energiesegment, sondern auch im Ökotourismus. Der Versorgungsgrad mit erneuerbarer Energie liegt für Wärme bereits bei 71,73 %, für Strom bei 33,73 % und für Treibstoff bei 46,67 %. Weil die Bedarfe in den letzten zwei genannten Märkten ganz besonders schnell ansteigen, sollen die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in diesen beiden Segmenten in Zukunft verstärkt werden. Mit starken Netzwerken kleine Unternehmen einbinden »Es lohnt, die Potenziale der neuen Länder in wirtschaftlichen Zukunftsfeldern genauer zu betrachten und sie über Netzwerk- und Clustermanagement gezielter wirtschaftspolitisch zu begleiten.«10 So heißt es in einer Studie, die im Auftrag des Ostbeauftragten der Bundesregierung vom Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development Rostock erstellt wor10 ��������������������������������������������������������������������������� Gerald Braun/Marion Eich-Born (Hg.): Wirtschaftliche Zukunftsfelder in Ostdeutschland. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Der Beauftragte des Bundes für die Neuen Länder an das Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development, Rostocker Beiträge zur Regional- und Strukturforschung, Rostock 2008.

170

Marion Eich-Born

den ist. Der Freistaat Thüringen verfügt über ein beachtliches endogenes Potenzial in den sechs von der Studie bearbeiteten Zukunftsfeldern: Optik, Gesundheitswirtschaft inklusive Medizintechnik, Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie, Nanotechnologie und neue Werkstoffe. Ein zentrales Problem der neuen Länder generell ist jedoch die schon erwähnte Unternehmensstruktur: 95 % der Unternehmen haben weniger als 50 Beschäftigte und 85 % haben weniger als 20 Beschäftigte. Für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung des Freistaats ist das Wachstum dieser kleinen Unternehmen eine wesentliche Voraussetzung, denn die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Unternehmensansiedlungen von außen eher rar sind, sodass sich für die kleinen Unternehmen auch nicht so viele Chancen bieten werden, sich im Fahrwasser der Großen durch Einbindung in deren Wertschöpfungsketten weiterzuentwickeln. Auch wenn die exogene Wachstumsstrategie, Ansiedlung von außen, unbedingt weiterverfolgt werden muss, sollte die endogene Wachstumsstrategie, die Entwicklung der kleinen zu größeren Unternehmen, stärker in den Fokus der Wirtschaftsund Regionalentwicklungspolitik gerückt werden.11 Ein Blick auf die Betriebsdichte nach Kreisen im Freistaat Thüringen unterstützt diese These, denn die Stärke des Landes liegt in der im Vergleich zum Bundesdurchschnitt eindeutig höheren Betriebsdichte. Besonders ins Auge stechen die Landkreise Saale-Orla, Sonneberg, Schmalkalden-Meiningen, Wartburg, Hildburghausen und Ilm. Abbildung 4: Betriebsdichte der Industrie nach Thüringer Kreisen 2009

Betriebe je 100.000 EW

80

60

40

20

0 SON SM

WK HBN EA SHL

IK

SÖM GTH AP

WE

EF

EIC

UH NDH KYF SOK SLF

J

ABG SHK GRZ

G

TH BRD

Quelle: berechnet nach TLS 2010, Berechnung und Darstellung Cathleen Röhrig.

11 Marion Eich-Born: Mit starken Netzwerken kleine Unternehmen in den Wandel einbinden – das Projekt COMET stellt sich vor, in: Südthüringische Wirtschaft (hrsg. v. IHK Südthüringen), Nr. 6/2009, S. 7 f.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

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Diese Stärken gilt es durch eine intelligente Politik zu stärken, die die Kooperation von Unternehmen auf der Produktionsebene in Netzwerken und die Verbindung von Forschungseinrichtungen und Unternehmen zur Generierung innovativer Produkte in so genannten Clustern fördert. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: – Wie können sich potenzielle unternehmerische Partner finden, um gemeinsam die Wertschöpfungskette für ein Produkt zu gestalten? Dies ist insbesondere bei der kleinen Struktur der Unternehmenslandschaft schwierig, denn die Statistik erfasst lediglich die Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten umfassend. Es ist daher kein Wunder, wenn »sich Unternehmer­ nachbarn erst auf einer IHK-Veranstaltung kennenlernen, (dies) ist auch 20 Jahre nach der Wende keine Seltenheit« (Peter Traut, IHK-Präsident Südthüringen). Wir brauchen dringend Transparenz in der kleinteiligen Unternehmenslandschaft, denn ohne diese müssen auch Cluster- und Netzwerkmanager zwangsläufig im Nebel stochern.12 – Welche dieser Unternehmen sind in Zukunftsfeldern tätig, die mit ihren Produkten Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit geben? – Wie lassen sich die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Forschungsverbünde aufnehmen? Mit anderen Worten, wo wird was produziert, welche Forschungsfragen ergeben sich, um die hergestellten Produkte innovativer zu gestalten, welche Forschungseinrichtungen sind hierfür geeignet? Die Erfolgsgeschichte von Güssing fußt im Wesentlichen auf diesem Ansatz, dass Netzwerkorganisatoren Unternehmen, Forschung und Politik in der Frage der erneuerbaren Energien zusammengeführt haben. Diese Erfolgsgeschichte lässt sich auch in anderen Zukunftsfeldern realisieren. Eine Datenbank der Bundesagentur für Arbeit kann zur erforderlichen Transparenz der Unternehmenslandschaft im Freistaat Thüringen in Verbindung mit Unternehmensbefragungen einen wesentlichen Beitrag leisten. Im Übrigen lassen sich auf diese Weise auch Schrumpfungsregionen an die Wachstumsregionen des Freistaats andocken. Multitasking in der Einzelhandelsnahversorgung Der Lebensmittelhandel ist eine grundsätzliche Daseinsvorsorge, der in ländlichen Schrumpfungsregionen in Frage steht. In den letzten 20 Jahren hat sich 12 Ebenda.

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Marion Eich-Born

der Lebensmittelhandel ganz massiv aus der Fläche zurückgezogen. Laut einer Studie der IHK Erfurt macht dieser Rückzug 20 % der Einzelhandelsfläche aus dem Wendejahr aus.13 Allerdings haben vereinzelte Ketten, wie etwa Tegut und Rewe, das »Lädchen für alles« bzw. die »Nahkauf-Läden« im Zuge des demografischen Wandels als Chance für ihre Unternehmensentwicklung erkannt. Der Tegut-Chef Thomas Gutberlet hat die Läden auf dem Land mit einer Größe von 100 bis 300 qm als »zeitgemäße Neuschöpfung einer Verkaufsform« für Ältere bezeichnet. Die zunehmend alternde Gesellschaft benötigt eine ortsnahe Versorgung, die mit dem Angebot von BioProdukten aus der Region kombiniert wird. Bis Ende 2012 sollen 20 bis 25 Läden eröffnet sein, in Thüringen wurde das erste Ladenlokal im Dezember 2011 in Schönstedt eröffnet. Voraussetzung für die Umsetzung ist eine Gemeindegröße von mindestens 1.200 Einwohnern. Mit den Schlagwörtern Flexibilisierung und Bündelung lässt sich das Konzept sehr gut umschreiben, denn neben dem Lebensmittelangebot sind in der Regel auch weitere Funktionen verknüpft, wie etwa Lottodienstleistungen, Post- und Paketservice14, Reinigungsleistungen, aber auch die Funktion des Ortscafés. Oftmals ist das Zustandekommen solcher Multifunktionseinrichtungen das Ergebnis der Eigeninitiative von Ankerpersönlichkeiten vor Ort, die die Entwicklung nicht sich selbst überlassen wollen. Derartige Selbstverantwortungsräume, die mit »Raumpionieren« Lösungen für die Erhaltung von Mindeststandards suchen, werden im Freistaat Thüringen von der Serviceagentur Demografischer Wandel als Best-Practice-Beispiele auf ihrer Internetplattform bzw. auch auf ihren zahlreichen Veranstaltungen in den Regionen kommuniziert. Neue Herausforderungen für die Immobilienwirtschaft im ländlichen Raum Die demografischen Schrumpfungsprozesse führen zwangsläufig zu weiterem Leerstand von Immobilien, seien es Wohnhäuser oder Wirtschaftsgebäude.15 In manchen Orten sind ganze Straßenzüge betroffen, wobei mit dem Brachfallen Gebäudeverfall und Wertminderung der umliegenden nach wie vor bewohnten Immobilien verbunden ist. Da den Eigentümern der Leer13 IHK Erfurt (Hg.): Einzelhandelsatlas, Erfurt 2011, S. 1 ff. 14 Vgl. Stefan Greiving: Sonderexpertise Postwesen, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, a. a. O., S. 8. 15 Hans-Peter Gatzweiler: Daseinsvorsorge und Siedlungsentwicklung. Befunde zum demografischen Wandel aus Sicht der Raumordnung, Berlin 2011; TLG Immobilien: Immobilienmarkt Ostdeutschland 2011. Marktdaten der kreisfreien Städte und Berlins, Berlin 2011.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

173

standsgebäude in der Regel die Finanzmittel für den Abriss fehlen, ist die Einrichtung eines Fonds für Gebäudeabrisse unerlässlich.16 Auch die Erstellung von Demografieatlanten in Gemeinden des ländlichen Raums, die die zu erwartende demografische Entwicklung auf der Basis der derzeitigen Altersstruktur sowie der Kataster- und Liegenschaftsstruktur visualisieren, ist für die weitere Dorf- bzw. Stadtentwicklungsplanung eine Grundvoraus­setzung. Hier lassen sich in der Vorausschau Möglichkeiten für eine neue Innenentwicklung erschließen. Frauen-, kinder- und familienfreundliche Rahmenbedingungen Um insbesondere die jungen Frauen im Freistaat halten zu können bzw. sie aus den anderen Bundesländern anzuwerben, ist neben attraktiven Jobangeboten zugleich ein Lebensumfeld anzubieten, das der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in besonderer Weise Rechnung trägt. Die Flexibilisierung der Nutzungsmöglichkeiten (Schule, Kindergarten; Schule, Altentreff) spielt hierbei ebenso eine Rolle17 wie die Verknüpfung der zuvor genannten Analysen zu den Beschäftigungspotentialen in den regionalen KMU sowie die erwähnte Steuerung der Innenentwicklung auf dem Immobilienmarkt.18 Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Wir brauchen – mehr Selbstverantwortung in den Regionen, Unterstützung für Ankerpersönlichkeiten, – systematische Analyse der endogenen Potentiale in den jeweiligen Regionen, diese Stärken stärken, – dazu zählt u. a. auch: pro-aktive Vernetzung der KMU untereinander als auch mit Forschungseinrichtungen, um Schrumpfungsregionen gezielt an Wachstumsregionen anzudocken und KMU besser in regionale, innovative Wertschöpfungsketten einzubinden, – pro-aktive Ausgestaltung der Energiewende in den Regionen, um den ländlichen Raum zu erneuern, 16 Berlin-Institut (Hg.): Die Zukunft der Dörfer. Zwischen Stabilität und demografischem Niedergang, Berlin 2011. 17 Rainer Winkel: Ergebnisse und Konsequenzen für das Zentrale-Orte-Konzept, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, a. a. O., S. 21–23. 18 Hans-Peter Gatzweiler: Daseinsvorsorge und Siedlungsentwicklung, a. a. O.; TLG Immobilien: Immobilienmarkt Ostdeutschland 2011, a. a. O.

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Marion Eich-Born

– regionales, vorausschauendes Flächenmanagement auf Basis der demografischen Entwicklung, – Rückbau-Fonds, um den Wertverfall bewohnter Immobilien in den Schrumpfungsregionen mit verfallenden Leerstandsimmobilien in unmittelbarer Nachbarschaft zu verhindern, sowie die – Schaffung familienfreundlicher Strukturen.

Literatur Berlin-Institut (Hg.): Die demografische Lage der Nation. Was freiwilliges Engagement für die Regionen leistet, Berlin 2011. Berlin-Institut (Hg.): Die Zukunft der Dörfer. Zwischen Stabilität und demografischem Niedergang, Berlin 2011. Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer: Daseinsvorsorge im demografischen Wandel zukunftsfähig gestalten, Berlin 2011. Braun, Gerald/Eich-Born, Marion (Hg.): Wirtschaftliche Zukunftsfelder in Ostdeutschland. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Der Beauftragte des Bundes für die Neuen Länder an das Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development, Rostocker Beiträge zur Regional- und Strukturforschung, Rostock 2008. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Standardvorgaben der infrastrukturellen Daseinsvorsorge, BMVBS-Online-Publikation, Nr. 13/2010, Berlin 2010. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Raumordnungsstrategien von Bund und Ländern zum demografischen Wandel. Dokumentation der Auslobungskonferenzen im Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge, Berlin 2011. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: Wirtschaftsdaten Neue Bundesländer, Berlin 2011. Eich-Born, Marion: Mit starken Netzwerken kleine Unternehmen in den Wandel einbinden – das Projekt COMET stellt sich vor, in: Südthüringische Wirtschaft (hrsg. v. IHK Südthüringen), Nr. 6/2009, S. 7 f. Färber, Gisela: Finanzielle Rahmenbedingungen der Daseinsvorsorge, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 18–20.

Demografischer Wandel als Chance für Thüringen

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Gatzweiler, Hans-Peter: Daseinsvorsorge und Siedlungsentwicklung. Befunde zum demografischen Wandel aus Sicht der Raumordnung, Berlin 2011. Greiving, Stefan: Sonderexpertise Postwesen, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 8. Herdt, Jürgen: Sonderexpertise Gesundheitswesen, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 9 f. IHK Erfurt (Hg.): Einzelhandelsatlas, Erfurt 2011, S. 1 ff. Industrial Asset Management Council (IAMC): Site Selection, Norcross, Georgia 2011. IW Consult GmbH: Bundesländer im Vergleich. Wer wirtschaftet am besten?, Köln 2011. Kopetsch, Thomas: Ärztliche Versorgungsplanung auf Knopfdruck, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1– 11/2010, Berlin 2010, S. 14–17. Optonet (Hg.): Die optische Industrie in Thüringen. Branchenreport 2011, Jena 2012. Schätzl, Ludwig: Wirtschaftsgeografie I. Theorie, 8. Aufl., Paderborn/München/Wien/Zürich 2001. Schmidt, Kerstin: Sicherung der Daseinsvorsorge in Schrumpfungsregionen, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 11–13. Spangenberg, Martin: Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 2. Staatskanzlei des Freistaats Sachsen/Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt/Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr: Eckpunktepapier zur Zusammenarbeit der mitteldeutschen Länder: Gemeinsam den demografischen Wandel gestalten, Erfurt 2011. Thüringer Landesamt für Statistik (Hg.): 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Erfurt 2010.

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Marion Eich-Born

Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr (Hg.): 1. Entwurf Landesentwicklungsprogramm 2025. Kulturlandschaft im Wandel. Herausforderungen annehmen. Vielfalt bewahren. Veränderungen gestalten, Erfurt 2011. TLG Immobilien: Immobilienmarkt Ostdeutschland 2011. Marktdaten der kreisfreien Städte und Berlins, Berlin 2011. Welch-Guerra, Max: Kulturlandschaft Thüringen, Weimar 2010. Winkel, Rainer: Ergebnisse und Konsequenzen für das Zentrale-Orte-Konzept, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 21–23. Winkel, Rainer: Hintergrund und Zielsetzung der Studie »Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte«, in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.): Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte, Moro-Informationen, 9/1–11/2010, Berlin 2010, S. 4–7. Winkel, Rainer: Öffentliche Infrastrukturversorgung im Planungsparadigmenwechsel, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 1–2/2008, S. 41–47.

Ulrich Blum

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen: Entwicklungsstrategien für die neuen Länder

1

Kleinteiligkeit der Wirtschaft als Entwicklungsschranke

Nach der Wende musste die ostdeutsche Wirtschaft privatisiert werden.1 Der Vorrang der Privatisierung vor der Sanierung – auch nicht immer eingehalten und meist nicht nur mit Verpflichtungen belastet, sondern auch mit Morgengaben erleichtert – bei gleichzeitiger Orientierung des Verkaufs an Betriebseinheiten zerstörte die vorhandenen Zuliefer- und Absatzbeziehungen weitgehend, also die heute als so bedeutend erkannte Netzwerkstruktur. Denn die ostdeutsche Wirtschaft war in Bezug auf die Wertschöpfung erheblich tiefer gegliedert als das, was moderne Unternehmen im Westen kannten. In der Tat hatte die sozialistische Zentralisierung, besonders durch die Enteignungen des Mittelstandes in den 1970er Jahren und die anschließende Konzentration der Wirtschaft, genau die gegenläufige Tendenz zur Dezentralisierung im Westen, mit der man sich flexibel auf die Probleme, die die Änderungen in der Weltwirtschaft mit sich brachten, einstellte.2 Die Folge ist, wie die folgende Abbildung verdeutlicht, eine im Vergleich zum Westen kleinteilige Wirtschaft, deren wenige großbetriebliche Formen fast ausschließlich verlängerte Werkbänke sind.

1 Zur Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft siehe Ulrich Blum/Herbert Buscher/Hubert Gabrisch/Jutta Günther/Gerhard Heimpold/Cornelia Lang/ Udo Ludwig/Martin Rosenfeld/Lutz Schneider: Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, IWH-Sonderheft 1/2009, Halle (Saale) 2009. 2 Ulrich Blum/Leonard Dudley: The Two Germanies: Information Technology and Economic Divergence, 1949–1989, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, vol. 155, Nr. 4/1999, S. 710–737; dies.: Blood, Sweat, Tears: Rise and Decline of the East German Economy, 1949–1988, in: Journal of Economics and Statistics, vol. 220, Nr. 4/2000, S. 438–452.

178

Ulrich Blum

Abbildung 1: Umsatzanteile nach Größenklassen 2008

Ostdeutschland

15,9%

Westdeutschland

8,2% 9,1%

0% bis 1 Mio. €

16,2%

24,4%

43,5%

18,0 %

20% 1‐5 Mio. €

64,7%

40%

60% 5‐50 Mio. €

80%

100%

mehr als 50 Mio. €

Quelle: Statistisches Bundesamt (Umsätze der Unternehmen, ohne Umsatzsteuer, Lieferungen und Leistungen über 17.500 €).

Produktivität gibt es nur mit Markt. Technische Produktivitäten sind zwar notwendig, um erfolgreich zu sein, aber eben nicht hinreichend. Deshalb ergab sich die große Problematik, nicht nur die Vorleistungsindustrie auf neue Lieferverflechtungen umorientieren zu müssen, es mussten auch neue Endkunden gefunden werden, denn diese brachen durch die Auflö­sung der Sowjetunion schneller weg, als im Westen neue Märkte erobert werden konnten. Hinzu trat ein gehöriges Maß an »industriellem Mobbing«, das ostdeutsche Unternehmen oft schwer beschädigte. Man denke nur an die Debatte um den FCKW-freien Kühlschrank aus dem Erzgebirge, dem der süddeutsche Konkurrent Explosionsgefahr nachsagte. In der Tat müssen betriebliche Potentiale der Exportorientierung noch stärker als bisher genutzt werden, zumal damit die Produktivität ansteigt.3 Dies ist auch der Grund, »basic industries« nach dem Primäreffekt-Kriterium im Programm der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« (GRW) zu fördern.

3 �������������������������������������������������������������������������� Udo Ludwig/Brigitte Loose/Cornelia Lang: Exportförderung bedarf der Erkundung betrieblicher Potenziale. Befunde für Thüringen, in: IWH Wirtschaft im Wandel, Nr. 5/2008, S. 183–192.

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

2

179

Bedeutung kreativer Regionen

Industrielle Forschung und Entwicklung (F&E) – meist auf den Wettbewerbsmarkt der Produkte zielend – ist in erheblichem Maße an den Standort der Führungszentralen gekoppelt. Insofern sind in den neuen Ländern solche Wirtschaftspolitiken, die »Quasi-Zentralen-Effekte« emulieren und beispielsweise das Ausreichen von Fördermitteln an verlängerte Werkbänke an das Vorhandensein entsprechender F&E-Kapazitäten binden, durchaus förderlich. Das wird vor allem dann essentiell, wenn die Umsetzung von Entwicklungen im industriellen Produktionskontext überprüft werden muss: Lässt sich das neue Bremssystem problemlos am vorhandenen Fließband in Mosel oder Eisenach einbauen? Wie sind die Fertigungseigenschaften eines neuen Mikrochips? Gerade für mittelgroße Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, aber auch für Hochschulen sind derartige Kapazitäten wesentlich und begründen positive Kooperationsmilieus. Der Umbau der ostdeutschen Wirtschaft ist besonders dort geglückt, wo das regional gebundene innovative und industrielle Erbe aus der Zeit der Industrialisierung, das von der DDR an vielen Stellen weitergetragen worden ist, nun zu neuer Blüte geführt werden konnte. Betrachtet man in den neuen Ländern vor allem die horizontalen Cluster, also solche Strukturen, die auf gemeinsamen Technologien aufbauen, so erkennt man die Verbindung von industrieller Tradition und Modernität deutlich. Die entsprechenden Regionen in Thüringen, besonders entlang der Städtereihe Jena – Erfurt – Eisenach, nehmen heute nicht nur im gesamtdeutschen, sondern auch im Weltmarktmaßstab bereits eine dominante Stellung in Bezug auf ihre Innovationsleistung ein. Die folgende Abbildung verdeutlicht, wie stark die regionale Differenzierung der Forschungsleistungen im Osten ist – wie auch im Westen. Als langfristig problematisch erscheint das niedrige Niveau. Die Werte schwanken weit stärker als die Industrialisierungsquoten, die für Forschung und Entwicklung meist die wesentlichen Bezugspunkte sind, was Fragen zur Zukunftsfähigkeit einzelner Regionen aufwirft.

180

Ulrich Blum

Abbildung 2: Interne F&E-Aufwendungen im Wirtschaftssektor im Jahr 2006 je Einwohner

Baden‐ Württemberg Bayern Hessen Hamburg Berlin Niedersachsen Bremen Nordrhein‐ Westfalen Rheinland‐Pfalz Sachsen Thüringen Schleswig‐ Holstein Saarland Sachsen‐Anhalt Mecklenburg‐ Vorpommern

IWH

Brandenburg

0

200

400

600 Euro je Einwohner

800

1000

1200

Quelle: Wissenschaftsstatistik des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, Dezember 2008, Arbeitskreis »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder«, März 2009, Berechnungen und Darstellung des IWH.

3

Clusterdynamik und die Relevanz der Führungsfunktionen

Vertikale Cluster, die von einem dominanten Unternehmen gezogen werden, erlaubten gleich zu Anfang, die wirtschaftliche Lage durch Großinvestitionen und den Aufbau von Beschäftigung zu stabilisieren.4 Hierzu zählen insbesondere die Fahrzeugindustrie, die Mikroelektronik und die Chemie­ industrie. Sie und die Bauinvestitionen erlaubten das erste Überbrücken der Folgen des Zusammenbruchs im gewerblichen Bereich. Die horizontalen Cluster mussten sich erst ausbilden, meist durch staatliche Forschungs- und Innovations­aktivitäten ausgelöst bzw. gerettet. Dann aber waren sie in der Lage, die technologische Kompetenz der Region weit stärker zu ertüchtigen. 4 Zur Systematik der Cluster Ulrich Blum: Institutions and Clusters, in: Charlie Karlsson (Hg.): Handbook on Research on Innovation and Clusters, Cheltenham/Northampton 2008, S. 361–373; zu den Wettbewerbsstrukturen Michael Porter: Clusters and the New Economics of Competition, in: Harvard Business Review, Nov–Dec 1998, S. 77–90.

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

181

Heute besitzen sie den Vorteil, dass die in das Cluster einbezogenen Unternehmen auf der Absatzseite oft wenig Konkurrenz haben, diese aber auf dem Arbeitsmarkt massiv ist. Genau diese aber erlaubt es auch, eine überkritische Ausbildungsqualität vor Ort vorzuhalten. Damit werden Demografie, Human­kapital und vor allem auch eine qualifizierungsorientierte Bildung und Ausbildung bedeutsam. In Thüringen sind damit die Fachhochschulen, die Technische Hochschule in Ilmenau und die Universitäten, insbesondere Jena mit einer langen naturwissenschaftlichen Tradition, von besonderer Bedeutung. Die Reorganisation der Wirtschaft hat Thüringen eine der höchsten Industrialisierungsquoten in Deutschland beschert, es aber nicht vermocht – und das gilt für alle ostdeutschen Bundesländer – eine für die Internationalisierung überkritische Unternehmens­ struktur auf breiter Basis zu schaffen. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Lohnstückkosten (und auch niedrige Lebenshaltungskosten) ist auf Dauer nicht nachhaltig, wenn nicht die erforderlichen Führungsfunktionen aufgebaut werden. Headquarters stehen für rund 30 Prozent der unternehmerischen Wertschöpfung und auf volkswirtschaftlicher Ebene für rund 20 Prozent der Wertschöpfung.5 Von den HDAX Unternehmen liegen vier in den neuen Ländern, davon zwei in Thüringen (Jenoptik und Carl Zeiss Meditec).

5 Ulrich Blum: Deindustrialisierung zerstörte ostdeutsche Führungsfunktionen, in: BVWM Kurier, Teil 1, 13. Jg., Nr. 3/2007, S. 16 f.; Teil 2, 13. Jg., Nr. 4/2007, S. 16 f.; Teil 3, 13. Jg., Nr. 5/2007, S. 16; ders.: Der Einfluss von Führungsfunktionen auf das Regional­einkommen: Eine ökonometrische Analyse deutscher Regionen, in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 6/2007, S. 187–194; ders.: The Impact of Location and Centrality on Regional Income – the Concept of Input Potentials and Regional Production after 20 Years, in: ders./Rolf Funck/Jan Kowalski/ Antoni Kuklinski/Werner Rothengatter: Space – Structure – Economy: A Tribute to August Lösch, Baden-Baden 2007, S. 353–363.

182

Ulrich Blum

Abbildung 3: Lohnstückkosten im Verarbeitenden Gewerbe = (Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer / Bruttowertschöpfung in jeweiligen Preisen je Erwerbstätigen) * 100 250,0

200,0

Index

150,0

100,0

50,0

0,0 1991

1992

1993

1994

1995

Thüringen

1996

1997

1998

1999

2000

alte Bundesländer ohne Berlin

2001

2002

2003

2004

2005

2006

neue Bundesländer einschließlich Berlin

2007

2008

2009

2010

IWH

Quelle: Arbeitskreis »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder«, Stuttgart 2001, 2012, Berechnungen und Darstellung des IWH.

Eine zentrale Frage für derartige horizontale Clusterentwicklungen betrifft die nach dem Innovationskanal, also der Herkunft neuer Ideen, die zunächst in das Inventionssystem eindringen und zu Entwicklungen führen, die anschließend zu Innovationen reifen, also am Markt erfolgreichen neuen Kombinationen, und zum zweiten ist zu klären, welche Branchen den Kanälen zuzuordnen sind. Tidd, Bessant und Pavitt haben die Branchen nach den wesentlichen technologischen Pfaden (Trajektorien) geordnet.6 Sie unterscheiden zwischen zulieferdominierten Sektoren, Sektoren mit Massenproduktionsvorteilen, informationsintensiven Sektoren, wissenschafts­basierten Sektoren und hochspezialisierten Anbietern. Die fünfte Gruppe stellt den interessantesten originären Treiber des technischen Fortschritts dar, der mittels neuer Informationstechnologien aufgewertet wird, da technologische Kenntnisse und kunden­spezifische Rückkopplungen hier besonders relevant sind. Dies gilt zu einem geringeren Grad für die vierte Gruppe, da ein erheblicher Teil des Wissens hier als Wettbewerbselement der Geheimhaltung unterliegt. Gelingt es, 6 Joseph Tidd/John Bessant/Keith Pavitt: Managing Innovation. Integrating Techno­ logical, Market and Organizational Change, Chichester 1997.

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

183

dieses durch Patente zu schützen, findet sich hier ein wesentliches erstes Element der Technologieverbreiterung hin zu den GPT, den general purpose technologies.7 Unternehmensführung und Wirtschaftspolitik sind dabei vor allem über die Potentiale von Headquarter-Kompetenzen und F&E-Fähigkeiten mit den entsprechenden regionalökonomischen Kompetenzen8 und den durch die GPT erzeugten Externalitäten, die auch wachstumswirksam werden, verbunden.9 In der Spezifik der neuen Länder sind horizontale Cluster vor allem Verknüpfungen der vierten und der fünften Gruppe. In der dritten Gruppe ist der unmittelbare Struktureffekt infolge eines hohen Reorganisationsdrucks bei verbesserten Informationstechnologien besonders deutlich. Die ersten beiden Sektoren werden entweder indirekt über ihre Lieferanten oder durch kleine Prozessschritte betroffen sein. Die Einordnung eines Sektors in diese Struktur kann sich ändern – das Verlagswesen wäre früher wohl der zweiten Kategorie zuzuordnen gewesen, heute hingegen eher der dritten. Aus Sicht der neuen Länder bietet die historisch gewachsene Kompetenz im Industriedesign10 weitere wichtige Ansatzpunkte für Markterfolge.

4

Relevanz von externem Wachstum und Marktkonsolidierung

Werden diese Unternehmen der vierten und fünften Kategorie an Gebietsfremde verkauft, so droht damit die Gefahr, dass die Perlen der technologischen Entwicklung, die sich aus dem Mittelstand heraus entwickelt haben, verloren gehen, womit eine »Headquarter-Strategie« unmöglich wird.11 Das liegt unter anderem daran, dass Kapital derzeit noch billig ist, was Übernahmen erleichtert, während die Knappheit an Fachkräften den Neuaufbau einer Produktion, vor allem auch mit einer oft für den Käufer nicht vollständig bekannten Technologie, erschwert. Vor 40 Jahren war das noch umgekehrt, da war es günstiger, einen neuen Unternehmensteil aufzubauen und schwieriger, etwas zu kaufen. Das benachteiligt die Entwicklung in den neuen Ländern. 7 Elhanan Helpman: General Purpose Technologies and Economic Growth, Cambridge, Mass. 1998. 8 Franz Kronthaler: Economic Capability of East German Regions: Results of Cluster Analysis, in: Regional Studies, Nr. 6/2005, S. 739–750. 9 Paul M. Romer: Endogenous Technological Change, in: Journal of Political Economy, Nr. 98/1990, S. 70–102. 10 Zu nennen sind hier insbesondere die Tradition der Burg Giebichenstein, des Bauhauses oder von Junkers. 11 Man erinnere sich daran, dass vor 30 Jahren der heutige globale Konzern SAP ein Mittelständler war.

184

Ulrich Blum

Dabei sollten ostdeutsche Unternehmen eigentlich zum internen Wachstum, aber auch zu Marktkonsolidierung und zu externem Wachstum befähigt sein. Denn empirische Analysen belegen derzeit keine allgemeine Eigenkapitalschwäche bei den ostdeutschen mittelständi­schen Unternehmen. Ganz im Gegenteil, die Eigenkapitalausstattung der kapitalintensiv produzierenden mittelständischen Industrieunternehmen ist dort sogar höher als in Westdeutschland. Dieser grundlegende Befund wird bestätigt durch eine Analyse auf Länderebene, die Schulz, Titze und Weinhold kürzlich, unter Anwendung eines exklusiven Datensatzes des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, erstmalig präsentierten.12 In der Tat weisen insbesondere die Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes in Thüringen und Sachsen vor allem im Vergleich zum Westen sehr hohe Eigenkapitalquoten auf. Dies könnte eine Folge thesaurierter Fördergelder sein. Vorsichtige Hinweise auf Lücken in der Eigenkapitalausstattung lassen sich allenfalls in ausgewählten Branchen des Verarbeitenden Gewerbes und nur in bestimmten Regionen finden, beispielsweise im Maschinenbau des Landes Sachsen-Anhalt. Nachfolgende Grafik zeigt die Zusammenhänge. Abbildung 4: Kapitalausstattung im mittelständischen Verarbeitenden Gewerbe 1998– 2009 (in %)

Quelle: IWH (Anzahl der pro Jahr in die Auswertung eingehenden Unternehmensbilanzen (Minimum/Maximum): Baden Württemberg (3.581/4.946), Brandenburg (150/225), Deutsch­land (16.628/26.483), Mecklenburg-Vorpommern (106/188), Niedersachsen (943/1.665), Sachsen (511/782), Sachsen-Anhalt (163/302), Thüringen (341/468)).

12 Holger Schulz/Mirko Titze/Michaela Weinhold: Eigenkapitalausstattung in den Neuen Ländern teilweise höher als in Westdeutschland, in: Wirtschaft im Wandel, 17. Jg., Nr. 5/2011, S. 180–187.

185

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

Die erhöhte Eigenkapitalquote erlaubt aber auch eine andere Interpretation: Es existieren Fundamentalrisiken im Osten, die, um gegebene, überall in Deutschland sonst gleiche Bankbedingungen zu erfüllen, ein erhöhtes Eigenkapital verlangen. Typische Vermutungen könnten sein: Diversifikation, Größe und Marktorientierung, die allesamt auch mit der verstärkten Vorleistungsorientierung verbunden sind. Zu bedenken ist in jedem Fall, dass für eine Wachstumsstrategie nicht nur der Fachkräftebedarf langfristig als Beschränkung wirken kann; auch verteuerte Ressourcen- und Kapitalkosten sind in Rechnung zu stellen.13

5 Konvergenz Wer behauptet, Thüringen werde im Jahr 2020 einen Lebensstandard wie in Westdeutschland erreicht haben, der verkennt, dass doppelt so hohe Wachstumsraten wie im Schnitt der übrigen Bundesrepublik nicht zu erwarten sind. Eine solche Aussage weckt falsche Hoffnungen und führt im Westen zur Forderung, dann die Hilfen, die nach Auslaufen des Solidarpakts weitgehend aus dem horizontalen Finanzausgleich kommen, vollständig einzustellen. Das ist gefährlich. Tatsächlich ist der Finanzierungsbedarf enorm, er wird aber zunehmend durch den Beitrag Ostdeutscher zur gesamtdeutschen Wirtschaftsleistung relativiert, wie dies die nachfolgende Grafik zeigt: Abbildung 5: Nettotransfers und BIP-Beitrag des Migrationssaldos 1990–2010 100 Billion Euro at current prices

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1990

1992

1994

1996

Nettotransfers

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

BIP‐Beitrag

Quelle: IWH, eigene Berechnungen.

13 Richard Dobbs/Alex Kim/Susan Lund: Growth in a Capital-Constrained World, in: McKinsey Quarterly, Nr. 2/2011, S. 83–93.

186

Ulrich Blum

Seit der Wiedervereinigung haben rund 4,3 Mio. Ostdeutsche, überdurchschnittlich qualifiziert, jung und mehrheitlich weiblich, den Weg nach Westdeutschland gefunden, rund 2,3 Mio. Westdeutsche wanderten in den Osten. Gerade der Süden der Altländer profitiert von dem zusätzlichen Erwerbspotential und der demografischen Stabilisierung. Unterlegt man den Migrationssaldo mit den entsprechenden Pro-Kopf-Einkommen, so liegt bereits heute der dem Westen zusätzlich verfügbare BIP-Beitrag über den Nettotransfers.

6

Aufgaben für Unternehmen und Wirtschaftspolitik

Die bisherige Entwicklung zeigt, dass in einer bezüglich der Standortwahl »flachen Welt«14 der Verschränkung von regionalen Milieufaktoren im Wettbewerb der Wirtschaftsräume und der unternehmensstrategischen Positionierung im Wettbewerbsumfeld eine hohe Bedeutung zukommt. Sie äußert sich vor allem im Wettbewerb um Fachkräfte in einer Interdependenz »sozialer Entwicklungspotentiale« und »beruflicher Entwicklungspotentiale«. Unternehmen in den neuen Ländern sind gefragt, ihre strategische Positionierung im Sinne eines Wachstumswillens zu überdenken, um schlagkräftigere Unternehmenseinheiten mit »Headquarter-Potential« aufzubauen, die in der internationalisierten, globalen Welt als Global Medium-Sized Enterprises (GME) Wachstumspotential besitzen. Der Wille zur Expansion, der oft nicht hinlänglich ausgeprägt ist, muss gestärkt werden. Die Wirtschaftspolitik wird dies mit einer Merger&Acquisition-Build-Strategie flankieren müssen, die vor allem auch die vertikale Integration dann stärkt, wenn dadurch Kernkompetenzen gesichert werden können. Dabei haben die Forschungsund Entwicklungspolitik und -förderung ebenso wie die klassische einzelbetriebliche Förderung neben dem internen vor allem das externe Wachstum verstärkt aufzugreifen. Insbesondere müssen Milieueffekte vor Ort generiert werden, die das Ausschlachten von technologischen Perlen durch Gebietsfremde unattraktiv machen: Faktisch muss der potentielle (gegenwärtige) Verkaufspreis kleiner sein als der fundamentale (in die Zukunft gerichtete und damit risikobehaftete) Ertragswert. Deutschlands industrielle Stärke ruht im Anlagenbau und in der Investitionsgüterindustrie. Hier bieten sich technologische Pfade an, die das Wachs-

14 Thomas L. Friedman: The World is Flat. The Globalized World in the Twentyfirst Century, New York 2004.

187

Ökonomischer Umbau – ökonomische Verflechtungen

tum langfristig tragen.15 Besser als in besetzten Märkten der Endproduzenten letztlich unterzugehen, wie dies erst die Speicherchip- und nun die Solarmodulbranche vormachen, ist es, weltweit die entsprechenden Anlagen zu liefern oder für Spezialanwendungen Nischen nachhaltig zu besetzen. Auch hier waren die Deutschen immer Meister – es gibt deshalb noch immer einen profitablen Fensterbau, weil ein erheblicher Teil der Produkte auf Maß gefertigt wird. Warum soll dies nicht auch für Dachsysteme im Denkmal- oder Ensembleschutzbereich möglich sein, bei denen eine flächenschlüssige Dachhaut neben Solarelektrik oder -thermie auch die Nässehaut und die Isolierung bietet? Gelingt es nicht, Führungszentralen aufzubauen und auf einen neuen Technologiepfad aufzuspringen, dann wird der Entwicklungspfad der neuen Länder so, wie seit den letzten zehn Jahren, nichts anderes als die Fortsetzung der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR in den 1950er und 1960er Jahren sein – eine 70-Prozent-Wirtschaft in Bezug auf die Leistungsfähigkeit des Westens.16 Diese Entwicklung wurde nur durch die Honecker-Jahre unterbrochen, deren Zentralisierungs- und Enteignungspolitik die DDR so schwächte, dass sie endgültig ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verlor und schließlich wirtschaftlich und politisch kollabierte. Der Aufschwung Ost hat dies wirtschaftlich nur ausgeglichen. Abbildung 6: Entwicklung des Pro-Kopf BIP in Deutschland 1900–2010 35 000

Entwicklung des Pro-Kopf BIP in Deutschland, 1900-2010

per-capita income (€) in prices of 1995

30 000 25 000 20 000 15 000 10 000 5 000 0

1900

1910

1920

1930

Reich+Westdeutschland

1940

1950

1960

Ostdeutschland

1970

1980

1990

2000

2010

Vereintes Deutschland

Quelle: Ulrich Blum: East Germany’s Economic Development Revisited: Path Dependence and East Germany’s Pre- and Post-Unification Economic Stagnation, in: Journal of Post-Communist Economies (erscheint demnächst).

15 Richard R. Nelson/Sydney G. Winter: An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge, Mass./London 1982. 16 Ulrich Blum: An Economic Life in Vain, Path Dependence and East Germany’s Pre- and Post-Unification Economic Stagnation, IWH-Discussion Paper 10, Halle (Saale) 2011.

Peter Frey

Greentech – Chance für Mitteldeutschland

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Die Chance: Mitteldeutschland in der Pole-Position bei neuen Märkten

Die Energiewende hin zur nachhaltigen, ökologisch akzeptablen Energieversorgung und -verwendung schafft den ökonomischen Rahmen für die Entwicklung neuer Technologien – Greentech – und für die Etablierung neuer Wirtschaftsbereiche. Wenn alle gleichermaßen als Newcomer in einem neuen Technologiefeld antreten, verliert die angestammte Dominanz der Etablierten an Bedeutung, und es eröffnen sich die besten Chancen für jene Regionen, die mit der größten Dynamik auf diese neuen Herausforderungen reagieren. In Mitteldeutschland wurden die Chancen auf Teilhabe an diesen neuen Märkten schon frühzeitig genutzt. Hier konnte sich die Wertschöpfungskette der Photovoltaik (PV) zu einer hochattraktiven Industrieregion formieren, die weltweit Beachtung findet. Der Schwerpunkt der deutschen Produktion für Photovoltaik liegt heute in Mitteldeutschland. Der vorliegende Beitrag ist ein Praxisbericht über die Umsetzung eines Strategiekonzeptes für die Solarbranche und über den damit eingeleiteten ökonomischen Umbau in Mitteldeutschland. Es wird aufgezeigt, wie durch Bündelung der Ressourcen in einem strategischen Gesamtkonzept Innovationen auf den Weg gebracht und Unternehmens- und Branchenwachstum in der Region Mitteldeutschland erzielt werden. Die Diffusion der Photovoltaik und damit die Marktentwicklung wurden weltweit durch das deutsche Markteinführungsprogramm im Rahmen einer Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2003 wesentlich beschleunigt. Deutschland ist bis heute weltweit der größte Regionalmarkt für Photovoltaik. Im Jahr 2010 erfolgte hier ein Zubau von 7,3 GW PVLeistung, das sind 44 Prozent des weltweiten Zubaus. Dieser Zuwachs entspricht einem Marktwert von ca. 22 Mrd. Euro für die installierten Systeme. In 2011 wurden sogar 7,5 GW neu installiert, und alle Prognosen deuten darauf hin, dass diese Erfolgsgeschichte fortgesetzt werden kann. An der Marktentwicklungskurve ist zu sehen, wie rasant die Marktdurchdringung in Deutschland in den letzten Jahren verlaufen ist (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: Entwicklung der Solarstromproduktion in Deutschland 1999–2011

Quelle: Solarvalley GmbH.

Damit wird ein unverzichtbarer Beitrag zur Energiewende in Deutschland geleistet. Denn mit der Photovoltaik wird einer der intelligentesten Wege der Stromerzeugung beschritten. Durch direkte Umwandlung des Sonnenlichts in elektrischen Strom mit Hilfe eines Halbleitereffekts im Innern eines Werkstoffs, der selbst im Überfluss vorhanden ist (Silizium), wird die Sonne – mit ihren unerschöpflichen Ressourcen durch die auf ihr ablaufenden Kernprozesse – zur dauerhaften Deckung unseres Energiebedarfs genutzt, nahezu ohne Belastung von Umwelt und Klima. Durch Dezentralität kann die Photovoltaik als einer von drei Pfeilern neben Wind und Biomasse maßgeblich zum Gelingen der Energiewende beitragen: Photovoltaik als vernetzte dezentrale Energiequelle benötigt keinen Ausbau der Hochspannungsleitungen für die Transportnetze, Photovoltaik besitzt hohe gesellschaftliche Akzeptanz, hohe Flexibilität und ein nachgewiesenes hohes Kostensenkungspotential. Andererseits eröffnet der weltweit größte Marktplatz der Photovoltaik für die deutschen Produzenten als Binnenmarkt eine außerordentliche wirtschaftliche Chance. Das globale jährliche Wachstum betrug in den letzten 10 Jahren durchschnittlich über 50 Prozent, wovon auch die deutschen Hersteller und insbesondere Zulieferer profitieren konnten.

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Die Herausforderung: Überwindung struktureller Defizite in Mitteldeutschland

In Mitteldeutschland produzieren heute Unternehmen auf allen Stufen der Wertschöpfungskette der Photovoltaik in verschiedenen Technologien. Hier haben sich in kürzester Zeit autarke Unternehmen oft als integrierte, global agierende Produzenten etabliert, mit allen Unternehmensfunktionen inklusive Forschung und Entwicklung – und nicht nur ausgelagerte Werkbänke wie sonst so häufig in dieser Region. Von der Dynamik des industriellen Aufbaus und dem Pioniergeist einer jungen Branche profitieren auch der Aufbau einer passgenauen externen Forschungsinfrastruktur und der Ausbau von Universitäten und Hochschulen. Diese junge Branche eröffnet der Region die Chance, endlich ihre strukturellen Defizite im Bereich Forschung und Entwicklung (F&E) abzubauen. Hinsichtlich Forschungsintensität rangiert die Wirtschaft in den neuen Bundesländern als Schlusslicht im nationalen Vergleich. Das ist insbesondere dem Umstand geschuldet, dass große Unternehmen, die üblicherweise auch leistungsfähige interne Forschungsabteilungen betreiben, in den neuen Bundesländern Mangelware sind. Einige Länder wie Sachsen und Thüringen können hinsichtlich des F&E-Anteils am regionalen Bruttoinlandsprodukt zwar mit dem mittleren Maß in den alten Bundesländern mithalten. Aber diese Forschung erfolgt zu wenig direkt in den Firmen, weil gerade die Großunternehmen fehlen und die meisten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sich Forschung und Entwicklung gar nicht leisten können (siehe Abbildung 2). Abbildung 2: Forschung und Entwicklung in der Region Mitteldeutschland im nationalen Vergleich

Quelle: Solarvalley GmbH.

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Die Bewältigung dieses Defizits ist die Herausforderung, vor der Mitteldeutschland steht, wenn es von dem Wachstumsmarkt Greentech – insbesondere von der Photovoltaik – profitieren will. Hier setzt die Idee des Spitzenclusters Solarvalley Mitteldeutschland an: »Wir müssen es gemeinsam machen, wenn wir Größennachteile ausgleichen wollen. Wir müssen ein Netzwerk der Innovation aufbauen und Vorsprung dadurch schaffen, dass wir ein umfassendes Innovationskonzept gemeinsam umsetzen.«

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Die Strategie: Innovation durch Kooperation

Die Clusterregion Mitteldeutschland – bestehend aus den drei Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – hat die höchste Dichte an Industrieunternehmen der Photovoltaik in Europa. In 2011 waren 19.500 Mitarbeiter bei den Mitgliedern des Spitzenclusters beschäftigt. Die führenden Produzenten der Region – sie vertreten 47 Prozent des deutschen Photovoltaik-Industrieumsatzes – sind Motor des Innovationskonzeptes Solarvalley Mitteldeutschland (siehe Abbildung 3). Abbildung 3: Das Spitzencluster Solarvalley Mitteldeutschland

Quelle: EuPD/Solarvalley GmbH.

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Derzeit verfolgen 35 Industrieunternehmen, neun Forschungseinrichtungen, fünf Universitäten und fünf Hochschulen sowie diverse Bildungsträger in der gemeinsam vereinbarten Gesamtstrategie die drei inhaltlich miteinander verknüpften Arbeitsbereiche Technologie, Bildung und Vernetzung (siehe Abbildung 4). Abbildung 4: Das Strategiekonzept des Spitzenclusters

Quelle: Solarvalley GmbH.

Mit diesem Konzept konnte sich die Region bei der Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) bereits in der ersten Runde im Jahr 2008 gegenüber einem starken Wettbewerbsumfeld behaupten. Solarvalley Mitteldeutschland wird nun als Spitzencluster über einen Zeitraum von fünf Jahren mit einem Bundeszuschuss von 40 Mio. Euro gefördert. In 98 Einzelprojekten mit einem Gesamtbudget von 120 Mio. Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren wird das Strategiekonzept umgesetzt. Die öffentliche Hand – BMBF und Länderministerien – fördert 50 Prozent der Aufwendungen in den Projekten. Das Cluster wird von der Industrie geführt, die auch die Arbeitsthemen, Partnerauswahl und Finanzierung des Gesamtbudgets verantwortet. Dieser über die Wertschöpfungskette eng verkoppelte Entwicklungsansatz wird durch die regionale Nähe der Akteure in hervorragender Weise unterstützt. Technologie: Die Technologieentwicklung wird im Rahmen einer langfristigen und über alle Stufen der Wertschöpfungskette abgestimmten Innovati-

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onsstrategie zur Erhöhung des Wirkungsgrades der Solaranlagen, zur Verbesserung von Produktzuverlässigkeit und -lebensdauer und zur Reduktion der Produktionskosten forciert. Über allen Innovationen steht das übergeordnete Ziel einer Reduktion der Gestehungskosten für Solarstrom. Hierzu müssen insbesondere die Kosten für das Solarmodul, in dem das Sonnenlicht in Strom umgewandelt wird, deutlich reduziert werden. Das Entwicklungskonzept erstreckt sich von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung in innovativen Produktionstechnologien. Eine besondere Bedeutung für das Erreichen dieser anspruchsvollen Zielsetzung hat die Passfähigkeit der jeweiligen Entwicklungsergebnisse mit der Schnittstelle zur folgenden Wertschöpfungsstufe (siehe Abbildung 5). Abbildung 5: F&E-Programm für Produkt- und Prozessinnovationen im Solarvalley Mitteldeutschland

Quelle: Solarvalley GmbH.

Die Kostenziele für die angestrebten Innovationen orientieren sich an den Erfahrungswerten der Preisentwicklung auf dem Weltmarkt: Bei Verdoppelung der installierten PV-Leistung sinkt der Preis um 20 Prozent. Das Konzept Solarvalley soll dafür sorgen, dass diese Preis-Lernkurve in die Zukunft – unter Wahrung der Margen bei den Produzenten – fortgeschrieben wird (siehe Abbildung 6). Das Konzept hat bereits einen maßgeblichen Beitrag zur Erreichung des Etappenziels »Netzparität« geleistet. Für die vorherrschende Sonneneinstrahlung in der Region Mitteldeutschland wird dies im Jahr 2012

Greentech – Chance für Mitteldeutschland

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erreicht. Das heißt, ab diesem Zeitpunkt liegen die Gestehungskosten für Solarstrom bereits unter dem Preis des Haushaltstarifs. Abbildung 6: Preis-Lernkurve: Solarstrom auf dem Weg zum wettbewerbsfähigen Energieträger

Quelle: Adapted from National Renewable Energgy Laboratory/Solarvalley GmbH.

Bildung: Der Bereich Bildung beinhaltet die spezifischen Maßnahmen zur Deckung des Bedarfs an qualifizierten Fach- und Führungskräften auf sämtlichen Qualifikationsebenen. Es soll ein integrales Bildungssystem für alle Wertschöpfungsstufen und Fachdisziplinen sowie für übergreifende strategische Aufgaben, länderübergreifend abgestimmt, etabliert werden (siehe Abbildung 7).

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Abbildung 7: Bildung, Basis für Innovation

Quelle: Solarvalley GmbH.

Vernetzung: Das Clustermanagement unterstützt die Professionalisierung und den Ausbau des Netzwerkes sowie die Koordinierung der Photovoltaik in der Region. Dabei geht es zunächst um die Koordination und administrative Unterstützung von über einhundert Einzelprojekten im Bereich F&E und Bildung, um das Controlling bei der Umsetzung des Strategiekonzeptes und um die Weiterentwicklung der Konzeption. Es geht um die Kommunikation nach innen und nach außen. Besondere Bedeutung haben Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität der Region für nationale und internationale Kapitalgeber, die Koordination des gemeinsamen Auftretens bei internationalen Branchenvertretungen, Expertengremien und politischen Instanzen. Zur operativen Umsetzung wurde eine Clustermanagementplattform für die Netzwerkdienstleistungen mit Regionalbüros in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen installiert, die mit den Branchenvertretungen vor Ort kooperieren.

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Der Weg: Neue Technologien und Produkte

Das F&E-Programm zum Erreichen der Kostenziele wird in einem zeitlich und inhaltlich abgestimmten System von derzeit elf Verbundvorhaben realisiert. Es werden die kristalline und die Dünnschicht-Siliziumtechnologie als

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die derzeit weltweit wichtigsten Technologielinien der Photovoltaik bearbeitet. Daneben werden Forschungsansätze in der Dünnschichttechnologie (CIGS, CdTe) in Einzelprojekten verfolgt. Mit den Arbeitsschwerpunkten in der kristallinen Siliziumtechnologie wird angestrebt, mit möglichst wenig Silizium so viel Strom wie möglich zu erzeugen. Das bedeutet, dass die Dicke der Siliziumscheiben von heute 180 Mikrometer auf ca. 100 Mikrometer verringert und gleichzeitig der Wirkungsgrad von Solarzelle und Solarmodul erhöht werden. Für das übergeordnete Ziel einer Reduktion der Stromgestehungskosten müssen neue Lösungen sowohl auf der Ebene des Produkts als auch auf der Ebene der Produktionstechnologie entwickelt werden. Darüber hinaus sollen die Produktzuverlässigkeit und -lebensdauer über 30 Jahre gewährleistet sein. Bereits im Jahr 2011 wurden die nachfolgenden Meilensteine als Fortschritt gegenüber 2008 erreicht: mehr als 20 Prozent Materialeinsparung, eine Wirkungsgradverbesserung um 20 Prozent, eine Erhöhung der Zuverlässigkeit (Modullebensdauer über 30 Jahre) sowie eine Halbierung des Systempreises. Das industriegeführte F&E-Programm wurde erfolgreich gestartet, die notwendige Kooperationsstruktur ist implementiert und steht nun für die Lösung der noch anstehenden Aufgaben zur Verfügung (siehe Abbildung 8). Abbildung 8: Netzwerkstruktur der Verbundprojekte im Spitzencluster

Quelle: Malik Management/Solarvalley GmbH.

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Die Zwischenbilanz: Höhere Standards in Wissenschaft und Bildung

Die Branche Photovoltaik hat einen außerordentlichen Bedarf an hoch qualifizierten Fach- und Führungskräften. Neben der rein quantitativen Deckung des Personalbedarfs der neu entstandenen Branche liegt hier die Herausforderung in der Erfüllung der Qualitätsansprüche einer Industrie, die sich insbesondere im High-End-Segment international behaupten muss. Das Erreichen der Kostenziele ist eng mit den Innovationsszenarien der Industrieproduktion verkoppelt. Ein integrales, länderübergreifendes Bildungssystem muss diesen Anspruch unterstützen. Als Sofortmaßnahmen wurden neue Bachelorund Masterstudiengänge gestartet, Stiftungsprofessuren eingerichtet und die erste Solarvalley Summer School for Photovoltaics für Bachelor- und Masterstudenten sowie für Doktoranden initiiert und durchgeführt. Am Ende des Jahres 2011 sind folgende Zielmarken realisiert: – – – –

die Qualifizierung von 4.000 Facharbeitern in der Region, die Einrichtung von elf neuen Bachelor- und Masterstudiengängen, die Besetzung von sieben Stiftungsprofessuren, der Aufbau eines Netzwerks akademischer Ausbildung mit drei neuen Landesgraduiertenschulen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen für Spezialthemen der Photovoltaik, – der Aufbau einer Solarvalley Graduate School for Photovoltaics als länder­ übergreifendes Doktorandenkolleg sowie – der Start von 50 Promotionen.

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Der Ausblick: Wirtschaftsregion mit neuer Energie

Mit dem Innovationskonzept von Solarvalley Mitteldeutschland werden die notwendigen Strukturen für eine starke technologische Positionierung auf dem international umworbenen Wachstumsmarkt Greentech entwickelt. Heute zur Halbzeit der Umsetzung des Strategiekonzeptes für das Spitzencluster Solarvalley Mitteldeutschland werden Erfolge quantifizierbar, die sich auch in ganz nüchternen Wirtschaftsdaten widerspiegeln: 1.300 Mio. Euro wurden investiert und 3.500 neue Industriearbeitsplätze wurden geschaffen mit der Option auf weitere 500 Arbeitsplätze nach Abschluss der investiven Maßnahmen. Das ursprüngliche Strategiekonzept wird künftig in zwei Richtungen über den Produktbereich der Module und deren Wertschöpfungsstufen hinaus weiterentwickelt. Denn die künftigen Produkte sind nicht mehr nur ein-

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fache Module. Im Bereich der Architektur beispielsweise erhält die Gebäudehülle mit Hilfe einer entsprechenden Beschichtung eine Zusatzfunktion und wird so zum Stromgenerator. Oder im Bereich des Stromnetzes werden künftig die Solarmodule direkt mit Stromspeichern und einer intelligenten Steuerungselektronik kombiniert und können dann bedarfsgerecht unabhängig vom Sonnenstand den Strom dem Verbraucher zur Verfügung stellen und darüber hinaus wichtige Stabilisierungsfunktionen für das gesamte Stromnetz übernehmen. Gebäude integrierte Photovoltaik: Durch die Zusammenarbeit von Photovoltaik-Modul-Herstellern und Herstellern von Bauprodukten, Anwendern, Fachplanern und Architekten sollen innovative solare Systemlösungen konzipiert werden, die sowohl den technologisch-wirtschaftlichen und funktionalen Bedingungen als auch den gestalterischen Ansprüchen der Architektur und des Orts- und Landschaftsbildes gerecht werden. Systemlösungen hierfür werden das Produktprogramm der Hersteller ergänzen und Alleinstellungsmerkmale außerhalb des hart umkämpften Käufermarktes für Massenprodukte sichern. Beispielhaft für die Initiierung solcher Ansätze ist die inzwischen fest etablierte internationale Kongressreihe BauhausSolar in Erfurt, die im Jahr 2012 bereits zum fünften Mal stattfinden wird. Hier werden im Zusammenspiel von Bauhaus-Tradition – mit ihren Wurzeln in Weimar – und Greentech-Innovation einzigartige Systemlösungen kreiert. Damit verbunden ist die Auslobung des BauhausSolar Awards, ein international ausgeschriebener Zukunftspreis für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Architektur und Fachplanung, Landschaftsgestaltung sowie Stadt- und Regionalplanung. Damit werden – nur am Beginn noch kleine – Zukunftspfade in eine »Neue Kultur der Energie« angelegt, die zur Bewältigung der globalen Herausforderungen so dringend benötigt werden. Netzintegration: Die zunehmend erfolgreiche Diffusion der Photovoltaik erfordert neue Konzepte zur Netzintegration der Module als Solargenerator und die Entwicklung von angepassten, kostengünstigen Speichertechno­ logien. Mit kompletten »Energiemodulen« – ein angepasstes System von Solargenerator, Speicher und elektronischer Netzeinkopplungseinheit mit entsprechenden Netzdienstleistungsfunktionen – können sich die Photovoltaik-Hersteller als Systemlieferanten vom Massengeschäft abheben und im Zukunftsmarkt Greentech behaupten. Die Umsetzung dieses Strategiekonzeptes setzt den Keim für ganz umfassende neue Chancen in der Region Mitteldeutschland: – in der Umweltpolitik: Minderung des CO2-Eintrags in die Atmosphäre durch Einsatz von Solarstrom,

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– in der Wirtschaftspolitik: Photovoltaik als Treiber auf den neuen Greentech-Märkten, – in der Regionalpolitik: Entwicklung Mitteldeutschlands zu einer dynamischen Wirtschaftsregion mit anspruchsvollen Standards in Wissenschaft und Bildung, – in der Unternehmenspolitik: Beschleunigung und Optimierung des Innovationsprozesses zur Festigung der Marktposition. So werden in Mitteldeutschland durch das Spitzencluster Solarvalley Mitteldeutschland neben der Exzellenz bei den Produkt- und Technologieinnovationen, neben der Sicherung von Arbeitsplätzen in einer Zukunftsbranche und neben dem qualitativen Ausbau zu einer Wissens- und Technologie­ region auch die Weichenstellungen zum Wechsel in der globalen Energiestrategie auf die Agenda gesetzt. Die Photovoltaik hat in den vergangenen Jahren einen beispiellosen Boom in der Industrie entfacht. Die Entwicklungserfolge auf dem Weg in die Nutzung der umweltfreundlichen, unerschöpflichen Energiequelle des Sonnenlichts haben weltweit neue Akteure auf den Plan gerufen. Heute können mehr als doppelt so viele Module hergestellt werden, wie der Markt aufnimmt. Eine Wettbewerbsschlacht ist im Gange, die zu einer Marktbereinigung führen wird. In Mitteldeutschland wurde der Versuch unternommen, gute Rahmenbedingungen zu schaffen, indem sich die Industrie, Forschung und Bildung in der Region zusammengeschlossen haben. So sollen Größeneffekte genutzt werden, die Innovationspotenziale der Region effektiv ausgeschöpft und damit grundsätzlich Kostenvorteile erzielt werden. Das ist in der Vergangenheit auch gut gelungen. Die andere Seite ist aber, dass Innovationen Kapital brauchen, damit sie in die Produktion übertragen werden können. In diesem Punkt haben die asiatischen Hersteller den deutschen Herstellern klar den Rang abgelaufen. Dort wird eine staatlich geführte Industriepolitik betrieben, die sich insbesondere auf strategische Zukunftsfelder fokussiert. Und hierzu zählt eben auch die Photovoltaik. Die Staatsbank stellt den chinesischen Firmen nahezu unbegrenzt Kapital zur Verfügung. Das haben diese genutzt, um ihre Produktion entsprechend auszubauen. Mit der Konsequenz: Die großen Fabriken stehen mittlerweile nahezu alle in China, deutsche Firmen sind unter den ersten zehn kaum mehr zu finden. Alle Produzenten weltweit stehen unter einem gewaltigen Kostendruck, derzeit kann wohl niemand auf Renditen setzen. Unternehmen mit gut gefüllter Kasse werden so lange durchhalten, bis sich der Markt bereinigt hat. Solche, die ihre Finanzressourcen aufgebraucht

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haben, etwa weil sie in Innovationen investiert haben, brauchen frisches Kapital. Und wenn dies nicht gefunden wird, gehen sie in die Insolvenz – trotz guter Produktionsauslastung. Dieser Prozess mit ungewissem Ausgang für den Produktionsstandort Deutschland ist gerade im Gange. Klar ist, Produkte für den Massenmarkt können die Chinesen günstiger herstellen. Hierbei ist nicht die oft diskutierte Lohnkostenfrage ausschlaggebend, es geht vielmehr um die angesprochene Kapitalverfügbarkeit. Darin liegt der eigentliche Wettbewerbsvorteil chinesischer Hersteller. Hinzu kommen Fragen der Umweltstandards und Genehmigungsverfahren. Wie schnell kann die Produktionskapazität ausgebaut werden? In diesem Punkt haben die Chinesen ebenfalls den deutschen Produzenten einiges voraus. Die Veredelung von Produkten, da wird sich die Perspektive für deutsche Hersteller eröffnen. Es geht hierbei um Highend-Systeme mit hoher Wertbeständigkeit und hoher Qualität. In der Energietechnik geht es um Anlagen mit Amortisationszeiten von mehr als 20 Jahren. Da ist der Verkaufspreis nur ein Aspekt, optimierte Lebenszykluskosten sind insgesamt weitaus relevanter. Hier sind die Chancen deutscher Hersteller wie Bosch, Solarworld und anderer zu sehen, die dem Investor ein wertbeständiges Produkt anbieten, bei dem er sich darauf verlassen kann, dass es in den nächsten 20 Jahren auch funktioniert und falls doch ein Schadensfall eintreten sollte, der Hersteller das Garantieversprechen auch einlösen wird.

Roland Sturm

Chancen für ein Europa der Regionen

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Die Vision eines »Europa der Regionen«

Ein »Europa der Regionen« ist empirisch schwer in feste Konturen zu pressen und in historischer Perspektive ständig in Bewegung. Dennoch entstand in Deutschland in den 1980er Jahren die Vision eines »Europa der Regionen«. Wie kam es dazu? In den 1980er Jahren wurde den Europäern erstmals deutlich bewusst, welche Kraft die wirtschaftliche Globalisierung zu entfalten im Stande war. Die damalige japanische Hochtechnologieherausforderung machte den Europäern klar, dass neben dem Wirtschaftsraum USA nun neue Wirtschaftsräume entstanden waren, vor allem der asiatische. Dies veranlasste sie, sich stärker auf die Potentiale der EG zu besinnen und mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 einen Prozess einzuleiten, der zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes zum 1.1.1993 führte. Die Stärkung der EG schien ein weiterer Schritt zur Entmachtung der Nationalstaaten in Europa. Gleichzeitig verstärkte die EG ihre Regionalpolitik und erkannte in diesem Zusammenhang die europäischen Regionen als Partner an. Aus Sicht der Regionen erforderte der grenzenlose Binnenmarkt eigene industriepolitische Initiativen, um Arbeitsplätze und Firmen in den Regionen zu halten.1 Es schien so, als löse die regionale ökonomische Konkurrenz im erweiterten Binnenmarkt die nun nicht mehr vordringliche nationale ökonomische Konkurrenz ab. Die politischen Folgen der geänderten europapolitischen Konstellation fasste der amerikanische Soziologe Daniel Bell in dem Bonmot zusammen: Der Nationalstaat ist zu klein für die großen Probleme und zu groß für die kleinen Probleme heutiger Gesellschaften.2 Der damalige Bundespräsident

1 Vgl. Ulrich Jürgens/Wolfgang Krumbein (Hg.): Industriepolitische Strategien. Bundesländer im Vergleich, Berlin 1991; Roland Sturm: Die Industriepolitik der Bundesländer und die europäische Integration, Baden-Baden 1991. 2 Daniel Bell: Previewing Planet Earth in 2013, Washington Post vom 3. Januar 1988, S. B3.

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Roland Sturm

Richard von Weizsäcker formulierte 1991 den gleichen Gedanken differenzierter: »Es gibt nicht das Ende des Nationalstaats um seiner selbst willen. Es gibt aber ein für jeden erkennbares Bündel von Hauptaufgaben für Gegenwart und Zukunft, deren Lösung im Nationalstaat nicht erreichbar ist. Wir werden überhaupt nicht darum herumkommen, sukzessive Entscheidungsbefugnisse auf übernationale Organisationen zu übertragen oder in übernationalen Strukturen zu vereinen. Daneben gibt es ein primär menschlich und seelisch begründetes Bedürfnis nach Verankerung, das sich in vielen Teilen Europas ja vor allem in den Regionen erfüllt.«3

Der bayerische SPD-Politiker Peter Glotz veröffentlichte zu diesem Thema ein Buch mit dem Titel: »Der Irrweg des Nationalstaats«.4 In der Fachliteratur wurde ein »Sandwich-Modell«5 diskutiert, wonach der Nationalstaat von der europäischen und der regionalen Ebene flankiert bzw. zwischen beiden eingeklemmt wurde. In der politischen Praxis griffen die Ministerpräsidenten Bayerns und Baden-Württembergs, Max Streibl und Lothar Späth, den Gedanken der Neupositionierung der deutschen Länder in einem »Europa der Regionen« auf. Dieser ließ sich strategisch mit dem Subsidiaritätsprinzip verbinden, das 1992 auch den Weg in die europäischen Verträge fand (Maastricht).6 Max Streibl organisierte Tagungen von Regionalvertretern und bemühte sich, der regionalen Dimension Europas politische Relevanz zu verschaffen. Lothar Späth dachte die Führungsrolle der Regionen konsequent weiter, auch im Hinblick auf die Fähigkeiten der EU im weltweiten technologischen Wettbewerb. Er startete die Initiative »Vier Motoren für Europa«: Die vier führenden Wirtschafts- und Kulturregionen Baden-Württemberg, Rhône-Alpes, Katalonien und Lombardei sollten eine Pionierrolle in der EU übernehmen und als Katalysator für wirtschaftlichen und kulturellen Wandel wirken.7 Auch wenn wir heute in der EU eher die Konflikte von Nationalstaaten wahrnehmen und diese weit davon entfernt sind, wie in den 1980er Jahren 3 Zitiert nach Roland Sturm: Die Industriepolitik der Bundesländer und die europäische Integration, a. a. O. 4 Peter Glotz: Der Irrweg des Nationalstaats, Stuttgart 1990. 5 Vgl. Thiemo W. Eser: Europäische Einigung, Föderalismus und Regionalpolitik, Trier 1991. 6 Roland Sturm: Regions in the New Germany, in: Michael Keating/John Loughlin (Hg.): The Political Economy of Regionalism, London/Portland, OR. 1997, S. 275– 291, hier S. 279. 7 ���������������������������������������������������������������������������� Zu einer neueren Evaluation vgl. Petra Zimmermann-Steinhart: Europas erfolgreiche Regionen, Baden-Baden 2003.

Chancen für ein Europa der Regionen

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vermutet, von der politischen Bühne abzutreten, gibt es in den europäischen Regionen doch ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein. In Deutschland haben sich die großen Länder immer als eigenständige Stimme in der EU gesehen, parteiübergreifend. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise lässt sich der Bogen spannen von den Regierungserklärungen des Sozialdemokraten Wolfgang Clement, der für sein Land aufgrund dessen Größe und wirtschaftlicher Bedeutung eine eigenständigere Rolle in Europa einforderte, bis zu CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, der erwog, NRW in die Benelux-Staatengruppe zu führen.8

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Die Beteiligung der Länder an EU-Entscheidungen

Die europäischen Verträge haben sich im Laufe der Zeit immer mehr den Anliegen der europäischen Regionen geöffnet. Für die deutschen Länder gab es immer zwei Wege, sich im Rahmen der institutionellen Entscheidungswege der EU zu engagieren. Zum einen auf dem Brüsseler Parkett und zum anderen auf dem Umweg der Beteiligung an nationalen Entscheidungen in der Europapolitik. In Brüssel besteht mit dem Ausschuss der Regionen (AdR) seit 1994 auf europäischer Ebene eine institutionalisierte Interessenvertretung der Gemeinden und Regionen Europas. Der Lissabon-Vertrag garantiert dem AdR ein Anhörungsrecht im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Auch eine Subsidiaritätsklage wird dem Ausschuss der Regionen an die Hand gegeben »in Bezug auf Gesetzgebungsakte, für deren Erlass die Anhörung des Ausschusses der Regionen nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgeschrieben ist« (Artikel 8, Protokoll Nr. 2). Es bleibt aus der Sicht von Landesregierungen und Landtagen offen, ob angesichts der Quoren, die im AdR für eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof nötig sein werden, die deutschen Länder für eines ihrer Anliegen Unterstützung finden können. Der AdR sieht sich selbst als wichtigen Akteur im neuen europäischen Regieren und beruft sich dabei auf das Weißbuch »Europäisches Regieren« 8 Zur Diskussion nach dem Maastrichter Vertrag 1992 vgl. u. a. Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Technologie und Europaangelegenheiten (Hg.): Europa der Regionen. Versuch zur Klärung eines Begriffs, Wiesbaden 1993; Rudolf Hrbek/Sabine Weyand: betrifft: Das Europa der Regionen, München 1994; Mario Caciagli: Regioni d’Europa, Bologna 2003, S. 199 ff.; Peter Bußjäger: Regionen mit zwei Geschwindigkeiten? Mythos und Realität des Europas der Regionen, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2007, Baden-Baden 2007, S. 574–588.

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der Kommission von 2001. Legitimatorisch ist nicht unproblematisch, dass der AdR nach seinen eigenen Erhebungen von 2009 weit weniger in der europäischen Bevölkerung verankert ist als nationale Regionen. Sein Bekanntheitsgrad beträgt 24 %. »Zudem wurde ermittelt, dass nur 4 % der Befragten, die den AdR kennen, auch mit dessen Rolle vertraut sind […] Über die Hälfte der Befragten haben angegeben, dass sie überhaupt nichts über die Rolle des AdR wissen (52 %) und weitere 18 % haben spontan geantwortet, dass sie vor der Umfrage noch nie vom AdR gehört hätten.«9

Die deutschen Länder hatten einige Mühe, sich an die Konstruktion und Arbeitsweise des AdR zu gewöhnen. Sie hatten ein Regionalorgan (ohne Beteiligung der Gemeinden) gefordert, das wie der Bundesrat arbeiten sollte.10 Sie sahen mit wachsendem Unbehagen, dass der AdR aus ihrer Sicht zu stark auf kommunale Interessenvertreter Rücksicht nimmt und zu wenig deutlich regionale Interessen in den Entscheidungsprozess der EU einzuspeisen versteht. Im Vorfeld des Europäischen Rates von Nizza (2000) initiierte die belgische Region Flandern eine neue Ebene regionaler Zusammenarbeit, um der Kompetenzausweitung der EU auf Kosten der Regionen entgegenzutreten. Diese Flandern-Initiative war der Beginn einer auf Dauer angelegten Zusammenarbeit der »konstitutionellen Regionen« (also der Regionen, die im nationalen Kontext Verfassungsrang haben und Legislativaufgaben wahrnehmen, abgekürzt: REGLEG), an der sich zunächst neben Flandern das belgische Wallonien, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Katalonien, Schottland und Salzburg beteiligten.11 Sie äußerten Bedenken, »ob der Ausschuss der Regionen in seiner derzeitigen Gestalt und mit seinem gegenwärtigen institutionellen Status den Bedürfnissen und Anliegen der Regionen gerecht werden kann.«12 9 Otto Schmuck: Der Ausschuss der Regionen, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2010, BadenBaden 2010, S. 414–425, hier S. 423. 10 Manfred Degen: Der Ausschuß der Regionen – Bilanz und Perspektiven, in: Franz H. U. Borkenhagen (Hg.): Europapolitik der deutschen Länder, Opladen 1998, S. 103–125, hier S. 103 f. 11 Anna Gamper: Die Regionen mit Gesetzgebungshoheit. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zu Föderalismus und Regionalismus in Europa, Frankfurt u. a. 2004. 12 Zitiert nach Thomas Wiedmann: Abschied der Regionen vom AdR – Der Ausschuss der Regionen vor der Zerreißprobe, in: Europäischen Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2002, BadenBaden 2002, S. 541–551, hier S. 545 f.

Chancen für ein Europa der Regionen

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Bisher haben die »konstitutionellen Regionen« ihre Mitarbeit im AdR noch nicht aufgekündigt, und der AdR tut schon aus Eigeninteresse sein Möglichstes, um seine einflussreichsten Mitglieder einzubinden. Die Stärkung des AdR im Lissabon-Vertrag hat die REGLEG-Gruppe dazu bewogen, dem AdR Unterstützung für seine neue Rolle anzubieten, ohne allerdings ihre eigenständigen Initiativen einzuschränken.13 Sie bilden nun eine interregionale Gruppe innerhalb des AdR neben anderen themenbezogenen interregionalen Gruppen. Zu beobachten ist allerdings die problematische Tendenz, dass der AdR seine Prioritäten in der institutionellen Konkurrenz in Brüssel sieht und weniger als Verteidiger der Interessen seiner Mitglieder. Darauf deutet auch seine Rolle bei der Subsidiaritätskontrolle hin. Die nationalen Parlamente oder die Kammern eines nationalen Parlaments (im deutschen Fall wäre das auch der Bundesrat) können binnen acht Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung des Entwurfs eines Gesetzgebungsakts der EU in einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist. Für die Länder bedeutet dies nicht nur die Möglichkeit, einen solchen Prozess im Bundesrat anzustoßen, sondern auch die Notwendigkeit, durch Kooperation mit anderen europäischen Regionen für einen Einspruch in der EU zu mobilisieren. Hilfestellung hierfür könnte das Subsidiaritätsnetzwerk des Ausschusses der Regionen bieten. Kernstück des Netzwerkes ist eine interaktive Internetplattform, die zwischen 2005 und 2007 errichtet wurde.14 Die Kriterien ebenso wie die Erlaubnis zur Teilnahme am Subsidiaritätsnetzwerk kontrolliert der AdR. Dies ist nicht unbedenklich hinsichtlich des Kontrollanspruchs der deutschen Länder: »Der AdR sammelt wie in einer Blackbox die Subsidiaritätsanalysen. Es hängt vom Ermessen des Berichterstatters ab, in welcher Form er auf die mitunter sehr verschiedenartigen Ergebnisse der Analysen Bezug nimmt. […] Die Mitwirkenden des Netzwerks erhalten nicht einmal eine Information, inwieweit der AdR in 13 Andreas Kiefer: Informelle effektive interregionale Regierungszusammenarbeit: REG LEG – die Konferenz der Präsidenten von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen und ihre Beiträge zur europäischen Verfassungsdiskussion 2000 bis 2003, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2004, Baden-Baden 2004, S. 398–412, hier S. 411 f. 14 Gerhard Stahl/Christian Gsodam: Das Subsidiaritätsnetzwerk des Ausschusses der Regionen, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2008, Baden-Baden 2008, S. 555–569.

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Roland Sturm

seiner Stellungnahme ihren Bedenken gefolgt ist. Die Mitwirkung am Subsidiaritätsnetzwerk stellt sich somit als eine Einbahnstraße dar.«15

3

Nationale Beteiligung an der Europapolitik

Den Ländern gelang es nicht, ihre ausschließliche Gesetzgebungskompetenz auf Dauer wirkungsvoll vor dem Sog der Europäisierung zu schützen. Es musste deshalb ihr Bestreben sein, wenigstens die nach einer verbindlichen Kompetenzabgrenzung der politischen Ebenen (EU–Bund–Länder) zweitbeste Lösung zu erreichen, nämlich ihre mögliche Mitsprache durch den Bundesrat bei EU-Entscheidungen zu optimieren. Dies gelang begrenzt im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages (1992), der Föderalismusreform I (2006), durch Neuerungen im Lissabon-Vertrag (2009) und aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-­ Vertrag (2009). Tabelle 1: Entwicklung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder in der Europapolitik 1956

Länderbeobachter

1957

Sonderausschuss Gemeinsamer Markt und Freihandelszone des Bundesrates, umbenannt 1965 in Ausschuss für Fragen der Europäischen Gemeinschaft (EG-Ausschuss) und 1992 in Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU-Ausschuss)

1979

Neues Länderbeteiligungsverfahren

1986

Bundesratsverfahren im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte

1992

Neufassung Artikel 23 Grundgesetz

2006

Föderalismusreform I: Neufassung Artikel 23 Grundgesetz und Mithaftungsregeln für die Länder bei EU-Regelverstößen

2009

Lissabon-Vertrag: Subsidiaritätskontrolle und Klagerecht des Bundesrates sowie des Ausschusses der Regionen vor dem Gericht der EU

2009

Begleitgesetze zum Lissabon-Vertrag

Quelle: Roland Sturm/Heinrich Pehle: Das neue deutsche Regierungssystem, 3. Aufl., Wiesbaden 2012.

15 ������������������������������������������������������������������������ Peter Bußjäger: Frühlingserwachen? Über die aufkeimende Liebe der regionalen und nationalen Parlamente an der Mitwirkung in der Europäischen Union, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2009, Baden-Baden 2009, S. 503–513, hier S. 512.

Chancen für ein Europa der Regionen

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Chancen für Europas Regionen

Auch wenn der Traum europäischer Regionalisten vom Ende des Nationalstaats in der EU nicht wahr wurde, ist es den Regionen doch gelungen, sich Anerkennung und Gehör auf europäischer Ebene zu verschaffen. Seit dem Lissabon-Vertrag sind die europäischen Verträge nicht mehr »regionenblind«. In Artikel 4 Absatz 2 EUV heißt es: »Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.«

Statt eines »Europas der Regionen« wurde ein »Europa mit Regionen« verwirklicht. Für die deutschen Länder und insbesondere die Landesparlamente bedeutet die europäische Integration dennoch eine institutionelle und politische Schwächung, die durch die Beteiligungsmöglichkeiten bei EU-Entscheidungen nicht kompensiert werden konnte. Bayern, wie auch andere Regionen, haben als beste Strategie der Interessenvertretung den eigenständigen Lobbyismus in Brüssel zugunsten des Landes entdeckt. Regionale Europaabgeordnete und die Kommission sind »erste Adressen«. Hier – im informellen Bereich – liegen die größten Chancen europäischer Regionen, insbesondere wenn es gelingt, Ad-hoc-Koalitionen mit anderen Regionen und nationalen Regierungen zu bilden. Noch konkreter wird das Europa der Regionen allerdings in der grenzüberschreitenden und interregionalen Zusammenarbeit. Außerhalb des EU-Institutionengefüges, aber häufig gefördert durch die EU, vor allem durch INTERREG-Mittel, haben sich zahlreiche Formen der Zusammenarbeit von europäischen Regionen herausgebildet, an denen sich auch die Länder im Rahmen ihrer Politik in Europa beteiligen. Zu unterscheiden sind hier einerseits die interregionale Zusammenarbeit, also entsprechend der internationalen Zusammenarbeit von Staaten die internationale Zusammenarbeit von Regionen in der EU, nicht selten aber auch von EU-Regionen und von Regionen außerhalb der EU, und andererseits die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, welche Grenzregionen zusammenbringt, die sich darum bemühen, die negativen Folgen von Grenzziehungen zu überwinden. Denn Grenzen können gemeinsame Wirtschaftsräume ebenso behindern wie gemeinsame Problem­lösungen für die Optimierung der Lebensbedingungen der Bevölkerung diesseits und jenseits von Grenzen. Besonders dysfunktional sind Grenzziehungen, die Hürden für die regionale Wirtschaftsentwicklung im Europäischen Binnenmarkt errichten.

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Roland Sturm

In dem Versuch, gemeinsame Probleme zu lösen, liegt das Erfolgsgeheimnis grenzüber­schreitender Zusammenarbeit.16 Wie auch bei der interregionalen Zusammenarbeit traf diese zunächst auf Vorbehalte bei nationalen Regierungen, die ihr Monopol in der Außenpolitik bedroht sahen. Die deutschen Länder haben sich mit großem Erfolg Spielräume in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gesichert. 1992 wurde in Artikel 24 des Grundgesetzes ein Absatz 1a eingeführt, er bestimmt: »Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen.« Damit kann – zumindest was die deutschen Partner angeht – über grenzüberschreitende Tourismusförderung ebenso problemlos entschieden werden wie über grenzüberschreitende Umweltprogramme oder Wirtschaftshilfen. Der Karlsruher Vertrag17 von 1996 hat Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Luxemburg als Vertragspartner eines internationalen Vertrages zusammengebracht, der mit Zustimmung der betroffenen Nationalstaaten einen Rahmen absteckt, innerhalb dessen deren Grenzregionen ohne die Notwendigkeit, sich permanent der Zustimmung der nationalen Regierungen versichern zu müssen, ihre interregionale grenzüberschreitende Zusammenarbeit frei gestalten können. Als Rechtsgrundlage hierfür wurden erstmals die Möglichkeiten des Artikels 24 Absatz 1a GG genutzt. Binationale Einrichtungen können zu ihrer Eigenfinanzierung diesseits und jenseits der Grenze auch Gebühren erheben. Kooperationsfelder für die Grenzregionen, zum Beispiel im Oberrheingebiet, sind unter anderem Industrieansiedlungsprojekte, Verkehrs­verbünde, Müll- und Abwasserentsorgung, Straßenbau, Gewässerschutz oder Flächennutzungspläne.

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Bayern im Bund und in der EU

Es ist nicht überraschend, dass die Rolle Bayerns im Bund und in der EU nicht von derjenigen der CSU im Bund zu trennen ist, dennoch ist die bundes- und die landespolitische Sicht nicht spannungsfrei. Bayerische Interessenvertretung erfordert die Bereitschaft zum Konflikt mit dem Bund, aber 16 Silvia Raich: Grenzüberschreitende und interregionale Zusammenarbeit in einem »Europa der Regionen«, Baden-Baden 1995. 17 Gregor Halmes: Das Karlsruher Übereinkommen und seine bisherige Umsetzung, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.): Jahrbuch des Föderalismus 2000, Baden-Baden 2000, S. 428–438.

Chancen für ein Europa der Regionen

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auch der EU und, denken wir an den Finanzausgleich, mit den anderen Ländern. Da Bayern aber, anders als dies manche ausländischen Kollegen vermuten, nicht wie Schottland oder Katalonien nach einem höheren Grad staatlicher Unabhängigkeit strebt, wird jede bayerische Landesregierung den Interessenausgleich einem bayerischen Separatismus vorziehen. Wer in Berlin und Brüssel mitspielt, wird auf Regeln verpflichtet – seien es die des Bundesrates, seien es die der Kommission. Die bayerische Beamtenschaft ist sicher erfahren darin, die Grenzen solcher Regeln auszutesten und in Brüssel einen effizienten Lobbyismus, durchaus auch im Schulterschluss mit anderen Regionen, zu betreiben. Zuhause pflegt Bayern die schon erwähnte grenzüberschreitende und interregionale Zusammenarbeit mit erheblichem Engagement. Dabei sein und doch sich selbst treu bleiben, könnte das politische Motto Bayerns lauten. Bayerns Bevölkerung hat dies verinnerlicht. Wie die Untersuchungen unserer Erlangen-Heidelberger Föderalismus-Forschergruppe gezeigt haben, hat die bayerische Bevölkerung kein Problem mit bundesdeutscher Mehrebenenpolitik. Sie identifiziert sich nicht ausschließlich mit Bayern, sondern hat ein ebenenübergreifendes (EU–Bund–Länder) staatsbürgerliches Verständnis entwickelt.18

18 Julia Oberhofer/Julia Stehlin/Roland Sturm: Citizenship im unitarischen Bundesstaat, in: Politische Vierteljahresschrift, 52. Jg., Nr. 2/2011, S. 163–194.

Eugenie Trützschler von Falkenstein

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

1 Die Euroregionen und ihre Stellung in der Europäischen Union Als Euroregionen werden die Zusammenschlüsse von zwei oder mehr Regionen in mindestens zwei europäischen Staaten bezeichnet, die eine gemeinsame Grenze haben, wobei die Größe der Regionen durchaus unterschiedlich sein kann, da der Begriff »Region« unterschiedlich gebraucht wird.1 Die älteste Euroregion entstand bereits 1958 an der deutsch-niederländischen Grenze. Inzwischen gibt es 185 Euroregionen. Jedoch nur 85 sind in der Arbeitsgemeinschaft der europäischen Grenzregionen (AGEG) vereint. Deutsche Gemeinden und Landkreise sind Mitglieder in 12 Euroregionen.2 Hiervon sind acht seit 1990 entstanden: die Euroregion Pomerania, die Euroregion Pro Europa Viadrina, die Euroregion Spree-Neisse-Bober, die Euroregion Neisse-Nisa-Nysa, die Euroregion Elbe/Labe, die Euroregion Erzge1 ��������������������������������������������������������������������������� Zum Regionalismus siehe z. B. Fried Esterbauer (Hg.): Regionalismus. Phänomen, Planungsmittel, Herausforderung für Europa, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1978; Günther Lottes/Georg Kunz: Region, Nation, Europa. Historische Determinanten der Neugliederung eines Kontinents, Heidelberg 1992; John Newhouse: Europe’s Rising Regionalism, in: Foreign Affairs, Jan/Feb 1997, S. 67–83; Christoph Koellreuter: Zunehmende Globalisierung: Herausforderung für die Regionen Europas, Referat anlässlich der Generalversammlung der VRE am 5.12.1996, Basel 1996. Die Bedeutung der Regionen in der EU wurde durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) in der Fassung vom 1. Januar 1995 gewürdigt, in dem der Ausschuss der Regionen ins Leben gerufen wurde (Kapitel 4 Art. 198 des EGVertrages). Siehe hierzu Kai Hasselbach: Der Ausschuss der Regionen in der Europäischen Union; Die Institutionalisierung der Regionalbeteiligung in der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der regionalen und dezentralen Verwaltungsstrukturen in den EU-Mitgliedsstaaten, Jena 1997. Vor der Bildung dieses Ausschusses wurden seit 1986 die Interessen der Regionen in Europa seitens der VRE (Versammlung der Regionen Europas) wahrgenommen. Die VRE hat über 300 Mitglieder, auch aus den mittel- und osteuropäischen Ländern. 2 Vgl. www.aebr.eu/en./memberlist [10.01.2012].

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birge/Krusnohori, die Euregio Egrensis sowie die Euregio Bayerischer Wald – Böhmerwald. Mit ihrem Entstehen wurde die Zusammenarbeit zwischen Regionen wiederhergestellt, die traditionell schon über Jahrhunderte kooperiert hatten oder gar zusammengehörten und die erst durch die Grenzziehungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges und durch die entstehenden militärischen Blöcke in Ost und West getrennt wurden. Die negativen Auswirkungen dieser jahrzehntelangen Trennung zeigten sich unmittelbar nach der Grenzöffnung 1989: Es gab vielfältige Probleme im Güter- und Personenverkehr durch die geringe Anzahl und den schlechten Zustand der Straßen und Schienenwege; ungenügende Grenzübergänge führten zu langen Staus; gravierende Umweltschäden und hohe Arbeitslosenzahlen kamen hinzu. Doch es gab schon sehr früh Menschen vor Ort, die sich für eine grenzüberschreitende Kooperation einsetzten, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Bis heute wird diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit von den lokalen Gebietskörperschaften wahrgenommen und durchgeführt: auf deutscher Seite sind dies Zusammenschlüsse von Landkreisen und kreisfreien Städten, auf tschechischer Seite hingegen, wo es die entsprechende regionale Gliederung nicht gibt, entscheidet jede einzelne Gemeinde selbst, ob sie der Euroregion beitritt oder nicht. Im Rahmen des europäischen Binnenmarktes übernehmen die Euroregionen Aufgaben und Projekte, die zuvor durch die Barrieren an den Staatsgrenzen behindert wurden.3 An den EU-Außengrenzen kommt die Aufgabe hinzu, die Grenzregion schrittweise aus der Randlage herauszuführen, indem neue Brücken zu den EU-Anrainerstaaten gebaut werden und das Wirtschafts-, Währungs- und Lohngefälle an der Grenze gemildert wird. Um notwendige Aufgaben zum Wohle der Bürger auf beiden Seiten der Grenze umzusetzen, sind die Euroregionen Drehscheiben für grenzübergreifende Beziehungen und Kontakte, sie dienen der Wissensvermittlung und Projektrealisierung. Zentrale Bedeutung kommt den Euroregionen bei der Erstellung der Operationellen Programme der Europäischen Union zu. Auf Grundlage dieser Programme werden die Mittel aus den Struktur- und Regionalfonds für die einzelnen Regionen bereitgestellt.4 Um all diese Aufgaben im Sinne der Bürger bewältigen zu können, wäre es sinnvoll, die Mittel für grenzüberschreitende Projekte nicht wie bisher über die nationalstaatliche 3 Bericht der Kommission über die Durchführung des Programms über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Gemeinschaft und Ländern in Mittel- und Osteuropa 1994 (KOM(95)-C4-0142/96). 4 Siehe z. B. das Operationelle Programm des Freistaates Thüringen für den Einsatz der Europäischen Strukturfonds in der Periode von 2007–2013, genehmigt am 26.10.2007 (KOM 2007 CCI-Code: 2007DE161PO001).

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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Ebene, sondern direkt von der Europäischen Union in Brüssel an die Euroregionen zu leiten. Zu den zentralen Akteuren in der Euroregion gehören neben den regionalen und kommunalen Gebietskörperschaften die Sozialpartner wie Verbände, Vereine und Schulen. Sie sollen in thematischen Arbeitskreisen bestmögliche Problemlösungen für die Euroregion erarbeiten. In die Arbeit der Euroregionen müssen möglichst alle wichtigen Akteure beiderseits der Grenze eingebunden werden, um grenzübergreifende Netzwerke zu schaffen.5 Solche Netzwerke dienen nicht nur der wirtschaftlichen und infrastrukturellen Kooperation, sie spielen auch eine Schlüsselrolle bei der Überwindung der soziokulturellen Barrieren im sozialen Sektor, im Bildungsbereich, in der Spracherziehung sowie bei der Lösung von Alltagsproblemen, die sich aus der Grenzsituation ergeben und bei deren Lösung die Zusammenarbeit der Feuerwehren, Krankenhäuser sowie der Polizei beider Staaten von Vorteil ist.

2 Institutionen 2.1 Die Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen (AGEG) Aus der Überlegung, dass Grenzregionen in Europa als Friedensgarant dienen können, wenn Menschen über die nationalen Grenzen hinweg zusammenarbeiten, entstand die Idee zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen (AGEG), die 1971 unter Beteiligung von zehn europäischen Grenzregionen verwirklicht wurde.6 Inzwischen sind mehr als einhundert Grenz- und grenzübergreifende Regionen Mitglieder in der AGEG. Sie ist eine freiwillige Organisation und kein Organ der Europäischen Union. Die AGEG will mit ihren Aktivitäten auf die spezifischen Probleme und Chancen sowie die Verantwortlichkeiten und Aktivitäten der Grenz- und grenzüberschreitenden Regionen hinweisen, deren gemeinsame Interessen gegenüber nationalen und internationalen Institutionen vertreten, die Zusammenarbeit dieser Regionen in ganz Europa initiieren, unterstützen und koordinieren sowie den Austausch von Informationen und Erfahrungen fördern, um aus dem weiten Feld grenzüberschreitender Probleme und Chancen

5 Siehe hierzu den Punkt 2 des Empfehlungsentwurfes im Bericht der Arbeitsgruppe für Internationale Zusammenarbeit des Europarates, ebenda. 6 Association of European Border Regions (AEBR), vgl. www.aebr.eu [10.01.2012].

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gemeinsame Interessen zu identifizieren und zu koordinieren und Lösungsansätze zu definieren.7 Die Arbeitsgemeinschaft unterscheidet zwischen Mitgliedern mit und ohne Stimmrecht. Stimmberechtigt sind europäische Grenz- und grenzübergreifende Regionen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bzw. des Europarates, darüber hinaus Zusammenschlüsse von Grenzregionen innerhalb mehrerer Staaten, solange deren Einzelmitglieder nicht selbstständige Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft sind. Mitglieder ohne Stimmrecht können natürliche Personen, Personenvereinigungen, Institutionen und Institute werden, die auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit tätig sind, sowie Einzelpersonen als Ehrenmitglieder. Die Mitgliederversammlung als das oberste Organ der AGEG wählt den Präsidenten und das Präsidium. Das alle zwei Jahre zu wählende Präsidium ist zuständig für die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Verbänden, es ernennt den Generalsekretär und verfasst grundsätzliche Stellungnahmen.8 2.2 Der Europäische Verbund für grenzüberschreitende Zusammenarbeit Die Tatsache, dass die Kommission der Europäischen Union im Jahr 2004 die Schaffung eines Europäischen Verbunds für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (EVGZ) vorgeschlagen hat9, zeigt, dass man bei der EU die Bedeutung der Grenzregionen als Friedens- und Wirtschaftsfaktor in Europa hoch schätzt. Der Vorschlag war Teil des Kohäsionsgesetzespakets, das aus einer allgemeinen Verordnung, einer Verordnung für den Europäischen Sozialfonds (ESF), für den Kohäsionsfonds und für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) besteht.10 Im Europäischen Parlament wurde kontrovers diskutiert, ob der neu geschaffene Verbund nur den klassischen Grenzregionen offen stehen soll, 7 Vgl. ebenda. 8 Das Präsidium besteht aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten, dem Schatzmeister, dem Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirates und aus mindestens zwanzig Vertretern der Grenzregionen. 9 Grundlage bildet hierbei Artikel 159, Unterabsatz 3, des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Der Artikel 159, Absatz 3, sieht vor, dass spezifische Aktionen außerhalb der Fonds festgelegt werden können, wenn dies der im Vertrag vorgesehenen Zielsetzung, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu verwirklichen, dient. 10 Berichtsentwurf des Europäischen Parlaments über die Rolle der »Euroregionen« bei der Entwicklung der Regionalpolitik. PR\571582DE.doc 9/10 PE 360.073v0100.

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wie es der Europa-Abgeordnete Kyriacos Triantaphyllides11 forderte, oder auch den Regionen, die interregional und transnational zusammenarbeiten, wie sein polnischer Kollege Jan Olbrycht12 vorschlug. Für die zweite Variante spricht, dass die Europäische Union seit 1999 auch die interregionale und transnationale Zusammenarbeit finanziell fördert. Die Gegner befürchteten, dass mit der Schaffung eines nicht nur die Grenzregionen umfassenden Verbundes die ursprüngliche Idee der Euroregionen, als Friedensgarant über die nationalen Grenzen hinweg zu wirken, ausgehöhlt werde und man eine Institution schaffen würde, deren Größe nicht eingrenzbar wäre. Letztlich hat sich Olbrycht mit seiner Argumentation durchgesetzt. Die jetzt vorgesehene Institution trägt den Namen »Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit« (EVTZ).13 Eine entsprechende Verordnung trat zum 1. Janu­ar 2007 in Kraft. Thüringen hat hierzu bereits im Juli 2007 eine Verordnung erlassen, hiernach ist für die Schaffung des EVTZ das Landesverwaltungsamt zuständig.14 Der EVTZ hat zum Ziel, die territoriale, grenzübergreifende, transnationale und interregionale Zusammenarbeit zwischen den regionalen und kommunalen Gebietskörperschaften in der Europäischen Union zu erleichtern und zu fördern, um den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken.15 Er stellt ein neues Rechtsinstrument dar, das es den Beteiligten ermöglicht, auch ohne Strukturfondsunterstützung und ohne die Beteiligung der Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Bestehende zweiseitige Abkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten

11 Kyriacos Triantaphyllides: Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Rolle der »Euroregionen« bei der Entwicklung der Regionalpolitik, Ausschuss für regionale Entwicklung (2004/2257(INI), PE 360.073v01-00 2/10 PR\57158). 12 Jan Olbrycht: Report on the proposal for regulation of European Parliament and of the Counsil on establishing a European grouping of cross-border cooperation (EGCC), 21.06.2005, A6-0206/2005, Committee on Regional Development. 13 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ), Verordnung EG Nr. 1082/2006. 14 Thüringer Verordnung zur Übertragung von Zuständigkeiten nach der Verordnung (EG) Nr. 1082/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (Thüringer EVTZ-Zuständigkeitsverordnung) vom 23. Juli 2007 15 Artikel 1, Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1082/2006 des Europäischen Parlaments Verordnung, a. a. O.

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und/oder regionalen oder lokalen Behörden, beispielsweise das Karlsruher Abkommen16, bleiben in Kraft. Der EVTZ handelt im Rahmen der ihm anvertrauten Aufgaben, deren Ausführung er einem seiner Mitglieder übertragen hat. Die Aufgabe des Verbundes ist die Umsetzung der EU-Programme mit Mitteln aus den Programmen für territoriale Zusammenarbeit der EU und/oder mit nationalen Mitteln.17 In der Verordnung wird ausdrücklich festgelegt, dass die Mitgliedstaaten keine finanzielle Haftung trifft, selbst wenn ihre regionalen und lokalen Gebietskörperschaften Mitglied der EVTZ sind.18 Die Aufgaben, Arbeitsweise und Kompetenzen des Verbundes müssen von den Mitgliedern in einem zu schaffenden Abkommen festgelegt werden.19 Das neu geschaffene Abkommen des EVTZ wird den entsprechenden Mitgliedstaaten, der Kommission sowie dem Ausschuss der Regionen notifiziert. Die Festlegung in Artikel 1 des Abkommens, dass die zuständigen Behörden desjenigen Mitgliedstaates, in dem die EVTZ ihren Sitz hat, gemeinsam mit der Europä­ ischen Union gegenüber dem EVTZ Kontrollbefugnisse über die Verwaltung und Verwendung sowohl nationaler als auch gemeinschaftlicher öffentlicher Mittel ausüben, muss durchaus kritisch betrachtet werden. Seitens der AGEG wurde die Gründung der EVTZ begrüßt, denn aus ihrer Sicht stärkt sie die Bedeutung der Euroregionen in der Europäischen Union. Ähnlich ist seinerzeit die Schaffung des Ausschusses der Regionen durch die Maastrichter Verträge von der Versammlung der Regionen begrüßt worden. Als nicht EU-Organisation hat man damit gewürdigt, dass jahrzehntelange Forderungen endlich in der Politik Gehör gefunden haben. Instrumente dieser Art sind gerade für neue Mitgliedstaaten relevant, da sie einen Nutzen aus den bewährten Praktiken ziehen können. Das Konzept der Euroregionen könnte damit auf weitere zahlreiche Aspekte der Zusammenarbeit ausgedehnt werden.

16 Übereinkommen zwischen der Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Großherzogtums Luxemburg und dem schweizerischen Bundesrat, handelnd im Namen der Kantone Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Jura, über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Stellen [Karlsruhe, 23. Januar 1996], in Kraft getreten am 1. September 1997. 17 Artikel 3, Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1082/2006, a. a. O. 18 Artikel 3, Absatz 4 der Verordnung, ebendort. 19 Artikel 3, Absatz 1 und 2 der Verordnung, ebendort.

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Zwischenzeitlich sind bereits einige Verbünde für territoriale Zusammenarbeit entstanden, z. B. der Eurodistrict SaarMoselle20 oder der Verbund Tirol-Südtirol-Trentino21, die bezogen auf Fläche und Bevölkerung wesentlich größer sind als die bisherigen Euroregionen. Sie setzen die Schwerpunkte der Kooperation auf die Bereiche Wirtschaft und Energie, Grüner Korridor, Gesundheit, Jugend sowie Bildung und Forschung. Ob diese Verbünde auf Dauer auch effektiver sein werden als die Euroregionen, bleibt einstweilen noch offen.

3 Abkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit 3.1 Die Madrider Konvention Die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für das Zusammenwachsen Europas wurde seitens des Europarates bereits Ende der 1970er Jahre klar erkannt. Am 21. Mai 1980 wurde in Madrid das »Europäische Rahmenabkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften«22 (Madrider Konvention) verabschiedet. Das Abkommen greift allgemeine rechtliche und gesellschaftliche Grundsätze auf, auf denen die beiderseitige bzw. mehrseitige Kooperation zwischen den einzelnen Gebietskörperschaften benachbarter souveräner Staaten praktiziert werden soll.23 Diese Zusammenarbeit soll zum wirtschaftlichen Aufschwung und sozialen Fortschritt in der Grenzregion beitragen. Ein funktio20 Vgl. www.saarmoselle.org [10.02.2012]. Dem EVTZ gehören aktuell acht Stadtund Gemeindeverbände an, die über 100 Kommunen vertreten. Der Sitz des EVTZ befindet sich im französischen Sarreguemines (Saargemünd), die Geschäftsstelle im benachbarten Saarbrücken. 21 Die drei Länder unterhalten seit 1995 eine gemeinsame Vertretung in Brüssel. Die Übereinkunft und die Satzung des EVTZ wurden von den drei Landesregierungen Tirol, Südtirol und Trentino am 14.06.2011 unterzeichnet. Der Sitz des EVTZ befindet sich in Bozen. 22 ��������������������������������������������������������������������� Europäisches Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften, Nr. 106/1980. Siehe http://conventions.coe.int/treaty/ger/Treaties/Html/106.htm [10.02.2012]. Die Madrider Konvention wurde am 21. Mai 1980 zur Unterzeichnung vorgelegt und trat am 22. Dezember 1981 in Kraft. 23 ���������������������������������������������������������������������������������� Artikel 1: »Jede Vertragspartei verpflichtet sich, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Gebietskörperschaften in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich und den Gebietskörperschaften im Zuständigkeitsbereich anderer Vertragsparteien zu erleichtern und zu fördern.«, ebenda.

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nierendes grenzüberschreitendes Handeln ermöglicht es den Gemeinden und Regionen, ihre Kompetenzen zu stärken und anstehende Aufgaben zur größeren Zufriedenheit der Bevölkerung zu lösen. Um dies zu erreichen, verpflichten sich die Vertragsparteien in diesem Rahmenabkommen, den Gebietskörperschaften bzw. den ausführenden Behörden, die sich mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit befassen, dieselbe Unterstützung zu gewähren, wie sie dies Behörden im Rahmen der nationalen Kooperation gewähren würden.24 Diese Vereinbarung können alle Mitgliedsstaaten des Europarates unterzeichnen, und mit diesem Schritt verpflichten sie sich, die gutnachbarlichen Beziehungen zu fördern.25 Das Abkommen beinhaltet sechs Grundsätze, die zur Beseitigung der politischen, administrativen und juristischen Barrieren beitragen sollen, welche die direkte gegenseitige Zusammenarbeit der regionalen und kommunalen Organe, die unterschiedlichen Staaten angehören, behindern, ohne die innere Integrität der Verwaltung in den Nationalstaaten zu gefährden. Diese Vereinbarung wurde bewusst als ein Rahmenabkommen abgefasst. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass sie in keinem Fall die institutionelle Organisation oder die Kompetenz der innerstaatlichen Verwaltung erweitert.26 Der nach 1989 veränderten politischen Situation, vor allem aber der inzwischen gemachten Erfahrungen wurde in zwei Zusatzprotokollen Rechnung getragen. Im ersten Zusatzprotokoll von 199527 wurden die Respektierung der Rechte territorialer Körperschaften unterstrichen und die Grundsätze für die ins Leben zu rufenden grenzüberschreitenden Körperschaften dargelegt.28 Das zweite Zusatzprotokoll aus dem Jahr 1998 ging auf den ver24 Artikel 5 und Artikel 6 der Madrider Konvention, ebenda. 25 Artikel 9 der Madrider Konvention, ebenda. 26 Die Anlagen des Rahmenabkommens erhalten Muster für zwischenstaatliche Vereinbarungen und für Vereinbarungen, die unmittelbar zwischen den Organen der Gebietskörperschaften geschlossen werden können. 27 ����������������������������������������������������������������������������� Additional Protocol to the European outline convention on transfrontier cooperation beetween territorial communities or authorities; Nr. 159, Strasbourg, 9.XI.1995, und Protocol to the European outline convention on transfrontier cooperation between territorial communities or authorities concerning interterritorial co-operation; Nr. 169, Strasbourg, 5.V.1998. Das erste Zusatzprotokoll trat 1998 in Kraft, das zweite im Jahr 2001. 28 Das Zusatzprotokoll stellt es den Vertragsparteien frei, ob die von ihnen ins Leben gerufene Körperschaften juristische Person werden oder nicht. Falls diese als juristische Personen in dem Staat, in dem sie ihren Sitz haben, anerkannt werden wollen, müssen diese Körperschaften von allen Vertragsparteien auch als juristische Personen anerkannt werden. Siehe Artikel 3 des ersten Zusatzprotokolls, a. a. O.

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stärkten Wunsch von nicht unmittelbar benachbarten Regionen29 nach Zusammenarbeit ein (interterritorial cooperation)30 und erkannte für diese Regionen die gleichen Grundsätze der Zusammenarbeit an wie für die Grenzregionen. Vor allem die seit den 1990er Jahren an der früheren Ost-WestGrenze ins Leben gerufenen Euroregionen können sich bei der Schaffung von grenzüberschreitenden kommunalen Körperschaften an den in den beiden Protokollen niedergelegten Grundsätzen orientieren.31 Da nach Ansicht des Europarates die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und Regionen für die demokratische Stabilität Europas immer mehr an Bedeutung gewann, schlug die Arbeitsgruppe für interregionale Zusammenarbeit des Europarates32 am 18. September 2009 dem Europarat vor, die grenzüberschreitende Kooperation in größeren Einheiten als es bisher die Euroregionen waren zusammenzufassen und den Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) zu fördern. Das am 16. November 2009 in Utrecht verabschiedete dritte Zusatzprotokoll regelt die Kompetenzen dieser neu zu schaffenden Körperschaften.33 3.2 Die Europäische Charta der Grenz- und grenzübergreifenden Regionen Die Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen hat aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen vor allem im Rahmen der Zusammenarbeit von deutsch-französischen bzw. deutsch-niederländischen Grenzregionen und unter Berücksichtigung der »Madrider Konvention« des Europa­ rates die »Europäische Charta der Grenz- und grenzübergreifenden 29 Die Frage, was eine Grenzregion ist, ist nicht klar zu beantworten. Die Praxis zeigt, dass es letztlich eine subjektive Entscheidung einer Stadt bzw. eines Teils eines Gebietes ist, sich als eine Grenzregion zu verstehen. ���������������������� Historische Verbindungen spielen hierbei eine wesentliche Rolle. 30 Artikel 5 des zweiten Zusatzprotokolls, a. a. O.: »For the purpose of the present Protocol, ›mutatis mutandis‹ means that in the Outline Convention and the Additional Protocol, the term ›transfrontier co-operation‹ shall be read as ›interterritorial co-operation‹«. 31 ����������������������������������������������������������������������������� So geht im Artikel 4 das erste Zusatzprotokoll davon aus, dass die grenzüberschreitenden Organe aus den Mitteln der jeweiligen territorialen Organe finanziert werden und auf Grund dessen ihr eigenes jährliches Budget aufstellen. 32 Der Bericht der Arbeitsgruppe wurde während der 17. Plenarsitzung am 28. September 2009 vom Berichterstatter Karl- Heinz Lambert aus Belgien vorgelegt. Der Bericht ist veröffentlicht unter: www.wcd.coe.int [10.02.2012]. 33 www.conventions.coe.int. Dieses Protokoll wurde bisher nur von 13 Staaten (darunter Deutschland) unterzeichnet und ist bis Juli 2012 nicht in Kraft getreten.

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Regionen«34 verfasst. Vor dem Hintergrund sehr typischer Probleme der Grenzregionen in Europa setzt sich diese Charta u. a. für die Umsetzung folgender Ziele ein: – Räume der Begegnung schaffen und soziokulturelle Bedingungen stärken, – Regionen als Motor grenzüberschreitender Zusammenarbeit verstehen, – Brückenfunktionen von Grenz- und grenzüberschreitenden Regionen nutzen, – Wirtschaftliche und infrastrukturelle Hemmnisse und Ungleichgewichte beseitigen, – Nahtstellen europäischer Raumentwicklung glätten. Diese Ziele sollen u. a. durch folgende Maßnahmen verwirklicht werden: – Intensivierung einer nachhaltigen grenzüberschreitenden Raumentwicklung und Regionalpolitik, – Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und der wirtschaftlichen Lage der Region, – Stärkung der Grenzregionen im Europäischen Standortwettbewerb, – Verbesserung der Telematik und Kommunikation, – Verbesserung des grenzüberschreitenden Umwelt- und Naturschutzes, – Förderung der grenzüberschreitenden kulturellen Zusammenarbeit sowie durch – Organisatorische und rechtliche Maßnahmen. In der Grenz- und grenzübergreifenden Zusammenarbeit sieht die Charta den Prüfstein für: – ein friedliches menschliches Miteinander unter Achtung der Verschiedenartigkeit und von Minderheiten, – die Achtung der Grundsätze von Partnerschaft und Subsidiarität, – die aktive Beteiligung von Bürgern, Politikern, Instanzen und gesellschaftlichen Gruppierungen an der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, – Ausgleich, Toleranz und Gleichwertigkeit trotz unterschiedlicher Partner, – soziale, kulturelle, wirtschaftliche Kooperationsverflechtung bis hin zu grenzübergreifender Integration unter Wahrung staatlicher Souveränität, – ein Europa der Bürger, die sich in ihrer regionalen Vielfalt zuhause fühlen.35 34 Die Charta wurde am 20.11.1981 verabschiedet und am 1.12.1995 sowie am 7.10.2004 geändert. Siehe www.aebr.eu/files/publications/Charta_Final_071004. de.pdf [10.02.2012]. 35 Vgl. ebenda.

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Obwohl die Charta weder von einer staatlichen Organisation noch von den Organen der Europäischen Gemeinschaft ausgearbeitet wurde, gilt sie als ein grundlegendes Instrument, auf dessen Basis die Bürger der Grenzregionen zusammen leben und arbeiten. Hervorzuheben ist vor allem ihr Einfluss auf den Abbau von Diskriminierungen gegenüber nationalen Minderheiten in den jeweils anderen Nationalstaaten. Dass die Charta einen Beitrag zur positiven wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der Grenzregionen und damit auf das friedliche Zusammenleben zum Wohle der Bürger entlang der nationalstaatlichen Grenzen leistet, ist inzwischen nachweisbar. So gehören die Euroregionen entlang der französischen und holländischen Grenze, die als erste entstanden sind, inzwischen zu den wirtschaftlich und politisch stabilsten Regionen in Europa.

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Förderung der Grenz- und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit

Auf Grundlage von Artikel 10 des Förderprogramms EFRE (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) förderte die Europäische Kommission im Jahr 1989 zum ersten Mal mit 21 Mio. ECU 14 grenzüberschreitende Pilotprojekte. Auf dieser Basis wurden von der Europäischen Kommission die Leit­linien für eine Gemeinschaftsinitiative für die Grenzgebiete indirekt festgelegt.36 Von den dafür zur Verfügung gestellten rund 1,1 Mrd. ECU wurde der größte Teil in Ziel-1-Regionen eingesetzt. Die Finanzierung über die Gemeinschaftsinitiative INTERREG erfolgte auf der Grundlage von 31 Operationellen Programmen, wobei sie jedoch in ihrer Ausarbeitung bezüglich des Finanzvolumens, der geografischen Ausdehnung und der beteiligten Regionalakteure sehr variierten. Aufgrund des einstimmigen Beschlusses der Staats- und Regierungschefs auf dem Edinburgher Gipfel im Jahre 1992, das Programm INTERREG fortzuführen, verabschiedete die Europäische Kommission Leitlinien für INTERREG II für den Zeitraum von 1994 bis 1999.37 Für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Rahmen von INTERREG II A für die Jahre 1994 bis 1999 waren 2,6 Mrd. ECU vorgesehen. Es wurden vor allem Projekte in den Gebieten gefördert, die an der Binnen- und Außengrenze der Gemeinschaft besondere Entwicklungsprobleme infolge ihrer relativen Isolierung innerhalb der nationalen Volkswirtschaft und der Gemeinschaft haben. Die Projekte sollten die Bedürfnisse der loka36 Siehe dazu das Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 215. 37 Veröffentlicht am 1. Juli 1994 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 180.

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len Bevölkerung berücksichtigen und mit dem Umweltschutz vereinbar sein. Im Rahmen dieser Projekte sollte der Ausbau von Kooperationsnetzen über die Binnengrenzen hinweg erfolgen. Unterstützt werden sollten auch solche Vorhaben, die der Zusammenarbeit mit Drittländern in den Gebieten an der Außengrenze der Gemeinschaft nutzen (Beitrittsländer). Während INTERREG I vor allem Grenzregionen in Ziel 1-, Ziel 2- sowie 5b-Gebieten förderte, umfasste INTERREG II erstmals alle Grenzgebiete der Binnen- und Außengrenzen der Europäischen Union. Seit der Förderperiode 2007–2013 wird die grenzüberschreitende Zusammenarbeit aus dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung EFRE gefördert.38 Da die Grenzregionen als Friedensgarant angesehen werden, unterstützt die Europäische Union im Rahmen der territorialen Zusammenarbeit ausdrücklich Projekte zwischen Nordirland und Irland.39 Der wesentliche Vorteil der Euroregionen liegt sowohl in der praktischen Arbeit als auch im psychologischen Bereich. Euroregionen erkennen Probleme im Vorfeld und vermeiden, dass sie zu großen Konfliktfeldern anwachsen. Sie sind eine Ausgleichsebene zwischen den unterschiedlichen nationalen Strukturen und Kompetenzen. In der Euroregion bewährt sich das Grundprinzip der Subsidiarität, das man nicht nur national-vertikal, sondern auch grenzüberschreitend-horizontal anwenden muss. Euroregionen müssen nicht immer identisch mit Grenzregionen sein. Bezüglich der Verteilung der finanziellen Mittel stehen die Grenzregionen mit den Regionen im Inland in einem verstärkten Konkurrenzkampf. Im Einzelnen bedeutet dies: – Die Mittel der Europäischen Union sind langfristig bereitzustellende Mittel. – Grenzüberschreitende Konzepte und grenzüberschreitende operationelle Programme40 sind gemeinsam in der gesamten Euroregion zu erstellen.

38 Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1783/1999, Amtsblatt der EU L 210/1 vom 31.07.2006. 39 Verordnung (EG) Nr. 1080/2006, Artikel 6, ebendort, sowie 1083/2006 vom 11. Juli 2006, hier Anhang II, Nummer 22. 40 In diesen werden die einzelnen geplanten Maßnahmen spezifiziert, ihre Realisierung sowie die Kontrolle der Durchführung erwähnt. Siehe z. B. das Operationelle Programm des Freistaates Thüringen für den Einsatz der Europäischen Strukturfonds in der Periode von 2007–2013, genehmigt am 26.10.2007; KOM 2007 CCI-Code: 2007DE161PO001.

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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– Für jedes Subprogramm muss ein eigener Lenkungsausschuss gegründet werden. Die Euroregionen müssen in diesem Lenkungsausschuss ein Stimmrecht erhalten. Es geht auf die Dauer nicht, dass Projekte in den Euroregionen aufgrund von Entscheidungen durch europäische/nationale Instanzen verwirklicht werden, die regionale und lokale Ebene aber dafür planen und zahlen muss, ohne das Stimmrecht zu erhalten. – Es sind realisierbare grenzüberschreitende Projekte auszuarbeiten. Diese sollen von Anfang an gemeinsam entwickelt werden. Eine Abkehr von der Vorlage von nationalen Projektlisten, die nachträglich in den Lenkungsausschüssen abgestimmt werden, ist notwendig. – Für die Projekte müssen reelle gemeinsame Kosten- und Finanzpläne erstellt werden. Einige große Projekte sollen durch eine Vielzahl von kleineren und mittleren Projekten ersetzt werden. Über die Projekte muss auf der regionalen Ebene entschieden werden.

5 Thüringen in Europa 5.1 Die Euregio Egrensis Das Gebiet der heutigen Euregio Egrensis41 fand bereits im Mittelalter unter der Bezeichnung »Regio Egire« (1135) oder »Provincia Egrensis« (1218)42 Erwähnung. Der Name leitet sich von der Stadt Eger (Cheb) ab, die seit Jahrhunderten das geistige und politische Zentrum dieser Region bildete. Die Euregio Egrensis wurde bereits 1992 ins Leben gerufen, und nahm am 3. Februar 1993 mit der Unterzeichnung eine Vereinbarung zwischen der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Bayern, der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Vogtland/Westerzgebirge (seit 2007 Arbeitsgemeinschaft Sachsen/Thüringen) und der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Böhmen ihre Arbeit auf.43 Artikel 2 dieser Vereinbarung lautet:

41 Zur regionalen Entwicklung der Euregio Egrensis siehe Peter Jurczek (Hg.): Regionale Entwicklung über Staatsgrenzen, am Beispiel der Euregio Egrensis, Kronach/München/Bonn 1996. 42 Heinrich Gradl: Monumenta Egrana. Denkmäler des Egerlandes als Quellen für dessen Geschichte, A. E. Witz, Eger 1884, 1886. 43 Vgl. zur Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Sachsen/Thüringen e. V. www. euregioegrensis.de, zur Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Bayern e. V. www. euregio-egrensis.de und zur Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Böhmen www.euregio-egrensis.org [10.02.2012].

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»Die Euregio Egrensis hat den Zweck, zur Verständigung und Toleranz beizutragen sowie umfassend, friedlich und partnerschaftlich über die Grenzen zwischen dem Freistaat Bayern, dem Freistaat Sachsen und der Tschechischen Republik hinweg zusammenzuwirken.«44

In der Euregio Egrensis leben etwa zwei Millionen Menschen. Sie umfasst ein Gesamtgebiet von rund 17.000 Quadratkilometern, wovon etwa die Hälfte auf Bayern, 30 Prozent auf Sachsen und Thüringen sowie 20 Prozent auf Böhmen entfällt.45 Zur Euregio Egrensis gehört in Bayern der Bereich der Planungsregion Oberfranken Ost und Oberpfalz Nord, in Sachsen der Vogtlandkreis einschließlich der Stadt Plauen, der Erzgebirgskreis für den ehemaligen Landkreis Aue/Schwarzenberg, in Thüringen die Landkreise Greiz und Saale-Orla-Kreis, in der Tschechischen Republik der Bereich der Landkreise Karlovy Vary (Karlsbad), Tachov, Cheb (Eger) und Sokolov (Falkenau). Abbildung 1: Karte der Euregio Egrensis

Quelle: Euregio Egrensis (Ehm).

44 Zur Organisation der Euregio Egrensis siehe den von den Arbeitsgemeinschaften herausgegebenen Sonderdruck »Euregio Egrensis«, der über die Geschäftsstellen in Plauen, Marktredwitz oder Cheb zu beziehen ist. 45 Vgl. www.euregio-egrensis.de [10.02.2012].

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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Jede Arbeitsgemeinschaft der Euregio Egrensis wählt ein Präsidium und einen Präsidenten. Je drei Vertreter der jeweiligen Präsidien bilden das »Gemeinsame Präsidium der Euregio Egrensis«, welches wiederum aller zwei Jahre aus seiner Mitte einen Gemeinsamen Präsidenten wählt. Zur Wahrnehmung der fachlichen Belange sind in der Euregio Egrensis vier grenzüberschreitende Arbeitsgruppen in den Bereichen 1) Wirtschaft, Verkehr, Arbeitsmarkt, Infrastruktur, 2) Fremdenverkehr und Naherholung, 3) Umwelt und Naturschutz sowie 4) Kultur und Sport eingerichtet worden. Inzwischen arbeitet man jedoch auch projektbezogen zusammen, da sich dies als effektiver erwiesen hat. Um in die Förderprogramme der Europäischen Union aufgenommen zu werden, hat die Euregio Egrensis ein »Trilaterales Entwicklungskonzept« (Bayern, Böhmen und Sachsen) vorgelegt, in das die Thüringer Projekte nachträglich eingearbeitet wurden.46 Die Arbeit der Euregio Egrensis konzentrierte sich bisher vor allem auf die Unterstützung von grenzüberschreitenden Kultur- und Sportveranstaltungen in so genannten »Kleinen Projekten« und damit auf die Begegnung von Menschen, die durch die Grenzen zwischen Ost und West jahrzehntelang voneinander getrennt waren. In der Förderperiode 2007 bis 2013 wurden im Rahmen des Ziel3/Cil3-Programms im sächsisch-thüringischen Teil der Euregio Egrensis bis November 2011 60 solcher Kleinprojekte mit einem Fördervolumen von knapp 700.000 Euro bewilligt. Neben den »Kleinen Projekten«, deren Fördervolumen 15.000 Euro nicht übersteigen darf, werden von der Europäischen Union jedoch auch »Großprojekte« gefördert. 5.2 Thüringer Beispielprojekte Zu den EU-geförderten Großprojekten, die Thüringen initiiert hat, gehört das Projekt »Grenzüberschreitungen – Neue Wege von Land zu Land«, dessen Ziel es ist, mit umfangreichen grenzraumbezogenen Forschungsarbeiten 46 Siehe das Grenzüberschreitende Aktionsprogramm für die Europäische Region der Arbeitsgemeinschaft Egrensis-Nordostbayern-Nordwestböhmen-Sächsisches Vogtland/Westerzgebirge-Thüringer Vogtland, im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft und Arbeit, des Bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung, des Tschechischen Ministeriums für Wirtschaft, des Thüringischen Ministeriums für Bundes- und Europaangelegenheiten, des Sächsischen Staatsministeriums für Umwelt und Landesentwicklung, der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Vogtland/Westerzgebirge, der Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Bayern e. V., der Tschechischen Arbeitsgemeinschaft Egrensis, Dresden/Erfurt/München/Prag 1994.

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und Bildungsangeboten einen Beitrag zur verstärkten Identitätsbildung in der Region zu leisten. Daran beteiligt sind zahlreiche Archive, Vereine und Schulen der Region sowie der Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte an der Technischen Universität Chemnitz. In mehreren Forschungsarbeiten sollen in historischer Perspektive die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen während des 19. und 20. Jahrhunderts im mitteldeutsch-westböhmischen Grenzraum untersucht werden. Die Forschungsergebnisse sollen in Fachtagungen, Studienfahrten und Workshops einfließen, um damit das historische Fachwissen gezielt einer breiten, generationenübergreifenden Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Von den bislang 60 realisierten »Kleinprojekten« seien an dieser Stelle vier exemplarisch genannt. Im Rahmen des seit 1998 durchgeführten und 2001 abgeschlossenen Projekts »Das Eigene am Fremden erkennen« wurden Lernprozesse im Unterricht an 15 beteiligten Schulen regionenübergreifend initiiert und begleitet, die auf die Auseinandersetzung mit dem »Eigenen« und dem »Anderen«47 bzw. dem »Fremden« hinzielten. Das dreijährige Gesamtprojekt wendete sich an Schüler und Schülerinnen der Primar- und Sekundarstufe und war nicht auf bestimmte Fächer beschränkt. Ziel des Projektes »Euregio Egrensis – Zukunftslandschaft 2010« war es, neben der Erinnerung auch Fragen der zukünftigen Entwicklung der Region stärker zu thematisieren. Einbezogen wurden vor allem deutsche und tschechische Jugendliche, die in einem vorbereitenden Workcamp ihre Visionen und Vorschläge für die Gestaltung ihrer »Zukunftslandschaft« erarbeiteten. Die Ergebnisse des Workcamps wurden im Herbst 2010 in einer Abschlusspräsentation vorgestellt. An dem Projekt »Die Grenze zwischen den Bruderstaaten: DDR und Tschechoslowakei 1955–1990 im gesamteuropäischen Kontext« beteiligten sich 2010 und 2011 insgesamt 16 Schulen aus Sachsen, Thüringen und der Tschechischen Republik. Ziel des Projektes war es, didaktisches Material für deutsche und tschechische Schulen zur Thematik zu erstellen. Anhand dieses Materials sollten Schülerinnen und Schüler einen Einblick in die Zeit des Kalten Krieges insbesondere an der Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei bekommen. Dabei bestand die Möglichkeit, sich entweder mit dem Gesamtzeitraum oder mit einzelnen Zeitabschnitten zu befassen. Die Schüler arbeiteten mit Quellen, sammelten eigene Materialien und führ-

47 Siehe hierzu Petra L. Schmitz/Rolf Geserick (Hg): Die Anderen in Europa. Nationale Selbst- und Fremdbilder im europäischen Integrationsprozess, Materialien des Adolf Grimme Instituts, Bonn 1996.

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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ten Zeitzeugeninterviews. Das im Ergebnis entstandene didaktische Material konnte zweisprachig deutsch und tschechisch publiziert werden.48 Das Projekt »Alltagsleben an der DDR-ČSSR-Grenze 1960–1989« wurde 2011 mit insgesamt 18 Schulen aus Sachsen, Thüringen und der Tschechischen Republik begonnen. Dabei sollten Schülerinnen und Schüler durch Zeitzeugeninterviews in ihrer unmittelbaren Umgebung erfragen, wie sich das Grenzregime auf das Alltagsleben der Bevölkerung beiderseits der DDRČSSR-Grenze auswirkte. Im Zentrum des Interesses standen folgende Aspekte: Beruf und politisches Engagement, die Tätigkeit gesellschaftlicher Organisationen, die Stellung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen im Staatssozialismus (Arbeiter, Frauen, Jugendliche, Sportler, Künstler), Planwirtschaft, Versorgung und Konsum, Kultur und Sport, die Rolle der offiziellen Medien und ihr Einfluss auf die Gesellschaft, aber auch die inoffizielle Sphäre bis hin zu Freizeitgestaltung und Unterhaltung. Die Schülerergebnisse sowie die Ergebnisse einer Fachtagung sollen 2012 sowohl in Buchform als auch digital in Form einer Ausstellung veröffentlicht werden. Die Idee der europäischen Einigung hat nach 1989 neue Dimensionen erhalten. Damit es aber nicht nur bei der Idee bleibt, müssen Europas Bürger und insbesondere junge Menschen immer neu für sie sensibilisiert, gewonnen, aber vor allem aktiv werden. Hierzu können die Euroregionen mit ihren vielseitigen Angeboten wichtige Beiträge und Impulse liefern.

Literatur Abkommen zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen, dem Land Rheinland-Pfalz, der Wallonischen Region und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens über grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und anderen öffentlichen Stellen, unterzeichnet in Mainz am 8. März 1996, Drucksache 11/7085 Landtag von Baden-Württemberg (11. Wahlperiode), GVNWS 330-SGV-NW 100 01.

48 Eugenie Trützschler von Falkenstein: Die Grenze zwischen den Bruderstaaten. DDR und Tschechoslowakei 1955–1990 im gesamteuropäischen Kontext. Projekt der Stiftung Ettersberg, der Stadt Kraslice und der Karlsuniversität Prag, 2010/ 2011, Weimar/Kraslice 2011. Das Material ist auch zweisprachig online abrufbar unter www.schulportal-thueringen.de [01.02.2012].

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Änderungsvorschläge der AGEG zum Entwurf eines Berichtes über die Rolle der »Euroregionen« bei der Entwicklung der Regionalpolitik (2004/2257(INI) vom 19.07.05. Bericht der Kommission über die Durchführung des Programms über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Gemeinschaft und Ländern in Mittel- und Osteuropa 1994 (KOM(95)-C4-0142/96). Charta des Kongresses der Gemeinden und Regionen Europas, angenommen vom Ministerkomitee am 14. Januar 1994 anlässlich der 506. Sitzung der Delegierten der Minister. Charta Gentium et Regionum, herausgegeben vom Internationalen Institut für Nationalitätenrecht und Regionalismus (INTEREG), München 1996. Communication to the Commission; Implementing and promoting the European Neighbourhood Policy, Brussels, 22 November 2005, SEC(2005)1521. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, vom Europäischen Konvent im Konsensverfahren angenommen am 13. Juni und 10. Juli 2003, dem Präsidenten des Europäischen Rates in Rom überreicht am 18. Juli 2003 (CONV 850/03). Europäische Charta der Grenz- und grenzübergreifenden Regionen, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der Europäischen Grenzregionen [Association of European Border Regions], www.aebr.eu/files/publications/ Charta_Final_071004.de.pdf [10.02.2012]. Europäisches Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusam­ men­arbeit zwischen Gebietskörperschaften [European Outline Convention on Transfrontier Co-operation between Territorial Communities or Authorities], Nr. 106/1980, Madrid, 21.V.1980, http://conventions.coe.int/ treaty/ger/Treaties/Html/106.htm [10.02.2012]. Häberle, Peter: Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden 2001/2002 . Olbrycht, Jan: Report on the proposal for regulation of European Parliament and of the Counsil on establishing a European grouping of cross-border cooperation (EGCC), 21.06.2005, A6-0206/2005, Committee on Regional Development. Protokoll zum Europäischen Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften [Protocol to the European outline convention on transfrontier cooperation between territorial communities or authorities concerning interterritorial co-operation], Nr. 169, Strasbourg, 5.V.1998. Triantaphyllides, Kyriacos: Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Rolle der »Euroregionen« bei der Entwicklung der

Zur Rolle der Euroregionen in Europa

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Regio­nalpolitik, Ausschuss für regionale Entwicklung (2004/2257(INI), PE 360.073v01-00 2/10 PR\57158). Trützschler von Falkenstein, Eugenie: Mittelosteuropa – Nationen, Staaten, Regionen. Die Erweiterung der Europäischen Union aus historischer Perspektive, Frankfurt am Main 2005. Übereinkommen zwischen der Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Großherzogtums Luxemburg und dem schweizerischen Bundesrat, handelnd im Namen der Kantone Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Jura, über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Stellen [Karlsruhe, 23. Januar 1996], in Kraft getreten am 1. September 1997. Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1783/1999, Amtsblatt der EU L 210/1 vom 31.07.2006. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates bezüglich der Schaffung eines europäischen Verbunds für grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Brüssel, den 14.7.2004, KOM (2004)496 endgültig, 2004/0168 (COD). Zusatzprotokoll zum Europäischen Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften [Additional Protocol to the European Outline Convention on Transfrontier Co-operation between Territorial Communities or Authorities], Nr. 159, Strasbourg, 9. XI. 1995.

Johannes Beermann

Ein sächsischer Blick auf die Chancen für ein Europa der Regionen

Eine Diskussion über die Chancen für ein Europa der Regionen scheint vor dem Hintergrund der Euro-Schuldenkrise zunehmend unter dem Eindruck der Frage zu stehen, ob Europa denn überhaupt noch eine Zukunft hat. Die Geschehnisse der vergangenen Monate müssten doch selbst die überzeugtesten Euro- und Europafreunde skeptisch werden lassen. So konnte sich laut Umfragen Ende 2011 fast die Hälfte der Bevölkerung in Sachsen und Thüringen vorstellen, eine eurokritische Partei zu wählen. Sicher wurden im Hinblick auf die europäische Einigung und insbesondere im Rahmen der Euro-Einführung Fehler gemacht. Wären bestimmte Maßnahmen ergriffen bzw. andere unterlassen worden, wäre die Situation in der EU und im Euro-Raum heute gewiss eine andere – bessere. Für die Zukunft ist zunächst jedoch entscheidend, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt, sprich die Maastricht-Kriterien eingehalten werden. Daher hat sich Sachsen im Bundesrat für automatische Sanktionen bei der Verletzung der Maastricht-Kriterien ebenso ausgesprochen wie für die Einführung eines Stabilitätskommissars. Bereits im August 2011 forderten der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine verbesserte Steuerung des Euro-Währungsgebietes. Die Staats- und Regierungschefs der Eurozone sollten ermächtigt werden, verbindliche Vorgaben für die Wirtschaftspolitik zu beschließen. Allenthalben hört man von dem Erfordernis einer europäischen Wirtschaftsregierung. Noch weiter ging Bundesministerin Ursula von der Leyen, die gar die Vereinigten Staaten von Europa forderte. Zentralisierungstendenzen und Forderungen nach zusätzlichen Kompetenzzuweisungen an die Europäische Union also allerorten. Dies zeitigt Konsequenzen bis in die Kompetenzen der Länder hinein. EU-Vorgaben zur Haushaltskonsolidierung und Maßnahmen einer Wirtschaftsregierung werden nicht auf der Ebene der Mitgliedsstaaten aufhören, sondern auch die regionale und kommunale Ebene betreffen. Hinzu kommt, dass in dem Verfahren zur Gründung und Ausdehnung des Rettungsschirms die Entscheidungen durch den Rat getroffen wurden. Etliche Parlamentarier insbesondere in Deutschland waren daraufhin

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Johannes Beermann

der Auffassung, dass die Entscheidungen der parlamentarischen Kontrolle entzogen und sie zu »Abnickern« degradiert würden. Schutz gewährte das Bundesverfassungsgericht diesen zumindest insoweit, als es feststellte, dass die Bundesregierung grundsätzlich verpflichtet sei, bei der Übernahme von Gewährleistungen jeweils die vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses einzuholen. In diesen turbulenten Zeiten brachte ein Brooker in einem BBC-Interview die ohnehin laufende Diskussion darüber, ob die Politik noch Herrin des Geschehens oder nur Getriebene der Märkte sei, mit der Bemerkung auf den Punkt, es gäbe ohnehin bereits eine Weltregierung – und die hieße Goldman Sachs. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sprach gar davon, die zentrale demokratische Frage der nächsten Jahre sei »Demokratie oder Finanzherrschaft«. Wenn nun schon die EU und die Mitgliedsstaaten nicht mehr Herren der Lage sind, welche Bedeutung kommt dann noch den Regionen zu? Haben wir im Spiel der Mächte und Mächtigen denn überhaupt eine Chance, wahrgenommen zu werden und unsere Anliegen zu artikulieren? Dabei ist die Ausgangssituation für die deutschen Länder im EU-Vergleich eigentlich gar nicht schlecht. Deutschland zählt zu den wenigen föderal organisierten Mitgliedsstaaten der EU, und daher ist die Länderbeteiligung über den Bundesrat bereits im Grundgesetz festgelegt. In dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union, dem so genannten EUZBLG, wird dies näher geregelt. Wir sind laut Art. 23 Abs. 4 Grundgesetz an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen und in Angelegenheiten, die schwerpunktmäßig die Landesgesetzgebung betreffen, ist die Stellungnahme des Bundesrates »maßgeblich« zu berücksichtigen. Darüber hinaus hat auch der Vertrag von Lissabon die Position der Länder gestärkt, in dem nunmehr im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung die Länderparlamente als zu Beteiligende anerkannt werden. Mit dem Ausschuss der Regionen (AdR), in dem Sachsen derzeit mit einem Regierungs- und einem Parlamentsvertreter sitzt, hat die EU darüber hinaus auch eine eigene Regionalvertreter-Repräsentanz geschaffen, quasi ein Parlament der Regionen. Dessen Einfluss sollte allerdings nicht überbewertet werden, sagt doch Art. 307 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), dass der AdR »gehört« wird. Seine Stellungnahmen haben keinen für die Institutionen der EU verbindlichen Charakter. Indes besitzt der AdR, wie nunmehr auch die Parlamente der Mitgliedsstaaten, ein eigenes Klagerecht beim EuGH bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip. Wir reden aber nicht nur bei der EU mit, wir sind auch bei ihr vor Ort präsent. So hat jedes Bundesland und natürlich auch Sachsen seine »Interessen-Vertretung« in Brüssel. Interessenvertreter in gewissem Maße sind natür-

Ein sächsischer Blick auf die Chancen für ein Europa der Regionen

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lich auch die aus Sachsen stammenden Abgeordneten im Europäischen Parlament. Ende November 2011 wird die sächsische Staatsregierung eine Kabinettssitzung in Brüssel durchführen und mit mehreren EU-Kommissaren diskutieren. Unser Ministerpräsident Stanislaw Tillich besuchte 2011 bereits zweimal das Europaparlament in Straßburg zu Gesprächen mit Parlamentariern und EU-Kommissaren. Allein hat aber auch eine starke Region wie Sachsen nur eine sehr begrenzte Möglichkeit, im Konzert der Regionen und Interessenvertretungen gehört zu werden. Daher empfiehlt es sich, die Kräfte mit anderen Regionen in Netzwerken zu bündeln. Sachsen tut dies beispielsweise im »Demographic Change Regions Network«, und wir haben es in der Vergangenheit erfolgreich mit einem Netzwerk derjenigen Regionen getan, die allein wegen der seinerzeitigen Neuaufnahme weiterer Staaten in die EU nicht mehr zu den am meisten förderungsbedürftigen Regionen zählten, den so genannten »statistische Effekt-Regionen«. Damit sind wir auch schon bei den Themen, denen sich eine Region in der EU annehmen kann und muss. Wegen der beschränkten Kräfte und Einflussmöglichkeiten gilt es, sich auf das Wichtigste und das Realistische zu konzentrieren. Hierzu zählt für uns insbesondere die Regionalpolitik der EU und damit insbesondere die Frage, wie eine Region von der Strukturfondsförderung optimal profitieren kann. Sachsen erhält in der laufenden Förderperiode ca. vier Milliarden Euro aus Brüssel zur Förderung von Unternehmen, Infrastruktur und vor allem für Arbeitsplätze. Mit diesen Mitteln sind wir immer sorgsam umgegangen und haben viel erreicht. Wir haben jetzt aber auch bei harten Einschnitten in der kommenden Förderperiode viel zu verlieren. Zur Strukturpolitik zählt auch die so genannte Europäische Territoriale Zusammenarbeit, deren Anteil an der Kohäsionspolitik nach den jetzt vorliegenden Entwürfen zur künftigen Strukturpolitik nahezu verdoppelt werden soll. Sachsen engagiert sich in der grenzübergreifenden Zusammenarbeit mit unseren polnischen und tschechischen Nachbarregionen. Dies wollen wir weiter ausbauen. Darüber hinaus stellt die EU seit Beginn der laufenden Förderperiode die Rechtsfigur des Europäischen Verbundes für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) zur Verfügung, den man in etwa als europäischen Zweckverband beschreiben könnte. Hiervon wurde bislang noch recht wenig Gebrauch gemacht, weshalb die EU auch den Anwendungsbereich erweitern und die Gründung vereinfachen will. Ich sehe hier insbesondere die kommunale Seite und die Land­kreis­seite aufgerufen, von dem Angebot Gebrauch zu machen und auf die Nachbarregionen im angrenzenden Ausland zuzugehen. Dabei gibt es mit den vier Euroregionen, an denen Sachsen beteiligt ist, bereits gefestigte Strukturen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. In den Euroregionen Egrensis, Erzgebirge, Elbe/Labe, und Neiße-Nisa-Nysa

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Johannes Beermann

unter Beteiligung polnischer, tschechischer, bayrischer, thüringischer und sächsischer Partner wird grenzüberschreitende Zusammenarbeit praktiziert, die trennende Wirkung von Staatsgrenzen überwunden, grenzüberschreitende Begegnungen der Menschen gefördert und das besondere Potenzial dieser Regionen genutzt. Dies mag zunächst als kurze Bestandsaufnahme unseres Regionalinventars genügen. Wie aber wird sich der Regionalismus in der EU weiter entwickeln? Die Gefährdungen durch Zentralisierungstendenzen habe ich bereits angesprochen, dass die Verordnungsvorschläge für die neue Strukturfondsförderperiode auch als Bekenntnis der EU zu den Regionen und als Stärkung der Regionen-Zusammenarbeit verstanden werden können, ebenfalls. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass jede zentralistische Bewegung gleichzeitig eine regionalistische Gegenbewegung nach sich zieht. Daher ist mir auch um die Zukunft der Regionen in Europa nicht bang. Schließlich liegt der Grundsatz der Subsidiarität dem EU-Recht zugrunde. Nach diesem darf die Europäische Union Aufgaben, die Regionen erfüllen können, diesen nicht nur nicht wegnehmen, sondern muss bereits entzogene, nicht genutzte Kompetenzen wieder zurückgeben. Auch dies wurde im Lissabon-Vertrag festgeschrieben, es harrt aber noch seiner Umsetzung.

Podiumsdiskussion der Referenten

Chancen für ein Europa der Regionen*1

Werner Dieste (Mitteldeutscher Rundfunk) Heute wollen wir mit unseren tschechischen, polnischen, sächsischen und bayerischen Nachbarn auf die »Chancen für ein Europa der Regionen« schauen, und ich freue mich darauf, mit ihnen zu diskutieren. In den Eingangsstatements unserer Podiumsgäste haben wir bereits gehört, dass das Europa der Regionen dort lebt, wo es Beziehungen auf Augenhöhe gibt, wo etwas Konkretes für die Bürger getan wird. Das Europa der Regionen bleibt jedoch nur eine politische Formel, wo es auf der Institutionenebene verharrt. Lassen Sie uns an diesem Punkt einhaken: Das Europa der Regionen lebt also da, wo es von Menschen getragen wird, die konkret etwas tun und Dinge bewegen. Ist dann aber so ein Ausschuss der Regionen überhaupt sinnvoll, oder ist das nicht der Versuch, wieder neue bürokratische Strukturen zu schaffen? Ulla Kalbfleisch-Kottsieper (Thüringer Justizministerium) Der Ausschuss der Regionen (AdR) ist kein europäisches Organ, er hat aber eine Menge an Mitwirkungs- und Anhörungsrechten und -pflichten und er ist vor allem für jene Regionen von Vorteil, die in ihren Heimatländern keine dem deutschen Bundesrat vergleichbare Institution haben. Der AdR ermöglicht den 340 Mitgliedern, von denen die Deutschen nur 24 stellen, eine direkte Mitwirkungsmöglichkeit und Kenntnisnahme von europäischen Vorlagen, die sie sonst nicht hätten. Dabei geht es natürlich nicht immer um Euro-Rettungsschirme, sondern auch um ganz praktische Dinge. Früher gab es z. B. in Italien nur eine so genannte Staat-Regionen-Konferenz, die einmal im Jahr tagte, und dann wurde den Teilnehmern von der *

Die Podiumsdiskussion fand am 22. Oktober 2011 auf dem 10. Internationalen Symposium der Stiftung Ettersberg »Thüringen und seine Nachbarn nach 20 Jahren« in Weimar statt. Die Beiträge wurden redaktionell überarbeitet und gekürzt.

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Podiumsdiskussion der Referenten

Zentralregierung mitgeteilt, wie sich Europa gerade entwickelt hatte. Heute sind über 20 Delegierte aus italienischen Städten und Regionen in Brüssel vertreten und erhalten Zugang zu allen Papieren. Diesen Vorteil können sie konkret nutzen, um die europapolitische Debatte in Italien selbst aktiv mitzubestimmen. Das Europa der Regionen steht also dafür, dass die Regionen in ihren Mitgliedsstaaten gestärkt werden, dass diese mitwirken können an der Entstehung des nationalen Standpunktes, den es zu einer bestimmten europäischen Sache einzunehmen gilt. Übrigens vergeht keine AdR-Sitzung, bei der nicht mindestens ein/e EU-Kommissar/in anwesend ist und seine/ihre Politik erläutert und die entsprechenden Stellungnahmen des AdR entgegennimmt, auf die dann auch reagiert wird. In dieser Hinsicht ist der AdR ein wirklicher Zugewinn. Von der Vision allerdings, der AdR könnte gleichsam eine zweite parlamentarische Kammer in Europa werden, sollten wir uns verabschieden. In Straßburg gibt es ja auch noch den Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates, wo diese sich durchaus langfristig einbringen können. Dr. Johannes Beermann (Sächsische Staatskanzlei) Ich möchte den Traum von der zweiten Kammer noch nicht ganz aufgeben und bin auch von der anfangs genannten Bürokratiekritik nicht überzeugt. Im AdR geht es doch im Grunde um einen Austausch von Argumenten, was vielfach in den Hintergrund tritt. Gerade das ist jedoch Ausdruck des uralten Glaubens, in dem wir in unserer christlich-jüdischen abendländischen Tradition des Argumentierens und Problemlösens verankert sind. Das ist ein ganz wichtiger Wert. Die Probleme vor Ort zu erkennen und dann festzustellen, dass sie in ganz unterschiedlichen Regionen Europas wegen dieser gemeinsamen kulturellen Wurzeln gleich sind, das schweißt Europa doch gerade zusammen. Wir versuchen im Prinzip einen Viel-Kulturen-Staat, ein VielSprachen-Gebilde zusammenzufügen. Wir haben schon eine weitgehende wirtschaftliche Einheit und diskutieren darüber, wir versuchen politische Prozesse in Gang zu halten und soziale Sicherung zu garantieren. Das sind hochkomplexe politische Prozesse, zu denen es keine Alternativen gibt. Denn Europa ist eine Frage von Krieg oder Frieden, wie Helmut Kohl immer gesagt hat. Wenn ich in den Stammbaum meiner Familie in den letzten 300 Jahren schaue, dann hat keiner meiner Vorfahren eine so lange Friedensperiode erlebt wie ich seit nunmehr 50 Jahren. Und im Gegenzug dafür etwas mehr Bürokratie? Das leisten wir uns doch locker!

Chancen für ein Europa der Regionen

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Prof. Dr. Roland Sturm (Friedrich-Alexander-Unversität ErlangenNürnberg) So zugespitzt wird Ihnen an diesem Punkt wahrscheinlich jeder zustimmen. Ich möchte noch einmal die Bedeutung der Anhörungsfunktion unterstreichen, die Frau Kalbfleisch-Kottsieper bereits ansprach, denn diese ist vor allem im informellen Bereich wichtig. Erwähnenswert ist sicher auch, dass der Ausschuss der Regionen inzwischen über ein Klagerecht in Subsidiaritätsfragen vor dem Europäischen Gerichtshof verfügt. Damit hat der AdR eine Art Wächteramt und kann klagen, wenn er der Auffassung ist, dass in bestimmten Bereichen (wo er beraten kann) Kompetenzen europäisiert werden, ohne dass dies durch die Verträge begründet ist, oder wenn es Widerstände aus den Regionen gibt. Wie das ausgeht, wissen wir allerdings nicht, denn bislang gab es meines Wissens noch keine Klage. Um ein realistisches Bild zu zeichnen, möchte ich auch auf eine Umfrage hinweisen, die der Ausschuss der Regionen selbst in Auftrag gegeben hat. Danach liegt der Bekanntheitsgrad des AdR bei 24 Prozent: Vier Prozent sagten, sie kennen den AdR und seien auch irgendwie mit seinen Aufgaben und seiner Arbeit vertraut. 18 Prozent gaben an, sie wüssten, dass es so etwas gibt, aber nicht, was er macht. 52 Prozent antworteten, noch nie davon gehört zu haben. Unterm Strich hat der AdR also einen Bekanntheitsgrad von gerade einmal vier Prozent. Damit will ich nur sagen, wir sollten nicht annehmen, der AdR sei eine Superstruktur, die bis auf die Bürgerebene herunterreicht. Bürgernähe ist und bleibt noch immer eine politische Aufgabe, die auch etwas mit Kompetenzverteilung zu tun hat. Wir brauchen auf der regionalen Ebene Freiräume, um selbstständig handeln zu können. Es gibt z. B. das Karlsruher Abkommen, das die regionale und kommunale Zusammenarbeit über Grenzen hinweg fördert, ohne dass vorab immer die Zustimmung von Berlin oder Paris eingeholt werden muss. Auch wenn der Raum für selbstständige Entscheidungen klein ist, kann man immer noch persönliche Begegnungen pflegen. Aber man will doch auf dieser Ebene auch etwas entscheiden können. Wir sollten in Deutschland durchaus darüber nachdenken (die Föderalismusreform I war da vielleicht noch nicht genug), den Bundes­ländern mehr Möglichkeiten zu geben. Sie haben einfach die besseren Kompetenzen, in den Grenzregionen zu handeln. Wir sollten daran arbeiten, diese Kompetenzen stetig zu verbessern, um die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auch in Zukunft weiterzuentwickeln. Was in diesem Bereich alles möglich ist, wird uns in anderen Ländern schon vorgeführt, schauen wir etwa nach Belgien oder Spanien. Auch in der Wissenschaft sind Dezentralisierung und Effizienz heiß disku-

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tierte Themen. Es gibt viele Überlegungen, wie man Bürger vor Ort direkter an Entscheidungen beteiligen kann, anstatt Entscheidungen nur zu vermitteln. Es gilt also, Europa nicht nur als Projekt zu vermitteln, sondern auch in der konkreten Alltagswelt der Bürger zu verankern. Werner Dieste Herr Horník, Sie hatten in Ihrem Eingangstatement mit Blick auf die Euregio Egrensis und die Kooperation zwischen Sachsen, Thüringen, Bayern und Böhmen betont, dass es bei der Zusammenarbeit in den Regionen auf die Menschen ankommt. Aber wer übernimmt in so einem Prozess dann die Führung? Der gewählte gemeinsame Präsident der Euroregion? Jan Horník (Senat der Tschechischen Republik) Meiner Meinung nach spielt es keine Rolle, woher die einzelnen Menschen kommen – ob das ein Tscheche, ein Bayer oder ein Sachse ist, das ist ganz egal. Es geht vielmehr um Ideen. Die Leute müssen gute Ideen haben und diese verwirklichen können. Sie müssen Visionen haben und Zukunftsperspektiven entwickeln. Früher dachte ich, es sei ein ganz naheliegender Wunsch für jeden, Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Für viele meiner Freunde, Mitarbeiter und für viele Einwohner meiner Grenzgemeinde Boži Dar war dies jedoch durchaus nicht selbstverständlich. Es muss immer einen geben, der die Ideen hat und vorangeht, ganz egal, woher er kommt, auch wenn er dann noch an vielen Stellen Überzeugungsarbeit leisten muss, um seine Vorstellungen umzusetzen. In den Euroregionen gibt es heute schon viele gute Beispiele für gelungene Kooperationen, etwa im Schulbereich. Denn besonders für unsere Kinder sind solche Erfahrungen wichtig. Sie können in Frieden und Demokratie leben. Ich stimme Herrn Beermann völlig zu: Auch ich bin dankbar, in Frieden leben zu können, und ich hoffe, dass auch meine Kinder diese Chance haben werden. Mein 8-jähriger Sohn hat fünf Jahre einen Kindergarten in Deutschland besucht. Das war für ihn ganz normal. Und wenn ich versuche ihm zu erklären, dass hier früher einmal eine abgeriegelte Grenze war, dann versteht er das überhaupt nicht, oder er fragt: »Warum seid ihr nicht im Urlaub nach Spanien geflogen?« Das muss ich keinem Ostdeutschen erklären, einem Polen wahrscheinlich auch nicht. Kinder aus unserer Gemeinde gehen im deutschen Nachbarort in die Grundschule oder auf das Gymnasium – einfach weil es der kürzeste Weg für sie ist. Wir kaufen heute auf der deutschen Seite ein, und die Deutschen kommen zu uns. Das alles hat sich in

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den vergangenen 20 Jahren rasant entwickelt. Wir Politiker haben den Menschen nur die Möglichkeiten gegeben, sie entscheiden selbst, wie sie davon Gebrauch machen. Ich bleibe dabei: Es muss Vordenker geben, und es ist ganz gleich, ob diese aus Böhmen, Sachsen oder Thüringen kommen. Was Herr Beermann sagte, ist für mich ein ganz wichtiger Punkt: Mit etwas mehr Bürokratie habe auch ich kein Problem, wenn wir dafür die Demokratie in Europa sichern, mag diese auch in jedem Staat ihre Besonderheiten aufweisen. Kriege darf es nie wieder in Europa geben, und wir müssen alles daran setzen, dass die radikalen Kräfte von links oder rechts nicht erstarken. Dafür könnt ihr euch in Thüringen, Sachsen und Bayern einsetzen, und wir müssen das in Böhmen ebenso tun. Gerade in Nordböhmen haben wir große Probleme, weil wir zu lange nichts getan haben. Und solche Probleme machen auch an Grenzen nicht halt. Deshalb ist es wichtig, gerade in kleinen konkreten Projekten grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten, denn auch das sichert den Frieden in Europa. Prof. Dr. Heinrich Oberreuter (Universität Passau/Akademie für Politische Bildung Tutzing) Ich möchte doch den einen oder anderen Wermutstropfen in diese schöne emotionale Runde hineinträufeln lassen. Punkt eins: Die Rede davon, dass Europa eine Frage von Krieg oder Frieden sei, war sicher in bestimmten Zeiten angebracht, heute jedoch entbehrt sie ein Stück weit der Rationalität. Früher hatten wir weder eine gemeinsame Währung noch war die Europäische Union so weit entwickelt wie heute. Wir haben unsere Lehren aus der Geschichte gezogen, und in Anbetracht der gemeinsamen Interessenlage in Europa, die auch in einer nicht vollendeten Wirtschaftsunion überaus groß ist, besteht doch nirgendwo in Europa Anlass dazu, die Gefahr eines Krieges an die Wand zu malen. Ich sehe darin nämlich das Problem, dass wir der nachwachsenden jungen Generation eine Propaganda­floskel an den Kopf werfen, mit der diese nichts anzufangen weiß. Im Endeffekt kann mit dieser hohen moralischen Attitüde die überaus wertvolle Europaidee sogar beschädigt werden, weil es nicht konkret ist und nicht rational erklärt werden kann. Punkt zwei: Es mag zahlreiche Menschen geben, die das Konzept der Vereinigten Staaten von Europa propagieren. Das ist nicht neu, aber was verbindet sich mit diesem Gedanken? Man sollte einmal darüber nachdenken, dass dieses Europa schon seit vielen Jahrhunderten besteht und funktioniert, dass politische Kulturen gewachsen sind, dass auf einer gemeinsamen Wertebasis letztendlich unterschiedliche Organisationsformen entstanden sind, die alle dazu dienen, den Kerngehalt des europäischen Denkens umzusetzen. Ich

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sehe keine ernstzunehmenden Stimmen in Europa, die behaupten, die Nationalstaaten würden sich eines Tages überleben und mit ihnen auch die nationalen politischen Kulturen und institutionellen Organisationsformen. Wir sehen doch, dass gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, wo eine europäische Kooperation sinnvoll wäre, das Gegenteil stattfindet. Keine der alten großen Nationen hat ein Interesse daran, außen- oder sicherheitspolitische Kompetenzen wirklich nach Europa zu delegieren. Wir sollten also aufhören, Wolken zu schieben, sondern darüber nachdenken, was realisierbar ist und das auch verwirklichen. Wir sollten uns endlich darüber klar werden, was der Endzustand der europäischen Gemeinschaft sein soll, und Abstand davon nehmen, die Europäische Union im Fokus permanenter Vertiefungs- und Integrationsprozesse zu sehen. In dieser Runde wurde viel von den Menschen gesprochen, die erreicht und mitgenommen werden müssen. Aber das Problem ist: Die Menschen gehen nicht mit. Hier entstehen Diskrepanzen, die die europäische Idee, die mir heilig ist, im Kern beschädigen. Punkt drei: Die Bayern haben den Ausschuss der Regionen in gewisser Weise erfunden. Max Streibl hat diese Idee ins europäische Gespräch gebracht, und hätte er keine Resonanz gefunden, wäre auch nichts daraus geworden. Nur wer sitzt denn im Ausschuss der Regionen? Im AdR sitzen aus Deutschland Landesminister und Landtagsabgeordnete z. B. neben regionalen Bürgermeistern und lokalen oder regionalen Beamten, weil viele Regionen nicht von Ländern mit Staatsqualität vertreten werden, sondern von Leuten mit einem ganz anderen Interesse, einem ganz anderen Hintergrund und einer nicht vergleichbaren Verantwortung. Wollen Sie sich ernsthaft für die Idee aussprechen, einen Ausschuss der Regionen nach Bundesratsmodell bei dieser Art von Repräsentation zu realisieren? Das halte ich für irreal. Wir sollten stattdessen dafür eintreten, konkret in den Regionen auf problemlösender Ebene mit den Bürgern, Bürgermeistern, Landräten und den dortigen Institutionen vernünftig zu agieren, etwa in den Bereichen Straßenbau, Wasserwirtschaft oder bei grenzüberschreitenden Umweltprojekten. Die Euregio ist das angemessene Instrument dafür. Es wäre doch schon wunderbar, wenn das funktionierte, und in vielen Bereichen gibt es bereits gute Ansätze. Konzentrieren wir uns doch darauf, anstatt gleich alles in einen europäischen Himmel zu heben, aus dem es dann so schrecklich wieder auf die Erde fällt und das, was uns eigentlich am Herzen liegt, im Kern beschädigt. Dr. Johannes Beermann Als Chef der Staatskanzlei sitze ich ja eher im Maschinenraum der Politik, und glauben Sie mir, auch im Maschinenraum müssen Sie wissen, wohin die

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Reise geht. Ich muss meinem Vorredner heftig widersprechen. Europa ist nach wie vor eine Frage von Krieg oder Frieden. Wenn wir uns das nicht immer wieder ins Bewusstsein rufen, wird Europa scheitern. In den 1990er Jahren haben sich mitten in Europa, keine Flugstunde von Frankfurt entfernt, europäische Kulturvölker gegenseitig umgebracht. Ich spreche vom Zerfall Jugoslawiens. Man war zuvor davon ausgegangen, dass es in Europa nie wieder Krieg geben würde, und dennoch geschah es. Wir wissen heute zum Beispiel nicht, wie sich die Situation in Griechenland entwickeln wird, ob dort nicht demokratiefeindliche Kräfte erstarken werden. Wer glaubt, Demokratie und Frieden seien selbstverständlich, unterliegt einer massiven politischen Täuschung. Wir müssen jeden Tag genau dafür kämpfen und uns immer aufs Neue ins Bewusstsein rufen, dass beides stets gefährdet bleibt. Genau aus diesem Grund muss auch der Integrationsprozess weiter voranschreiten. Zudem bin ich fest davon überzeugt, dass unsere gemeinsame Währung, der Euro, ebenfalls dazu beiträgt, den Frieden in Europa zu sichern. Wir sind also gut beraten, uns das zumindest ab und an wieder ins Bewusstsein zu rufen. Mir im Maschinendeck hilft es jedenfalls. Ulla Kalbfleisch-Kottsieper Ich möchte auf die Vision der Vereinigten Staaten von Europa eingehen und kann das zwischen zwei Polen tun. Zum einen gehöre ich der Partei an, die das bereits 1925 im Heidelberger Programm gefordert hat. Die Sozialdemokraten haben das zwischenzeitlich zwar vergessen, heute jedoch besinnen und beziehen sie sich wieder darauf. Zum anderen kann ich aus den Reihen der CDU Peter Altmaier nennen, der bis Ende 2011 Vorsitzender der EuropaUnion Deutschlands war, einer über 60 Jahre alten parteiübergreifenden Organisation, deren Präsidium ich auch angehöre. Peter Altmaier hat das Hertensteiner Programm von 1946 in seiner Westentasche, in welchem sich ebenfalls die Vereinigten Staaten von Europa finden. Die Europa-Union erarbeitet gerade ein neues Grundsatzprogramm, und wir werden sicher auch darüber diskutieren, ob eine solche Vision noch zeitgemäß ist. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass wir daran festhalten werden. Ich stimme in dieser Hinsicht Herrn Beermann zu. Wir müssen uns auch emotionale Ziele setzen. Denn wenn wir diese Vision aufgeben, gerade vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise, laufen wir Gefahr, in Beliebigkeit zu verfallen nach dem Motto, Hauptsache man trifft sich und redet über das eine oder andere Problem. Über einige Einwände von Herrn Oberreuter zum Ausschuss der Regionen muss ich mich doch sehr wundern. Warum soll der Bürgermeister einer

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britischen oder griechischen Kleinstadt nicht ebenso viele Kompetenzen haben wie die deutschen Vertreter im AdR? Was ist das für ein Denken? Gerade heute haben wir doch mit Herrn Horník, Bürgermeister einer kleinen grenzenahen böhmischen Gemeinde, jemanden in der Runde, der vielfach bewiesen hat, wie wichtig die Kompetenz der kommunalen Ebene für die Lösung von Problemen vor Ort ist – nicht nur in grenznahen Regionen. Meiner Ansicht nach setzt das Konzept vom Europa der Regionen im Grunde unseren Föderalismus fort. Denn es geht dabei doch um institutionalisierte Solidarität. Der Föderalismus in Westdeutschland hat unter anderem deshalb so gut funktioniert, weil wir einen Finanzausgleich haben. Wir konnten die neuen Länder relativ zügig integrieren, weil es den Solidaritätsaspekt gab, der von uns jetzt auch auf europäischer Ebene erwartet wird. Wenn wir uns die Debatten im Ausschuss der Regionen zur Frage einer künftigen Kohäsionspolitik anschauen, dann geht es nicht immer nur darum, wer die meisten EU-Mittel bekommt. Wir Deutsche haben so viel Solidarität erfahren, gerade auch in den neuen Bundesländern, dass es im Ergebnis doch hinnehmbar ist, wenn wir zukünftig etwas weniger EU-Mittel bekommen, dafür aber andere Regionen mit weit höherem Aufholbedarf mehr. Im grenzüberschreitenden Bereich nutzt uns das übrigens dann auch wieder. Prof. Dr. Roland Sturm Ich möchte die Finalitätsfrage aufgreifen. Man kann zwar wünschen, dass sie einmal geklärt wird, sie ist aber nicht über Nacht zu beantworten. Wenn man die einzelnen Staaten fragt, wohin es gehen soll, wird man eher Blockaden finden, und die Angst vor einer neuen Vertragsrevision ist doch nicht unbegründet, weil man damit alle möglichen Türen öffnet. Das Hallsteinsche Fahrrad, also die Vorstellung, der europäische Einigungsprozess muss immer weitergehen, sonst fällt das Fahrrad um und der Prozess scheitert insgesamt, scheint mir auch nicht die Lösung zu sein. Denn je größer die Herausforderungen werden, desto drängender stellt sich in Europa das Legitimationsproblem. Gerade wenn es um Geld geht, muss man den Bürgern erklären, warum das alles nötig ist und welche Vision dahinter steht. Diese Vermittlung ist ein schwieriger Prozess. Wir sollten uns auch daran erinnern – und das steht in den europäischen Verträgen immer ganz deutlich –, dass Europa nicht nach einem fertigen Bauplan entstand, sondern auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung fußt. Die Nationalstaaten geben in neuen Vertragsschlüssen immer wieder begrenzte Kompetenzen nach Brüssel ab, und daraus entsteht irgendwann ein Gebäude. Aber es gab nie einen Verfassungskonvent, der Europa gleich-

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sam »hergestellt« hätte. Als wir das letzte Mal versucht haben, einen Vertrag Verfassung zu nennen, hat das nicht funktioniert. Es war ein Vertrag und als Lissabon-Vertrag ist er dann auch beschlossen worden. Zum AdR möchte ich noch ergänzen: Seine Struktur könnte man sich unterschiedlich vorstellen, ob er mit 370 Mitgliedern allerdings noch effizient sein kann, darüber kann man streiten. Das würde wohl eine funktionierende Parteipolitik auf dieser Ebene erfordern. Denn im Ausschuss der Regionen wird ja immer stärker parteipolitisch diskutiert und nicht mehr nach Regionen oder Nationen getrennt. Parteien können Interessen bündeln, aber europäische Parteien in dem Sinne haben wir bislang nicht, in denen sich die Bürger direkt wiederfinden würden. Wir haben Parteienverbünde, denen zum Teil gegnerische Parteien angehören. Wir stehen also in gewisser Weise vor einem Dilemma: Wir müssen schon heute Probleme lösen, für die wir vielleicht Visionen bräuchten – Stichwort Finalität –, die noch gar nicht vermittelt sind. Anders gesagt, wenn wir über Visionen reden, lösen wir noch keines der Probleme, und aus diesem Dilemma kommen wir so schnell nicht heraus. Prof. Dr. Robert Traba (Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften) Wir sind alle für Frieden und gegen Krieg. Ob wir dafür aber wirklich neue Strukturen brauchen, da bin ich wie Herr Oberreuter skeptisch. Wir sollten vielmehr beobachten, wofür sich die junge Generation der Europäer interessiert, und uns mit ihren Themen auseinandersetzen, zum Beispiel mit der Occupy-Bewegung. Diese neue Generation fordert Partizipation – ich würde das Verbürgerlichung oder nach Max Weber Vergesellschaftung der Europäischen Union nennen. Das scheint mir ein zentraler Punkt zu sein, wenn wir über die Zukunft Europas sprechen. Dr. Eugenie Trützschler von Falkenstein (Stiftung Ettersberg) Ich möchte etwas zu den Regionen anmerken. Wenn man sich bewusst macht, dass die Vögte von Weida seit 1158 die Gerichtsherren von Eger waren, wird unmittelbar klar: Diese Region hat eine völlig andere Tradition als der Nationalstaat. Was sind 200 Jahre Nationalstaat gegen 800 Jahre Euregio Egrensis, gegen die mehr als 800-jährige vogtländische Identität? Was heißt Nationalstaat, was heißt Nation? Der Begriff Nation muss von den Historikern immer wieder neu diskutiert werden. Wir haben immer gedacht, es gibt eine jugoslawische Nation, das hat sich als falsch erwiesen. Ich betrachte die Euregio

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Egrensis als eine Schicksalsgemeinschaft. Wir müssen nicht über die Zukunft der Regionen diskutieren, denn es gibt sie seit tausend Jahren und sie werden uns alle überleben.

Die Autoren

Johannes Beermann Geboren 1960 in Emsdetten (NRW), Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1990 Promotion in Münster, Anfang der 1990er Jahre im Rahmen des Aufbaus der Ministerialverwaltung im Sächsischen Staatsministerium für Soziales sowie in der Sächsischen Staatskanzlei tätig, 1995–1999 Staatsrat beim Finanzsenator der Freien Hansestadt Bremen, 1999–2003 Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten beim hessischen Ministerpräsidenten, 2002–2003 Leitung des Malteser Hilfsdienstes in der Diözese Limburg, seit 2003 Partner einer Berliner Anwaltskanzlei, im Juni 2008 zum Chef der Sächsischen Staatskanzlei und Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten berufen und im September 2009 als Staatsminister und Chef der Sächsischen Staatskanzlei bestätigt. Ulrich Blum Geboren 1953 in München, Prof. Dr. rer. oec. Dr. h. c., Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Karlsruhe, 1982 Promotion, 1986 Habilitation am Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Karlsruhe; 1987–1992 Professur für Wirtschaftspolitik an der Universität Bamberg, 1991–1994 Gründungsdekan der Fakultät Wirtschaftswissenschaften an der TU Dresden, 1992–2004 dortiger Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung, 2004–2011 Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle und seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung an der Universität Halle-Wittenberg. Forschungsschwerpunkte: Institutionen-, Industrie- und Regionalökonomik und ihre wirtschaftspolitische Umsetzung. Aktuelle Veröffentlichungen: East Germany’s Economic Development Revisited: Path Dependence and East Germany’s Pre- and Post-Unification Economic Stagnation, in: Journal of Post-Communist Economies (erscheint 2013); (Mitautor): Ostdeutschlands Transformation seit 1990 im Spiegel wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren, IWH-Sonderheft 1/2009, Halle (Saale) 2009; Der Innovationsstandort Ostdeutschland (mit Jutta Günther),

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Die Autoren

in: Bernhard Vogel (Hg.): Standort: Neue Länder. Politik – Innovation – Finanzen, Sankt Augustin/Berlin 2009, S. 95–112. Marion Eich-Born Geboren 1955 in Bonn, Prof. Dr. rer. nat., Studium der Anglistik und Geographie in Bonn und Madison/Wisconsin; 1983–1989 Gymnasiallehrerin, 1989 Promotion zum Dr. rer. nat. an der Universität Bonn, 1990–1995 u. a. Freie Mitarbeiterin bei der Ruhrkohle Umwelt GmbH und der Harpener AG, 1996–1997 Dezernentin im Statistischen Landesamt Mecklenburg-Vorpommern, 1997–2003 Vertretungsprofessur am Geographischen Institut der Universität Greifswald, 2003 dort Habilitation; 2003–2009 Wissenschaftliche Mitarbeit und seit 2007 Deputy Managing Director am Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development, Universität Rostock; 2004–2008 Vertretungs- und Gastprofessuren an den Geographischen Instituten der Universitäten Greifswald und Jena, 2009–2012 Staatssekretärin im Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr; seit März 2012 Geschäftsführerin der Internationale Bauausstellung Thüringen GmbH. Aktuelle Veröffentlichungen: Fit machen für das 21. Jahrhundert. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Regionalpolitik, Hannover 2009; Herausforderungen als Chance begreifen: Zum Ausbau von Zukunftsfeldern in den neuen Ländern, in: Bernhard Vogel (Hg.): Standort Neue Länder. Politik, Innovation, Finanzen, Berlin/Sankt Augustin 2009, S. 77–93; (Mithg.): Wirtschaftliche Zukunftsfelder in Ostdeutschland (mit Gerald Braun), Rostock 2008. Peter Frey Geboren 1946 in Waldshut (Baden), Dr. rer. nat., Studium der Physik in Berlin und Freiburg, 1979 Promotion, nach sieben Jahren in der industriellen Forschung Wechsel in das Forschungsmanagement beim VDI Technologiezentrum in Düsseldorf, Forschungs­ programmentwicklung für das Bun­ desforschungsministerium, danach fünf Jahre als Geschäftsführer eines Beratungsunternehmens in Frankfurt am Main, seit 1995 GesellschafterGeschäftsführer der FreyTec Consulting GmbH Bad Nauheim/Erfurt, ab 2005 Mitglied der Geschäftsleitung des CiS Forschungsinstituts für Mikrosensorik und Photovoltaik in Erfurt, seit 2009 Geschäftsführer der Solar Valley GmbH in Erfurt, die das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Photovoltaik-Netzwerk »Spitzencluster Solarvalley Mitteldeutschland« managt.

Die Autoren

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Volkhard Knigge Geboren 1954 in Bielefeld, Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Oldenburg und Paris, 1986 Promotion, danach wissenschaft­licher Mitarbeiter u. a. am Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums NRW, 1992–1994 Assistent am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, seit 1994 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, 2002 Honorarprofessor für »Geschichte und Öffentlichkeit« an der Universität Jena, seit 2007 dort ordentlicher Professor für »Geschichte in Medien und Öffentlichkeit«, Kurator zahlreicher Dauer-, Sonder- und Wanderausstellungen zur Geschichte von Gesellschaftsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Forschungs­ schwer­ punkte: Erinnerungskultur, Geschichtspolitik und Geschichtsbewusstsein im 20. Jahrhundert, besonders im Kontext europäischer Gedenk­ stätten, Ausstellungen und Denkmäler. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Gulag: Spuren und Zeugnisse 1929–1956. Begleitband zur Ausstellung (mit Irina Scherbakowa), Göttingen 2012; (Mithg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktatur­erfahrung und Demokratieentwicklung (mit Hans-Joachim Veen, Ulrich Mählert und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2011; (Mithg.): Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg, Weimar 2010. Matthias Machnig Geboren 1960 in Wimbern (NRW), Studium der Soziologie, Geschichte, Anglistik und Erziehungswissenschaften in Wuppertal und Münster, 1998–1999 Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, 1999–2002 Bundesgeschäfts­führer der SPD, 2002–2005 Unternehmensberater, u. a. bei Booz Allen Hamilton, ab 2005 Staatssekretär im Bundes­ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, seit 2009 Thüringer Minister für Wirtschaft, Arbeit und Technologie. Aktuelle Veröffentlichungen: (Hg.): Welchen Fortschritt wollen wir? Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand, Frankfurt am Main 2011; Vermessungen – Politik neu orientieren, Berlin 2010; (Mithg.): Wohin steuert Deutschland? Bundestagswahl 2009. Ein Blick hinter die Kulissen (mit Joachim Raschke), Hamburg 2009.

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Die Autoren

Klaus Manger Geboren 1944 in Pößneck (TH), Prof. Dr. phil., Studium der Theologie, Philosophie, Germanistik und Geschichte in Würzburg, Heidelberg, Göttingen und Aachen, 1976 Promotion, 1984 Habilitation an der Universität Heidelberg, 1986 dort Professor für Neuere deutsche Literatur, 1989 an der Universität Erlangen-Nürnberg, seit 1992 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 1998–2006 Sprecher des Sonderforschungsbereichs 482 (Ereignis WeimarJena. Kultur um 1800), seit 2007 Projektleiter der »Historisch-kritischen Wieland-Edition«. Forschungsschwerpunkte: Kollektive Freiheitsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Barock, Aufklärung und Romantik, Literatur des 19. Jahrhunderts, Lyrik im 20. Jahrhundert sowie Literatur und kulturelles Gedächtnis. Aktuelle Veröffentlichungen: (Mithg.): Wieland-Studien, Band 7: Aufsätze, Texte und Dokumente, Heidelberg 2012; Wieland – Mentor der Nation. Ist ein aufgeklärtes Volk leichter zu regieren oder ein unaufgeklärtes?, in: Kristian Kühl/Gerhard Seher (Hg.): Rom, Recht, Religion. Symposion für Udo Ebert zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2011, S. 265–280; Bestseller des 18. Jahrhunderts, in: Anett Lütteken u. a. (Hg.): Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung, Göttingen 2009, S. 17–45. Peter März Geboren 1952 in Erlangen, Dr. phil., Studium der Geschichte, Germanistik und Sozialkunde für das höhere Lehramt an der Universität Erlangen-Nürnberg, 1981 Promotion mit einer Arbeit über die zeitgenössische Diskussion in der Bundesrepublik 1952 über die sowjetische Notenoffensive für ein wiedervereinigtes und neutralisiertes Deutschland und den gleichzeitigen Fortgang der Westintegration, berufliche Stationen: Gymnasialer Schuldienst, Bayerisches Staatsministerium des Innern, Bayerische Staatskanzlei, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Aktuelle Veröffentlichungen: Mythen, Bilder, Fakten: Auf der Suche nach der deutschen Vergangenheit, München 2010; (Mithg.): Die Folgen der Revolution: 20 Jahre nach dem Kommunismus, Köln/Weimar/Wien 2010; Der Erste Weltkrieg. Deutschland zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert, 2. erw. Aufl., Stamsried 2008; An der Spitze der Macht. Kanzlerschaften und Wettbewerber in Deutschland, 2. überarb. Aufl., München 2008.

Die Autoren

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Peter Maser Geboren 1943 in Berlin, Prof. Dr. theol., Studium der Evangelischen Theologie in Halle (Saale), 1971 Promotion, 1988 Habilitation, 1993 Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, 2001–2008 Direktor des Ostkirchen-Instituts sowie Leiter der Abteilung für Christliche Archäologie der Universität Münster, 1995–1998 Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, 1999–2002 Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements«, ab 1998 Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv (SAPMO); seit 1999 Vorsitzender des Fachbeirates Wissenschaft der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, 2010/11 Vorsitzender der Expertenkommission »Gedenk- und Lernort Andreasstraße« bei der Thüringer Landesregierung, Stellv. Vorsitzender der Historiker-Kommission für eine »Landes­ förder­konzeption für Gedenkstätten und Lernorte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« in Thüringen. Aktuelle Veröffentlichungen: Facetten des Judentums. Ausgewählte Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, Nordhausen 2009; Deutsche ZeitBilder: Die Kirchen in der DDR, Bonn 2000 ff.; seit 1995 Mitherausgeber der Internationalen Halbjahresschrift »Kirchliche Zeitgeschichte (KZG)« und seit 1997 der »Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte«. Heinrich Oberreuter Geboren 1942 in Breslau, Prof. Dr. phil., Studium der Politik- und Kommunikationswissenschaft, Geschichte und Soziologie in München, Wissenschaftlicher Assistent am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-MaximiliansUniversität München und beim Deutschen Bundestag, 1978–1980 Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, 1980–2010 Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität Passau, 1991–1993 Gründungsdekan für Geistes- und Sozialwissenschaften an der TU Dresden, Mitglied des Kuratoriums und kurzzeitig (2002/03) auch Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 1993–2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing, Professor und Stellv. Vorsitzender des Kuratoriums der Hochschule für Politik in München. Forschungsschwerpunkte: Politi-

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Die Autoren

sches System der Bundesrepublik Deutschland, Parlamentarismus, Politische Bildung, medien- und kommunikationswissenschaftliche Themen. Aktuelle Veröffentlichungen: Republikanische Demokratie. Der Verfassungsstaat im Wandel, Baden-Baden 2012; Am Ende der Gewissheiten. Wähler, Parteien und Koalitionen in Bewegung, München 2011; Wendezeiten. Zeitgeschichte als Prägekraft politischer Kultur. München 2010. Karl Schmitt Geboren 1944 in Säckingen/Hochrhein (BW), Prof. Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Romanistik an den Universitäten Bonn, Toulouse, Ann Arbor/Michigan und Freiburg, 1977 Promotion, 1985 Habilitation im Fach Politikwissenschaft, 1986–1992 Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität zu Köln, 1992–2008 Professor für deutsche Regierungssysteme an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Mitautor des seit 2000 jährlich erscheinenden Thüringen-Monitors »Politische Kultur im Freistaat Thüringen«. Forschungsschwerpunkte: Parteien, Wahlen, politische Einstellungen, Eliten, Politische Soziologie von Religion und Kirche, Politik in Frankreich. Aktuelle Veröffentlichungen: Politische Parteien in Thüringen 1990–2011 (mit Torsten Oppelland), 2. Aufl., Erfurt 2012; Thüringen: Eine politische Landeskunde, 2. Aufl., Baden-Baden 2011; Politische Kultur im Freistaat Thüringen, Staatsaufgaben und Staatsausgaben, Ergebnisse des Thüringen Monitors 2011 (mit Jürgen H. Wolff), Jena 2011. Norbert Schremb Geboren 1954 in Bochum, seit seiner Ausbildung zum Industriekaufmann 1971–1974 bei der Härterei Reese Bochum beschäftigt, zuletzt als kaufmännischer Leiter; seit 1992 Geschäftsführer der Härterei Reese Weimar GmbH; Präsident des Industrieclub Thüringen, Gründer und Fraktionsvorsitzender des weimarwerk bürgerbündnis im Weimarer Stadtrat, Vorstandsvorsitzender des Vereins zur Förderung des Instituts für Energiewirtschaftsrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und neben weiteren ehrenamtlichen Tätigkeiten auch Mitglied des Industrieausschusses der IHK Erfurt. Roland Sturm Geboren 1953 in Speyer, Prof. Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, Geschichte sowie der Anglistik in Berlin, Sheffield, Heidelberg und Stanford,

Die Autoren

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1981 Promotion und 1987 Habilitation in Heidelberg, 1987–1988 Vertretungsprofessur im Fach Verwaltungs­wissenschaften der Universität der Bundeswehr in Hamburg, 1991–1996 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen, 1992 bzw. 2007 Gastprofessuren an der University of Washington (Seattle) und an der Peking Universität, 1993 Mitbegründer des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung an der Universität Tübingen, seit 1996 Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, 2004–2011 Geschäftsführender Vorstand des Zentralinstituts für Regionenforschung der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, Vergleichende Politikwissenschaft, Föderalismus, Politische Ökonomie und Europaforschung. Aktuelle Veröffentlichungen: (Mithg.): »Superwahljahr« 2011 und die Folgen (mit Eckhard Jesse), Baden-Baden 2012; Das neue deutsche Regierungssystem: Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland (mit Heinrich Pehle), 3., aktual. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2012; (Mithg.): Föderalismus als Verfassungsrealität – Deutschland und Kanada im Vergleich (mit Alain-G. Gagnon), Baden-Baden: 2011; (Mithg.): Europas Politik vor neuen Herausforderungen (mit Eckhard Jesse und Gerd Strohmeier), Opladen/Farmington Hills 2011. Eugenie Trützschler von Falkenstein Geboren 1950 in Prag, Dr. phil., nach der Emigration nach München (1967) und abgeschlossener Krankenschwesterausbildung Studium der Pädagogik, Politischen Wissenschaften und Geschichte in München, 1976 Diplom in politischen Wissenschaften, 1980 Promotion in Geschichte, 1982 Zweite Lehramtsprüfung, danach im bayerischen Staatsdienst tätig, seit 1992 Thüringer Beamtin, seit 2010 Forschungsprojekte bei der Stiftung Ettersberg. Forschungsschwerpunkte: Regionalismus und deutsch-tschechischen Beziehungen. Aktuelle Veröffentlichungen: Die Grenze zwischen den Bruderstaaten. DDR und Tschechoslowakei 1955–1990 im gesamteuropäischen Kontext. Projekt der Stiftung Ettersberg, der Stadt Kraslice und der Karlsuniversität Prag 2010/2011, Weimar/Kraslice 2011; Die Aktion Nikola, in: Markus A. Meinke (Hg.): Die tschechisch-bayerische Grenze im Kalten Krieg in vergleichender Perspektive, Regensburg 2011, S. 69–79; (Mithg.): Regional Governance (mit Jürgen Dieringer), Opladen 2010.

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Die Autoren

Hans-Joachim Veen Geboren 1944 in Straßburg (Elsass), Prof. Dr. phil., Studium der Politischen Wissenschaften, der Neueren Geschichte und des Öffentlichen Rechts an den Universitäten Hamburg und Freiburg im Breisgau, 1982–2000 Forschungsdirektor der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 1996 Honorarprofessor für Vergleichende Regierungslehre und Parteienforschung an der Universität Trier, 2000–2002 Projektleiter »Demokratie- und Parteienförderung in Mittel- und Osteuropa« der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2002 Vorstands­ vorsitzender der Stiftung Ettersberg, seit 2008 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums bei der BStU. Forschungsschwerpunkte: international vergleichende Wahl- und Parteienforschung, Geschichte der SED-Diktatur und ihre Aufarbeitung, europäisch vergleichende Diktaturund Transformationsforschung. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: (Mithg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktatur­ erfahrung und Demokratieentwicklung (mit Volkhard Knigge, Ulrich Mählert und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2011; (Mithg.): Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus (mit Peter März und Franz-Josef Schlichting), Köln/Weimar/Wien 2010; »Wie viel Einheit brauchen wir? Die ›innere Einheit‹ zwischen Gemeinschaftsmythos und neuer Vielfalt«, in: Einsichten und Perspektiven, Heft 3/2010, S. 208 ff.

Personenregister

Abbe, Ernst Karl  19, 158 Adam, Konrad  40 Adenauer, Konrad  37, 81 Adorno, Theodor W.  73 Albertus Magnus  20 Althaus, Dieter  62 Altmaier, Peter  245 Altmeier, Peter  80 Anhalt, Dorothea Maria von  21 Apitz, Bruno  39 Baal Schem Tov (Rabbi Israel ben Elieser) 71 Bach, Johann Sebastian  33 Bartel, Walter  39 Bartholomäus Anglicus  15 Barzel, Rainer  131 Beermann, Johannes  240, 242–245 Bell, Daniel  205 Bessant, John  182 Beulwitz, Caroline von  26 Beust, Friedrich Ferdinand von 127 Biedenkopf, Kurt  128 Bischoff, Helmut  45 Bismarck, Otto von  117, 127 Blaschke, Karlheinz  80 Bonifatius 15 Brecht, Bertold  121 Brunner, Otto  124 Busse, Ernst  39 Carlebach, Emil  45 Celan, Paul  16 f. Classen, Christoph  69 Cranach, Lucas  33

Cremer, Fritz  44 Dacheröden, Caroline von  26 Dalberg, Carl Theodor von  25 f. Deufel, Thomas  56 f. Dieste, Werner  239, 242 Dietrich von Apolda  19 Distel, Barbara  40 Ebernand von Erfurt  15, 19 Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart)  18, 20, 30, 33 Ehard, Hans  81 Eich-Born, Marion  7 Elisabeth von Thüringen  18–20, 30, 33 Fickel, Ulrich  35 Fricke, Karl Wilhelm  43 Gabriel, Sigmar  236 Gall, Lothar  40 Gatterer, Johann Christoph  18 Glaser, Erhart  48 Glotz, Peter  206 Goethe, Johann Wolfgang von  24–30, 33 f. Goppel, Alfons  127 Groehler, Olaf  42 Gropius, Walter  18 Grotewohl, Otto  38 Gutberlet, Thomas  172 Habermas, Jürgen  91 Hädicke, Lothar  37 Halbwachs, Maurice  70 Heise, Joachim  64 Herbert, Ulrich  40 Herder, Johann Gottfried  24, 33

258 Personenregister Hermann von Thüringen  19 Hess, Alfred  18 f. Heß, Rudolf  46 Hesse, Konrad  82 Hessus, Eobanus  29 Heuss, Theodor  81 Hitler, Adolf  8, 48 f. Horník, Jan  242 f., 246 Humboldt, Wilhelm von  26 Hutten, Ulrich von  29 Jäckel, Eberhard  40 Jarausch, Konrad  69 Kafka, Franz  25 Kalbfleisch-Kottsieper, Ulla  239–241, 245 f. Kant, Immanuel  18 Kertész, Imre  37 Keßler, Harry Graf  18 Kiesinger, Kurt-Georg  131 Klotz, Ernst-Emil  45 Knigge, Volkhard  7, 36–38 Kohl, Helmut  79, 240 Kolb, Eberhard  40 König, Helmut  71 Krosigk, Bernhard von  21 Krosigk, Christoph von  21 Kues, Nikolaus von  20 Lengefeld, Charlotte von  25 Leopold von Österreich  19 Lessing, Gotthold Ephraim  17 Leyen, Ursula von der  235 Liszt, Franz  18–20, 24, 33 Ludwig der Jüngere von AnhaltKöthen 21 Ludwig I., Fürst von AnhaltKöthen 21 Luther, Martin  21, 29, 33, 96 Malewitsch, Kasimir  20 Mandelstam, Ossip  16 Margul-Sperber, Alfred  16

März, Peter  7 Maser, Peter  7 Maximilian II. Emanuel von Bayern 126 McCloy, John  81 Merkel, Angela  235 Messerschmidt, Manfred  40 Meyer-Rühle von Lilienstern, Margot 48 Neubert, Hildigund  54 Neumark, Georg  21 Nietzsche, Friedrich  18 Novalis (Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg)  19 Oberreuter, Heinrich  243–245 Ofterdingen, Heinrich von  18–20 Olbrycht, Jan  219 Overesch, Manfred  40 Pasternack, Peer  69 Pavitt, Keith  182 Plato, Alexander von  70 Raßloff, Steffen  8 Reuß, Heinrich Posthumus  22 f. Riehl, Wilhelm Heinrich  95 Ries, Adam  29 Ritscher, Bodo  41 Rothe, Johannes  19 Rubianus, Crotus  29 Rudolph, Günther  41 Rufus, Mutianus  29 Rühle, Astrid  49 Rühle von Lilienstern, Curt  49 Rürup, Reinhard  40 Rüttgers, Jürgen  207 Sachsen-Weimar, Friedrich von  21 Sachsen-Weimar, Johann Ernst von 21 Sachsen-Weimar, Wilhelm von  21 Sachsen-Weimar-Eisenach, Anna Amalia Herzogin von  23

Personenregister

Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl August von  23 f., 26 Sachsen-Weimar-Eisenach, Maria Pawlowna Großherzogin von 24 Sarkozy, Nicolas  235 Schikaneders, Emanuel  28 Schiller, Friedrich  17 f., 24-26, 31, 33 f. Schlögel, Karl  9 Schlözer, August Ludwig von  18 Schmid, Carlo  82 Schmiechen-Ackermann, Detlef  46 Schott, Otto  19, 158 Schremb, Norbert  151 Schröder, Gerhard  82, 131 Schröder, Richard  82 Schulz, Holger  184 Schütz, Heinrich  22 f. Schwind, Moritz von  19 Shakespeare, William  28 f., 33 Singer, Heinrich  116 f. Späth, Lothar  206 Stein, Charlotte von  25 Stölzl, Christoph  40 Strauß, Franz Josef  127 Streibl, Max  82, 206, 244 Sturm, Roland  241 f., 246 f. Sybel, Heinrich von  123

259 Tauler, Johannes  20 Teutleben, Caspar von  21 Tidd, Joseph  182 Tillich, Stanislaw  237 Titze, Mirko  184 Traba, Robert  247 Treitschke, Heinrich von  8, 95 f., 123 Triantaphyllides, Kyriacos  219 Trützschler von Falkenstein, Eugenie  7 f., 247 f. Van de Velde, Henry  18 Veen, Hans-Joachim  72 f. Vogel, Bernhard  79 f., 85 Wagner, Richard  20 Wallmann, Walter  129 Walther von der Vogelweide  19 Weber, Carl Maria von  27 Weber, Max  71, 247 Weinhold, Michaela  184 Weizsäcker, Richard von  206 Wiater, Patricia  10 Wieland, Christoph Martin  24 f., 27–30, 33 f. Wippermann, Wolfgang  40 Wischer, Gerhard  45 Wolfram von Eschenbach  19 Würtenberger, Thomas  10 Zeiss, Carl  19, 150, 158

EuropäischE Dik taturEn unD ihrE ÜbErwinDung scHrif Ten der sTif Tung eT Tersberg Herausgegeben von Hans-JoacHim veen, volkHard knigge, TorsTen oppelland, Jorge semprún †, bernHard vogel, Hans-peTer scHwarz, eckHard Jesse, gilberT merlio, eHrHarT neuberT, luTz nieTHammer, mária scHmidT, k arl scHmiT T, roberT Traba eine auswaHl

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