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DIE KATHOLISCHE KIRCHE UND GEWALT Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert
HERAUSGEGEBEN VON SILKE HENSEL UND HUBERT WOLF
2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Campamento la Tetilla, sur de Jalisco. Tropas del General Esteban Caro en una misa oficiada por el padre Lorenzo Plascencia. Museo Cristero Efrén Quezada de Encarnación de Díaz in Jalisco, Mexiko. © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978–3–412–21079–3
Inhalt Vorwort ................................................................................................... 9 Silke Hensel und Hubert Wolf Einleitung: Die Katholische Kirche und Gewalt in Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert ........................................................... 11
Kirche und totalitäre oder autoritäre Regime Gianmaria Zamagni Friede, Martyrium, Christenheit. Theologische Modelle im Spanischen Bürgerkrieg ........................................................................... 31 Lucia Ceci Der Papst darf nicht sprechen. Die Kirche, der Faschismus und der Italienisch-Äthiopische Krieg ................................................................... 59 Carlos Collado Seidel Zur religiösen Dimension von Gewalt und Herrschaftslegitimation General Francos im Spanischen Bürgerkrieg ............................................ 79 Michael Kissener Katholische Kirche und Gewalt im nationalsozialistischen Deutschland. Die Bischöfe, der Tyrannenmord und der Krieg....................................... 101 Andreas Linsenmann Obrigkeit mit oder ohne Gott? Katholische Priester und Laien in der Diktaturerfahrung des Dritten Reiches .................................................... 111 Fortunato Mallimaci Katholizismen und Militarismus: Die Gewalt und das Heilige in dem vom Staatsterror regierten Argentinien..................................................... 123 Stephan Ruderer „Der Kaplan soll uns sagen, dass unser Kampf ein Kreuzzug ist“ – Das Militärvikariat und die Diktatur in Argentinien................................ 145
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Inhalt
Kirche und säkulare Staaten im Konflikt Laura Pettinaroli Die katholische Kirche und die Verfolgung der Kirchen in Russland und in der UdSSR (1917–1939). Zwischen physischer Vernichtung und geistlicher Erneuerung in einem multikonfessionellen Kontext................................................................... 167 Norbert Köster „Viele mexikanische Bischöfe sind Revolutionäre“. Der Vatikan, die Cristiada und der mexikanische Episkopat............................................... 191 Roberto Blancarte Soziopolitische und religiöse Gewalt unter der Bedingung katholischer Hegemonie. Der Fall Mexiko................................................................... 205
Legitimation von (Gegen-)Gewalt? Kirche als Anwalt der Unterdrückten und Armen Leo J. O’Donovan, S.J. Die Theologie der Befreiung und das Problem der revolutionären Gewalt..................................................................................................... 223 Vicente Durán Casas, S.J. Option für die Armen und Demokratie ................................................... 241 Antje Schnoor Umkämpfte Gewalt. Jesuitische Perspektiven auf die soziale Ordnung, Chile 1968–1973 .................................................................................... 255 Silke Hensel Religion, Politik und Gewalt in Argentinien und Chile. Die Organisationen „Priesterbewegung für die Dritte Welt“ und „Christen für den Sozialismus“ ................................................................ 277 Daniel H. Levine Camilo Torres: Glaube, Politik und Gewalt ............................................. 297
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Johannes Meier Justitia et Pax. Beispiele aus der Menschenrechts- und Friedensarbeit der Katholischen Kirche in Lateinamerika seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ............................................................................... 327 Autorenverzeichnis .................................................................................. 339
Vorwort Der Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt stellt seit 2007 eine der vier übergeordneten inhaltlichen „Säulen“ des Münsteraner Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ dar. Mitten in dieses hochaktuelle Themenfeld zielt dieser Sammelband. Die Herausgeber leiten im Exzellenzcluster die Projekte „Der Vatikan und die Legitimation physischer Gewalt. Das Beispiel des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939)“ und „Zwischen Unterstützung autoritärer Regime und Verteidigung der Menschenrechte. Die katholische Kirche in Chile und Argentinien während der Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre“. Die thematische Schnittmenge dieser beiden Projekte war offensichtlich, eine gemeinsame Tagung naheliegend. Sie fand vom 19. bis 21. Mai 2010 in Münster statt. Unser Dank gilt selbstverständlich zuerst den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Projekten: Dr. Stephan Ruderer, Dr. Gianmaria Zamagni und Toni Morant i Ariño. Um die Konzeption und Organisation der Tagung haben sich PD Dr. Thomas Bauer, Maria Schmiemann, Katharina Schmidt und Dr. Barbara Schüler vom Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte sowie Dr. Stephan Ruderer vom Exzellenzcluster und Friederike Simon vom Historischen Seminar verdient gemacht. Dr. Holger Arning koordinierte außerdem die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Wissenschaftskommunikation des Exzellenzclusters. Elisabeth Richter und Dr. Maria-Pia Lorenz-Filograno, Friederike Simon und Ivo Tamm trugen durch ihre Übersetzungen entscheidend zum Gelingen der Tagung und zum Tagungsband bei, Dr. Debora Gerstenberger vom Historischen Seminar und Cláucio Serra Domingues aus der Graduiertenschule des Exzellenzclusters verfassten den Tagungsbericht für h-soz-u-kult. Empfang, Technik und viele weitere Aufgaben übernahmen Lena Barquera, Sarah Brands, Melanie Dörner, David Grewe, Simon Harrich, Raphael Hülsbömer, Cornel Lobitz, Felizia Merten und Michael Rösch. Sarah Brands und Cornel Lobitz übernahmen außerdem die formale Vereinheitlichung mehrerer Beiträge für den Druck. Die kritische Durchsicht des Manuskripts hat Anne Lehmann erledigt. Frau Antonia Averbeck hat sich schließlich um die Bildrechte und die Erstellung des Gesamtmanuskripts gekümmert. Allen Genannten und vielen Ungenannten schulden wir unseren herzlichen Dank, ebenso den Verantwortlichen und Forschenden im Exzellenzcluster, die uns nach wie vor ein anregendes Arbeitsumfeld und einen intensiven, fächerübergreifenden Austausch bieten. Münster, September 2012
Silke Hensel und Hubert Wolf
Silke Hensel und Hubert Wolf
Einleitung: Die Katholische Kirche und Gewalt in Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert Das Verhältnis von Religion und Gewalt ist in den vergangenen Jahren zu einem viel beachteten und diskutierten Thema aufgestiegen. Wichtigster Auslöser dafür waren sicherlich die Anschläge auf das World Trade Center in New York im September 2001 und die wachsende Bedeutung des al-Qaida-Netzwerkes, durch die der Islam beziehungsweise Muslime in den Vordergrund der in Europa und den USA geführten Debatten rückten. Seitdem werden Religion und Religionsgemeinschaften verstärkt in den Mittelpunkt gestellt, wenn nach den möglichen Ursachen von gewaltsam ausgetragenen Konflikten gefragt wird.1 Immer wieder scheinen die Fronten in blutigen Bürgerkriegen entlang religiöser und konfessioneller Bruchlinien zu verlaufen, in Nordirland ebenso wie im ehemaligen Jugoslawien, im Libanon, im Irak und in Syrien. Obwohl die Gewalt in der Geschichte des Christentums – von den Kreuzzügen über die Inquisition, die Missionierung Amerikas und die Konfessionskriege bis zur Hexenverfolgung – im kollektiven Gedächtnis nach wie vor präsent ist,2 konzentriert sich die aktuelle Debatte in der westlichen Welt häufig auf den Islam. Dieser wird nicht selten als per se gewaltaffin dargestellt. So entsteht eine „Wir-gegen-Sie-Geschichte“, in der das Christentum und die christlichen Kirchen zumindest in der jüngeren Vergangenheit als friedensstiftende Kräfte dargestellt werden. Wem dann noch der Islam nicht als europäisch gilt, der siedelt somit auch das Problem religiös motivierter oder legitimierter Gewalt außerhalb Europas an. Dass aber auch dort und in gewaltsamen Auseinander1 Vgl. Mark Juergensmeyer, Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida, Hamburg 2009. Im Titel sind zwar Christen ebenso angesprochen wie Muslime, im Zentrum der Untersuchung stehen aber Religionen, deren Mittelpunkt außerhalb Europas liegt, und hier wiederum vor allem der Islam. Vgl. auch Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008; Karl Gabriel/Christian Spiess/Katja Winkler, Religion – Gewalt – Terrorismus. Religionssoziologische und ethische Analysen (Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt 3), Paderborn 2010; Jürgen Werbick/Sven Kalisch/Klaus von Stosch (Hg.), Glaubensgewissheit und Gewalt. Eschatologische Erkundungen in Islam und Christentum, Paderborn/München/Wien/Zürich 2011. 2 Vgl. Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 5. Aufl., Münster 2006; zur Inquisition: Hubert Wolf, Inquisition, in: Ders./ Christoph Markschies (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, 547– 560.
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setzungen zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen religiöse Motive nach wie vor eine Rolle spielen, zeigt schon das Beispiel Nordirland. Ein Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, diese Erzählung kritisch zu prüfen. Dies geschieht mit einem Fokus auf die katholische Kirche und gewaltsame Auseinandersetzungen in internen Konflikten in Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert, das von Eric Hobsbawm gerade auch wegen seines gewalthaften Charakters als Zeitalter der Extreme bezeichnet wurde.3 Unter Gewalt soll in diesem Band in erster Linie physische Gewalt verstanden werden, das heißt, wir konzentrieren uns auf denjenigen Gewaltbegriff, der in romanischen Sprachen und im Englischen abgeleitet ist vom lateinischen violentia (violencia, violence), im Gegensatz zur potestas (poder, power).4 Unser Interesse gilt also nicht hauptsächlich dem Verhältnis der katholischen Kirche zum Staat und dessen Gewaltmonopol,5 sondern vielmehr der Frage, wie die Kirche und ihre Mitglieder an der Gewaltausübung beteiligt waren und wie sie sich zu konkretem Gewaltgeschehen verhielten. Darüber hinaus sollen solche Situationen betrachtet werden, in denen Gewalt zur Austragungsform gesellschaftlicher Konflikte wurde, in denen also die sozialen Akteure in Auseinandersetzungen um die Verteilung gesellschaftlich knapper Güter (Reichtum, Macht, Herrschaft, Prestige) und/oder um soziale Normierungen beziehungsweise die weltanschauliche Ausrichtung der Gesellschaft zum Mittel der physischen Gewalt griffen.6 Welche Instanzen innerhalb der katholischen Kirche legitimierten und delegitimierten physische Gewalt? Wie und aus welchen Gründen geschah das? In welchem Verhältnis standen religiöse und nicht religiöse Argumente? Welchen Akteuren wurde die Anwendung von Gewalt zugestanden, welchen 3 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998. 4 Die etymologischen Besonderheiten des deutschen Gewaltbegriffs behandelt Friedhelm Neidhardt, Gewalt. Soziale Bedeutung und sozialwissenschaftliche Bestimmungen eines Begriffs, in: Bundeskriminalamt (Hg.), Was ist Gewalt?, Bd. 1, Wiesbaden 1986, 109– 147, hier 114. Vgl. auch den Beitrag von Karl-Georg Faber/Karl-Heinz Ilting/Christian Meier, Macht, Gewalt, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, 817–935. 5 Dieses Verhältnis spielt nichtsdestotrotz in einigen der untersuchten Fälle eine wichtige Rolle. So z.B. in Spanien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als es zu einer besonders engen Verquickung von Staat, Wirtschaftselite und der Amtskirche kam (vgl. den Beitrag von Carlos Collado Seidel). Auch in Argentinien bestand eine besondere Nähe zwischen der Amtskirche und dem Staat beziehungsweise dem Militär (vgl. die Beiträge von Fortunato Mallimaci und Stephan Ruderer). 6 Zum Konfliktbegriff vgl. Thorsten Bonacker/Peter Imbusch, Zentrale Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung: Konflikt, Gewalt, Krieg, Frieden, in: Peter Imbusch/Ralf Zoll (Hg.), Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung, 5. Aufl., Wiesbaden 2010, 67–142.
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nicht? Wie positionierte sich die Kirche damit politisch und strategisch? Wie reagierte der Vatikan auf politische und theologische Vorgaben zur Gewaltfrage? Kam es darüber auch zu binnenkirchlichen Konflikten? Und schließlich: Wie wandelten sich die Positionen der Kirche, der jeweiligen Regime, aber auch gesellschaftlicher Gruppen in Reaktion aufeinander? Wiederholt ist in den vergangenen Jahren die „Ambivalenz des Heiligen“7 betont worden: Religion wirkt identitätsstiftend und schafft Gemeinschaften. Sie kann ethnische und soziale Differenzen überbrücken, aber auch bestehende Gräben vertiefen. Religiöse Semantiken können sowohl den Frieden beschwören als auch Gewalttaten bis hin zum Selbstmordattentat legitimieren. Es ist davon auszugehen, dass auch die Einstellung der katholischen Kirche zur Gewalt höchst ambivalent war. Die in diesem Band versammelten Beiträge handeln von kollektiv ausgeübter ebenso wie von erlittener Gewalt. Gerechtigkeit und Ordnung spielen in den entsprechenden Konflikten häufig eine zentrale Rolle, wobei die Füllung dieser Begriffe jeweils unterschiedlich ausfallen konnte. Bei der Untersuchung gewaltsam ausgetragener Konflikte gilt es nicht allein diejenigen Akteure in den Blick zu nehmen, die Täter oder Opfer der Gewalthandlungen sind, obwohl schon die Frage danach, wer ersteres und wer letzteres war, häufig nicht unumstritten ist und auch die Suche nach den Hintergründen der Eskalation und der Motivationen der Täter ebenso wie die Folgen für die Opfer natürlich wichtige Aspekte darstellen. In der Regel sind die an gewalthaften Prozessen beteiligten Akteure jedoch nicht ausschließlich auf eine Täter- oder eine Opferrolle beschränkt. Gesellschaftliche Gewalt wird in einem sozialen Raum ausgetragen, der bewohnt ist von weiteren, nicht in die direkten Gewalthandlungen, wohl aber in das breitere Gewaltgeschehen involvierten Akteuren. Sie sind nicht einfach nur Zuschauer, sondern Zeugen der Gewalt und tragen zum Verlauf des Gewaltgeschehens bei.8 Über einen unmittelbar instrumentellen Charakter hinaus haftet der Ausübung physischer Gewalt auch eine symbolische Bedeutung an. Die Gewalt gegenüber bestimmten Gruppen transportiert eine über sie hinausgehende Bedeutung im Hinblick etwa auf die gesellschaftliche Ordnung. Unbeteiligte Akteure kann es vor diesem Hintergrund nicht geben. Die Unterstützung von 7 R. Scott Appleby, The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence, and Reconciliation, Lanham u.a. 2000; Alexander de Juan /Andreas Hasenclever, Kriegstreiber und Friedensengel – Die ambivalente Rolle von Religionen in politischen Konflikten, in: Irene Dingel/Christiane Tietz (Hg.), Das Friedenspotenzial von Religion (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 78), Göttingen 2009, 101–118. 8 Vgl. David Riches, The Phenomenon of Violence, in: Ders. (Hg.), The Anthropology of Violence, Oxford 1986, 1–27, hier 8f.
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Tätern oder Opfern, die Akzeptanz oder Ablehnung der konkreten Gewalttaten, selbst das bloße Wegschauen, ohne eine Stellungnahme zum Ausdruck zu bringen, beeinflussen den Gewaltprozess. Dieser ist ebenso erklärungsbedürftig wie die Frage nach den Ursachen der Gewaltanwendung, zeigt sich doch häufig, dass die Gewalthandlungen einer Dynamik unterliegen, die nur aus dem Geschehen selbst heraus erklärt werden kann.9 Auch wenn ihre Mitglieder nicht als Täter oder Opfer in Gewalthandlungen involviert sind, ist die katholische Kirche ein wichtiger gesellschaftlicher Akteur, den es in der Position eines solchen Dritten zu betrachten gilt. Sie stellte auch im 20. Jahrhundert eine globale Kraft dar, die in einigen Weltregionen über erhebliche Einflussmöglichkeiten auf die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse verfügte. Dies gilt für Lateinamerika und Teile Europas in besonderem Maße. Hier lebten noch 2007 42 beziehungsweise 25 Prozent der Katholiken.10 In beiden Kontinenten beansprucht die katholische Kirche für sich den Status einer moralischen Instanz, und aus dieser Position heraus interveniert sie in gesellschaftliche Prozesse und ist bestrebt, die Wertorientierungen der Bevölkerung zu beeinflussen. Nominal gehört ihr in Lateinamerika immer noch die Mehrheit der Bevölkerung an, wenn auch die Prozentzahl der offiziell als katholisch geltenden Einwohner seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in allen Ländern gesunken ist. Dieser Rückgang beläuft sich in den meisten Fällen von über 90 Prozent der Bevölkerung, die der katholischen Kirche angehörten, auf immer noch über 80 Prozent.11 Der rückläufige Einfluss der katholischen Kirche in Lateinamerika lässt sich auch an der Zahl der Priester ablesen, die zwar absolut gestiegen, in den meisten Ländern jedoch proportional (Anzahl von Priestern je 10.000 Einwohner) gesunken ist. Allein bei der Zahl der Diözesen lässt sich ein Zuwachs für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verzeichnen.12 Insgesamt bleibt es jedoch dabei, dass Lateinamerika der am stärksten katholisch geprägte Kontinent ist. Europa folgt ihm in der Bedeutung, geht man nach dem Anteil der Katholiken, die hier leben. Auf der institutionellen Kirchenebene überwiegt 9 Hans Joas, Handlungstheorie und Gewaltdynamik, in: Ders., Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2000, 272–281. 10 Jean-Pierre Denis (Hg.), El atlas de las religiones, Buenos Aires 2009, 51. Dieser quantitative Wandel fällt dabei für die einzelnen Länder sehr unterschiedlich aus. Außerdem gibt diese Statistik kein umfassendes Bild über den Wandel der religiösen Zugehörigkeiten. Für Lateinamerika sind z.B. Prozesse relevant, in denen es aus der Sicht der Gläubigen keinen Widerspruch darstellt, sich als katholisch anzusehen und trotzdem Mitglied einer afroamerikanischen Kultgemeinschaft zu sein. 11 Vgl. dazu die statistischen Angaben in Johannes Meier/Veit Strassner (Hg.), Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd. 6: Lateinamerika und Karibik, Paderborn 2009, 532– 537. 12 Ebd.
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das europäische Gewicht aber eindeutig. Bis 2013 kam noch jeder Papst aus Europa, und bis in das Jahr 2000 machten die katholischen Priester Europas etwas über die Hälfte der weltweit tätigen Priester aus.13 Die katholische Kirche verfügte in vielen europäischen und noch stärker in lateinamerikanischen Ländern über erhebliche politische Macht. Dies zeigen auch die hier versammelten Beiträge. Die hohen Würdenträger der Kirche standen teilweise in sehr engem Kontakt mit politischen Gruppen und wichtigen staatlichen Institutionen. In Spanien beispielsweise hatten viele Bischöfe gute Beziehungen zu den Nationalisten unter General Franco, in Argentinien gingen Kirche und Armee eine enge Verbindung ein. Allerdings verläuft der Einfluss nicht nur in einer Richtung, Staaten, politische Bewegungen und Parteien versuchten ihrerseits, die katholische Kirche für ihre Interessen zu instrumentalisieren – oder sie als Gegnerin auszuschalten. Die Handlungsspielräume der Kirche hingen also auch von der jeweiligen historischen Konstellation ab. Die Katholiken mussten sich zur violentia kirchenfreundlicher Diktatoren, die angeblich im Interesse der Kirche handelten, ebenso positionieren wie zu antiklerikalen und religionsfeindlichen Regimen. Die katholische Kirche und der Katholizismus lassen sich dabei nach zahlreichen Kriterien in verschiedene, teilweise miteinander konkurrierende Kommunikationsgemeinschaften oder Milieus differenzieren: In Europa vertrat der katholische Adelsverein einen anderen Katholizismus als die Katholische Arbeiterbewegung; die katholische Volksfrömmigkeit stand und steht häufig in einem Spannungsverhältnis zum Lehramt und zur universitären Theologie. In der Kirche spiegeln sich überdies unterschiedliche politische Strömungen wider, die sich etwa in einer liberalen oder konservativ-reaktionären Positionierung zur Moderne zeigen.14 So sprach – um nur ein Beispiel zu nennen – der französische Philosoph und Theologe Maurice Blondel schon am Beginn des 20. Jahrhunderts explizit von verschiedenen Katholizismen in der einen Kirche: „Zwischen den Auffassungen, die die Katholiken in allen Bereichen – im sozialen und politischen wie im philosophischen – gegeneinander aufbringen, enthüllt sich eine Spannung, die sich von Tag zu Tag mehr zuspitzt und ausweitet. Man möchte fast sagen, dass man … zwei ganz und gar unverträgliche ‚katholische Grundhaltungen‘ [‚mentalités‘] antrifft.“15 Mit Blick auf die Frage nach der Legitimation staatlicher Gewalt sind vor allem die politisch begründeten Spannungen zwischen Eiferern und Kompro13 Vgl. Agenzia fides, URL: http://www.fides.org/aree/news/newsdet.php?idnews=25593 &lan=deu, 28. April 2010 (eingesehen am 1. Juni 2012). 14 Vgl. Hubert Wolf, Der Kampf in den Kulturen. Katholizismus und Islamismen vor den Herausforderungen der Moderne, in: Historisches Jahrbuch 127 (2007), 521–553. 15 Maurice Blondel, Geschichte und Dogma, Mainz 1963, 1f.
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misslern an der Kurie, zwischen „Politicanti“ und „Zelanti“, zwischen „Ultramontanisten“ und „Staatskirchlern“ zu berücksichtigen. Es ist mit teils heftigen innerkirchlichen Auseinandersetzungen zu rechnen, die es präzise historisch zu rekonstruieren gilt. In einer hierarchisch strukturierten Institution wie der katholischen Kirche muss zudem besonders auf die Interaktion der unterschiedlichen Ebenen miteinander beziehungsweise gegeneinander geachtet werden: Papst, Römische Kurie, nationale Bischofskonferenzen, einzelne Bischöfe, Pfarrer, Theologen und Laien. Keine kirchliche Institution ist von vornherein als gleichgeschalteter Block zu betrachten. In diesem Band stellt sich die Frage, wie pluriform der Katholizismus war, schließlich vor allem in regionaler und zeitlicher Hinsicht: Zum einen widmen wir uns Lateinamerika und Europa, also zwei Kontinenten mit unterschiedlichen Ausprägungen der einen katholischen Kirche. Zum anderen behandeln die hier versammelten Beiträge die Zeit vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965), das zentrale Entwicklungen innerhalb der katholischen Kirche markierte.16 Von Papst Johannes XXIII. einberufen und seinem Nachfolger Papst Paul VI. fortgeführt, sollte es der Vergegenwärtigung des katholischen Glaubens dienen und auf die Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklungen im 20. Jahrhundert antworten. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil hatte sich die katholische Kirche in den großen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts klar positioniert. Sie verharrte in einer Defensivstellung gegen die Moderne. Der Feind waren die teuflischen Irrlehren wie Liberalismus, Demokratismus und Kommunismus, wie sie etwa im berühmt-berüchtigten Syllabus errorum von 1864 aufgeführt sind, mit dem Papst Pius XI. auch die Menschenrechte, nicht zuletzt die Religions- und Gewissensfreiheit, noch einmal mit allem Nachdruck verwarf.17 Diese Papstkirche erschien im Kampf gegen Liberalismus und Kommunismus als geborene Verbündete reaktionärer und autoritärer Regime. Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil forderte Pius IX. 1870 die absolute Macht innerhalb der Kirche ein. Die Formulierungen in der dogmatischen Konstitution Pastor aeternus vom 18. Juli 1870 sprechen für sich: „Da sich die Pforten der Hölle von Tag zu Tag mit größerem Hass und von überall her gegen das von Gott gelegte Fundament erheben, um die Kirche – wenn möglich – bis 16 Vgl. zum Wandel des Christentums seit den 1960er Jahren allgemein auch: Karl Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg i. Br., 7. Aufl., 1992. 17 Pius IX., Syllabus errorum, lateinischer Originaltext in: Acta Sanctae Sedis 3 (1867/68), 168–176; vollständige Übersetzung in: Die Encyclica seiner Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. December 1864 und der Syllabus (die Zusammenstellung der 80 hauptsächlichsten Irrthümer unserer Zeit) und die wichtigsten darin angeführten Actenstücke, 2. Aufl., Köln 1865, 51–74, 75–102.
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auf den Grund zu zerstören, erachten Wir es … für notwendig, die Lehre von der Einsetzung, Fortdauer und Natur des heiligen apostolischen Primats, in dem die Stärke und die Festigkeit der ganzen Kirche besteht, … als von allen Gläubigen zu glauben vorzulegen.“18 Der Primat des Papstes ist dabei universal. Ihm sind – wie es in Pastor aeternus weiter heißt – „die Hirten und Gläubigen unabhängig von Ritus und Rang, je einzeln und in ihrer Gesamtheit, zu hierarchischer Unterordnung und Gehorsam verpflichtet“ – und zwar nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch in allen Disziplinar- und Leitungsfragen. Eine Entscheidung des Papstes ist endgültig. „Niemandem ist es erlaubt, über dessen Urteil zu richten.“ Eine Appellation an ein ökumenisches Konzil wird ausdrücklich verboten.19 In kirchenrechtlichen Lehrbüchern wurde diese Ekklesiologie dann folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Kirche wurde von Christus gestiftet als eine vollkommene, unabhängige, mit allen zur Erreichung ihres Zweckes nötigen Mitteln ausgerüstete Gesellschaft. Die Vorsteher in ihr haben die Befugnis, zu befehlen, die Gläubigen die Pflicht, zu gehorchen. Daher gibt es Recht in der Kirche.“20 Auch in Bezug auf den Staat komme der Kirche als societas perfecta absoluter Vorrang zu. Weil sie einen höheren Zweck verfolge, habe die Kirche und damit der Papst „gegenüber dem Staate die potestas directiva“.21 Im neuen zentralistischen Kirchenrecht, dem Codex Iuris Canonici von 1917, wurde schließlich jede abweichende episkopale Rechtsauffassung getilgt, von irgendwelchen Rechten der sogenannten Laien ganz zu schweigen. Auch Pius XI. hatte dieses Kirchenbild verinnerlicht. In seiner Antrittsenzyklika Ubi arcano (1922) und bei der Stiftung des Christkönigsfestes 1925 entwarf der Papst in einer theokratischen Vision sogar das Bild eines „katholischen Totalitarismus“, der weit über den innerkirchlichen Bereich hinausreichen sollte. Nur der Papst allein könne die Versöhnung der Völker erreichen. Weil er der unfehlbare Bewahrer der Heilslehre sei, könne nur er den gegenwärtigen Materialismus und die zunehmende Säkularisierung besiegen und einen sicheren Weltfrieden garantieren. Dazu müsse aber zunächst die „Pest des Laizismus“ ausgerottet werden, unter der Pius XI. alle neuzeitlichen gesellschaftlichen Bewegungen wie Reformation, Aufklärung, Säkularisation, Liberalismus und Kommunismus zusammenfasste, welche Gott und dem Papst die Autorität 18 Erstes Vatikanisches Konzil, Erste dogmatische Konstitution über die Kirche Christi „Pastor aeternus“. Vierte Sitzung vom 18. Juli 1870, in: Dekrete der Ökumenischen Konzilien, besorgt von Giuseppe Alberigo u. a. Bd. 3: Konzilien der Neuzeit, hg. von Josef Wohlmuth, Paderborn u. a. 2002, 811–816, hier 811. 19 Ebd., 814. 20 Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Freiburg i. Br., zweite Aufl., 1909, 6. 21 Ebd., 37.
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über den Staat, die Familie und den Einzelnen absprechen wollten.22 Damit dehnte Pius XI. das hierarchische Kirchenbild des Ersten Vatikanums über den eigentlichen Bereich der Kirche hinaus auch auf Staat und Gesellschaft aus und träumte von einer theokratischen societas auf der Basis einer Restauration im Sinne der mittelalterlichen Päpste Innozenz III. oder Bonifaz VIII., der in der Bulle Unam sanctam vom 18. November 1302 feierlich erklärt hatte, dass „es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem Römischen Bischof unterworfen zu sein“.23 Die Folgen für die innerkirchliche Kommunikation waren klar: Sie hatte von oben nach unten zu erfolgen und nicht umgekehrt. Der Papst gab Anweisungen, diese waren von den Bischöfen, den Priestern und den Laien strikt zu befolgen. Dem entsprach auch die Konzeption der vom Ersten Vatikanum ebenfalls verabschiedeten Offenbarungskonstitution De fide catholica mit ihrem instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis: Gott offenbart Sätze, die zu glauben sind und nicht hinterfragt werden dürfen, weil sie übernatürlichen Ursprungs sind.24 Und so wie Gott Instruktionen offenbart, so gibt der vicarius Christi göttliche Instruktionen an die Glieder der Kirche, freilich nicht nur auf dem Feld der Dogmatik und der innerkirchlichen Jurisdiktion, sondern auch und gerade auf dem Feld der Moral. In diesen ethischen Bereich gehört auch die Diskussion der Legitimität von Gewalt. Das Zweite Vatikanische Konzil stieß Reformen in vielen Bereichen der Kirche an. Besonders bemerkenswert sind die Anerkennung der Religionsfreiheit25 und der Demokratie26 sowie eine offenere Einstellung gegenüber anderen Re-
22 Vgl. Patrizio Foresta, Der „katholische Totalitarismus“. Katholizismus und Moderne im Pontifikat Pius’ XI., in: Manuel Franzmann/Christel Gärtner/Nicole Köck (Hg.), Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 11), Wiesbaden 2006, 177–195. 23 Vgl. Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, digitale Ausgabe, Freiburg i. Br. 2009, Nr. 870–875, hier Nr. 875. Hervorhebung im Original. 24 Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben „De fide catholica“. Dritte Sitzung vom 24. April 1870, in: Dekrete der Ökumenischen Konzilien (wie Anm. 18), 804–811. 25 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“, 7. Dezember 1965, URL: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_ council/documents/vat-ii_decl_19651207_dignitatis-humanae_ge.html (eingesehen am 22. August 2012). 26 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes“, 7. Dezember 1965, URL: http://www.vatican.va/archive/
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ligionen, nicht zuletzt dem Judentum27. Es liegt nahe, hier Auswirkungen auf das Verhältnis zur Gewalt im Umgang mit Diktaturen, Kirchengegnern und anderen Religionen zu vermuten. Während des Konzils nahm Johannes XXIII. außerdem mit der Enzyklika Pacem in terris ausdrücklich gegen die gewaltsame Lösung von Konflikten Stellung, wobei er sich ungewöhnlicherweise nicht nur an die Katholiken, sondern an „alle Menschen guten Willens“ wandte.28 Das Konzil wirkte sich nicht nur auf die Inhalte der Lehre aus, sondern auch auf die Struktur der Kirche. Das neue Kirchenbild der Communio-Ekklesiologie29 wertete nach Ansicht vieler Theologen die Ortskirchen und die Laien auf und schwächte den römischen Zentralismus. Die Kirche der 1970er Jahre sei deshalb nicht mehr die Kirche der 1930er Jahre gewesen. Aus historischer Perspektive bleibt festzuhalten: Die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums hatte eine Reihe einschneidender Folgen. Rainer Bucher ist zuzustimmen, wenn er formuliert, die „Stellung der Kirche im Leben ihrer eigenen Mitglieder“ habe sich nach dem Zweiten Vatikanum „grundlegend verändert“. Diese habe „nicht nur das Monopol auf menschliche Existenzinterpretation in der Gesellschaft verloren, sondern auch jenes auf religiöse Orientierung bei ihren Gläubigen selbst“.30 Alle Getauften haben überdies Anteil am dreifachen Amt Christi und sind daher Subjekte, nicht mehr nur unmündige Objekte der Seelsorge. Daraus resultiert, dass sie auch in politischen und gesellschaftlichen Kontexten eine entscheidende Rolle zu spielen haben, also nicht zuletzt im Umgang mit Gewalt im Sinne von potestas und violentia. Entscheidende Bedeutung kommt weiterhin der neuen Verhältnisbestimmung von Universal- und Ortskirche zu. War bislang die Kirche nur im Papst beziehungsweise in der römischen Kirche ganz vorhanden, so besteht („subsistit“) die katholische Kirche jetzt „in und aus“31 Teilkirchen. Das heißt: In jeder hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ ge.html (eingesehen am 22. August 2012). 27 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“. 28. Oktober 1965, URL: http://www.vatican. va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostraaetate_ge.html (eingesehen am 22. August 2012). 28 Johannes XXIII., Enzyklika „Pacem in terris“, URL: http://www.vatican.va/holy_father/ john_xxiii/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_11041963_pacem_ge.html (eingesehen am 22. August 2012). 29 Vgl. Joachim Drumm, Communio, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 2 (1994), Sp. 1280–1283, hier Sp. 1282. 30 Rainer Bucher, Entmonopolisierung und Machtverlust. Wie kam die Kirche in die Krise?, in: Ders. (Hg.), Die Provokation der Krise. Zwölf Fragen und Antworten zur Lage der Kirche, 2. Aufl., Würzburg 2005, 13. 31 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution „Lumen gentium“, URL: http:// www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19641121_ lumen-gentium_ge.html, hier Artikel 23 (eingesehen am 22. August 2012).
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Ortskirche beziehungsweise Diözese realisiert sich die katholische Kirche ganz. Dadurch wird das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre erstmals auf die Catholica selbst übertragen, die als große Kommunikationsgemeinschaft aller Getauften definiert wird. Probleme und Fragen sind demnach dort zu lösen, wo sie sich stellen. Die nächsthöhere Ebene der Kirche ist erst dann einzuschalten, wenn man vor Ort mit der Thematik überfordert ist. Damit sollte jeder römische Zentralismus ausgeschlossen werden. Diese Ekklesiologie zieht weitreichende Konsequenzen nach sich. Man denke nur an die Befreiungstheologie, die in Lateinamerika entstand, weil sich die Kirche dort besonders vor die Herausforderung gestellt sah, die Armen aus menschenunwürdigen Zuständen zu befreien, und Erlösung deswegen nicht mehr nur jenseitig definiert werden konnte. Das Zweite Vatikanum wertete außerdem das Bischofsamt auf, so stellte es fest, dass die Bischöfe ihr Amt nomine Christi als vicarii et legati Christi ausüben, nicht aber als vicarii Romanorum Pontificium.32 Außerdem erhalten die Bischöfe die umfassende potestas zur Leitung ihrer Diözesen bereits durch die Bischofsweihe und nicht mehr wie bisher vom Papst jeweils auf fünf Jahre in den sogenannten Quinquennalfakultäten. Die Bischöfe und Diözesen haben seit dem Zweiten Vatikanum auch erstmals das Recht, direkt miteinander zu kommunizieren. Dieser Kontakt muss nicht mehr wie bisher über Rom laufen. Die Frage, ob sich durch das Konzil im Grunde nichts geändert hat oder es einen drastischen Bruch in der Kirchengeschichte darstellt, wird allerdings nach wie vor kontrovers diskutiert.33 Für viele Teilnehmer des Konzils aus der sogenannten Dritten Welt stand eine Hinwendung der Kirche zu den Armen im Vordergrund eines notwendigen Wandels. Der damalige Weihbischof von Rio de Janeiro, Dom Hélder Câmara, gehörte hier zu den treibenden Kräften. Zusammen mit Abbé Paul Gauthier rief er noch 1962 eine Arbeitsgruppe mit dem Titel „Kirche der Armen“ ins Leben, deren Überlegungen Eingang in die Dokumente des Konzils finden sollten. Für die Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanums war in Lateinamerika die Bischofskonferenz 1968 in Medellín entscheidend.34 Allen unterschiedlichen Strömungen und Ebenen des Katholizismus zum Trotz: Die Bedeutung des Papstes und seiner Berater im Vatikan ist kaum zu überschätzen. Kam es innerkirchlich zu Meinungsverschiedenheiten über die 32 Ebd., Artikel 27. 33 Vgl. Günther Wassilowsky, Universales Heilssakrament Kirche, Innsbruck 2001. 34 Vgl. Guiseppe Alberigo/Günther Wassilowsky (Hg.), Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, 5 Bde., Mainz 1997–2008. Zur Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils in Lateinamerika vgl. Johannes Meier/Veit Strassner, Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert. Eine Einführung, in dies. (Hg.), Kirche (wie Anm. 11), 1–28.
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Rechtfertigung von Gewalt, versuchten die beteiligten Katholiken fast immer, den Papst auf ihre Seite zu ziehen. Nur mit dem Votum des Papstes im Rücken galt die eigene Position als wirklich katholisch. Die vom Papst öffentlich geäußerte Haltung zu Gewalt in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beeinflusste daher die Gesamtheit der Kirche, also die Amtshierarchie, die Priester und Ordensleute ebenso wie die Gläubigen, in erheblichem Umfang. Allerdings geriet der Papst mit seinem Anspruch, als einender padre comune allen Gläubigen in allen Staaten und jenseits aller Fronten gerecht zu werden, oft auch in Widerspruch zu seiner „universale[n] Mission“35 als Anwalt der unveräußerlichen Würde aller Menschen. Oft vermied er eine klare Positionierung zu politisch brisanten Themen. Das bekannteste Beispiel ist das „Schweigen“ des vicarius Christi zum Massenmord an den europäischen Juden.36 Pius XII. forderte allerdings die deutschen Bischöfe im Zweiten Weltkrieg mehrfach zum entschiedenen Handeln auf und lobte die mutigen Predigten Bischof Galens gegen die Euthanasiemorde der Nationalsozialisten, weil „die allgemeine politische Lage in ihrer schwierigen und oft widerspruchsvollen Eigenart dem Oberhaupt der Gesamtkirche in seinen öffentlichen Kundgebungen pflichtmäßige Zurückhaltung auferlegt“.37 Die wichtige Frage, warum sich die katholische Kirche in einigen Ländern mit extrem nationalistischen Strömungen zusammenschloss, während sie dies in anderen Ländern zumindest nicht im gleichen Maße tat, kann nur im internationalen Vergleich besser verstanden werden. Die ersten sieben Beiträge dieses Bandes widmen sich deswegen der Frage, wie sich die katholische Kirche gegenüber autoritären und totalitären, strikt antikommunistischen Regimen verhielt. Gianmaria Zamagni behandelt in seinem Beitrag die Haltung des Papstes zur Gewalt im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939). Er zeigt, wie sich Papst Pius XI. innerhalb weniger Jahre von einem entschiedenen Kriegsgegner zum Unterstützer der nationalistischen Truppen unter General Franco wandelte. Diese Haltung speiste sich aus der Konzentration des Vatikans auf die Gefahr des Kommunismus, der dort als Wurzel allen Übels gesehen wurde und den es deshalb in einem gerechten Krieg zu bekämpfen galt. 35 Thomas Brechenmacher, Teufelspakt, Selbsterhaltung, universale Mission? Leitlinien und Spielräume der Politik des Heiligen Stuhls gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland (1933–1939) im Lichte neu zugänglicher vatikanischer Akten, in: Historische Zeitschrift 280 (2005), 591–645. 36 Vgl. Klaus Unterburger/Hubert Wolf, Papst Pius XII. und die Juden. Zum Stand der Forschung, in: Theologische Revue 4 (2009), 265–280. 37 Pius XII. an Bischof Preysing vom 30. September 1941, in: Burkhart Schneider (Hg.), Die Briefe Pius’ XII. an die deutschen Bischöfe 1939–1944 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 4), Mainz 1966, 154–156.
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Dass der Papst in seinen öffentlichen Verlautbarungen nicht frei von Druck von außen war, belegt Lucia Ceci in ihrem Beitrag über den Italienisch-Äthiopischen Krieg (1935–1936). Papst Pius XI. lehnte diesen Krieg zwar ab, öffentlich schwieg er dazu jedoch, weil die italienische faschistische Regierung gedroht hatte, dass eine kritische Verlautbarung als unfreundlicher Akt verstanden werden und Konsequenzen nach sich ziehen würde. Dies gab den italienischen Bischöfen die Möglichkeit, dem Krieg öffentlich zuzustimmen und die nach Äthiopien ziehenden Truppen zu segnen. Diese kriegsbefürwortende Haltung der Amtshierarchie ebenso wie der katholischen Laien in Italien führt Ceci vor allem auf das Pontifikat Pius’ X. mit seiner antimodernistischen Repression zurück. Neben dem Papst und der Kurie spielen die Episkopate der einzelnen Länder als Akteure in politischen Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle. Der Beitrag von Ceci erwähnt bereits den Anteil der Bischöfe an der Dynamik von Krieg und Bürgerkrieg. Dezidierter gehen die folgenden Beiträge auf die Haltung der Ortskirchen zu Gewalt diktatorischer Regime ein. Zunächst behandeln Michael Kissener und Andreas Linsenmann die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber dem NS-Regime. Ersterer stellt heraus, dass die Bischöfe sich in ihrer Mehrheit unterschiedlich gegenüber der Gewalt von Staat und Partei verhielten, je nachdem, wer die Opfer dieser Gewalt waren. Besonders die Verfolgung und Ermordung der Juden wurde, anders als die Zwangssterilisationen und das sogenannte Euthanasieprogramm, nicht kritisiert. Kißener führt dies darauf zurück, dass erst während des nationalsozialistischen Regimes eine Auseinandersetzung der Bischöfe mit ihren Aufgaben in der modernen Gesellschaft dazu geführt habe, dass sie sich für die allgemeine Einhaltung der Menschenrechte einsetzten. Linsenmann nimmt die gleichen gewalthaften Entwicklungen in den Blick wie Kißener, um danach zu fragen, wie sich katholische Priester und Laien zur Gewalt des nationalsozialistischen Regimes stellten. Insgesamt zeigt er, dass die Priester und Laien sich in der Mehrheit ähnlich verhielten wie der Episkopat. Es gab jedoch immer wieder Ausnahmen, in denen einzelne Priester oder Laien sich auf ihren Glauben berufend der Gewalt und dem Unrecht entgegenstellten. Beide Autoren verweisen darauf, dass die katholische Kirche insgesamt in den 1920er Jahren dem Nationalsozialismus offener kritisch gegenübergetreten sei als nach 1933.38 Carlos Collado Seidel, Fortunato Mallimaci und Stephan Ruderer gehen auf die Rolle der spanischen und argentinischen Ortskirchen und hier besonders der Amtshierarchien in kollektiven Gewaltgeschehen ein. In diesen Ländern waren die Täter häufig Angehörige staatlicher Organe, des Militärs oder der Polizei. Hier geht es unter anderem um die Frage, welche Kräfte die Täter antrieben und 38 Vgl. dagegen neuerdings Derek Hastings, Catholicism and the Roots of Nazism: Religious Identity and National Socialism, Oxford 2010.
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wie sie vor sich selbst und anderen die Gewalt rechtfertigten. Nicht selten spielten hier religiöse Motive und Rechtfertigungen eine wichtige Rolle. So legitimierten beispielsweise hohe Würdenträger der katholischen Kirche in Spanien und Argentinien die Gewalttaten im Namen des Glaubens. In beiden Fällen zeigen sich erstaunliche Parallelen: Sowohl in Spanien als auch in Argentinien kam es zu einer Verschmelzung von katholischem Glauben und Nationalismus. Francos Truppen ebenso wie das argentinische Militär sahen sich als die einzigen Garanten einer katholischen Nation, die vor den als „subversiv“ bezeichneten Gegnern gerettet werden musste. In Spanien ebenso wie in Argentinien wurde der Bezug auf die Nation und den katholischen Glauben genutzt, um die Kohäsion nach innen ebenso zu befördern wie die Abgrenzung nach „außen“ gegenüber den als feindlich und unpatriotisch angesehenen Teilen der Gesellschaft. Stephan Ruderer untersucht dabei, wie das seit 1957 in Argentinien existierende Militärvikariat an der antikommunistischen Indoktrinierung der Soldaten beteiligt war. An der Geschichte dieser Institution kann Ruderer die besonders enge Verbindung zwischen Kirche und Militär in Argentinien herausarbeiten und nachweisen, dass die Militärseelsorge an den Gewaltexzessen der letzten argentinischen Militärdiktatur erheblichen Anteil hatte. Sowohl Ruderer als auch Collado Seidel kommen zu dem Ergebnis, dass die religiöse Aufladung der politischen Auseinandersetzungen und die fundamentale Ausgrenzung der innergesellschaftlichen politischen Gegner auch auf der Ebene letzter Werte zur Brutalität und zum Umfang der Gewaltausübung wesentlich beitrugen. Auf einer übergeordneten Ebene zeigt sich an diesen Beispielen, dass die gewaltsame Austragung gesellschaftlicher Konflikte in der Regel vorbereitet und begleitet wird durch entsprechende Diskurse – um mit Bourdieu zu argumentieren: Sprechen ist Handeln.39 Collado Seidel und Ruderer stellen allerdings fest, dass auch in den von ihnen behandelten Fällen nicht von einer vollkommen einheitlichen Haltung der katholischen Kirche die Rede sein kann. Fortunato Mallimaci verweist außerdem darauf, dass auch die Opfer der Gewalttaten sich häufig in ihrem Handeln unter der Diktatur und danach in ihren Forderungen nach Gerechtigkeit auf eine christliche Ethik bezogen. Er untersucht die komplexen Zusammenhänge, die in Argentinien zwischen politischer, militärischer und religiöser Sphäre bestanden und in den Figuren des Arbeiters, des Kriegers und des Betenden ihren Ausdruck fanden. Die folgenden drei Beiträge von Laura Pettinaroli, Norbert Köster und Roberto Blancarte behandeln Konstellationen, in denen Katholiken sowohl Opfer von Gewalt wurden, als auch selbst aufgrund ihrer religiösen Überzeugun39 Vgl. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen?, Wien 1990. Außerdem, wenn auch mit einer etwas anderen Argumentationsrichtung Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998.
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gen und mit dem Ziel, diese zu verteidigen, zu den Waffen griffen. Pettinaroli geht der Frage nach, wie die katholische Kirche auf die Verfolgung von Mitgliedern unterschiedlicher Denominationen im revolutionären Russland und in der frühen Sowjetunion reagierte. Sie zeigt, dass die Bedrängnis aller Religionsgemeinschaften unter anderem zu ökumenischen Initiativen führte. Vor allem aber entwickelte die Kirche eine „Spiritualität der Gewalt“, die helfen sollte, mit der Verfolgung umzugehen. Diese Reaktion und die Deutung der erlittenen Verfolgung als Märtyrium stellten für die Opfer der staatlichen Gewalt eine Möglichkeit dar, ihrem Leiden Sinn zu verleihen.40 Norbert Kösters Beitrag behandelt ebenfalls die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht nur in Russland, sondern auch in Mexiko hatten revolutionäre Umwälzungen eine neue, stark antiklerikale Ordnung etabliert. In den zwanziger Jahren kam es zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen um die antiklerikalen Maßnahmen der Regierung. Köster behandelt nicht diesen Konflikt direkt, sondern fragt nach der Haltung des Vatikans zu den Auseinandersetzungen in Mexiko. Er zeigt, dass der Heilige Stuhl keineswegs immer gut über die Lage informiert war. Zwar gab es viele Berichte aus Mexiko, Staatssekretär Pietro Gasparri war allerdings mit der Fülle an Informationen überfordert und setzte sich deshalb nicht ausreichend mit diesen Berichten auseinander. Stattdessen schenkte er denjenigen Kirchenvertretern Glauben, die sich in Rom am besten darzustellen vermochten und so sein Vertrauen erlangten. Dieses Ergebnis wirft Fragen auf, die weit über das Beispiel hinausgehen. So lässt sich zumindest vermuten, dass generell bei der Untersuchung der Haltung des Papstes zu einzelnen Problemen das Beziehungsgeflecht innerhalb der Kirchenhierarchie und der Zugang von Amtsträgern in den Ortskirchen zum Papst und seinen Vertrauten mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Auch Roberto Blancarte befasst sich mit Mexiko. Er behandelt allerdings keine staatliche Gewaltausübung gegen die Kirche oder ihre Mitglieder, sondern erklärt die Hintergründe von religiös motivierter Gewalt in Chiapas, einem der ärmsten und stark indigen geprägten Bundesstaaten im Süden des Landes. Hier lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine vergleichsweise starke Ausbreitung evangelikaler Kirchengemeinden beobachten. Gleichzeitig ist der Bundesstaat auch Ort verschiedenster religiös sowie politisch motivierter gewalttätiger Auseinandersetzungen, wobei nicht immer eine klare Trennung vorgenommen werden kann zwischen politischen, sozialen und religiösen Konflikten. Blancarte legt besonderes Gewicht darauf, dass es weniger die religiöse Konkurrenz beziehungsweise der 40 Zum Problem der Sinnlosigkeit von Gewalt vgl. z.B. Birgitta Nedelmann, Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und Wege der künftigen Gewaltforschung, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen/ Wiesbaden 1997, 59–86, hier 63–65.
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religiöse Pluralismus ist, der zu Gewalt führt, sondern die schlechte Verwaltung oder Organisation solcher pluralistischer Situationen. Die Komplexität des Gewaltphänomens spiegelt sich nicht nur in der umfangreichen sozialwissenschaftlichen Literatur wider. Die Frage nach der Definition von Gewalt und danach, welche Handlungsweisen und Bedingungen darunter gefasst werden müssen, findet sich auch in den untersuchten Fällen, die im dritten Teil unter der Überschrift „Legitimation von (Gegen-)Gewalt? Kirche als Anwalt für die Unterdrückten und Armen“ behandelt werden und sich alle auf Lateinamerika beziehen. Die Definition von Gewalt erschöpft sich nicht in der absichtlichen oder auch unabsichtlichen Zufügung körperlicher oder psychischer Verletzungen.41 Sie bezieht sich auch auf gesellschaftliche Verhältnisse, die Menschen die Entfaltung ihrer physischen und mentalen Potenziale unmöglich machen. Johan Galtung hat dies unter dem Begriff der strukturellen Gewalt gefasst.42 Er griff dabei auch auf die im Lateinamerika der sechziger und siebziger Jahre intensiv geführten Debatten um die Gewalthaftigkeit sozialer Ungleichheit zurück. Hier wurde vor allem der Begriff der „violencia institucional“ also der institutionalisierten Gewalt benutzt. Gemeint war Gewalt, die keinem konkreten Akteur zugerechnet werden konnte, sondern vielmehr in den gesellschaftlichen Verhältnissen angelegt war und dazu führte, dass ein großer Teil der Bevölkerung in Armut und unter menschenunwürdigen Bedingungen leben musste und nur eine kleine Oberschicht/Oligarchie davon profitierte.43 Diese Debatte wurde auch von Befreiungstheologen aufgegriffen und vorangetrieben. Hierbei ging es immer auch um die Frage, ob gewaltsamer Widerstand gegen diese Verhältnisse legitim sei oder nicht. Die differenzierte und keineswegs einheitliche Haltung verschiedener lateinamerikanischer Befreiungstheologen und dieser Strömung nahestehender Bischöfe zur Gewaltausübung erläutert Leo O’Donovan, S.J., in seinem Beitrag, der auch auf die Aktualität der Debatte hinweist, bleibt Armut doch ein wesentliches Kennzeichen lateinamerikanischer Gesellschaften. Eine Gemeinsamkeit befreiungstheologischer Überlegungen lag in der Verurteilung der menschenunwürdigen Lage der Armen, die als institutionelle Gewalt verurteilt wurde. Daraus ergab sich zwar die Überlegung, dass Gegenreaktionen auch gewaltsam ausfallen könnten, eine solche revolutionäre Gewalt wurde jedoch von den verschiedenen Befreiungstheologen nicht per se legitimiert. Das Problem legitimer Gewaltan41 Vgl. Bonacker/Imbusch (wie Anm. 6); Paul Hugger/Ulrich Stadler (Hg.), Gewalt. Kulturelle Formen in Vergangenheit und Gegenwart, Zürich 1995. 42 Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Reinbek bei Hamburg 1975. 43 Es bliebe zu untersuchen, inwieweit Galtung lediglich die brisante Debatte in Lateinamerika aufgriff und mit seinen Veröffentlichungen der europäischen sozialwissenschaftlichen Öffentlichkeit nahebrachte.
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wendung wurde vielmehr auch im Rückgriff auf die Vorstellung vom gerechten Krieg intensiv debattiert. Noch stärker blickt Vicente Durán Casas, S.J., in die Zukunft, indem er sich mit dem Verhältnis der „Option für die Armen“ der Befreiungstheologen zur Demokratie auseinandersetzt. Im Rückbezug auf die Philosophie John Rawls’ fordert Durán die Verbindung beider Konzepte, die er bei Befreiungstheologen vermisst. Wie intensiv die Definition ebenso wie die Frage der Legitimität beziehungsweise Illegitimität von Gewalt in den sechziger und siebziger Jahren in Lateinamerika diskutiert wurden, zeigt Antje Schnoor am Beispiel Chiles. Sie untersucht die Positionen der einflussreichen Jesuitenzeitschrift Mensaje zu diesen Fragen und stellt heraus, dass das Konzept der strukturellen beziehungsweise institutionellen Gewalt seit Beginn der sechziger Jahre diskutiert und als Ursache gewaltsamer Reaktionen auf die ungerechten Strukturen gesehen wurde. Diese Gegengewalt wiederum galt den Redakteuren der Mensaje als durchaus legitim, allerdings legten die Autoren strenge Kriterien bei der Beurteilung an, wann Gewalt gerechtfertigterweise angewendet werden durfte. Deshalb verurteilten sie konkrete Gewalttaten in der Regel, auch wenn sie im revolutionären Impetus begangen worden waren. Schnoor zeigt außerdem, dass die der Befreiungstheologie nahestehenden Jesuiten der Zeitschrift Mensaje sich darüber hinaus intensiv mit der Frage befassten, wie eine gerechte Ordnung aussehen müsse, und hier die Demokratie als unabdingbare Voraussetzung anführten. Weitere Stimmen innerhalb der chilenischen und der argentinischen Kirche zur Gewaltfrage untersucht Silke Hensel in ihrem Vergleich zweier in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen Priesterorganisationen. Es handelte sich um die Bewegung der Priester der Dritten Welt (Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo), die in Argentinien bereits vor der Bischofskonferenz von Medellín 1968 gegründet wurde, und um die in Chile 1971 entstandene Organisation der Christen für den Sozialismus (Cristianos por el Socialismo). Die Mitglieder beider Zusammenschlüsse waren Anhänger der Befreiungstheologie und engagierten sich stark in sozialpolitischen Debatten in ihren Ländern. In ihrer Gesellschaftsanalyse stellte der Begriff der institutionellen Gewalt ein relevantes Konzept dar. Sie bezogen sich dabei auf einige theologische Texte, daneben ist der Einfluss der Dependenztheorie hervorzuheben. Befreiungstheologen und von ihr beeinflusste Angehörige der Kirche debattierten nicht nur über Gewalt und brachten das Problem der gewalthaften Verhältnisse in die Auseinandersetzung ein, manche von ihnen griffen auch selbst zu den Waffen. Dies gilt zum Beispiel für den kolumbianischen Priester Camilo Torres, der nur wenige Monate, nachdem er der Guerillagruppe Ejército de Liberación Nacional (nationale Befreiungsarmee, ELN) beigetreten war, im Kampf umkam. Daniel Levine geht in seinem Beitrag auf den Weg Camilo Torres’ vom Priester zum Guerillakämpfer ein und befasst sich vor allem mit dessen Aussagen
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zu christlichem Glauben, Armut und Gewalt. Levine zeigt dabei, dass die revolutionären Vorstellungen und sein Engagement für die Armen ihn nicht vor einer paternalistischen Sichtweise auf letztere bewahrten. Letztlich stellt Torres für Levine eine tragische Figur dar. Während seine Analyse der kolumbianischen Situation und hier vor allem der Lage der Armen Camilo Torres dazu brachte, zur Waffe zu greifen, gingen andere Kirchenvertreter, die ebenfalls befreiungstheologisch beeinflusst waren, einen gänzlich anderen Weg. Wenn sie nicht selbst die im Zweiten Vatikanischen Konzil beschlossenen Reformen der Kirche vorantrieben, so ließen sie sich von ihnen inspirieren und setzten sich in ihren Ländern für die Einhaltung der Menschenrechte und für den Frieden ein. Johannes Meier nimmt mit Bischof Juan Gerardi Conedera aus Guatemala und María Julia Hernández Chavarría aus San Salvador zwei Beispiele für ein solches Handeln in den Blick. Bischof Gerardi engagierte sich seit seiner Zeit als Priester in Guatemala für die Rechte der unterdrückten indigenen Bevölkerung und leitete die Kommission zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen während des Bürgerkriegs in Guatemala, die nach dem Friedensabkommen von 1994 von der katholischen Kirche Guatemalas ins Leben gerufen wurde. Kurz nach der öffentlichen Präsentation des Kommissionsberichts wurde Bischof Gerardi 1998 ermordet. Im Nachbarland El Salvador engagierte sich María Julia Hernández Chavarría über 25 Jahre hinweg in kirchlichen Organisationen für die Einhaltung der Menschenrechte und für den Frieden in ihrem Land. Die drei sehr unterschiedlichen Biographien von befreiungstheologisch beeinflussten Katholiken, die Levine und Meier behandeln, werfen einige Fragen auf, denen es nachzugehen gilt: Wie kam es zu so unterschiedlichen Wegen? Lassen sich hier überindividuelle Hintergründe und Ursachen für die verschiedenen Handlungsweisen der Akteure ausmachen? Die Beispiele zeigen außerdem, dass die „Option für die Armen“ weitaus mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnete, als teilweise angenommen wird. Zwar spielte in breiten Kreisen befreiungstheologisch beeinflusster Katholiken die gesellschaftliche Analyse der Dependenztheorie eine wichtige Rolle, und auch der Weg in eine sozialistische Gesellschaftsordnung galt vielen als die richtige und einzig gangbare Möglichkeit. Daneben gab es aber viele, deren Wirken auf die Einhaltung der Menschenrechte und demokratische Verhältnisse gerichtet waren. Die Menschenrechte verstanden sie dabei häufig recht umfassend und forderten deshalb auch den Wandel der sozialen Verhältnisse und eine Verbesserung der Lebensgrundlage der armen Bevölkerung. Die Beiträge in diesem Band zeigen, wie komplex das Verhältnis der katholischen Kirche zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert war. Weder lässt sich eine einheitliche Linie der Kirche herausschälen noch ist es überhaupt möglich, von der Kirche als einem einheitlichen Akteur zu sprechen. Trotzdem wird man feststellen müssen, dass Angehörige
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der katholischen Kirche, die zum Teil sehr weit oben in der Amtshierarchie standen, sowohl vor als auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erhebliche Verantwortung für die Ausübung von Gewalt trugen, indem sie solche Gewalt rechtfertigten oder gar forderten. In anderen Fällen ist eher die nicht erfolgte Hilfe für die Opfer von Gewalt und das Schweigen angesichts von Gewaltausübung zu kritisieren. Insofern erscheint es zunächst so, als habe das Zweite Vatikanische Konzil keinen Wandel bewirkt. Allerdings gilt es zu konstatieren, dass die Reformdebatten und die Hinwendung zu den Armen bei vielen Kirchenmitgliedern durchaus zu einer Neubewertung gesellschaftlicher Verhältnisse führten, die nun die Bedingungen, die viele Menschen zu einem Leben in Armut zwangen, als den Ursprung von Gewalt bewerteten. Der Schluss, den sie aus dieser Analyse zogen, war, wie die Beiträge ebenfalls zeigen, allerdings unterschiedlich. So lässt sich feststellen, dass die Haltung der katholischen Kirche zu gewaltsam ausgetragenen Konflikten von den jeweiligen historischen Konstellationen mit abhing, man der katholischen Religion beziehungsweise der Gesamtheit der katholischen Gläubigen also weder eine eindeutig friedfertige noch eine eindeutig gewaltsame Position zuschreiben kann. Der einzelnen Gewalttat liegt immer ein Bündel von Motiven zugrunde, die analytisch getrennt werden müssen. Welche Rolle der Religion in diesem Ursachengeflecht zukommt, ob zwischen primären und sekundären Konfliktfaktoren unterschieden werden kann und die Religion vielleicht nur nachträglich zur Legitimation von Gewalt instrumentalisiert wird: Über solche und andere Fragen zum Themenfeld „Religion, Politik und Gewalt“ herrscht zurzeit in der scientific community bei weitem keine Einigkeit. Der Forschungs- und Diskussionsbedarf ist immens. Die katholische Kirche konnte jedenfalls die Werte und Normen gewaltverherrlichender Ideologien und ungerechter Systeme fördern oder ablehnen. Sie konnte Stütze terroristischer Regime sein, aber auch ein Hort des – gewaltlosen oder gewaltsamen – Widerstands und der Versöhnung. Gleiches ist auch mit Blick auf andere Religionsgemeinschaften anzunehmen. Statt pauschale Urteile zu fällen, müssen die jeweiligen Gewaltdynamiken in Konflikten genauer analysiert und die Rolle religiöser Akteure darin ebenso differenziert betrachtet werden wie die Motivationen der Handelnden.
Gianmaria Zamagni
Friede, Martyrium, Christenheit
Theologische Modelle im Spanischen Bürgerkrieg des juges de cette espèce ressemblent à ces monstrueuses divinités que la fable avoit inventées qui mettoient bien quelque ordre dans l’univers mais qui, chargés de crimes et d’imperfections troubloient elles – mêmes leurs lois, et faisoient rentrer le monde dans tous les dérèglements qu’elles en avoient bannis. Montesquieu
Vorwort. Eine lange Geschichte Seit dem Sieg Konstantins über Maxentius unter dem Zeichen des Kreuzes (312) und seit dem Konzil von Arles (314) wurde die später als solche definierte „Lehre vom gerechten Krieg“, die moralische Kriterien für die Ausübung von Gewalt aufstellte, im römischen Katholizismus immer wieder vorgebracht, wenn auch auf unterschiedliche Weise und mit vielen Abwandlungen, Weiterentwicklungen und Überarbeitungen.1 In der „longue durée“ lieferten Ereignisse wie etwa die Verfolgung von Häretikern (zum Beispiel Donatisten), die Kreuzzüge oder die Conquista die historischen Bedingungen für die Legitimation der Gewalt.2 1 Lactantius, De mortibus persecutorum, XLIV, 5: „Commonitus est in quiete Constantinus, ut caeleste signum dei notaret in scutis atque ita proelium committeret. Facit ut iussus est et transversa X littera, summo capite circumflexo, Christum in scutis notat. Quo signo armatus exercitus capit ferrum“. Über Arles vgl. Klaus M. Girardet, Kaisergericht und Bischofsgericht. Studien zu den Anfängen des Donatistenstreit (313–315) und zum Prozess des Athanasius von Alexandrien (328–346), Bonn 1975, hier 1–51. Vgl. Georges Minois, L’Église et la guerre. De la Bible à l’ère atomique, Paris 1994, und Daniele Menozzi, Chiesa, pace e guerra nel Novecento. Verso una delegittimazione religiosa dei conflitti, Bologna 2008. 2 R. A. Markus, Saint Augustine’s Views on the „Just War“, in: W. J. Sheils (Hg.), The Church at War, Oxford 1983, 1–13; Jean Flori, L’Église et la guerre sainte de la „paix de
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Diese chronologische Eingrenzung stellt uns jedoch vor ein grundlegendes Problem: In welchem Verhältnis steht die Lehre vom gerechten Krieg zum konstantinischen Zeitalter, insbesondere auch zu seinem Ende? Die Idee der Wiederherstellung einer neomittelalterlichen Rolle des Papsttums setzte sich Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Werk des Luigi Taparelli D’Azeglio durch: Nach diesem Modell war der Papst der einzig mögliche moralische Vermittler zwischen – und sogar über – die Konfliktseiten hinaus. Aber auch die Legitimation des Krieges durch die Lehre vom Bellum iustum war päpstliches Sonderrecht, vor allem wenn der Krieg sich gegen Ungläubige und Abtrünnige richtete, respektive der Verteidigung der Societas christiana diente. Marie-Dominique Chenu beschrieb diese Allianz zwischen der argumentativ-symbolischen Kraft der Theologie und der institutionell-politischen Macht der Souveräne 1961 in seinem Aufsatz über das Ende des konstantinischen Zeitalters. Als Gegenleistung für die sakrale Salbung der Kaiser und für die religiöse Idealisierung der monarchischen Herrschaftsform übernahm der Staat die Aufgabe, die Feinde der Kirche politisch zu verfolgen und wurde so auf seine Funktion als weltlicher Arm der Kirche reduziert.3 Erst im 20. Jahrhundert kam aber der klare Beweis für einen Durchbruch in der päpstlichen Lehre: In seiner Note vom 1. August 1917 stellte Papst Benedikt XV. (so wie Millionen von Menschen auch, die den Krieg gerade unmittelbar erlebten)4 fest, dass die neuen technischen Mittel und die Massenrekrutierung Dieu“ à la „croisade“, in: Annales ESC 2 (1992), 453–466; Adriano Prosperi, „Guerra giusta“ e cristianità divisa tra Cinquecento e Seicento, in: Mimmo Franzinelli/Riccardo Bottoni (Hg.), Chiesa e guerra. Dalla benedizione delle armi alla „Pacem in terris“, Bologna 2005, 29–90; vgl. zuletzt Andreas Holzem (Hg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn u. a. 2009. 3 Marie-Dominique Chenu, La fin de l’ère constantinienne, in: Jean-Pierre Dubois-Dumee/José De Broucker u. a. (Hg.), Un concile pour notre temps. Journée d’études des Informations catholiques internationales, Paris 1961, 59–87 (später in M.-D. Chenu, La Parole de Dieu, 2 Bde., Paris 1964, hier Bd. 2: L’Évangile dans le temps, 17–36). Die enge Beziehung zwischen dem konstantinischen Zeitalter und der Lehre vom gerechten Krieg wurde analysiert von Daniele Menozzi, Ideologia di cristianità e pratica della „guerra giusta“, in: Franzinelli/Bottoni, Chiesa (wie Anm. 2), 91–127; über das Ende des konstantinischen Zeitalters vgl. meinen Aufsatz Theology and History. A Retrospective on the „End of the Constantinian Era“ in the Works of F. Heer, E. Buonaiuti and E. Peterson, in: Peter Brown/Rita Lizzi Testa (Hg.), Pagans and Christians in the Roman Empire (IV-VI Century A.D.). The Breaking of a Dialogue, Berlin u. a. 2011, 69–90. 4 „Intanto (come mi ha riferito il medesimo P. Blume) cresce e si diffonde fra il popolo nella Prussia il desiderio della pace ad ogni costo, sacrificando anche tutto, Belgio, AlsaziaLorena, ecc., purché termini l’immane conflitto. E poiché tali sentimenti venivano espressi anche in lettere dirette ai soldati al fronte, si è stabilita una severissima censura per tutta la corrispondenza con regioni situate nella zona di guerra“;Pacelli an Gasparri, 9. September
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von Grund auf jenes Verhältnismäßigkeitsprinzip bedrohten, das bisher dazu beigetragen hatte, den Krieg theologisch akzeptabel zu machen.5 Die päpstliche Friedensnote mit ihrer Deutung des Ersten Weltkrieges als „sinnloses Blutbad“ zeigte Wirkung. Eine vielschichtige und lang andauernde Debatte entwickelte sich seitdem in der Kirche und brachte einen Diskurs hervor, der zunehmend der Gewalt ihre religiös-moralische Legitimierung entzog. Diese Delegitimierung ist umso wichtiger, da bis zum damaligen Zeitpunkt sowohl die theologische Tradition als auch der Brauch der Kirche die Gewaltausübung der Souveräne klar und eindeutig gerechtfertigt hatten.6 So darf man wohl hoffen, dass das Christentum seine gewalttätigsten Phasen hinter sich hat. Andererseits aber sollten wir uns fragen, ob die Kurve dieser Entwicklung tatsächlich so kontinuierlich ansteigt, wie es scheinen mag, oder ob nicht vielmehr die Kirche im vergangenen Jahrhundert doch wieder die Ausübung von Gewalt legitimiert oder entschuldigt hat.7 Auch im 20. Jahrhundert – wie seit jeher – fühlte sich das päpstliche Lehramt wohler darin, theoretische Stellungnahmen abzugeben als auf konkrete Ereignisse zu reagieren. Als Benito Mussolini 1935 einen Angriffs- und Eroberungskrieg gegen Äthiopien entfesselte, enthielt die sehr unklar formulierte Stellungnahme von Papst Pius XI. keine Verurteilung der Kampfhandlung. Achille Ratti schwieg, und für die öffentliche Meinung „bedeutete das päpstliche Schweigen zu Mussolinis Krieg, dass er im Wesentlichen diesem Krieg zustimmte und es dem hohen Klerus überließ, das zu sagen, was er selbst aufgrund des übernationalen Charakters der Kirche direkt nicht sagen durfte“.8 Als der faschistische Kolonialfeldzug zu Ende war, gratulierte aber der Papst zum 1918, in: Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917–1929) Nr. 3039, www.pacelli-edition.de/Dokument/3039 (9. März 2012). 5 Friedensappell Papst Benedikts XV., „Dès le début“ (1. August 1917), in: Acta Apostolicae Sedis 9 (1917), 417–420; vgl. Carlo Felice Casula, La chiesa tra guerra e pace. Dottrina, politica e modernità da Leone XIII a Giovanni XXIII, Roma 2005, 16f. 6 Menozzi, Chiesa (wie Anm. 1). 7 Vgl. aktuell Hubert Wolf, Francos Putsch und Papstes Segen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Samstag 10. September 2011, Z3: „Pius XI. Legitimation von Francos Militärputsch als gerechten Krieg scheint in dieser Linie ein Rückfall zu sein. Handelte es sich um einen einmaligen Ausreißer? Oder hatte der Ratti-Papst eine grundsätzliche Repristination der Lehre vom gerechten Krieg vorgenommen?“ 8 Lucia Ceci, Il papa non deve parlare. Chiesa, fascismo e guerra d’Etiopia, Rom/Bari 2010, 8. Vgl. Aram Mattioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung. 1935–1941, Zürich 2005, 121: „Doch das beredte Schweigen wurde meistens so aufgefasst, dass der Papst nicht gegen den Aggressor Stellung beziehen wollte. Antifaschistische Kreise warfen ihm stilles Einverständnis mit dem brutalen Vorgehen der italienischen Streitkräfte, kommunistische Aktivisten sogar offene Zusammenarbeit mit dem faschistischen Regime vor“.
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Sieg „eines großen und guten Volkes“. Nicht geringer war die Verlegenheit des Vatikans wenige Wochen später gegenüber einem Bürgerkrieg, in dem sich eine legitime (allerdings säkular-republikanisch-laizistische) Regierung dem Angriff nationalistischer Aufrührer ausgesetzt sah, wobei die Rebellen als Verteidiger traditioneller Werte und nicht zuletzt aufgrund ihrer klerikalen Gesinnung als grundkatholisch präsentiert wurden.9 Dieser Aufsatz wird den Stellungnahmen des Papstes und des Vatikans nachgehen, und zwar vom letzten Friedenswort gegen den zu diesem Zeitpunkt noch bevorstehenden Äthiopienkrieg am 1. April 1935 über die Ansprache vor den spanischen Flüchtlingen in Castel Gandolfo (14. September 1936) bis hin zur Radiobotschaft zu Weihnachten 1936, um die unterschiedlichen Positionen der Kirche gegenüber dem Krieg einzuordnen und die im spanischen Bürgerkrieg zum Tragen kommenden biblischen und theologischen Metaphern und Modelle zu erörtern.10
9 Vgl. die Ansprache zur Feierlichen Eröffnung der Weltausstellung der katholischen Presse „Siamo ancora“ (12. Mai 1936), in: Acta Apostolicae Sedis 29 (1937), 144. Vgl. auch den (anonymen) Bericht von 9. Juli 1936; Archivio Segreto Vaticano (künftig ASV), Archivio della Nunziatura (künftig Arch. Nunz.) Madrid, Pos. 966, fol. 355: „Angeführt von José Antonio Primo de Rivera, dem Sohn des berühmten Führers und Diktators, kontrolliert [die Falange] Massen von tapferen und mutigen Jugendlichen; nicht immer bewegt sie sich innerhalb der Legalität, häufig aber benutzt sie dieselben Waffen wie die Revolutionäre, gegen die sie ausschließlich ihre Angriffe richtet. Ihr Programm beruht, zumindest in seinen Grundprinzipien, auf der Anerkennung der katholischen Religion [Acaudillada por José Antonio Primo de Rivera, hijo del celebre caudillo y dictador, maneja verdaderas masas de jóvenes valientes y audaces; no actúa siempre dentro de la legalidad, sino que con frecuencia utiliza las mismas armas de ataque que los revolucionarios, contra quienes dirige exclusivamente sus ataques. Su programa está basado, al menos en cuanto a los principios generales, en el reconocimiento de la religión católica]“. Vgl. auch Minois, L’Église (wie Anm. 1), 405f. 10 Für eine grundlegende Diskussion über Metaphern, Modelle und ihre politische Wirkungen vgl. Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München/Wien 2000, 109f.: „solange wir es mit Metaphern zu tun haben, handelt es sich lediglich um Widerspiegelungen oder Ausprägungen der sozialen Wirklichkeit im Raum der Sprache und Texte. Sobald es aber um Modelle geht, wirken das Denken, die Sprache und die Texte umgestaltend auf die Wirklichkeit zurück und haben einschneidende Konsequenzen im Raum der sozialen und politischen Bindungen zur Folge“. Vgl. aber auch Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1969, 4: „Es werden Gedankenbewegungen nachvollzogen, aber nur so weit, um ihren politischen Akzent sichtbar werden zu lassen; und es werden die Situationen geklärt, in denen die Gedanken konzipiert wurden und auf die sie zurückgewirkt haben, aber nur so weit, um die politische Sinnfälligkeit der Ideen herauszupräparieren“.
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Friede Während der deutschen Wiederaufrüstung und während der Vorbereitungen des italienischen faschistischen Angriffskriegs gegen Äthiopien fand am 1. April 1935 im Vatikan das Geheimkonsistorium für die Heiligsprechungen des Kardinals John Fisher und des Humanisten und Märtyrers Thomas Morus statt.11 Nachdem er des 25. Jahrestags der Krönung Georgs V. gedacht hatte, nutzte Pius XI. die Gelegenheit, um eine entschiedene Delegitimation der Gewalt zu verkündigen. Der Papst erwähnte die schreckliche Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Das vergangene Jahr 1934 war jedoch auch Zeuge der Ermordung des österreichischen „Heldenkanzlers“ Engelbert Dollfuß und der darauf folgenden Entsendung italienischer Truppen an den Brenner gewesen.12 Dies war der Hintergrund, vor dem Achille Ratti – zunächst indirekt – den unmittelbar drohenden neuen Konflikt in den schwärzesten Farben beschrieb: „Schon wieder verfinstert sich der Horizont in düsteren Wolken, von unheilvollen Blitzen durchstreift“.13 Die Ansprache nahm dann noch apokalyptischere Töne an durch ein Zitat von Lk 21,9–26: „Ihr [werdet] von Kriegen und Unruhen hören […] es wird Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, welche über die Erde kommen. Die Völker werden bestürzt sein“.14 Unter derart dramatischen Umständen sah der Papst sich in der Pflicht, die Christen wieder an ihren Glauben zu erinnern,
11 Pius XI., Konsistorialallokution „Pergratus nobis“ in Bezug auf die Heiligsprechung der seligen John Kardinal Fisher und Thomas Morus, in: Acta Apostolicae Sedis 27 (1935), 129–133; jetzt in zweisprachiger Fassung (latein-italienisch) in: Enchiridion (wie Anm. 5), §§ 499–502. Herangezogen wurde auch die Edition von Domenico Bertetto (Hg.), Discorsi di Pio XI, Turin 1960–1961; vgl. Ceci, Papa (wie Anm. 8), 27f. und dies., Santa Sede e impero fascista: contrasti, silenzi, fiancheggiamenti, in Alberto Guasco/Raffaella Perin (Hg.), Pius XI: Keywords. International Conference Milan 2009, Berlin u.a. 2010, 131–146, hier 132f. 12 Vgl. Angelo Brucculeri, Sulle vie della pace, in: La Civiltà Cattolica 1 (1935), 240–249, hier 240. 13 Pergratus nobis (wie Anm. 11), 131: „iam tetra caelum offunditur nube, iamque subiti ignes formidolose coruscant caliginemque secant. [ecco di nuovo offuscarsi l’orizzonte di tetra nube, solcata da sinistri bagliori]“. 14 Vgl. Commune plurimorum Martyrum. Extra tempus Paschale, 11, in: Missale Romanum ex decreto concilii tridentini restitutum S. Pii V. pontificis maximi jussu editum aliorumque pontificum cura recognitum a S. Pio X. reformatum et Benedicti XV. auctoritate vulgatum, 1920 [Reimpressio editionis XXVIII. juxta typicam vaticanam, Bonnæ ad Rhenum 2004].
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und er lud sie ein, mit dem ebenso apokalyptischen Text von Mt 8,25 zu beten: „Herr, rette uns, wir gehen zugrunde“. Anschließend sprach er das Thema Krieg expliziter an: „Da aber das sich überall verbreitende Kriegsgerücht alle aufs Äußerste erregt und in höchste Angst versetzt, halten Wir es für richtig, auch etwas dazu zu sagen, so wie es das Uns anvertraute apostolische Amt offensichtlich erfordert. Sollten die Völker erneut die Waffen gegeneinander erheben, sollte wieder Bruderblut vergossen werden, sollten sich erneut Mord und Verwüstung auf Erden, im Meer und am Himmel verbreiten, dann wäre dies ein so immenser Frevel, die Raserei eines so wahnsinnigen Geistes, dass Wir gänzlich ausschließen, dass dieser Fall eintreten kann, nach dem Spruch: ‚Quae contra ius fiunt, nec fieri posse credenda sunt’ (Was wider das Recht geschehen würde, von dem muss angenommen werden, dass es nie wirklich geschehen kann).“15 „Pergratus nobis“ stellte im päpstlichen Diskurs keineswegs eine Neuerung dar: Der Papst wiederholte hier seine Weihnachtswünsche von 1930 und 1934 einschließlich des Psalmenzitats „Dissipa gentes“ und seiner Einschätzung, dass er einen neuen Konflikt für unmöglich halte, weil dieser sich binnen kurzem zu einem europaweiten Krieg, ja sogar zu einem Weltkrieg ausweiten würde.16 Die Ansprache legt ihren Schwerpunkt auf die Analyse der Sachlage: Die päpstliche Erklärung zur Delegitimierung des Krieges basiert ausdrücklich auf einer Pluralität heterogener Annahmen. Es handelt sich erstens um gänzlich „pragmatische“ Argumente (etwa, dass die Zerstörungen zu massiv ausfallen würden, oder dass ein neuer Krieg in der aktuellen äußerst schwierigen Zeit physisch-konkret unmöglich scheine), über 15 Pergratus nobis (wie Anm. 11), 132: „Cum vero qui ubique serpit, futuri belli rumor omnes potissimum commoveat et pavore summo percellat, rei consentaneum ducimus aliquid etiam adicere, quod Apostolicum, quo fungimur, munus a Nobis postulare videtur. Iterum inter se digladiari populos, fraternum iterum cruorem effundi ac terra marique caeloque et caedem denuo vastitatemque omnia detrudi, hoc tam immane scelus esset vesanaeque mentis furor, ut fieri non posse omnino putemus, secundum effatum illud ‚Quae contra ius fiunt, nec fieri posse credenda sunt’“. 16 Ebd., 132f.: „Nobis enim persuadere non possumus, quibus populorum prosperitas atque fortuna cordi esse debeat, eos sibi creditam gentem non modo, sed universam fere hominum consortionem ad excidium, ad ruinam, ad interitum esse compulsuros. Atsi aliquis – quod Deus avertat, quodque nunquam eventurum confidimus – infandum eiusmodi flagitium moliri atque efficere sibi sumpserit, tum Nos contineri non possumus quin Omnipotentem Deum, precem illam iterando, moerenti animo rogemus: „Dissipa gente quae bella volunt“ (Ps. LXVII, 31). Quae quidem de morali novi cuiusque belli impossibilitate dicta sint; sed et ipsa ad physicas res quod attinet|impossibilitas in asperrimis huius aetatis adiunctis et Nobis et multis manifesta apparet“. Vgl. die Weihnachtsansprachen vor dem Kardinalskollegium vom 24. Dezember 1930 und vom 24. Dezember 1934, in: Acta Apostolicae Sedis 22 (1930), 529–539 und L’Osservatore Romano 24–25.12.1934, 1.
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politische (es wäre kein konventioneller Staat-gegen-Staat Konflikt, sondern ein neuer Weltkrieg) bis hin zu moraltheologischen (die Regierungen sollten für das Wohl der Völker sorgen) und geradezu quasi-fundamentaltheologischen, ja dogmatischen Argumenten: ein Krieg wäre ein Verstoß gegen die allgemeine Brüderlichkeit der Menschen. Zweitens enthält die Rede eine Drohung mit dem Kirchenrecht: In Anbetracht der geschilderten Zusammenhänge verurteilte der Papst den drohenden Krieg gemäß einer kanonisch-rechtlichen Regel, einer Regula iuris aus dem sogenannten Liber Sextus des Corpus Iuris Canonici. Diese Regel besagt genauer: „quae contra ius fiunt, debent utique pro infectis haberi“ (was rechtswidrig erfolgt, muss grundsätzlich so behandelt werden, als sei es nicht erfolgt), eine Regel, die normalerweise zum Beispiel auf Verfahrensunregelmäßigkeiten angewandt wurde.17 Hierher rührt letztlich die biblische Verwünschung, in die die Erklärung des Papstes, ein Krieg sei unmöglich, mit einem Zitat aus Psalm 68 (67 der Vulgata) mündete: „Zerstreue die Völker, die Lust haben am Krieg“. Dieser Psalm Davids, der an die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erinnert, gilt auch für den Exegeten der hebräischen Bibel als Vorausschau auf die messianische Zeit.18 In der christlichen Interpretation gehört der Psalm ebenfalls zu den eschatologischen Hymnen: Seine Bilder kündigen von der Endzeit.19 17 Vgl. De regulis iuris, Reg. Nr. 64: „quae contra jus fiunt, debent utique pro infectis haberi“; Corpus juris canonici emendatum et notis illustratum. Gregorii XIII. pont. max. iussu editum, Romae, In aedibus Populi Romani, 1582, 3. Teil: Liber sextus Decretalium d. Bonifacii papae VIII, col. 843. Vgl. UCLA Digital Library Program. Corpus Juris Canonici (1582), http://digital.library.ucla.edu/canonlaw (12. März 2012). Zur Geschichte dieses Spruches Eduardo Baura, Il sistema delle invalidità (inesistenza e nullità, annullabilità e rescindibilità) dell’atto giuridico, in: Simonetta Di Carlo (Hg.), L’atto giuridico nel diritto canonico, Vatikanstadt 2002, 121–142 und Marcelo Christian Heinzmann, Le leggi irritanti e inabilitanti. Natura e applicazione secondo il CIC 1983, Rom 2002. 18 Vgl. zum Beispiel Mayer I. Gruber (Hg.), Rashi’s Commentary on Psalms 1–89 (Books I–III) with English Translation, Introduction and Notes, Atlanta 1988, 300–313. 19 Hermann Gunkel, Die Psalmen. Übersetzt und erklärt, Göttingen 1926, 281ff: „Es gehört also zu den eschatologischen Hymnen […] Demnach sind die Geschehnisse, die der Psalm verkündet und feiert, nicht solche der letzten Vergangenheit, wie die Erklärer anzunehmen pflegen, sondern der Zukunft, die der Glaube im Voraus genießt. Dazu passt auch, daß der Dichter zum Schluß den Ton der Bitte und des Wunsches miteinflicht (68,29. 30. 31. 32)“; vgl. Hans Schmidt, Die Psalmen, Tübingen 1934, 125ff. Da der von Pius XI. herangezogene Psalm aber anschließend Äthiopien erwähnt („Aethiopia praeveniet manus eius Deo“, im deutschen Text jedoch: „Kusch [Nubien] hebt zu Gott seine Hände“, v. 31b), spielt er schon auf die wahren „Absichten“ des Papstes an; so Luigi Sturzo, Gründer der italienischen Volkspartei an Carlo Rosselli, London, 23. Juni 1935, in: Giovanni Grasso (Hg.), Luigi Sturzo e i Rosselli tra Londra, Parigi e New York: carteggio, 1929–1945, Soveria Mannelli 2004, 75f.: „Non per me, ma per coloro che cercano di leggere nelle intenzioni altrui, vale la pena di riportare per intiero il versetto del Salmo 67 citato dal papa […]“; vgl.
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In der Interpretation der päpstlichen Ansprache durch ihren vormaligen Herausgeber Pater Enrico Rosa lenkte die einflussreiche Zeitschrift der römischen Jesuiten „La Civiltà Cattolica“ (jedes Heft wurde unmittelbar vor der Veröffentlichung vom Staatssekretariat zensiert) die Aufmerksamkeit genau auf den erwähnten juristischen Spruch. Die Grundlage für Frieden und Recht ist Rosa zufolge gerade in der „Redlichkeit des Naturrechts und der menschlichen Vernunft beziehungsweise des Gewissens“ zu finden, „insofern [Vernunft und Gewissen] erschaffene Teilnahme am ewigen Gesetz Gottes“ sind.20 Als der Jesuit aber daraus schließt, dass dieses Gesetz den guten Willen voraussetzt und ihn zugleich einfordert, zeigt er genau auf die Schwachstelle dieses naturrechtlichen Systems: „Quae contra ius fiunt, nec fieri posse credenda sunt. So wäre es sicherlich, wenn nur der Mensch wirklich vernünftig wäre und die menschliche Gesellschaft vernünftig geordnet“.21 Rosa ist sich der Gefahr eines moralistischen Fehlschlusses sehr wohl bewusst, wenn er von der Schwierigkeit spricht, gute Menschen zu finden. Dieser Fehler kann so definiert werden: Man kann kein „Sein“ aus einem „Sollen“ beziehungsweise keine „deskriptive“ aus einer „performativen“ Aussage folgern. Anders ausgedrückt: Es wäre ein Fehler zu sagen, dass das, was gerecht ist, auch natürlich sein müsse, oder in der verneinten Form, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“.22 Der Papst sagt also mit seinem kirchenrechtlichen Spruch: Was rechtswidrig erfolgt, muss grundsätzlich so behandelt werden, als sei es nicht erfolgt. Laut Rosa und in Anwendung des Prinzips der wohlwollenden Interpretation hatte der Papst also nur erklärt, ein Äthiopienkrieg sei moraCeci, Papa (wie Anm. 8), 28. Über Sturzo und Spanien vgl. neuerdings auch Luigi Sturzo e gli amici spagnoli. Carteggi (1924–1951), hg. von Alfonso Botti, Soveria Mannelli 2012. 20 Enrico Rosa, La parola di Pio XI per la pace del mondo e il diritto dei popoli, in: La Civiltà Cattolica 2 (1935), 117–124, hier 119; „nella rettitudine stessa della legge naturale e della ragione o coscienza umana, in quanto è creata partecipazione della legge eterna di Dio“. Diese Definition des Naturrechts stammt aus der Summa Theologiae von Thomas Aquinas, I-ii, q. 91 a. 2 co.: „Et talis participatio legis aeterne in rationali creatura lex naturalis dicitur“. Über Enrico Rosa vgl. Annibale Zambarbieri, Il cattolicesimo tra crisi e rinnovamento. Ernesto Buonaiuti ed Enrico Rosa nella prima fase della polemica modernista, Brescia 1979 und Giacomo Martina, Storia della Compagnia di Gesú in Italia (1814–1983), Brescia 2003. 21 Rosa, Parola (wie Anm. 18), 120: „Quae contra ius […]. Cosí certamente: quando l’uomo fosse davvero ragionevole e la società umana ragionevolmente ordinata“. 22 Christian Morgenstern, Die unmögliche Tatsache (1910). Zum moralistischen Fehlschluss vgl. Edward C. Moore, The Moralistic Fallacy, in: The Journal of Philosophy 54 (1957) H 2, 29–42; Bernard Davis, The Moralistic Fallacy, in: Nature 272 (1978), 390 und Doris Bischof-Köhler, Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede, Stuttgart ³2006. Dieser Fehler ist die Umkehrung des naturalistischen Fehlschlusses; in diesem Sinn vgl. auch David Hume, A Treatise of Human Nature (1739), Buch 3. Teil 1. Kap. 1.
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lisch unrechtmäßig, was auch für eine eventuelle anschließende Kolonisierung gelte.23 Aus den angeführten Gründen sei ein Krieg nicht erlaubt und auch für einen eventuellen Kriegsbeginn gelte, so der Papst, die „Abscheulichkeit der moralischen Schuld, sollte die abgelehnte Hypothese Wirklichkeit werden“.24 Der vormalige Herausgeber der „Civiltà Cattolica“ vergaß in seinem Artikel dann aber nicht, die Fälle ins Gedächtnis zu rufen, in denen ein gerechter Krieg möglich wäre. Unabdingbare Voraussetzungen waren vor allem einerseits die Notwendigkeit der Verteidigung, also der gerechte Grund, und andererseits die Unvermeidlichkeit, das heißt die Extrema Ratio nach Ausschöpfung der diplomatischen Mittel: „Nur derjenige wird aber sagen können, dass er den Krieg nicht will, der als Extrema ratio oder als letztes und unvermeidliches Mittel der Rettung gezwungen ist, den Krieg zu erklären oder ihn aus der Notwendigkeit der Verteidigung heraus hinzunehmen. Denn er muss vorher alle Anstrengungen unternommen haben, um ihn zu verhindern oder abzuwenden und dabei je nach der sich ergebenden Notwendigkeit zurückgreifen auf Konferenzen, Schlichtungsverfahren und Urteile von Sachverständigen, also auf alle Wege der Überzeugung und des Friedens, die Hoffnung geben können, die beschädigte Ordnung wieder herzustellen und so das Völkerrecht zu wahren, ohne Waffen oder andere Formen physischer Gewalt anzuwenden.“25 Die päpstliche Rede „Pergratus nobis“ galt ausdrücklich „der moralischen Unmöglichkeit eines jeglichen neuen Krieges“, aber diese Unmöglichkeit nach Moral, Kirchenrecht und Völkerrecht bedeutete nicht notwendigerweise eine physisch-konkrete, also faktische Unmöglichkeit.26 Weiterhin betonte Rosa 23 Rosa, Parola (wie Anm. 18), 119: „[…] E ciò massimamente atteso il tono insolito e severamente giuridico che prendono le parole del Papa nella citazione dell’effato del diritto, onde si vuole presupposta e quasi logicamente dedotta l’impossibilità materiale, o fisica, di ciò che implica impossibilità morale: Quae contra ius fiunt, nec fieri posse credenda sunt. Ora l’inatteso richiamo del Diritto naturale, esteso al Diritto internazionale dei popoli, merita qui appunto una ben piú attenta considerazione“. 24 Ebd., 121: „l’enormità della colpevolezza morale, ove l’ipotesi deprecata si avverasse“. 25 Ebd., 122: „Solo potrà dire in verità di non volerla chi è costretto ad intimarla o accettarla per necessità di difesa, come extrema ratio, o mezzo ultimo e inevitabile di salvezza; cioè dopo avere usato ogni sforzo per impedirla o allontanarla, ricorrendo, ove bisogni, a consigli, ad arbitrati, a tribunali di competenti, a tutte le vie insomma di persuasione e di pace che possano dare speranza di ristaurare l’ordine leso e quindi salvare il diritto dei popoli, senza fare uso delle armi o altra violenza materiale“. An die Prinzipien der Notwendigkeit und der Unvermeidlichkeit appellierte zur selben Zeit auch Luigi Sturzo in der Zeitung „L’Aube“ (31. März 1935), Un problema di coscienza, jetzt in: Miscellanea londinese. Bd. 3: 1934–1936, Soveria Mannelli ²2008, 124–126. 26 Rosa, Parola (wie Anm. 18), 123: „non implica di necessità l’impossibilità fisica, quella del fatto“.
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den juristisch-moralischen Schuldspruch des Papstes über diejenigen, die „die ‚Macht des Rechts‘, eine gänzlich moralische und geistliche Macht, nicht anerkennen, sondern nur das, was sie das ‚Recht der Macht‘ nennen, also das Recht der physischen und rohen Gewalt, das daher ein ganz und gar hinfälliges Recht ist, ja sogar das Gegenteil von Recht und Gerechtigkeit“.27 Wer waren aber die Vorkämpfer dieses „Rechts der Macht“, die „sich für modern halten, wenn sie hierauf ihre absurden philosophischen, politischen und dergleichen theoretischen Systeme gründen, wie es schon während des Krieges üblich war, bis hin zur Leugnung jeden Naturrechts und auch des internationalen Völkerrechts“?28 Angesichts der Lage in Europa im Frühling 1935 klingt die traditionalistische Antwort Rosas für manchen vielleicht überraschend oder unangebracht: „Wir sehen hier wirklich knapp zusammengefasst das System von Doktrin und Praxis des reinsten philosophischen Materialismus und des niederträchtigsten Utilitarismus oder politischen Egoismus unserer subversiven Zeitgenossen, der militanten Atheisten, der Bolschewisten, der Kommunisten und dergleichen“.29 Vier Monate später, am 27. August 1935, fand die Internationale Tagung der katholischen Krankenschwestern in Castel Gandolfo statt. Zum Schluss einer ansonsten konventionellen Ansprache und nach dem traditionellen Segen ergriff Pius XI. erneut das Wort, um den sich bereits abzeichnenden Äthiopienkrieg zu verurteilen. In diesen vier Monaten hatte sich aber einiges verändert. Der Papst betonte hier die Unvorstellbarkeit eines neuen Krieges, nicht mehr aber seine explizite moralische Unmöglichkeit. Und obwohl die Drohung mit dem Kirchenrecht damit ihr performatives Potenzial teilweise verlor, ging Giuseppe Talamo Atenolfi, Königlicher Geschäftsträger Italiens beim Heiligen Stuhl, am darauf folgenden Tag zum Staatssekretariat, um die Aufmerksamkeit „nachdrücklich“ auf „die gravierenden Auswirkungen und folgenschweren Interpretationen [zu lenken,] zu denen die päpstliche Ansprache Anlass geben könnte“.30 Drohend erwähnte er auch eine mögliche Revision der Lateranverträge vom 11. Februar 1929. In der folgenden offiziellen Version des „Osserva-
27 Ebd., 123: „Non riconoscono quindi la ‚forza del diritto‘, forza tutta morale e spirituale; ma solo quella che essi chiamano ‚diritto della forza‘, della violenza cioè materiale e bruta: diritto perciò affatto insussistente, anzi negazione della giustizia e dell’equità“. 28 Ebd., 123: „si credono moderni, quando su ciò teorizzano gli assurdi loro sistemi di filosofia, di politica e simili, come facevasi già durante la guerra, fino a negare ogni diritto naturale, nonché il diritto internazionale dei popoli“. 29 Ebd., 124: „Qui noi troviamo, si può dire veramente, ridotto a sintesi, il sistema dottrinale e il programma pratico del piú schietto materialismo filosofico e del piú abietto utilitarismo od egoismo politico dei nostri sovversivi contemporanei, atei militanti, bolscevichi, comunisti e simili“. 30 Zit. in: Ceci, Papa (wie Anm. 8), 49.
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tore Romano“ so wie auch der „Civiltà Cattolica“ wurden die päpstlichen Worte so weit wie möglich in eine unschärfere und dunklere Fassung abgemildert: „Schon jetzt sehen Wir, dass man vor allem im Ausland von einem Eroberungskrieg, von einem Angriffskrieg spricht: Dies ist eine Mutmaßung, an die Wir nicht einmal einen Gedanken verschwenden wollen, eine Mutmaßung, die Uns verwirrt. Ein ungerechter Krieg: Dies ist etwas, das jegliche Vorstellungskraft übersteigt, selbst die düsterste und traurigste, und etwas unaussprechlich Abscheuliches. Wir können an einen ungerechten Krieg noch nicht einmal denken: er wäre ein so großes Verbrechen, dass Wir seine Möglichkeit nicht in Betracht ziehen können, die wir bewusst ausschließen : Wir glauben nicht an einen ungerechten Krieg und wir wollen nicht daran glauben.“31 Trotz ihrer Undurchschaubarkeit und der Abschwächung, die sie erlitten, sollten jedenfalls dies die letzten Worte des Papstes gegen den faschistischen Krieg sein.32 Am 3. Oktober 1935 marschierten die italienischen Truppen in Äthiopien ein, ohne Kriegserklärung.
Martyrium 31 (Der durchgestrichende Text zeigt die Teile an, die ausgelassen wurden, zwischen spitzen Klammern befindet sich der Text, der hinzugefügt wurde.) „Déjà nous voyons qu’à l’étranger surtout, on parle d’une guerre de conquête, d’une guerre offensive: voilà une supposition à laquelle nous ne voulons même pas arrêter notre pensée, qui nous déconcerte. Une guerre injuste, voilà quelque chose qui dépasse toute imagination, la plus lugubre, la plus triste, voilà quelque chose d’indiciblement horrible. Nous ne pouvons pas penser à une guerre injuste: elle serait un crime si grand que nous ne pouvons pas envisager sa possibilité, et que nous l’écartons délibérément: nous ne croyons pas, nous ne voulons pas croire à une guerre injuste“; zitiert in: Lucia Ceci, La guerra di Etiopia fuori dall’Italia, in: Riccardo Bottoni (Hg.), L’impero fascista. Italia ed Etiopia (1935–1941), Bologna 2008, 142f. Vgl. Enchiridion (wie Anm. 5), § 505 (italienische Fassung). 32 Ceci, Papa (wie Anm. 8), 43ff.; vgl. auch zwei Seiten des Tagebuchs des Domenico Tardini in Casula, Chiesa (wie Anm. 4), 26–28. Vgl. auch: Pius XI., Rede vor Kriegsheimkehrern aus aller Welt (7. September 1935), in: Osservatore Romano, 8. September 1935; jetzt in: Bertetto, Discorsi (wie Anm. 11), Bd. 3, 386–390 und die Chronik von Etudes 4/1935, 265: „Dans une harangue prononcée à l’issue de la messe, le Pape a renouvelé ses adjurations à Dieu et aux hommes pour le maintien de la paix. Il a marqué le désir et l’espoir que les justes aspirations du peuple italien, auquel lui-même se rattache par sa propre naissance, obtiendraient satisfaction raisonnable par de tout autres moyens que la guerre. Il a salué l’arc-en-ciel que pouvait alors permettre d’entrevoir, parmi tant de nuages, l’effort conciliateur de Genève pour la pacification commune“.
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Am 16. Dezember fand ein Geheimkonsistorium im Vatikan statt, in dem der Papst seinen Gedanken erneut Ausdruck verleihen konnte. Nachdem er der verstorbenen Kardinäle Pietro Gasparri und Franz Ehrle gedacht und an die guten Erfolge der Kongresse von 1935 erinnert hatte, beklagte Pius XI. die derzeitige politische Lage in drei Staaten, nämlich in Russland, in Mexiko „und teilweise auch in Deutschland“.33 Von den entsprechenden Verhältnissen sowie auch von „jenen Konflikten, die nicht nur Europa und Afrika in Sorge versetzen, sondern, man kann sagen: die ganze Welt“ wollte Achille Ratti aber nicht sprechen: Seine Worte hätten, so der Papst, nicht richtig verstanden oder gar unverhohlen verfälscht werden können.34 Eine offizielle Auslegung der päpstlichen Gedanken lieferte erneut Enrico Rosa von der „Civiltà Cattolica“.35 Er beklagte noch einmal die „unheilvollen Blitzlichtgewitter des Krieges wie zum Beispiel in Äthiopien“. Diese waren für ihn allerdings die Auswirkungen der „sozialen Apostasie“ des vorherigen Jahrhunderts, seines „Naturalismus und Heidentum[s]“. Naturalismus und Heidentum waren Irrtümer, die sich den Anschein von Wahrheit und Gerechtigkeit gaben, genau wie „die beiden Extreme des Imperialismus und des revolutionären Pazifismus, die in Kriege abgleiten, die die Ordnung und den sozialen Frieden umstürzen, und die anderen beiden den ersten beiden entgegen gesetzten, aber nicht weniger verderblichen und unheilvollen Extreme des Sozialismus und des Kommunismus, der Zweiten und der Dritten Internationale. Obgleich diese vorgeben, sich dem Imperialismus und dem extremistischen Nationalismus – wie etwa dem Nationalsozialismus oder Hitlerismus mit seinem rassistischen Neuheidentum – zu widersetzen, verkommen sie genauso zur verhasstesten Diktatur und zur drückendsten Tyrannei. Für diese Extreme gibt es vor unseren Augen Beispiele, die der Papst beklagt: im sowjetischen Russland, in Mexiko mit seinem Verfolgerregime, zu einem Teil auch – zu einem großen Teil, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen und Proteste – in Nazideutschland.“36 33 Pius XI., Allocuzione concistoriale „Graves equidem“, in: Osservatore Romano, 16. bis 17. Dezember 1935, 2; jetzt in: Bertetto, Discorsi (wie Anm. 11), 412–415. 34 Graves equidem (wie Anm. 33), 413: „non vogliamo accennare a quei conflitti che preoccupano non solo l’Europa e l’Africa, ma, si può dire, tutto il mondo; perché in tanta incertezza di eventi e di uomini vi è pericolo che le Nostre parole, qualunque esse siano, o non vengano bene comprese o vengano apertamente travisate. Del resto ciò che si poteva, a questo proposito, giustamente e legittimamente aspettare da Noi in favore della verità, della giustizia e della carità, l’abbiamo già piú volte manifestato“. 35 Enrico Rosa, L’appello del Papa e la preghiera per la pace, in: La Civiltà Cattolica 1 (1936), 5–14. 36 Ebd., 6: „gli estremi dell’imperialismo e del pacifismo rivoluzionario, che degenerano nelle guerre sovvertitrici dell’ordine e della pace sociale, e gli altri, loro opposti ma non meno esiziali e nefasti, del socialismo e del comunismo, della seconda e della terza Internazionale,
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Die Idee des Jesuiten wird trotz der schwülstigen und unklaren Argumentation deutlich: Er identifizierte in den Irrtümern des 19. Jahrhunderts den wahren Ursprung der derzeitigen internationalen Konflikte. Wahrscheinlich trug er auf diese Weise zwar nichts zum Verständnis des (ebenfalls ausdrücklich erwähnten) faschistischen Angriffskriegs gegen Äthiopien bei, der italienischen Regierung und Mussolinis Operationen in Afrika konnte er so aber jegliche Kritik ersparen. Gleichzeitig war für ihn die Diplomatie des Genfer Völkerbundes dem „revolutionären Pazifismus“ eng verbunden.37 Am 27. August hatte der Papst zu den katholischen Krankenschwestern gesagt, er könne an einen Eroberungskrieg – der gleichbedeutend wäre mit einem ungerechten Krieg – nicht glauben. Rosa griff die Argumentation der Neuscholastik auf, die sich auf das Prinzip der Kompetenzvermutung stützte, das die Entscheidung über die Gerechtigkeit eines Krieges an die Staatsraison delegierte: „Ausgehend von der Vermutung, eine Verteidigung sei notwendig und somit sei ein Verteidigungskrieg ‚gegen andauernde und unaufhörliche Gefahren‘ gerecht, wiederholte der Papst also, dass er nur wünschen und sich mit allen Kräften darum bemühen und beten könne, dass es gelänge, alle Schwierigkeiten mit anderen Mitteln als dem Krieg zu lösen“.38 Als der blutige Krieg gewonnen war, proklamierte der Duce am Samstag, den 9. Mai 1936 um 22.30 Uhr vom Balkon des Palazzo Venezia aus das Itai quali, pure presumendo di opporsi all’imperialismo e al nazionalismo estremista – come quello del moderno nazismo o hitlerismo col suo neo paganesimo razzistico – tralignano del pari nella dittatura piú esosa o nella tirannide piú oppressiva. Di questi estremi noi abbiamo sotto gli occhi gli esempi, che il S. Padre deplora, nella Russia sovietica, nel Messico persecutore, in parte anche – in molta parte, a dispetto di tutte le negazioni o proteste – nella Germania nazista“. 37 Vgl. ebd. und ders. Chi pensa al Messico?, in: La Civiltà Cattolica 1 (1936), 46–61: „Ironie della politica internazionale! Nell’esperienza pericolosissima, che si va svolgendo a Ginevra, due Stati si sono fatti notare, fra gli altri, per lo zelo, onde si atteggiano a paladini della giustizia e della libertà dei popoli, l’URSS ed il Messico. E sono appunto i due Stati, ambedue alleati nella feroce persecuzione antireligiosa, onde vanno segnalati come carnefici del loro popolo“. Diese theoretische Linien werden von Rosa fortgeführt in den Artikeln „Passione di popoli e crisi di civiltà nell’ora presente“ und „Gli estremi opposti nella crisi della civiltà“, in: La Civiltà Cattolica 2 (1936), 3–12 und 89–98. 38 Rosa, Appello (wie Anm. 33), 10: „Tanto di una guerra ingiusta egli non poteva ammettere neppure la possibilità piú lontana! E supposta, nel resto, la necessità di una difesa e quindi la giustizia di una guerra difensiva ‚contro i pericoli continui ed incessanti‘, il Papa ripigliava allora non poter altro che augurare e con tutte le forze adoperarsi e pregare che si potesse ‚arrivare a risolvere tutte le difficoltà con altri mezzi che non fossero la guerra’“. Der Hinweis auf ein „Prinzip der Kompetenzvermutung“ schon in Enrico Rosa, Psicosi comunista di guerra e accuse contro la chiesa, in: La Civiltà Cattolica 4 (1935), 364 (28. November). Zum Prinzip der Kompetenzvermutung (principio di presunzione) vgl. Menozzi, Chiesa (wie Anm. 1), 10, 46 u.a.
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lienische Imperium: Ein „faschistisches Imperium, weil es die unzerstörbaren Zeichen des Willens und der Macht des römischen Liktorenbündels trägt […]. Ein Imperium des Friedens, weil Italien für sich und für alle Frieden will und sich zum Krieg nur entschließt, wenn es dazu durch zwingende und unüberwindbare Lebensnotwendigkeiten genötigt wird“.39 Die Titelseiten der europäischen Zeitungen desselben und der darauf folgenden Tage waren selbstverständlich der Annexion oder dem „Anschluss“ Äthiopiens durch Italien und der hieraus resultierenden Problemstellung für den Völkerbund gewidmet.40 Die Möglichkeit einer europäischen Kettenreaktion auf Mussolinis Feldzug, ja eines neuen globalen Konflikts, war schon seit Monaten deutlich.41 Nur drei Tage später nahm der Papst bei der feierlichen Eröffnung der Weltausstellung der katholischen Presse im Vatikan jedoch keinen direkten Bezug auf den jüngsten Krieg. Nach einem Willkommensgruß an die Anwesenden bedauerte er aber das „betrübliche Fernbleiben“ zweier Nationen: einerseits Russlands, die „riesengroße und überaus gepeinigte“ Nation, wo angesichts eines „rasenden Hasses gegen Gott“ und gegen die katholische Kirche nur die vielen „neuen höchst glorreichen Kapitel zur Märtyrergeschichte“ Trost bieten können; andererseits Deutschlands, wo man aufgrund falscher und beabsichtigter Identifizierungen und Verwirrungen zwischen Religion und Politik „nicht will, 39 Das Referenzwerk ist Angelo Del Boca, Gli Italiani in Africa Orientale, 4 Bde., Rom/Bari, 1976–1984. Vgl. Renzo De Felice, Mussolini il duce. Gli anni del consenso. 1929–1936, Turin 1974, 597–757, hier 745f. 40 Vgl. „Le conflit italo-éthiopien. L’annexion de l’Ethiopie“, in: Le Temps, 10. Mai 1936; „Le Duce proclame solennellement Victor-Emmanuel III empereur d’Ethiopie“, in: ebd., 11. Mai 1936; „Le conseil de la Société des Nations se réunit aujourd’hui à Genève“, in: ebd., 12. Mai 1936; „Le Roi Victor-Emmanuel est proclamé Empereur d’Ethiopie“, in: Le Figaro, 10. Mai 1936; „Un incident à Genève. Devant la présence au conseil du délégué éthiopien, le Baron Aloisi quitte la salle des séances“, in: ebd., 12. Mai 1936; „L’annexion de l’Abyssinie. Victor-Emmanuel proclamé Empereur d’Ethiopie“, in: Journal des Débats, 11. Mai 1936; „L’embarras de la S.D.N. dévant l’affaire éthiopienne“, in: ebd., 12. Mai 1936; „La question éthiopienne devant la S.D.N.“, in: La Croix, 12. Mai 1936. 41 Die Analogie zwischen dem Äthiopienkrieg und einem österreichischen „Anschluss“ erkannte schon Luigi Sturzo, Ipotesi, non profezie sul conflitto italo-abissino, in: El Matí, 5. Juni 1935, jetzt in: Miscellanea (wie Anm. 25), 154–159, hier 158: „Né la Società delle nazioni né i gabinetti di Parigi e di Londra, di Mosca e di Berlino, potranno credere che la guerra italo-abissina resterebbe un fatto isolato come un semplice avvenimento coloniale“. Ebenso die französische Jesuitenzeitschrift Études: „Cette procédure ou cette manière brusquée constitue aussi un précédent pour les pays que leur politique inciterait à s’engager dans la même voie. Il n’est pas douteux que l’Allemagne hitlérienne, par exemple, sera prompte à s’autoriser, si elle en a besoin, de l’exemple ainsi donné dans la péninsule. Enfin, une guerre, allumée en un point du globe, a toujours un pouvoir incendiaire“; Italie [Chronik], in: Études, 20. August 1935, 547f.
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dass es dort […] eine katholische Presse gibt“.42 Die äthiopische Frage scheint hier völlig verdrängt worden zu sein. Als Pius XI. dazu gedrängt wurde, ein weiteres Wort „in den wirbelnden Sog der Druckwalzen zu werfen“, wie er sich ausdrückte, einen Sog, der „dem Griffel des flinken Schreibers“ (Ps 45,2) vergleichbar sei, nutzte er die Gelegenheit, um die drängendsten Bedrohungen der unmittelbaren Gegenwart zu betonen: „Die erste und größte und umfassendste Gefahr ist mit Sicherheit der Kommunismus, in all seinen Formen und Schattierungen“. Der Papst konnte damit seine erste Bezugnahme auf Russland weiterentwickeln: Sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Verborgenen bedrohe der Kommunismus die Würde des Einzelnen, die Heiligkeit der Familie sowie die Ordnung und Sicherheit der Zivilgemeinschaft. Wie schon Enrico Rosa war auch er der Ansicht, die allergrößte Gefahr sei jetzt der staatliche Laizismus und Atheismus, aus der (wie in einer umgekehrten Dogmatik) notwendigerweise alle möglichen Bedrohungen erwachsen würden. Zudem nannte der Papst fünf Länder, zu denen es sichere Belege für ein groß angelegtes derartiges „Programm“ gebe, das durch eine bereits sehr umfangreiche und weit verbreitete Literatur voll ausgeleuchtet werde. Deutschland wurde hier nicht als Beispiel genannt, dafür rückte Spanien mit Russland, Mexiko, Uruguay und Brasilien in den Mittelpunkt. So sagte er den Journalisten: „Ihr werdet sagen, innig geliebte Söhne, dass ihr den gemeinsamen Vater aller Erlösten, den Stellvertreter Christi, in großer Sorge und in tiefem Schmerz gesehen habt aufgrund dieser immensen Gefahr, die die ganze Welt bedroht und die an vielen Orten bereits sehr schwere Schäden anrichtet, insbesondere auf dem europäischen Kontinent.43 Bezug nehmend auf die säkularisierenden 42 Pius XI., Ansprache „Siamo ancora“, in: Acta Apostolicae Sedis 29 (1937), 139–144, hier 139: „Vi sono dolorose assenze, che a loro modo Ci fanno piú sentitamente presenti due grandi paesi e due grandi popoli: l’uno, diciamo la vastissima e tribolatissima Russia, perché un vero furore di odio contro Dio vi ha distrutto e viene ancora distruggendo tutto ciò che appartiene a religione e segnatamente a religione cattolica: tutto, tranne la invitta fedeltà e il vero, mirabile eroismo che danno, si può dire ogni giorno, nuovi gloriosissimi capitoli al martirologio. L’altra, diciamo, la Germania a Noi particolarmente nota e cara; perché, contro ogni giustizia e verità, per artificiose volute identificazioni e confusioni fra religione e politica, non si vuole che vi esista una stampa cattolica“. Vgl. Enrico Rosa, L’apostolato della stampa e la „Mostra internazionale della stampa cattolica“ in Vaticano, in: La Civiltà Cattolica 2 (1936) (11. März 1936), 267–275. 43 Siamo ancora (wie Anm. 40), 141f.: „Il primo e piú grande e piú generale pericolo è certamente il comunismo in tutte le sue forme e gradazioni. Tutto esso minaccia e apertamente impugna o copertamente insidia: la dignità individuale, la santità della famiglia, l’ordine e la sicurezza del civile consorzio e sopra tutto la religione fino all’aperta e organizzata negazione e impugnazione di Dio, e piú segnatamente la religione cattolica e la cattolica chiesa. Tutta una copiosissima e purtroppo diffusissima letteratura, mette in piena e certissima
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Gesetzgebungen Mexikos und Spaniens beklagte Pius XI. „die Leiden, die die Mächte des Bösen dem mystischen Körper Jesu Christi in Person der guten und treuen Gottesdiener zufügen“. Die päpstliche Antwort war aber der evangelische Hoffnungsspruch (Mt 16,18): „non prevalebunt, sie werden die Kirche nicht überwältigen“.44 Italien und sein jüngster Krieg hatte gerade erst die Autorität des Völkerbundes schwer untergraben und einen Präzedenzfall für Europa geschaffen, dennoch wurden sie vom Papst nicht ausdrücklich erwähnt. Erst mit dem Schlusssegen stellte der Papst selbst einen Zusammenhang her zwischen der feierlichen Eröffnung der Weltausstellung der katholischen Presse und der Proklamation des neuen Italienischen Imperiums: Gott, sagte Pius XI., habe die Ausstellung in „einer Atmosphäre beginnen lassen, die weltweit wie hier vor Ort, fern wie nah, unverhofft vielversprechend ist bis hin zum nahezu exakten zeitlichen Zusammentreffen mit der triumphalen Freude eines großen und guten Volkes“.45 Nun, da er beendet war, stellte der äthiopische Krieg keine Bedrohung mehr für das afrikanische, europäische und internationale Gleichgewicht dar. Vielmehr
luce un tale programma: ne fanno fede i saggi già in diversi paesi (Russia, Messico, Spagna, Uruguai, Brasile) praticati o attentati. […] Voi direte, dilettissimi figli, che avete veduto il padre comune di tutti i redenti, il vicario di Cristo, profondamente preoccupato e addolorato di questo massimo pericolo, che minaccia tutto il mondo e che già in parecchie parti reca danni gravissimi, e piú specialmente nel mondo europeo“. Auch in: El Debate, 20. Mai 1936. 44 Ebd., 143: „Non è che non Ci affligga profondamente anche il solo pensiero delle tribolazioni che le forze del male preparano al mistico corpo di Gesú Cristo nella persona dei buoni e fedeli servi di Dio. […] Ma la Chiesa è istituzione divina e ha in suo favore le divine promesse. Le forze avverse possono assumere le proporzioni piú minacciose, i loro assalti possono diventare piú che mai violenti o insidiosi; ma sta scritto: non prevalebunt“. 45 Ebd., 144: „Una grande benedizione a tutta questa esposizione che tante preziose cose accoglie e insegna: le conceda il buon Dio che ne ha cosí visibilmente benedetto la preparazione e ne ha fatto cadere gli inizi in cosí insperatamente propizio clima generale e locale, lontano e vicino, fino alla quasi esatta coincidenza colla letizia trionfale di tutto un grande e buon popolo per una pace che vuol essere e d’essere confida valido coefficiente e preludio di quella vera pace europea e mondiale, della quale l’esposizione stessa vuol esser ed è un chiaro simbolo, un saggio reale, uno strumento efficace, una fervida e fiduciosa invocazione che in tante lingue vuol dire a tutti, a Dio e agli uomini, al cielo e alla terra: Pace, pace, pace“. Die Worte „grande e buon popolo“ für das italienische Volk waren nicht neu im päpstlichen Diskurs: Pius XI. hatte sie schon am 7. September 1935 in seiner Rede vor Kriegsheimkehrern aus aller Welt verwendet, in: Osservatore Romano, 8. September 1935 und in: Bertetto, Discorsi (wie Anm. 11), 386–390, hier 389: „Ed egli desidera anche, con la pace, che le speranze, le esigenze, i bisogni di un grande e buon popolo, che è il Suo popolo, che le aspirazioni di esso e le esigenze e i bisogni siano riconosciuti, siano soddisfatti, che i diritti siano assicurati e riconosciuti, ma con la giustizia, con la pace“.
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war sein für Italien siegreicher Ausgang „ein maßgeblicher Faktor und ein Vorbote eines wahren europäischen und globalen Friedens“. In einem nicht unterschriebenen Aufsatz (der somit die Meinung des Herausgebers repräsentiert) unter dem eindeutigen Titel Letizia di popolo e visione di pace greift die „Civiltà Cattolica“ auf der ersten Seite des Heftes vom 29. Mai die triumphale Freude des großen und guten Italienischen Volkes auf.46 Besonders deutlich aber war das Incipit: „Das italienische Volk bot in dieser letzten leidgeprüften Phase seiner Geschichte eine unangreifbare und wunderbare Demonstration von Opferbereitschaft, Eintracht und christlicher Standhaftigkeit.“47 Indes hatte es die italienische Kirche schon während des Krieges auf all ihren hierarchischen Ebenen nicht an Unterstützung für das Regime fehlen lassen, etwa durch nationalistische Predigten oder am Tag der Aktion „Gold fürs Vaterland“.48 Den Schlusssegen des Papstes konnte die Jesuitenzeitschrift jetzt, kurz nach Kriegsende, als eine Friedensbotschaft angesichts der bereits beklagten politischen Weltlage auffassen, aufgrund derer das Wettrüsten „vor allem seitens besonders subversiver und extremistischer Parteien, wie der bolschewistischen Kommunisten, einen stabilen Frieden und dauerhafte Ruhe nicht mit allzu großer Sicherheit gewährleisten kann“. Der Völkerbund seinerseits sei hilflos nach den allzu vielen Rückziehern.49 Seit einigen Jahren schon setze aber Italien Zeichen gegen einen solchen Laizismus „und war eine edle 46 Letizia di popolo e visione di pace, in: La Civiltà Cattolica 2 (1936), 355–357. 47 Ebd., 353: „Spettacolo innegabile e meraviglioso di abnegazione, di coesione e di fortezza cristiana ha dato il popolo italiano in questo ultimo periodo travagliato della sua storia!“ 48 Ceci, Papa (wie Anm. 8), 80–107; die Predigt von Erzbischof Alfredo Ildefonso Kardinal Schuster am 28. Oktober im Mailänder Dom ist nur ein berühmtes Beispiel, vgl. die Rheinisch-Westfälische Zeitung, 28. November 1935: „Trotz kleiner Reibereien hat der Papst die italienischen Bedürfnisse und Ansprüche auf Kolonialexpansion in verschiedenen Ansprachen anerkannt, allerdings mit dem Hinweis, daß diese Wünsche der Gerechtigkeit und dem Frieden entsprechen müßten. Im italienischen Klerus ist inzwischen eine Wandlung eingetreten. Die kriegsbegeisterten Predigten des Kardinals Schuster in Mailand bildeten den Auftakt jetzt wie überall in den italienischen Kirchen für den Sieg der italienischen Truppen zu beten […]. Die Haltung der katholischen Kirche in Italien hat daher nicht nur eine moralische und patriotische, sondern geradezu eine politische Bedeutung. Episkopat und Klerus haben jetzt zu den faschistischen Ereignissen offen Partei genommen für den faschistischen Krieg in Afrika. Erzbischöfe, Bischöfe und Pfarrer, sie allen stehen jetzt in Italien im Dienst der nationalen Sache“. 49 Letizia (wie Anm. 46), 355: „Questa corsa rivale […] e massime dei partiti piú sovversivi ed estremisti, quali i comunisti bolscevichi, non può dare una eccessiva sicurezza di pace e tranquillità duratura. Né ci soccorre punto la famosa Società delle Nazioni, e meno che mai al presente, dopo le troppe disdette che l’hanno di tanto infiacchita!“. Auf die Krise des Völkerbundes kam Angelo Brucculeri in seiner Sammelrezension Studia Pacis zurück, in demselben Heft, 387–397.
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Ausnahme, die, wie wir glauben dürfen, von Gott in den jüngsten Ereignissen reichlich belohnt wurde“.50 Die Relation zwischen der Bedrohung durch die kommunistische Propaganda in Europa einerseits und Italien als „Faktor und Vorbote“ eines wahren europäischen und globalen Friedens andererseits wurde somit hier bereits sichtbar. Enrico Rosa behandelte die päpstliche Ansprache vom 12. Mai auch in einem neuen Artikel Ende Juni. Nach Hinweisen auf Russland und Mexiko beschrieb der Jesuit die Lage in Spanien, wo seit Februar schwere vandalistische Sachbeschädigungen im Gange waren.51 In seiner Schilderung begriff er den Siebten Kongress der Komintern, vor allem die Strategie der Volksfronten, als Beginn einer neuen Ausweitung des kommunistischen Einflusses in ganz Europa, unter anderem in Frankreich und Spanien. Nachdem Rosa auf diese Weise die Fronten geklärt hatte, konnte seine Interpretation sich die Barbareninvasionen gegen die Ewige Stadt Rom zum Vorbild nehmen. Die aggressive faschistische Politik in Afrika geriet damit aus dem Blickfeld: Die Wurzel allen Übels in Europa lag einzig und allein beim sozialistischen Materialismus (auch in seiner deutschen Version).52
Christenheit Erst mit Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs sprach die oberste Stimme der Kirche wieder von der Lehre vom gerechten Krieg. Am 17. Juli 1936, knapp zwei Monate nach der feierlichen Eröffnung der Weltausstellung der katholischen Presse, löste ein gescheiterter Militäraufstand den Spanischen Bürgerkrieg 50 Ebd., 356: „Da un cosí gretto ‚laicismo‘ si è voluta alfine sottrarre l’Italia, in questi ultimi anni; e fu nobile eccezione, che possiamo credere ben premiata da Dio negli ultimi avvenimenti“. 51 Enrico Rosa, Il monito del papa contro il comunismo e la salvezza della società, in: La Civiltà Cattolica 3 (1936) (26. Juni), 6–16, hier 15: „Troppo eloquente è l’esempio della Spagna, dove per opera di codesti amatori del popolo e promotori dei suoi progressi – stando alle statistiche accertate, a cui si riferí il Gil Robles alle Cortes – solo dal 16 febbraio al 15 giugno di quest’anno stesso, sono state assalite ed incendiate 411 chiese, delle quali 160 interamente distrutte; si sono avuti 113 scioperi generali e 228 parziali; disordini poi e attentati in gran numero, con 269 morti e 1287 feriti. Cf. El Debate, 17 giugno 1936“. 52 Ebd., 16: „Ed il pretesto loro, o la illusione, era di evitare peggiori mali, favorendo un’opera che si vanta protettrice e vindice delle classi popolari e di quelle in ispecie piú misere e oppresse, dei proletari“. Zu denselben Argumentationen vgl. auch: O. N. [Rosa], Il pericolo russo e i progressi dell’invasione comunistica, in: La Civiltà Cattolica 3 (1936), 265–278, in dem die Nationalsozialisten als „die deutschen Marxisten“ bezeichnet werden (266) und vgl. Enrico Rosa, „Ricorsi“ di barbarie nella civiltà contemporanea, in: La Civiltà Cattolica 3 (1936), 353–362.
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aus. Daraufhin trafen die schon vorher häufigen anti-religiösen Ausschreitungen nicht mehr nur Kirchen und Symbole der weltlichen katholischen Herrschaft oder ihrer Entfremdung (z.B. Glockenschwengel, Retabeln und heilige Paramente), sondern auch religiöse Menschen: Priester, Ordensbrüder, Nonnen, katholische Laien. Die Interpretation Rosas konnte sich nun vollends entfalten. Anfang September schrieb er, dass dies die neue Invasion der „Internationale“ der Barbarei in ihrem Kampf gegen die alte christliche Kultur sei, von der in der modernen Gesellschaft noch „all das Beste“ geblieben sei, „das zur rechten Ordnung der wahren Kultur beiträgt“.53 Mit großem Nachdruck beklagte der Jesuit die Lage in Spanien, erst durch seinen Bericht über die überaus grausamen von der spanischen Regierung begangenen oder tolerierten Verbrechen, dann mit der theoretischen Folgerung: „Das ist keine spanische Regierung, sondern eine russische, und zwar von der schlimmsten Sorte, besser gesagt ist es gar keine nationale Regierung mehr, sondern eine fremde, internationalistische Tyrannei“. Die Vernachlässigung des Vaterlandes gehe schließlich „offenkundig gegen das Naturrecht“, während die Lehre Christi die besondere Liebe für Vaterland und Nation mit der allgemeinen Liebe für das Menschengeschlecht hervorragend in Einklang bringe.54 Die materialistischen Gesellschaften dagegen seien auf Hass gebaut, so dass es kein Wunder sei, dass man dort nur Chaos, Rückschritt und Barbarei vorfinde. Von dieser Barbarei ausgehend drohe nun ein neuer Weltkrieg auszubrechen.55 53 Enrico Rosa, L’„Internazionale“ della barbarie nella sua lotta contro la civiltà, in La Civiltà Cattolica 3 (1936), 441–450, hier 441: „Una nuova invasione di barbari e di barbarie – l’abbiamo detto e ripetiamo – preme ed incalza l’Europa e tutto il mondo civile. Essa, anzi, sta già scalzando, in gran parte l’antica civiltà cristiana, con tutto ciò che di questa appare tuttora superstite nella società moderna […] tutto il meglio, di quanto cioè conferisce al retto ordinamento della vera civiltà“. 54 Ebd., 443: „Il reciso rifiuto del Governo repubblicano di Madrid ad entrare nei pacifici negoziati, proposti dal Corpo diplomatico e accettati dai loro avversari, insorti a difesa della patria, è una conferma della complicità o connivenza del Governo stesso madrileno, della piú fiacca dedizione almeno, se non di asservimento totale, ai partiti piú estremi, agli energumeni piú feroci della sinistra. Non è un Governo spagnolo, ma russo, e della peggiore specie, o per dire meglio, non è piú un Governo nazionale, ma una tirannide straniera o internazionalistica“. Vgl. auch ebd. 445: „Ora questa totale trascuranza del bene della patria stessa, nonché di tutti gli interessi della nazione, a cui appartiene l’uomo civile, va manifestamente contro la legge di natura, non meno che contro la legge cristiana: la quale conferma in ciò la legge naturale“; und ebd. „[il cattolicismo] concilia benissimo l’amore speciale della propria patria e nazione con l’amore generale del genere umano“. 55 Ebd., 446: „Ove domina l’odio che è l’esclusione del bene, e si proclama e v’imperversa la ‚lotta di classe‘, cioè guerra insanabile fra le membra stesse di un medesimo corpo sociale […] non può nascere ed attecchire altro che il disordine, il regresso, la barbarie“ und
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Die Verteidigung der spanischen Gesellschaft gegen ein solches Chaos war notwendig, gegebenenfalls auch mit anfechtbaren Mitteln: „Zu Recht werden der barbarischen Umwälzung von vielen Seiten zahlreiche Hindernisse in den Weg gestellt. Auch Staaten und Regierungen, Heere und Parteien sind gegen die einfallenden neuen Barbaren auf den Plan getreten. […] Es handelt sich um die erforderliche Verteidigung der Gesellschaft, und man kann mit Bewunderung feststellen, dass sie auch aus einer Richtung stammt, von der man sie nach menschlichen Maßstäben am wenigsten erwartet hätte: zum Beispiel sogar von Menschen des Sozialismus, vormaligen Befürwortern und in einigen Fällen Landsleuten von Marx.56 Rosa warnte aber explizit vor der Gefahr der nationalsozialistischen Lösung, die er als falsche Ideologie des Rassismus und des Neuheidentums bezeichnete. Erst acht Wochen nach dem Putsch gab Pius XI. seine erste Erklärung ab. Am 14. September 1936, am Feiertag der Kreuzerhöhung, empfing er etwa fünfhundert spanische Flüchtlinge zur Audienz in Castel Gandolfo. Der Text der von Pius XI. verlesenen Ansprache war sorgfältig ins Spanische übersetzt worden und wurde in mehreren Abschriften unter den im Saal anwesenden Spaniern verteilt. 57 Zu Beginn der Rede dient eine Auswahl von Bibelzitaten der Ehrung des von den spanischen Christen erlittenen Martyriums, etwa „Ihr kommt, eure Wonne Uns zu sagen, weil ihr wie die ersten Apostel gewürdigt worden seid, für seinen Namen Schmach zu erleiden“ (Ag 5,41).58 Die Rede von „Opera dunque, non di civiltà, ma di barbarie è quella dei comunisti, dettata dalla loro Internazionale, come da un Codice di odio e di violenza brutale: fonte da cui prorompe ora la conflagrazione spagnuola e minaccia di presto divampare una ben piú spaventosa conflagrazione mondiale“. 56 Ebd., 447: „Al soqquadro barbarico della Internazionale si oppongono quindi giustamente, da varie parti, molteplici barriere; e Stati e Governi, eserciti e partiti sono pure insorti contro i nuovi barbari invasori […] Necessaria difesa della società è questa; e ben si può vedere, con ammirazione, come essa sorga pure donde meno si aveva forse da attenderla, umanamente parlando, anche da uomini del socialismo, per esempio, già fautori e alcuni conterranei o connazionali del Marx“. 57 Der Text wurde von Staatssekretär Pacelli verfasst; vgl. Hilari Raguer, La pólvora y el incienso, Barcelona 2000, 119–125; Emma Fattorini, Pio XI, Hitler e Mussolini. La solitudine di un papa, Turin 2007, 93 und Hilari Raguer, El discurso de Castelgandolfo, in: El País, 10. Oktober 2011. Vgl. hierzu auch Egidio W. Crivellin, Pio XI e la guerra di Spagna, in: Giorgio Campanini (Hg.), I cattolici italiani e la guerra di Spagna. Studi e ricerche, Brescia 1987, 41–59. 58 Pius XI., Ansprache „La vostra presenza“ an die Bischöfe, Priester, Ordensleute und gläubigen Flüchtlinge aus Spanien (Castel Gandolfo, 14. September 1936), in: Acta Apostolicae Sedis 28 (1936), 373–381 (italienisch), 373: „Venite a dirci il vostro gaudio d’essere stati ritenuti degni, come i primi apostoli, di soffrire pro nomine Iesu.“ Hervorhebung im Original. Vgl. auch den Kommentar Rosas, Il monito del papa a salvezza della civiltà, in: La Civiltà Cattolica 4 (1936), 3–16.
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Pius XI. war aber selbstverständlich nicht nur eine Erhöhung des Martyriums, sondern auch ein kraftvoller apokalyptischer Protest gegen die anti-religiösen Ausschreitungen, die hier wie schon in Rosas Text anhand des Naturrechts für barbarisch und unmenschlich erklärt werden: „alles wird angegriffen, geplündert, zerstört auf die ungehobeltste und barbarischste Weise, in einer einzigartigen stürmischen Hemmungslosigkeit von wilden und grausamen Kräften, die, so könnte man glauben, unvereinbar sind nicht nur mit der Menschenwürde, sondern mit der menschlichen Natur selbst“.59 Hier knüpft der Papst an seine Ansprache vom 12. Mai über das zitierte „betrübliche Fernbleiben“ und über die vom internationalen Kommunismus ausgehende Gefahr an. In Spanien sei ein Bürgerkrieg in vollem Gang, legte der Papst dar, ein Krieg zwischen Brüdern, also Kindern desselben Vaters, desselben Vaterlandes, desselben Gottvaters und derselben Mutter, nämlich der Kirche. Der schlimmste Bruch aber war für ihn der letztgenannte, das Zerwürfnis zwischen den Kindern der gemeinsamen Mutter Kirche: „Es gibt noch eine Brüderlichkeit, die unendlich heiliger und wertvoller ist als die von Mensch zu Mensch und die des gleichen Vaterlandes; es ist die christliche und katholische Bruderschaft, die der katholischen Kirche, die der mystische Leib Christi ist, vollständiger Schatz aller Wohltaten der Erlösung. Genau diese göttliche Bruderschaft“ hat nach den Worten des Papstes „die wahre Größe Spaniens durch die Jahrhunderte ausgemacht“.60 Die hier zitierte zeitgenössische Übersetzung aus dem Staatssekretariat verzichtet auf das offenbar als selbstverständlich empfundene Adjektiv. Wortgetreuer könnte man übersetzen: „Gerade dieses erhabene Brudersein hat das christliche Spanien entstehen lassen“. Diese letzte besonders feierliche Formulierung ist hier von Bedeutung, da sie zur Christenheit als dem Thema des letzten Teils dieses Aufsatzes führt. Die „Bruderschaft“, also das Brudersein, der Christen und der so genannte „vollständige Schatz aller Wohltaten der Erlösung“, von dem Pius XI. sprach, wurden hier allerdings schon als eine ausgesprochen weltliche Macht beschrieben. In Beantwortung des wiederholt vorgebrachten Einwands, dass die Kirche besonders in Spanien wie auch im übrigen Europa zu schwach und unwirksam sei, um sich mit aller Lebenskraft dem Bolschewismus entgegenstellen zu können,61 59 Ebd., 375: „tutto viene assalito, manomesso, distrutto nei piú villani e barbari modi, nello sfrenamento tumultuario, non piú visto, di forze selvagge e crudeli tanto da crederle incompossibili, non diciamo con la umana dignità, ma con la stessa umana natura“. 60 Ebd., 375: „E c’è una fraternità che è infinitamente piú sacra e piú preziosa della fraternità umana e patria; è quella che unisce nella fratellanza di Cristo redentore, nella figliuolanza della cattolica Chiesa, che di Cristo stesso è il corpo mistico, il tesoro plenario di tutti i benefici della redenzione. È appunto questa sublime fraternità, che ha fatto la Spagna cristiana“. 61 Nach Ansicht der Wiener Reichspost vom 16. September 1936 war die Ansprache eine direkte Antwort auf die jüngsten Worte Alfred Rosenbergs auf dem Nürnberger Parteitag.
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sah der Papst in der Kirche und in der katholischen Religion, auch und gerade in Spanien, „das einzige wahre Bollwerk gegen den Durchbruch jener Kräfte, die ihre Art und ihre Stärke schon gezeigt haben bei dem Versuch alle Ordnungen zu untergraben von Russland bis China, von Mexiko bis Südamerika“.62 Angesichts der offensichtlichen internationalen Bedrohung durch die „subversiven Kräfte“,63 nahm der Papst mit dem Wahlspruch „Pax Christi in Regno Christi“ selbst eine totalitäre Ambition als Hypothese an: „In einer Gesellschaft, in der die Grundsätze der Religion und der katholischen Kirche eine ungehemmte Verbreitung und eine vollkommene Anwendung fänden […]“.64 Nachdem er erneut die Bedeutung der katholischen Presse gepriesen hatte, kam Pius XI. am Ende seiner Ansprache zum Schlusssegen, den der Papst zuerst Spaniens Märtyrern, dann den Kämpfern Nationalspaniens spendete: „Erhaben über alle politischen und weltlichen Erwägungen wendet sich dieser Segen in Die ausdrückliche Behauptung, dass die spanische Ereignisse das Ende „der geistlichen und ausbildenden Kraft der Kirche demonstrierten“, war allerdings vom kölnischen Gauleiter Josef Grohe schon am 17. August im Westdeutschen Beobachter aufgestellt worden; vgl. Bulletin Nr. 258, 18. September 1936; Segreteria di Stato, Sezioni per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico, Rom (künftig S.RR.SS.), Congregazione per gli Affari Ecclesiastici Straordinari (künftig AA.EE.SS.), Spagna, 1936, Pos. 895, Fasz. 285, fol. 71r. 62 Pius XI., Presenza (wie Anm. 58), 375: „l’unico vero ostacolo al prorompere di quelle forze che hanno dato già saggio e misura di sé nel conato per la sovversione di tutti gli ordini, dalla Russia alla Cina, dal Messico al Sud America“. 63 Wie schon in den Aufsätzen Rosas in der Civiltà Cattolica, waren auch hier die Nationalsozialisten mit den Bolschewisten gleichzustellen; ebd., 377: „dove con procedimenti insidiosi o violenti secondo i casi, con distinzioni fittizie e insincere fra religione cattolica e religione politica si frappongono difficoltà, ostacoli e impedimenti al pieno sviluppo dell’opera e dell’influsso della religione e della Chiesa cattolica secondo il divino mandato che la accompagna e autorizza, nella stessa misura si facilita e si favorisce l’influsso e l’opera deleteria delle forze sovversive“; vgl. auch Rosa, Monito (wie Anm. 58), 6. 64 Pius XI., Presenza (wie Anm. 58), 377f. „Dateci infatti una società nella quale abbiano sinceramente libera e incontrastata diffusione le massime che la Chiesa e la religione cattolica continuamente insegnano e intimano con forza di leggi e di essenziali direttive come da Dio volute e da dio controllate […] nella quale abbiano pieno e incontrastato influsso e dominio queste massime…“. Diese Hypothese, quasi einer potestas directa in temporalibus (wenn es eine Hypothese ist), war die päpstliche Antwort auf die Verlautbarung, die Kirche sei gegen den Bolschewismus machtlos, die auf dem Reichsparteitag 1936 abgegeben worden war. Zu Kirche und Totalitarismen vgl. Giovanni Miccoli, Chiesa cattolica e totalitarismi, in: Vincenzo Ferrone (Hg.), La chiesa cattolica e il totalitarismo. Atti del convegno Torino, 25. bis 26. Oktober 2001, Florenz 2004, 1–26; Daniele Menozzi/ Renato Moro (Hg.), Cattolicesimo e totalitarismo. Chiese e culture religiose tra le due guerre mondiali (Italia, Spagna, Francia), Brescia 2004; und letztlich die bibliographische Übersicht und begriffsgeschichtliche Analyse von Alberto Guasco, Un termine e le sue declinazioni: chiesa cattolica e totalitarismi tra bibliografia e ricerca, in: Guasco/Perin, Pius XI (wie Anm. 11), 91–106.
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besonderer Weise jenen zu, die die schwere und gefahrvolle Aufgabe übernommen haben, die Rechte und die Ehre Gottes und der Religion zu verteidigen und wiederherzustellen, das will sagen die Rechte und die Würde der Gewissen, die erste Bedingung und die stärkste Grundlage jedes menschlichen und bürgerlichen Wohlseins. Eine Aufgabe, schwierig und gefahrvoll, auch deshalb, weil die Verpflichtung und die Schwierigkeit dieser Verteidigung allzu leicht über das rechte Maß hinausdrängt, wo sie dann nicht mehr ganz gerechtfertigt werden kann, wie ebenso leicht sich nicht ganz lautere Absichten und egoistische oder parteiliche Interessen hineinmischen, um die Moralität der Aktion zu trüben und zu fälschen.“65 Der Papst erkannte damit öffentlich an, dass die nationalspanische Seite im Bürgerkrieg für die Verteidigung der katholischen Religion kämpfte, und zwar für die Wiederherstellung einer zivilen und geordneten Gesellschaft. Erstens liege aufgrund der Bedrohung durch den internationalen Kommunismus „mit seinem Versuch der Subversion aller Ordnung“ eine gerechte Kriegsursache vor; zweitens dürfe aber eine solche „Verteidigung“ nicht „über das rechte Maß hinaus“ gehen, anderenfalls wäre sie nicht „gerechtfertigt“; und drittens dürften die Kämpfenden keinerlei „nicht ganz lautere Absichten“ beziehungsweise „parteiliche Interessen“ haben. Dies waren wörtlich zitiert drei der vier klassischen Kriterien für einen gerechten Krieg. Nur zwei Jahre zuvor formulierte der niederländische Jesuit Robert H. V. Regout die vier klassischen Kriterien für einen Bellum iustum wie folgt: 1. legitime Autorität; 2. gerechter Grund; 3. lautere Absicht; 4. gerechte Art, unter anderem entsprechend dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen Mitteln und Zwecken der Aktion.66 Als der Papst hier von der Notwehr der spanischen Christenheit sprach, meinte er einen gerechten Krieg („die Moralität der Aktion“) unter drei klassischen Bedingungen. Die letzte (aber eigentlich die allererste) unter ihnen – die legitime Autorität, die den gerechten Krieg erklären müsste – kam nicht in Frage, weil die (zumindest politisch) legitime Regierung in Madrid die republi65 Pius XI., Presenza (wie Anm. 58), 380: „Al di sopra di ogni considerazione politica e mondana, la Nostra benedizione si volge in modo speciale a quanti si sono assunto il difficile e pericoloso compito di difendere e restaurare i diritti e l’onore di Dio e della religione che è dire i diritti e la dignità delle coscienze, la condizione prima e la base piú salda di ogni umano e civile benessere. Compito, dicevamo, difficile e pericoloso, anche perché troppo facilmente l’impegno e la difficoltà della difesa la rendono eccessiva e non pienamente giustificabile, oltreché non meno facilmente intenzioni non rette o interessi egoistici o di partito subentrano a intorbidare e alterare tutta la moralità dell’azione“; Dokumentation und deutsche Fassung in: S.RR.SS., AA.EE.SS., Spagna, 1936, Pos. 895, Fasz. 285, fol. 60. Hervorhebungen vom Verfasser. 66 Robert H.V. Regout, La doctrine de la guerre juste. De Saint Augustin à nos jours d’après les théologiens et les canonistes, Paris 1934, 18ff.
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kanische war. Anhand seiner Erörterung der Bedingungen für einen gerechten Krieg formulierte der Papst auch die Kriterien, die der Krieg in Spanien erfüllen musste, um als ein gerechter Krieg gelten zu können. Dabei sprach sich der Papst für Mäßigung aus, bezog aber auch Stellung für einen Krieg.67 Am Ende seiner Rede widmete aber Pius XI. noch einige Worte dem Gebot der Feindesliebe, jener Liebe für die „anderen“, wobei er die spanischen Flüchtlinge schließlich ermahnte, für die Heimkehr dieser ihrer Brüder ins Haus des Vaters zu beten.68 Schon drei Tage zuvor (am 11. September) hatte der Staatssekretär ein Telegramm mit der Zusammenfassung der päpstlichen Worte an die Madrider Nuntiatur geschickt.69 Pacelli fasste in diesem Text den längeren ersten Teil der Rede des Papstes in knapper Auflistung zusammen: Er erwähnte die Würdigung des Leidens der spanischen Katholiken durch den Papst, den Protest gegen die unmenschliche Verfolgung der Kirche, die Missbilligung des Bürgerkriegs und die Verurteilung des Giftes der bolschewistischen Propaganda. Wie schon in der erwähnten Eröffnungsrede der Weltausstellung der katholischen Presse warnte der Papst, den Aufzeichnungen Pacellis zufolge, vor dem gefährlichen Verfall der sozialen Ordnung; des weiteren bezeichnete der Papst den Vorschlag einer Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Katholiken als eine Falle, die zwangsläufig zur tatsächlichen Mittäterschaft mit den subversiven Kräften führen würde, und er sprach vom Widerstand der katholischen Kirche, dem einzigen und ultimativen Bollwerk gegen den durch die Revolutionäre her67 Vgl. Rosa, Monito (wie Anm. 58), 7: „A tale efficacia benefica [delle „massime“ della chiesa … teoriche e pratiche] si deve altresí lo spettacolo degli eroismi accennati sopra e di tutta la magnifica resistenza, che il vero popolo spagnuolo oppone da capo in questi giorni, come già in altri secoli della sua storia, all’irrompere e imperversare della nuova barbarie“. Für diese Interpretation Alfonso Álvarez Bolado, Para ganar la guerra, para ganar la paz, Madrid 1995, 66: „Esta parte central del discurso del Papa proporcionaba ya de por sí la mejor legitimación potencial a quienes en España, alzados en armas, se oponían conjuntamente a la destrucción de la Iglesia, a la conquista del mundo y al desarme de Europa por el comunismo. Al bendecirlos explícita, pero también sobriamente, al final del discurso, añadía el Papa advertencias y recomendaciones muy significativas“; jetzt auch Wolf, Francos Putsch (wie Anm. 7). 68 Pius XI., Presenza (wie Anm. 58), 380f.: „E gli altri? che dire di tutti questi altri che sono pure e rimangono sempre figli Nostri, sebbene nelle cose e nelle persone a Noi piú care e sacre, con atti e metodi estremamente odiosi e crudelmente persecutorii, ed anche nella Nostra stessa persona, quanto la distanza consentiva, con espressioni e atteggiamenti sommamente offensivi ci hanno trattato non come figli un Padre, ma come nemici un nemico particolarmente detestato? […] amarli questi cari figli e fratelli vostri, amarli d’un amore par-[S. 381]ticolare fatto di compassione e di misericordia“. 69 Pacelli an Silvio Attilio Sericano, 11. September 1936; ASV, Arch. Nunz. Madrid, Pos. 966, fol. 313rv.
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beigeführten Untergang. Dem Einwand, die katholische Religion sei diesem Untergang gegenüber machtlos [ineffektiv], habe der Papst in Castel Gandolfo entgegengehalten, besonders in Deutschland werde die katholische Religion in ihrem wohltätigen Einfluss behindert. Es folgte eine wortwörtliche und vollständige Wiedergabe der bereits zitierten Passage des päpstlichen Segens, die 19 von 40 Zeilen und somit fast die Hälfte des Telegrammtextes einnimmt: „Erhaben über alle politischen und weltlichen Erwägungen […]“. Viel weniger Zeilen waren anschließend den Worten zu Frieden und Nächstenliebe gewidmet, die am Schluss der päpstlichen Rede standen. Das von Pacelli in diesem Telegramm entwickelte Konzept stellte den Segen in den Mittelpunkt der päpstlichen Rede, die der Staatssekretär der Nuntiatur zum Großteil vorab bekannt gab. Alles, was voranging, war eine Kontextualisierung dieses Kerns; was folgte, nur ein in wenige Zeilen zusammengefasstes Schlusswort. Die Interpretation der „Civiltà Cattolica“ verdeutlichte dies bald darauf mit einem Artikel zu den Bedingungen, die den spanischen Nationalaufstand ausgelöst hatten: „die wahre und einzige Legitimität kämpft auf der Seite der Aufständischen“.70 Wichtig ist aber auch zu wissen, wie diese päpstliche Rede in Spanien und vor allem in der spanischen Kirche rezipiert und interpretiert wurde. Die Rundfunkansprache des Erzbischofs von Toledo und Primas von Spanien, Isidro Gomá, am 29. September und der Hirtenbrief des Bischofs von Salamanca, Enrique Pla y Deniel, vom 30. September 1936, gingen zwei Wochen später ebenfalls auf die Papstrede ein: „Niemand kann der Kirche einen Vorwurf daraus machen, dass sie sich offiziell und öffentlich für die Ordnung gegen die Anarchie, für die Einrichtung einer hierarchischen Regierung gegen den zerstörerischen Kommunismus, für die Verteidigung der christlichen Kultur und ihrer Grundlagen, also Religion, Vaterland und Familie, gegen die Gottlosen und Gottesfeinde ausgesprochen hat.“ Pla y Deniel zitierte in seinem Hirtenbrief aus der Ansprache von Castel Gandolfo auch den päpstlichen Segen, mit diesem Schluss: „der Spanische Aufstand ist kein bloßer Bürgerkrieg, sondern 70 C. E., Cause prossime dell’insurrezione nazionale spagnuola. Note e appunti, in: La Civiltà Cattolica 4 (1936), 444–454 und ebd. 1 (1937) (aber: Ende Dezember 1936), 29–38, hier 37: „Tra il comunismo russo, che semina il sovvertimento dappertutto, e questa Spagna, una e cattolica, che non vuole essere divisa né paganizzata, non vi può essere intesa pacifica. Se dunque ci fu un Governo che attentava a questo duplice sentimento, sí profondamente radicato nel cuore della Spagna, e se per distruggerlo gettò la patria indegnamente fra gli artigli della demagogia comunista, questo Governo diventava un traditore fazioso; quindi la vera ed unica legittimità milita dalla parte di chi è insorto“. Derzeit gelte für die Revolution in Spanien: „trionfa, è vero; ma questo trionfo è locale e momentaneo, se, come speriamo, Iddio vorrà concedere alla Spagna, levatasi in suo nome, una vittoria definitiva e un trionfo imperituro“ (38, explicit).
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dem Wesen nach ein Kreuzzug für die Religion, für das Vaterland und für die Kultur gegen den Kommunismus“.71 Dementsprechend interpretierten auch die Diözesanblätter die Rede Pius’ XI. bei der Audienz nicht nur als eine Rechtfertigung des Krieges, sondern ohne Weiteres als einen Aufruf zum Kreuzzug.72
Schlusswort: … und zurück zum (konstantinischen?) Frieden Nachdem in der päpstlichen Stellungnahme zum Spanischen Bürgerkriegs das Modell des in der Botschaft Jesu grundgelegten Friedens dem des Martyriums den Vortritt gelassen hatte und dieses wiederum dem der Christenheit, kam der Papst in seiner Radiobotschaft zu Weihnachten 1936 schließlich zum Modell des Friedens zurück.73 Dieses Friedensmodell war aber ein ganz anderes als das von Achille Ratti Anfang 1935 dargelegte. Wenn man in „Pergratus nobis“ noch eine starke und wiederholte Delegitimierung der Gewalt fand, nicht zuletzt aufgrund ihrer mangelnden Notwendigkeit, wurde nunmehr Gewalt im Gegenteil als Verteidigung gegen die Bedrohung einer „diabolischen Verschwörung“ wieder für notwendig gehalten.74 71 So Enrique Pla y Deniel, Las dos ciudades (30. September 1936), in: Antonio Montero Moreno, Historia de la persecución religiosa en España 1936–1939, Madrid 32004, 699: „Nadie ha podido recriminar a la Iglesia porque se haya pronunciado oficial y abiertamente a favor del orden contra la anarquía, a favor de la implantación de un gobierno jerárquico contra el disolvente comunismo, a favor de la defensa de la civilización cristiana y de sus fundamentos, religión, patria y família, contra los sin Dios y contra Dios“. Und 701: „el alzamiento español no es una mera guerra civil, sino que sustancialmente es una cruzada por la religión, por la patria y por la civilización contra el comunismo“. 72 Vgl. Alfonso Álvarez Bolado, Guerra (wie Anm. 67), 65, Anm. 101: „La versión castellana, ‚distribuida a los asistentes al augusto acto‘ la ofrecen algunos Boletines eclesiásticos, pero no todos. Cf. p. ej., BOE de Mallorca del 30 septiembre p. 547 y ss., que publica esta versión con la ilusión de ser „acaso los primeros en España“. Pero esta versión castellana íntegra no se conoce suficientemente“. 73 Vgl. aber schon Pius XI., Presenza (wie Anm. 58), 380f., wo Pius XI. von jenen anderen spricht, die den Papst wie einen Feind behandelten: „[…] pregare perché siano con Noi, quando tra poco […] l’arcobaleno della pace si lancerà nel bel cielo di Spagna, portandone il lieto annuncio a tutto il vostro grande e magnifico Paese; della pace, diciamo, serena e sicura, consolatrice di tutti i dolori, riparatrice di tutti i danni, contentatrice di tutte le giuste e savie aspirazioni compatibili col bene comune, annunciatrice di un avvenire di tranquillità nell’ordine, di onore nella prosperità”; die Definition des Friedens als tranquillitas ordinis, als Ruhe (in) der Ordnung, ist ein Zitat von Augustinus, De Civitate Dei, 19,13,1. 74 Vgl. Messaggio natalizio del Santo Padre, in: La Civiltà Cattolica 1 (1937), 75–79, hier 75: „Le condizioni di salute del Santo Padre, benché migliorate, alla vigilia del Santo Natale non erano ancor tali da potergli permettere di ricevere, come negli anni scorsi, il Sacro Col-
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In seiner Weihnachtsansprache von 1936 beklagte Pius XI., dass „leider der böse Wille vieler vom Wege Abgekommener und zahlreicher Feinde des göttlichen Kindes gegen den Willen Gottes kämpft, der kam, um den Menschen guten Willens den Frieden zu bringen“.75 Und damit meinte er im Grunde genommen Spanien, „wo die [feindliche] Propaganda und die [immer wieder auflodernden feindlichen] Anstrengungen [gegen die fundamentalsten Werte von Gesellschaft, Familie und Individuum] offenbar aufs Äußerste die verderblichen Kräfte ausreizen wollten, die in ihrem Dienst stehen und bereits in allen Ländern verbreitet sind. Ein neues Warnsignal – ernst und bedrohlich wie nie zuvor – für die ganze Welt, hauptsächlich aber für Europa und für seine christliche Kultur“.76 Vor der bedrohlichen Kulisse derartiger Ereignisse wurden Verteidigung und Abhilfe wieder als dringend notwendig dargestellt:77 Erneut listete er neben der Notwendigkeit auch die anderen Bedingungen für die Legitimität des Krieges auf. Das Ziel des Papstes war aber offenbar der Ausschluss von falschen Ideen und irrigen Mitteln des deutschen Nationalsozialismus in den drei Armeen (der spanischen, der italienischen und der deutschen), die in Spanien für die gute Sache kämpften: die substanzielle Gottlosigkeit und die Anklage gegen die katholische Kirche aufgrund ihrer (angeblichen) Nationsfeindlichkeit.78 legio e la Prelatura Romana. Ma il Padre Comune, costretto dal male a rimanere nei propri appartamenti, volle in ogni modo rivolgere ai fedeli di tutto il mondo la sua parola di Pastore Supremo: parola di paterna riconoscenza per le prove di devozione filiale tributategli nella sua malattia e, soprattutto parola di Maestro sollecito della sorte della stessa civiltà cristiana, minacciata ai nostri giorni da una diabolica congiura. Commovente appello ai governanti e ai popoli per il mantenimento o il ristabilimento della pace, e insieme efficace esempio alle ‚eroiche anime che fanno apostolato dello stesso lavoro quotidiano e delle stesse loro infermità‘. Ecco il testo dell’Allocuzione: […]“. 75 Pius XI., „Se nelle innumerevoli circostanze“, Radiobotschaft zu Weihnachten, 24. Dezember 1936, in: Acta Apostolicae Sedis 29 (1937), 5–9, hier 6: „Pur troppo contro il volere di Dio, che venne a portare la pace agli uomini di buona volontà, lotta il malvolere di molti traviati e nemici del Fanciullo divino“. 76 Pius XI., Se nelle innumerevoli circostanze (wie Anm. 74), 6: „La nota dolorosa che si mesce in quest’anno alle gioie natalizie è tanto piú profonda e affliggente, mentre ancora divampa con tutti i suoi orrori di odi, di stragi e di distruzione la guerra civile in un paese quale è la Spagna, dove si direbbe che quella propaganda, che quegli sforzi, cui sopra accennammo, abbiano voluto fare un esperimento supremo delle forze deleterie che sono a loro servizio e sparse ormai in tutti i paesi. Nuovo monito quant’altri mai grave e minaccioso per il mondo intero e principalmente per l’Europa e per la sua cristiana civiltà“. 77 Ebd., 6: „Rivelazioni ed annunzi di terrificante certezza ed evidenza di quello che all’Europa ed al mondo si prepara, ove non si corra subito ed efficacemente alle difese ed ai rimedi“. 78 Ebd., 6f.: „Tra coloro, però, che affermano di essere i difensori dell’ordine contro il sovversivismo, della civiltà contro il dilagare del comunismo ateo, che anzi si arrogano in ciò il primato, Noi vediamo con dolore un non [7] piccolo numero, che nella scelta dei mezzi
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Weihnachten 1936 bedeutete für die römisch-katholische Kirche auch die Neunzehnhundertjahrfeier der Bekehrung des Paulus und die Sechzehnhundertjahrfeier zum Gedenken an den Tod Silvesters I. Achille Ratti erinnerte an den Schein von Silvesters Heiligkeit, der sich „nach der langen Nacht der Verfolgungen“ unter dem Labarum des Kaisers Konstantin auf Erden ausbreitete, so dass die Kirche „die Morgenröte des Anbruchs von Freiheit und Frieden begrüßen konnte“. In diesem Zusammenhang ermahnte Pius XI. erneut zum Frieden: „zu seiner Erhaltung, wo er noch herrscht, zu seiner Wiederherstellung, wo er nichts mehr ist als eine schmerzliche Erinnerung“.79 Auch in Bezug auf Spanien standen die päpstlichen Ermahnungen zum Frieden nun unter den Insignien eines neuen Konstantins.
e nella valutazione dei loro avversari si lasciano dominare e guidare da false e funeste idee. False e funeste: perché chi cerca di scemare o di estinguere la fede in Cristo e nella divina rivelazione nel cuore degli uomini, e specialmente della gioventú; chi osa di rappresentare la Chiesa di Cristo, depositaria delle divine promesse, educatrice per divina missione dei popoli, quale nemica dichiarata della prosperità e del progresso della Nazione, non solo non è artefice di felice avvenire per l’umanità e per lo stesso proprio Paese, ma distrugge i piú efficaci e decisivi mezzi di difesa contro i temuti mali e collabora, sia pure incoscientemente, con coloro che crede o si vanta di combattere“. 79 Ebd., 9: „Paolo, instancabile annunziatore della pace di Cristo, che ai Corinti scrisse quelle profonde parole: Non enim est dissensionis Deus, sed pacis (I Cor., 14,33), Silvestro, che dopo la lunga notte delle persecuzioni, poté salutare l’aurora della libertà e della pace, Ci invitano in quest’anno a rivolgere ai governanti e ai popoli della terra una nuova, ancor piú fervida e accorata esortazione alla pace; al suo mantenimento, ove essa ancora regna, al suo ristabilimento, ove essa non è piú che un doloroso ricordo e una tragica, finora pur troppo insoddisfatta brama. E con questo appello al mondo si congiunge – oggi piú che mai fervorosa – la Nostra supplica a Dio, per quella tranquillitas ordinis, in cui sola può consistere la pace, per l’attuazione di quella giustizia individuale e collettiva, senza la quale nessun ordine è possibile. Questa preghiera di pace Noi deponiamo riverenti dinanzi alla culla del Principe della Pace“.
Lucia Ceci
Der Papst darf nicht sprechen
Die Kirche, der Faschismus und der Italienisch-Äthiopische Krieg Im Italienisch-Äthiopischen Krieg (1935–1936) mobilisierte Benito Mussolini alle Kräfte des Regimes. Für diese in der ganzen Welt heftig kritisierte Operation bedurfte es zwar vielleicht nicht einer unmittelbaren und wohlwollenden Unterstützung durch den Heiligen Stuhl, wohl aber seines Schweigens. Die Haltung von Papst Pius XI. gegenüber dem faschistischen Angriffskrieg zog die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, der Diplomaten und der christlichen Kirchen auf sich. Hatten die Lateranverträge den Papst zu einem Gefangenen Mussolinis gemacht? Die inzwischen erfolgte Öffnung der Bestände des Vatikanischen Geheimarchivs zum Pontifikat Pius’ XI. wirft ein neues Licht auf diesen zentralen Brennpunkt in den Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der faschistischen Regierung.1 In den Dokumenten des Vatikans wurden viele wichtige zuvor unveröffentlichte Vorgänge aufgespürt, die auf den folgenden Seiten in kurzer Zusammenfassung vorgestellt werden. Wer aber auf diesen Seiten nur das allerneueste aus den „Arcana Imperii“ suchte, würde enttäuscht. Dieser Aufsatz will eine Geschichte erzählen und versuchen zu verstehen. Die Geschichte handelt davon, wie die katholische Kirche sich zum Italienisch-Äthiopischen Krieg, zum Faschismus und zum italienischen Kolonialimperium verhalten hat. Die Geschichte speist sich aus Ausgesprochenem wie aus Verschwiegenem, aus öffentlichen Mitteilungen und diplomatischen Verfahrensweisen, aus offiziellen Kanälen und aus inoffiziellen Wegen. Eine Geschichte, in die Hunderttausende in Italien, in Äthiopien und auf der ganzen Welt hineingezogen wurden. Die Analyse der vertraulichen Wege und die Schilderung der inneren Qualen einzelner Hauptakteure dürfen bei der Wiedergabe dieser Geschichte nicht isoliert gesehen werden; und in ihrer Interpretation dürfen sie nicht den offiziell getroffenen Entscheidungen übergeordnet werden. Es wäre nämlich irreführend, wollte man sich darauf beschränken, nichtöffentliche Aussagen und Taten hoher kirchlicher Verantwortungsträger zu analysieren, um dann zum Schluss zu kommen, dass jene die wahre Haltung widerspiegeln, während man von den in öffentlicher Form abgegebenen Verlautbarungen und Entscheidungen absehen könne. Vor allem, wenn solche Verlautbarungen und Entscheidungen Auswirkungen hatten auf das Denken und Verhalten tausender Männer und Frauen. Hiermit 1 Vgl. die ausführliche Untersuchung Lucia Ceci, Il papa non deve parlare. Chiesa, fascismo e guerra d’Etiopia, Rom/Bari 2010.
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sollen nicht etwa moralische Urteilskriterien in eine historische Darstellung eingeschleust werden, vielmehr wird der Versuch unternommen, die Ereignisse der Vergangenheit in ihrer Komplexität zu verstehen und zu veranschaulichen. Dieser in vieler Hinsicht grundlegende Hinweis, der für viele Studienobjekte gilt, ist unbedingt zu beachten bei einer Institution wie der Kirche, die mehr als andere aus Erfordernissen der Seelsorge und der Lehre gezwungen ist, den Gedanken ihrer höchsten Hierarchien zu zeitgenössischen Ereignissen auch öffentlich Ausdruck zu verleihen. In dieser Geschichte gibt es jedoch einige Fakten, die Gefahr laufen, verloren zu gehen, wenn man von Nuntien, Kardinälen und Staatsmännern berichtet. Sie sollten also besser gleich zu Anfang in Erinnerung gerufen werden. Der Krieg Mussolinis gegen Äthiopien war ein Angriff auf einen souveränen Staat. Er wurde auch unter Einsatz von chemischen Kampfstoffen geführt, die durch völkerrechtliche Verträge verboten waren, und er führte bei den Äthiopiern zu 300.000 Toten, Soldaten wie Zivilisten. Massenmorde, Deportationen und Konzentrationslager waren kennzeichnend für die bis 1941 andauernde italienische Besatzung. Ungefähr 30.000 Äthiopier kamen allein im Verlauf der groß angelegten Vergeltungsaktion nach dem am 19. Februar 1937 in Addis Abeba verübten Attentat auf Vizekönig Rodolfo Graziani ums Leben. Diese Militäraktion führte zum Massaker an der gesamten Bevölkerung der Klosterstadt Debra Libanos mit etwa zweitausend Opfern: Priestern, Mönchen, Pilgern und zweihundert sehr jungen Diakonen.2
Das Schweigen des Papstes und das Lärmen der italienischen Katholiken Die Akten des Vatikans belegen die absolut ablehnende Haltung Pius XI. gegenüber dem italienischen Eroberungskrieg. In vertraulichen Unterredungen mit Vertretern der Kurie und der Diplomatie missbilligte Pius XI. den Angriff auf Äthiopien aus unterschiedlichen Gründen. Wie viele andere Beobachter befürchtete auch er, dass sich der Krieg auf Europa ausweiten würde. Er wusste außerdem, dass der Angriff auf einen im Völkerbund vertretenen souveränen Staat Mussolini dazu bringen würde, sich Adolf Hitler anzunähern. Zudem war der „Missionspapst“ über die unvermeidlichen Folgen sehr besorgt, die die Aus-
2 Vgl. Giulia Brogini Künzi, Italien und der Abessinienkrieg 1935–36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?, Paderborn 2006; Aram Mattioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung, 1935–1941, Zürich 2006; Angelo Del Boca, La guerra di Etiopia. L’ultima impresa del colonialismo italiano, Mailand 2010.
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einandersetzung zwischen Italien und den anderen Kolonialmächten auf die organisatorische Entwicklung der Glaubensverbreitung haben würde. Die stärkere und ausdrücklichere Verurteilung des Eroberungskriegs, die Pius XI. am 27. August 1935 in Castel Gandolfo verkündete, war jedoch der Beginn einer sehr heftigen Krise mit der Regierung Roms.3 Die Reaktion der italienischen Diplomatie, die im Auftrag Mussolinis agierte, fiel aggressiv aus und zielte darauf ab, die späteren öffentlichen Stellungnahmen des Papstes zum Konflikt zu konditionieren, mit der Drohung, die guten Beziehungen zwischen Staat und Kirche, die in Italien seit der durch die Lateranverträge sanktionierten Versöhnung bestanden, stünden auf dem Spiel. Und der Papst beugte sich dieser Erpressung, eine Entscheidung, von deren Notwendigkeit auch seine engsten Mitarbeiter überzeugt waren.4 Um eine Vorstellung davon zu bekommen, inwieweit Pius XI. das ihm auferlegte Diktat Mussolinis, über den faschistischen Eroberungskrieg zu schweigen, befolgte, soll hier an eine Episode unter vielen erinnert werden, die anhand von Akten aus Italien und aus dem Vatikan rekonstruiert werden konnte. Im Dezember 1935, als die Ausweitung des Konflikts auf Europa gebannt war und die katholische Bevölkerung Italiens geschlossen und mit von den Medien gut in Szene gesetzten theatralischen Gesten dem Aufruf zur Abgabe von „Gold fürs Vaterland“ Folge leistete, hätte Pius XI. in der Konsistorialansprache vom 16. Dezember oder in der Weihnachtsansprache gern öffentlich seinem Wunsch nach Frieden Ausdruck verliehen. Die Vorsicht des Papstes ging jedoch so weit, dass er dafür die Genehmigung Mussolinis erbat. Am 13. Dezember wies der Staatssekretär des Vatikans Eugenio Pacelli tatsächlich den italienischen Botschafter beim Heiligen Stuhl Bonifacio Pignatti darauf hin, dass „der Heilige Vater den Wunsch hege, in seiner Ansprache eine gewisse Hoffnung auf Frieden ankündigen zu können, und den Regierungschef […] bitten wolle, ihm dies zuzugestehen“.5 3 „Stenografisch aufgezeichneter Text der Ansprache des Heiligen Vaters an die katholischen Krankenschwestern vom 27. August 1935 (auf Blatt 3 die Korrekturen mit Bleistift, von denen viele vom Heiligen Vater selbst gebilligt wurden)“; Segretaria di Stato, Sezioni per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico, Rom (künftig S.RR.SS.), Congregazione per gli Affari Ecclesiastici Straordinari (künftig AA.EE.SS.), Italia, Pos. 967, Vol. III, fol. 9r-11r. Die überarbeitete und entschärfte offizielle Version der Ansprache wurde im „Osservatore Romano“ vom 29. August 1935 veröffentlicht. Eine synoptische Edition der beiden Versionen in: Lucia Ceci, La guerra di Etiopia fuori dall’Italia: le posizioni dei vescovi cattolici europei, in: Riccardo Bottoni (Hg.), L’Impero fascista. Italia ed Etiopia (1935–1941), Bologna 2008, 117–143. 4 Vgl. Ceci, Papa (wie Anm. 1), 43–54. 5 Audienz vom 13. Dezember 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, Pos. 430b, Fasc. 362, fol. 152r.
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Die diplomatische Etikette setzte der Schärfe der Wortwahl sicherlich enge Grenzen, die Antwort des italienischen Botschafters an den Staatssekretär fiel dennoch wahrhaft einschüchternd aus: Ein Aufruf des Papstes zum Waffenstillstand „würde von der faschistischen Regierung und dem Land als ein Akt der Unfreundlichkeit angesehen werden“6. Pacelli verstand die Botschaft und versicherte, ohne vorher mit dem Papst gesprochen zu haben, dem Botschafter: „Dann wird also nichts unternommen“.7 Am folgenden Tag hatte Pater Pietro Tacchi Venturi ein Treffen mit Mussolini. Er sollte sich zum Sprecher des letzten Überredungsversuchs seitens des Papstes in Bezug auf den Laval-HoarePakt machen. Aber zuerst sollte der Jesuit – dies war ihm am Morgen von Pius XI. aufgetragen worden – den Regierungschef bezüglich der Ansprache des 16. Dezember beruhigen. „Der über das Gespräch des Botschafters mit dem Kardinalstaatssekretär unterrichtete Heilige Vater – teilte Tacchi Venturi Mussolini mit – werde im nächsten Konsistorium den italienisch-äthiopischen Konflikt überhaupt nicht ansprechen und sich diesbezüglich verhalten, als wenn es ihn nicht gäbe: tamquam non esset.“8 Pius XI. hielt Wort und bezog sich weder in seiner Konsistorialansprache vom 16. Dezember noch in seiner Weihnachtsansprache konkret auf den italienisch-äthiopischen Krieg. Anfang Dezember, also neunzig Tage nach Beginn der am 3. Oktober 1935 ohne formelle Kriegserklärung angelaufenen Militäroperationen in Äthiopien, fragte sich der Untersekretär der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten, Domenico Tardini, in seinen Aufzeichnungen zum italienisch-äthiopischen Konflikt: „Soll nun der Papst sprechen? Ja oder nein? Ich möchte eine Unterscheidung treffen: In der Öffentlichkeit vorläufig nein. Aber im Verborgenen ja, sofort, ganz klar und deutlich, allen gegenüber. Sprechen und Handeln [...] Auch damit man sehen möge, dass, wenn der Heilige Stuhl nicht in der Öffentlichkeit gesprochen hat, dies nur geschah, um nicht mit Worten sein Frieden stiftendes Handeln zu behindern. Wenn er spräche, würde er sich vielleicht Kritik ersparen, aber sein gutes Werk ganz sicher lähmen.“9 6 So Bonifacio Pignatti Morano di Custoza im Bericht an Mussolini vom 14. Dezember 1935, in: I Documenti diplomatici italiani. Ottava Serie: 1935–1939, Bd. 2, Rom 1991, 836f. 7 Ebd., 837. 8 Tacchi Venturi an Pius XI., Bericht über die Audienz bei S.E. Mussolini am Samstagnachmittag, 14. Dezember 1935, um 17.30 Uhr in Palazzo Venezia; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. II, fol. 260r-262v. 9 Das Dokument mit dem Titel „Vorhersagen und Meinungen des Msgr. Tardini zum Konflikt zwischen Italien und Äthiopien“ in: S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. Ibis, fol. 1r-71r, wurde vollständig veröffentlicht in: Lucia Ceci, „Il Fascismo manda l’Italia in rovina“. Le note inedite di monsignor Domenico Tardini (23 settembre-13 dicembre
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Tardini stellte die Frage nach dem Schweigen des Papstes so nachdrücklich, weil die augenfällige Mobilisierung des italienischen Klerus, der italienischen Bischöfe und vieler italienischer Kardinäle schon von den obersten Führungskräften des Vatikans her das Bild einer totalen Anpassung des Katholizismus an die Linie des Eroberungskriegs der Regierung Mussolini bot. Die breite Unterstützung, die die Katholiken dem Regime anlässlich des italienisch-äthiopischen Konflikts entgegenbrachten, fällt ins Auge wie nur selten ein Ereignis im politischen Geschehen Italiens. In zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen sprachen die Bischöfe den Aktionen der italienischen Regierung in Äthiopien ihre überaus glühende Zustimmung aus. Hohe kirchliche Würdenträger segneten die nach Ostafrika aufbrechenden Truppen und Schiffe. Der Vorstand der italienischen Katholischen Aktion trat für eine offene Unterstützung des Krieges ein. Ausgesprochen politische Würdigungen erfuhr die Regierung seitens der verschiedenen Zweige der katholischen Jugend. Die Priestergruppe „Italia e Fede“, die eine zentrale Rolle in der Orientierung des Provinzklerus spielte, bekräftigte mit Nachdruck ihre Unterstützung der kolonialen Ziele und der Autarkiepolitik des Duce. Die Missionspresse, die Andachtsdrucke, das katholische Kino und das katholische Theater trugen dazu bei, unter den Volksmassen die Kolonialbegeisterung und eine Vorstellung vom Krieg als katholischem Missionskreuzzug in ein häretisches Land zu verbreiten. Die durch die faschistische Presse dick aufgetragene Vorstellung einer ganz auf die Linie der Regimepolitik in Äthiopien eingeschwenkten katholischen Welt Italiens ging auch international durch die Zeitungen. Die in Italien oder am Heiligen Stuhl ansässigen Diplomaten erstatteten den wichtigsten europäischen Regierungen darüber Meldung. In den Berichten des Völkerbundes wurde auf diese Vorstellung hingewiesen, die Antifaschisten hoben sie hervor, aber auch die obersten Führungskräfte des Vatikans, die dadurch mehrmals in Verlegenheit gebracht wurden, waren sich über diese Vorstellung völlig im Klaren. Vorherrschend war ganz sicher eine oft vollmundig vorgebrachte, rhetorikdurchtränkte und auf das platte Niveau der Regierungspropaganda reduzierte Unterstützung; eine gründlichere Untersuchung führt jedoch zu dem Ergebnis, dass es dabei verschiedene Stadien gab. Das Verhalten während der politischdiplomatischen Verhandlungen war vielgestaltig und geprägt von Vorsicht, Stillschweigen und Zustimmung. Der allgemeinen Mobilmachung vom 2. Oktober 1935 wurde scharenweise Folge geleistet. Auslöser für die fast totale Zustimmung der Katholiken zum afrikanischen Krieg war jedoch das Inkrafttreten der Sanktionen, die Italien wegen des Angriffs auf Äthiopien vom Völkerbund 1935), in: Rivista storica italiana (2008), 313–367 (Hervorhebung im Original). Für die Aufzeichnungen vom 3. Dezember 1935 vgl. 342–344.
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auferlegt worden waren (18. November 1935). Eine Zustimmung, die ihre größte Emphase in der Aktion „Gold fürs Vaterland“ erreichte, die in der „Giornata della fede“, dem Tag des Traurings, gipfelte (18. Dezember 1935). Eine Zustimmung, die überdeutlich sichtbar wurde anlässlich der Proklamation des Imperiums (9. Mai 1936), um allmählich abzuflachen, als der „Kreuzzug“ zur Verteidigung der im Spanischen Bürgerkrieg bedrohten Christenheit die internationale Aufmerksamkeit von Äthiopien ablenkte.10 Seit der Mobilisierung gegen die Sanktionen, die den Eroberungskrieg in Äthiopien mystifizierte und ihn so in einen Verteidigungskrieg Italiens gegen den gemeinsamen Angriff der plutokratischen Demokratien wandelte, war auf jeden Fall die Zustimmung der Katholiken zum Krieg absolut. Vielen schien dies die Gelegenheit, die Loyalität der Katholiken zum durch die Lateranverträge mit der Kirche Roms versöhnten Vaterland und zum faschistischen Duce zu bekunden, der als Initiator dieser Versöhnung galt. Der Triumph der kolonialimperialistischen Rhetorik, ihrer Register und ihrer Slogans, macht es vielleicht unmöglich, bis ins Letzte zu verstehen, inwiefern die an diesem kritischen Wendepunkt vom Episkopat angeführten Klischees dem überladenen, schwülstigen Sprachgebrauch der Zeit entstammten und inwiefern sie vielmehr tief verinnerlicht waren. Es muss jedenfalls festgestellt werden, dass die bestehende Bindung zwischen dem italienischen Katholizismus und dem Faschismus nicht rein taktischer Natur war, das Ergebnis einer gegenseitigen Instrumentalisierung, sondern tiefer und substantieller. Der Obrigkeitskult, das Misstrauen gegenüber den bürgerlichen Freiheiten, das Bedürfnis nach Disziplin, das Misstrauen vor jeglicher Art von Diskussion bildeten die Säulen eines Einklangs, der durch das Gewahrwerden der Existenz gemeinsamer Gegner wie Freimaurerei, Anglikanismus, Liberalismus und Kommunismus verstärkt wurde.11 Man kann auch nicht vorbringen, dass die italienischen Bischöfe auf diesen Gebieten durch die totalitäre Konzeption des Regimes geprägt worden wären. Keiner der Bischöfe, die 1935 im Amt waren, war nach 1900 geboren; der gesamte italienische Episkopat hatte demnach seine Ausbildung vor dem Aufstieg Mussolinis abgeschlossen. Der Bildungsweg und die Wahl der italienischen Bischöfe krankten eher an der kulturellen Verarmung und am allgemeinen Klima der Beunruhigung, die durch die antimodernistische Repression unter dem Pontifikat Pius’ X. entstanden waren. Auch wenn sich das Klima innerhalb der Kirche mit Benedikt XV. im Vergleich zum Vorgänger änderte, war die Kontinuität einer „pianischen“ Kirchenleitung gewährleistet durch die ununterbrochene Permanenz einiger Persönlichkeiten in 10 Vgl. Ceci, Papa (wie Anm. 1), 67–108. 11 Vgl. Giovanni Miccoli, Tra mito della cristianità e secolarizzazione. Studi sul rapporto chiesa-società nell’età contemporanea, Casale Monferrato 1985, 126.
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der Kurie, die sich in besonderem Maße an den Direktiven von Pius X. orientierten und die viele Jahre lang leitende Ämter in Schlüsselorganen für bischöfliche Angelegenheiten inne hatten: Erwähnt seien Gaetano Kardinal De Lai, der die Konsistorialkongregation bis 1928 leitete und Rafael Kardinal Merry del Val, der bis 1930 Sekretär des Sanctum Officium war.12 Die Mobilisierung für die Aktion „Gold fürs Vaterland“ fand zu einem Zeitpunkt statt, in dem weite Teile des italienischen Katholizismus von einer besonders theatralischen und überschwänglichen Begeisterung erfasst waren. Bei dieser spektakulären Aktion der Propaganda und der Mobilisierung gegen die vom Völkerbund verhängten „schändlichen Sanktionen“13 übergaben Bischöfe und Kardinäle in ganz Italien der in Waffen stehenden Nation und den faschistischen Parteifunktionären Bischofsketten, Ringe, wertvolle Gegenstände und Familienerbstücke. Und sie forderten die Gläubigen, auch die Ärmsten, dazu auf, es ihnen gleich zu tun. Der Erzbischof von Monreale ging sogar so weit, dass er seinen Priestern befahl, die Votivgaben, die die Gläubigen den Wallfahrtsstätten für erhaltene Gnaden dargebracht hatten, einschmelzen zu lassen, was sogar im fernen Venezuela Proteste auslöste. In der Provinz Grosseto bat ein Pfarrer um Erlaubnis, die Kirchenglocken für Vaterland und Duce einschmelzen lassen zu dürfen. Predigten, Hirtenbriefe und Diözesanblätter boten der kollektiven Vorstellungskraft eine missionarische Deutung des Eroberungskriegs. Dabei erzählten sie, dass das faschistische Imperium der Verbreitung des Römischen Katholizismus in Afrika die Tore öffnen werde.14 Der kriegstreibenden und klerikal-imperialen Begeisterung der italienischen Katholiken stand die öffentlich vom Heiligen Stuhl vertretene Politik nicht fern. Nach dem diplomatischen Zwischenfall, der sich zwischen dem Vatikan und der Regierung Mussolini Ende August 1935 aufgrund der von Pius XI. am 27. August geäußerten Worte der Missbilligung ereignet hatte, gab es seitens des Papstes keine weiteren öffentlichen Stellungnahmen, die den Angriffskrieg Italiens verurteilten. Das Schweigen wurde vom Episkopat im Wesentlichen als eine Art Bestätigung der Kolonialpolitik des Regimes interpretiert. Die italienischen Bischöfe vertraten eine Haltung breiten Einverständnisses in Bezug auf die Direktiven des Heiligen Stuhls.15 Demzufolge waren sie zwar einerseits aufgrund 12 Vgl. Giuseppe Batelli, Santa Sede e vescovi nello Stato unitario. Dal secondo Ottocento ai primi anni della Repubblica, in: Giorgio Chittolini/Giovanni Miccolini (Hg.), Storia d’Italia, Annali 9, La Chiesa e il potere politico dal Medioevo all’età contemporanea, Turin 1986, 809–854. 13 Vgl. Petra Terhoeven, Liebespfand fürs Vaterland. Krieg, Geschlecht und faschistische Nation in der italienischen Gold- und Eheringsammlung 1935/1936, Tübingen 2003. 14 Vgl. Ceci, Papa (wie Anm. 1), 94–107. 15 Vgl. Giacomo Martina, I Cattolici di fronte al fascismo, in: Rassegna di teologia 17 (1976), 175–194.
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ihrer kulturellen Armut nicht in der Lage, die Gemeinplätze der faschistischen Propaganda in Frage zu stellen und ihnen entgegenzutreten, andererseits war es jedoch undenkbar, dass sie Positionen vertreten könnten, die nach ihrer Einschätzung im Gegensatz zu denen des Papstes stünden. Indem er nicht öffentlich in einer anderen Richtung als der vom hohen Klerus eingeschlagenen vorging, gab der Papst dem Episkopat, den Priestern, den Gläubigen sowie der nationalen und internationalen öffentlichen Meinung zu verstehen, dass der Heilige Stuhl den afrikanischen Krieg und die Haltung der katholischen Welt Italiens im Wesentlichen gutheiße. Dies schien im Übrigen bestätigt durch die Meldungen des „Osservatore Romano“, der während der gesamten Dauer des Konflikts eine Politik der Legitimierung der imperialistischen Unternehmungen des faschistischen Italien betrieb, wobei er es allerdings vermied, besonders leidenschaftliche Beiträge von Bischöfen wiederzugeben; außerdem erhielten die „Acta diurna“ des Guido Gonella genügend Raum, um gelegentlich einige Vorbehalte gegenüber der Pressekampagne der Regierung zu äußern. Die mit dem Kolonialimperium und mit dem Faschismus sympathisierenden Erklärungen der italienischen Katholiken lösten in vielen Teilen der Welt Reaktionen aus. Aus den verschiedensten Ländern der Welt gelangten zum Vatikan Dutzende Briefe und Telegramme einzelner Gläubiger, katholischer und protestantischer Vereine sowie katholischer Parteien und forderten dazu auf, sich von den kolonialistischen und kriegstreibenden Äußerungen der italienischen Bischöfe zu distanzieren.16 Zu alldem kamen die von der englischen Regierung im Vatikan vorgebrachten Proteste gegen die antibritischen Exzesse, die in vielen durch die Presse ausführlich veröffentlichten Beiträgen italienischer Bischöfe zum Ausdruck kamen.17 Dem Apostolischen Nuntius in Paris Luigi Maglione wurden die Proteste des Kaisers von Äthiopien wegen einer Ansprache des Erzbischofs von Brindisi überreicht, in deren Verlauf nach Zeitungsberichten die Gläubigen dazu aufgefordert worden waren, Gold für das Vaterland zu geben, „um die Zivilisation dorthin zu bringen, wo bislang Sklaverei und Barbarei herrschen“.18 Der Nuntius berichtete Pacelli, dass er auf seinen Versuch, zwischen dem Heiligen Stuhl und den Initiativen der italienischen Bischöfe zu differenzieren, die Antwort erhielt, dass „in Äthiopien, wo man die katholische Disziplin kennt, solche Äu16 Vgl. Ceci, Papa (wie Anm. 1), 144–160. 17 Montgomery an Ottaviani, 26. November 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. V, fol. 180r–181r, ein unpaginiertes Blatt zwischen fol. 186v und 187r, 29. November 1935. 18 Maglione an Pacelli, 28. November 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. V, fol. 189r.
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ßerungen italienischer Bischöfe, die eine Abneigung gegen den Katholizismus und Feindseligkeit gegen die Missionen verursachen, auf den Heiligen Stuhl zurückgeführt werden“.19 Nicht weniger peinlich für den Heiligen Stuhl war die Behauptung nationalsozialistischer Zeitungen in Deutschland, dass die zahlreichen vom hohen italienischen Klerus abgegebenen Erklärungen, die, wie man sagte, ohne die Billigung des Vatikans undenkbar gewesen wären, ein Beweis dafür seien, dass der Heilige Stuhl es dem italienischen Klerus überlassen habe, dem faschistischen Krieg die völlige Zustimmung auszusprechen, eine Zustimmung, die der Papst aus politischer Klugheit nicht äußern könne.20
Öffentliches Schweigen und vertrauliche Wege: das Staatssekretariat, die Nuntien und der Jesuit In diesen Kontext gehört die Frage nach dem Schweigen des Papstes, die Tardini in seinen Aufzeichnungen stellte, wobei er den Klerus und die italienischen Bischöfe als „tumultuarisch, exaltiert, kriegshetzerisch und unausgeglichen“ beurteilte. In diesen Kontext gehört auch die Sorge über die Auswirkungen der mit Italien und dem Kolonialimperium sympathisierenden Äußerungen des Episkopats auf das internationale Ansehen des Heiligen Stuhls, der beschuldigt wurde, „mit dem Faschismus gemeinsame Sache zu machen“.21 Die von den obersten Führungskräften des Vatikans getroffene Entscheidung war jedenfalls die, öffentlich eine Politik des Schweigens zu verfolgen – „tamquam non esset“ – und sich auf diplomatische Kanäle und auf vertrauliche Verhandlungen zu konzentrieren. Die bedeutendsten Aktionszentren auf internationaler Ebene waren die Nuntiatur in Paris, die entscheidend war, um die Stimmungen Lavals zu sondieren mit dem Ziel, eine französische Vermittlung zwischen Italien und Großbritannien anzustoßen; die Nuntiatur in Bern, um schnellstmöglich den Kurs des Völkerbunds in Erfahrung zu bringen; die Nuntiaturen der lateinamerika19 Ebd. 20 Pressespiegel vom 2. November 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. III, fol. 91r. Dieser Zusammenhang wurde auch von Waldemar Gurian hervorgehoben, der in seinem Schreiben vom 6. Dezember 1935 darauf aufmerksam machte, wie auf einmal in der nationalsozialistischen Presse Loblieder auf die staatstreuen italienischen Bischöfe angestimmt wurden, und betonte, dass ihr Verhalten in Balkenüberschriften gelobt wurde, in der Absicht, die italienischen Bischöfe als Vorbild für die deutschen hinzustellen; vgl. Heinz Hürten (Hg.), Deutsche Briefe. Ein Blatt der katholischen Emigration (1934– 1938), Bd. 1, Mainz 1969, 696. 21 Vorhersagen, (wie Anm. 9), 344f.
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nischen Länder wegen der Bedeutung, die sie in der italienischen Außenpolitik seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erlangt hatten. Der Erzbischof von Westminster und katholische Primas von England und Wales, Arthur Hinsley, war dagegen die Schlüsselfigur für Großbritannien. Er war für den Heiligen Stuhl weniger auf der Ebene der diplomatischen Beziehungen von Bedeutung, in denen er nur eine marginale Rolle spielte, als wegen des Einflusses, den die den Krieg stark ablehnende öffentliche Meinung dieses Landes auf internationaler Ebene ausübte. Die neu entdeckten Dokumente haben es schließlich ermöglicht, einen Versuch des Vatikans ans Licht zu bringen, mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt, Kontakt aufzunehmen, um einen gemeinsamen Vermittlungsversuch zwischen Italien und Großbritannien anzugehen.22 Bereits drei Tage nach Beginn der militärischen Operationen setzte das Staatssekretariat die Wünsche des Duce hinsichtlich einer Einbeziehung der Nuntien und Apostolischen Delegaten um, wonach diese in den Regierungskreisen der verschiedenen Länder aktiv werden sollten, um den italienischen Gesichtspunkt besser zu vermitteln. Zu dieser Zielvorgabe hatte Mussolini in den Gesprächen mit Tacchi Venturi seit September gedrängt. Die Treffen zwischen dem Jesuiten und dem Regierungschef waren in den Krisen- und Kriegsmonaten eine Konstante: Zehn Treffen in 19 Wochen, das heißt, es gab durchschnittlich ein Treffen alle zehn bis zwölf Tage. Der Ablauf war seit langem stets der gleiche: Tacchi Venturi kam in den Vatikan, der Papst diktierte ihm die wesentlichen Punkte der Mitteilung, Tacchi Venturi trug Mussolini den Gedanken des Papstes vor, wobei er im Gespräch gelegentlich einige persönliche Bemerkungen hinzufügte, schrieb sich die Antwort Mussolinis auf und brachte sie je nach Uhrzeit und Dringlichkeit noch am selben Tag oder an den unmittelbar darauf folgenden Tagen in den Vatikan. Pius XI. betraute Tacchi Venturi mit etlichen Botschaften an Mussolini. Vor Ausbruch des Krieges ließ der Papst dem Regierungschef einen ausgesprochen scharfen, wenn auch späten Appell zukommen, damit er auf die Invasion in Äthiopien verzichte. Dieser Appell gipfelte in der Feststellung, dass der Krieg „Italien in den Stand der Todsünde“ versetzen werde,23 ein Mahnruf, der die Definition des Krieges als ungerecht aufs Äußerste ausreizte. Spuren derartiger Definitionen sind in der päpstlichen Lehre des 19. und 20. Jahrhunderts nicht leicht aufzuspüren. Der Jesuitenpater unterbreitete Mussolini in anderen Fällen französische Verhandlungsvorschläge, die im Staatssekretariat durch den Apostolischen Nuntius in Paris Luigi Maglione, der mit Pierre Laval in Kon22 Vgl. Ceci, Papa (wie Anm. 1), 144–160. 23 „Kontakte mit Mussolini über P. Tacchi-Venturi“, „P. T. vom Heiligen Vater am 24. September 1935 diktierte Notizen“; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. I, fol. 165r.
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takt stand, und durch den Botschafter Frankreichs am Heiligen Stuhl, François Charles-Roux, eintrafen. Wenn in diesen Unterredungen die konkreten Fragen abgearbeitet waren, versäumte Mussolini es jedoch nicht, all jene Saiten anzuschlagen, von denen er genau wusste, dass sie am anderen Tiberufer, das heißt im Vatikan, größte Besorgnis erregen konnten. Mal beschwor er eine riesige Verschwörung, die die Dritte Internationale und die Liberalen gegen Italien angezettelt hätten, um das Regime und mit ihm die Kirche zu stürzen,24 ein andermal ließ er Seiner Heiligkeit ausrichten, der wahre Feind der Regierung sei die Freimaurerei, die der Regierung „die vielen in Italien zerschlagenen Logen und die Versöhnung mit der Kirche (nicht) verzeihen“ konnte,25 ein weiteres Mal drohte er, sich Hitler in die Arme zu werfen.26 Zurück zu den Nuntien: Sie sandten auf Anforderung durch das Staatssekretariat detaillierte Berichte über die von den jeweiligen Regierungen in der italienisch-äthiopischen Krise eingenommene Haltung und über die Tendenzen der öffentlichen Meinung zur Position des Papstes. Aufsehen und Empörung erregte in Venezuela die Initiative des Erzbischofs von Monreale, Eugenio Filippi, die Votivgaben des Doms einschmelzen zu lassen, um sie als Barren der italienischen Regierung zu schenken; und die venezolanische Presse ging davon aus, dass eine „aprobación de la Santa Sede“27 vorliege. Um die Position des Vatikans richtig zu stellen, ließ der pflichtbewusste Nuntius Fernando Cento mehrere tausend Broschüren mit dem Titel „Por los fueros de la Verdad. La Santa Sede y el conflicto italo-etiope“ drucken28 und kostenlos im ganzen Land verteilen.29 Der Apostolische Delegat Paul Marella ließ Pius XI. von Tokio aus einen Appell der sechsten Generalkonferenz der Buddhisten in Japan zukommen, worin der Papst gebeten wurde, alles zu unternehmen, um die Feindseligkeiten augenblicklich zu stoppen und sofort die Verhandlungen aufzunehmen.30
24 Tacchi Venturi, „Bericht über die Audienz bei S.E. Mussolini am Samstagnachmittag, 14. Dezember 1935, um 17.30 Uhr in Palazzo Venezia“; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. II, fol. 260r-262v. 25 Tacchi Venturi, „Bericht über die Audienz bei S.E. dem Regierungschef am 3. Januar 1936“; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. II, fol. 343r-346r. 26 Tacchi Venturi, Audienz beim Regierungschef, 24. Oktober 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. II, fol. 80r–v. 27 La campaña del arzobispo Filippi, in: „El Heraldo“, 21. November 1935. 28 Por los fueros de la Verdad. La Santa Sede y el conflicto italo-etiope, Caracas 1935. 29 Cento an Pacelli, 12. Dezember 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. V. 30 Marella an Pacelli, 13. November 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. V, fol. 43. Im Anhang das Telegramm der sechsten Generalkonferenz der Buddhisten in Japan, 10. November 1935; ebd., fol. 42.
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In einigen Fällen war das vom Heiligen Stuhl durch seine Delegaten in der Welt ausgeführte Vorgehen gleichbedeutend mit einer offenen Flankierung der italienischen Politik. Im Dezember 1935 protestierte die Regierung Roms beim Staatssekretariat, weil der Apostolische Delegat in Ottawa, Andrea Cassulo, keine Anweisung erhalten hatte, mit dem örtlichen Königlichen Konsul in Kontakt zu bleiben und „vor Ort nach der am Heiligen Stuhl gewünschten Vorgehensweise zu agieren“.31 Im Auftrag des Staatssekretariats schrieb Giuseppe Pizzardo am 26. Dezember 1935 an Cassulo, um ihn zu drängen, sich in den kanadischen Kreisen für die Thesen Italiens auszusprechen und die italienisch-äthiopische Frage in den Rahmen einer epochalen Auseinandersetzung zu stellen, die von faschismusfeindlichen Kräften (Kommunismus, Freimaurerei) organisiert sei, die durch ihren Kampf gegen das katholische Italien die Römische Kirche und den Heiligen Stuhl treffen wollten.32 Einer so klaren Aufforderung des Staatssekretariats gegenüber blieb dem armen Cassulo nichts anderes übrig, als die Weisungen des Vatikans zu befolgen. Am 2. Januar 1936 schrieb er an Pizzardo, dass die öffentliche Meinung in Kanada gegen den Krieg sei, und den Sanktionen gegen Italien in der Hoffnung zugestimmt habe, dass sie die Verluste von Menschenleben eindämmen könnten. Der Apostolische Delegat versicherte, er habe auf jeden Fall „den Gedanken des Heiligen Stuhls wohl verstanden“ und werde sein Bestes tun, „ihn auch anderen verständlich zu machen“.33 Dem italienischen Generalkonsul habe er daher geantwortet, „dass der Gedanke des Hl. Stuhls wohl bekannt sei, wie auch die Gefühle wohl bekannt seien, die der Nation gegenüber gehegt werden, die in gutem Verhältnis zur Kirche, deren Tochter sie ist, steht und bleiben möchte“. Einige Zeit später dankte Pizzardo für „solch großen Scharfblick“.34 Die Nuntien wurden aufgefordert, nach solchen Vorgaben zu handeln; der Mittelpunkt der diplomatischen Arbeit aber lag direkt bei den obersten Führungskräften des Vatikans. Wochenlang engagierte sich das Staatssekretariat in einem streng vertraulichen Vermittlungsversuch zwischen Frankreich und Italien, der nach der Zuspitzung der englisch-italienischen Beziehungskrise unabdingbar erschien. Über den gesamten Oktober und November erstreckten sich die Verhandlungen im Dreieck zwischen Vatikan, Palazzo Venezia und Quai 31„Appunto riservatissimo“, undatiert, aber Dezember 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. V, fol. 128r. 32 Pizzardo an Cassulo, 26. Dezember 1935; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. V, fol. 129r–131r. 33 Cassulo an Pizzardo, 2. Januar 1936; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. V, fol. 132r-134r. 34 Pizzardo an Cassulo, 25. Februar 1936; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 967, vol. V, fol. 135r (Hervorhebung im Original).
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d’Orsay, wobei die Staatschefs über Tacchi Venturi, Maglione und CharlesRouz miteinander kommunizierten. Zur selben Zeit richteten sich die Bemühungen des Vatikans auch auf die Vereinigten Staaten, ein Land, in dem der italienische Krieg gegen Äthiopien eine zunehmende Feindseligkeit ausgelöst hatte. Ausgehend von Harlem hatte die Stadt New York Momente der Spannung zwischen Italoamerikanern und der afroamerikanischen Gemeinschaft erlebt, für die die Verteidigung Äthiopiens zum Symbol eines aufkommenden Rassenstolzes und eine wichtige Etappe in ihrem politischen Reifeprozess wurde.35 Auf Anraten des Delegats für die Außerordentliche Verwaltung der Güter des Apostolischen Stuhls, Bernardino Nogara, erschloss das Staatssekretariat zwischen Oktober und Dezember 1935 vertrauliche Kanäle zu Präsident Roosevelt für ein gemeinsames Werk der Vermittlung zwischen Italien und Großbritannien. Die in diesen Wochen zwischen dem Vatikan und Washington geknüpften Kontakte führten zu keinem konkreten Resultat in Bezug auf den gerade stattfindenden Krieg, auch weil sie von den Tatsachen überholt wurden, sie waren aber voller zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten für die internationale Tätigkeit des Heiligen Stuhls. Im Oktober 1936 reiste Pacelli in die Vereinigten Staaten und besuchte die wichtigsten Städte der Ostküste; die öffentliche Meinung verfolgte dieses Ereignis mit großem Interesse. Am 5. November 1936 traf sich der Staatssekretär des Vatikans mit Roosevelt. Bei der Gelegenheit wurden die Voraussetzungen geschaffen für eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und dem Heiligen Stuhl, die der amerikanische Senat 1867 abgebrochen hatte. Die „Special Relationship“ zwischen dem Vatikan und dem Weißen Haus, die Ende 1939 offiziell bestätigt wurde, trug nach Pearl Harbor und der Schließung der amerikanischen Botschaft in Rom (Dezember 1941) erheblich zur Neupositionierung des Apostolischen Stuhls in der internationalen Politik und zur Bestimmung der Rolle bei, die er nach dem Fall des faschistischen Regimes spielen sollte.
Der Vatikan und die Rassengesetzgebung in den Kolonien Mit den militärischen Erfolgen Italiens im Februar und März 1936 war der Krieg praktisch gewonnen, und nichts konnte Badoglio daran hindern, auf Addis Abeba vorzustoßen, das er am 5. März 1936 erreichte. Vier Tage später ver-
35 Nadia Venturini, Neri e italiani a Harlem. Gli anni Trenta e la guerra d’Etiopia, Rom 1990; Joseph E. Harris, African-American Reactions to War in Ethiopia, 1936–1941, Baton Rouge 1994.
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kündete Mussolini Italien und der Welt „die Wiedererstehung des Imperiums auf den schicksalsträchtigen Hügeln von Rom“.36 Obgleich der Ausbruch der Rheinlandkrise nach der von Hitler angeordneten Besetzung der entmilitarisierten Zone die Achse der bis dahin auf Italien fokussierten internationalen Politik Richtung Deutschland verschob, verfolgte der Heilige Stuhl weiterhin die italienisch-äthiopische Angelegenheit. Im März 1936 versuchte er, den belgischen Kapuzinerpater Théobald Gulleghen als Berichterstatter und nicht-offiziellen Sprecher des Vatikans am äthiopischen Kaiserhof einzuführen – ein Unterfangen, das lange vorbereitet wurde, aber nach den militärischen Erfolgen Italiens scheiterte.37 Die letzte Intervention des Staatssekretariats in der italienisch-äthiopischen Angelegenheit fiel in die Verhandlungen um die Abdankung des Kaisers Haile Sellassie, der seit Mai 1936 mit seiner Familie in der kleinen englischen Stadt Bath im Exil lebte. Zwischen Dezember 1936 und September 1937 wurde die Angelegenheit weiter vorangetrieben, Hauptakteure waren unter anderem Pacelli, der von Haile Sellassie entsandte französische Vermittler Louis Blaise de Sibour sowie der Erzbischof von Westminster, Arthur Kardinal Hinsley. Aber auch diese Initiative blieb erfolglos.38 Die Vermittlungstätigkeit des Staatssekretariats lief einige Wochen lang gleichzeitig mit den zwischen der italienischen Regierung und dem Heiligen Stuhl laufenden Beratungen über die Einführung der ersten italienischen Gesetzgebung zur Rassenfrage. Um auf die Entstehung der Rassenmischung zu reagieren und um die Würde der Beherrscher zu schützen, wurde nämlich das Dekret „Lessona“ veröffentlicht, das als Gesetz zum „Madamato“ bekannt wurde. Das am 19. April 1937 erlassene Gesetz bestand aus einem einzigen Paragrafen, der ein bis fünf Jahre Haft vorsah für „den italienischen Bürger, der auf dem Gebiet des Königreichs oder in den Kolonien eine Beziehung ehelicher Art mit einem Untertan von Italienisch-Ostafrika oder einem diesem Gleichgestellten unterhält“.39 Der Begriff Rasse taucht im Gesetzestext nicht auf; „er lag ihm jedoch zugrunde, denn er stellte das Rechtsgut dar, das durch das Gesetz geschützt werden sollte“.40 Zum Krieg gehörte der Mythos leichter sexueller Eroberungen durch den italienischen Mann, ein Mythos, der in verniedlichender Form durch das Lied „Faccetta nera“ (Kleines schwarzes Gesicht) sowie durch 36 37 38 39
Benito Mussolini, Opera omnia, Bd. 27, Florenz 1959, 268f. Vgl. Ceci, Papa (wie Anm. 1), 157. Ebd., 192–197. Die als Königliches Gesetzesdekret Nr. 880 erlassene Anordnung wurde am 24. Juni 1937 im Amtsblatt des Königreichs Italien veröffentlicht und ohne wesentliche Änderungen am 30. Dezember 1937 in Gesetz Nr. 2590 umgewandelt. 40 Olindo de Napoli, La prova della razza. Cultura giuridica e razzismo negli anni Trenta, Florenz 2009, 65.
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den blühenden Handel mit Postkarten und Fotos nackter afrikanischer Frauen propagiert wurde. Nach dem Ende des Eroberungskriegs bestand das Ziel nun darin, ein von italienischen Familien bevölkertes Kolonialimperium zu schaffen und die sexuellen Beziehungen zwischen den Rassen in den Bereich der Prostitution zu verbannen. Besonders wichtig war es Mussolini, die Entstehung einer Generation von Mischlingen zu vermeiden, deren alleinige Existenz schon als eine Beleidigung der Würde der „Herrscherrasse“ und als eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung angesehen wurde. Um die Rassentrennung voranzubringen, griff man auf eine Vielzahl von Instrumenten zurück: Propagandakampagnen, Repressalien, Stadtplanung, Schulpolitik, Gouverneursdekrete, Vorschriften, Dienstanweisungen, Staatsgesetze; all dies auf Veranlassung des Duce persönlich, der beharrlich auch die kleinsten Details der Beziehungen zwischen den Rassen überwachte und ausgestalten wollte.41 Der Mentalität der Missionare dagegen war der biologische Rassismus gegenüber den Schwarzen im Großen und Ganzen fremd. Ihr Denken bewegte sich eher in den Klischees einer nach der Terminologie des Glaubens und der Kultur kodifizierten Unterlegenheit, die jedoch die Möglichkeit der Bekehrung und damit der vollkommenen Erlösung vorsah. Im 19. Jahrhundert hatten Missionare in ihren Veröffentlichungen und Quellen nicht selten Afrika als eine ungebildete und barbarische Welt dargestellt, sie hatten aber Missionierungspläne entwickelt, die das doppelte und komplementäre Ziel hatten, sowohl den Glauben Christi als auch die Kultur zu bringen, nicht zuletzt durch das von Einheimischen ausgeübte Apostolat und die Ausbildung eines einheimischen Klerus. In einigen Fällen hatte die argwöhnische Haltung gegenüber den bürgerlichen, städtischen und industriellen Modellen der modernen Gesellschaft sogar dazu geführt, dass die schlichtere und moralischere Wesensart der afrikanischen Bevölkerung gerühmt wurde, gerade weil sie den gebräuchlichen Kommunikationsmitteln der modernen Zivilisation so fern war.42 Auf der Ebene des Lehramts findet die Tatsache, dass dem päpstlichen Gedankengut rassistische Ansichten gegenüber den schwarzen Völkern fremd sind, mehr als eine Bestätigung in der besonderen Aufmerksamkeit, die Benedikt XV. und Pius XI. der Ausbildung eines autochthonen Klerus in den Missionsgebieten widmeten. Besonders die Möglichkeit, dass ein Staat zu „eugenischen“ Zwecken Ehen, aus denen eine „minderwertige Nachkommenschaft“ zu erwar41 Giulia Barrera, Sessualità e segregazione nelle terre dell’Impero, in: L’Impero fascista (wie Anm. 3), 393–414. 42 Giuseppe Battelli, Daniele Comboni e la sua „immagine“ dell’Africa, in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft – Nouvelle Revue de science missionarie 47 (1991), 31–48; Lucia Ceci, Il vessillo e la croce. Colonialismo, missioni cattoliche e islam in Somalia (1903– 1924), Rom 2006.
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ten sei, verbieten könne, hatte Pius XI. in seiner Enzyklika „Casti Connubii“ vom 31. Dezember 1930 mit Nachdruck zurückgewiesen. Er schloss: „Was nun die Obrigkeit angeht, so hat sie über die körperlichen Organe ihrer Untertanen keine direkte Gewalt.“43 In der Missionspraxis waren die Mischlinge nicht etwa Gegenstand der Verachtung, sondern vielmehr der Anteilnahme. In Eritrea, wo die Rassenmischung de facto stärker verbreitet war, wurden zum Beispiel von Kapuzinermissionaren mehrere Einrichtungen in Asmara, Keren und Saganeiti gegründet, um Mischlingskinder aufzunehmen, die als uneheliche Kinder oft von beiden Elternteilen verlassen worden waren. Man wollte ihnen nicht nur Schutz bieten, sondern sie auch als italienische Staatsbürger in die Kolonialgesellschaft eingliedern und ihnen eine schulische und berufliche Ausbildung garantieren. Weiteres Beispiel: Carlo Salotti, Vorsitzender des Päpstlichen Werkes der Glaubensverbreitung erinnerte etwa anlässlich des im Oktober 1935 begangenen Weltmissionstags daran, dass vor Gott, dem „Vater der ganzen Menschheit“, „kein Unterschied zwischen den Menschen“ besteht, „so verschieden sie in Hautfarbe, Rasse, Wesensart, Sitten und Gebräuchen sein mögen“.44 Dementsprechend waren viele Missionare in den Kolonien fassungslos über das Dekret Lessona. Dieses Gesetz zum „Madamato“ widersprach nicht nur einer seit Jahren betriebenen Politik, es rührte auch an einen Punkt, der für die Moral und für das Konkordat von zentraler Bedeutung war: die Familie. Zudem musste es in der Lebenswirklichkeit der Kolonie, in der hohe Amtsträger – dieselben, die das Gesetz hätten anwenden sollen – schwer anwendbar scheinen, mit einheimischen Frauen zusammenlebten. Die Bedenken der Missionare zum Dekret Lessona erreichten das Staatssekretariat über Eugène Kardinal Tisserant, der seit etwa einem Jahr Sekretär der Kongregation für die Orientalische Kirche war. Seine Ernennung betrachtete die Regierung Mussolini als „unerwünscht“, was sie Pacelli am 24. Juli 1937 über den italienischen Botschafter am Heiligen Stuhl wissen ließ.45 Tisserant selbst ergriff die Initiative und wandte sich am 28. Juli 1937 an den Staatssekretär mit der Frage, ob es möglich sei, beim Ministerium für Italienisch-Afrika Schritte zu unternehmen, um italienischen Staatsbürgern, „die beabsichtigen,
43 Pius XI., Casti conubii (31. Dezember 1930), in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 2, Aachen 1976, 1200–1238, hier 1241. 44 Les Missions catholiques 47 (1935), 514–516. 45 Audienz vom 24. Juli 1936; S.RR.SS., AA.EE.SS., Stati Ecclesiastici, Pos. 430b, Fasc. 363.
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mit ihrem Gewissen ins Reine kommen“, zu gestatten, „die Beziehung zu legalisieren und die Nachkommenschaft zu legitimieren“.46 Das Staatssekretariat bat unverzüglich Nuntius Francesco Borgongini Duca, sich bei der italienischen Regierung einzusetzen, „damit es in bestimmten Fällen Staatsbürgern ermöglicht werde, ihr Gewissen zu beruhigen, ohne der Strenge der Strafmaßnahmen unterworfen zu werden“.47 Innerhalb sehr weniger Tage gelang es dem Nuntius, den Unterstaatssekretär im Innenministerium, Guido Buffarini Guidi, und den Minister für Italienisch-Afrika, Alessandro Lessona, zu treffen. Am 5. August erstattete er Pacelli Bericht. Bei den hierzu überlieferten Aufzeichnungen handelt es sich um sehr interessante Unterlagen, aus denen der in dieser Phase von den obersten Führungskräften des Vatikans eingeschlagene Kurs sehr deutlich hervorgeht. Nach dem, was der Nuntius schriftlich an Pacelli berichtete, stellte der Minister für Italienisch-Afrika klar, dass die Maßnahme das Ziel habe, die „illegitimen“ Verbindungen, also das Konkubinat zwischen Weißen und Schwarzen, zu unterbinden, nicht aber die Ehe, die, wie Lessona sehr wohl wusste, im Konkordat verankert war.48 Darauf sagte Borgongini Duca zum Minister, dass die Regierung „sehr gut getan habe“; und lächelnd fügte er hinzu, dass es im Interesse der Sittlichkeit nützlich wäre, „ein Dekret Lessona zu erlassen, um unter Androhung von Haftstrafe auch das Konkubinat zwischen Weißen zu verbieten“. Nach der Klärung der Frage zum Konkordat legte der Minister dem Nuntius die Forderung der Regierung vor und ersuchte darum, dass die Kirche „künftig ihren Teil dazu beitragen möge, von Verbindungen zwischen Personen unterschiedlicher Rasse abzuraten, um die Geburt von Mischlingen zu vermeiden, die Entartete sind“.49 Borgongini Duca legte Pacelli in demselben Bericht seine eigene Sichtweise dar: Seiner Meinung nach eröffnete sich ein „sozialer Einsatz der Kirche für das Wohl beider Rassen und der Gesellschaft“, den man als „sehr förderlich“ betrachten sollte. Die Tatsache, dass das Dekret delikate rassische und Konkordatsaspekte gleichzeitig berührte, veranlasste das Staatssekretariat dazu, sich mit dem Papst zu beraten und gründlicher nachzuforschen, bevor 46 Tisserant an Pacelli, 28. Juli 1937; S.RR.SS., AA.EE.SS., Arch. Nunz. Italia, b. 1, Fasc. 4. Die gesamte Dokumentation über die Verbindungen zwischen Italienern und Einheimischen auch in S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 1030–1040, Fasc. 720, und Archivio della Congregazione pro Ecclesiis Orientalibus, Etiopi, Varie, prot. 327/37. 47 Pizzardo an Borgongini Duca, 31. Juli 1937; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 1030–1040, Fasc. 720, fol. 19r. 48 F. Borgongini Duca an E. Pacelli, 5. August 1937; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 1030–1040, Fasc. 720, 21r-23v. Im Begleitbericht zum Gesetzentwurf vom Januar 1937 präzisierte Lessona tatsächlich, dass ein Verbot von Eheschließungen aus Opportunitätserwägungen hinsichtlich der Lateranverträge ausgeblieben sei. 49 Ebd., 22v.
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man dazu Stellung nahm. Auf persönliche Weisung Pius’ XI. wurde daher der Präfekt der Kongregation für die Sakramentenordnung Domenico Kardinal Jorio um ein Gutachten gebeten.50 Der Inhalt des von Kardinal Jorio verfassten Dokuments ist ein Meisterstück an bedenkenlosem politischem Opportunismus. In der Einleitung wahrt der Text die Prinzipienfragen und negiert, dass vom katholischen Standpunkt aus Rassenunterschiede vorliegen könnten, die Eheverbindungen verhindern, zum Schluss jedoch bietet er der Regierung die volle Unterstützung bei der Ausführung des Dekrets in den Kolonien an.51 In einem ersten umfangreichen Teil wird nämlich anhand verschiedener Beispiele dargestellt und erläutert, wie die katholische Kirche in ihrer Gesetzgebung im Laufe der Jahrhunderte „nie Hinderungsgründe für die zwischen den ihr Angehörigen unterschiedlicher Rasse einzugehenden Ehen festgelegt“ habe und wie sie vielmehr zu solchen Ehen ermutigt habe, um die Bekehrung der „Barbaren“ und „Heiden“ zu fördern. Jorio fügte einen weiteren wichtigen Punkt zur Eugenik hinzu, der vor einigen Jahren in Deutschland diskutiert worden war, und verurteilte ihn: „Die von der Kirche gewährte überaus große Freiheit bei der Eheschließung […] findet nicht nur keine Schranke bei den Rassen, sondern noch nicht einmal bei Personen derselben Rasse, die von schweren Erbkrankheiten, wie Tuberkulose, Syphilis, Krebs und selbst Pest betroffen sind, mit vielleicht noch schwereren pathologischen Folgen bei der Nachkommenschaft als bei Eheschließungen zwischen Personen verschiedener Abstammung“. Nachdem die Grundsatzfrage geklärt ist, werden die konkreten Verhandlungen mit der italienischen Regierung behandelt. Gelobt werden vor allem die zur Sittlichkeit erziehenden Auswirkungen im Bereich der Eheethik, die das Gesetz zur Verurteilung des Konkubinats zwischen Italienern und Einheimischen nach sich ziehe; sogar die Hoffnung auf eine ähnliche Anordnung zum Verbot aller Formen vom Konkubinat wird geäußert. Anschließend kommt die Rede auf das konkrete Vorgehen der Kirche in ihrer „Flankierung“ der Regierungspolitik bei den Maßnahmen zum Schutz der „Rassengesundheit“.52 Diesbezüglich wird ausdrücklich gesagt, dass „die Kirche durch ihre Missionare die erbetene Überzeugungsarbeit in großem Maßstab wird leisten können und in angemessenen Grenzen auch müssen, um solche Mischverbindungen aus den klugen vom Staat intendierten sozialhygienischen Gründen zu verhindern“. Und um „die vielleicht übertriebenen Befürchtungen 50 Pacelli an Jorio, 18. August 1937; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 1030–1040, Fasc. 720, fol. 24r–v. 51 Sacra Congregatio de Sacramentis, 24. August 1937, unterzeichnet vom Präfekten Domenico Kardinal Jorio; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 1030–1040, Fasc. 720, fol. 43r-44v. 52 Ebd., fol. 44r.
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der italienischen Regierung bezüglich einer anderen diesbezüglichen Einstellung der katholischen Kirche“ noch mehr zu beschwichtigen, erinnert Kardinal Jorio daran, dass die große Mehrzahl der Äthiopier immer noch muslimisch oder „koptisch“ sei. Daraus folge, dass die Kirche über ihre Missionare den Mut zu Mischverbindungen nehmen könne, indem sie die Gewährung von Dispensen behindere.53 Dies schrieb Kardinal Jorio am 24. August 1937. Nach der päpstlichen Billigung wurde das Dokument der italienischen Nuntiatur am 31. August übermittelt.54 Wie Borgongini Duca am 1. Oktober 1937 an Pacelli berichten konnte, zeigte sich Minister Lessona bei einer Begegnung mit dem Nuntius „über die klugen Anweisungen des Heiligen Stuhls erfreut“ und äußerte die Hoffnung, dass sie den Missionaren bald mitgeteilt werden.55 An Tisserant aber war es, dem Apostolischen Delegaten für Italienisch-Ostafrika, Msgr. Giovanni Maria Castellani, zu schreiben, der sich in Addis Abeba befand, damit er allen Missionaren die Anweisung gebe, mit den italienischen Behörden in der Anwendung des Dekrets Lessona zusammenzuarbeiten, „um so weit als möglich von Eheverbindungen abzuraten, von denen eine erblich belastete Nachkommenschaft zu befürchten ist“.56 Es ist nicht bekannt, wie weit Pius XI. tatsächlich über die Einzelheiten dieser Anordnungen informiert war. Im selben Jahr 1937 erschien einerseits ein Buch des Jesuiten John La Farge, „Interracial justice, a study of the Catholic doctrine of race relations“,57 das der Papst so gut gefunden haben soll, dass er den Autor zu sich in den Vatikan gerufen habe, um ihm, überzeugt von der engen Verbindung zwischen Rassismus und Nationalsozialismus, die Aufgabe anzuvertrauen, die Enzyklika „Die Einheit des Menschengeschlechts“ abzufassen, die nie erschienen ist.58 Andererseits entschieden die Kardinäle der Suprema am 2. Juni 1937, nach drei Jahren intensiver Arbeit des Sanctum Officium, den Syllabus, der die Irrtümer des Rassismus mit Hinweisen auf Schriften von Hitler und Mussolini verurteilte, im Sande verlaufen zu lassen. Die Entscheidung für eine Vertagung „sine die“ wurde von Pius XI. am 4. Juni
53 Ebd., 44v. 54 Pacelli an Borgongini Duca, 31. August 1937; ASV, Arch. Nunz. Italia 4, Fasc. 1, fol. 89r. 55 Borgongini Duca an Pacelli, 1. Oktober 1937; ASV, Arch. Nunz. Italia 4, Fasc. 1, fol. 93r– 94r. 56 Tisserant an Castellani, 2. Dezember 1937; S.RR.SS., AA.EE.SS., Italia, Pos. 1030–1040, Fasc. 720, fol. 50r–v. 57 John La Farge, Interracial justice, a study of the Catholic doctrine of race relations, New York 1937. 58 George Passelecq/Bernard Suchecky, L’encyclique cachée de Pie XI. Une occasion manquée de l’Eglise face à l’antisémitisme, Paris 1995.
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1937 ausdrücklich bestätigt.59 Den brandaktuellen Hintergrund der verurteilten Sätze bildeten natürlich vor allem die Judenverfolgungen, auf jeden Fall aber lehnte der Syllabus unzweideutig sowohl das Vorhandensein einer biologischen Hierarchie zwischen den Rassen ab als auch das Recht der Staaten, eine diesbezügliche „Reinheit“ zu schützen und zu fördern. Sehr wahrscheinlich wurden die obersten Führungskräfte des Vatikans durch die Verhärtung der kirchlichen Positionen gegenüber dem Nationalsozialismus und die Verschärfung der Spannungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Dritten Reich zu einer nachgiebigeren Haltung gegenüber der italienischen Regierung veranlasst.60 Die allgemeine Lage der Kirche war immer schwieriger geworden in Deutschland, wo die Verkündigung der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ gegen den deutschen Nazismus am 14. März 1937 den antikatholischen Kampf der Nationalsozialisten neu entfacht hatte, obwohl diese wenige Tage zuvor die päpstliche Verurteilung des Kommunismus in „Divini Redemptoris“ mit stürmischem Jubel begrüßt hatten.61 Nachdem die Möglichkeit ausgeschlossen war, die Bildung eines totalitären, auf Nazideutschland begründeten Blocks zu rechtfertigen, und sei es nur im Namen des Antikommunismus, schien es im Vatikan opportun, die Unterschiede zwischen dem Regime Mussolinis und dem Hitlers nachdrücklich zu betonen und weiter die spezifischen Merkmale des Faschismus hervorzuheben sowie, unter bestimmten Bedingungen, seine Vorzüge. Der letztgenannte Gedanke schien den obersten Führungskräften des Vatikans auch in Anbetracht der Entwicklung einiger Ereignisse in Europa opportun: allen voran der Spanische Bürgerkrieg. Hier flankierte der Heilige Stuhl zwar in jenen Monaten weiterhin die Militärs, die sich erhoben hatten, und verteidigte auch ihre Argumente, zeigte aber wachsende Sorge wegen der Annäherung der um Franco gescharten Männer und politischen Kreise an Nazideutschland.62 So wurden Überlegungen politisch-strategischer Natur der Durchsetzung einer konsequenten Orientierung an der Lehre übergeordnet.
59 Hubert Wolf, Papst und Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich, München 2008, 285–305. 60 Francesco Traniello, Religione cattolica e Stato nazionale. Dal Risorgimento al secondo dopoguerra, Bologna 2006, 38. 61 Die am 19. März 1937 verkündete Enzyklika „Divini Redemptoris“ wurde bekanntlich nach der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ veröffentlicht. 62 Vgl. Alfonso Botti, La guerra civile spagnola nell’Archivio Segreto Vaticano. Le carte della Nunziatura apostolica di Madrid (prima parte), in: Spagna contemporanea 16 (2007), 131–158; Ders., La guerra civile spagnola nell’Archivio Segreto Vaticano. Le carte della Nunziatura apostolica di Madrid (seconda parte), in: Spagna contemporanea 17 (2008), 125–177; Emma Fattorini, Pio XI, Hitler e Mussolini. La solitudine di un papa, Turin 2007, 89–104.
Carlos Collado Seidel
Zur religiösen Dimension von Gewalt und Herrschaftslegitimation General Francos im Spanischen Bürgerkrieg Der Spanische Bürgerkrieg ist als eines der großen Themen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts untrennbar verbunden mit der Epoche der Krise der Demokratien in der Zwischenkriegszeit, die – aus historischer Distanz betrachtet – unweigerlich in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führte. Schriftsteller von Weltrang wie George Orwell, André Malraux oder Ernest Hemingway haben die Ereignisse in Spanien literarisch verarbeitet und damit nachdrückliche Zeugnisse der Tragödie geschaffen. Picassos Guernica ist darüber hinaus zum Inbegriff für das Leid geworden, das von diesem Krieg ausging. Die Dimension der im Spanischen Bürgerkrieg ausgeübten Gewalt und Brutalität steht seit Jahren im Blickpunkt der historischen Forschung. Dabei richtet sich das Augenmerk insbesondere auf die Gewalt, die auf Seiten der „Nationalisten“ ausgeübt wurde, also der Parteigänger des Diktators Francisco Franco. Dies liegt im Wesentlichen darin begründet, dass seit etwas über zehn Jahren die Erinnerung an die republikanischen Opfer des Krieges durch die Öffnung von Massengräbern, in denen Zehntausende verscharrt worden sind, in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses getreten ist.1 Zur Erklärung der radikalen Gewalt im Spanischen Bürgerkrieg wird auf ideologische Faktoren verwiesen. So wird dieser Krieg als erstes bewaffnetes Aufeinandertreffen der beiden sich unversöhnlich gegenüber stehenden ideologischen Blöcke gedeutet. Ein Großteil der Zeitgenossen verstand den Konflikt als eine Auseinandersetzung, mit der nicht nur das Schicksal Spaniens, sondern das der gesamten zivilisierten Menschheit auf dem Spiel stand. Die einen wähnten Demokratie, Fortschritt und Freiheit in Gefahr, für die anderen ging es um die Abwehr der bolschewistischen Bedrohung und um die Verteidigung der Christenheit. In diesem Zusammenhang wird zur Erklärung der Brutalität des Krieges auch auf den Klassenkonflikt innerhalb der spanischen Gesellschaft verwiesen. Die verkrusteten sozialen Strukturen hatten bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die 1 Vor diesem Hintergrund hat sich als Pendant zur deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ der Begriff der „Wiedergewinnung der historischen Erinnerung“ (recuperación de la memoria histórica) etabliert. Dahinter steht die Vorstellung, dass gerade die Erinnerung an die republikanischen Opfer des Krieges weit über den gesamten Verlauf der Diktatur hindurch tabuisiert und verdrängt worden ist.
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Durchsetzung nachhaltiger sozialer Reformen verhindert. Damit verschärften sich Konflikte sozialen Ursprungs. Ein aggressiver Antiklerikalismus trat als Symptom der Auflehnung gegen die etablierte Ordnung in Erscheinung, die sich in Spanien in einer besonders ausgeprägten Kohärenz von Staat, sozioökonomischen Eliten und Amtskirche manifestiert hatte. Im Rahmen dieser ideologischen Deutung des Bürgerkrieges, die mit der Intervention der mit den Nationalisten verbündeten faschistischen und nationalsozialistischen Regime eine weitere Begründung fand, entwickelte sich der Antimarxismus zu einem zentralen theoretischen Gerüst zur Motivation der kämpfenden Einheiten auf der Seite der Putschisten. Gemäß der Verschwörungstheorie der Aufständischen war die Macht in Spanien in die Hände des sowjetisch dominierten Kommunismus geraten und musste daher zerstört werden. So übte die faschistische Ideologie der Falange Española von José Antonio Primo de Rivera große Anziehungskraft aus. Hunderttausende traten in den ersten Kriegsmonaten der Falange und ihren Milizen bei. Darüber hinaus strebten die Karlisten mit den requetés als ihren bewaffneten Einheiten bei einer ausgeprägten antimarxistischen Grundhaltung die Errichtung eines an der katholischen Doktrin ausgerichteten Gemeinwesens an. Als mit dem Beginn der Kampfhandlungen der angestaute soziale Hass zur Entladung kam, fielen nach Angaben von Antonio Montero 6.832 Geistliche, darunter dreizehn Bischöfe, der antiklerikalen Gewalt zum Opfer und machten damit einen beträchtlichen Anteil an der gesamten Repression auf republikanischem Gebiet aus.2 In diesem Sinne wurde der Spanische Bürgerkrieg nicht nur von den Zeitgenossen als Religionskrieg bezeichnet.
Offizierkorps und Entgrenzung von Gewalt Mit Hinblick auf die von nationalistischer Seite ausgeübte Gewalt ist vor allem das Offizierskorps in den Fokus der Forschung geraten.3 Das spanische Offizierskorps verstand sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Ordnungsmacht innerhalb der Gesellschaft. So fand nicht nur ein permanenter Rückgriff auf das Militär zur Unterdrückung von innenpolitischen Unruhen statt. Die Streitkräfte übernahmen darüber hinaus bereitwillig die ihnen übertragene Funktion als Interpret der nationalen Interessen und griffen weit in zivile Belange ein. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf das Gesetz aus dem Jahr 1905 verwiesen 2 Vgl. nach wie vor grundlegend Antonio Montero, Historia de la persecución religiosa en España, 1936–1939, Madrid 1961, 363, 762. 3 Als grundlegendes Werk vgl. Julio Busquets, El militar de carrera en España, Barcelona ³1984, 61ff.
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worden, das der Militärgerichtsbarkeit die Zuständigkeit über Delikte übertrug, die gegen die spanische Nation und seine Symbole gerichtet waren und als antipatriotisch verstanden wurden.4 Das spanische Offizierskorps als soziale Kaste, die an Hierarchien, klare Befehlsstrukturen und einen fest umrissenen Wertekodex glaubte, fühlte sich als der im Grunde einzige gesunde Teil einer Gesellschaft, die durch Demokratie und Parlamentarismus degeneriert sei. Im Militär reifte schließlich während der krisengeschüttelten Zweiten Republik (1931–1936/39) die Überzeugung heran, dass eine „eiserne Hand“ der (mit Blick auf grundlegende Reformprojekte) „revolutionären Zerstörung der althergebrachten Ordnung“ und (hinsichtlich der anstehenden Autonomieregelungen für Katalonien und das Baskenland) „separatistischen Zerstückelung der Nation“ einen Riegel vorschieben müsse. Die Armee fühlte sich legitimiert, in die Politik einzugreifen, um die soziale Ordnung und die Integrität der Nation wiederherzustellen. Wenngleich die Aufständischen die Überzeugung einte, dass die Nation „errettet“ und die Ordnung wiederhergestellt werden müsste, war zunächst keinesfalls klar, was konkret darunter zu verstehen war und was über die Ablehnung der bestehenden Situation hinaus das Gegenmodell der „nationalen Bewegung“ ausmachte. Keine der theoretischen Strömungen, zu denen vonseiten der Aufständischen Anknüpfungspunkte bestanden, wie die theokratische Ideologie der Karlisten oder die faschistische Doktrin von Primo de Rivera, ließ sich ohne Einschränkung als ideologischer Überbau den Putschisten zuordnen. Diesen ging es nicht einmal in erster Linie um die Abschaffung der republikanischen Staatsform oder gar um die Rückkehr des exilierten Königs. Einige der am Putsch führend beteiligten Offiziere waren dezidiert republikanisch eingestellt, und wenngleich sich die Katholiken angesichts der antiklerikalen Erfahrungen zu einem weit überwiegenden Teil unmittelbar mit den Putschisten solidarisierten, stand, wie Hilari Raguer betont, selbst der Katholizismus, außer bei den Karlisten, zunächst nicht auf dem Banner der Aufständischen. Vielmehr waren bei vielen Putschisten durchaus Sympathien für ein säkulares Staatswesen zu erkennen.5 Die aufständischen Offiziere verband eher ein antimodernes und die Freiheit des Geistes ablehnendes Denken. Berühmt geworden sind die im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung im Oktober 1936 erfolgten wüsten Beschimpfungen des Philosophen und Rektors der Universität von Salamanca, Miguel de Unamuno, 4 So kann nicht verwundern, dass angesichts innenpolitischer Krisen und einer eskalierenden Gewalt, insbesondere sozialen Ursprungs, schon im September 1923 die Streitkräfte mit General Miguel Primo de Rivera durch einen Staatsstreich die Regierungsgewalt übernahmen, das parlamentarische System ablösten und zum Interpreten der Interessen der Nation wurden. 5 Vgl. Hilari Raguer, La pólvora y el incienso. La Iglesia y la guerra civil española (1936– 1939), Barcelona 2001, 78ff.
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durch General José Millán Astray, den Begründer der spanischen Fremdenlegion. Sie gipfelten in dem Ausruf „Tod den Intellektuellen“. Ein aufschlussreiches Beispiel für die zutiefst antimoderne Geisteshaltung bieten wiederum die Erklärungen für die Ursachen des Bürgerkrieges von Hauptmann Gonzalo de Aguilera, der den ehrwürdigen Titel eines 14. Grafen von Alba und Yeltes führte. Dieser brachte gegenüber ausländischen Journalisten die Überzeugung zum Ausdruck, dass alles Übel in Spanien letztlich von dem System der Abwasserentsorgung herrühre. Ohne Abwassersysteme in Madrid, Barcelona und Bilbao wären alle „Roten“ bereits als Kinder verstorben und damit gar nicht erst in die Verlegenheit gekommen, die Volksmassen aufzuwiegeln und zu korrumpieren. Nach dem Krieg werde daher das Abwassersystem zerstört werden, denn das von Gott gegebene System zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums sei für Spanien viel besser geeignet. Abwassersysteme seien ein Luxus, der jenen vorbehalten werden müsse, die ihrer würdig seien: den Herren Spaniens und nicht den Sklaven.6 Solche drastischen Ansichten waren beileibe kein Einzelfall. So soll sich auch der Organisator des Putsches, General Emilio Mola, für die Zerstörung der Industriezentren als Herde der Subversion ausgesprochen haben.7 Die Forschung ist sich seit langem einig, dass die Brutalität im Bürgerkrieg darüber hinaus in besonderer Weise mit dem Einsatz von Kolonialtruppen aus dem spanischen Protektorat in Marokko in Verbindung steht. Dem Einsatz des kampferprobten Afrikaheeres wird eine entscheidende Bedeutung für den Sieg der Nationalisten beigemessen. Diese Einheiten umfassten zehntausende Kämpfer, die sich aus unterschiedlichen, vor allem auch marokkanischen Söldnern zusammensetzten. Der Anblick maurischer Truppen verbreitete wiederum in Erinnerung an die Grausamkeit der Kolonialkriege in Nordafrika Angst und Schrecken. Den Mauren ging ein Ruf voraus, der abschreckend und demoralisierend auf den Gegner wirkte. Diese psychologische Wirkung wurde auf nationalistischer 6 „Sewers caused all our troubles. The masses in this country are not like your Americans, nor even like the British. They are slave stock. They are good for nothing but slaves and only when they are used as slaves are they happy. But we, the decent people, made the mistake of giving them modern housing in the cities where we have our factories. We put sewers in these cities, sewers which extend right down to the workers’ quarters. Not content with the work of God, we thus interfere with His Will. The result is that the slave stock increases. Had we no sewers in Madrid, Barcelona, and Bilbao, all these Red leaders would have died in their infancy instead of exciting the rabble and causing good Spanish blood to flow. When the war is over, we should destroy the sewers. The perfect birth control for Spain is the birth control God intended us to have. Sewers are a luxury to be reserved for those who deserve them, the leaders of Spain, not the slave stock.“ Zit. in Charles Foltz, The Masquerade in Spain, Boston 1948, 116. 7 So Wolfram von Richthofen in seinen Kriegserinnerungen; vgl. Stefanie Schüler-Springorum, Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg, Paderborn 2010, 186.
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Seite bewusst eingesetzt. Das Afrikaheer zeigte sich während des gesamten Krieges äußerst brutal, was sich in der willkürlichen Tötung und Verstümmelung von Gefangenen, in Gräueln an Zivilisten, in Vergewaltigungen sowie Plünderungen und Brandschatzungen zeigte. Auch wenn nach Sebastian Balfour dieses Verhalten der marokkanischen Söldner mit dem üblichen Stil des Krieges zwischen den Rifstämmen erklärbar ist und der Raub von Gütern zu den gängigen geldwerten Sonderleistungen für den militärischen Einsatz gehörten, kam hinzu, dass die spanischen Offiziere die Truppen zu menschenverachtender Härte und Hass antrieben.8 Der Terror und die Spur der Verwüstung, den vor allem die marokkanischen Truppen hinterließen, erwiesen sich damit als eine hervorragende Waffe der Nationalisten. Zur Erklärung der extremen Brutalität auf nationalistischer Seite ist in den letzten Jahren vermehrt der afrikanische Hintergrund der militärischen Führung in den Blick der Forschung gekommen.9 Der militärische Werdegang nahezu aller an den Putschplänen beteiligten Offiziere war aufs engste mit dem Kolonialkrieg in Marokko verbunden. Dieser war erst im Jahr 1926, also nur zehn Jahre vor Beginn des Bürgerkriegs beendet worden. Entsprechend ist die Bedeutung der Erfahrungen aus diesem Kolonialkrieg für die Mentalität und das Vorgehen der Putschisten herausgearbeitet worden. Die africanistas fühlten sich als Einheit, auch in Abgrenzung von dem Offizierskorps auf dem spanischen Festland. Das Afrikaheer lebte stärker als dieses in der Vorstellung, eine durch die als verwerflich empfundene parlamentarisch-demokratische Ordnung nicht kontaminierte Institution und daher zur notwendigen Selbstreinigung Spaniens unerlässlich zu sein.10 Die Elite der Offiziere, die durch die „Schule“ der Kolonialkriege gegangen war, empfand sich als Katalysator für das „neue Spanien“. Das marokkanische Protektorat war damit eine Kaderschmiede kriegserprobter Kämpfer, die nicht nur eine spezifische Brutalität, sondern auch ein ideologisches Element der Fanatisierung in den Bürgerkrieg hineintrugen. Vor dem Hintergrund des diffusen Weltbildes der konspirierenden Offiziere fand eine Übertragung der Feindbilder aus dem Kolonialkrieg auf den Bürgerkrieg statt, indem die Vorstellung vom Fremden aus dem Marokkokrieg auf den inneren Feind in Spanien projiziert wurde – Attribute wie Fremdheit, Wildheit und Unzivilisiertheit, die im Kolonialkrieg den „marokkanischen Horden“ zugeschrieben worden waren, wurden nun auf den „roten“ Kriegsgegner übertra8 Vgl. Sebastian Balfour, Deadly Embrace. Marocco and the Road to the Spanish Civil War, Oxford 2002, 254. 9 Vgl. ebd.; María Rosa de Madariaga, Los moros que trajo Franco, Barcelona 2002; Gustau Nerín, La guerra que vino de Africa, Barcelona 2005; Francisco Sánchez Ruano, Islam y guerra civil española. Moros con Franco y con la República, Madrid 2004. 10 Vgl. hierzu etwa Nerín, Guerra (wie Anm. 9), 298.
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gen. War also der Kolonialkrieg diesem Denken nach einst geführt worden, um „die Wilden“ zu zivilisieren, so sollte nun entsprechend die Zivilisation auf dem spanischen Festland wieder zur Geltung gebracht werden. Auch wurde aus dem religiös begründeten Krieg gegen die „ungläubigen“ Rifkabylen ein Krieg gegen die als gottlos empfundenen Marxisten.11 Nach Sebastian Balfour fand dabei angesichts der Großzahl marokkanischer Söldner sogar eine Symbiose zwischen dem muslimischen und dem christlichen Glauben statt, um eine Gemeinsamkeit der Ziele im Kampf um die spirituellen Werte und gegen den marxistischen Materialismus herzustellen. So wurde den marokkanischen Söldnern ostentativ die Ausübung ihres Glaubens gestattet, und muslimischen Geistlichen wurde die seelsorgerische Begleitung der Einheiten erlaubt. Die marokkanischen Söldner, die sich dem Kampf für die Wiederherstellung des „authentischen Spanien“ anschlossen, wurden somit zu „wahren Spaniern“.12 Eine derartige Übertragung von Feindbildern entsprach dem stereotypen Denken der Kolonialoffiziere und war zweifellos unerlässlich zur Überwindung von Hemmschwellen unter den speziellen Bedingungen eines grausamen Bürgerkrieges. Das Afrikaheer setzte somit die Rifkriege auf dem spanischen Festland fort. Die gegenüber aufständischen Kabylenstämmen demonstrierten Verhaltensgrundsätze wurden rücksichtslos auf die „Roten“ übertragen. Der in Marokko praktizierte brutale und gnadenlose Terror gegenüber einer als barbarisch eingestuften und entmenschlicht dargestellten Zivilbevölkerung wurde ohne Vorbehalte übernommen. Nach Balfour hatten diese Offiziere im Kolonialkrieg zudem den Wert systematischer ethnischer „Säuberungsmaßnahmen“ schätzen gelernt, um sich dauerhaft durchzusetzen. Offiziere wie Juan Yagüe oder Gonzalo Queipo de Llano riefen ausdrücklich zu dieser Art der „Säuberung“ ohne Prozessführung auf. Franco und seine „afrikanischen“ Waffenbrüder setzten auf die physische Vernichtung des Gegners. Damit sollte jegliche guerillaähnliche Bedrohung der Flanken vermieden werden. Die Truppen sollten nicht vorwärts marschieren und sich gleichzeitig nach hinten umsehen müssen. Entsprechend wird Yagüe zitiert, der durch einen ausländischen Journalisten auf die Erschießung von Gefangenen nach der Einnahme der Stadt Badajoz angesprochen worden war: „Natürlich haben wir sie erschossen. Glauben Sie etwa, ich hätte viertausend Rote mitgeschleppt, während meine Kolonne auf ihrem Vormarsch gegen die Uhr ankämpft? Dachten Sie, dass ich sie hinter meinem Rücken zurücklassen würde, damit sie wieder ein rotes Badajoz errichteten?“13
11 Vgl. hierzu Balfour, Embrace (wie Anm. 8), 247, 280. 12 Vgl. ebd., 281. 13 „Claro que los fusilamos. ¿Qué esperaba? ¿Suponía que iba a llevar 4.000 rojos conmigo mientras mi columna avanzaba contra reloj? ¿Suponía que iba a dejarlos sueltos a mi es-
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Nachdem der rasche Sieg mit einer handstreichartigen Einnahme Madrids und aller militärischen Schaltstellen nicht erreicht worden war, setzte Franco auf einen langsamen, aber vernichtenden Feldzug auf breiter Front gegen seine Gegner. Der Einsatz von Todesschwadronen im rückwärtigen Gebiet während des Bürgerkrieges erfolgte damit nicht nur zu Sicherungszwecken für die kämpfenden Truppen, sondern darüber hinaus mit dem Ziel, Spaniens „innere Feinde“ dauerhaft auszulöschen.14 Die militärischen Erfahrungen des Kolonialkrieges werden aber auch herangezogen, um das schwerfällige Agieren Francos als Militärführer zu erklären. So sei er als Soldat des Kolonialkrieges kein Stratege gewesen, der in der Lage gewesen sei, große Heere zu führen oder große strategische Visionen umzusetzen. Als Infanterist habe er es zudem nicht verstanden, die Vorteile neuer Waffengattungen wie der Luftwaffe oder gepanzerter Einheiten innovativ zu nutzen. Diesen sei wie der Artillerie lediglich eine unterstützende Rolle in den Operationen der Infanterie zugekommen. Rasche Vorstöße lehnte der „Generalissimus“ aber auch vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Kolonialoffizier ab. In diesem Sinne stellte Franco im April 1937 gegenüber dem italienischen Botschafter Roberto Cantalupo fest: „Ich beschränke mich auf Operationen kleineren Umfangs, die aber einen Sieg garantieren. Ich werde Spanien Stadt für Stadt, Dorf für Dorf, Bahnhof für Bahnhof besetzen. [...] Nichts wird mich von diesem schrittweisen Vorgehen abbringen. Es wird mir wenig Ruhm, dafür aber umso größere Ruhe im Land einbringen. Dieser Krieg könnte dadurch sogar noch weitere zwei oder drei Jahre andauern. [...] Ich werde die Hauptstadt nicht eine Stunde zu früh einnehmen.“15
Die Katholische Doktrin als Legitimation für Gewalt und Repression Wenngleich der Katholizismus zunächst keine die Putschisten verbindende Triebfeder darstellte, änderte sich dies bereits in der Anfangsphase der Auseinandersetzungen. Einerseits war dieser Wandel dadurch bedingt, dass während der Jahre der Zweiten Republik die politische Auseinandersetzung um die Religion und deren ideologische Instrumentalisierung nicht nur zu Gewaltausbrüchen geführt, sondern zugleich auch lagerbildend gewirkt hatte. Als mit dem Beginn des Bürgerkriegs im republikanischen Herrschaftsgebiet eine rabiate palda y dejar que volvieran a edificar una Badajoz roja?” Zit. in: Paul Preston, Franco „Caudillo de España“, Barcelona 1994, 211. 14 Vgl. Balfour, Embrace (wie Anm. 8), 291. 15 Roberto Cantalupo, Fu la Spagna. Ambasciata presso Franco. Febbraio-aprile 1937, Mailand 1948, 231ff.
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religiöse Verfolgung und eine systematische Ermordung tausender Geistlicher einsetzte, bewirkten die antikirchlichen Exzesse andererseits eine Sakralisierung des Kampfes auf Seiten der Nationalisten und die Legitimierung des Krieges als „gerechten Krieg“. Hieraus entstanden wiederum nicht nur durch Zeitgenossen Ansätze, den Spanischen Bürgerkrieg als den letzten der europäischen Religionskriege zu deuten.16 Den entscheidenden Beitrag zur religiösen Legitimation leistete die Amtskirche, indem sie aus eigenem Antrieb heraus den Schulterschluss mit den Aufständischen suchte. So verglich der Bischof von Salamanca, der spätere Kardinal und Primas der Kirche in Spanien, Enrique Pla y Deniel, Ende September 1936 in einem Pastoralschreiben die Auseinandersetzung in Spanien mit der Zwei-Reiche-Lehre von Augustinus: „Auf spanischem Boden findet eine blutgetränkte Auseinandersetzung zwischen zwei Lebensvorstellungen statt, zwei Kräften, die sich auf eine weltumspannende Auseinandersetzung in allen Ländern der Erde vorbereiten. [...] Die Kommunisten und Anarchisten sind die Söhne Kains, Brudermörder und Neider all jenen gegenüber, die der Tugend huldigen. Daher morden und martern sie, und nachdem sie weder Gott noch Christus bezwingen können, entladen sie ihren Hass an deren Abbildern, Tempeln und Priestern; sie suhlen sich in Mordtaten, Plünderungen, Zerstörung und Brandschatzung. Neben dieser unsäglichen menschlichen Niedertracht in der irdenen Stadt der Gottlosen ersprießt die himmlische Stadt der Kinder Gottes, deren Liebe zum Allmächtigen sie zur Erhabenheit des Heldentums und des Martyriums trägt.“17 Entsprechend hatte schon Mitte August 1936 der Primas der Kirche in Spanien, Isidro Kardinal Gomá y Tomás, als Quintessenz eines ausführlichen an den Vatikan gerichteten Berichtes über die Vorgänge in Spanien notiert: „Es kann ohne weiteres festgestellt werden, dass sich gegenwärtig Spanien und Anti-Spanien, die Religion und der Atheismus, die christliche Zi16 Vgl. Guy Hermet, Les Catholiques dans L’Espagne Franquiste, Bd. 1, Paris 1980, 14; vgl. auch Walther L. Bernecker, Religion in Spanien. Darstellungen und Daten zu Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1995, 92ff. 17 „Sobre el suelo de España se desarrolla un conflicto sangriento entre dos concepciones de la vida, dos fuerzas que se preparan para un conflicto universal en todos los países del mundo. [...] Los comunistas y anarquistas son los hijos de Caín, fratricidas de sus hermanos, envidiosos de los que hacen culto de la virtud y por ello les asesinan y martirizan; y no pudiendo acabar con Dios ni con Cristo, sacian su odio en sus imágenes, en sus templos y en sus ministros, y se gozan en el asesinato, en el saqueo, en la destrucción y en el incendio. Frente a tanta degradación humana de la ciudad terrena de los sin Dios florece la ciudad celeste de los hijos de Dios cuyo divino amor les eleva hasta las sublimidades del heroísmo y del martirio.“ Enrique Pla y Deniel, Las dos ciudades. Carta Pastoral que dirige a sus diocesanos el Exmo. y Rdmo. Sr. D. Enrique Pla y Deniel, Obispo de Salamanca en 30 de septiembre de 1936.
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vilisation und die Barbarei im Krieg gegeneinander befinden“.18 Der Zorn der Würdenträger nahm freien Lauf und richtete sich gegen die „verrottete Seele“ der „Kinder Kains“ und aller „finsteren Gesellschaften“, die als Feinde der Kirche ausgemacht wurden. Auf die Bitte Francos hin entstand Anfang Juli 1937 unter Federführung von Kardinal Gomá ein gemeinsamer Hirtenbrief der spanischen Bischöfe, der an „alle Bischöfe der Welt“ gerichtet war. Franco hatte um ein international sichtbares Zeichen der Solidarität gebeten, nicht zuletzt, um auf das verheerende Echo zu reagieren, das durch die Bombardierung Guernicas durch die Nationalisten im April desselben Jahres entstanden war. In dem Schreiben brachten die kirchlichen Würdenträger ihre uneingeschränkte Unterstützung für jenes Lager zum Ausdruck. Der Hirtenbrief entfaltete wiederum eine gewaltige propagandistische Wirkung: Wenngleich die Sprache des „Vernichtungskrieges“ vielen Katholiken fremd blieb, war es für sie fortan kaum mehr möglich, eine prorepublikanische Haltung einzunehmen.19 Dies traf die katholischen baskischen Nationalisten besonders hart, die in einem schweren Gewissenskonflikt die Waffen gegen die Aufständischen erhoben hatten und entgegen den Weisungen der eigenen Bischöfe Seite an Seite mit Kommunisten und Anarchisten kämpften. An diesem vorbehaltlosen Schulterschluss mit den Nationalisten beteiligten sich mit Ausnahme weiter Teile des Klerus im republikanischen Gebiet des Baskenlandes im Grunde der gesamte spanische Klerus und die katholischen Laienorganisationen. Dies geschah nicht nur dadurch, dass von den Kanzeln aus die Nationalisten unterstützt, die Fahnen der nationalistischen Truppen geweiht wurden und Geistliche den faschistischen Gruß entboten. Kleriker ergriffen sogar die Waffen und beteiligten sich auch aktiv an den „Säuberungsmaßnahmen“.20 Nationalismus und Katholizismus verschmolzen miteinander. Die auf nationalistischer Seite Gefallenen hatten damit nicht nur für das „wahre“ Spanien gekämpft, sie ließen darüber hinaus ihr Leben im Dienste Gottes. Auf der Grundlage eines Dekrets Francos wurden zur Einrichtung eines „nationalen Trauertages“ im November 1938 an den Fassaden aller Kirchen Kreuze angebracht, an deren Seiten die Namen der „für Gott und das Vaterland“ Gefallenen aufgeführt waren. 18 „Puede [...] afirmarse que en la actualidad luchan España y la antiEspaña, la religión y el ateísmo, la civilización cristiana y la barbarie.“ Isidro Kardinal Gomá an Kardinalsstaatssekretär Eugenio Pacelli, 17.08.36; zit. in: María Luisa Rodríguez Aisa, El cardenal Gomá y la guerra de España. Aspectos de la gestión pública del primado, 1936–1939, Madrid 1981, 23. 19 Vgl. hierzu v.a. Javier Tusell/Genoveva García Queipo de Llano, El catolicismo mundial y la guerra de España, Madrid 1993. 20 Vgl. Julián Casanova, La Iglesia de Franco, Madrid 2001, 14.
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Für Franco war, wie er während der österlichen Fastenzeit im Jahr 1940 im andalusischen Jaén verkündete, das Leiden einer Nation in historischen Schicksalsstunden keine Laune der Geschichte, sondern eine spirituelle Bußhandlung und die Strafe, die Gott den Menschen bei einer verfehlten Lebensführung auferlegte.21 Die Kirchenführung empfand genauso. So erklärte der Erzbischof von Burgos in einer Predigt im Jahr 1937, dass der Krieg der Fastenzeit gleiche: „Genauso wie die liturgische Fastenzeit eine Bußübung ist, […] handelt es sich bei der Fastenzeit des Krieges, die wir gegenwärtig erleben und in der derart viel Blut vergossen wird […], ohne jeden Zweifel um die gerechte Strafmaßnahme des höchsten und göttlichen Richters dieser Nation“.22 Das Blutvergießen wurde als unumgänglich empfunden, als Vorbedingung für die „Auferstehung der Nation“, die mit dem Sieg der Nationalisten eintreten würde. Die Legitimierung von Gewalt und Repression ging aber auch weit über eine religiöse Deutung hinaus. So stellte Francos Presseoffizier Gonzalo de Aguilera gegenüber einem amerikanischen Journalisten nüchtern fest: „Unser Programm ist die Tötung eines Drittels der männlichen Bevölkerung Spaniens. Damit wird das Land sauber werden“.23 Aguilera galt zwar als exzentrisch, doch steckt in dieser Äußerung eine unter den Nationalisten weit verbreitete Ansicht. In Analogie zur Verfolgung „judaisierender Elemente“ durch die spanischen Herrscher der Frühneuzeit, die zu einer „spirituellen Reinigung“ der Nation geführt habe, sollte durch den Bürgerkrieg eine „Reinigung“ Spaniens erfolgen. Im Weltbild spanischer Adliger wie Aguilera schimmerte das Konzept der Blutreinheit (limpieza de sangre) durch, das über Jahrhunderte das Denken in Spanien geprägt hat. Es beschreibt die „Reinheit“ von als minderwertig wahrgenommenen fremden (vor allem jüdischen) Einflüssen. Der Bürgerkrieg wurde in Analogie hierzu nicht nur als Kampf gegen die Ideologie des Marxismus oder gegen die „Söhne Kains“ geführt, sondern auch gegen eine als minderwertig wahrgenommene Bevölkerung. Indem nationalistische Offiziere die Arbeiterschaft geradeheraus als Ratten und Läuse bezeichneten, ihr keinerlei Rechte zustanden, zumal sie mit dem Bazillus des Bolschewismus infiziert nichts als Plagen verbreite, traten neben religiöse oder politische Argumente zusätzlich biologistisch begründete 21 „No es un capricho, el sufrimiento de una nación en un punto de su historia; es el castigo espiritual, castigo que Dios impone a una vida torcida, a una historia no limpia“. Franco, Jaén, 18. März 1940; zit. in: Casanova, Iglesia (wie Anm. 20), 235. 22 „Así como la Cuaresma litúrgica es penitencia [...], así la cuaresma guerrera, que ahora estamos pasando, con el derramamiento de tanta sangre [...], es, a no dudarlo, el castigo de la distra justiciera del supremo y divino Juez a esta Nación“; Pastoralschreiben zur Fastenzeit des Jahres 1937: „sobre las enseñanzas de los tiempos presentes“, 14.02.1937; zit in: Alfonso Álvarez Bolado, Para ganar la guerra, para ganar la paz: Iglesia y guerra civil, 1936–1939, Madrid 1995, 120. 23 Foltz, Masquerade (wie Anm. 6), 116.
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Überzeugungen. Der Militärpsychologe Antonio Vallejo-Nájera, der während des Bürgerkrieges psychiatrische Kliniken im nationalistischen Machtgebiet unterhielt, verschrieb sich ganz in diesem Sinne der Idee, die vermeintliche Minderwertigkeit von Marxisten biologistisch-wissenschaftlich zu begründen. Der Marxismus wurde als Ausdruck einer psychischen Krankheit beschrieben. So entstand eigens eine der psychiatrischen Abteilung des Heeres unterstellte psychologische Forschungsstelle, um an internierten Republikanern die pathologischen Ursachen des Marxismus zu erforschen.24 Die Konsequenz war klar: Das als infiziert diagnostizierte Fleisch sollte chirurgisch aus dem „Volkskörper“ herausgeschnitten werden. Erst damit könne die nationale Psyche und Physis wieder gesunden. Es ging um die „Reinigung“ Spaniens durch die physische Vernichtung alles als minderwertig und unspanisch wahrgenommenen Lebens.
Religion als Herrschaftslegitimation Francos Die Begriffe reconquista und cruzada, die für die „christliche“ Rückeroberung Spaniens im Mittelalter und den Kreuzzugsgedanken stehen, erhielten im Bürgerkrieg eine neue Bedeutung. Aus dem „Rückeroberungskampf“ gegen die Mauren war nun nicht nur ein Kampf gegen den „gottlosen Bolschewismus“ geworden; die Geschehnisse auf den Schlachtfeldern dieses „gerechten Krieges“ wurden vor allem auch religiös gedeutet. Als sehr anschaulich erweist sich in diesem Zusammenhang die Rückschau Francos in Anwesenheit der höchsten kirchlichen Würdenträger in der Kathedrale von Santiago am Gedenktag zu Ehren des Heiligen Jakobus im Jahr 1954: „Unser Kreuzzug war reich an Ereignissen, die wir als Wundertaten bezeichnen können: So jene Beherrschung der Meere über drei Jahre hinweg ohne Schiffe und sonstigen Mitteln außer dem Glauben, der Entschlusskraft und der Hilfe Gottes; so jener unschätzbare Fang eines Achttausend-Tonnen-Schiffes voll beladen mit Waffen für unsere Feinde an einem Morgen der ersten Kriegsmonate, als an der Front die Waffen fehlten und die Ungleichheit der Mittel immer spürbarer wurde. Die Schiffsladung enthielt all jenes Gerät, das unsere Armeen benötigten, um ihre Bewaffnung zu vervollständigen. In wundersamer Weise waren diese Waffen in unsere Hände gelangt und damit unseren Gegnern vorenthalten worden. Zu diesen Wundertaten gehört auch der Einhalt, der dem Ansturm der Roten und ihren Bomben vor den zwei großen Tempeln der Madonnenverehrung, dem der María del Pilar und dem der María de Guadalupe geboten wurde. Diese trotzten über zwei Jahre lang als uneinnehmbare 24 Alberto Reig Tapia, Ideología e historia (sobre la represión franquista y la guerra civil), Madrid 1985, 28.
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Festungen unserer Front den Angriffen unserer Gegner. In wundersamer Weise ereignete sich auch, dass die Mehrzahl unserer großen Schlachten, ohne dass hierzu Berechnung oder Vorhersage möglich gewesen wären, nach Tagen des Kampfes just an den großen Kirchenfeiertagen zu unseren Gunsten entschieden wurden. Hier ragt die erbittert geführte Schlacht von Brunete heraus, die sich nach Tagen härtester und ununterbrochener Kämpfe an einem strahlenden Tag entschied, als die Glocken unserer Kirchen den Festtag des Apostels Jakobus einläuteten und sich damit sein Einwirken mit unserem Sieg verband. Es darf uns nicht verwundern, dass dem so geschah, denn unser Krieg erfüllte die Merkmale eines Kreuzzugs. So hat ihn unser Pontifex bezeichnet, und davon kündet jene Plejade tausender Märtyrer, die ohne den Fall einer einzigen Apostasie für den Glauben gestorben sind.“25 Im Rahmen dieser religiösen Deutung des Kriegsverlaufs nahm der heilige Jakobus nicht nur als Schutzpatron Spaniens eine herausragende Stellung ein. Darüber hinaus wirkte er erklärtermaßen in Analogie zu den ihm zugeschriebenen Taten auf den Schlachtfeldern im Zuge der mittelalterlichen reconquista, die zu dem in Spanien heute noch gebräuchlichen Beinamen matamoros („Maurentöter“) führten. Diese Schutzfunktion und dieses Einwirken wurden nun auf den Bürgerkrieg übertragen. Es entstanden auch vielfältige Allegorien Francos als Ritter unter dem besonderen Schutz des heiligen Jakobus’. Entsprechend wurde er mit kirchlichem Segen als ein von Gott gesandter Retter der Nation 25 „Nuestra Cruzada ha sido pródiga en hechos que pudiéramos calificar de portentosos: aquel dominio del mar mantenido durante tres años sin barcos ni medios materiales, sólo por la fe, la decisión y la ayuda de Dios. Aquella importantísima captura en una amanecida de los primeros meses de la guerra, cuando en los frentes escaseaban las armas y la diferencia de medios se hacía sentir más, de un barco de ocho mil toneladas cargado de material de guerra destinado a nuestros adversarios, y que contenía todo cuanto nuestros ejércitos necesitaban para completar su armamento, que en forma lindante con lo milagroso llegaba a nuestras manos y se privaba de él a nuestros adversarios. Y el detenerse las invasiones rojas y las explosiones de sus bombas en los dos grandes templos marianos del Pilar y Guadalupe, que como proas inexpugnables de nuestro frente resistieron durante más de dos años el ataque de nuestros adversarios. Coincidencia singular ha sido también el que la mayoría de las grandes batallas se resolviesen, sin cálculo ni previsión posible, después de varios días de combate, en las fiestas de las grandes solemnidades de la Iglesia, y entre las que ocupa especial lugar el de la enconada batalla de Brunete que después de prolongados días de durísima lucha, se resolvió en una luminosa mañana cuando las campanas de nuestros templos pregonaban la festividad del Apóstol Santiago, uniendo una vez más su intervención a nuestra victoria. No debe extrañaros, por otra parte, que así sucediese, pues nuestra guerra tuvo los caracteres de Cruzada. Así la calificó nuestro Pontífice y así lo proclaman la pléyade de millares de mártires muertos por la fe, sin una sola apostasía... “ Francisco Franco, Discurso de Presentación de Ofrenda al Apóstol, 25 de julio de 1954; Abdruck in: ABC, 27. Juli 1954.
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gepriesen. So erhielt er auch das Privileg, Gotteshäuser unter dem Baldachin zu betreten, der traditionell den spanischen Königen und der Heiligen Form vorbehalten waren. In der Rhetorik der Nationalisten kam in einer besonderen Weise auch die Rückbesinnung auf die imperiale Zeit zum Tragen, die nach Abschluss der reconquista mit der Herrschaft der Katholischen Könige ihren Anfang genommen hatte. Das „erneuerte Spanien“ von General Franco sollte erklärtermaßen zum Abbild jenes Spaniens des 16. Jahrhunderts werden, als Glaube und Herrschaft unauflösbar miteinander verbunden waren. Unter Bezugnahme auf das „Goldene Zeitalter“ rückte auch der Begriff Imperium in den Mittelpunkt des nationalistischen Diskurses. Damit waren aber insbesondere das Gefühl einer inneren spirituellen Erneuerung gemeint und erst in zweiter Linie Ambitionen territorialer Expansion oder das Ziel, Spanien zu einer militärischen Macht höheren Ranges machen zu wollen. Unter diesem Anspruch wurde der Dankgottesdienst in der Madrider Kirche Santa Barbara am 20. Mai 1939 in Anwesenheit der höchsten Repräsentanten des „Neuen Staates“ und der Kirche abgehalten. Franco weihte dabei seinen Degen dem eigens zu diesem Anlass aus Barcelona herangebrachten „Cristo de Lepanto“, eine Christusdarstellung, die sich der Überlieferung zufolge im Flaggschiff von Juan de Austria während der Seeschlacht von Lepanto gegen die Türken (1571) befunden hatte. Vor allem aber muss in diesem Zusammenhang auf die Basilika im „Tal der Gefallenen“ (Valle de los Caídos) sowie die dazu gehörige Benediktinerabtei als Symbol für die religiöse Deutung des Krieges verwiesen werden. Deren Bau wurde unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkrieges als Grabmonument für die auf der Seite der Nationalisten Gefallenen in Angriff genommen. Allein die Dimensionen dieses Bauprojektes, zudem in einem „ausgebluteten“ Land, das sich über Jahrzehnte nicht von den sozioökonomischen Folgen des Krieges erholen sollte, sind gewaltig.26 Die hierbei inszenierte Verschmelzung der Sphären von Staat und Kirche sowie die erklärte Sendungsmission und Programmatik des „Neuen Staates“ kommen bereits im Text des Dekretes zum Bau der Anlage zum Ausdruck: „So ist ein entlegener Ort gewählt worden, um den grandiosen Tempel für unsere Toten zu errichten, an dem in den kommenden Jahrhunderten Fürbitten gesprochen werden sollen für all jene, die für Gott und das Vaterland gefallen sind; ein ewig währender Wallfahrtsort, an dem 26 Das Kreuz ist 152 Meter hoch und damit das höchste Gedenkkreuz der Welt. Im Vergleich hierzu misst die Christusdarstellung auf dem „Zuckerhut“ von Rio de Janeiro lediglich 40 Meter und die New Yorker Freiheitsstatue samt Sockel 93 Meter. Das Kreuz im Valle de los Caídos steht über der Vierung eines 262 Meter tief in den Granitfels getriebenen Tonnengewölbes. Das Längsschiff des Petersdomes in Rom hat wiederum nur eine Länge von 211 Metern.
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die großartige Landschaft den würdigen Rahmen für jene Erde bietet, in der die Helden und Märtyrer des Kreuzzuges ruhen sollen“.27 Auch die Ikonographie innerhalb der Basilika lässt keinen Zweifel an der intendierten Deutung. An den Seiten des Längsschiffs stehen auf stilisierten Säulen überdimensionale Personifizierungen der nationalistischen Streitkräfte: das Heer, die Luftwaffe, die Kriegsmarine und die Milizen der Falange. Das gewaltige Kuppelmosaik wiederum zeigt Gruppen von Menschen, die ihren Weg in das Himmelreich gefunden haben. Zwei Engel führen jeweils den Aufstieg gefallener nationalistischer Kämpfer sowie ziviler Opfer. Der Symbolgehalt dieser Darstellung als „Triumph des Glaubens“ wird wiederum unterstrichen, indem an der gegenüberliegenden Seite des Mosaiks als Entsprechung hierzu eine Gruppe dargestellt ist, die durch den Apostel Jakobus angeführt wird und die Himmelfahrt bedeutender spanischer Heiliger darstellt, sowie eine zweite den Apostel Paulus an der Spitze spanischer Märtyrer vergangener Jahrhunderte zeigt. In die Basilika sind nach deren Fertigstellung im Jahr 1959 zehntausende Gefallenen überführt worden.28 An der prominentesten Stelle der Anlage, unter der Kuppel, befinden sich die Grablegen Francos sowie des zu Bürgerkriegsbeginn erschossenen und durch die Nationalisten mythisierten Gründers der faschistischen Partei Falange, José Antonio Primo de Rivera. Zu jener Programmatik des „Neuen Spanien“, das durch Franco erklärtermaßen begründet wurde, gehörte auch, dass sich der Valle de los Caídos unweit von El Escorial befindet, jene durch Philipp II. errichtete Klosteranlage, königlicher Palast und Grablege der spanischen Könige, die wiederum das Symbol für die imperiale Macht Spaniens und die Verschmelzung von Thron und Altar in der Frühneuzeit ist.
Die Dimension der Repression Die Entgrenzung der in wesentlichen Aspekten religiös legitimierten Gewalt und Brutalität erreichte eine zeitgenössische Beobachter entsetzende Dimension. Vor allem lässt sich für die nationalistische Seite feststellen, dass das mi27 „A estos fines responde la elección de un lugar retirado donde se levante el templo grandioso de nuestros muertos que, por los siglos, se ruegue por los que cayeron en el camino de Dios y de la Patria. Lugar perenne de peregrinación, en que lo grandioso de la naturaleza ponga un digno marco al campo en que reposan los héroes y mártires de la Cruzada“. Dekret der Staatsführung vom 1. April 1940. Boletín Oficial del Estado (2. April 1940), 2240. Zit. in: Daniel Sueiro, La verdadera historia del Valle de los Caídos, Madrid 1976, 6. 28 Nach einem im Mai 2011 veröffentlichten Untersuchungsergebnis des spanischen Justizministeriums befinden sich gegenwärtig innerhalb der Basilika die sterblichen Überreste von 33.846 Menschen.
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litärische Handeln aus einer spezifischen Militärkultur heraus eine möglichst vollständige Vernichtung des Gegners verfolgte.29 Abgesehen von traurigen Massakern, wie vor allem dem von „Paracuellos del Jarama“, dem Ende 1936 etwa zweitausend in Madrider Gefängnisse einsitzende Anhänger der Nationalisten zum Opfer fielen, gelang es im spanischen republikanischen Gebiet der zivilen Zentralregierung wiederum, dem mörderischen Treiben im Zuge der revolutionären Gewaltexzesse der ersten Kriegsmonate durchaus ein Ende zu setzen. Auf nationalistischer Seite indes fehlte jegliche zivilpolitische Kontrollinstanz, die der Entgrenzung der Gewalt hätte Einhalt gebieten können. Über die Gesamtzahl der Repressionsopfer, also von Bluttaten, die hinter den Frontlinien stattfanden, ist kontrovers diskutiert worden. Schätzungen auf der Grundlage der Ergebnisse einer Vielzahl minutiöser Untersuchungen auf Gemeinde- und Provinzebene zufolge, die inzwischen für einen beträchtlichen Teil der spanischen Provinzen vorliegen, fielen insgesamt an die 150.000 Personen der Repression der Nationalisten zum Opfer. Gewaltexzesse auf republikanischem Gebiet forderten wiederum etwa 50.000 Todesopfer.30 Zu diesen Zahlen der Repressionstoten kommen hunderttausende Kriegstote im eigentlichen Sinn sowie das Leid Hunderttausender aufgrund von Inhaftierung, Strafmaßnahmen und sozialer Marginalisierung hinzu. Circa 400.000 Menschen flohen allein in den letzten Wochen des Krieges aus Angst vor Repression über die katalanische Pyrenäengrenze nach Frankreich. Die Repression im Lager der Nationalisten erfolgte unmittelbar mit dem Vorrücken der Einheiten im eroberten Gebiet. Die Dörfer wurden durch Milizen der Falange und Karlisten nach „Roten“ durchsucht, um sie meist kurzerhand zu liquidieren. Allein ein Amt in einer Arbeiterorganisation führte für gewöhnlich zur Exekution der Betroffenen. Das Belastungsmaterial stammte dabei üblicherweise von den örtlichen Pfarrern oder ortsansässigen Anhängern der Nationalisten. Darüber hinaus wurde in Salamanca eine umfangreiche zentrale Datensammlung aus erbeuteten Unterlagen und Archiven zusammengestellt und ausgewertet, um gezielt gegen weitere als Gegner des „Neuen Spanien“ verdächtigte Personen vorgehen zu können. Gängigerweise fanden mehrere Wellen der Repression statt. Nachdem bei einer ersten Aktion noch recht unkoordiniert exponierte Repräsentanten republikanischer Organisationen ohne förmliche Verfahren erschossen worden waren, erfolgte die nächste Stufe der Repression mit einer Institutionalisierung der Herrschaft im nationalistischen Machtbereich auf der Grundlage von Kriegsgerichtsurteilen. Die Forschung ist sich weitestgehend einig, dass mit der
29 Hierzu bieten sich Parallelen zur Kolonialkriegführung; vgl. Isabel Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005. 30 Vgl. Santos Juliá, Víctimas de la Guerra Civil, Madrid 1999, 410.
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Einrichtung von Tribunalen lediglich der Schein der Legalität gewahrt wurde.31 Die Willkür, mit der vorgegangen wurde, war nach Michael Richards beabsichtigt, denn sie unterstützte die Ziele des Terrorregimes, indem sie das Angstgefühl innerhalb der Bevölkerung verstärkte.32 Unabhängig vom beschriebenen mehrschichtigen ideologischen Gerüst der Legitimierung von Gewalt muss auch der nackte Wunsch nach Rache und Vergeltung als eine bedeutende Antriebsfeder für die Ausübung von Gewalt benannt werden. Der unverblümte Rachegedanke war auch im überwiegenden Teil des Klerus präsent und wurde entsprechend ausgelebt. Denunziationen auf Fingerzeig hin bedeuteten in Kriegszeiten für gewöhnlich das Todesurteil für die Betroffenen. Der Bürgerkrieg war im Jahr 1939 noch lange nicht zu Ende. Der „Tag des Sieges“ am 1. April 1939 war kein Tag des Friedens oder gar ein Tag, von dem ein Signal der Versöhnung ausgehen sollte. Nach dem militärischen Sieg begann der Krieg im Inneren. Die „Kultur der Repression“ (Richards) wurde für die Diktatur konstituierend. Das Gesetz über politische Verantwortlichkeiten vom Februar 1939 sowie das Gesetz zur Unterdrückung von Freimaurerei und Kommunismus vom März 1940 richteten sich nicht nur gegen aktive und passive Unterstützer der republikanischen Kriegspartei. Die politische Gesinnung wurde sogar rückwirkend zu einem Straftatbestand. Die nationalistische Definition von Verbrechen schloss moralische wie ideologische Kategorien mit ein. Hunderttausende Soldaten der Volksarmee und sonstige Verdächtige kamen nach Kriegsende zunächst auf unbestimmte Zeit in Internierungslager. Die Menge der in der Folge anhängigen Verfahren war gewaltig. Nach Angaben von Reig Tapia wurden gegen mehr als 300.000 Personen Verfahren eingeleitet. In den Jahren 1939 und 1940 gab es an die 500 Gefängnisse, die oft nicht mehr als improvisierte Quartiere waren und nicht einmal hygienische Mindeststandards erfüllten.33 Sie waren zudem hoffnungslos überfüllt. Misshandlungen, Willkürakte und Erniedrigungen waren hier genauso alltägliche Praxis wie der Umstand, dass die Essensrationen nicht einmal ausreichten, um den Mindestbedarf an Kalorien zu decken. Eine seuchenartige Verbreitung von Typhus und Tuberkulose war die unmittelbare Folge. Tausende verstarben an den Haftbedingungen. Darüber hinaus wurden gewaltige Arbeitslager geschaffen. Die Zwangsarbeiter 31 Entsprechend ist die Studie von Julius Ruiz über die Militärjustiz in Madrid als Verharmlosung der politisch-ideologischen Ziele in die Kritik geraten; vgl. Julius Ruiz, Franco’s Justice. Repression in Madrid after the Spanish Civil War, Oxford 2005. Zum Willkürcharakter vgl. Antonio Bahamonde, Un año con Queipo de Llano. Memorias de un nacionalista, Sevilla 2005, 158f. 32 Michael Richards, A Time of Silence. Civil War and the Culture of Repression in Franco’s Spain, 1936–1945, Oxford 1998, 28f. 33 Alberto Reig Tapia, Violencia y terror. Estudios sobre la Guerra Civil Española, Madrid 1990, 99.
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wurden unter menschenverachtenden Bedingungen vor allem im Straßenbau, in Bergwerken oder beim Wiederaufbau zerstörter Gebiete eingesetzt. Dem „Nationalen Patronat zur Haftverkürzung durch Arbeitseinsatz“ (Patronato para la Redención de Penas por el Trabajo), an dem kirchliche Einrichtungen mitwirkten, ging es dem eigenen Verständnis nach um die „Läuterung“ der Strafgefangenen. Dahinter stand die Vorstellung, dass die „Sünde“ der Einlassung mit sozialistischen Idealen Bußhandlungen erforderlich mache. Entsprechend bestand die Möglichkeit, festgestellte Schuld durch Arbeit abzutragen. Marxistische Überzeugungen sollten darüber hinaus mittels intensiver Missionierung aufgegeben werden und dem christlich-katholischen Glaubensbekenntnis weichen. Diesem Patronat unterstand auch die Errichtung des Mausoleums im „Valle de los Caídos“. Abertausende Strafgefangene wurden für den zwanzigjährigen Bau herangezogen. Mit einer Haftentlassung war aber keineswegs der Weg zur sozialen Reintegration frei. So folgten ihr üblicherweise strenge Auflagen oder sogar die Verbannung aus dem Heimatort. Auch die Verteilung von Arbeitsplätzen unterlag ideologischen Kriterien. Personen, die auf der Seite der Nationalisten gekämpft hatten oder die durch „Rote“ verfolgt worden waren, genossen bei der Stellenvergabe grundsätzlich Vorrang. Die vorgeschriebene politische Überprüfung aller Stelleninhaber im Staatsdienst sperrte Missliebige sogar vollständig von einem Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst aus. Damit erfolgte eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft in Sieger und Besiegte, Besitzende und Marginalisierte. Enteignungen oder Geldstrafen als ökonomische Strafmaßnahmen waren ebenfalls ein gezielt eingesetztes Mittel der Unterdrückung. Die Familien von Strafgefangenen, die ohnehin in sozialer Isolation lebten, rutschten auf diese Weise häufig in Armut und Elend ab. Mitunter wurden den Familien von Republikanern sogar die Kinder entrissen, um sie staatlicher Obhut zu übergeben oder zur Adoption freizugeben. Die Zahl der Kinder mit inhaftierten Elternteilen, die sich unter staatlicher Obhut befanden, belief sich nach offiziellen Angaben für das Jahr 1943 auf etwa 12.000.34 Die Falange besaß einen Freibrief, um die Familien von Republikanern zu drangsalieren. Die Repression erhielt damit nicht nur einen willkürlichen, sondern auch einen gleichsam institutionellen Charakter. Die soziale Kontrolle, die von den örtlichen Pfarrern der Falange und durch die Gemeindeverwaltung ausging, war ein einschnürendes und vor allem auf Dauer angelegtes Mittel der Repression. Während Denkmäler, Friedhöfe, Kirchenmauern und Straßennamen die Erinnerung an die Opfer der Sieger allgegenwärtig machte, waren die Unterdrück-
34 Vgl. Ricard Vinyes u.a., Los niños perdidos del franquismo, Barcelona 2002, 59.
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ten zum Schweigen verdammt. Angst, Einsamkeit, Verlust und Ungewissheit lagen jahrzehntelang wie ein Schatten über den Verlierern des Krieges.35 Insgesamt betrachtet kann die Repression im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit keinesfalls ausschließlich durch den Verweis auf militärische Logik oder Folgen, die sich aus den erhitzten Gemütern und Racheimpulsen ergaben, erklärt werden. Es handelte sich vielmehr um ein systematisch umgesetztes Projekt des Terrors zur „Reinigung der Gesellschaft“ nach ideologischen Kriterien. Es ging darum, nach Möglichkeit für alle Zukunft jegliche Keime politischer Opposition zu beseitigen. Der Herstellung der „Purität der Nation“ fielen durch Tod, aber auch durch Inhaftierung, Zwangsarbeit und Exil weit über eine Million Menschen zum Opfer. Gerade in diesem Sinne attestiert Paul Preston, einer der besten Kenner der Materie, der durch die Nationalisten ausgeübten Gewalt sogar einen genozidalen Charakter. Entsprechend trägt seine kürzlich erschienene Studie den provokanten Titel „The Spanish Holocaust“.36
Deutung und Grenzen der Identifikation zwischen Regime und Kirche Die Sakralisierung der Gewalt hat zweifellos zu einer Steigerung der Kompromisslosigkeit, Unerbittlichkeit und Brutalität der Auseinandersetzung beigetragen. Sie war auch konstituierend für das Regime, das siegreich aus dem Bürgerkrieg hervortrat. Die Verschränkung von Staat und Kirche bildete eine der Grundfesten des „Neuen Staates“. Die Identifikation der Nationalisten mit der Doktrin der katholischen Kirche trug ferner dazu bei, dass in Spanien keine Ideologie von der Art entstand, für die Eric Voegelin den Begriff der „politischen Religion“ hinsichtlich des totalitären Anspruchs des Faschismus geprägt hat. Das Bündnis zwischen Kirche und Diktatur verhinderte vielmehr die Ausbildung einer politischen Religion des Franquismus, die zunächst einmal mit der Sakralisierung des Krieges und der Mythisierung Francos durchaus denkbar gewesen wäre. Nach Giuliana di Febo war für die franquistische Diktatur vielmehr kennzeichnend, dass diese katholische Riten für eigene Zwecke instrumentalisierte, während im Italien Mussolinis eine Übertragung von Glaubensinhalten, liturgischen Handlungen und christlicher Symbolik auf die politische Sphäre stattgefunden habe.37 Die Doktrin der katholischen Kirche 35 Vgl. hierzu etwa Carles Santacana i Torres, Victoriosos i derrotats: el franquisme a L’Hospitalet, 1939–1951, Barcelona 1994, 113. 36 Paul Preston, The Spanish Holocaust: Inquisition and Extermination in Twenteeth-Century Spain, London 2012. 37 Vgl. Giuliana di Febo, Ritos de guerra y de victoria en la España franquista, Bilbao 2002.
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übernahm auf diese Weise eine totalisierende Funktion, da sie auf säkular-politischer Ebene zum gesamtgesellschaftlichen Richtmaß erhoben wurde. Die Kirche verschmolz auf diese Weise mit den politischen Gewalten und initiierte eine Disziplinierung der Gesellschaft. Alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sollten im Sinne der katholischen Doktrin sittlich normiert werden. Der Missionseifer seitens der Kirche erwies sich als umfassend. Doch wenngleich sich der allergrößte Teil des Klerus aus tiefer Überzeugung heraus bis in die 1960er Jahre hinein mit dem Franco-Regime identifizierte und sich für die Verschränkung der Sphären von Staat und Kirche der treffende Begriff „Nationalkatholizismus“ etablierte, lassen sich im Zuge einer Nationalisierung des Religiösen frühzeitig Hinweise auf Reibungsflächen ausmachen: Trotz aller grundsätzlichen Kongruenz im Feindbild ging vor allem die Unerbittlichkeit der Nationalisten weit über den durch die katholische Doktrin gesetzten Rahmen hinaus. So ließ Papst Pius XII. zwar keinen Zweifel an der religiösen Bedeutung des Krieges und der Haltung des Vatikans gegenüber dem Kommunismus als Ideologie, wie in seiner überaus herzlichen Gratulation zum Sieg zum Ausdruck kam.38 Hiervon unabhängig zensierte das Regime wiederum jene Passagen des Schreibens, in denen Großmut und Menschlichkeit gegenüber den Unterworfenen angemahnt wurden. Eine unterschiedliche Grundhaltung zeigte sich etwa auch an verschiedenen Friedensvermittlungsversuchen unter Beteiligung des Vatikans, die jedoch durch Franco stets strikt abgelehnt und unterbunden worden waren. Ganz in diesem Sinne ereilte auch die katholischen baskischen Nationalisten und katholischen Intellektuellen, die auf der Seite der Republik gekämpft hatten, sowie sogar jenen Teil des baskischen Klerus, der sich gegen die Aufständischen gestellt hatte, ein hartes Schicksal. Sechzehn baskische Priester wurden im Zuge der Repression durch spanische Nationalisten erschossen.39 Franco zeigte sich sogar unerbittlich gegenüber ranghohen Mitgliedern der Hierarchie, wie etwa Kar38 „Mit größter Freude wenden Wir uns an Euch, geliebteste Kinder des katholischen Spanien, um Euch unseren väterlichen Glückwunsch für den Frieden und den Sieg auszusprechen, mit dem Gott gnädigerweise das christliche Heldentum Eures Glaubens und Eurer Barmherzigkeit gekrönt hat, die ihr in so vielen und großzügigen Leiden unter Beweis gestellt habt. [...] Die Absichten der Vorsehung, geliebteste Kinder, haben sich erneut gegenüber dem heldenhaften Spanien gezeigt, der von Gott als wichtigstes Instrument der Evangelisierung der neuen Welt und als uneinnehmbare Festung des katholischen Glaubens auserwählten Nation; der katholische Glaube hat soeben den Anhängern des materialistischen Atheismus unseres Jahrhunderts den erhabensten Beweis dafür geliefert, dass die ewigen Werte der Religion und des Geistes über allem stehen.“ 16. April 1939. Zit in: Bernecker, Religion (wie Anm. 16), 99. 39 Vgl. Joseba Goñi Galarraga, La Guerra Civil en el País Vasco. Una guerra entre católicos, Vitoria 1989, 227–234.
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dinal Vidal y Barraquer, dem Erzbischof von Tarragona. Dieser hatte nicht nur das Kollektivschreiben der Bischöfe nicht mit unterschrieben. Darüber hinaus hatte er von seinem römischen Exil aus eine versöhnende Haltung zwischen den Kriegsparteien eingenommen und sich im Herbst 1938 sogar an einem Friedensvermittlungsversuch beteiligt. Vidal wurde nach dem Krieg nicht gestattet, in sein Erzbistum zurückzukehren. Zu dem Vorrang nationaler Interessen gehört auch, dass die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom März 1937 nicht veröffentlicht wurde, da das Spanien Francos im Bann der „Neuen Ordnung“ in Europa stand. Ebenso blieben nicht nur die Wünsche von Kardinal Gomá nach Vergebung und Versöhnung ungehört, die der Kardinalprimas nach dem Bürgerkriegsende in einem Hirtenbrief Anfang August 1939 aussprach, sondern insbesondere die darin zum Ausdruck gebrachte Verurteilung totalitärer Tendenzen in Spanien. Der Hirtenbrief wurde zensiert und konnte allein im Amtsblatt des Erzbistums erscheinen.40 Zudem kam es zu Reibungen zwischen Kirchenrepräsentanten und Vertretern der faschistischen Einheitspartei des Regimes, insbesondere auf Feldern, in denen im Sinne der christlichen Soziallehre die Kirche den Anspruch erhob, normierend zu wirken, und dabei auf den Widerstand falangistischer Organisationen stieß. Anekdotisch wirkt wiederum, dass die Kathedrale von Sevilla auf Weisung des Erzbischofs, Pedro Kardinal Segura, als einziges Gotteshaus im franquistischen Spanien gilt, an dem das genannte Kreuz zu Ehren der Gefallenen nicht angebracht werden durfte, da Segura dies als politische Aussage wertete. Das Gegenbeispiel stellt wiederum der Bischof von Madrid, Leopoldo Eijo y Garay dar, der gemeinhin als „blauer Bischof“ in Anlehnung an die blauen Hemden der Falange bezeichnet wird. Wie an diesen Beispielen deutlich wird, schwelten hinter der Fassade einer vollständigen Kongruenz im Weltbild und eines makellosen Einvernehmens zwischen Staat und Kirche durchaus Misstrauen und Differenzen. Entsprechendes lässt sich auch für das Konkordat aus dem Jahr 1953 feststellen. Dieses wird zu Recht als Ausdruck einer für das 20. Jahrhundert völlig unüblichen Verschränkung von Staat und Kirche verstanden. Es muss aber, so etwa hinsichtlich des Präsentationsrechts des spanischen Staatschefs, als Zeichen der Überordnung des Nationalen gegenüber dem Katholischen verstanden werden. All diese Einschränkungen und Grenzen haben aber der Sakralisierung des Bürgerkriegs als Kreuzzug und der religiösen Legitimierung der Gewalt der Nationalisten keinen Abbruch getan. Diese religiöse Deutung hielt sich weit über das Ende des Krieges hinaus, wie in Reden oder Schriftzeugnissen unmissverständlich zum Ausdruck kam. Die Herrschaft Francos verstand sich entsprechend als gottgewollt. Dies zeigt sich eindringlich am Umlauf der Münzen aus der Zeit der 40 Vgl. hierzu Vicente Cárcel Ortí, La Iglesia y la transición española, Valencia 2003, 37ff.
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Diktatur, die das Konterfei Francos trugen: „Francisco Franco, Führer Spaniens von Gottes Gnaden“. Erst die grundlegenden Veränderungen im Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche als Ergebnis des Zweiten Vatikanischen Konzils brachten dieses scheinbar solide Gerüst zum Einsturz.
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Katholische Kirche und Gewalt im nationalsozialistischen Deutschland Die Bischöfe, der Tyrannenmord und der Krieg Man wird kaum sagen können, das Problem der Gewalt in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung habe die deutschen katholischen Bischöfe 1933 unvorbereitet getroffen. Gewalt hatte das politische Klima im Deutschland der Weimarer Republik seit vielen Jahren bestimmt, sei es in Form von gewaltsamen Putschversuchen, politischen Morden oder bei blutigen Straßen- und Saalschlachten der verfeindeten politischen Parteien.1 Als gegen Ende des Jahres 1931 die Gewalttätigkeit auf den Straßen überhandgenommen hatte, ersuchte Reichsinnenminister Wilhelm Groener in dem Bestreben, die öffentliche Ruhe und Sicherheit wiederherzustellen, sogar die Kirchen um Hilfe und bat die deutschen Bischöfe um ein öffentliches Wort zugunsten der Aufrechterhaltung des inneren Friedens. Denn „die großen christlichen Religionsgesellschaften“ schienen ihm „besonders berufen, dem Staate wirksamen Beistand in der Verhütung von Gewalttätigkeiten zu leihen, zumal diese nicht bloß die staatlichen, sondern ebenso die kirchlichen Grundlagen aufs schwerste angreifen.“2 Daraufhin hatten die Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz keine zwei Wochen später eine Ermahnung formuliert, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Darin wurde den Gläubigen in Erinnerung gerufen: „Das Gebot der christlichen Nächstenliebe gilt auch – das dürft ihr nie vergessen – gegenüber dem politischen Gegner: auch seine Ehre und sein guter Name, sein Leben und sein Eigentum müssen dem Christen stets heilig und unverletzlich sein.“ Und weiter: „[...] alle ermahnen wir in der Liebe Christi, sich selbst zu prüfen, ob sie ihr Verhalten gegenüber den Angehörigen anderer politischer Richtung vor unserem Herrn und Heiland verantworten können; sie alle bitten und beschwören wir, stets eingedenk zu bleiben des unzweideutigen Wortes Jesu Christi: ‚Ob ihr meine Jünger seid, wird man daran erkennen, daß ihr einander liebt.’“3 Reichsinnenminister Groener war aufgrund solcher wie ähnlicher anderer Initiativen
1 Vgl. etwa Horst Möller, Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie, München 92008. 2 Heinz Hürten, Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1918–1933, Bd. 2 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 51), Paderborn u.a. 2007, Nr. 552, 1164. 3 Hürten, Akten (wie Anm. 2), Nr. 556, 1169.
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denn auch äußerst dankbar für diese wertvolle Hilfe des deutschen Episkopats gewesen.4 Wie verhielten sich die deutschen Bischöfe aber, als mit dem 30. Januar 1933 beziehungsweise mit der Wahl vom 5. März 1933 jene Bewegung, die neben den Kommunisten die Hauptverantwortung für die instabilen gewalttätigen Zustände getragen hatte, zur scheinbar rechtmäßigen Obrigkeit wurde? Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, den Blick auf Ereignisse zu richten, die die Gewalttätigkeit des Regimes offenbarten und das bischöfliche Verhalten bei diesen Anlässen zu sondieren. Dementsprechend soll die Position der deutschen Bischöfe zu folgenden Entwicklungen beleuchtet werden: Erstens zum sogenannten Röhmputsch 1934, zweitens zur Verfolgung der Juden, drittens zu den Sterilisations- und sogenannten Euthanasieverbrechen 1933 und ab 1939 und schließlich viertens zum Krieg. Abschließend wäre zudem fünftens das Thema „Die Bischöfe und der Tyrannenmord“ anzusprechen.
Der Röhmputsch 1934 Das Jahr 1933 stellt in gewisser Weise eine Zäsur im Verhältnis der katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus dar, der bis dahin von den Bischöfen stets und in deutlichen Worten abgelehnt worden war.5 Nachdem der Führer der NSDAP und Reichskanzler Adolf Hitler der Kirche in seiner Reichstagsrede bei den Beratungen des Ermächtigungsgesetzes (23.3.1933) scheinbar Zugeständnisse gemacht hatte und zu einem Entgegenkommen offenbar bereit war, hielt der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, der Breslauer Bischof Adolf Kardinal Bertram, den Zeitpunkt für gekommen, die kirchlichen Vorbehalte dem Nationalsozialismus gegenüber einzuschränken und sich in seiner berühmten Kundgebung vom 28. März mit dem Nationalsozialismus an der Macht in ein positiveres Verhältnis zu setzen. Rasch über4 Ebd., Nr. 563, 1176. Zum Vergleich des bischöflichen Verhaltens in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus auch Antonia Leugers, Positionen der Bischöfe zum Nationalsozialismus und zur nationalsozialistischen Staatsautorität, in: Rainer Bendel (Hg.), Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich zwischen Arrangement und Widerstand (Wissenschaftliche Paperbacks 14), Münster ²2004, 122–142, hier 122f. 5 Besonders deutlich formulierte der Mainzer Generalvikar Philipp Jakob Mayer am 30. September 1930 die grundsätzliche Ablehnung der „Weltanschauung“ der Nationalsozialisten durch die katholische Kirche. Vgl. dazu Hubert Gruber, Katholische Kirche und Nationalsozialismus 1930–1945. Ein Bericht in Quellen, Paderborn 2006, Nr. 2, 2–4. Zum Zusammenhang siehe Karl-Joseph Hummel/Michael Kißener (Hg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn 22010.
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lesen wurden damals wie heute allerdings die weiter in Geltung bleibenden Mahnungen – unter diesen auch die Aufforderung, „stets wachsam und opferfreudig einzutreten für Frieden und soziale Wohlfahrt des Volkes“.6 Aus der Retrospektive erscheint diese an alle Katholiken ergangene Mahnung geradezu unrealistisch, hörten die Gewalttaten der Nationalsozialisten doch mit der Machtergreifung nicht auf, sondern steigerten sich sogar im Vorfeld der Wahl vom 5. März erneut und waren in dem sozialrevolutionären Gebaren der SA mit ihren wilden Konzentrationslagern und vielfältigen Übergriffen nicht zuletzt auch auf katholische Priester und Laien ebenso für die Bischöfe sichtbar. Ex ante, ohne das Wissen um den weiteren Lauf der Geschichte, stufte man diese Gewaltexzesse jedoch als bedauerliche Entgleisungen ein, gegen die auch Protest erhoben wurde, glaubte aber doch, auf deren baldige Einstellung hoffen zu dürfen, zumal Hitler selbst sich nunmehr staatsmännisch und auch international außerordentlich friedliebend gab.7 1934 gelang es Hitler sogar, einen offenen Akt der Staatswillkür in der Öffentlichkeit als „Staatsnotwehr“ darzustellen und damit seine Popularität zu steigern. Der innerparteilichen Konkurrenz des SA-Führers Ernst Röhm entledigte er sich durch offen eingestandenen politischen Mord, indem er ohne Urteil und Gericht Röhm und seine wichtigsten Gefolgsleute hinrichten ließ und sich kurzerhand zum obersten Gerichtsherrn erklärte. Aber nicht nur Röhm fiel der Kampagne zum Opfer, auch völlig Unbeteiligte, unter ihnen prominente Katholiken, wurden kaltblütig ermordet: so etwa der Leiter der Katholischen Aktion im Bistum Berlin, Erich Klausener, der Chefredakteur der regimekritischen Zeitung „Der Gerade Weg“, Fritz Michael Gerlich, oder der Reichsführer der Deutschen Jugendkraft, Dachverband der katholischen Turn- und Sportvereine, Adalbert Probst. Diese prominenten, potentiell regimefeindlichen Katholiken liquidierte man, die Gunst der Stunde nutzend, gleich mit. Ein Aufschrei, ein großer öffentlicher Protest des deutschen Episkopats gegen diesen ungeheuren Gewaltakt unterblieb jedoch. Nur einzelne Bischöfe wie der Berliner Bischof Nikolaus Bares oder der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen verlangten von der Regierung, freilich erfolglos, eine Aufklärung der Mordtaten. Die meisten jedoch schwiegen, weil sie sich nur für die Seelsorge verantwortlich fühlten oder aber, glaubt man den erhaltenen Stimmungsberichten dieser Zeit, weil sie wie die meisten Katholiken geradezu erleichtert darüber waren, den gewalttätigen SA-Pöbel nun endlich los zu sein. In Hitler selbst wollten die meisten Deutschen seitdem den 6 Gruber, Kirche (wie Anm. 5), Nr. 22, 40. Zu Bertram siehe Sascha Hinkel, Adolf Kardinal Bertram. Kirchenpolitik in Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 117), Paderborn u.a. 2010. 7 Vgl. beispielhaft ebd. Nr. 29–33, 53–63.
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Staatsmann erkennen, der sich kraftvoll gegen seine undisziplinierten Schlägerbanden durchgesetzt habe: „Wenn das der Führer wüsste“, wurde deshalb zu einem geflügelten Wort.8
Verfolgung der Juden Die auffallende Zurückhaltung der deutschen Bischöfe gegenüber diesen Gewaltakten korrespondiert in gewisser Weise mit ihrem weitgehenden öffentlichen Schweigen gegenüber der zunehmenden Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung der Juden. Als die Gewalt gegen Juden mit dem sogenannten „Judenboykott“ am 1. April 1933 „anfing“, wurde nicht nur der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram, sondern auch der Münchner Kardinal Michael von Faulhaber direkt wegen eines Eintretens für die Juden angegangen. Auf Bertrams Anfrage an die Erzbischöfe, wie man sich verhalten solle, reagierte nur der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber positiv und befürwortete eine öffentliche Intervention zugunsten der Juden. Faulhaber hingegen lehnte fast verärgert ab, obwohl er an dem unchristlichen Charakter der Maßnahmen keinen Zweifel hatte und früher durchaus für die Juden in München eingetreten war. Auch beim Erlass der Nürnberger Rassegesetze 1935 wie auch bei den gewalttätigen Ausschreitungen in der Reichspogromnacht 1938 und schließlich bei dem Abtransport der Juden in die Vernichtungslager des Ostens während des Zweiten Weltkriegs war keine große öffentliche Kundgebung der deutschen Bischöfe gegen dieses Unrecht, die Gewalt, die Verbrechen zu vernehmen. Zur Erklärung dieses Umstandes stehen sich bis heute zwei konkurrierende Argumentationen gegenüber: Der erste, ältere Erklärungsansatz verweist darauf, dass den Bischöfen anfänglich das Ausmaß der Bedrohung nicht habe bekannt sein können, dass nicht nur sie, sondern auch andere Konfessionen sich nur für ihre Glaubensschwestern und -brüder hätten verantwortlich fühlen können, dass aber die steigende Verfolgung der katholischen Kirche selbst am Ende eine kraftvolle Intervention zugunsten der verfolgten Juden unmöglich gemacht habe. Man habe schließlich weder die Juden durch einen großen öf8 Michael Kissener, Der „Röhmputsch“ und die deutschen Katholiken, in: Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Hg.), 92. deutscher Katholikentag Dresden, 29.6.–3.7.1994. „Unterwegs zur Einheit“, Bonn 1994, 419–429. Vgl. auch Peter Longerich, Vorgeschichte und Verlauf des 30. Juni 1934, in: Michael Kissener (Hg.), Der Weg in den Nationalsozialismus 1933/34 (Neue Wege der Forschung), Darmstadt 2009, 225–241. Zu Gerlich neuerdings: Rudolf Morsey (Bearb.), Fritz-Michael Gerlich – ein Publizist gegen Hitler. Briefe und Akten 1930–1934 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 56), Paderborn u.a. 2010.
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fentlichen Protest zusätzlich gefährden noch sich selbst durch ein Eintreten für die Juden einer weiteren Intensivierung der Verfolgung aussetzen wollen. Vor allem auch die eigene Aufgabenzuschreibung, die von einer unpolitischen, nur auf die Seelsorge im engsten Bereich konzentrierten Kirchentätigkeit ausging, habe ein über die Konfessionsgrenzen hinausgehendes Eintreten für die allgemeinen Menschenrechte behindert.9 In Bezug auf den Handlungsspielraum der Bischöfe wird gelegentlich ergänzt, dass das NS-Regime gerne auch zu einer geradezu teuflischen Art Geiseltaktik griff: Einen potentiell widerspruchswilligen, aktionsbereiten Bischof griff man nicht persönlich an, sondern hielt sich an seine Mitarbeiter und Diözesanpriester, die wegen Nichtigkeiten inhaftiert oder sonstwie bestraft wurden. Damit konnte ein Bischof auch zum Schweigen gezwungen werden, wollte er nicht andere an seiner statt leiden lassen.10 Der zweite Erklärungsansatz interpretiert die vorgestellten Fakten ganz anders: nämlich als klaren Beleg für ein schlichtes Versagen des deutschen Episkopats, mehr noch als Ausfluss einer immer schon im Katholizismus angelegten antijudaistischen Haltung, die sich unter den Bedingungen der Moderne zum Antisemitismus ausgeweitet habe11 und kalte Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden, ja sogar eine gewisse Interessenkongruenz zwischen dem Regime und den katholischen Kirchenleitungen belege. Bei beiden Argumentationen scheint zu wenig in Rechnung gestellt zu werden, was der Bochumer Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg vor Jahren schon betont hat: dass nämlich die Bischöfe erst durch die Herausforderung des Nationalsozialismus dazu gezwungen wurden, ihr Verhältnis zum Judentum neu zu überdenken und gerade durch diese Herausforderung sich erst ihrer Verantwortung für die Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte bewusst geworden sind.12 So lässt sich meines Erachtens das Neben- und Gegeneinander 9 Vgl. dazu beispielhaft: Konrad Repgen, 1938 – Judenpogrom und katholischer Kirchenkampf, in: Günther Brakelmann/Martin Rosowski (Hg.), Antisemitismus. Von religiöser Judenfeindschaft zur Rassenideologie, Göttingen 1989, 112–146. Walter Ziegler, Die deutschen katholischen Bischöfe unter der NS-Herrschaft. Religiöses Amt und politische Herausforderung, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), 395–437. 10 Thomas Brechenmacher, Die Kirche und die Juden, in: Karl-Joseph Hummel/Michael Kissener (Hg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn u.a. 2009, 125–143, hier 136. 11 Dabei bleibt die begriffliche Unterscheidung in der Regel unreflektiert, vgl. dazu Hochgeschwender und den Kommentar Altgeld in Karl-Joseph Hummel (Hg.), Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 100), Paderborn 2004, 31–48, 49–55. 12 Wilhelm Damberg, Christen und Juden in der Kirchengeschichte. Methoden, Perspektiven, Probleme, in: Peter Hünermann (Hg.), Methodische Erneuerung der Theologie. Konsequenzen der wieder entdeckten jüdisch-christlichen Gemeinsamkeiten, Freiburg
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von Positionen gegenüber den Gewalttaten an den Juden im Kreis der deutschen Bischöfe am besten erklären. Denn neben und hinter dem Schweigen etwa gegenüber dem Pogrom gab es durch verschiedene kirchliche Hilfsstellen Unterstützung, insbesondere für die sogenannten „christlichen Nichtarier“, um sie vor der Gewalt des Staates zu schützen. Bischof Maximilian Kaller von Ermland wollte 1942 sogar selbst ins Konzentrationslager gehen, um dort im Martyrium Seelsorge zu üben.13 Am Ende stand der sogenannte „Dekaloghirtenbrief“ vom 19. August 1943. Gegen das Votum des alternden Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz formulierte man dort schließlich so eindeutig wie all die Jahre zuvor nicht: „Tötung ist in sich schlecht, auch wenn sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls verübt würde: An schuld- und wehrlosen Geistesschwachen und -kranken, an unheilbar Siechen und tödlich Verletzten, an erblich Belasteten und lebensuntüchtigen Neugeborenen, an unschuldigen Geiseln und entwaffneten Kriegs- oder Strafgefangenen, an Menschen fremder Rassen und Abstammung.“14
Sterilisations- und Euthanasieverbrechen Nicht zufällig stehen in dieser Auflistung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen wohl die Untaten an „schuld- und wehrlosen Geistesschwachen“ an erster Stelle. Auf diesem Gebiet sahen sich die Bischöfe schon 1933 als zuständig an. Deshalb wandten sie sich von Anfang an gegen die Gewalt, die man Menschen mit bestimmten Krankheiten schon 1933 im Rahmen des sogenannten Gesetzes zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 antat – Menschen, die sich häufig zudem in Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft befanden. Kardinal Bertram empfahl seinen Amtskollegen 1934 in einer Kanzelverkündigung den Gläubigen klarzumachen: „In der Frage der Sterilisierung gelten für die Gläubigen die von der höchsten kirchlichen Autorität verkündeten Grundsätze des christlichen Sittengesetzes. 2003, 93–115. Siehe auch Michael Kißener, Die deutschen katholischen Bischöfe und die Juden. Perspektiven auf ein umstrittenes Thema, in: Thomas Brechenmacher/Harry Oelke (Hg.), Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat (Dachauer Symposion zur Zeitgeschichte 11), Göttingen 2011, 162–174. 13 Gerhard Reifferscheid, Das Bistum Ermland und das Dritte Reich (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 7), Köln 1975, 256. 14 Gruber, Kirche (wie Anm. 5), Nr. 247, hier 492. Zur ebenso bemerkenswerten Haltung des Mainzer Bischofs Stohr siehe demnächst: Hermann Josef Braun/Michael Kißener, Der Mainzer Bischof und die Juden. Zur Geschichte eines nicht abgesandten Briefes, in: Historisches Jahrbuch 1933 (2013) sowie Karl Kardinal Lehmann (Hg.), Dominus Fortitudo. Bischof Albert Stohr (1890–1961), Mainz 2012.
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Gemäß den Weisungen des Heiligen Vaters erinnern wir daran: Es ist nicht erlaubt, sich selbst zur Sterilisation zu stellen oder Antrag zu stellen auf Sterilisation eines anderen Menschen. Das ist die Lehre der katholischen Kirche“. Auch wenn in der Anwendung dieser Grundsätze sich schließlich wieder Differenzen zwischen den Bistümern ergaben, war doch klar, dass die Bischöfe diesen Gewaltakten keinen Vorschub leisten und die Mitwirkung an einem so offensichtlich ungerechten, mit den Glaubensgrundlagen unvereinbaren Gesetz unterbinden wollten.15 Ebenso klar war die Position der Bischöfe bei der zu Kriegsbeginn einsetzenden Aktion T 4, euphemistisch auch als „Euthanasieaktion“ bezeichnet. Die Tötung angeblich lebensunwerten Lebens durch den Staat wurde ebenso eindeutig abgelehnt: Der Bischof von Münster formulierte in seinen berühmten öffentlichen Predigten, die vervielfältigt bald in ganz Deutschland kursierten, die ablehnende kirchliche Position gleichsam als Vorreiter.16
Der Krieg Es ist vor diesem Hintergrund nur schwer vorstellbar, dass der Gewaltcharakter und die verbrecherische Qualität des NS-Regimes den Bischöfen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht einigermaßen deutlich vor Augen gestanden haben muss. Nicht nur katholische Priester und Laien hatten ja bis dahin schon zu tausenden Gewaltmaßnahmen des Regimes über sich ergehen lassen müssen. Auch einige Bischöfe waren selbst der Gewalttätigkeit des NSMobs ausgesetzt gewesen, so etwa der 1938 aus seiner Diözese ausgewiesene Rottenburger Bischof Joannes Baptista Sproll, dessen Bischofssitz mehrfach angegriffen wurde oder auch der Würzburger Bischof Matthias Ehrenfried oder der Mainzer Bischof Ludwig Maria Hugo, denen solche Angriffe schon 1933 und 1934 widerfahren waren. Gegen Ende des Krieges machte die Gestapo sogar Jagd auf den Mainzer Bischof Albert Stohr, der sich wochenlang
15 Zit. nach Hans-Josef Wollasch, Beiträge zur Geschichte der deutschen Caritas in der Zeit der Weltkriege. Zum 100. Geburtstag von Benedict Kreutz (1879–1949), Freiburg 1978, 197, 199. Zur Einordnung Theodor Strohm, Bestandsaufnahme. Die Haltung der Kirchen zu den NS-„Euthanasie“-Verbrechen, in: Maike Rotzoll u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T 4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010, 125–133. 16 Joachim Kuropka (Hg.), Streitfall Galen. Clemens August Graf von Galen und der Nationalsozialismus. Studien und Dokumente, Münster ²2007; Hubert Wolf, Clemens August von Galen. Ein Kirchenfürst im Nationalsozialismus, Darmstadt 2007.
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verstecken musste, um womöglich sogar seiner Ermordung zu entgehen.17 Vielleicht ist vor diesem Hintergrund auch die eher verhaltene Reaktion der deutschen katholischen Kirche gegenüber dem Kriegsbeginn 1939 zu sehen. Anders als 1914 gab es keine großen Waffensegnungen und die Ergebenheitsadressen gegenüber der politischen Führung fielen insgesamt und im Vergleich mit denen der evangelischen Kirche doch zurückhaltend aus. Lediglich 1941, als sich der Krieg gegen das seit Jahrzehnten als Feind der Christenheit identifizierte bolschewistische Russland wandte, fanden sich einige Bischöfe zum Jubel auf Hitlers Kriegsführung bereit. Doch insgesamt interpretierten die Bischöfe und Priester den Krieg als Prüfung Gottes, die er den Menschen ihrer Verfehlungen wegen auferlegt habe – eine Sicht, die dem Regime alles andere als genehm sein konnte.18
Die Bischöfe und der Tyrannenmord Je länger das Unrechts- und Gewaltregime herrschte, desto deutlicher musste den Bischöfen vor Augen stehen, dass seine Ablösung nur von außen durch den Erfolg der alliierten Waffen oder aber von innen durch einen gewaltsamen Umsturz zu erwarten war. Beide Wege dürften den meisten Bischöfen gleichermaßen nur schwer akzeptabel erschienen sein. Den Sieg der alliierten Waffen im Krieg zu wünschen, war gewiss gerade der älteren, patriotisch denkenden Bischofsgeneration, deren politische Sozialisation im Kaiserreich stattgefunden hatte, unmöglich, ganz gleich wie gewalttätig sich das Regime auch nach innen gebärdete. Jüngeren Bischöfen unterstellte das Regime allerdings bereits im Bund mit den Alliierten zu stehen, so etwa – freilich ganz zu Unrecht – dem Mainzer Bischof Stohr.19 Den Umsturz selbst im Innern herbeizuführen, sahen die Bischöfe in aller Regel nicht als Aufgabe ihres Amtes, ja beurteilten es als Hochverrat, der von einem Bischof schon gar nicht zu 17 Klaus Wittstadt, Ein Bischof in schwerer Zeit – Bischof Matthias Ehrenfried (1924– 1948), in: Max Domarus, Bischof Matthias Ehrenfried und das Dritte Reich, Würzburg 1998, 124–148, hier 132f. Zu Mainz siehe Hermann-Josef Braun, Das Bistum in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 3, T. 2, Würzburg 2002, 1199– 1260, hier 1209. Ähnliches erlebte sein Nachfolger Bischof Stohr 1937, vgl. ebd. S. 1213. Vgl. auch Hubert Wolf, Die Affäre Sproll. Die Rottenburger Bischofswahl von 1926/27 und ihre Hintergründe, Ostfildern 2009. Dominik Burkard, Johannes Baptista Spoll. Bischof im Widerstand, Stuttgart 2013. 18 Vgl. zum Zusammenhang Karl Joseph Hummel/Christoph Kösters (Hg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939–1945, Paderborn u.a. 2007. 19 Vgl. Braun, Bistum (wie Anm. 17), 1214.
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fordern war. So argumentierte jedenfalls Kardinal Faulhaber, als er nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 von Gestapobeamten aufgesucht wurde und um eine Stellungnahme zu dem Geschehen rang. Faulhaber berief sich auf das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“, dem er uneingeschränkte Geltung beimaß, sowie auf Römer 13,1, demzufolge jeder Katholik der von Gott eingesetzten Obrigkeit Gehorsam schuldig sei. Das Attentat vom 20. Juli verurteilte er als „Wahnsinn“ und als „Verbrechen“, das er „vor aller Welt verdammen und brandmarken“ müsse.20 Ob dies tatsächlich seiner Auffassung entsprach oder nur eine Schutzbehauptung vor Gestapobeamten war, muss offen bleiben. Tatsächlich wissen wir von keinem Bischof, der direkt in die Planungen zum Tyrannenmord verwickelt gewesen wäre. Sehr wohl aber unterhielt zum Beispiel der Berliner Bischof Konrad Graf von Preysing Kontakte zu dem Verschwörerkreis. So traf Preysing den Attentäter Claus Philipp Maria Schenk Graf von Stauffenberg und stand in mehrfachem Gesprächskontakt mit Helmuth James Graf von Moltke, dem Initiator des Kreisauer Kreises, sowie mit mehreren dort beteiligten Mitverschwörern. Ob seine Gesprächspartner den Bischof mit ihrem Wissen um den geplanten Tyrannenmord belasteten, ist nicht überliefert, jedenfalls beteiligte sich Preysing an den Planungen für die Gestaltung Deutschlands nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft.21 Der Aachener Bischof Johannes Joseph van der Velden soll darüber hinaus ohne genaues Wissen um die Attentatspläne an der Vorbereitung eines Hirtenbriefs an das katholische Deutschland für den Fall eines Endes der NS-Herrschaft mitgewirkt haben.22
Schluss Nimmt man alles zusammen, so zeigt sich die Haltung des deutschen Episkopats gegenüber den Gewalttaten des nationalsozialistischen Staates als durchaus widersprüchlich. Während in der Endphase der Weimarer Republik die Ablehnung von Gewalt unzweideutig formuliert wurde und auf der Basis des christlichen Sittengesetzes das gewaltsame Vorgehen des NS-Staates gegen kranke und behinderte Menschen von der Mehrheit der Bischöfe eindeutig verurteilt wurde, haben sich die Bischöfe beim Röhmputsch wie auch bei der Judenverfolgung sowie bei der Verfolgung anderer Gruppen von Ausnahmen 20 Gruber, Kirche (wie Anm. 5), Nr. 249 und 251, 496–499. 21 Stephan Adam, Die Auseinandersetzung des Bischofs Konrad von Preysing mit dem Nationalsozialismus in den Jahren 1933–1945, St. Ottilien 1996, 152–158. 22 August Brecher, Bischof mitten im Volk. Johannes Joseph van der Velden 1891–1854, Aachen 1992, 94.
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abgesehen überwiegend in politischer Enthaltsamkeit geübt. Die Ursachen dafür dürften neben Verzagtheit und Kleinmut nicht zuletzt in dem Umstand zu suchen sein, dass erst der verbrecherische und gewalttätige Charakter des NS-Regimes den Episkopat zu einer Klärung seiner Aufgaben in der modernen Gesellschaft, die eine Verpflichtung zur Wahrung der allgemeinen Menschenrechte beinhaltet, gezwungen hat. Dieser (zu) langsame Lernprozess hat schließlich zur aktiven Ausübung des Friedensamtes durch die Bischöfe nach dem Ende des Krieges geführt. Der Beitrag, den viele katholischen Bischöfe Deutschlands zur Versöhnung und Verständigung der europäischen Völker seitdem geleistet haben, dürfte eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Wahrung von Frieden und Recht im Innern wie nach Außen gespielt haben.23
23 Vgl. hierzu weiterführend Michael Kissener, Der Katholizismus und die deutsch-französische Annäherung in den 1950er Jahren, in: Corine Defrance/Michael Kissener/ Pia Nordblom (Hg.), Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945, Tübingen 2010, 89–98; sowie Michael Kissener, Boten eines versöhnten Europa? Deutsche Bischöfe, Versöhnung der Völker und Europaidee nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Heinz Duchhardt/Malgorzata Morawiec (Hg.), Die europäische Integration und die Kirchen. Akteure und Rezipienten, Göttingen 2010, 53–72. Siehe auch Basil Kerski/ Thomas Kycia/Robert Żurek (Hg.), „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 und seine Wirkung, Osnabrück 2006. Karl-Joseph Hummel, Die Bischöfe und die deutsch-polnische Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Historisches Jahrbuch 132 (2012), 124–132.
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Obrigkeit mit oder ohne Gott? Katholische Priester und Laien in der Diktaturerfahrung des Dritten Reiches Wenn neuere Kontroversen um das Funktionieren der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland auch verstärkt Konsensdimensionen des „Dritten Reiches“ in den Blick nehmen und – anknüpfend an den nationalsozialistischen Propagandaterminus der „Volksgemeinschaft“ – mit Begriffen wie „Zustimmungsdiktatur“ und „Wohlfühldiktatur“ die Bedeutung Akzeptanz generierender Faktoren hervorheben,1 sollte in einer Gesamtschau jedoch die spezifische Gewaltdimension der NS-Herrschaft nicht ausgeblendet werden. Gewalt im Sinne der Androhung und Ausübung physischen Zwangs war ein Strukturmerkmal, eine Grundsignatur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Nicht von ungefähr hat Hans-Ulrich Thamer seine Darstellung der Jahre 1933 bis 1945 mit dem Begriffspaar „Verführung und Gewalt“ überschrieben.2 Mit zunächst taktisch verbrämter, zunehmend aber exzessiver Gewalt wurde die Ausgrenzung und Vernichtung der Opfergruppen, allen voran der Juden, betrieben. Latente und offene Gewalt war nach innen ein zentrales Mittel zur Erlangung und Monopolisierung der Macht sowie zur Erzeugung von Konformität und Aufrechterhaltung der NS-Diktatur. Mit dem Problem der Gewalt sahen sich katholische Priester3 und katholische Laien in Deutschland während des sogenannten Dritten Reichs daher nicht weniger und oft lebensweltlich unmittelbarer konfrontiert als der in dieser Publikation gesondert untersuchte Episkopat4 – und dies in- und außerhalb kirchlicher Kontexte. Sie sahen sich auch außerhalb politischer Betätigung in der Zentrumspartei und der BVP in der Seelsorge, in konfessionellen Bildungseinrichtungen, Jugendorganisationen oder den zahlreichen berufsständischen, karitativen und sonstigen Organisationen des deutschen Laienkatholizismus einer sich rasch etablierenden Diktatur gegenüber. Diese Diktatur machte in ihrem totalitären Herrschaftsanspruch zwar taktische Konzessionen, duldete letztlich jedoch keine andere Ins-
1 Initiierend Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005. 2 Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Berlin 1994. 3 Zu Selbstverständnis, Handlungsoptionen und weiteren Spezifika dieser in den kirchlichen Apparat eingebundenen Gruppe siehe insbesondere Joachim Kuropka (Hg.), Geistliche und Gestapo. Klerus zwischen Staatsallmacht und kirchlicher Hierarchie, Münster 2004. 4 Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Kissener in diesem Band.
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tanz politischer und gesellschaftlicher Gestaltung oder religiös-weltanschaulicher Sinnstiftung neben sich.5 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie katholische Priester und Laien mit Gewaltphänomenen während des Dritten Reiches umgegangen sind. Angesichts von knapp 21 Millionen Katholiken, etwas mehr als einem Drittel der Gesamtbevölkerung,6 die sich nicht als monolithischer Block, sondern als heterogene Gruppe darstellten, und angesichts des gegebenen Rahmens kann dabei keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit angestrebt werden. Vielmehr sollen skizzenhaft ausgewählte Beispiele angesprochen werden, denen Indikatorencharakter zuzumessen ist. Als zentrale und aussagekräftige Bezugspunkte werden dabei erstens die Phase forcierter Machtsicherung und Gleichschaltung bis zum sogenannten Röhmputsch 1934, zweitens die Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden, drittens der Krieg und viertens schließlich das Problem des Tyrannenmords herangezogen.
Die Phase forcierter Machtsicherung und Gleichschaltung bis zum Röhmputsch 1934 Bis Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde und noch bis über die Reichstagswahl vom 5. März 1933 hinaus gab es für katholische Priester und Laien hinsichtlich der NSDAP und deren Ideologie eine Richtschnur, die an Eindeutigkeit nichts missen ließ: Die nationalsozialistische Weltanschauung galt als Häresie, kein Katholik durfte ihr anhängen. Die Begründung dafür war wohlgemerkt religiös, nicht politisch: Der von den Nationalsozialisten propagierte Kult um Rasse und Gewalt, die offensichtliche Missachtung von Recht und Freiheit, schienen den deutschen Bischöfen Grund genug, um in zahlreichen Verlautbarungen Katholiken die Mitgliedschaft in dieser Partei als mit der katholischen Lehre unvereinbar zu erklären.7 Diese im Grundsatz ablehnende Haltung prägte auch katholische Stellungnahmen im von Gewaltakten und Repressionsmaßnahmen durch die neuen Machthaber geprägten Wahlkampf vor den Reichstagswahlen am 5. März 5 Hubert Gruber, Katholische Kirche und Nationalsozialismus 1930–1945. Ein Bericht in Quellen, Paderborn u.a. 2006, XIV. 6 Miachel Kissener, Katholiken im Dritten Reich. Eine historische Einführung, in: KarlJoseph Hummel/Michael Kissener (Hg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn u.a. 2009, 14. Leicht abweichend Winfried Becker, Christen und der Widerstand. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: KarlJoseph Hummel/Christoph Kösters, Kirchen im Krieg. Europa 1939–1945, 473–491, hier 484. 7 Gruber, Kirche (wie Anm. 4), XIV.
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1933, in dem 69 Menschen zu Tode kamen – davon 51 bei den Gegnern des Nationalsozialismus – und Hunderte verletzt wurden.8 So nutzte etwa der vormalige Reichskanzler Heinrich Brüning, als Zentrumspolitiker ein Exponent des politischen Katholizismus, eine Rede am 18. Februar 1933 in Würzburg zu der grundsätzlichen Feststellung, Gewalt sei ein Mittel, mit dem man in der Politik nur Negatives erreiche. Durch Gewaltmaßnahmen gegen Kommunisten beispielsweise sei deren Zahl nicht verringert, sondern im Gegenteil in Millionenhöhe getrieben worden. Zugleich beschwor Brüning die Standhaftigkeit der katholischen Parteien angesichts der mehr und mehr diktatorischen Gegebenheiten: „Bayerische Volkspartei und Zentrum werden sich nicht unterdrücken lassen“, versprach Brüning. „Wir haben keine Angst vor der Gewalt, wir kämpfen für das deutsche Vaterland, für unser christliches Ideal.“9 Von einem ähnlichen in hohem Maße alarmierten Tenor war auch ein Aufruf gekennzeichnet, mit dem sich dreizehn katholische Verbände und Organisationen, denen mehrere Hunderttausend Katholiken angehörten, im Vorfeld der Reichstagswahl an die Öffentlichkeit wandten und eine unzweideutige Warnung vor einem Sieg der Nationalsozialisten aussprachen: In diesem Aufruf verurteilten sie die bürgerkriegsartigen Zustände, die in Deutschland seit der Übertragung der Kanzlerschaft an Hitler am 30. Januar 1933 sowie insbesondere seit dem als Vorwand für exzessive Verfolgungsmaßnahmen genutzten Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 herrschten, als „nationales Verderben“. Sie brandmarkten ein „erschüttertes Rechtsbewusstsein“ und eine „vertiefte Kluft zwischen den sozialen Schichten“. Das Fazit der Bestandsaufnahme gipfelte in der Trias: „Hass, Feindschaft und Gewalttat überall“.10 Der gewaltsamen Machtpraxis, der Aufhebung verfassungsmäßig verbriefter Grundrechte in den ersten Wochen der Regierung Hitler und der beginnenden Aneignung von Begriffen und Umdeutung von Werten, der Rhetorik von „deutschem Geist, deutscher Freiheit und Ehre“, von „wahrem Christentum“ und „wahrer Religion“,11 hielten die katholischen Verbände und Organisationen scharf entgegen: Deutsch sei, die Freiheit zu lieben, auch die Freiheit des Gegners achten und „Gewalttätigkeiten nicht straflos [zu] lassen“. Diese Feststellung war zweifellos als klare Verurteilung der Nationalsozialisten und deren Methode zu verstehen, Gegner zu terrorisieren, die Staatsgewalt selektiv einzusetzen und die Rechts- und Verfassungsordnung auszuhöhlen. Auch indem die Verfasser die nationalsozialistische Forderung nach „wahrem Christentum“ auf8 9 10 11
Thamer, Verführung (wie Anm. 2), 256. Gruber, Kirche (wie Anm. 4), 21. Gruber, Kirche (wie Anm. 4), 17f. Vgl. zu diesem Komplex Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947 (Erstauflage), Leipzig 121993.
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griffen und erklärten, wahres Christentum heiße, dessen Stifter zu folgen, der in der Bergpredigt die Friedfertigen selig nannte, traten sie der Gewaltrhetorik und der Gewaltpraxis der Nationalsozialisten entgegen.12 Für eine solch streitbare Haltung gibt es auch noch Beispiele nach der Wahl vom 5. März 1933, bei der die NSDAP 43,9 Prozent erzielte und sich die beiden katholischen Parteien trotz massiver Propaganda und Einschüchterung mit 11,2 Prozent für das Zentrum und 2,7 Prozent für die BVP relativ gut behaupteten.13 So stellte der Generalsekretär des katholischen Jungmännerverbands, Jakob Clemens, in einem Zeitschriftenartikel der Regierung Hitler ein niederschmetterndes Zeugnis aus: Deren erste fünf Wochen seien „durch Großtaten im Missbrauch der Gewalt“ geprägt gewesen. Angesichts der Lage nach den Reichstagswahlen forderte er kämpferisch eine Mobilisierung der katholischen Kräfte: „Eine Welle kraftvoller Gegenwehr“, müsse „durch das katholische Deutschland gehen“.14 „Wir dürfen uns nicht den Vorwurf zuziehen“, so Clemens in einer Passage, die sich angesichts späterer Kritik über versäumte Gegenwehr beinahe prophetisch ausnimmt, „dass wir ‚stumme Hunde seien, die nicht bellen’.“ Clemens nutzte Kriegsmetaphorik, um der von ihm ersehnten Gegenwehr sprachlich Gestalt zu geben: Die katholischen Verbände sollten in „vielgegliederte[r] Tiefenstaffelung die Wucht des gegnerischen Aufpralls“ aufhalten und schließlich wieder zum „Vorstoß“ übergehen. Man müsse angesichts des Gewaltregimes bereit sein, argumentierte er in Anlehnung an Mt 5,11, „Schmach und Verfolgung“ zu erleiden und in letzter Konsequenz gar den „Opfergang für Christus“ auf sich zu nehmen.15 Ob der Gewalt letztlich tatsächlich physische Gewalt entgegengesetzt werden sollte, ist dem Artikel jedoch nicht mit abschließender Klarheit zu entnehmen. Die von Jakob Clemens geäußerte Fundamentalopposition mag in ihrer Radikalität nur bedingt repräsentativ sein. Sie verweist jedoch auf eine weitgehende Ablehnung des Nationalsozialismus, ein höheres Maß an Resistenzfähigkeit als bei vielen anderen gesellschaftlichen Großgruppen, die für die deutschen Katholiken zumindest bis zum März 1933 festgestellt werden kann.16 Die Abwehrfront jedoch bekam rasch Risse. Maßgeblich war dabei neben der Zustimmung von Zentrum und BVP zum Ermächtigungsgesetz vom 23. April 1933 die viel zitierte Erklärung der deutschen Bischöfe vom 28. März 1933. In 12 Gruber, Kirche (wie Anm. 4), 18. 13 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, 10. 14 Gruber, Kirche (wie Anm. 4), 27. 15 Ebd., 28, 29. 16 Matthias Stickler, Kollaboration oder weltanschauliche Distanz? Katholische Kirche und NS-Staat, in: Hummel/Kissener, Katholiken (wie Anm. 5), 83–99, hier 86.
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ihr hoben die Oberhirten die „Verurteilung bestimmter sittlich-religiöser Irrtümer“ des Nationalsozialismus zwar nicht auf, stuften frühere „Verbote und Warnungen“ aber „nicht mehr als notwendig“ ein.17 Die Legitimität der neuen Regierung als „rechtmäßige Obrigkeit“ im Sinne von Röm 13,1 wurde nicht in Zweifel gezogen, die Katholiken indirekt an die „gewissenhafte Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten“ erinnert und die grundsätzliche Ablehnung „allen rechtswidrigen oder umstürzlerischen Verhaltens“ betont. Dies blieb zwar nicht unwidersprochen. So hielt etwa die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) die Erklärung für einen großen Fehler und passte sich zu keiner Zeit an. Gleichwohl war das Votum der Oberhirten von beträchtlicher Reichweite, die für die Haltung vieler Katholiken zum Dritten Reich fundamental werden sollte: Die nationalsozialistische Regierung galt als legitim, folglich war man ihr zwar nicht bedingungslos, aber im Grundsatz, zur Loyalität verpflichtet.18 Diese Neubestimmung des Verhältnisses zum Nationalsozialismus war auch eine Reaktion auf augenscheinliche Veränderungen bei den neuen Machthabern. In seiner Regierungserklärung vom 23. März 1933 hatte Hitler betont versöhnliche, ja dezidiert als christlich zu verstehende Akzente gesetzt und bekundet, die Reichsregierung sehe „im Christentum die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen Zusammenlebens unseres Volkes“. Sie werde die Konfessionsschulen „sicherstellen“ und, wie Hitler laut Protokoll unter Bravo-Rufen aus dem Zentrum weiter ausführte, „freundschaftliche Beziehungen zum Heiligen Stuhle weiter […] pflegen und ausgestalten“.19 Hitler verstand es geschickt, sich als zum verantwortungsvollen Staatsmann gewandelter Politiker in Szene zu setzen. Der rasch um sich greifenden Begeisterung für den Führer und die von ihm bewirkte vermeintlich einende und zukunftsweisende „Nationale Erhebung“ konnten sich denn auch viele Katholiken nicht entziehen. Die politische und gesellschaftliche Gleichschaltung nahm unterdessen immer totalitärere Dimensionen an, Zentrum und BVP fielen wie andere Parteien dem Monopolanspruch der NSDAP zum Opfer und trotz des für das Regime mit erheblichem Prestigegewinn verbundenen Reichskonkordates vom 20. Juli 1933 wuchs der Druck auf katholische Einrichtungen und Verbände. Mitunter wurde dabei sogar die Schwelle zu offener Gewalt überschritten, wie beispielsweise ein Bericht der Staatspolizeistelle Frankfurt am Main vom 17 Gruber, Kirche (wie Anm. 4), 40. 18 Christoph Kösters, Katholisches Milieu und Nationalsozialismus, in: Hummel/Kissener, Katholiken (wie Anm. 5), 145–165, hier 159. 19 Verhandlungen des Reichstags, VIII. Wahlperiode 1933, Bd. 457, Stenographische Berichte, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Sach- und Sprechregister, Berlin 1934, 28, 31.
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November/Dezember 1933 zu Konflikten zwischen Hitlerjugend und katholischen Jugendverbänden belegt.20 Auch traf die politische Kriminalisierung des NS-Regimes zahlreiche Katholiken, Priester wie Laien.21 Nichtsdestotrotz arrangierten sich viele Katholiken mit der nationalsozialistischen Herrschaft. Auch manchem Katholiken erschien der neue Reichskanzler geradezu als ein Hoffnungsträger, der Ruhe und Ordnung zu garantieren und sogar christliche Werte wieder aufzurichten schien.22 Dieses Bild wurde paradoxerweise sogar noch bestärkt, als Hitler am 30. Juni 1934 den SA-Führer Ernst Röhm und über 90 weitere politisch Unliebsame liquidieren ließ. In den Augen der Bevölkerung stellte sich dieser „erste Massenmord in der Geschichte des Dritten Reiches“23 geradezu als moralisch integre Befreiungstat dar, setzte Hitler damit doch augenscheinlich revolutionären Umtrieben und der Barbarei der Braunhemden ein Ende. Dass im Zuge der staatlich gelenkten Mordaktion auch namhafte Katholiken wie Erich Klausener, Fritz Michael Gerlich und Adalbert Probst kaltblütig beseitigt wurden, stieß beim Kirchenvolk auf keinen vernehmbaren Protest.24 Allenfalls verdeckt ließ sich Kritik an den Gewalttaten erkennen, indem von Klauseners gewaltsamem Ende als „Märtyrertod“ gesprochen wurde.25 Dass die Bischöfe sich zu dieser Mordaktion, die das Gewaltpotential des Regimes dramatisch belegte, nicht entschieden äußerten, wurde jedoch zumindest von einigen Katholiken als Versagen empfunden. Davon zeugt ein seltenes Dokument der Kritik aus jener Zeit, eine unter Pseudonym verfasste Flugschrift26 des in die Schweiz emigrierten katholischen Juden Waldemar Gurian.27 Er sah sich genötigt, die Bischöfe daran zu erinnern, dass die Kirche die 20 Gruber, Kirche (wie Anm. 4), 140–142. 21 Vgl. hierzu insbesondere Ulrich Hehl (Hg.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biografische und statistische Erhebung, 2 Bde., durchges. u. erg. Aufl., Paderborn 1998; Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, hg. von Helmut Moll i. A. der Deutschen Bischofskonferenz, 2 Bde., Paderborn u.a. 52010. 22 Gruber, Kirche (wie Anm. 4), XIV. 23 Thamer, Verführung (wie Anm. 2), 330. 24 Kissener, Katholiken (wie Anm. 5), 26. 25 Gruber, Kirche (wie Anm. 4), 194. 26 „St. Ambrosius an die deutschen Bischöfe“, in: Ebd., 190f. 27 Ähnlich auch die Konstellation bei beim Jesuiten Friedrich Muckermann, der sich nach der Machtübernahme aufgrund seiner scharf antibolschewistischen Haltung zunächst als Brückenbauer gerierte, rasch jedoch eine fundamentale Opposition zum NS-Staat einnahm, im Juli 1934 in die Emigration gezwungen wurde und als profilierter Publizist ebenfalls aus dem Exil heraus die Verhältnisse in Deutschland wortgewaltig anprangerte. Dazu ausführlich Hubert Gruber, Friedrich Muckermann S.J. 1883–1946. Ein katholischer Publizist in der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 61), Mainz 1993.
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„Wahrerin und Hüterin der sittlichen Ordnung für alle Menschen und für alle Völker“ sei. Das Schweigen der Oberhirten, sei „vielleicht noch furchtbarer, als alles andere, was am 30. Juni geschehen“ sei. Denn das Schweigen zerstöre „die letzte moralische Autorität in Deutschland“. Das Volk warte sehnsüchtig auf eine Stimme, die ausspreche, „daß Mord Mord bleibt und dass der Staat nicht alles darf, was er kann“. Die Botschaft Christi zwinge die Bischöfe, Stellung zu nehmen, wenn es jemand wage, alle Entscheidung über Recht und Unrecht, über Leben und Tod auf die angebliche Absolutheit seiner politischen Sendung zu gründen.
Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden Gegenwehr oder ein entschiedener öffentlicher Einspruch gegen derlei Gewaltmaßnahmen vonseiten katholischer Priester und Laien unterblieb gleichwohl in der Regel.28 Das ist auch hinsichtlich der Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden zu konstatieren, die mit einer propagandistisch inszenierten Boykottaktion bereits am 1. April 1933 ihren Anfang nahmen. Freilich gib es auch hier Ausnahmen. So bezog etwa der Pfarrer Alois Eckert in der „Rhein-Mainischen Volkszeitung“ vom 4. April 1933 gegen die antisemitischen Maßnahmen Stellung. Repression und Gewalt widersprächen der Ethik des Christentums, stellte er ganz grundsätzlich fest. Was den Juden widerfahre, sei nicht „Recht“, erklärte er in Anlehnung an die von der Hetzpropaganda verbreiteten Floskeln. Es sei vielmehr „deutsches Unrecht“.29 Eckert bekundete damit eine unzweideutige Ablehnung und Verurteilung der antijüdischen Maßnahmen. Er war jedoch einer von wenigen, die sich in dieser Weise öffentlich äußerten. Auch gegen die Nürnberger Rassengesetze, den am 9. November 1938 im ganzen deutschen Reich gewaltsam gegen die Juden tobenden vermeintlichen 28 Auch hier gibt es Gegenbeispiele aus dem Exil. So etwa der 1933 geflüchtete Dominikanerpater und vormalige Leiter der katholischen Friedensbewegung in Deutschland, Franziskus M. Stratmann. Er trat gegen die rassische Verfolgung von Juden ein und unterstützte ein im Februar 1937 in der österreichischen Zeitschrift „Die Erfüllung“ veröffentlichtes Memorandum mit dem Titel „Die Kirche Christi und die Juden“, in dem ein entschiedener Protest gegen die antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten gefordert wurde. Siehe Elias H. Füllenbach, Das katholisch-jüdische Verhältnis im 20. Jahrhundert. Katholische Initiativen gegen den Antisemitismus und die Anfänge des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland, in: Reinhold Boschki/Albert Gerhards (Hg.), Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft. Neue Perspektiven auf den christlich-jüdischen Dialog, Paderborn u.a. 2010, 141–163 hier 147 sowie ergänzend Ders., Shock, Renewal, Crisis. Catholic Reflections on the Shoah, in: Kevin P. Spicer (Hg.), Antisemitism, Christian Ambivalence, and the Holocaust, Bloomington 207, 201–234. 29 Ebd., 49.
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„Volkszorn“ und gegen die massenhaften Deportationen blieb, obwohl man die Ereignisse als schreiendes Unrecht erkannte30, massiver katholischer Protest aus. Die Gründe dafür sind wohl auch darin zu suchen, dass man fürchtete, durch öffentlichen Widerspruch einzig weiterer Gewalt und Unterdrückung Vorschub zu leisten – entweder gegen Juden, in bereits bekannter Weise als Vergeltungsmaßnahmen gegen Katholiken oder etwa in Form einer neuerlichen Forcierung des Kirchenkampfes. Denn die NS-Propaganda hatte keinen Zweifel daran gelassen, wem ihre Kampfansage galt: „Vorgestern gegen die Juden, heute gegen die Katholiken!“31 Zwar hat es nachhaltige Hilfen insbesondere für von der NaziGewalt bedrohte konvertierte Juden gegeben, etwa durch das „Caritas-Notwerk“ unter Vorsitz des ehemaligen Zentrumsabgeordneten Heinrich Krone oder das „Sonderhilfswerk“ des „St. Raphaels-Vereins“, das Ausreisewilligen zur Emigration verhalf.32 Auch kann man auf nicht wenige Katholiken verweisen, die Juden versteckt haben, so zum Beispiel die Gruppe „Onkel Emil“ unter Hans Peters.33 Das Unrecht mutig beim Namen genannt und Konflikte mit dem Regime in Kauf genommen haben jedoch wiederum nur Einzelne, wie der unbeugsame Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, der zudem das 1938 gegründete „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“ leitete: Er hatte seine Ablehnung der Rassenideologie bereits mehrfach öffentlich bekundet,34 als er am Abend nach der Reichspogromnacht den Gottesdienst-Besuchern in der Sankt Hedwigskathedrale vor Augen hielt: „Draußen brennt die Synagoge. Das ist auch ein Gotteshaus.“ Mehr noch: Lichtenberg solidarisierte sich mit Verfolgten des NS-Regimes, indem er sie offen in die Gebete einschloss – „für die Priester in den Konzentrationslagern, für die Juden, für die Nichtarier“.35 Bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo am 23. Oktober 1941 wiederholte er ähnliche Fürbitten offenbar regelmäßig. 30 Thomas Brechenmacher, Die Kirche und die Juden, in: Hummel/Kissener, Katholiken (wie Anm. 5), 125–143, hier 134. 31 Zit. in Thomas Brechenmacher, Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2005, 199, Anm. 161 (Bericht Faulhabers). 32 Brechenmacher, Kirche (wie Anm. 27), 137; Jana Leichsenring, Christliche Hilfen für „Nichtarier“ und Juden. Die Kirchen und der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft und Juden 1933–1945, in: Hummel/Kösters, Katholiken (wie Anm. 5), 293–315, hier 302f. 33 Vgl. etwa Karin Friedrich, „Er ist gemein zu unseren Freunden …“. Das Retternetz der Gruppe „Onkel Emil“, in: Wolfgang Benz (Hg.), Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003, 97–109. 34 Erich Kock, Er widerstand. Bernhard Lichtenberg, Domprobst bei St. Hedwig, Berlin, Berlin 1996, 137f. 35 Christian Feldmann, Wer glaubt, muss widerstehen. Bernhard Lichtenberg – Karl Leisner, Freiburg 1996, 94.
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Der Krieg Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konfrontierte die deutschen Katholiken erneut und elementar mit dem Problem der Gewalt. Die deutschen Oberhirten sahen sich im September 1939 veranlasst, die Gläubigen zu treuer, aufopferungsvoller Erfüllung ihrer Gehorsamspflicht aufzurufen.36 Zugleich wurde, wie Berichte des Sicherheitsdienstes erkennen lassen, in Predigten vielfach das traditionelle Deutungsmuster angeführt, wonach der Krieg als eine Strafe Gottes für den Abfall des Volkes von seinen Geboten zu verstehen sei. In diesem Sinne konnte sich für gläubige Soldaten die Gehorsamspflicht mit einem Motiv des Kriegsdienstes als freiwilliger Buße und Sühneleistung verbinden. Zumindest für die ersten Kriegsjahre lässt sich eine solche Spiritualisierung des Krieges im Sinne des Sühne-Opfer-Motives verschiedentlich feststellen.37 Eine Verweigerung des Waffendienstes war für Katholiken im Jahre 1939 jedoch, wie Heinz Hürten formuliert, „noch nicht einmal als Denkmöglichkeit“ vorhanden.38 Weder staatsbürgerliche Loyalitätspflicht noch die damalige traditionelle, vor allem auf Augustinus gründende kirchliche Lehrmeinung ließen aus zeitgenössischer Perspektive Spielräume für eine individuelle Gewissensabwägung. Daran änderte auch nichts, dass die Regierung offensichtlich im Widerspruch zum christlichen Glauben stand und die Kirche bekämpfte. Dass sich der Feldzug gegen die Sowjetunion als Kampf gegen „gottlosen Bolschewismus“ deuten ließ, scheint katholische Soldaten in ihren Gewissensnöten immerhin zumindest zeitweise entlastet zu haben. Anders als etwa bei den Zeugen Jehovas blieb Kriegsdienstverweigerung bei Katholiken eine Ausnahmeerscheinung. Ein Beispiel ist der österreichische Bauer, Mesner und Familienvater Franz Jägerstätter. Er weigerte sich als gläubiger Christ, für Hitler und den Nationalsozialismus in den Krieg zu ziehen. Standhaft und wohl überlegt verteidigte er sich selbst gegen das Argument, damit eine Sünde zu begehen: Könne es denn, so fragte er 1942, „noch viel Schlechteres“ geben, „als wenn ich Menschen morden und berauben muß, die ihr Vaterland verteidigen, nur um einer antireligiösen Macht zum Sieg zu verhelfen, damit sie […] ein gottloses Weltreich gründen können“.39 Dabei war sich Jägerstätter der Kon36 Vgl. u.a. das offenbar als Leitlinie für individuelle Hirtenschreiben der Bischöfe konzipierte gemeinsame Hirtenwort der deutschen Bischöfe zum Kriegsausbruch vom 4. September 1939, in: Gruber, Kirche (wie Anm. 4), 406 sowie ebd. Anm. 1. 37 Wilhelm Damberg, Krieg, Theologie und Kriegserfahrung, in: Hummel/Kösters, Katholiken (wie Anm. 5), 203–215, hier 212. 38 Heinz Hürten, Deutsche Katholiken 1918–1945, Paderborn 1992, 467. 39 Zit. in: Alfons Riedl/Josef Schwabeneder (Hg.), Franz Jägerstätter. Christlicher Glaube und politisches Gewissen, Thaur u.a. 1997, 28f.
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sequenzen seines Tuns bewusst. Er wurde wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und ermordet.
Das Problem des Tyrannenmords Mehr noch als bei der Verweigerung von Gewaltanwendung im Dienste des Regimes sahen sich gläubige Christen bei der Frage, ob es in letzter Konsequenz gerechtfertigt sei, selber Gewalt anzuwenden und den Diktator als zentralen Urheber der Tyrannei zu töten, schweren Gewissenskonflikten gegenüber. Denn dieser Option, die Terrorherrschaft zu beenden, standen neben diversen Erwägungen die Loyalitätspflicht gegenüber der „rechtmäßigen Obrigkeit“ und vor allem das Tötungsverbot des fünften Gebotes entgegen. Dieses Dilemma hat der katholische Schriftsteller und Widerständler Reinhold Schneider in einem frühen Gedenkwort für die Opfer des 20. Juli prägnant zum Ausdruck gebracht: „Darum können wir auch der klaren Antwort auf die Frage, ob Tyrannenmord erlaubt sei, nicht ausweichen. Wir halten ihn nicht für erlaubt“, bekundete Schneider, um jedoch fortzufahren: „Und doch: es kann sich unter der Tyrannis in einem Menschen die heilige Gewissheit bilden, dass der Tyrann auf eine jede Weise gefällt werden müsse.“40 Das katholische Milieu vermochte, bei aller Eingebundenheit in die nationalsozialistische Gesellschaft, einen wertgebundenen „Abstand“ (Konrad Repgen)41 zum Dritten Reich zu vermitteln, einen „Abstand“, der wiederum eine Bedingung für die Gewissensentscheidung einiger weniger Katholiken zur politischen Fundamentalopposition bildete.42 Den Schritt zum aktiven Widerstand43 einschließ40 Abdruck in: Wesen und Widerstand. Forum zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert, hg. i. A. der Reinhold-Frank-Gesellschaft v. Carsten P. Thiede/Karl-Joseph Kuschel u. a., Paderborn u.a. 1997, 197–209, hier 198. 41 Konrad Repgen, Widerstand oder Abstand? Kirche und Katholiken in Deutschland 1933 bis 1945, in: Klaus Hildebrand/Udo Wengst/Andreas Wirsching (Hg.), Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift für Horst Möller, München 2008, 555–568. 42 Zur Anwendbarkeit des Widerstandsbegriffs auf Verhaltsweisen von Katholiken im Dritten Reich vgl. Michael Kissener, Ist „Widerstand“ nicht „das richtige Wort“?, in Hummel/ Kissener, Katholiken (wie Anm. 5), 167–178; Christop Kösters, Katholisches Milieu (wie Anm. 17), 49. Grundsätzlich zu dieser Debatte und verschiedenen Aspekten vgl. den Sammelband Andreas Henkelmann/Nicole Priesching (Hg.), Widerstand? Forschungsperspektiven auf das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus (theologie. geschichte, Beiheft 2), Saarbrücken 2010. 43 Ein Modell zur Stufenunterscheidung widerständigen Verhaltens u.a. bei Klaus Gotto/ Hans Günter Hockerts/Konrad Repgen, Nationalsozialistische Herausforderung und kirchliche Antwort. Eine Bilanz, in: Klaus Gotto/Konrad Repgen (Hg.), Die Katholiken und das Dritte Reich, Mainz ³1990, 173–190.
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lich der Bereitschaft zum Tyrannenmord tat indes nur ein kleiner Personenkreis. Alfred Delp, Bernhard Letterhaus, Paulus van Husen und Hans Lukaschek aus dem Kreisauer Kreis wird man hier beispielsweise nennen können, oder auch den im Falle eines Gelingens des Attentats vom 20. Juli 1944 als Reichjustizminister vorgesehenen Josef Wirmer.44 Neben dem Entschluss bedurfte es indes auch der Möglichkeit, den Plan umzusetzen. So hatte etwa der Pfarrer Max Josef Metzger, exponierter Akteur der katholischen Friedens- und Una Sancta-Bewegung, bereits 1932 in einem Brief erklärt, dass er keinerlei Bedenken habe, Hitler zu erschießen, wenn damit Tausende gerettet werden könnten.45 Gelegenheit dazu bot sich ihm jedoch nicht. Metzger wurde letztlich aufgrund eines in Eigeninitiative verfassten Friedensmemorandums46 im Oktober 1943 zum Tode verurteilt und ermordet. Eine kompromisslose Radikalität der Entscheidung zum Tyrannenmord aus einer katholischen Prägung heraus verkörpert vielleicht einzig der bis heute wenig beforschte Schweizer Maurice Bavaud. Nach abgebrochenem Theologiestudium fuhr er im Oktober 1938 nach Deutschland, mit der festen Absicht, im Alleingang47 Hitler zu töten – einem Ziel, dem er offenbar zweimal frappierend nahe kam. Zu den Beweggründen erklärte er im Verhör, aufgrund dessen, was er „aus der Schweizer Presse und von aus Deutschland emigrierten Angehörigen von katholischen Orden“ erfahren habe, halte er Hitler für eine „Gefahr für die Menschheit“.48 In der Urteilsbegründung des Volksgerichtshofs wurde denn auch – aus erkennbar propagandistischem Interesse – von einem Fall von „Gangstertum des politischen Katholizismus“49 gewettert. Kirchliche Gründe seien für die Tat bestimmend gewesen. Da die katholische Kirchen und die katholischen Organisationen unterdrückt würden, habe Bavaud geglaubt, mit seiner geplanten Tat „der Menschheit und der gesamten Christenheit einen Dienst zu erweisen“ zitierte das Protokoll den Attentäter,50 der 1941, gerade 25-jährig, ermordet wurde.
44 Gerhard Lange, Joseph Wirmer, in: Zeugen für Christus (wie Anm. 20), Bd. 1, Paderborn u.a. 2010, 150–153. 45 Marianne Möhring, Max Josef Metzger. Leben und Wirken, Meitingen u.a. 1966, 141. 46 Hans Lipp, Max Josef Metzger. Prophetischer Märtyrer, Kevelar 2007, 38. 47 Zur Frage der Einzeltäterschaft vgl. Klaus Urner, Der Schweizer Hitler-Attentäter. Drei Studien zum Widerstand und seinen Grenzbereichen. Systemgebundener Widerstand, Einzeltäter und ihr Umfeld, Maurice Bavaud und Marcel Gebohay, Zürich 1982, 164f. 48 Ottmar Herrscher, Maurice Bavaud. Ein 22jähriger Schweizer versucht 1938 Hitler aufzuhalten. Dokumentation zum 60. Todestag, Bern 2001, 29. 49 Ebd., 30. 50 Ebd., 48.
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Schluss Zieht man nun abschließend ein Fazit, so wird man konstatieren können, dass bis zur Reichstagswahl vom 5. März 1933 und darüber hinaus die Gewaltpraxis der Nationalsozialisten von katholischen Laien und Priestern unmissverständlich angeprangert wurde. Die Anerkennung als „rechtmäßige Obrigkeit“ durch die Bischöfe, der verschärfte Gleichschaltungsdruck, Hitlers taktisch kaschierte Kirchenpolitik aber auch die allgemeine Euphorie über die „nationale Erhebung“ führten dann überwiegend zu einem Verzicht auf klare Distanzierung von Gewaltakten – seien es der Röhmputsch oder Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden. Im Krieg band auch katholische Soldaten die Pflicht zu aufopferungsvollem Gehorsam, nur in Ausnahmefällen verweigerten Katholiken den Kriegsdienst und nur sehr wenige entschieden sich trotz „Gewissensqualen“ (Reinhold Schneider) zu aktivem Widerstand und zur Bereitschaft zum Tyrannenmord. So stand nach dem Ende der Diktatur auf der einen Seite die Anerkennung eines – bei einer zu konzedierenden großen Bandbreite an Verhaltensformen – von der katholischen Kirche zumindest in der Wahrnehmung eines großen Teils der Zeitgenossen insgesamt geleisteten moralischen Widerstands.51 Untermauert wurde dies nicht zuletzt dadurch, dass 417 Priester in Konzentrationslagern gelitten und 108 dort ihr Leben verloren hatten.52 Auf der anderen Seite stand jedoch das Bewusstsein, der Gewaltherrschaft nicht entschieden genug entgegen getreten und dadurch in gewisser Weise mitschuldig geworden zu sein.53
51 Gruber, Kirche (wie Anm. 4), XIII. 52 Vgl. Hehl (Hg.), Priester (wie Anm. 20), Bd. 1, 131, Tab. 8. 53 Christoph Kösters, Katholisches Milieu (wie Anm. 17), 40. Zusammenfassend vgl. hierzu Vera Bücker, Die Schulddiskussion im deutschen Katholizismus nach 1945, Bochum 1989.
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Katholizismen und Militarismus: Die Gewalt und das Heilige in dem vom Staatsterror regierten Argentinien1 „Der Tod, wo der Tod ist, da ist sein Sieg“ Gesang bei Feiern junger Katholiken in den frühen 1970er Jahren
Vorausgehende Überlegungen In Argentinien unterscheidet sich die Form des Christentums der 1970er Jahre deutlich von der im Jahre 2010. In diesem Zeitraum kam es zu einer Festigung der Demokratie, eine aktive Zivilgesellschaft forderte die christlichen Gruppen heraus und die Katholische Kirche stellt mittlerweile einen von vielen Akteuren dar, der mit Protestanten und Evangelikalen um die Unentschlossenen wetteifert.2 Trotzdem ist die Kirche weiterhin mit dem Staat und der politischen Gesellschaft verbunden, da die lange gemeinsame Tradition auch heute noch mehr vereint als trennt. Das Geschehen im 20. Jahrhundert und seine Interpretation, auch im Hinblick auf die Zukunft, bleiben umstritten, da die Erinnerungen und damit zusammenhängende Identitäten umkämpft sind (zwischen denen, die eine Verurteilung und Bestrafung für die Verantwortlichen des Staatsterrors für notwendig erachten und denjenigen, die ein „vollständiges Gedenken“ fordern, das die Opfer und Mörder gleich stellt). Es ist deshalb wichtig, die vielfältigen Erinnerungen hervorzuheben, um die heute in der katholischen Welt kontrovers gestritten wird. Liest man den Bericht der CONADEP (Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas: Nationale Kommission über das Verschwindenlassen von Personen) über die Verhafteten und Verschwundenen, die Aussagen der Gefangenen, der Familienangehörigen der Opfer und der Menschenrechtsorganisationen, kann man beobachten, wie eine Gruppe von Opfern des Staatsterrors sich nicht nur auf ihren katholischen Glauben bezog – wie der Großteil der Bevölkerung – sondern in ihren sozialen, politischen und kulturellen Handlungen von einer katholischen Ethik ausging, die sie auch zu einer Klage bewogen hatte. Diese Ethik hatte sich in einer der vielen Gruppen, Gemeinden und Bischofsämter 1 Deutsche Übersetzung: Friederike Simon und Stephan Ruderer. 2 Vgl. Daniel Levine, The Future of Christianity in Latin America, in: Journal of Latin American Studies 41 (2009), 121–145.
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der katholischen Bewegung ausgebildet. Diese Menschen fordern Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit. Auf die gleiche Art und Weise berufen sich die vor Gericht gestellten Mitglieder der Militärjunta unter anderem auf Gott, den Papst und seine Lehren sowie auf Empfehlungen von Priestern und Bischöfen der Katholischen Kirche, um zu erklären, weshalb sie diesen „Krieg gegen den Terrorismus und den Kommunismus“ geführt haben. Ihre Familien fordern „vollständiges Gedenken“ (also ein Gedenken auch an die Toten des Militärs) und Aussöhnung. Außerdem stößt man bei der Urteilsbegründung gegen die Mitglieder der Militärjunta von 1984 auf etliche Begründungen, die sich auf biblische Zitate der Konzile, Päpste oder lateinamerikanischen Bischöfe bezogen. Um diese Widersprüche aufzulösen, wäre es am einfachsten, einige Katholiken als progressiv und die anderen als reaktionär zu bezeichnen; einige als Befreier und andere als Unterdrücker. Das Problem ist jedoch angesichts der vielfältigen Verbindungen zwischen dem Religiösen, Politischen und Sozialen weitaus komplexer. So besteht z.B. eine gewisse Übereinstimmung zwischen der Logik der religiösen, politischen und militärischen Phänomene. Die aus dem Arbeiter, Krieger und Betenden bestehende Trias beispielsweise hat in Argentinien eine lange Tradition und viele Auslegungsmöglichkeiten. Die zahlreichen und komplexen Schnittpunkte zwischen diesen Sphären und dem Fortbestehen des Christlichen/Katholischen in Argentinien sollen im Folgenden analysiert werden. Dabei muss man darauf hinweisen, dass in Argentinien die Säkularisierung der politischen Macht von einem Prozess der Konsekration begleitet wurde, wie es bei den zwei populären und populistischen Bewegungen der Fall war: beim Radikalismus (1914–1930) innerhalb einer liberalen Vorstellungswelt und besonders beim Peronismus (1945–1955?– 1976?–2010?) innerhalb einer nationalistischen und katholischen Vorstellungswelt. Schließlich gilt es, eine gläubige und weitreichend säkularisierte Gesellschaft zu analysieren, die größtenteils „das Böse banalisierte“3 und die sich solidarisch erklärte mit dem bürgerlich-militärisch-religiösen Putsch, der das „absolut Böse“4 hervorrief, und Männer und Frauen zu Dingen und
3 Es handelt sich hierbei um eine immer wiederkehrende Überlegung, wenn es darum geht, das Geschehene in unserem Land zu analysieren. In ihr wird die Distanz zum Geschehenen deutlich. Sie drückt sich in zwei typischen Phrasen aus, mit denen das Unrecht negiert und geleugnet wurde. „Mische dich nicht ein“ und „irgendetwas werden sie schon getan haben“ dienten dazu, die Verhaftung und das Verschwinden von Personen zu rechtfertigen und damit zu leben. Vgl. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964. 4 Carlos Nino, El mal absoluto, Buenos Aires, 2006. Ein Buch, in dem der Autor – ein bekannter argentinischer Jurist – die Wichtigkeit der Bestrafung der Menschenrechtsver-
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Nicht-Menschen degradierte5. Wenige blieben in diesem Moment verschont von der politischen Gewalt und dem Staatsterror.6 Die Gewalt und das Heilige sind auf verschiedene Arten miteinander verbunden und präsent: opfernde Gewalt, Sühnegewalt, symbolische Gewalt und politische Gewalt begleitet von Geopferten, Sühneopfern, geheiligten Opfern. René Girard erinnert uns daran,7 dass Gewalt an dem Gewalttätigen auszuüben bedeutet, sich durch seine Gewalt verunreinigen zu lassen. Seine Überlegungen, Zweifel und Fragen sind ebenfalls in diesem Beitrag enthalten. Erinnern wir uns daran, dass das Opfer in Argentinien bis heute verschwunden ist. Es gab und gibt weder Trauerfeiern noch Zeremonien, weder Mythen noch Gedenken für die Tausenden und Abertausenden Familien, die noch immer ihre Söhne, Brüder, Väter, Neffen und Freunde vom Himmel und der Justiz einfordern. Girard weist darauf hin, dass „man die Gewalt nicht anwenden kann, ohne sie selbst zu erleiden, das ist das Gesetz der Reziprozität“.8 In Argentinien gab es – bis zum heutigen Tage – keinen einzigen Fall, in dem die Familie eines Opfers gegenüber einem Mörder selbst Gewalt angewendet hätte. Das Spanische verwendet ein Wort, wenn die Eltern sterben: man wird zum Waisen, es gibt kein Wort, wenn ein Sohn oder Neffe stirbt. Als wenn diese Möglichkeit unaussprechlich wäre. Das ist es, was wir begreifen müssen.
letzungen, die er als das „radikal Böse“ ansieht, einfordert. Der Prolog ist von Ex-Präsident Raúl Alfonsín. 5 Um die breite Akzeptanz der repressiven Strategie in der Gesellschaft zu verstehen, muss man auf die langjährigen sozialen Vorstellungen zurückgehen, die in der Eliminierung (oder Ächtung) derjenigen Akteure, die Konflikte hervorriefen, eine Problemlösung sahen. Außerdem gab es eine gewisse Bereitschaft, die Repression anzuerkennen, jedoch mit der Vortäuschung, dass sie nicht stattfand. Die Hinrichtung von politischen Gegnern wurde von politischen, religiösen und sozialen Akteuren als Möglichkeit anerkannt. Man glaubte, mit der Repression leben zu können, indem man sie ignorierte. Die Akzeptanz der physischen Gewalt war bereits in einer sehr ausgeprägten Form seit dem Putsch von 1955 etabliert und weitete sich Anfang der 1970er Jahre auf staatliche und halbstaatliche Gruppen aus. 6 Ein kritischer Blick auf die staatliche und nichtstaatliche politische Gewalt in der Zeit vor dem Putsch 1976 in: Luis A. Romero, Una necesaria relectura de la violencia política, in: Diario Clarín vom 23. Januar 2007, 25. 7 René Girard, La violence et le sacré, Paris 1972. 8 Ebd., 364.
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Die historischen und sozialen Ursprünge von Militarisierung und Katholisierung Wie wir in vielen Untersuchungen gezeigt haben,9 tauchten in der katholischen Welt vielerlei Katholizismen auf, die den Raum des Privaten beschnitten und die mit diversen antiliberalen Perspektiven und Strategien versuchten, die Straße, das Volk zu gewinnen. Während des gesamten 20. Jahrhunderts widmeten sich die Akteure der Markierung symbolischer Grenzen, um so den wiederum konstruierten eigenen Glaubensidentitäten Sinn zu verleihen. Dies erforderte eine aktive „Gedächtnisarbeit“ zur Herstellung einer Abstammungslinie und der Erfindung einer „autorisierten Erinnerung“, die selbst von einer konstruierten, vom persönlichen Engagement in einer konkreten oder symbolischen Gemeinschaft beruhenden Tradition abhing.10 Die Erinnerung ist ebenso wenig nur die Vergangenheit wie auch die Utopie nicht nur die Zukunft darstellt. Deshalb bedeutet der „Kampf um die Erinnerung“ nicht nur die Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern auch für die Kontrolle der sozialen Vorstellungen in der Gegenwart und Zukunft zu kämpfen. In einer Zeit, in der es scheint, als würde man in einer anhaltenden Gegenwart leben, wird der Disput um die Organisation auf symbolischer Ebene und um den Bereich der gemeinschaftlichen Zeit immer wichtiger.11 In unseren Untersuchungen beschäftigten wir uns mit der langsamen jedoch beharrlichen Katholisierung, Militarisierung und Nationalisierung des Staates, der Politik, der zivilen Bevölkerung und der Gesamtheit des argentinischen Volkes. Ein Prozess, der sich „einbürgerte“ und sich folglich langfristig legitimierte. In Argentinien entstand nach dem bürgerlich-militärischen Putsch von 1930 zwischen den Streitkräften und der Katholischen Kirche eine Affinität, die letztlich einen Typ Land, Vorstellung, Staat und begrenzte Demokratie mit starken liberalen, konservativen und klassenbewussten Lastern hervorbrachte. Dieser erste Putsch erfuhr eine Unterstützung von katholischen Gruppen, die sich bereits seit den 1920er Jahren angesichts der geringen kirchlichen Institutionalisierung mit dem Ziel einer größeren Präsenz im öffentlichen Rahmen organisierten. Ab diesem Moment begann eine zunehmende Katholisierung Argentiniens, so dass der Staatsstreich von 1943 bereits Eigenschaften eines katho9 Vgl. Fortunato Mallimaci, Catolicismo y militarismo en Argentina (1930–1983). De la Argentina liberal a la Argentina Católica, in: Revista de Ciencias Sociales 4 (1996), 181– 218 sowie Fortunato Mallimaci/Verónica Giménez Béliveau, Argentinien, in: Johannes Meier/Veit Strassner: Kirche und Katholizismus seit 1945, Band 6: Lateinamerika und Karibik, Paderborn 2009, 409–432. 10 Vgl. Danièle Hervieu-Léger, La religion pour mémoire, Paris 1993. 11 Vgl. Bronislaw Baczko, Los imaginarios sociales, Buenos Aires 1991.
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lisch-bürgerlich-militärischen Putsches aufwies, wie danach auch alle weiteren militärischen Machtübernahmen bis zur letzten im Jahre 1976. Im Oktober 1945 streikten Hunderttausende Arbeiter im ganzen Land und forderten die Freiheit eines Oberst (durch die Streitkräfte festgenommen), mit dem die Gewerkschaftsführer weitreichende Rechte und Zugewinne für die Arbeiterklasse erreicht hatten. Im Februar 1946 wurde dieser Oberst – der seine Lehre als die soziale Lehre der Kirche darstellte – mit der Unterstützung von Teilen der Arbeiterschaft, des Volkes und der katholischen Bewegung zum Präsidenten gewählt. Heute bestreitet niemand, dass damit ein neuer Zeitabschnitt im sozialen, politischen und religiösen Leben Argentiniens begann. Breit gefächert ist allerdings die Uneinigkeit darüber, wie man ihn charakterisiert. So wie er für die einen der „Ursprung des Guten“ ist, bedeutet er für die anderen den „Ursprung des Bösen“. Der Peronismus war eine politische, populistische aber auch unnachgiebige Bewegung von Arbeitern und Gewerkschaften und keine Kaderpartei. Soziale Gerechtigkeit, Dritter Weg (ein gleichermaßen antiliberaler als auch antikommunistischer Nationalismus, gegen die USA und die UdSSR) und nationale Souveränität sollten neben einer starken Affinität zum antiliberalen Katholizismus seine Leitmotive werden. Er hatte die Verwirklichung der Rechte der arbeitenden Bürger und Bürgerinnen, Genossen und Genossinnen in einem Wohlfahrtsstaat zum Ziel. Der integrale Peronismus verlagerte den Katholizismus in das gesamte Leben hinein und umgekehrt. Beide suchten eigene Bereiche des Heiligen und der Heiligung, in denen der populäre Nationalismus und das Christentum des „arbeitenden peronistischen Volkes“ den aristokratischen Nationalismus und das Christentum der Soldaten und katholischen Religionsspezialisten symbolisch umstürzten. Ende 1954 und später im Jahr 1955 lässt sich erkennen, wie die Sühnegewalt und das Heilige begannen, sich in anderer Art und Weise auszudrücken. Im Namen eines geheiligten Ideals – dem Peronismus – zündeten einige Menschen katholische Heiligtümer und Gotteshäuser an und zerstörten sie. Im Namen eines anderen geheiligten Ideals – dem Gott der Katholiken – attackierten Anhänger der Streitkräfte den Regierungssitz und die Plaza de Mayo in Buenos Aires mit Flugzeugen. Mehr als dreihundert Zivilisten starben an diesem Tag durch diese „militärischen und katholischen Bomben“. Der demokratisch gewählte Präsident Juan D. Perón wurde vom Vatikan exkommuniziert und durch einen bürgerlich-militärisch-katholischen Putsch gestürzt. Der Peronismus wurde geächtet und verfolgt. Die Gewalt und das Heilige beschritten somit 1955 einen neuen Weg. Im Laufe der Jahre gaben einige ihr Leben für Perón, andere für die „westliche und christliche Gesellschaft“ und ab den 1960er Jahren unter dem Einfluss der kubanischen Revolution für die „sozialistische Revolution“.
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Diese Konflikte zwischen 1955 und 1973 zu verstehen ist grundlegend dafür, auch die verschiedenartigen Laufbahnen und Lebenswege der Akteure zu begreifen. Das demokratische Leben existierte nur noch als Farce angesichts des Verbots des Peronismus. Die politische und staatliche Macht betrachtet seit diesem Moment bis heute die Kirche als einen weiteren politischen Akteur, an den man sich in jedem Moment wenden kann. Die sozialen Bewegungen der „Ordnung“ sowie diejenigen, die versuchten, diese zu „untergraben“, finden und fanden insbesondere seit den heterogenen Erfahrungen der Peronisten Hilfe in der Welt, in der Symbolik und in dem Angebot dieses integralen, das heißt antibürgerlichen und antikommunistischen Katholizismus, der nach dem Putsch von 1955 ebenfalls begann, sich aufzufächern: Die katholischen antiliberalen Gemeinschaften breiteten sich von Gemeinden und Zentren größtenteils zu sozialen, politischen und kulturellen Bewegungen aus, insbesondere unter den Akteuren, die mit dem Nationalismus und der christlichen Demokratie verbunden waren. Das ideale Modell dieser Zeit stellt die Vereinigung Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo (MSTM) dar, dem ungefähr ein Zehntel der Gesamtheit des Klerus (ungefähr 550 Personen) angehörte. Die Mehrheit der Mitglieder waren Berater der neuen, auf katholische Aktionen spezialisierten Bewegungen wie der katholischen Arbeiter- oder Studentenjugend, oder Priester, die im Ausland studiert hatten und verantwortungsvolle Posten in der kirchlichen Bürokratie innehatten beziehungsweise Mitglieder anderer christlicher Gruppen mit intensiver Spiritualität und populärer Verpflichtung waren.12 Die „Wahl durch das Volk und die Armen“ und die „Verwandlung der ungerechten Strukturen“ Ende der 1960er Jahre – in Argentinien gelebt als „Weg zum Volk“ – verband die katholische Bewegung (wie 1945, jedoch in einem anderen historischen Moment) erneut mit der umfassenden und heterogenen Welt des Peronismus.13 Die Veränderungen 12 Die Mitglieder des MSTM waren weder “radikalisierte Subversive”, wie andere religiöse oder militärische Akteure sie beschrieben haben noch das „einzig wahre Christentum“, welches eine bestimmte unkritische Hagiographie hervorzuheben versuchte. Es waren Priester, die das Evangelium mit ihrer Mission des Predigens zu erfüllen versuchten. Sie gingen vom Ideal einer primären christlichen Gemeinschaft aus, in der kein eigener Besitz existiert und die universelle Brüderlichkeit regiert. Die ursprüngliche Organisationsform – eine Bewegung – und ihre vorrangigen theologischen Charakteristika – die Option für die Armen, die Option für das Volk, die Geschichtlichkeit des Daseins – beruhen auf eigenen Gedanken des argentinischen und lateinamerikanischen Klerus. 13 Gustavo Morello analysiert diese Priester und behauptet: “Die sozioökonomische Realität Lateinamerikas zu entdecken heißt, mit der Armut in Kontakt zu treten, die in einem Großteil der Bevölkerung vorherrscht. Die Stärke des Beweggrundes liegt nicht im Fanatismus, sondern in dieser Sympathie, dieser ethischen Stärke. Die Utopie war offensichtlich:
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in der katholischen Bewegung begleiteten und durchdrangen die Veränderungen in der peronistischen Bewegung und der jugendlichen Welt, wie Humberto Cucchetti und Luis Donatello14 in ihren Dissertationen und zahlreichen Artikeln über die Verknüpfung von Katholizismus, Nationalismus und Peronismus in den 1960er und 1970er Jahren gezeigt haben.15 Die nationalistischen und militärischen Komponenten des katholischen Argentiniens der 1930er Jahre wurden nicht beiseitegelassen, sondern äußerten sich in vielfältigen Lesarten. Auf der einen Seite mit Arbeiterrebellionen, sozialistischen Einflüssen, Erfahrungen nationaler Befreiung durch GuerillaGruppen wie auf Kuba und in anderen Ländern der Dritten Welt. Auf der anderen Seite mit dem Kalten Krieg, dem Kampf gegen den Kommunismus, den Erfahrungen des Kampfes der Franzosen in Asien und Afrika, der internen Bedrohung des atheistischen oder zur fünften Kolonne gehörigen „Subversiven“. Die neue Verbindung zwischen der Gewalt und dem Heiligen, das Opfer als höchstes Zeugnis dieser Verbindung und die Hingabe des Lebens als Beispiel des Sühneopfers und des Martyriums, das von den Ungerechtigkeiten erlöst, schuf neue und vielfältige Sinne der Verpflichtung, Bezeugung, Zugehörigkeit und Identität. Man diskutierte weder in den Episkopaten noch in den Priesterämtern, weder bei den Militärkaplänen noch in den katholischen Bewegungen, weder im befreienden Christentum noch in der politischen Gesellschaft oder in der Zivilgesellschaft über das Verhältnis zwischen Gewalt und Pazifismus oder zwischen Demokratie und Diktatur. Die bürgerlich-militärisch-religiösen die Gerechtigkeit, wie sie im Evangelium stand, sollte dazu führen, dass sich die Welt ohne die notwendige politische Vermittlung verformte. Vom Evangelium ging man direkt zum Leben über. Die politischen Parteien, die Strukturen etc. interessierten nicht. Man forderte eine unmittelbare Wirkung der Handlungen, und dies mit einer großen ethischen Stärke. Die fehlende Bildung der Geistlichen in den weltlichen Wissenschaften, die diese Erfahrungen begründeten, führte dazu, dass diese moralische Nachdrücklichkeit verschärft wurde. Sie konnten ihren Initiativen jedoch keinen politischen Realismus geben. Es gab eine Art tagtägliche ‚Indoktrinierung‘: das, was sich abspielte, war die Verteidigung der Gerechtigkeit, und man verteidigte sie, wie man zuvor die Kirche verteidigt hatte: mit ‚Sinnsprüchen, geflügelten Worten, Dogmen‘“, in: Gustavo Morello: Cristianismo y Revolución, los orígenes intelectuales de la guerrilla argentina, Córdoba 2003. 14 Vgl. Humberto Cucchetti, Articulaciones religiosas y políticas en experiencias peronistas: memoria política e imaginario religioso en trayectorias de la Organización Única del Trasvasamiento Generacional, Buenos Aires 2008. Luis Donatello, El catolicismo liberacionista en la Argentina y sus opciones político-religiosas. De la efervescencia social de los 60 a las impugnaciones al neoliberalismo en los 90, Buenos Aires 2005. 15 Vgl. Fortunato Mallimaci/Luis Donatello/Humberto Cucchetti, Caminos sinuosos. Nacionalismo y Catolicismo en la Argentina Contemporánea, in: Francisco Colom/Angel Rivero (Hg.), El altar y el trono. Ensayos sobre el catolicismo político latinoamericano, Barcelona 2006.
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Putsche wurden nicht als Anmaßung der Macht, sondern als Wiederherstellung der wirklichen Demokratie gesehen, in der jeder einzelne der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Akteure aus der Nähe zur militärischen oder politischen Macht seinen eigenen Nutzen zu ziehen versuchte. Aus diesem Grund war es so wichtig, einen Soldaten oder einen befreundeten Bischof zu haben, da dieser Verbindungen und Netzwerke zur realen Macht unterhielt. Der Traum vom eigenen Bischof oder Priester durchdrang die Gesamtheit der Machtgruppen und der sozialen Bewegungen von Widerstand und Kampf. So fungierten Dutzende von Militärkaplänen mehr als Sprachrohre ihrer Streitkräfte denn ihrer ursprünglichen Organisation,16 wie auch der einzige Kaplan des Ejército Montonero, der bewaffneten Truppe der Montoneros, sich stärker auf diese Organisation bezog als auf seine religiösen Vorgesetzten. Der Mord an dem Priester Carlos Mugica 1974 war ein qualitativer Sprung in dieser Verbindung zwischen der Gewalt und dem Heiligen.17 Es gab keine einstimmige Reaktion auf dieses Verbrechen an einem religiösen Spezialisten, es wurde vielmehr als ein weiterer Mord in der Konfrontation zwischen diversen katholischen Gruppen und Peronisten analysiert.18 Mugicas Tod war der eines Sühneopfers und summierte sich, wie Daniel Levine sagt, zu einer „langen Kette von ‚symbolischen christlichen Opfern‘, die uns in Lateinamerika so vertraut sind“.19 16 Zum Militärvikariat vgl. den Beitrag von Stephan Ruderer in diesem Band. 17 Mugica war eine öffentliche und national bekannte Persönlichkeit, mit einem anerkannten Ruf in sozialen, politischen und religiösen Kreisen. Sein Vater, ein Katholik und Peronist, war Minister und seine Mutter gehörte einer vermögenden Familie an. Er war einer der Priester, die Juan Domingo Perón bei seiner endgültigen Rückkehr ins Land im Jahre 1973 begleitete. Er war Sekretär des Kardinals Caggiano und später Mitglied der katholischen Studentenjugend. Er wurde von Unbekannten hingerichtet, obwohl vermutet wird, dass rechtsgerichtete peronistische Gruppen hinter dem Mord standen. Seine Überreste befinden sich in einer Elendssiedlung der Stadt Buenos Aires. Zum MSTM vergleiche den Beitrag von Silke Hensel in diesem Band. 18 Die katholische und peronistische rechtsgerichtete Zeitschrift Cabildo schrieb: „Er starb an seinem Gesetz, als Opfer der Verzahnung von Gewalt, von Mythen, von Hass und von Unwille, zu deren Errichtung er beigetragen hat“. Die katholische, nicht peronistische und den Streitkräften nahe stehende Zeitschrift Criterio behauptete: „Von jetzt an herrscht die äußerste Gefahr jeder Art von Gewaltverkündung. Sie wird sich nun gegen einen selbst richten. Es gibt in ihr eine Art unerbittlicher strafender Gerechtigkeit, an die man nicht denkt. Wenn der Tod des Paters Mugica eines zeigt, dann dass man mit der Gewalt nicht spielt“. Zitiert in Verbitsky, Vigilia de armas. Del Cordobazo de1969 al 23 de marzo de 1976 (III), Buenos Aires 2009, 316–317. 19 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Daniel Levine, Camilo Torres: Glaube, Politik und Gewalt. Ein Vergleich zwischen den politisch-militärischen Wegen und Möglichkeiten von Camilo Torres und Carlos Mugica ist interessant. Beide wurden außerhalb des Landes
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Die Diktatur: Die Abschaffung der Rechte und das absolut Böse Der zentrale Charakter der Diktatur wurde im Prozess gegen die Militärjunta von 1984, den die demokratische Regierung unter Alfonsín angestrengt hatte, herausgearbeitet. Im Urteil der Richter hieß es: „Das in die Praxis umgesetzte System der Verhaftung, Vernehmung unter Folter, Verheimlichung und Illegitimität des Freiheitsentzugs und, in vielen Fällen, der Vernichtung der Opfer, war substantiell identisch im gesamten Staatsgebiet und zog sich über einen langen Zeitraum hin“. Es gab eine gründliche vorherige Planung, in der sich die Vernichtung mit einer Geschwindigkeit und Präzision vollzog, die eine ausreichende Zeit der Vorbereitung erforderte.20 Zu dem Kampf gegen „den subversiven Feind“ kam die politische und wirtschaftliche Aktivität mit einer Logik, die militärische und katholische Sektoren bis heute „den schmutzigen Krieg“21 nennen. Für diesen war es notwendig, bürgerliche, politische und soziale Rechte zu eliminieren. Deshalb übernahmen die Streitkräfte so lange die Kontrolle über den Staatsapparat. Es ging darum, den Staat zu organisieren, um eine neue Ordnung einzuführen. Das erste Dokument der Militärjunta fasste die Legitimierung des Putsches zusammen: „Wiederherstellen der Grundwerte, die fundamental der integralen Führung des Staates dienen, den Sinn für Moral betonend… die Subversion auslöschen… Platzierung in der westlichen und christlichen Welt“22. Die Maschinerie der Vernichtung definierte das Subversive niemals genau, um so eine Etikettierung und Stigmatisierung eines Jeden als Personifizierung des Bösen zu erlauben: es sind Nicht-Menschen, Dämonen, Bestien, Kranke, keine Argentinier und deshalb haben sie es nicht verdient zu leben. Auf diese Art und Weise legitimierte sich die Repression, die von großen Teilen der argentinischen Gesellschaft toleriert und akzeptiert wurde. Als 1975 mit einem Erlass der Exekutive die Vernichtung der Guerilla angeordnet wurde, wandelte sich die Technik des Verschwindenlassens von Personen zu einer institutionalisierten Politik. Der als Operativo Indepenzum Priester ausgebildet, waren Berater von katholischen universitären Bewegungen und beide wurden ermordet. 20 Vgl. Daniel Feierstein/Guillermo Levy, Hasta que la muerte nos separe. Prácticas sociales genocidas en América Latina, Buenos Aires 2004. 21 Der Círculo Militar de la República Argentina veröffentlichte drei Bände “zu Ehren und im Gedenken an die Gefallenen des Krieges gegen die Subversion”. Im Gedenken an das argentinische Militär im Jahre 1998; an den Rest der Streitkräfte und Polizisten im Jahre 1999 und an die Zivilisten im Jahre 2000. Damit soll den Militärs zufolge, „eine vollendete Erinnerung an das Geschehene während der jahrzehntelangen subversiven Aggression“ erreicht werden. 22 “Objetivos básicos para la reorganización nacional”, in: La Nación, 26.03. 1976, 1.
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dencia (Operation Unabhängigkeit) deklarierte Kampf gegen die Guerilla in Tucumán etablierte die ersten geheimen Haftanstalten und stellte einen regionalen Vorläufer für eine innovative bürokratisch-repressive Technik dar, die wenige Monate später mit mehr Mitteln und auf nationalem Niveau angewandt wurde: „Der Putsch von 1976 repräsentierte einen fundamentalen Wechsel: das Verschwinden und die Konzentrations- und Vernichtungslager waren nicht mehr nur länger eine Form der Repression, sondern verwandelten sich in die repressive Machtform, unmittelbar ausgeführt von den Militärorganisationen.“23 Ein koordinierter nationaler Plan, geheime Haftanstalten und die Folter als systematische Vorgehensweise waren ein zentraler Teil des Repressionsapparats. Schikane, Vergewaltigungen und Vernichtung wurden rationalisiert und bürokratisiert, um Wirksamkeit und Effizienz zu erreichen. Man kreierte eine Vorstellung des Todes, die es durch ihre Unsichtbarkeit schaffte, dass jede Person, die sich beschwerte, die kämpfte, die ihre Rechte verteidigte oder sich widersetzte, als subversiv eingestuft wurde und folglich die Möglichkeit bestand, dass sie verschwand. Wie ein kürzlicher Urteilsspruch gegen die Unterdrücker bestätigt: „Anders gesagt war es nicht durch die formale bestrafende Gewalt, mit der das Militärregime die Repression gegen diejenigen ausführte, die es als seine politischen Gegner betrachtete, sondern es war die wissentliche, perverse, massive und kriminelle Ausübung einer klandestinen bestrafenden Gewalt, die mit allen möglichen Mitteln geheim gehalten wurde und die, wie jede Ausübung staatlicher Gewalt, die von den Pflichten des Rechtsstaates befreit wird, in direkter Form in Staatsterror ausartete.“24 Die Gerichtsverfahren zeigten, dass die Repression 30.000 festgenommene Verschwundene, Konzentrationslager, tausende Gefolterte, Gefangene und Exilanten, sowie die Hinrichtung von schwangeren Frauen und den „Raub“ von mehr als 400 ihrer Kinder25 hervorbrachte und die Zerstörung der sozialen Errungenschaften, besonders die der Arbeiterbewegung (der größte Teil der Verhafteten und Verschwundenen waren Jugendliche und Arbeiter), auslöste. 23 Pilar Calveiro, Poder y desaparición. Los campos de concentración en Argentina, Buenos Aires 2006. 27. Siehe außerdem: María Soledad Catoggio, La dernière dictature militaire argentine (1976–1983): La conception du terrorisme d’État, in: Encyclopédie en ligne des violences de masse, veröffentlicht am 15. März 2010, http://www.massviolence.org/ La-derniere-dictature-militaire-argentine-1976–1983-La?decoupe_recherche=catoggio. Stand: 8.12.2011). 24 Juez Federal Daniel Raffecas, Causa contra el represor Oscar Rolón, März 2005. 25 Die unermüdliche Arbeit der Abuelas de la Plazo de Mayo hat die Wiederherstellung und Wiedererlangung des Identitätsanspruches von 102 dieser Kinder erreicht, die sich zu einem Großteil in den Händen von katholischen Familien befanden, die sich diese Kinder auf illegale Weise zu eigen gemacht hatten.
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Um ihre Ziele zu erreichen, bekam die Junta die öffentliche, ausdrückliche und entschlossene Hilfe von Unternehmern, von den Medien, Agrarexporteuren sowie aus Teilen der argentinischen Gesellschaft – sei es aufgrund von Unterstützung, unterlassener Hilfeleistung oder Angst. Außerdem verarmten weite Teile der Gesellschaft sowohl in materieller als auch in spiritueller Hinsicht. Es herrschte vollkommene Straffreiheit und ein Klima des Misstrauens, der Denunziation und Angst wurde geschaffen. So konnte sich die komplette Zerstörung des gewerkschaftlichen Widerstandes und eines Großteils der Arbeiterrechte mit der Mittäterschaft der Arbeitgeberverbände vollziehen.26 Die großen Firmen denunzierten unverhüllt unabhängige Gewerkschaftsführer, vermeintliche Subversive, bekannte Aktivisten und jede Person, die sie als Urheber der Störung sozialer Ruhe vermuteten. Eine Untersuchung der Beziehung zwischen großen Firmen und Streitkräften in der letzten Diktatur analysiert die bedeutendsten Fälle der Komplizenschaft zwischen Arbeitgebern und Militär in den Firmen Acindar, Astarsa, Dálmine Siderca, Ford, Ledesma und Mercedes Benz. Die Arbeit nimmt die Beteiligung ziviler Unternehmergruppen in Verbindung mit der Militärmacht an der Denunziation und dem Verschwindenlassen von Gewerkschaftsführern unter die Lupe.27 Auch die „Säuberung“ in Schulen, Universitäten, staatlichen Ministerien, Provinzen und Gemeinden vollzog sich, indem zahlreiche Erzieher, Erzieherinnen und Funktionäre denunziert, ausgestoßen und hingerichtet wurden. Zur gleichen Zeit wurden Bücher verbrannt und neue autoritäre Inhalte im Schulwesen auferlegt.
Die katholische Welt Es gab katholische Kreise, die aktiv mit dem Staatsterrorismus zusammen arbeiteten und es gab andere Netzwerke des Katholizismus, die der Unterdrückung durch das Militär ausgesetzt waren.
26 Im Mai 2010 gab der Oberste Gerichtshof sein Gutachten zur Unzulässigkeit der Begnadigung des Wirtschaftsministers während der Diktatur, José Martínez de Hoz, ab. Daraufhin wurde er festgenommen, damit das gegen ihn gefällte Urteil vollstreckt werden konnte. Nicht nur den Streitkräften und Mitgliedern der Katholischen Kirche wird der Prozess gemacht, sondern auch denen, die für die wirtschaftliche Zerstörung des Landes verantwortlich sind. 27 Vgl. Victoria Basualdo, Boletín de la Federación de Trabajadores de la Industria y Afines, März 2006, Sonderbeilage anlässlich des dreißigsten Jahrestags des Putsches.
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Der antiliberale, nationalistische Katholizismus und seine Verbindungen zu den Streitkräften Es gibt bereits eine Vielzahl an Dokumentationen und Analysen, die die Mittäterschaft, aktive Beteiligung und die Beratung der Streitkräfte durch den argentinischen Episkopat aufzeigen. Es gab öffentliche und private Versammlungen zwischen beiden Hierarchien und etliche Stellungnahmen der Bischöfe. Die schriftlichen Dokumente der Versammlungen wurden im Nachhinein teilweise verkürzt dargestellt. Zum Beispiel hat man bei dem am 15. September 1976 erstellten Dokument in der später im Jahr 1984 publizierten Version folgenden Teil entfernt: „Auf keinen Fall beabsichtigen wir, eine kritische Position gegen die Handlungen des Staates einzunehmen, eine Position, die uns nicht zusteht, sondern wir werden lediglich auf Bedrohungen hinweisen, die wir erkannt haben… wir die Bischöfe sind uns darüber im Klaren, dass ein Scheitern mit großer Wahrscheinlichkeit zum Marxismus führen kann und deshalb werden wir den aktuellen Prozess der Reorganisation des Landes begleiten, gegründet und geleitet von den Streitkräften“28. Wenn man das Original mit der veröffentlichten Version vergleicht, sieht man den Wechsel in der Nummerierung, und es wird ausgelassen, dass die Bischöfe die Repression ohne Gesetz den mittleren und unteren Rangebenen des Militärs zuschreiben, während sie „die bemerkenswerten Erfolge der Regierung zu Gunsten des Landes“ und das „gute Bild von den höchsten Autoritäten“ hervorheben. Um sich nicht zu „einer verfänglichen Stille unseres Bewusstseins, welche dennoch dem Prozess nichts nützen würde“ oder „einer Konfrontation, die wir uns sicherlich nicht wünschen“ gezwungen zu sehen, schlug die Kirche vor, „einen Kommunikationskanal“ mit der Militärjunta zu eröffnen. Man schuf eine Comisión de Enlace (Verbindungskommission), die regelmäßige Versammlungen zwischen Repräsentanten der Militärjunta und Stellvertretern des Episkopats organisierte, ohne dass es Protokolle über die Gespräche gab.29 Als Ergebnis der langjährigen Katholisierung und Militarisierung der Gesellschaft erlebten die argentinischen Bischöfe jede Bedrohung der Streitkräfte wie eine Bedrohung ihrer sozialen, symbolischen und religiösen Macht. Die Annahme, dass sich die Subversion im Innern der eigenen kirchlichen Institution befand (Bischöfe, Priester, Laien und „Dritte-Welt-Bewegungen“), führte dazu, dass man die Ausrottung des Bösen in den eigenen Reihen für notwendig erachtete. Man könnte sagen, dass die Streitkräfte wie ein bewaffneter Arm der kirchlichen Autorität agierten, um die Personen und katholischen Gruppen 28 Diese Auslassung ist so zitiert in: Horacio Verbitsky, Doble Juego. La Argentina Católica y Militar, Buenos Aires 2006, 123. 29 Vgl. ebd., 124.
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auszulöschen, die als „unheilbar“ angesehen wurden. Dabei existierten verschiedene Arten der Zusammenarbeit: wenn die Streitkräfte Nachrichten von einer kirchlichen Autorität erhielten, wie es der Fall war bei den verhafteten und verschwundenen Priestern, die im Mai 1976 von Jorge Bergoglio, dem Ordensoberen der Jesuiten (heute Kardinal von Buenos Aires und Präsident der argentinischen Bischofskonferenz), an die Streitkräfte denunziert wurden.30 Aber auch, wenn Kirchenmitglieder an der Vernichtung von „unnachgiebigen Abtrünnigen“ mitarbeiteten (der Fall des hingerichteten Bischofs Angelleli im August 1976)31 und/oder weil sie die Verbrechen als stille Komplizen begleiteten, die Gewissheit über die Schwere der Vorfälle leugneten oder ignorierten (zum Beispiel bei dem Verschwindenlassen der französischen Nonnen, die in einem Video als „Guerillakämpferinnen“ präsentiert wurden, um die angebliche „Gerechtigkeit“ der Strafe zu legitimieren).32 Die geheimen, nun veröffentlichten Dokumente der Direktion der Geheimpolizei von Buenos Aires zeigen zum Beispiel die Verfolgung und Hetze gegen katholische Gruppen, die sich den herrschenden Strukturen entgegenstellten. Diese Dokumente sind das Werk von Katholiken über das Verhalten von Katholiken.33 Die kirchliche Autorität nahm sich im Rahmen eines „katholisch-militärischen Kreuzzugs“ des Kampfes gegen die Subversion an, sowohl im Innern des katholischen Lagers als auch im weiteren Teil der Gesellschaft. Die Aussagen in den Juicios por la Verdad (Verfahren für die Gerechtigkeit), den aktuellen Verfahren gegen Menschenrechtsverletzungen und in Büchern und kürzlich erschienenen Artikeln zeigen auch, dass es in den Konzentrationslagern eine religiöse und im speziellen eine katholische Beteiligung gab. Bei der psychischen, physischen und moralischen Vernichtung des „Nicht-Menschen“ bedarf der Täter des Gefühls, Teil einer geheiligten Mission zu sein, der daher die Notwendigkeit zur spirituellen Unterstützung verspürt, die letztlich die symbolische 30 Vgl. den Artikel des Journalisten Horacio Verbitsky in der Tageszeitung Página 12 vom 11. und 18. April, sowie vom 2. Mai 2010. Verbitsky zeigt dort anhand verschiedener Aussagen von anderen Priestern und katholischen Laien die Mitwirkung und Beteiligung des derzeitigen Kardinals der Stadt Buenos Aires – zur damaligen Zeit Oberhaupt des Jesuitenordens in Argentinien – am Prozess der Verhaftung und des Verschwindens zweier jesuitischer Priester während der Diktatur. Die beiden Priester arbeiteten in bekannten Armenvierteln. 31 Fortunato Mallimaci, Monseñor Angelelli: un católico intransigente desde el mundo de los pobres, in: María A. Puente Lutteroth (Hg.), Actores y dimensión religiosa en los movimientos sociales latinoamericanos, 1960–1992, Cuernavaca 2006. 32 Es wurde ein Video der Streitkräfte vor der Versammlung der Argentinischen Bischofskonferenz ausgestrahlt, in dem die Nonnen als „Guerilleros der peronistischen Bewegung Montoneros“ präsentiert wurden. 33 Vgl. María Soledad Catoggio, Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo y Servicios de Inteligencia 1969–1970, in: Revista Sociedad y Religión 30/31 (2008), 171–189.
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Belohnung nach sich zieht, „das gelobte Land zu erreichen“ und in den „ewigen Himmel“ zu gelangen.34 Es ist also notwendig, sich zu fragen: welche Netzwerke und katholischen Traditionslinien gab es, die zum Gegenstand der Verfolgung und der Repression während der letzten Diktatur wurden?35
Der antiliberale, nationalistische Katholizismus und die zivile Gesellschaft mit Verbindungen zum Populären Die Zuschreibungen Dritte-Welt-Bewegungen, Sozialismus und Befreiung grenzten den Bereich ab, auf dem der Fokus der Repressionsvertreter lag. Vor diesem utopischen Hintergrund liefen unterschiedliche Erfahrungen des Katholizismus zusammen, verbunden mit der Theologie des Volkes, der volkstümlichen Religiosität und der Verpflichtung im aktuellen Tagesgeschehen. Viele Vertreter dieser katholischen Bewegungen schlossen sich, ohne sich selbst als Christen zu identifizieren, Versuchen an, die keinen Bruch mit der katholischen Welt darstellten, sondern die es möglich machten, die Grenze des Religiösen zu anderen Bereichen des Handelns zu verschieben und/oder aufzulösen. Ein modellhaftes Beispiel hierfür war die Verbindung zwischen katholischen Militanten und der Gruppierung Montonero.36 Andere Anhänger des bewaffneten Kampfes suchten frühzeitig eine explizitere Verbindung mit ihrer katholischen Identität. Inspiriert von der Figur Camilo Torres, scharten sie sich um den Ex-Seminaristen Juan García Elorrio und wurden zu einem Teil des sozialen Umfelds, auf welches sich die Zeitschrift Cristianismo y Revolución konzentrierte, deren erste Ausgabe im September 1966 publiziert wurde.37 Ab 1968 machte das Manifiesto de Obispos del Tercer Mundo (Manifest der Bischöfe für die Dritte Welt) Platz für die Gründung des Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo, eine priesterliche Bewegung, die ein noch weiteres soziales Netzwerk miteinander
34 Vgl. Horacio Verbitsky, El silencio. De Paulo VI a Bergoglio. Las relaciones secretas de la Iglesia con la Escuela Mecánica de la Armada (ESMA), Buenos Aires 2005. 35 Ein Teil der folgenden Paragraphen wurde entnommen aus Fortunato Mallimaci/María Soledad Catoggio, El Catolicismo Argentino en la Dictadura y la Postdictadura. Redes y Disputas, in: Revista Puentes (23) 2008. Es werden die Kategorien Protestler, Märtyrer und Erben behandelt. 36 Vgl. Luis Donatello, Ética católica y acción política. Los montoneros: 1966–1976; Tesis de maestría de Investigación, in: Ciencias Sociales; Universidad de Buenos Aires 2002 – Im Druck. 37 Vgl. Morello, Cristianismo (wie Anm. 13).
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verband, welches als tercermundismo bekannt wurde.38 Die Zeitschrift Tierra Nueva, entstanden Mitte der sechziger Jahre, war ein früher Vorgänger. Viele Militante, die sich mit dem tercermundismo identifizierten, definierten sich ausschließlich über ihre Arbeit zur Organisation der Unterschichten und widmeten sich Aktivitäten wie denen des Pastorats Villera oder der Gewerkschaftsarbeit. Damit wurden die seit Beginn der 1960er Jahre begonnenen Erfahrungen der Arbeiterpriester fortgeführt. Ende 1975 entstand eine kleine Gruppe, Cristianos para la Liberación genannt, die versuchte, diversen Priestern und katholischen Aktivisten, die dem Revolutionären Flügel des Peronismus nahe standen, Raum zu schaffen. Sie war Ausdruck der Massenstrategie der Organisation der Montoneros. Einige ihrer Mitglieder hielten ihre Verbindung mit der bewaffneten Organisation aufrecht, während sich ein Großteil vollkommen der neuen Arbeit mit den Massen widmete. Der Priester Jorge Adur, zukünftiger Kaplan der Armee der Montoneros, war Teil dieser Gruppierung. Alle diese Gruppen wurden als subversiv eingestuft. Unter dem Schirm dieser Einstufung wurden viele Priester39 und katholische Mitglieder dieser Netzwerke, aber auch viele andere, die nicht unbedingt zu diesen Gruppen gehörten, zu katholischen Opfern des Staatsterrors. Der Bericht der CONADEP gibt Aufschluss über diesen Verlauf. Während der ersten Jahre der Diktatur schafften es viele der Aktivisten aus diesem Bereich, aus dem Exil oder im Land selbst Menschenrechtsorganisationen aufzubauen; ihre Protestparolen verwandelten sich in einen Ruf nach Menschenwürde. Einige Personen, die großen Bekanntheitsgrad erlangten, engagierten sich in der Menschenrechtsarbeit und beriefen sich ausdrücklich auf ihren katholischen Glauben. Adolfo Pérez Esquivel ist so ein Beispiel dieser katholischen Aktivisten. Er gründete 1974 den Dienst für Frieden und Gerechtigkeit (Servicio de Paz y Justicia – SERPAJ). 1980 erhielt er dafür den Friedensnobelpreis. Der leidenschaftliche Priester Federico Richards ist bekannt für die Rolle, die seine zweisprachige Zeitung The Southern Cross mit ihrem Anzeigenbereich spielte. Schlüsselfunktionen kamen sowohl dem Sitz der Passionisten Casa Nazareth als auch der Gemeinde Santa Cruz als Gründungsorte für die Asamblea Permanente por los Derechos Humanos (Ständige Versammlung für die Menschenrechte, APDH) im Jahre 1975 zu. Mindestens genauso bedeutend sind seit 1977 die 38 Vgl. José Pablo Martín, El Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo. Un debate argentino, Buenos Aires, 1992. Wir stimmen mit Martín überein, dass „sich in keinem der dokumentarischen, öffentlichen oder privaten Teile die Aussage stützen lässt, dass das MSTM an bewaffneten Aktivitäten teilnahm“, wie es von diversen Bereichen mit religiöser, militärischer und wirtschaftlicher Macht behauptet wurde. 39 Vgl. Catoggio, María Soledad, Cambio de hábito: trayectorias de religiosas durante la última dictadura militar argentina, in: Latin American Research Review 45,2 (2010), 27–48.
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Madres de Plaza de Mayo (Mütter des Platzes der Mairevolution). Die APDH erhielt den frühen Anstoß von den Bischöfen De Nevares und Hesayne und entwickelte sich zu einem Zentrum, zu dem sich verschiedene Personen hingezogen fühlen, so zum Beispiel unter anderem der Priester Enzo Giustozzi. Einige ihrer Gründungsmitglieder formierten sich später zum Movimiento Ecuménico por los Derechos Humanos (MEDH) unter der Kopräsidentschaft des Bischofs Novak. Beide Organisationen charakterisierten sich durch die Vereinigung von katholischen Anhängern des tercermundismo. Patrick Rice und Fátima Cabrera, die zu den Cristianos para la Liberación gehörten, beteiligten sich im Exil an der Gründung der Federación Latinoamericana de Asociaciones de Familiares Detenidos Desaparecidos (FEDEFAM). Zu guter Letzt widmete sich Emilio Mignone, der anfangs eine Abneigung gegenüber den protestlerischen Ausdrücken der 1960er und 1970er Jahre hatte, nach dem Verschwinden seiner Tochter Mónica der Menschenrechtsarbeit, vor allem im Rahmen der APDH und ab 1979 in dem von ihm gegründeten Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS).
Bilanz Aus dem bisher Gesagten ergeben sich folgende, weiterführende Überlegungen: 1. Man erkennt die Bedeutung eines integralen Katholizismus, eines Katholizismus, der alle Lebensbereiche durchdringt. Dieser ist antiliberal und antikommunistisch und formuliert bis heute eine katholische, antiliberale Modernität und Kultur. An ihm lassen sich vielfältige Formen der Abneigung gegenüber der Individualisierung, der Individualität, des Körpers und der Freude im Namen der „Sozialen Herrschaft Jesu Christi“ ableiten. Deshalb ist es wichtig zu unterscheiden zwischen den institutionellen Strategien der Kirche, denen der katholischen Bewegung und den persönlichen Laufbahnen. Mit anderen Worten, sich an die Typologien Troeltschs des Katholizismus des Typs Kirche, des Typs Sekte und des individuellen und/oder mystischen Typs zu erinnern. 2. Dies erlaubt, theologische, politische, soziale, imaginäre, antiliberale und antibürgerliche Kontinuitäten von großer historischer Dichte im Bereich der Religion zu sehen, die dieser historischen Mentalität einen Sinn geben, die antiimperialistisch, gegen die USA, gegen die Protestler und gegen die Juden gerichtet ist. Eine Gruppierung des Katholizismus trug über Jahrzehnte dazu bei, eine katholisch-militärische Mentalität der Zerstörung des Subversiven, einen Kreuzzug, einen Heiligen und Wahren Krieg als eine geheiligte Mission zu schaffen, die all das legitimierte und rechtfertigte.
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3. Es ist unmöglich, ein Datum oder ein Ereignis für das festzusetzen, was man gewöhnlich (und fehlerhaft) als Ursprung des Bösen bezeichnet und was zu der Vernichtung von 30.000 Verhafteten und Verschwundenen geführt hat. Historische Prozesse haben vielfältige Ursachen und unvorhersehbare Wege. Die religiöse Sphäre ist eine von ihnen und wurde in Argentinien sehr wenig untersucht, wenn man von den Studien zu Unterstützung und institutioneller Komplizenschaft der Katholiken mit der Diktatur absieht. Wie war es möglich, dass es keine Warnungen gab und keine ethischen Empörungen aufkamen angesichts so vieler Morde im Namen des christlichen Gottes? Wo war Gott, als all dies geschah? Dies ist eine Frage an die Theologie. Warum sollte sich die christliche Institution gegen die Diktatur gestellt haben, wie man es in zahlreichen Arbeiten liest? Es ist eine soziologische Frage, die von einem angeblichen „Sein-Müssen“ des Religiösen ausgeht. Aus dieser epistemologischen Perspektive zweifeln wir an, dass „Essenzen“ in dem „SeinMüssen“ der Akteure und Institutionen angenommen werden. Was waren die materiellen, persönlichen, sozialen, religiösen, subjektiven, imaginären Umstände, die diese katholische Unterstützung der Restrukturierung der Gesellschaft zu diesem Preis möglich machten? Dies ist eine historisch-soziologische Frage, die wir sehr wohl beantworten können und die wir in diesem langwierigen Prozess der Affinitäten zwischen Katholizismus und Militarismus in Argentinien, die sich beide als Säulen des „wahren“, „authentischen“, „einzigartigen“ Vaterlandes verstanden, zu analysieren versucht haben. Dies muss sehr wohl mit der gleichen Genauigkeit untersucht werden wie man andere „Unterstützungen“ in sozialen Prozessen untersucht. Die politische Macht der Streitkräfte ist – zumindest heute – vollkommen entkräftet und der Staatsgewalt unterworfen. Die Katholisierung der Gesellschaft existiert jedoch weiter und dort, wo es Kämpfe um die Deutungshoheit der Erinnerung gibt, zeigt die katholische Welt verschiedene Perspektiven. Die Nachfolger des erlösenden Katholizismus, die sich in den Seminarios de Formación Teológica seit der Zeit nach der Diktatur und bis heute in einem festen Kern zusammenschlossen, sprechen von denen, die verschwunden, hingerichtet und massakriert wurden, als Märtyrer. So wird jedes Jahr eine Nacht dem „Gedenken an die Märtyrer“ gewidmet. Die Verwendung des Märtyrerkonzepts, um sich auf die Opfer des Staatsterrors zu beziehen (zum Teil von Menschenrechtsorganisationen, Familien der Opfer, sozialen Bewegungen, Gewerkschaftszentren und von verschiedenen katholischen Akteuren, die versuchen, ihre „wahre“ Erinnerung zu schaffen) zeigt, wie in unserem Land einige Kategorien gleichzeitig politisch und christlich sind. 4. Die Konzepte des Heiligen und Wahren Krieges wurden benutzt, um die Hinrichtung, Folter und die Verhaftung von Kindern vor der Hinrichtung ihrer Mütter und Väter zu legitimieren. Man nannte es den „Krieg gegen die
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Subversion”.40 Einer der ideologischen Vordenker der mit den Streitkräften verbundenen Gruppen war für lange Zeit der Priester Julio Meinvielle.41 Die religiöse, katholische und geheiligte Legitimierung dieser Gewalt nahm die Schuld von den Verantwortlichen, milderte die Last der Verantwortung für das Töten und das Foltern und ließ diese Gewalt wie eine Sühne erscheinen, um die Gesellschaft von dem Schlechten zu säubern. Die massive Hinrichtung von Subversiven gefiel Gott nicht nur, sondern öffnete die Türen zum Himmel. Zahlreiche Soldaten haben „gestanden“ oder besser gesagt erklärt (wir sehen einmal mehr, wie die Konzepte sich gegenseitig verlagern und man von einer religiösen Interpretation zu einer rechtlichen übergeht), dass es für sie weder einfach und leicht noch tolerierbar war, die Befehle zu befolgen. Deshalb benötigten sie einen Priester, der sie „segnete“, „bevollmächtigte“ und in dieser wahren und heiligen Mission des Tötens „ermächtigte“, um die Gesellschaft von der „Sünde“ zu erlösen. Der Religionsfachmann erfüllte hier exzellent die zentrale und fundamentale Rolle der moralischen und geheiligten Autorität im intimen und privaten Raum des Beichtstuhls. 5. In den Konzentrationslagern (zum größten Teil städtisch, man transportierte die Opfer nachts in grünen Autos der Marke Ford Falcon– Symbol der Unterdrückung – oder in Fahrzeugen der Streitkräfte) folterte und tötete man, während die Opfer gezwungen wurden, christliche Gebete zu sprechen. Einer der Gefolterten besuchte seine Familie, ging mit ihnen am Sonntag zur Messe, kehrte zurück ins Lager und „wurde weiter gefoltert“. Die Aussagen der Opfer in diesen Lagern lassen keinen Zweifel an diesen Folterpraktiken, die ein ums andere Mal die Ethik und die Grundlagen des Glaubens derer in Frage stellten, die Gläubige waren: „sie sagten uns, wir seien Teufel“, „sie sind Atheisten, Söhne des Teufels“; „wenn Du das Vaterunser nicht beten konntest, schlugen sie Dich“; „wenn Du Jude warst, folterten sie Dich doppelt dafür, subversiv und jüdisch zu sein“; „sie zwangen uns zu beten während der Scheinerschießungen“. Ein Konzentrationslager hatte den Namen „Olimpo“ und ein Zeugenopfer sagte darüber: „es gab ein Wandbild, welches so etwas Ähnliches sagte wie `Olimpo, der Ort der Götter´… eine sehr 40 Dazu die Veröffentlichungen des Círculo Militar de la República Argentina, vgl. Anm. 20. Man versucht gemäß dieser bis heute aktiven katholisch-militärischen Gesellschaft, „eine vollständige Erinnerung an das Geschehene während der jahrzehntelangen subversiven Aggression zu erreichen“. 41 Bereits im Jahre 1936 forderte Meinvielle in der katholischen Zeitung „Criterio“ den Heiligen Krieg gegen die Republik und „die Roten”, um Franco in Spanien zu unterstützen. Er war bis zu seinem Tod einer der hauptsächlichen Berater der katholischen und militärischen Gruppen. In diesem Priester ist die Verteidigung der Hispanität als eine Form der Beschreibung für den Antinordamerikanismus wichtig.
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unglaubliche Situation, weil man, als wir beteten – nahe dem Altar mit dem Bild der Jungfrau von Luján, – im Hintergrund die Schreie der Gefolterten hörte“.42 6. Die Idee der Bedrohung der Ordnung, des Friedens, der Demokratie, der Werte, des Fortschritts und des Vaterlandes wird in dieser Zeit allgegenwärtig. Sie ist nicht neu, denn sie trat häufig in Momenten des bürgerlichmilitärisch-religiösen Putsches auf. Die „authentischen und gesunden“ Streitkräfte und die Katholische Kirche nahmen – zur gleichen Zeit und in gemeinsamer Solidarität – den Streit um das Monopol der Gewalt und des Gutes der Erlösung als Bedrohung wahr, die vom subversiven tercermundismo ausging. Diese Perzeption begründete – wie wir gesehen haben – die intensive Verfolgung solcher Gruppen durch den Geheimapparat des Staates und die gegenseitige Legitimierung und Komplizenschaft im „Ausrotten“, „Auslöschen“, „Verschwindenlassen“ dieser Bedrohungen im Namen Gottes und des Vaterlandes. Auf dem Spiel standen die Gewalt und die symbolische Macht der beiden Institutionen, die sich als die Stützpfeiler des Argentinismus und der wahren Werte der westlichen und der christlichen Zivilisation sahen. 7. Bis heute gibt es nicht ein einziges Mitglied der Streitkräfte, welches seine Vergehen und seine Schuld bereut und anerkannt hätte. Alle Gerichtsverhandlungen geschehen nur aufgrund von Anklagen der Opfer. Die Verantwortlichen halten ihren Einsatz für geheiligt, befreiend, als von den Dämonen der Subversion erlösend. Weder Untergebene noch Vorgesetzte liefern Daten. Es gibt eine „ehrerbietige Furcht“, als „Denunzianten“ seiner Kameraden zu erscheinen, das soll man nicht und das kann man nicht machen. Ebenfalls gibt es kein einziges Mitglied der Katholischen Kirche, welches anerkannt hätte, an einem dieser Vergehen beteiligt gewesen zu sein. Im Fall des Priesters Von Wernich, verurteilt für zahlreiche Ermordungen, Folterungen und Denunzierungen, leugnete dieser die Anschuldigungen und entschuldigte sich, indem er sagte, er hätte das „Sakrament der Beichte“ befolgt. Er verbüßt seine Strafe im Gefängnis, ohne irgendeine Sanktion seitens seiner bischöflichen Autoritäten.43 42 Die Zeugenaussagen stammen aus den Akten der Gerichtsprozesse: Poder Judicial de la Nación, Argentinien, Secretaría Nr. 6: Causa “Scali, Daniel Alfredo y otros s/ privación ilegal de la libertad”, Nr. 7273/06 und Causa “Suárez Mason, Carlos Guillermo y otros s/ privación ilegal de la libertad, Nr. 14.216/03. 43 „Christian Federico von Wernich ist ein Folterer und Mörder, der Teil eines kriminellen Plans war. Um seine Arbeit voranzutreiben nutzte er die Möglichkeiten eines Priesters der Apostolisch-Römisch-Katholischen Kirche und schrieb sich selbst eine pastorale Mission zu“, so sahen es die Mitglieder des anhörenden Bundesstrafgerichts Nr. 1 von La Plata, die ihm 2007 eine lebenslängliche Haft auferlegten aufgrund von begangenen Menschen-
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8. Die Festnahme schwangerer Frauen, sie in Konzentrationslagern gebären zu lassen, sie zu ermorden und ihre Babys als Kriegsbeute an „gesunde, patriotische und katholische“ Familien weiterzugeben, knüpft an die vorherige Konzeption an. Die „von der Subversion verseuchten“ Familien gebaren sehr wohl „gesunde“ Kinder, die folglich wieder zurückgewonnen werden konnten. Dazu fälschte man Geburtsurkunden, das heißt, man ließ sie als eine Methode der Repression und Bestrafung ihre Identität verlieren und erreichte somit eine „Wiedergeburt“, ein Dasein als neuer Mann oder neue Frau. Zahlreiche Katholiken beteiligten sich im Verborgenen an diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.44 Hier gibt es einige Parallelen zum Geschehenen mit den Söhnen und Töchtern von republikanischen und linksgerichteten Familien, die durch den Franquismus hingerichtet wurden und deren Kinder geraubt wurden, um sie an Waisenhäuser, Sammellager oder katholische Familien weiterzugeben. 9. In der letzten Diktatur zeigte sich die geringe Legitimität des demokratischen Lebens, der Gültigkeit und Verteidigung der Menschenrechte und des Einzelnen in Argentinien. Zahlreiche Generationen lebten in diktatorischen Regierungen oder Demokratien, die als Schein- oder Fassadendemokratien angesehen wurden, so dass die Regierungsübernahmen durch die Streitkräfte „normal“ erschienen. Erst im Jahre 1981 sprach sich ein bischöfliches Dokument zugunsten der Demokratie aus, jedoch auf abstrakter Ebene, ohne zu kritisieren, dass zu diesem Zeitpunkt eine Diktatur an der Macht war. In Argentinien beendete zum letzten Mal 1928 eine demokratische Regierung ihr gesamtes Mandat und 1989 gab es das erste Mal in der Geschichte einen demokratischen Wechsel der Regierungsmacht, das heißt, eine Partei A legte ihr Mandat nieder und verlieh es einer Partei B als Wahlsieger. rechtsverletzungen im Rahmen des Völkermords. Er wurde als Miturheber oder entscheidender Beteiligter in 41 Fällen des unrechtmäßigen Freiheitsentzugs, in 31 Fällen der Folteranwendung und in sieben Fällen des Mordes verurteilt. 44 Er führte seine Funktion als Kaplan der Polizei von Buenos Aires zwischen März 1977 und April 1985 aus. Für mehr Informationen siehe: Daniel Badenes/Lucas Miguel: Genocida de Hábito. Reclusión perpetua para Von Wernich, in: Revista Puentes (revista de la Comisión Provincial por la Memoria) 22 (2007), 4–17. Zum 30. Jahrestag des bürgerlich-militärisch-religiösen Putsches platzierte man eine Gedenktafel auf dem Platz San Martín der Stadt Buenos Aires, die an die Personen eines jeden Glaubens erinnert, die Opfer des Staatsterrors geworden sind (nahe eines anderen, dem Argentinismus und der Jungfrau von Luján gewidmeten Denkmals, welches im Jahre 1980 während der letzten Diktatur erstellt wurde). Bei diesem Akt bat der katholische Priester darum, dass die Katholische Kirche ihre Archive öffne, um den Aufenthaltsort der fast 500 Babys zu erfahren, die in Gefangenschaft geboren worden waren. Ihnen sollte so ihre Identität zurückzugegeben werden. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat dies niemand getan.
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10. Das Nationale, die Nationalität, das Vaterland, der Argentinismus und die nationale Identität besaßen zentrale Bezüge zur vorherrschenden Identität der katholischen Bewegung. Die peronistische Kultur hebt sich – in ihren verschiedenartigen Äußerungen – ab als Sinnhorizont der sozialen Gerechtigkeit, des guten Volkes und der Solidarität mit den Armen und Arbeitern. Gleichzeitig hält ein Teil der katholischen Bewegung eine langfristige, beharrliche, militante und eindeutige Abneigung gegen den Peronismus aufrecht. Die Verbindung der katholischen Bewegung mit der Staatsmacht ohne Vermittlungen der politischen Parteien und ohne die formale oder bürgerliche Demokratie ist eine feste Konstante in der Politik Argentiniens. Die Frage ist nicht, ob es eine Verbindung zwischen dem Staat und dem Katholischen gibt, sondern welche Art von historischer Verbindung sich aufbaut. Im argentinischen Katholizismus existiert ein politisches Handeln aus einer antipolitischen Wurzel heraus, das sich außerhalb der politischen Parteien mit Gruppen sozialer und militärischer Macht sowie den Medien verbindet. Das letzte Dokument des argentinischen Bischofs von April 2010 trägt den Titel: „Das Vaterland ist eine Gabe, die Nation eine Aufgabe“, was auf eine integrale katholische Kultur von langer Dauer hinweist. 11. Ebenso spielte die Verführung durch die Gewalt, die erlöst, und das Opfer beziehungsweise die Aussage, die befreit, eine Rolle. Die Banalisierung des Todes als Lebensstil, die Hingebung bis zum Tod als Zeichen der finalen Erlösung gehörten für die Anhänger des Heiligen Krieges zu einer gemeinsamen Reflexion über die Gewalt auf der Grundlage des heiligen Sankt Tomás. Ebenso diente die Enzyklika „Populorum Progressio“ für die tercermundistas als Legitimation der Gewalt, da Papst Paul VI. dort daran erinnerte, dass man im Falle einer „offensichtlichen Tyrannei“ von Waffen Gebrauch machen könne. Einige legitimieren die Gewalt von oben und andere die von unten. Zwei Priester waren in den 1990er Jahren Häftlinge in Argentinien: der eine (Puigjane) aufgrund seiner Zugehörigkeit zu der Gruppe Todos por la Patria (Alle für das Vaterland), die beschuldigt wurde, 1989 eine Militärkaserne während der demokratischen Regierung von Alfonsín angegriffen zu haben. Der andere (Jardín), weil er einer Gruppe der Streitkräfte namens Albatros geholfen hatte, die sich gegen die demokratische Regierung von Menem auflehnte. Eine Kontinuität, die zum Nachdenken anregt! 12. In der politischen Gesellschaft Argentiniens existiert eine grundlegende Beziehung zwischen den Taten, die begangen werden, dem Diskurs, der sie begleitet und bestimmten theologischen Schemata. Um die Geschichte einer Gesellschaft zu verstehen, ist es wichtig, die verschiedenen religiösen Argumentationsmuster zu kennen, die sich in ihr manifestiert haben. Die langfristige religiöse Präsenz in der kulturellen und politischen Arena einer Ge-
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sellschaft ist kein Unfall, kein Verhängnis, keine Anomalie oder Abweichung von der kapitalistischen Modernität, sondern eine Frucht der historischen und kulturellen Herausformung einer konkreten religiösen Modernität in unserem Land, die auf ihre Art das Politische und das Religiöse verbindet und abgrenzt. Der Aufruf zu politischer und sozialer Aktion entspringt der christlichen Tradition, aus der sich die Akteure formiert haben. Deshalb ist es so wichtig, die unterschiedlichen Interpretationen zu untersuchen, die das Jüdisch-Christliche hervorgebracht hat, und zu erkennen, wie diese von Priestern, Laien, Christen und Bischöfen in Argentinien in den 1960er und 1970er Jahren gelebt wurden.
Insgesamt denke ich, dass es wichtig ist, zu reflektieren, zu vergleichen und einen historischen und soziologischen Blick auf jeden einzelnen der aufgezeigten Punkte und auf andere, noch offene, zu werfen, um einen politischen und religiösen Prozess zu verstehen, der bis heute ethisch empört.
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„Der Kaplan soll uns sagen, dass unser Kampf ein Kreuzzug ist“ – Das Militärvikariat und die Diktatur in Argentinien „In Argentinien ist es nicht möglich, die Ideen von Religion und Vaterland zu trennen. Argentinien ist aus dem Schoß des Christentums entsprungen.“1 Diese Worte richtete der neue Militärvikar in seiner ersten Ansprache an die Streitkräfte Argentiniens. Im Jahr 1957 wurde in einer Einigung zwischen dem Heiligen Stuhl und dem argentinischen Staat die religiöse Betreuung der Soldaten neu organisiert und ein eigens dafür zuständiges Militärvikariat errichtet, dem als Militärvikar ein Bischof vorstand. Die eben zitierten Worte gaben dabei der Idee, die der Errichtung des Militärvikariats zugrunde lag, sehr genau Ausdruck. Es ging vor dem Hintergrund der Vorstellung einer Symbiose zwischen katholischer Religion und argentinischer Nation darum, die geistige Betreuung der Soldaten zu sichern. So hat die argentinische Regierung schon 1956 in dem Dekret, das eine Kommission zur Gründung des Militärvikariats einrichtete, darauf hingewiesen, dass diese geistige Betreuung der Soldaten notwendig sei, um die moralischen Fundamente der Nation wieder aufleben zu lassen.2 Dieser Gedanke korrespondierte mit dem im Organgesetz für das Militärvikariat, in dem als eine der ersten Aufgaben für den Militärklerus festgelegt wurde, dass dieser „die Liebe zum Vaterland, die Kenntnis seiner Geschichte, die Verehrung seiner Helden und großen Männer, vor allem aus den Streitkräften“, fördern sollte.3 Im Folgenden möchte ich mich mit dem Einfluss und der Rolle des Militärvikariats während der letzten Militärdiktatur von 1976–1983 beschäftigen. Dabei will ich in einem ersten Schritt – sozusagen als Vorgeschichte – darauf eingehen, wie es der neugegründeten Institution von Beginn an darum ging, die argentinischen Soldaten ideologisch zu formen, das Militär auf den Kampf gegen den 1 Im spanischen Original: „En la Argentina no es posible divorciar las ideas de Religión y de Patria. La Argentina ha surgido del seno del Cristianismo”, in Exhortaciones del Primer Vicario Castrense de la Nación Argentina S. E. R. Mons. Fermín Emilio Lafitte, Mai 1958, in: Vicariato Castrense (Hg.), Manual de Documentación para el Clero Castrense de la Nación Argentina, Buenos Aires 1958, 29. 2 Decreto Nr. 19.707/56, Buenos Aires, Oktober 1956, in: Ebd., 45. 3 Im spanischen Original: „...el amor a la Patria, el conocimiento de su historia, la veneración de sus héroes y prohombres ilustres, y en particular los de las Fuerzas Armadas“, in Reglamento Orgánico para el Vicariato Castrense para las Fuerzas Armadas de la Nación Argentina, in: Ebd., 60.
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Kommunismus einzustimmen und die historische Verbindung zwischen Militär, Katholizismus und Nation zu beschwören. In einem zweiten Schritt soll dann der Einfluss dieser ideologischen Indoktrinierung während der Diktatur herausgearbeitet werden, wobei ich versuchen möchte zu zeigen, bis zu welchem Ausmaß die Gewalt des Militärregimes gegen die eigene Bevölkerung dadurch religiös legitimiert wurde. Der Argumentation liegt dabei die These zu Grunde, dass die katholische Religion in den 1970er Jahren in Argentinien zum einen ganz bewusst als Legitimationsressource für Gewalt eingesetzt, zum anderen aber darüber hinaus die Gewalt des Militärs durch das Handeln der Seelsorger dergestalt religiös aufgeladen wurde, dass wir es zumindest teilweise mit einer Gewalt zu tun haben, die aus religiöser Überzeugung begangen wurde. Diese Tatsache verweist auf einen der entscheidenden Gründe, warum die Bilanz der Menschenrechtsverbrechen in Argentinien wesentlich schlimmer ausfiel als in den vergleichbaren anderen Militärdiktaturen des Cono Sur.4 In der Forschung wurde die Rolle des argentinischen Militärvikariats bisher noch nicht auf einer empirischen Basis untersucht. Die wichtigsten Analysen zum Militärklerus beinhalten immer noch die mittlerweile zum Klassiker gewordenen Studien von Mignone und Dri von 1986 beziehungsweise 1987.5 Beide Autoren gehen hauptsächlich auf der Basis von in Zeitungen veröffentlichten Aussagen der Funktion des Militärklerus als Legitimationsgeber und Instrument der ideologischen Rechtfertigung der Diktatur nach und verweisen auf die Rolle einzelner Kaplane in Folterzentren des Regimes. Dabei wird auch der theologische Gehalt der Gewaltlegitimation angesprochen, wenn Mignone auf die Doktrin des gerechten Krieges verweist, der der Argumentation des Militärklerus zugrunde lag,6 und Dri von einer Theologie des Todes spricht, die den Ursprung des Bösen in einer historischen Entwicklung von der Französischen Revolution bis zum Kommunismus ausmache und den Mythos des christlichen Soldaten aufbaue, der bereit sei, sein Leben im Kampf gegen
4 So stehen die geschätzten 30.000 „Verschwundenen“ auch proportional zur Gesamtbevölkerung in keinem Verhältnis zu den knapp 3.000 Toten oder „Verschwundenen“ in Chile oder den offiziell anerkannten 183 „Verschwundenen“ in Uruguay. Und obwohl die Diktatur in Uruguay die höchste Zahl von politischen Häftlingen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung hatte, ist Strassner zuzustimmen, wenn er im Vergleich mit Chile und Uruguay die argentinische Diktatur als „die kürzeste, aber auch die blutigste“ bezeichnet, vgl. Veit Strassner, Die offenen Wunden Lateinamerikas. Vergangenheitspolitik im postautoritären Argentinien, Uruguay und Chile, Wiesbaden 2007, 77. 5 Vgl. Emilio Fermín Mignone, Iglesia y dictadura. El papel de la Iglesia de la luz de sus relaciones con el regimen militar, Buenos Aires 2006 und Rubén R. Dri, Teología y Dominación, Buenos Aires 1987. 6 Vgl. Mignone, Iglesia (wie Anm. 5), 43f.
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das Böse zu geben.7 Beide Studien dienen heute noch als Basis für eine Beschäftigung mit dem Militärvikariat8, doch gehen sie weder auf die Geschichte der Institution vor der Diktatur noch auf die Art und Weise der ideologischen Indoktrinierung der Soldaten ein. Dies und das Fehlen weiterer Studien zum Militärvikariat begründen sich in erster Linie mit der schwierigen Quellensituation, da der Zugang zum Archiv des Vikariats für die Forschung bisher nicht freigegeben wird. Im Folgenden stütze ich mich jedoch hauptsächlich auf interne Quellen, also auf Ansprachen und Direktiven, die sich direkt an den Militärklerus wendeten, oder auf Gespräche zwischen Militärführung und Vikariat, die entweder dem Archiv des Erzbistums in Buenos Aires oder dem zwar gedruckt vorliegenden aber kaum zugänglichen boletín des Militärvikariats entnommen sind.9 Mit dem Militärvikariat steht eine Institution im Mittelpunkt, die sich sozusagen schon per definitionem auf der Schnittstelle zwischen Religion und Politik, zwischen Kirche und Staat, befindet.10 Diese „institutionelle Dualität“11 ist auch in Argentinien strukturell vorgegeben. So wird der argentinische Militärvikar zwar von Rom ernannt, doch benötigt er die Zustimmung des argentinischen Präsidenten, gleichzeitig übernimmt das Verteidigungsministerium die finanzielle Ausstattung der neuen Institution – finanziell ist sie also vom Staat abhängig – und einige Militärkaplane besitzen einen militärischen Rang, sind also Teil der Militärhierarchie. Die geistige Betreuung durch den katholischen Militärklerus gilt dabei für alle Mitglieder der Streitkräfte, das heißt auch für Soldaten anderer Glaubensüberzeugungen stehen nur katholische Geistliche zur Verfügung.12 An der Spitze der neuen Institution steht der Militärvikar, der in Argentinien immer ein Bischof ist und zwar meistens ein aufgrund der Persönlichkeit und des Ranges sehr bedeutender Bischof. In den ersten Jahren war dies der Kardinal von Buenos Aires, von 1968 bis 1982, also über die Zeit 7 Vgl. Dri, Teología (wie Anm. 5), 358f. 8 Vgl. Juan Cruz Esquivel, A marca católica na legislação argentina. O caso da assistência religiosa nas Forças Armadas, in: Roberto Arriada Lorea (Hg.), Em defesa das liberdades laicas, Porto Alegre 2008, 117–128, der keine neuen Quellen heranzieht. 9 Der Zugang zum Archiv des Erzbistums wurde mir im Rahmen meiner Forschungen für das Projekt D10 des Exzellenzcluster 212 der Universität Münster gestattet, die Ausgaben des boletín für die Zeit der Diktatur wurden mir von Horacio Verbitsky zur Verfügung gestellt, dem an dieser Stelle dafür explizit gedankt sei. 10 Vgl. Doris Bergen, Introduction, in: Doris Bergen (Hg.), The Sword of the Lord. Military Chaplains from the First to the Twenty-First Century, Notre Dame 2004, 16. 11 Vgl. Martin Bock, Religion im Militär. Soldatenseelsorge im internationalen Vergleich, München 1993, 180. 12 Vgl. Acuerdo entre la República Argentina y la Santa Sede, 28. Juni 1957, in: Obispado Castrense de Argentina, Anuario 2006, Córdoba 2006, 21f.
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der Diktatur hinweg, war dies der Erzbischof von Paraná, Monseñor Adolfo Tortolo, der bis 1976 Vorsitzender der argentinischen Bischofskonferenz war und auch danach noch erheblichen Einfluss auf die öffentlichen Verlautbarungen der Bischofskonferenz hatte.13 Diese Tatsache verweist auf die besondere Nähe der Kirchenhierarchie in Argentinien zum Militärvikariat; etwas, was in anderen Ländern, zum Beispiel in Chile, nicht gegeben war. Unter dem Vikar gibt es einen Provikar, der als dessen Stellvertreter die konkrete Arbeit des Vikariats zum Großteil leitet,14 sowie drei Hauptkaplane, jeweils für einen Zweig der Streitkräfte, die die Arbeit der einzelnen Kaplane lenken. Alle Kaplane werden direkt vom Vikar ernannt. Im Verhältnis zur Zahl der zu betreuenden Gläubigen (also der Soldaten und ihrer Familien) ist die Anzahl der argentinischen Militärkaplane überproportional hoch. Während Mignone von 270 Militärkaplanen für circa 500.000 Gläubige spricht und dies mit verschiedenen Diözesen vergleicht, in denen eine wesentlich höhere Zahl von Gläubigen von wesentlich weniger Kaplanen betreut wird,15 so listete der boletín des Vikariats im Dezember 1976 214 Militärkaplane auf, die circa 260.000 Soldaten und Offiziere zu betreuen hatten.16 Unabhängig von den genauen Zahlen verweist die überproportionale Vertretung von Militärseelsorgern darauf, dass der argentinische Staat ein besonderes Interesse an der geistlichen Betreuung seiner Soldaten zeigte.
Die katholische Nation Argentinien Dieses Interesse lässt sich nur verstehen vor dem Hintergrund der Geschichte Argentiniens als katholischer Nation, auf die an dieser Stelle kurz eingegangen werden muss, um das Verhalten des Militärklerus angemessen einordnen zu können. Noch im Jahr 1992 verdeutlichte der argentinische Staatssekretär für Religionsfragen Angel Centeno: „Argentinien ist kein katholischer Staat, sondern eine katholische Nation“.17 Diese Feststellung resümierte eine histori13 Vgl. dazu Horacio Verbitsky, Doble Juego. La Argentina Católica y Militar, Buenos Aires 2006. 14 Von 1960 bis 1982 war dies Victorio Bonamín, dem eine herausragende Bedeutung für den Einfluss des Militärklerus auf das Militär zukam, vgl. dafür die Aussagen des Generals Catuzzi: „Der Kaplan muss stark auftreten. Deshalb mögen wir Monseñor Bonamín mit seiner Energie und auch mit seiner Wut“, in: Vicariato Castrense, Boletín, August 76, 20. 15 Vgl. Mignone, Iglesia (wie Anm. 5), 47. 16 Vgl. Vicariato Castrense, Boletín, Dezember 76, 31. 17 Zitiert bei Fortunato Mallimaci, Les Courants au sein du catholicisme argentin: continuités et ruptures, in: Archives de sciences sociales des religions 40 (1995), 113–136, 113.
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sche Entwicklung, in der es der katholischen Kirche spätestens seit den 1930er Jahren gelang, fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu durchdringen und die Idee der katholischen Nation zu zementieren. Nachdem die argentinischen Bischöfe Anfang des 20. Jahrhunderts durch die neu gegründete Bischofskonferenz zu einem stärkeren Zusammenschluss fanden, begannen sie eine an Rom orientierte Katholisierung der Gesellschaft. Gegen die liberalen Regierungen und die laizistisch geprägte Moderne wurde der integrale Katholizismus als Quelle einer neuen nationalen und kulturellen Identität postuliert, der mit Hilfe des Staates die gesamte Gesellschaft für Christus zurückerobern sollte. Dazu wurden 1931 die Katholische Aktion und später auf Arbeiter, Schüler und Studenten spezialisierte katholische Verbände gegründet.18 Der wichtigste Bündnispartner des integralen Katholizismus war aber das Militär, mit dessen erstem Putsch 1930 der Aufstieg der katholischen Nation einherging. Die Streitkräfte teilten mit dem Katholizismus die ideologische Ablehnung der Moderne – die die als korrupt und individualistisch abgelehnte Demokratie einschloss – und wurden so zur zweiten Säule des katholischen Vaterlandes. Während die Kirche die zahlreichen Staatsstreiche im 20. Jahrhundert nutzte, um ihre Überzeugungen mit Hilfe der autoritären Militärregierungen zu verbreiten, beriefen sich die Militärs auf die katholischen Werte, um ihr politisches Eingreifen zu legitimieren und bedienten sich gleichzeitig katholischer Experten, um wichtige Positionen in ihren jeweiligen Regierungen zu besetzen.19 Beide Institutionen sahen sich als die wichtigsten Stützpfeiler der katholischen Nation, der Katholizismus wurde zum integralen Bestandteil der nationalen Identität und Kreuz und Schwert zu den Garanten dieser Nation. Diese enge und historisch gewachsene Beziehung zwischen Kirche und Militär in Argentinien bildet den Hintergrund, um die hier analysierte Rolle des argentinischen Militärklerus zu verstehen. Dabei muss auch bedacht werden, dass dieser Prozess der gesellschaftlichen Katholisierung und Militarisierung nicht alle Teile der Kirche einschloss und auch nicht von allen Kirchenmitgliedern auf die gleiche Weise ideologisch interpretiert wurde. Vor und während der letzten Militärdiktatur erwies sich die argentinische Kirche als eine vielstimmige und komplexe Institution, in der die Unterstützung des Regimes mit Stimmen der 18 Vgl. Giménez Béliveau/Fortunato Mallimaci, Argentinien, in: Johannes Meier/Veit Strassner (Hg.), Kirche und Katholizismus seit 1945, Band 6: Lateinamerika und Karibik, Paderborn 2009, 409–432, 400f. 19 Vgl. Ebd., 403; Loris Zanatta, Del Estado liberal a la nación católica. Iglesia y Ejército en los orígenes del peronismo. 1930 – 1943, Buenos Aires 2009, 357f; Roberto Di Stefano/ Loris Zanatta (Hg.), Historia de la Iglesia Argentina. Desde la Conquista hasta finales del siglo XX, 2. Auflage, Buenos Aires 2009 [erste Auflage von 2000], 545f; und Fortunato Mallimaci, Catolicismo y militarismo en Argentina (1930–1983). De la Argentina liberal a la Argentina católica, in: Revista de Ciencias Sociales 4 (1996), 181–218, 196f.
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Opposition einherging.20 In der Forschung ist man sich jedoch weitgehend einig, dass der konservative integrale Katholizismus eine hegemoniale Position innerhalb der katholischen Kirche einnahm, wobei das Militärvikariat sein vehementester Vertreter war. Besonders aufgrund seines Zugangs zu Offizieren und Generälen kam dem Militärklerus innerhalb der Symbiose zwischen Kirche und Militär eine besondere Stellung zu, so dass seine Bedeutung – und das möchte die vorliegende Studie auch zeigen – für die Legitimation und religiöse Aufladung des Staatsterrors in Argentinien nicht zu unterschätzen ist.21
Vorgeschichte: das Militärvikariat seit 1957 Die Positionierung auf der Schnittstelle zwischen Kirche und Staat schlug sich unmittelbar in den Aufgabenfeldern der neu gegründeten Institution nieder. So begann das Handbuch der capellanía mayor des Heeres von 1960, also noch in den Aufbaujahren der Institution, mit einer Beschreibung der religiösen und geistigen Situation der argentinischen Jugendlichen, wobei konstatiert wurde, dass ungefähr 80 Prozent der Jugendlichen, die jedes Jahr zum Wehrdienst eingezogen werden, sich von der Kirche entfernt hätten und, was noch viel schlimmer sei, „fremde Ideen und Theorien haben in vielen den christlichen Sinn des Lebens getötet und das argentinische Gefühl annulliert.“22 Aufgrund dieser Situation sei der Wehrdienst die letzte Möglichkeit, diese 80 Prozent für „Gott und Vaterland, die das Fundament der argentinischen Nation bilden“23 zurückzuerobern. Diese Möglichkeit wurde dabei als große Chance gesehen, denn die Kaplane waren sich bewusst, dass der Wehrdienst besondere Bedingungen für ihre Aufgabe bot: Denn – so das Handbuch weiter – erstens bekam man jedes Jahr eine ganze Generation männlicher Jugendlicher, man erreichte also auch diejenigen, die vielleicht in schwer zugänglichen Provinzen 20 Vgl. Martín Obregón, Entre la luz y la espada. La iglesia católica durante los primeros años del “Proceso”, Buenos Aires 2005; Claudia Touris, Ideas, actores y conflictos en el catolicismo argentino post-conciliar, in: Todo es Historia 401 (2000), 44–52; und Di Stefano/Zanatta, Historia (wie Anm. 19), 540f. 21 So dass auch die Aussage von Mallimaci, Catolicismo (wie Anm. 19), 207, dass dem Militärklerus zwar eine wichtige, aber nicht die bedeutendste Rolle in der Beziehung zwischen Kirche und Militär zukäme, nochmal zu überdenken ist. 22 Im spanischen Original: „...ideas y teorías foráneas han matado, en muchos, el sentido cristiano de la vida y han anulado el sentir argentino“, in AABA (Archivo del Arzobispado de Buenos Aires), Legajo 1915 “Vicariato Castrense”, Manual de la Capellanía Mayor del Ejército 1960, 2. 23 Im spanischen Original: „Dios y la Patria que constituyen el fundamento de la nación argentina“, ebd., 2.
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lebten oder aus anderen Gründen kaum Kontakt zur Kirche hatten. Zweitens bot die hierarchische Struktur des Militärs den Vorteil, dass die Soldaten von der Führung in die Gottesdienste geschickt wurden, so dass die Kirchen im Gegensatz zum „Normalfall“ immer voll waren.24 Diese Bedingungen müsse der Militärkaplan nutzen, um „das, was in zwanzig Jahren nicht passiert ist, in einem Jahr für die Nation zurückzugewinnen. Anti-argentinische Ideen und Theorien ausrotten, positive Konzepte der christlichen Philosophie anlegen und bestärken. Er muss den jungen Wehrdienstleistenden geistig so ausrüsten, dass dieser, wenn er die Kaserne verlässt, sein ziviles Leben nach einem christlichen Konzept ausrichtet; ein eifersüchtiger Wächter unseres nationalen Erbes und unserer historischen Tradition.”25 Die Gleichsetzung von christlicher Lebensweise und historischer Tradition Argentiniens führte dazu, dass es eben nicht nur darum ging, den Soldaten das Evangelium näher zu bringen, sondern auch darum, anti-argentinische Ideen auszurotten, also ideologisch zu formen. Wichtig für die Analyse ist hier, dass sich diese „geistige Zurückeroberung“ eindeutig politisch-ideologisch positionierte und sich klar gegen ein politisch definiertes Feindbild richtete. So begann der Rundbrief des obersten Heereskaplans an seinen Kollegen aus dem gleichen Jahr 1960 mit einer Erläuterung des modernen Kriegsfalles, nämlich des revolutionären Kriegs, mit deren Hilfe „eine internationale, totalitäre Ideologie versucht, die Welt zu erobern und zwar mit dem Einsatz ideologischer und psychologischer Waffen, der Propaganda und der Gewalt“.26 Dieser neue Kriegsfall wurde explizit in den Kontext des Kalten Krieges eingeordnet, bei dem der Kampf um die „Köpfe“ der Menschen, also um die ideologische Formierung, eine wesentlich höhere Bedeutung habe. Dies träfe selbstverständlich auch für die Soldaten zu, woraus die Schlussfolgerung gezogen wurde, dass „Der Militärdienst die letzte Gelegenheit für die Nation ist, [...] um nützliche Bürger zu formen für die Verteidigung der beständigen Werte der westlichen und christlichen Demokratie, die unser
24 Ebd., 3. 25 Im spanischen Original: “...en un año, recuperar para la Nación, lo que no se ha hecho en veinte. Desarraigar ideas y teorías antiargentinas; sembrar y afianzar conceptos positivos de filosofía cristiana. El debe armar espiritualmente al joven conscripto para que, al dejar el cuartel, encauce su vida civil con un concepto cristiano del vivir; celoso guardián de nuestro patrimonio nacional y de nuestra tradición histórica”, ebd., 2. 26 Im spanischen Original: „una ideología totalitaria internacional procura la conquista del mundo por el empleo combinado del arma ideológico, del arma psicológico, de la propaganda y de la violencia“, AABA, Legajo 1915 “Vicariato Castrense”, Circular Nr. 14, “Al Capellan”, 21. Dezember 1960, 1.
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Lebenssystem darstellt.“27 Die Soldaten sollten also zu “nützlichen Bürgern“ geformt werden, die aufgrund ihres christlichen Weltbildes immun gegen die „fremden“ Ideen des Kommunismus seien. Dem Militärklerus kam dabei die besondere Rolle zu, die im Rahmen des Kalten Krieges notwendig gewordene geistige Beeinflussung der Soldaten zu übernehmen, wobei dies in erster Linie als patriotische Aufgabe verstanden wurde. Für diese Aufgabe sollte der Militärklerus nicht nur sämtliche Kräfte einsetzen, sondern es wurden auch die für die damalige Zeit neusten „wissenschaftlichen“ Methoden angewandt. So erstellte das Militärvikariat aufgrund von Umfragen eine Sozial-Religiöse Soldatenkarteikarte, mit der der soziale und religiöse Hintergrund der Wehrdienstleistenden genau erfasst werden sollte, um dann die geistige Formierung darauf abzustimmen. Gleichzeitig wurde von den Militärkaplanen erwartet, dass sie ihre Einheit täglich besuchten, das Gespräch mit den Soldaten und der Führungsriege suchten und in ihrem Auftreten die zu vertretenden Ideale auch verkörperten.28 Darüber hinaus sollte der Einflussradius über den Soldaten hinaus auf dessen Familie ausgeweitet werden. Im boletín für den Militärklerus von 1959 wurde den Kaplanen geraten, Kontakt mit den Familien der Wehrdienstleistenden aufzunehmen, sie im Krankheitsfall zu besuchen, eventuell sogar Medikamente mitzubringen, denn „das ist die beste Kampagne gegen den wachsenden Materialismus. Das soziale Werk des Heeres für den Fortschritt des Landes durch den Militärkaplan”.29 Der christlich-soziale Auftrag wurde also gleichzeitig mit einem ideologischpatriotischen verbunden: gegen den wachsenden Materialismus. Diese Verbindung von religiöser Wahrheit und politischer Ausrichtung gegen den Kommunismus, auf den die Umschreibungen materialistisch, fremd, international und totalitär alle abzielten, stand im Zentrum des Selbstverständnisses des Militärvikariats. Auch als im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils in den sechziger Jahren die Diskussionen um die Nähe zwischen Christentum und Kommunismus und die ersten befreiungstheologischen Ideen in der argentinischen Gesellschaft aufkamen, versuchte sich das Militärvikariat gegen diese Ideen zu wappnen. So warnte der Provikar Victorio Bonamín im Editorial des boletín für den Militärklerus 1964 seine Mitbrüder in Anspielung auf eben diese theo27 Im spanischen Original: „El año del servicio militar es la última oportunidad […] que tiene la nación de formar ciudadanos útiles para la defensa de los valores permanentes de la democracia occidental y cristiana que conforma nuestra sistema de vida”, ebd., 1f. 28 Vgl. Manual de la Capellanía Mayor del Ejército 1960, 4. 29 Im spanischen Original: „...esta será la mejor campaña que se puede hacer contra el creciente materialismo. La obra social del Ejército en bien del país mediante el Sacerdote Capellán”, AABA, Legajo 1915 “Vicariato Castrense”, Vicariato Castrense, Boletín 4, 1959, S. 16.
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logischen Diskussionen, sich darauf gar nicht erst einzulassen und das Zweite Vatikanische Konzil nicht als Vorwand für einen bequemen Pazifismus zu gebrauchen: „Man soll uns nicht verwirrt sehen durch theologische Probleme, so wie es gewissen unentschiedenen und schwachen Geistern geschieht, die sogar das Zweite Vatikanische Konzil als Plazet nehmen für einen bequemen Pazifismus und als Beruhigungsmittel für alle Unsicherheiten.”30 Der Militärklerus wurde dabei explizit und in einer deutlich kriegerischen Sprache dazu aufgefordert, das „geistige Schwert“ auch zu gebrauchen, denn gerade die Soldaten benötigten klare und präzise religiöse Anweisungen, um den Glauben in ihre Waffen nicht zu verlieren. Vor diesem Hintergrund kam der Institution des Militärvikariats sicherlich eine wichtige Rolle dabei zu, dass die gesellschaftlich bedeutenden Diskussionen um die Befreiungstheologie so wenig im Militär Fuß fassen konnten. Dass die ideologische Formierung der Soldaten tatsächlich einer der wichtigsten Punkte des Militärvikariats darstellte, zeigten auch die verschiedenen Wege der Indoktrinierung. So gab es für die Soldaten und das Führungspersonal über das ganze Jahr verteilt eine große Zahl von Kursen über christliche Moral, es gab sogenannte acampadas, bei denen eine Reihe von ausgesuchten Soldaten unter der Führung des Militärkaplans für einige Tage zelten ging, um in christlichen Themen unterwiesen zu werden und es gab die jornadas und später in den siebziger Jahren dann semanas de Formación Cristiana mit einem ähnlichen Ziel. Auch hier war die Gründung des Militärvikariats von großer Bedeutung, was man schon an quantitativen Aspekten sehen kann. So stieg die Zahl der Kurse über christliche Moral im Heer im Jahr 1960 auf 5207, gegenüber 2256 noch 1959, um mehr als das Doppelte.31 Inhaltlich waren die Kurse eindeutig darauf ausgerichtet, die eben beschriebene theologische Indoktrinierung gegen den Kommunismus zu fördern. Im boletín für den Militärklerus von 1964 war beispielhaft der Text einer dieser christlichen Konferenzen für das Führungspersonal im Militär abgedruckt. Dabei wurden einzelne Regierungsformen abgehandelt und daraufhin überprüft, ob sie mit katholischen Werten in Einklang zu bringen sind. Die Aussagen zum Kommunismus waren eindeutig: „Diese kurze Aufzählung der wichtigsten Prinzipien des Kommunismus genügt, damit die katholischen Mitglieder der Streitkräfte ihre Opposition gegenüber dem Kommunismus verstärken. Nicht nur wegen der Gefahr der Aufstände und At30 Im spanischen Original: „No se nos vea enredados por la problemática teológica, como sucede a ciertos espíritus indecisos y débiles que han tomado al mismo Concilio Ecuménico Vaticano como un VISTO BUENO para los irenismos acomodaticios y un paliativo para todas las incertidumbres“, AABA, Legajo 1915 “Vicariato Castrense” Vicariato Castrense, Boletín 14, 1964, 3. 31 Vgl. Manual de la Capellanía Mayor del Ejército 1960, Appendix.
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tentate oder aus Angst, dass die Demokratie untergeht, sondern als erstes und wichtigstes, weil die Prinzipien, die ihm zu Grunde liegen, antichristlich sind und dem reinsten Materialismus entspringen. Wenn die Gerechtigkeit befiehlt, jedem das Seine zu geben, dann muss der Christ dem reinen Materialismus Ablehnung und radikale Opposition entgegenbringen.“32 Die geistige Formierung der Soldaten beinhaltete also auch eine deutliche politisch-ideologische Beeinflussung. Diese Tatsche trifft für die gesamten sechziger und siebziger Jahre auf alle eben aufgezählten Formen der Indoktrinierung zu. So wurde in einer Direktive aus dem Jahr 1972, mit der die acampadas auch auf die Luftwaffe ausgeweitet werden sollten, darauf verwiesen, dass die geistige Bedrohung des Vaterlandes ebenso gefährlich sei wie die militärische, so dass man die christlichen Konzepte des Soldaten stärken müsse – eben durch die erwähnten acampadas.33 Die mit der Gründung des Militärvikariats einsetzende politisch-theologische Formierung der Soldaten durch den Militärklerus wurde auch unter der letzten Diktatur ab 1976 beibehalten beziehungsweise sogar noch verstärkt. Gerade die acampadas wurden dabei sowohl vom Militär selbst als auch vom Militärklerus als großer Erfolg gewertet, wobei die Programme dieser Tage aus der Anfangszeit der Diktatur einen ähnlichen Tenor wie die bisher zitierten aufwiesen. Zu den Kursen über christliche Moral kamen als zweiter Schwerpunkt jetzt nur noch die Sexualerziehung und die Warnungen vor Pornographie und ähnlichem hinzu.34
Das Militärvikariat und die Diktatur In der Wahrnehmung des Militärklerus stellte die Zeit der Diktatur den Höhepunkt des religiösen Einflusses auf das Militär dar. Die Arbeit der vorangegangenen zwanzig Jahre trug jetzt ihre Früchte, denn die Soldaten hatten sich immer mehr der katholischen Religion angenähert. So wurde im August 1981 mit 32 Im spanischen Original: „Esta brevísima enumeración de los principales principios del comunismo basta por si sola para que los miembros católicos de las Fuerzas Armadas refuercen su oposición al comunismo, no sólo por el peligro de revueltas o atentados, o por miedo a que se hunda la democracia, sino primero y principalmente porque los principios en que se basa son anticristianos y del más crudo materialismo. Si la justicia ordena dar a cada uno lo suyo, el cristiano debe dar al crudo materialismo rechazo y oposición radical”, AABA, Legajo 1915 “Vicariato Castrense”, Vicariato Castrense, Boletín 14, 1964, S. 64. 33 AABA, Legajo 1915 “Vicariato Castrense”, Directiva “Realización de las ‘Acampadas’ en la Fuerza Aérea”, 14. Juli 1972. 34 AABA, Legajo 1915 “Vicariato Castrense”, Anexo A - Programa de Actividades, Campamiento Trelew, 1. Nov. 1976.
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einem gewissen Stolz darauf verwiesen, dass es mittlerweile 130 Gebetskapellen innerhalb der militärischen Einrichtungen gäbe,35 wobei unter der Diktatur auch im Präsidentenpalast direkt neben dem Büro des Präsidenten eine dieser Kapellen errichtet wurde.36 Bei dieser Gelegenheit richtete der militärische Provikar Bonamín eine Ansprache an den damaligen Diktator Jorge Rafael Videla (1976–1981), in der er den Anspruch formulierte, die katholische Religion als allein handlungsleitende Maxime der Militärs durchzusetzen: Die Errichtung der Kapelle bedeutete für den Provikar, dass „alle beruhigt sein können, denn sie wissen, dass, wenn man in der Präsidentschaft eine wichtige Entscheidung fällen muss, der Präsident an diesem ‚Büro‘ von König Christus vorbei gehen wird, um zu fragen, was und wie man das machen muss, was Er möchte, das man macht.“37 Das seit zwanzig Jahren geistig formierte Militär war jetzt an der Macht, so dass es für den Provikar selbstverständlich war, dass sämtliche Entscheidungen des Präsidenten im Geiste von „König Christus“ getroffen würden. Diese konstatierte Annäherung des Militärs an die Religion wurde dabei vom Militärklerus selbst bestätigt, der sich, so wiederum Bonamín 1981, „mit allem, was in unserer Macht steht, mit dem Geist der Streitkräfte identifiziert.“38 Diese Aussagen sollen darauf verweisen, dass wir es in der Zeit der Militärdiktatur mit dem Kulminationspunkt in der Symbiose zwischen Militärführung und Militärklerus zu tun haben, wobei diese gegenseitige Verflechtung – wie bisher gezeigt – nicht nur religiös, sondern auch eindeutig politisch-ideologisch ausgerichtet war. In welcher Relation stand diese Symbiose aber zur Gewalt der Militärdiktatur gegen die eigene Bevölkerung? Die skizzierte Geschichte der ideologischen Beeinflussung durch den Militärklerus führte bei der Führungsspitze des Militärs dazu, dass sich eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber den Militärgeistlichen etablierte. Die Arbeit des Seelsorgers galt – für das Militär – als wirksamstes Mittel im Kampf gegen den inneren, subversiven Feind, wobei die Aufgabe vor allem darin gesehen wurde, religiöse Legitimation für das gewaltsame Vorgehen zu beschaffen. So wurde die Militärhierarchie nicht müde, die Rolle des Militärklerus im Kampf gegen die Subversion hervorzuheben. Jorge Rafael Videla selbst verwies während einer Würdigung der gefallenen Soldaten, die im Kampf gegen die Subversion ihr Leben geopfert hätten, auf den „wohltätigen Einfluss, den die geistige Führung 35 Vicariato Castrense, Boletín 66, August 1981, 13. 36 Vicariato Castrense, Boletín 59, April 1979, 20f. 37 Im spanischen Original: “...todos estén tranquilos, porque saben que cuando en la Presidencia de la República se ha de tomar alguna decisión grave, el Presidente de la República ha de pasar por este „despacho“ de Cristo Rey para consultar qué es y cómo ha de hacerse lo que él quiere que se haga“, ebd. 38 Im spanischen Original: „...nos identificamos, en todo cúanto podemos, con el espíritu de las Fuerzas Armadas“, Vicariato Castrense, Boletín 65, April 1981, 17.
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der Kirche auf den Soldaten ausübt.“39 Aus dem gleichen Grund führte der Oberbefehlshaber der Marine, General Emilio Massera noch 1976 per Dekret eine einmal jährlich abzuhaltende „Woche der Religion und Moral“ (Semana de la Religión y de la Moral) ein, die von dem capellan mayor der Marine organisiert werden sollte, mit dem vorrangigen Ziel, „die ideologische Subversion und die Dechristianisierung, die die jugendlichen Milieus der Argentinier infiltrieren, aufzuhalten.“40 Die Predigten des Militärklerus seit der Gründung des Vikariats fielen also auf fruchtbaren Boden. Die Verbindung zwischen religiöser und politischideologischer Formierung der Soldaten wurde auch von der Militärspitze erkannt und gewünscht. Interessant ist dabei zu sehen, wie in den Aussagen der Generäle von 1976 fast wörtlich die Konzepte des Militärvikariats aus seiner Gründungszeit wieder auftauchten. So wies der General Abel Catuzzi auf einer Tagung der Militärkaplane darauf hin, dass das Militärvikariat ja dazu dienen könne, über den Einfluss auf die Wehrdienstleistenden und deren Familien das Land geistig zu verändern und dass der Wehrdienst die letzte Chance sei, eine ganze Generation junger Männer für die Kirche zu gewinnen.41 Dem General selbst sicher unbewusst, werden hier, zumindest von der Idee her, die Aussagen des Handbuchs der capellanía mayor aus dem Jahr 1960 wiederholt. Der geistige Einfluss des Militärvikariats auf die Soldaten wird hier besonders deutlich manifest. Welche Auswirkungen dieser Einfluss auf die Ausübung der Gewalt gegen die eigene Bevölkerung hatte, wurde in der gleichen Rede des Generals Catuzzi deutlich, der diese mit den Worten beendete: „Letztlich muss der Kaplan ein Animateur im Kampf gegen die Subversion sein. Dies ist ein notwendiger Kampf, um eine Werteskala zu verteidigen […] Es ist definitiv ein Kampf zwischen Gott und Nicht-Gott, von einer Seite gegen eine andere.“42 Die ideologische Beeinflussung durch den Militärklerus führte nicht nur dazu, dass der Kampf gegen die Subversion als notwendig zur Verteidigung von Werten dargestellt wurde, sondern dass dem Feind jegliche positive Zuschreibung abgesprochen wurde, dieser zur Negation aller christlichen Werte, zum Nicht-Gott stilisiert wurde. Dass die Bekämpfung eines solchen Feindes christlich legitim war, lag dabei auf der Hand. Dabei wurde das Problem, welches 39 Im spanischen Original: “...influencia benéfica, que la dirección espiritual de la Iglesia ejerce sobre los hombres de armas“, Vicariato Castrense, Boletín 52, August 1976, 8. 40 Im spanischen Original: „...contrarrestar la subversión ideológica y la descristianización que vienen infiltrando los ambientes juveniles argentinos“, ebd., 11. 41 Ebd., 19. 42 Im spanischen Original: „Finalmente, debe el Capellán ser un animador en la lucha antisubversiva. Es una lucha necesaria para defender una escala de valores. [...] Es, en definitiva, una lucha entre Dios y el no-Dios, de una bandera contra otra”, ebd., 20.
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der gewaltsame Staatsterrorismus für die eingeforderte christliche Legitimation des Regimes darstellte, durchaus auch von den Generälen erkannt. Doch auch hier sollte das Militärvikariat zur Legitimation der vom Staat verübten Gewalt dienen, in dem die Unterschiede betont wurden zwischen der Gewalt der Terroristen und der Gewalt des Staates, die nur zur Wiederherstellung einer christlichen Gesellschaft diene. So machte der General Carlos Guillermo Suárez Masón auf einer weiteren Tagung der Militärkaplane deutlich, nachdem er über den internationalen Kommunismus als gemeinsamen Feind von Militär und Kirche gesprochen hatte, dass „die Gesetze des schmutzigen Krieges nicht wir gewählt haben. Wir müssen effizient sein [...]. Vor allem, wenn der Krieg vorbei ist, hoffen wir, dass wir wieder zu den Prinzipien zurückkehren, die eine dezente, normale und christliche Gesellschaft regieren.“43 Hier wurde mit dem Ausdruck “schmutziger Krieg” explizit auf den Staatsterrorismus verwiesen, ohne dass dies von den anwesenden Militärkaplanen mit Erstaunen, Kritik oder gar Widerspruch beantwortet worden wäre. Für das Militär war also die Aufgabe der Seelsorger eindeutig und ganz bewusst darauf ausgelegt, die eigene Gewalt zu legitimieren. Am deutlichsten wurde das in der schon im Titel der Studie auftauchenden Aufforderung, welche der General Benjamín Ménendez im Beisein des Militärvikars an die Kaplane richtete: „Der Kaplan muss uns eine moralische Unterstützung für unseren Kampf sein, und uns sagen, dass unser Kampf ein Kreuzzug ist, um ihn von der allgemeinen Gewalt zu unterscheiden, gegen die sich so viele Stimmen auflehnen…“.44 Ganz im Sinne der ideologischen Ausrichtung des Militärvikariats sind die Militärkaplane dieser Aufforderung auch zur Genüge nachgekommen. Besonders die Führung des Vikariats, also der Vikar selbst und der Provikar, hoben immer wieder – sowohl gegenüber dem Militär als auch gegenüber den eigenen Kaplanen – die gute Zusammenarbeit und die Aufnahmebereitschaft des Militärs hervor. So brachte Tortolo während eines Essens mit Generälen im Dezember 1976 seine Überzeugung zum Ausdruck, dass „die großzügige Bereitschaft der Führung der Streitkräfte wohl einmalig in der Welt ist“.45 Dabei stand auch für das Militärvikariat fest, dass die geistige Veranlagung der Streitkräfte ganz christlichen Werten entspräche und ihre Regierung von daher zur 43 Im spanischen Original: „Las leyes de esta guerra sucia no las pusimos nosotros. Tenemos la obligación de ser eficaces [...]. Más aún, cuando esta guerra se acabe, esperamos volver a aquellos principios que regían una sociedad decente, normal y cristiana”, ebd., 29. 44 Im spanischen Original: „el capellán debe darnos el aval moral para esta lucha, y decirnos que nuestra lucha es una cruzada, para discernirla de la violencia en general, contra la que se levantan tantas voces…“, Vicariato Castrense, Boletín 51, August 1976, S. 23. 45 Im spanischen Original: „...la generosa disponibilidad de los Jefes de las Fuerzas Armadas es tal que debe ser único en el mundo“, Vicariato Castrense, Boletin 52, Dezember 1976, 22.
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moralischen Verbesserung des Landes beitrage. So wurde in einem Rundbrief an die Kaplane von 1980 darauf verwiesen, dass „niemand daran zweifelt, dass die Streitkräfte mit einer herausragenden Effizienz die geistige und moralische Verbesserung des Landes beeinflussen können und beeinflussen“.46 Diese Haltung, in der zum einen die explizite geistliche Nähe zwischen Militär und seinen Seelsorgern ausgedrückt und zum anderen die besondere christliche Haltung des Militärs betont wurde, zog sich über die gesamte Zeit der Diktatur. So bedankte sich der Militärvikar noch im November 1983 angesichts des bevorstehenden Übergangs zur Demokratie in einem Brief an die Militärjunta bei den Streitkräften für deren patriotischen Einsatz in den letzten Jahren und solidarisierte sich vor dem Hintergrund der damals schon heftigen Kritik am Militärregime mit dem christlich inspirierten Militär.47 Dem gegenüber hatte der Provikar Bonamín schon im Dezember 1975 – also vor Errichtung der Diktatur – die Kampagne des Militärs gegen die Guerillagruppen in den Bergen Tucumáns zum Anlass genommen, die kämpfenden Soldaten als „Werkzeuge Gottes“ 48 zu verklären und deren seelsorgerische Betreuung den Kaplanen besonders zu empfehlen. Diese letzte Aussage verwies schon auf das Verständnis, welches der Militärklerus selbst vom Militär hatte, denn, so der neue Militärvikar José Miguel Medina während seiner Antrittsrede 1982: „Die Streitkräfte sind notwendig nach der Erbsünde und ihre Mitglieder erfüllen eine Berufung, also einen Ruf Gottes und werden deshalb von Gott geliebt“.49 In diesen Worten tauchte ein Verständnis vom Militär auf, dass nicht in erster Linie Staatsdiener ist, sondern ein religiöses Herrschaftsinstrument Gottes, so dass die Gewalt des Militärs religiös aufgeladen wurde und als Gewalt Gottes interpretiert werden konnte. Besonders deutlich wurde dies an den Predigten des Militärvikars Tortolo, der häufig auf biblische Metaphern zurückgriff, um dem „Kampf gegen die Subversion“ eine religiöse Aura zu verleihen. Dabei wurden die im Kampf gegen die Guerilla gefallenen Soldaten als Märtyrer dargestellt, deren Blut als Opferpreis zur Reinigung Argentiniens von der Sünde der Gottlosigkeit diene, während der Gegner – derjenige, der Gott durch materielle Idole ersetze – mit Kain gleichgesetzt wurde. Schon 1975 konnte Tortolo so die gefallenen 46 Im spanischen Original: „...nadie duda que las Fuerzas Armadas pueden influir, e influyen con destacada eficacia en el perfeccionamiento espiritual y moral del país”, Vicariato Castrense, Boletin 64, Dezember 1980, 27. 47 Vicariato Castrense, Boletín 75, November 1983, 1f. 48 Vicariato Castrense, Boletín 49, Dezember 1975, 1f. 49 Im spanischen Original: „...las Fuerzas Armadas son necesarias después del Pecado Original, y que sus integrantes cumplen con una vocación, es decir un llamado de Dios y por lo tanto son queridas por Dios“, Vicariato Castrense, Boletín 68, April 1982, 2.
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Soldaten mit Christus vergleichen, denn „die Gabe des Lebens [der Soldaten] kann im Opfer des eigenen Lebens kulminieren, in einer blutigen Darbringung, in einem Menschenopfer. Jesus Christus ist uns vorausgegangen – so wie damals kommt Gott herunter, um diese Gabe mit seinen eigenen Händen zu empfangen – und der Tod, wie bei Christus, wird zu Leben.“ Dabei machte der Vikar auch deutlich, wozu dieser Tod dienen könne: “Um das Volk zu retten und jede Knechtschaft unter jeglicher Macht – außer der Gottes – zu vermeiden, braucht man die Infusion reinen Blutes und Erlöserblutes.“50 Die Reinwaschung des Landes durch Blut als gottgewollter, geheiligter Akt – das erinnert an mittelalterliche Legitimationsdiskurse für die Kreuzzüge.51 Ebenso aussagekräftig war der Vergleich der gefallenen Soldaten und der subversiven Guerilla mit Abel und Kain, den Tortolo während einer Messe für die toten Soldaten im Jahr 1977 heranzog: „Abel ist ermordet worden, um Gott das Beste zu geben. Die Mittelmäßigkeit Kains hat die Größe seines Geistes nicht ertragen und während Abel in den Armen Gottes den Schlaf der Gerechten schläft, schleppt Kain das Gewicht seines Verbrechens mit sich und lebt jeden Moment seinen eigenen Tod.“52 Die Soldaten als Märtyrer, erlösendes Blut zur Rettung des Volkes, Kain und Abel – es ist nicht verwunderlich, dass sich angesichts dieser Worte die Generäle in ihrem gewaltsamen Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung auf einem Kreuzzug wähnten oder zumindest diese religiöse Legitimation für sich beanspruchten. Denn der mit Kain gleichgesetzte Feind wurde vom Militärvikariat auch während der Militärdiktatur eindeutig politisch definiert. So machte Tortolo im Dezember 1976 seinen Kaplanen klar: „Das einzige, was sich ernsthaft dem Kommunismus entgegenstellen kann ist das Christentum“.53 Dass die Kaplane diesen Gedanken verinnerlicht hatten, zeigte die Reaktion eines Militärkap50 Im spanischen Original: „...la ofrenda de la vida puede culminar en el sacrificio de la propia vida, en una oblación sangrienta, en una inmolación. Nos ha precedido Jesucristo – también como entonces Dios descende para recibir esa ofrenda en sus propias manos – y la muerte, como en Cristo, se tranforma en vida”; “Para ser salvo ese pueblo y evitar toda servidumbre a cualquier poder – excepto Dios – se necesita la infusión de sangre pura y de sangre redentora”, beide Zitate: Vicariato Castrense, Boletín 49, Dezember 1975, 21, 22. 51 Vgl. Andreas Holzem, Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. Eine Einführung, in: Andreas Holzem (Hg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in den Kriegserfahrungen des Westens, Paderborn 2009, 13–104, 35f. 52 Im spanischen Original: „Abel es asesinado por dar a Dios lo mejor. La mezquindad de Caín no tolera la grandeza de espíritu de su hermano y mientras Abel duerme en los brazos de Dios el sueño de los justos, Caín arrastra el peso de su crimen y vive a cada instante su propia muerte”, Vicariato Castrense, Boletín 55, Dezember 1977, 30. 53 Im spanischen Original: „Lo único que se le puede oponer en serio al Comunismo es el Cristianismo”, Vicariato Castrense, Boletín 52, Dezember 76, 19.
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lans auf die oben zitierte Rede des Generals Suárez Masón, die für den Kaplan auf die opción entre Cristianismo y Comunismo herausgelaufen war, und bei der der Militärklerus „sich mit den Streitkräften und ihrer Verteidigung des Vaterlandes identifiziert“.54 Der Feind war also politisch definiert – aufgrund einer bestimmten politischen Überzeugung wurde man automatisch auch ein Feind der Religion – die Gewalt gegen diesen Feind war dabei für den Militär-klerus in erster Linie religiös legitimiert. Dazu wurde neben den biblischen Metaphern auch das theologische Konzept des Gerechten Krieges in seiner auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil noch erlaubten Form der legitimen Verteidigung herangezogen. Während der neue Militärvikar Medina im Jahr 1982 sogar den aktuellen Papst Johannes Paul II. zitierte, um dessen sehr vorsichtig formulierte Aussagen zur Selbstverteidigung auf den argentinischen Kontext zu übertragen, berief sich sein Vorgänger noch auf Thomas von Aquin und Pius XI., um die legitime Verteidigung unmittelbar auf den kommunistischen Feind zu beziehen. Diese Worte sollen jetzt etwas ausführlicher zitiert werden, da sie sehr explizit das Verständnis des Militärvikariats von seiner Aufgabe, den Staatsterrorismus des Militärs religiös zu verteidigen, illustrieren: „Man darf nicht vergessen, dass die legitime Verteidigung ‚legitim‘ ist. Man muss außerdem bedenken, dass der subversive Verbrecher normalerweise durchdrungen ist von einer Ideologie, die ihn sogar zum Gefangenen sagen lässt: ‚Ich werde wieder töten‘. Diejenigen, die das Vaterland in seinem Namen verteidigen, erfüllen ihre Pflicht mit dem Krieg. Und das Thema des Krieges studiert der heilige Thomas innerhalb des Kapitels über die Tugend der Nächstenliebe als einen Akt der Liebe. Lasst uns also Sensibilität aber auch Ausgewogenheit zeigen, um einen Feind richtig einzuschätzen, den Pius XI. schon 1925 als ‚von Grund auf pervers‘ deklarierte und der sich in seiner Bosheit noch spezialisiert hat. Geben wir uns selbst und dem Militär die theologischen Motive, die uns ohne Furcht und mit gutem Gewissen handeln lassen.“55 54 Im spanischen Original: „...nos sentimos identificados con las Fuerzas Armadas y la Patria en su defensa“, ebd., 29. 55 Im spanischen Original: „No hay que olvidar que la legítima defensa es „legítima“. Téngase además en cuenta que el delincuente subversivo está generalmente saturado por una ideología que le hace decir aún al detenido: “volveré a matar”. Los que en nombre de la Patria la defienden, cumplen su deber con la guerra. Y el tema de la guerra lo estudia Santo Tomás dentro del capitulo de la virtud de la caridad, como un acto de amor. Tengamos, pues, sensibilidad pero también equilibrio, para calibrar certeramente a un enemigo, que ya en 1925 Pio XI. declaró como “instrínsecamente perverso” y que se ha ido especializando en su maldad. Démonos a nosotros mismos y a los militares los motivos teólogicos que nos hagan obrar sin temor y en conciencia.”, Vicariato Castrense, Boletín 52, Dezember 1976, 30.
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Zweifel am gewaltsamen Vorgehen waren also nicht vonnöten, schließlich beging man einen Akt der Nächstenliebe, wenn man sich gegen den „von Grund auf perversen“ Feind im eigenen Land verteidigte.
Fazit Wie ist die Rolle des Militärvikariats während der letzten argentinischen Diktatur einzuordnen, zu bewerten? An erster Stelle drängt sich die Frage auf, ob das bisher Analysierte nicht banal ist, in dem Sinne, dass die Aufgabe eines jeden Militärvikariats genau darin besteht, in dem Soldaten die Vaterlandsliebe zu fördern, ihn zum Kampf gegen den Gegner zu ermutigen und ihn in seinen moralischen Prinzipien zu festigen und zwar mit den Mitteln und Werten der Religion. Tatsächlich entspricht auch das argentinische Militärvikariat in einer Vergleichsstudie aus dem Jahr 1991, in dem die seelsorgerische Betreuung im Militär in 47 Ländern verglichen wurde, in allen Punkten genau dem „Standardmodell“ 56 des religiösen Dienstes in den Streitkräften. Zu diesem Standardmodell zählt dabei auch, dass von den Militärseelsorgern erwartet wird, dass sie gesellschaftlich verbindende Werte propagieren und ethischen Unterricht erteilen. Nicht anders – so könnte man einwenden – sahen auch die argentinischen Militärkaplane ihre Aufgaben. Ich denke aber, dass die angeführten Zitate gezeigt haben, dass es dem Militärvikariat in Argentinien um mehr ging als um die Propagierung von gesellschaftlich verbindlichen Werten, nämlich um eine bewusste und sehr zielgerichtete politische Indoktrinierung der Streitkräfte. Und in dem Moment, in dem das Militär an der Macht war und die Konsequenzen dieser Indoktrinierung sich in Form der beispiellosen Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zeigten, wurde diese Gewalt dann noch mit einer religiösen Legitimation versehen, die ihre Ausmaße nur noch steigerte. Zum zweiten gilt es zu fragen, ob das Verhalten des argentinischen Militärklerus nicht im Grunde der offiziellen Position der katholischen Kirche, also den Anweisungen aus Rom zur Militärseelsorge, entsprach. Auch diese Frage scheint man auf den ersten Blick mit Ja beantworten zu müssen. Denn noch das Zweite Vatikanische Konzil hat die legitime Selbstverteidigung bewusst als christlich legitimiertes Mittel der Gewaltanwendung aufrecht gehalten, wobei der Soldat als Instrument der Sicherheit und Freiheit der Völker zur Stabilisierung des Friedens beitragen sollte.57 Auch das vatikanische Dekret zur Militärseelsorge Solemne semper von 1951 wies die Militärkaplane zu besonderem reli56 Bock, Religion (wie Anm. 11), 259f. 57 Gaudium et Spes, Nr. 79.
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giösen Eifer bei der Betreuung der Soldaten hin und das eigens zur Gründung des argentinischen Militärvikariats angefertigte Gebet von Pius XII. sprach vom Soldaten als „Diener des Vaterlandes […] unter den Flaggen einer Nation mit einer sauberen Vorgeschichte und einer integeren katholischen Tradition“.58 Doch die Anweisungen des Vatikans beschränkten sich – von der Problematik des Gedankens der legitimen Verteidigung abgesehen – immer auf die rein religiöse Dimension der Aufgabe des Militärklerus. Eine politische Stoßrichtung wurde – verständlicherweise – nicht vorgegeben, und während der argentinischen Militärdiktatur gab es durchaus zwar moderate, aber kritische Töne des Papstes an die Adresse der Militärjunta aufgrund der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Das verweist aber im Grunde schon auf die Problematik in Argentinien. Hier war die religiöse Dimension immer verbunden mit einer patriotischen und damit politischen Dimension, so dass sich letztlich die eindeutige Symbiose zwischen Militärvikariat und Streitkräften in Argentinien nur vor dem Hintergrund der argentinischen Geschichte als katholische Nation verstehen lässt, bei der die Verteidigung des Vaterlandes immer mit der Verteidigung christlicher Werte gleichgesetzt wurde, und diese Aufgabe zuvorderst den beiden Institutionen Militär und Kirche zufiel. Dies führte dazu, dass während der letzten Militärdiktatur in Argentinien die Rolle der Religion teilweise über den instrumentellen Charakter als Legitimationsressource für die Gewalt hinausging und diese Gewalt religiös aufgeladen wurde, das heißt die beteiligten Akteure sich – teilweise – tatsächlich im Besitz einer religiösen Wahrheit sahen, für die es zu kämpfen galt, und vor deren Hintergrund Einschränkungsmechanismen der Gewalt nicht mehr griffen.59 So lässt sich sagen, dass der Kampf gegen die Subversion in Argentinien immer auch ein Kampf um religiöse Werte war. Das zeigen einige der angeführten Zitate, das scheint aber auch durch bei Erzählungen von Folteropfern, die über den religiösen Eifer ihrer Folterer berichteten, die sie teilweise während der Folter beten ließen oder sie als Antichristen beschimpften.60 Diese Tatsache scheint mir auch einer der Gründe für die immensen Ausmaße des Staatsterro58 Im spanischen Original: „...servidor de la Patria […] bajo las banderas de una nación de historial limpio y de íntegra tradición católica“, Plegaria compuesta por Su Santidad Pio XII para Las Fuerzas Armadas de la Nación, in: Vicariato Castrense, Manual (wie Anm. 1), 14. 59 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Sakralisierung von Kriegen: Begriffs- und problemgeschichtliche Erwägungen, in: Klaus Schreiner (Hg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, München 2008, 1–30, 8; Dietmar Willoweit, Verweigerte Toleranz und geheiligte Kriegführung, in: Schreiner, Heilige Kriege, 251–266, 260; Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003. 60 Vgl. den Artikel von Fortunato Mallimaci in diesem Band.
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rismus in Argentinien zu sein, durch den, im Vergleich zu ähnlich gelagerten Fällen wie den Diktaturen in Chile, Uruguay oder Brasilien, wesentlich mehr Menschen ermordet worden sind.
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Die katholische Kirche und die Verfolgung der Kirchen in Russland und in der UdSSR (1917–1939) Zwischen physischer Vernichtung und geistlicher Erneuerung in einem multikonfessionellen Kontext1 Der sowjetische Angriff auf die Religionen gilt als eines der gewalttätigsten Phänomene in der Religionsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Auch wenn die Anzahl der Toten bisher nicht genau ermittelt wurde,2 ist die Rede von mehreren Zehntausenden von Opfern. Betroffen waren vor allem orthodoxe Christen, die den Großteil der sowjetischen Bevölkerung ausmachten. Für die katholische Kirche nahm diese Verfolgung, die auf die Emigration einer großen Anzahl von Katholiken nach Polen und Litauen nach dem Ersten Weltkrieg folgte, ebenfalls eine ernsthafte Bedeutung an: Während der 1920er und 1930er Jahre war die Kirche in Russland demographisch nicht weit vom totalen Verschwinden entfernt. Jedoch war aus der katholischen Perspektive das Neue an der sowjetischen Verfolgung nicht die Gewalt, die angewandt wurde (die „Wiedervereinigung“ der unierten Diözesen in den Jahren 1839 und 1875 und die Unterdrückung des polnischen Aufstandes von 1866/67 waren sehr stark von Gewalt geprägt gewesen – mit Todesstrafen, Deportationen nach Sibirien und der Übereignung von Kircheneigentum), sondern ihre andere Beschaffenheit. Die sowjetische Verfolgung richtete sich gegen jede Art von Religion und wurde im Namen des Atheismus ausgeübt; aus diesem Grunde traf sie zumindest in den zwanziger und dreißiger Jahren alle Religionen und Bewegungen spiritueller Natur. Es war nicht mehr so, dass die „russische orthodoxe Autokratie“ gegen die „katholische Minderheit“ stand (welche neben den hauptsächlich polnischen Gläubigen eine verhältnismäßig hohe Anzahl von Gläubigen aus ethnischen Minderheiten mit einschloss, wie zum Beispiel die Ruthenen und Litauer),3 sondern es handelte
1 Eine erste Version dieses Aufsatzes wurde im Juli 2007 in Leipzig während der 29. Sitzung der „International Society for the Sociology of Religion” vorgestellt. Ich möchte meinen Kollegen Anastassios Anastassiadis und Kathy Rousselet für ihre Hinweise danken. 2 Die bekanntesten Opfer stammen aus dem orthodoxen Klerus – zwischen 1917 und 1980 gab es mutmaßlich 200.000 Opfer; die Hälfte davon wurde wahrscheinlich in den Jahren 1937 und 1938 getötet; vgl. Andrea Riccardi, Il secolo del martirio, Mailand 2000, 33f. 3 Vgl. Andreas Kappeler, La Russie, empire multiethnique, Paris 1994, 415.
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sich um die Gewalt eines atheistischen und totalitären Staates gegen jegliche spirituellen Bewegungen, von denen eine der Katholizismus war. Obwohl die Geschichte der katholischen Kirche im zaristischen Russland schon häufig die Geschichte einer „verfolgten“ Kirche gewesen war, veränderten die Angriffe durch die sowjetische Regierung die Situation gravierend. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, nachzuvollziehen, inwiefern diese Phase intensiven religiösen Kampfes die interreligiösen und insbesondere die katholisch-orthodoxen Beziehungen verändert hat. Welche Arten von Solidarität kamen während dieser Phase zum Vorschein? Auf der Grundlage verschiedener Quellen aus den Vatikanischen Archiven und dem Archiv der Kongregation der Franziskanerinnen-Missionarinnen Mariens sowie aus der Presse, besonders der katholischen, will der vorliegende Beitrag die Wendepunkte der Jahre 1917 bis 1939 ermitteln. Es ergeben sich zwei Phasen: Von der Revolution des Jahres 1917 bis zum Ende der 1920er Jahre entwickelte der Heilige Stuhl eine traditionelle Strategie des Vermeidens von Gewalt, die aus Diplomatie und Wohltätigkeit bestand; nach 1929 hingegen kreierte Rom eine neue Spiritualität der Gewalt, die dem Gebet und der Förderung des Märtyrertums den meisten Raum gab.
Vermeidung von Gewalt. Die traditionelle Strategie der Diplomatie und Wohltätigkeit Die Ausgangshaltung der katholischen Kirche und vor allem des Heiligen Stuhls bestand zu Beginn der 1920er Jahre darin, die vom Sowjetregime ausgehende Gewalt als etwas Vergängliches anzusehen. Das Interpretationsmodell der Russischen Revolution war im Grunde genommen die Französische Revolution: Ein Kompromiss wurde für den Fall für möglich gehalten, dass die Umstände günstiger würden. Diese katholische Haltung, die aus einer Spiritualität der Geduld und der Einschränkung der Konsequenzen von Gewalt bestand, kann nicht als schwach bezeichnet werden. Im Gegenteil kann sie als eine uneingeschränkte religiöse Offensive betrachtet werden, die sogar zu neuer – jedoch stets bedachter – Solidarität mit der orthodoxen Kirche führte.
Tagtägliche Gewalt: erste Erfahrungen mit der Säkularisierung von Kircheneigentum Seit dem Krieg drang die Gewalt immer tiefer in das Alltagsleben der russischen Bevölkerung. Alle sich bekriegenden Parteien waren gleichermaßen davon be-
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troffen, dass Gewalt gleichsam zum Normalzustand wurde; in Russland bezog sie jedoch mit der Revolution eine neue Stellung. Um diese tagtägliche Gewalt und die Brutalisierung des Lebens der Katholiken nachzuvollziehen, kann folgende Quelle herangezogen werden: das Diarium der „Maison Saint-Paul“, einer Schwesterngemeinschaft der Franziskanerinnen-Missionarinnen Mariens. Diese Kongregation hatte mehrere Gemeinschaften in Russland (Petrograd, Odessa, Kiew etc.). In der „Maison Saint-Paul“ in St. Petersburg lebten 1913 21 Schwestern, zehn Novizinnen und fünf „Agrégées“ (zugehörige Personen); zudem gab es ein Waisenhaus mit 115 Mädchen und eine Schule mit 150 Kindern. Das Diarium berichtet, wie diese Gemeinschaft von Ordensfrauen auf die Beschlagnahmung des Klosters durch Soldaten im Februar 1917, auf bewaffneten Raub von Mai bis Juni 1917 und auf die Säkularisierung von Kircheneigentum seit Januar 1918 reagierte.4 Aus dieser Quelle lässt sich ersehen, dass Katholiken nicht nur Opfer von Gewalt waren. Die Schwestern kämpften auch – mit kurzzeitigem Erfolg – um ihr Eigentum in Petrograd. Der örtliche Sowjet unternahm zahlreiche Versuche, ihre Besitztümer zu verstaatlichen, aber die Schwestern scheuten sich nicht, harte Verhandlungen mit den Sowjetkommissionen zu führen. Im Jahre 1918 weigerten sie sich, „so viele arme Menschen zu ernähren und gleichzeitig Geldstrafen zu zahlen“ und „nach einigen Erklärungen wurden die Wölfe zu Lämmern und erlaubten nicht nur, dass nichts gezahlt werden müsste, sondern sie nahmen auch eine wohlwollende Haltung [ihnen] gegenüber ein“!5 Im Juni 1918 versuchte die Superiorin, Mère Mélanie-Rose, um die Verstaatlichung des Waisenhauses zu verhindern, Zeit zu sparen und organisierte ein „demokratisches Komitee“, das aus den Lehrern der Kinder, den Schwestern und Bediensteten bestand. Sie formulierte eine Petition für die Unabhängigkeit dieses Waisenhauses, die von 150 Personen unterzeichnet wurde.6 Als später eine Sowjetkommission die Verwaltung und das Personal, das fast ausschließlich aus Katholiken bestand, durch bolschewikische Angestellte ersetzen wollte, verfassten die Schwestern ein „sehr dezidiertes Protestschreiben und die Eltern der Kinder taten das gleiche. Eine große Delegation brachte [ihren] Protest“ zum örtlichen Sowjet. Die Schwestern erreichten, dass die Verwaltung wie bisher beibehalten wurde und nur zwei Bolschewiken „zu Aufsichtszwecken“ hinzugenommen wurden. Mit der Zeit schafften es die Bolschewiken, einen immer 4 Journal de la Maison St.-Paul, Petrograd, 13e série, N° 7613 ter; Archiv der Kongregation der Franziskanerinnen-Missionarinnen Mariens, Rom (künftig AFMM), 4.082. Vgl. auch Fondation en Europe. Notre histoire 6 (1905–1911), 726. 5 Journal de la Maison St.-Paul, Petrograd, 13e série, N° 7613 ter; AFMM, 4.082, Russie. Petrograd 1917–1924. 6 Ebd.
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wichtigeren Platz einzunehmen und „es begann ein erbitterter Streit zwischen den Kindern und ihren neuen Lehrern“. Den Schwestern zufolge „waren die Kinder mutig: Sie beten, gehen zur Kirche und sprechen offen von ihrer Religion. Einmal hatte ein Kommunist zu ihnen wider den Herrgott gesprochen. Jungen und Mädchen […] hatten ihn fast verprügelt. Seit dieser Zeit wagen es die Kommunisten nicht mehr, mit den Kindern zu kämpfen!“7 So kam es, dass die Katholiken während der ersten Jahre der Revolution strenggenommen keine „Gewalt“ ausübten, sich aber zumindest stark mobilisierten. Wie man am Fall der Kundgebung für Eduard von der Ropp im Frühling 1919 sieht, verstanden es die Katholiken, sich zu mobilisieren. 7.000 Menschen begaben sich nach der Messe von der Sankt-Katharina-Kirche zum Gefängnis, in dem der Erzbischof festgehalten wurde. Und die Katholiken stellten sich gemeinsam der Straßengewalt. Es wird von einer Schießerei aufgrund eines „Juden“ berichtet, der direkt in die katholische Prozession schoss.8 Trotz einer realen politischen und physischen Schwäche, die sie zu leichten Opfern machte, waren Katholiken auch in Gewalt verwickelt und mobilisierten sich, um zumindest in den frühen Monaten der Revolution ihren Besitz, ihre Verbände und ihre Bischöfe zu beschützen. Offiziell wurde Gewalt jedoch abgelehnt und verdeckt, vor allem vor den Augen Roms. Im Januar 1918 lehnte Eduard von der Ropp, Erzbischof der russischen Hauptdiözese von Mahiljou, „die Anarchie“ ab und berichtete nach Rom, dass er einen „Brief an die Menschen“ geschrieben habe, „in dem er die Pfarreien verwarnt habe, die an der Zerstörung vom Eigentum anderer teilgenommen hatten“.9
Diplomatie und Unionismus in der Ökumene: Der Fall vatikanischer Intervention für russisch-orthodoxe Hierarchien im Jahre 1919 Angesichts der Gewalt, die russischen Katholiken täglich widerfuhr, war Rom anfangs recht machtlos und zudem nicht immer gut informiert. Paradoxerweise war eine der ersten römischen Interventionen gegen staatliche Gewalt im sowjetischen Russland die zum Schutz von orthodoxen Gläubigen. 7 AFMM, 4.082, Russie-Odessa, 1919–1923, Dokument datiert „Pétrograd, 22. April 1922“. 8 Journal de la Maison St.-Paul, Petrograd, 13e série, N° 7613 ter; AFMM, 4.082, Russie. Petrograd 1917–1924. 9 Segretaria di Stato, Sezioni per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico, Rom (künftig S.RR.SS.), Congregazione per gli Affari Ecclesiastici Straordinari (künftig AA.EE.SS.), Russia, Pos. 979, Fasc. 347, fol. 34–37.
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Inmitten des Bürgerkriegs, am 7. Februar 1919, sandten einige Mitglieder des Patriarchats der russisch-orthodoxen Kirche, nämlich der Erzbischof von Omsk Silvester und der Erzbischof von Simbirsk Benjamin einen Notruf an die weltweite Öffentlichkeit und schrieben aus Omsk, das nicht unter der Kontrolle der Bolschewiken stand, an Papst Benedikt XV. als „Vertreter der christlichen Kirche“. Sie berichteten über die Zerstörung „aller Religionen“ durch „Hardliner“ (Maximalisten), erwähnten die Opfer, namentlich „den Metropoliten Wladimir von Kiew, etwa zwanzig Bischöfe und Hunderte von ermordeten Priestern […], die […] wegen ihrer Liebe zu Christus zu Märtyrern des 20. Jahrhunderts für ihren Glauben werden“, referierten detailliert über die grausame, von der Zivilbevölkerung ausgeübte Gewalt und schlossen: „Wo die Bolschewiken an der Macht sind, wird die christliche Kirche schärfer verfolgt als während der ersten drei Jahrhunderte der Christenheit“.10 Einige Tage später, am 14. Februar, antwortete Rom ausführlich, verwendete aber ein präzises Vokabular, um theologische Divergenzen zu unterstreichen und um seinen eigenen Status zu verteidigen. Benedikt XV. versicherte Silvester sein Gebet und seine Solidarität und erinnerte ihn zugleich, dass er „der Vikar des Friedensfürsten auf Erden“ sei.11 Der Heilige Stuhl beschränkte sein Eintreten jedoch nicht auf diese Erklärung. Im März 1919 – die Römische Frage war noch nicht gelöst – verhandelte der Vatikan mit den italienischen Funktionären. Rom wollte erfahren, wie man mit Lenin in Verbindung treten sollte, „um sofort für die notwendigen Schritte gegen die Verfolgungen und Abschlachtungen zu sorgen, von denen die Diener der Kirche in Russland Opfer werden würden, besonders die schismatischen“.12 Und so führte der Hilferuf der orthodoxen Bischöfe, der maßgeblich von den „Weißen“ beeinflusst war, rasch zu einem Appell Roms an die bolschewikische Regierung. Am 12. März sandte Pietro Gasparri sein wohlbekanntes Telegramm an Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin zur Verteidigung der „Diener Gottes, besonders derer, die Angehörige der russischen Religion sind, die als orthodox bezeichnet wird“. Dieser Appell führte zu Tschitscherins scharfer Antwort vom 15. März: Der Volkskommissar des Äußeren verzichtete nicht auf Ironie angesichts dieses „besonderen Interesses für eine Religion, die die römisch-katholische Kirche bislang als schismatisch und häretisch angesehen hat und […] [die
10 S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 998, Fasc. 361, fol. 34. 11 S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 998, Fasc. 361, fol. 39. 12 Brief an Baron Carlo Monti, Generaldirektor des „Fondo per il culto“, 6. März 1919; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 998, Fasc. 361, fol. 40.
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hier] als orthodox bezeichnet wird“ und bekräftigte, dass „kein Diener dieser Religion für seine religiösen Überzeugungen gelitten habe“.13 Paradoxerweise führte der Ruf der „weißen“ Bischöfe zu einer tatsächlichen – und sogar gewagten – Einmischung des Heiligen Stuhls, der in Kontakt mit zwei Staaten stand, mit denen er keine diplomatischen Beziehungen unterhielt, nämlich Italien und dem sowjetischen Russland. Diese humanitäre Diplomatie brachte alle „Präzedenzfälle“, die im vatikanischen Entscheidungsprozess essentiell waren, zu Fall und zeigte, wie wichtig Benedikt XV. die Solidarität mit den Orthodoxen war. In den ersten Jahren der Sowjetzeit konzentrierte der Vatikan somit seine Bemühungen auf zwei Gebiete: die direkte oder indirekte Diplomatie einerseits, um Menschen, Katholiken und Andersgläubige, aus dem Gefängnis zu befreien oder um ihnen zu helfen, Russland zu verlassen; den karitativen Einsatz andererseits, um den Menschen in Russland zu helfen.
Gewalt, Barmherzigkeit und Vereinbarungen mit dem Sowjetregime: Erfahrungen aus der Phase der Hungersnot (1921–1923) Die aufkommende Hungersnot in Russland führte im Sommer 1921 zu einem Ruf nach internationaler Hilfe. Der Heilige Stuhl antwortete großzügig und nahm an der finanziellen Unterstützung durch internationale Organisationen teil (Rotes Kreuz, Save the Children). Im Frühjahr 1922 nutzte der Heilige Stuhl die verhältnismäßige Normalisierung der internationalen Lage des sowjetischen Russlands (Rapallo, Genua) und unterzeichnete ein internationales Abkommen, das es erlaubte, einen unabhängigen humanitären Einsatz ins Leben zu rufen.14 Die Entscheidung des Sowjetregimes, die Hungersnot auszunutzen, um eine religionsfeindliche Kampagne voranzutreiben,15 veranlasste den Papst jedoch 13 Diese beiden Telegramme wurden in den sowjetischen Zeitungen und im L’Osservatore romano (2. April 1919) sofort und zudem später häufig neu publiziert; vgl. Aleksandr Lozovskij (Hg.), Vnešnjaja politika SSSR. Sbornik dokumentov. Bd. 1: 1917–1920, Moskau 1944, Nr. 179; Ministerstvo Inostrannyh Del SSSR (Hg.), Dokumenty vnešnej politiki SSSR. Bd. 2: 1. Januar 1919 bis 30. Juni 1920, Moskau 1958, Nr. 67. 14 Vgl. Giorgio Petracchi, La Missione pontificia di soccorso alla Russia (1921–1923), in: Santa Sede e Russia da Leone XIII a Pio XI, Vatikanstadt 2002, 122–180. Zum Kontext des Frühlings 1922 vgl. Giuseppe Maria Croce, Santa Sede e Russia Sovietica alla conferenza di Genova, in: Cristianesimo nella Storia 23 (2002), 345–365. 15 Vgl. Lenin an Molotov, 15. März 1922; das Schreiben im Zentralarchiv der Partei, Institut für Marxismus-Leninismus, F2, 22.954 wurde ediert von Nikita Struve, in: Le Messager Orthodoxe 52 (1970) H 4, 62–67.
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im Mai 1922, eine neue Haltung zum Patrimonialbesitz der orthodoxen Kirche sowie zur Lage des Patriarchen Tichon, der zu der Zeit unter Arrest stand, einzunehmen. In diesem Kontext der Gewalt fuhr der Heilige Stuhl eine diplomatische Linie der Mäßigung, um die Errungenschaften von Genua zu bewahren (Versicherung der religiösen Neutralität der Sowjetregierung, Erlaubnis, Russland zu wohltätigen Zwecken zu betreten) und blieb eher gemäßigt in Bezug auf das Sowjetregime. Er blieb bei seiner Position, einen umfangreichen karitativen Einsatz in Russland zu unterstützen, um jedem „ohne Unterscheidung von Rasse und Religion“16 zu helfen. Rufe nach einem Kreuzzug gegen unfromme Kräfte der Dritten Internationale,17 der von russischen Emigranten und manchen Katholiken gefordert wurde, lehnte er hingegen ab. Diese diplomatische Mäßigung führte zu positiven Resultaten. Nach der Entehrung der Reliquien von Bobola,18 die aus ihrem Reliquiar in Polock entnommen und nach Moskau überführt wurden,19 ermöglichten die langen Verhandlungen, die vom Heiligen Stuhl in Moskau durch Pater Edmund Walsh, den Leiter der Päpstlichen Hilfskommission,20 und in Rom durch Wazlaw Wazlawowitsch Worowsk, den sowjetischen Vertreter, geführt wurden, eine friedliche Lösung des Problems. Diese Reliquien erreichten Rom
16 Gasparri an Bourne, 17. Oktober 1921; Archivio Segreto Vaticano (künftig ASV), Segretaria di Stato (künftig Segr. Stato), Rub. 244 – N5, Fasc. 451, fol. 214 (Nr. B-26476). 17 Brief der „Union nationale russe“ an Benedikt XV., 5. Mai 1922; zitiert nach G. M. Croce, Le Saint-Siège, l’Église orthodoxe et la Russie soviétique. Entre mission et diplomatie (1917–22), in: Mélanges de l’École Française de Rome. Italie et Méditerranée 105 (1993) H 1, 297. Vgl. auch Kartachoff an Gasparri, 9. Juni 1922; S.RR.SS., AA.EE.SS., Pontificia Commissione pro Russia (künftig PCPR), Scat. 3b, Fasc. 23, fol. 21, fol. 22–24. Der Appell datiert auf den 30. Mai 1922. 18 Ungefähr im Jahre 1590 geboren wurde dieser polnische Jesuit 1657 von den Kosaken gepeinigt und ermordet. Der Seligsprechungsprozess wurde jedoch erst 1720 eröffnet. 1755 erkannte Benedikt XIV. das Martyrium an, forderte jedoch für die Seligsprechung vier weitere Wunder. Bobola wurde schließlich von Pius IX. im Jahre 1853 selig und von Pius XI. 1938 heiliggesprochen; vgl. P. Bernard, André Bobola (Bienheureux), in: Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques 2 (1914), Sp. 1641–1644; Schreiben „Ex aperto Christi latere“, in: AAS 30 (1938), 357–369. 19 Die Exhumierungskampagne betraf in erster Linie die orthodoxe Kirche zwischen Ende 1918 und 1920, vgl. Bernard Marchadier, L’exhumation des reliques dans les premières années du pouvoir soviétique, in: Cahiers du monde russe et soviétique 22 (1981) H 1, 67–88, die chronologische Liste der 67 Exhumierungen 71f. 20 Vgl. Louis J. Gallagher, Comment nous avons recouvré les reliques du B-x André Bobola: Relation d’un membre de la Mission pontificale de secours aux affamés russes, in: Lettres de Jersey 1 (1924), 66–80.
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im Oktober 192321 und wurden ab Mai 1924 in der Jesuitenkirche Il Gesù aufbewahrt.22 Jedoch hatte der Vertreter des Papstes in Russland zur Zeit der Hungersnot auch Gelegenheit, Zeuge von antireligiöser staatlicher Gewalt zu werden. Während seit Juli 1922 mit dem Sowjetregime noch besonders hart über die Verträge für die Verwendung von Kirchen verhandelt wurde – die so genannten „dogovor“ gestatteten den Katholiken, weiterhin jene Kirchen zu nutzen, die 1918 nationalisiert worden waren –, wurden im Dezember 1922 plötzlich zahlreiche Kirchen in Sankt Petersburg und den Außenbezirken geschlossen.23 Rom reagierte mit heftigem öffentlichen Protest durch die konsistoriale Allokution vom 11. Dezember24 und mittels seines Vertreters in Moskau. Pater Walsh vermittelte bei den sowjetischen Autoritäten und erreichte in letzter Minute die Wiederöffnung der Kirchen, um in Sankt Petersburg Weihnachten feiern zu können.25 Das Problem der Verträge war damit jedoch in keiner Weise gelöst; im Frühjahr 1923 sollten neue Verhandlungen in Moskau und Rom aufgenommen werden.26 Vor allem aber kamen bedeutende Unterschiede in der Wahrnehmung sowjetischer antireligiöser Gewalt durch den Heiligen Stuhl einerseits und die russischen Gläubigen andererseits auf. Letztere waren eindeutig feindlich gegenüber diesen Verträgen eingestellt, die vom Heiligen Stuhl und der Sowjetregierung vorbereitet worden waren. Laut Pater Belogolov, der Walshs Mittelsmann in Sankt Petersburg war, wurde Gasparris Telegramm vom Mai 1923, das der letzten Version des „dogovor“ das „tolerari potest“ gab, „vom 21 Hugues Beylard, La Vie et la mort héroïque de saint André Bobola, jésuite polonais, martyr de l’unité catholique (1590–1657), Paris 1938, 108–110. 22 La salma del Beato Andrea Bobola dal Vaticano al Gesù, in: L’Osservatore romano 19/20. Mai 1924, 2. 1938 wurden die Reliquien zurück nach Polen, nach Warschau verbracht, nachdem sie eine triumphale Reise durch ganz Europa hinter sich gebracht hatten; vgl. Memorabilia Societatis Jesu, Vol. VI, Fasc. 7, 1. Oktober 1938, ohne Seite (Bildtafel). 23 Vgl. Eugenia S. Tokareva, Le relazioni tra l’URSS e il Vaticano: dalle trattative alla rottura (1922–1929), in: Santa Sede (wie Anm. 14), 220. Nur eine Kirche blieb geöffnet, nämlich die kleine französische Kirche; vgl. Cieplak an „Excellence“, 16. Dezember 1922; S.RR. SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 646, Fasc. 30, fol. 25f. 24 Allokution „Vehementer gratum“, 11. Dezember 1922, online unter URL: www.vatican. va/holy_father/pius_xi/speeches/documents/hf_p-xi_spe_19221211_vehementer-gratum_it.html (einsehen am 9. März 2012). Der Papst kritisierte die „Unterdrückung der religiösen und zivilen Freiheiten“, sprach aber vor allem die „Opfer“ der Hungersnot an. 25 Walsh an Gasparri, 23. Dezember 1922; Gosudarstvennyj arhiv Rossijskoj Federacii/Staatsarchive des russischen Staatenbundes (künftig GARF), Fond (fondo) 1058, opis’ (inventario) 1, ed. hr (cartella) 153, list (folio) 42. 26 Staatssekretariat an Vorovsky, 19. Februar 1923; S.RR.SS, AA.EE.SS., Russia, Pos. 659, Fasc. 38, fol. 73.
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Rest des Klerus von Sankt Petersburg nicht gut aufgenommen“.27 Gleichermaßen schrieb Leonid Iwanowitsch Fjodorow, Bischof und Exarch der russischen Katholiken, nach Rom, dass russische Katholiken im Recht seien, sich dem „Unterzeichnen des Vertrags in seiner ersten Version“ entgegenzustellen, der Religion zu einer gänzlich privaten Angelegenheit gemacht hätte. Er hoffte, dass „der Heilige Stuhl eine eingehende Untersuchung der verdeckten antireligiösen Tendenzen der Sowjetregierung unternehmen“ würde.28 Fjodorows Sichtweise wurde von Pius XI. strikt abgelehnt, der bestimmte, dem Exarchen mitzuteilen, dass „der Heilige Stuhl immer glaubt, dass es besser ist, seinen Vorschlägen und Anweisungen Folge zu leisten“.29 Die russischen Katholiken hatten möglicherweise weniger Illusionen in Bezug auf die Gewalt des Sowjetregimes. Diese zeigte sich im März 1923 allzu deutlich, als etliche katholische Priester in Sankt Petersburg gefangen genommen wurden, da sie konterrevolutionärer Aktivitäten beschuldigt wurden.30 Nach einigen Tagen der Gerichtsverhandlung wurden strenge Urteile verkündet: Bischof Jan Cieplak, der Generalvikar, welcher in Abwesenheit von Ropp der höchste Würdenträger der Erzdiözese Mahiljou war, und Konstantin Budkiewicz, der Dechant des Sankt Petersburger Klerus und Ehrenkanonikus der Erzdiözese Mahiljou,31 wurden zum Tode verurteilt. Der Prozess, der einer der bedeutendsten Prozesse der frühen 1920er war,32 führte zu einer umfassenden 27 Walsh an Gasparri, 26. Mai 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 659, Fasc. 38, fol. 56–58. 28 Fjodorow an Walsh, 23. Mai 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 659, Fasc. 38, fol. 49f., die Übersetzung eines russischen Schreibens fol. 51–52. Bei dem Artikel handelt es sich um R. Arsky, „Strogo, no spravedlivo“ [Streng, aber fair], in: Petrogradskaja Pravda, 28. März 1923, Nr. 69. 29 Aufzeichnung über die Audienz vom 12. Juni 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 659, Fasc. 38, fol. 55. Vgl. auch das Schreiben von Walsh, 24. Juni 1923; ebd. fol. 53. 30 Vgl. das Buch eines Augenzeugen des Prozesses, zu dieser Zeit Journalist für den New York Herald in Moskau: Francis McCullagh, The Bolshevik Persecution of Christianity, London 1924. Später, in den 1920er Jahren, schrieb McCullagh dann auch zur Mexikofrage: Francis McCullagh, Red Mexico, London/New York/Paris 1928. 31 J. P. Begeal, Budkiewicz, Constantine, in: Paul D. Steeves (Hg.), Modern Encyclopedia of Religions in Russia and the Soviet Union, Bd. 4, Gulf Breeze 1991, 208–213. 32 Dieser Prozess blieb jedoch weitestgehend unbeachtet von Historikern, die sich mit dem „sowjetischen Terror“ befassen. Die Haltung von Robert Conquest ist zum Beispiel äußerst paradox: Einerseits veröffentlicht er ein Bild von diesem Prozess (S. 15), liefert jedoch keine Details (in der Bildunterschrift steht „Catholic before a judge“, ohne dass die Umstände des Prozesses erklärt werden), andererseits (Anhang F, S. 508) schreibt er: „[D]ie einzigen großen politischen Verfahren der Zeit nach dem Bürgerkrieg waren die der Ukrainer und der Sowjetrussen in Moskau in den Jahren 1921 und 1922. [...] Zwischen 1922 und 1928 sollte kein Verfahren auf dramatische Weise die öffentliche Aufmerksamkeit erregen; und als der Fall Shakhtys begann, bemerkten wir sofort, dass eine neue Gangart eingeführt wor-
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internationalen Reaktion.33 Es ist wahrscheinlich dem internationalen Druck zu verdanken,34 dass Cieplak am 29. März begnadigt und die Todesstrafe in eine Zehnjahres-Strafe umgewandelt wurde. Die Hinrichtung Budkiewiczs wurde jedoch bestätigt35 und fand nur zwei Tage später, am 31. März statt. Während des Prozesses wurde Walsh nicht vom Narkomindel empfangen; dass Erzbischof Cieplak schließlich im Frühjahr 1924 ins Exil ging, ist allein der britischen diplomatischen Intervention zu verdanken.36 Die internationale Meinung war sich einig, dass der Heilige Stuhl nach der brutalen Exekution von Budkiewicz seinen karitativen Einsatz einstellen sollte. Walsh hingegen war mit seiner Intervention zufrieden: Er spielte die Rolle eines Informanten, um einen internationalen Protest zu entfachen.37 Der General der Jesuiten befand, dass der Heilige Stuhl wegen der an Budkiewicz und Cieplak ausgeübten Gewalt protestieren sollte, aber „auch in diesem Falle schien es mir weder notwendig noch vorteilhaft, die päpstliche Mission sofort aufzukündigen, die nicht für die Sowjets, sondern für das russische Volk eintritt“.38 Die offizielle Haltung des Heiligen Stuhls bestand also darin, es als positiv zu betrachten, dass es während Cieplaks Prozess eine päpstliche Mission in Russland gab, und sich sogar selbst als Sieger im Widerstand gegen die sowjetische antireligiöse Gewalt zu sehen.39 den war“; Robert Conquest, La Grande Terreur: les purges staliniennes des années trente, Paris 1970, 508; englische Übersetzung: Stalin’s Purge of the Thirties, London 1968. 33 Vgl. Laura Pettinaroli, La politique russe du Saint-Siège (1905–1939), Lyon 2008, 669f. 34 Dieser wurde nach dem Tod Budkiewiczs stärker. Pater Walsh vergleicht die Situation in Moskau mit der Situation in Österreich am Vorabend des Ausbruch des Krieges im Jahre 1914; vgl. Walsh an Gasparri, 14. Mai 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 648, Fasc. 33, fol. 37–42. 35 Izvestija, Nr. 70 vom 30. März 1923, 1. 36 Odo Russell an Sir Austen Chamberlain, 28. Februar 1925; Thomas E. Hachey (Hg.), Anglo-Vatican Relations, 1914–1939. Confidential Annual Reports of the British Ministers to the Holy See, Boston 1972, 67f. 37 Walsh, „The Trial of Archbishop Cieplak and Petrograd Clergy“, 7. April 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 648, Fasc. 32, fol. 34–66, hier fol. 53: „Diese Drahtnachrichten waren wahrscheinlich die ersten und eigentlich die einzigen Nachrichten, die Moskau zu dieser Zeit verließen, da die Zensur der Regierung alle Telegramme der Zeitungskorrespondenten stoppte.“ 38 Ledóchowski an „eccellenza revma“, 3. April 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 657, Fasc. 37, fol. 40. 39 Relazione der „Segreteria di Stato di Sua Santità. Russia“, Dezember 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 659, Fasc. 40, fol. 59f. Dieser Text, verfasst für eine Versammlung von Kardinälen, die eine mögliche Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit der UdSSR prüfen sollte, schreibt den Sowjets den folgenden Satz zu: „Wir waren in der Lage, ungestraft Hunderte von orthodoxen Priestern zu exekutieren, aber sobald wir katholische Priester berührten, sahen wir uns gegen die Welt auflehnen“.
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In den frühen zwanziger Jahren blieb schließlich, obwohl physische Gewalt das Alltagsleben der Katholiken in Russland bereits massiv penetriert hatte, die katholische Haltung zur Gewalt eher traditionell: Man lehnte es ab, Gewalt zu begünstigen, und respektierte die regierende Macht, um die politischen Chancen zu nutzen und damit die Situation der katholischen Minderheit zu verbessern. Eine geringfügige Neuerung könnte in der vatikanischen Strategie einer humanitären Diplomatie für das russische Volk und für die russischen orthodoxen Hierarchen gesehen werden.
Eine neue Spiritualität. Ein Kreuzzug von Gebeten und die Theologie des Märtyrertums Am Ende dieses Jahrzehnts war klar, dass sich die sowjetische Politik gegenüber der Religion nicht ändern würde. Im Gegenteil: alle Zeichen sprachen dafür, dass die Verfolgung noch gewaltsamer würde. Im Oktober 1927 wurde es anlässlich des zehnten Jahrestags der Revolution abgelehnt, den Katholiken Amnestie zu gewähren,40 Der Prozess gegen Teofil Skalski, Pfarrer in Kiew und Apostolischer Administrator für die Diözese Luzk- Schytomyr, wurde im Februar 1928 unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt41 und im April 1929 trat eine neue Religionsgesetzgebung in Kraft.42 Im weltweiten Kontext katholikenfeindlicher Verfolgungen in Mexiko, China und Spanien43 schlug Rom die 40 Jean Herbette (französischer Botschafter in Moskau) an d’Herbigny, 1. November 1927; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 1, Fasc. 9, fol. 2v. 41 Jean Herbette an d’Herbigny, 7. Februar 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 1, Fasc. 9, fol. 12–14. 42 Eine französische Version dieses Textes in Nikita Struve, Les chrétiens en U.R.SS., Paris 1963, 321f. 43 In seiner Konsistorialansprache vom 20. Juni 1927 zollte Pius XI. den Missionaren und Katholiken in China, die „ihrer Pflicht […] treu geblieben waren“, Anerkennung für ihren „Mut“. Um die Situation in Mexiko zu schildern, verwendete Pius XI. ein präziseres Vokabular, wobei er jedoch den Terminus „Martyrium“ vermied: „eine Nation, die fast gänzlich von Blut umgeben ist in der Verteidigung der Christenheit“; „Das Zeugnis, das die Bischöfe, der Klerus und das mexikanische Volk seit einiger Zeit für den Göttlichen Begründer der Kirche geben, muss nicht nur als sehr hervorragend bezeichnet werden, sondern es sollte in immerwährender Erinnerung […] in den Annalen erwähnt werden“, URL: http://www.vatican.va/holy_father/pius_xi/speeches/documents/hf_p-xi_spe_19270620_ amplissimum-conlegium_it.html (eingesehen am 9. März 2012). In seiner Weihnachtsansprache vor der Römischen Kurie am 24. Dezember 1930 verwendete Pius XI. genauere Worte: Er bat um das Gebet für die „bewundernswerten Streiter, die in Russland und Sibirien leiden und sterben und mit ihrem Leiden die Wiedergeburt in Christus jener riesigen Regionen und jener unermesslichen Völker vorbereiten“ und verknüpfte die Situation in
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neue Strategie ein, jede Verfolgung von Gläubigen, egal welcher Konfession, über sämtliche Kommunikationswege, die durch die Kirche und die Medien bereitstanden, beharrlich anzuprangern. Das institutionelle Instrument dieser dynamischen Linie war die Päpstliche Kommission „Pro Russia“. Diese Strategie zielte darauf ab, die öffentliche Meinung in den westlichen Ländern zu mobilisieren, besonders auf dem rein religiösen Gebiet. Eine neue Spiritualität der Gewalt trat zum Vorschein, die auf das Märtyrertum und den Kreuzzug konzentriert war.
Ein Wendepunkt: Die Anerkennung der russischen katholischen Märtyrer Es lag nicht nahe, die Situation der Katholiken im sowjetischen Russland als ein „Martyrium“ anzusehen. Zu Beginn der zwanziger Jahre war der Heilige Stuhl sehr vorsichtig in seiner Wortwahl, und es bedurfte eines langen Prozesses, um zu diesem Schluss zu kommen. Die Ablehnung, Konstantin Budkiewicz 1923 als Märtyrer zu bezeichnen, dürfte wohl das beste Beispiel dafür sein. Die katholische Presse und der „Osservatore Romano“ verurteilten zwar die Lage, in der er sich befand, vermieden aber den Terminus „Märtyrer“ und gestanden damit – so scheint es – ein, dass der Prälat ein Verbrechen gegen revolutionäre Gesetze begangen hätte.44 Die konsistoriale Allokution „gratum nobis“ zollte den Russland mit dem Leiden anderer Katholiken in Mexiko und China, URL: http://www.vatican.va/holy_father/pius_xi/speeches/documents/hf_p-xi_spe_19301224_benedetto-ilnatale_it.html (eingesehen am 9. März 2012). In seiner Ansprache „La vostra presenza“ an die Flüchtlinge aus Spanien am 14. September 1936 sprach Pius XI. die „wahren Märtyrer“ dieses Landes an; Ugo Bellocchi (Hg.), Tutte le encicliche e i principali documenti pontifici emanati dal 1740: 250 anni di storia visti dalla Santa Sede. Bd. 10: Pius XI (1922–1939), Teil 2: 1930–1939, Vatikanstadt 2002, 259–266. 44 „La trepida attesa sulla sorte di Mons. Cieplak e dei suoi compagni“, in: Osservatore Romano, 29. März 1923, 1; Meator [Pseudonym], La persécution religieuse en Russie (1921–1923), in: L’Union des Églises 10 (1924), 305–309. Der Osservatore Romano überarbeitete Artikel aus der polnischen Presse, die eindeutig vom Märtyrertum sprechen, vgl. „La sorte di Boutkiewicz“, in: Osservatore Romano, 5. April 1923, 1 (Zitat aus dem Kurjer Warszawski). In dem Artikel, der Budkiewiczs Tod bestätigte, bedauerte der Osservatore Romano „dieses Blutvergießen wegen Verstößen gegen revolutionäre Gesetze“; „La fucilazione di Boutkiewitch“, in: Osservatore Romano, 4. April 1923, 1. Der Begriff „Märtyrer“ ließ sich nur einmal nachweisen. Es handelt sich dabei jedoch um eine ironische und verhaltene Antwort auf den Artikel von Ju. Marhlevskij, „K delu arhiepiskopa Cepljaka”, in: Izvestija, Nr. 62 vom 21. März, 3. Der Artikel ist überschrieben mit „In morte di Budkievitch“, in: Osservatore Romano, 14. April 1923, 1: „Wenn diese Beweggründe [die im Artikel der „Izvestija“ zitiert werden] jene sind, für die Erzbischof Cieplak
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„heldenhaften Kindern“ der Kirche ihren Tribut, indem sie sie in einer Liste, die an ein Martyrologium erinnert, namentlich aufführte. Wenn der Papst aber den „semen christianorum“ ansprach, vermied er vorsichtig den ersten Teil des alten Diktums („sanguis martyrum“).45 Genau genommen fand die Vorstellung von einem gegenwärtigen Märtyrertum im sowjetischen Russland in den Jahren 1923 bis 1924 ihren Weg in katholische Kreise. Die Veröffentlichung des Buchs von Francis McCullagh im Jahre 1924 spielte dabei eine wichtige Rolle. Dieses Buch schlug eine erste Zählung der Opfer vor: 28 Bischöfe und 1.215 Priester der orthodoxen Kirche waren getötet worden. Auch wenn der Autor anerkannte, dass einige wegen ihrer Zugehörigkeit zur „Kirche der Zaren“ und nicht zur „Kirche Christi“ getötet worden waren, „bestand kein Zweifel“, so sagte er, „dass viele wahrhaft Märtyrer waren und dass die bolschewikische Verfolgung der orthodoxen Gemeinschaft im Allgemeinen zurecht als religiöse Verfolgung bezeichnet werden kann“.46 In einer Besprechung dieses Buches befand d’Herbigny, der Präsident des Päpstlichen Orientalischen Instituts und einer der Berater des Papstes in Sachen Russland, dass die Geschichte des Prozesses von 1923 „wirklich die Acta Martyrum beinhaltet“, weil den verurteilten Gefangenen kein politischer Fehler angerechnet werden könne.47 Erst am Ende des Jahrzehnts begannen jedoch offizielle Stimmen aus dem Vatikan, den Begriff „Martyrium“ zu verwenden. 1928 stand „der Jahrestag des Martyriums Budkiewiczs“ in den Schlagzeilen des „Osservatore Romano“.48 1929 proklamierte ein recht offizielles Buch das Märtyrertum der russischen Katholiken: Georges Goyau, ein französischer Akademiker, beschrieb detailliert die raue Gewalt dieses „tragischen Karfreitags an einem katholischen Bischof“: während der Hinrichtung brach sich Budkiewicz das Bein und sein Ohr wurde abgetrennt; nach seinem Tod wurden seine Überreste verbrannt,
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und seine Gefährten verurteilt und Bischof Budkievitch umgebracht wurde, ist es gewiss, dass das gestrige Begräbnis [...] die Bedeutung der Glorifizierung eines wahren Märtyrers des Glaubens annimmt.“ Allokution „Gratum nobis“, 23. Mai 1923, in: Bellocchi, Encicliche (wie Anm. 43), Bd. 8, 75. Francis McCullagh, The Bolshevik Persecution of Christianity, London 1924, X. Orientalia Christiana 2 (1924) H 10, 319. Für d’Herbigny vgl. Laura Pettinaroli, Mgr Michel d’Herbigny, parcours d’un prélat français sous Pie XI, in: Jacques Prévotat, Pie XI et la France. L’apport des archives du pontificat de Pie XI à la connaissance des rapports entre le Saint-Siège et la France (Collection de l’École française de Rome 438), Rom 2010, 103–131. Dalla Polonia. Nel quinto anniversario del martirio di Mons. Budkiewicz (Nostre informazioni), in: Osservatore Romano, 6. April 1928, 1.
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um zu vermeiden, dass daraus Reliquien gemacht würden.49 Zur gleichen Zeit rief Pius XI. selbst das Märtyrertum der Katholiken in Russland aus. In seinem berühmten Brief an Basilio Kardinal Pompilj vom 2. Februar 1930 erwähnte er explizit die „grauenvolle Verfolgung“ und das „Märtyrertum“ und nannte die gefangenen Prälaten Boleslas Sloskan, Alexandr Frison und Leonid Feodorov.50 In der Folge erinnerte Pius XI. auch öffentlich an diese Sache; so sprach er zum Beispiel bei der Eröffnung der Internationalen Ausstellung der katholischen Presse im Vatikan am 12. Mai 1936 vom „wahren Heroismus, der fast täglich neue, sehr ruhmreiche Kapitel in das Martyrologium“ in Russland einträgt.51 Die Bestände der Kommission „Pro Russia“ bringen eine bewusste Politik des Heldentums, um nicht zu sagen des Märtyrertums, zu Tage. Zunächst ist es wichtig daran zu erinnern, dass sowohl d’Herbigny als auch Pius XI. bereit waren – zumindest sagten sie dies –, ihr eigenes Leben für Russland zu opfern. Achille Ratti brachte dies im Juli 1920 in Warschau zum Ausdruck und sein Assistent Ermenegildo Pellegrinetti bestätigte es 1939;52 d’Herbigny sah seine Mission auch als eine Art Märtyrertum für Russland und für den Heiligen
49 Georges Goyau, Dieu chez les Soviets, Paris 1929, 61–71. Über Goyau vgl. Jérôme Grondeux, Georges Goyau, 1869–1939. Un intellectuel catholique sous la IIIe République (Collection de l’École française de Rome 381), Rom 2007. Pius XI. gratulierte Goyau zu diesem Buch: Das Schreiben wurde teilweise im Osservatore Romano veröffentlicht; „Dio e i Soviets. La Russia che bestemmia e la Russia che prega“, in: Osservatore Romano, 1. September 1929, 2. 50 AAS 22 (1930), 89–93. 51 Ansprache „Siamo ancora“, 12. Mai 1936, in: Bellocchi, Encicliche (wie Anm. 43) Bd. 10, 244. 52 Zunächst hatte Ratti Gasparri zugestimmt, der ihn gebeten hatte, Warschau zu verlassen, wenn die Rote Armee einmarschieren sollte; Ratti an Gasparri, 21. Juli 1920; S.RR.SS., AA.EE.SS., Polonia, Pos. 101, Fasc. 73, fol. 21r. Dann änderte der Nuntius aber seine Meinung und bat am 5. August darum, in Warschau bleiben zu können; Ratti an Gasparri, 5. August 1920; ebd. fol. 26r. Gasparri lehnte dies ab und bat ihn, bei der polnischen Regierung zu bleiben; Gasparri an Ratti, 8. August 1920; ebd. fol. 27r. Nach dem Tod Pius’ XI. erläuterte sein früherer Assistent in Warschau, Ermenegildo Pellegrinetti, der selbst zum Kardinal ernannt worden war, den Grund für Sinneswandel des Nuntius mit den Umständen (das Schicksal eines katholischen Volkes und „der gesamten christlichen Zivilisation“), nannte aber auch persönliche und religiöse Gründe („Ratti [...] hatte befunden, dass seine Pflicht im Heldentum lag, auch weil er sich selbst während der Heiligen Messe dazu beseelt fühlte, sich selbst ganz zu opfern“) und seine russische Erfahrung („nachdem er mehrere Male und stets umsonst versucht hatte, nach Russland vorzudringen, wird Gott vielleicht diesen außerordentlichen Weg benutzen, um ihn dorthin zu bringen“); Ermenegildo Pellegrinetti, Pio XI, l’uomo nel Papa, il Papa nell’uomo, Rom 1940, 16.
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Stuhl.53 Vor allem aber wollten die zwei großen Autoren der Russlandpolitik des Heiligen Stuhls, dass die russischen Bischöfe und vor allem die Apostolischen Administratoren, die 1920 ernannt worden waren, zu höchstem Opfer bereit wären. In diesem Kontext ist die römische Haltung zur Freilassung von Bischöfen aus sowjetischen Gefängnissen bezeichnend. Im März 1928 setzten sich die Regierungen von Lettland und Polen für die Freilassung von Boleslan Sloskan ein, aber der Internuntius in Lettland, Antonio Zecchini, und Pius XI. zögerten, dem Prälaten anzubieten, Russland zu verlassen.54 Die Kommission „Pro Russia“ untersuchte diese Frage in einem „congresso“, einer einmal die Woche stattfindenden Versammlung, wobei zwei Hauptströmungen aufeinanderstießen: auf der einen Seite standen, angeführt von Luigi Kardinal Sincero, die Befürworter eines Exils in Lettland, wo Sloskan unter den russischen Emigranten hätte arbeiten können; auf der anderen diejenigen, die über den „schmerzlichen Eindruck“ besorgt waren, „den die Freilassung eines und nicht aller von ihnen auf die anderen Priester im Gefängnis machen würde“. Schließlich konzentrierte sich d’Herbignys Bericht auf die Notwendigkeit, „Sloskan gemäß seinem eigenen Wunsch in seinem Amt zu lassen“ … Alle Anwesenden (Borgongini, Pizzardo, Cicognani, Margiotti) stimmten zu, ebenso der Papst.55 Im April 1931 wurde Pius’ XI. Position sogar noch klarer. Ropp vermittelte beim Vatikan im Interesse Antonio Maleckis. Letzterer hatte an seine Familie geschrieben, dass er sich in Russland nutzlos fühlte und dass er die Gefangenenaustausche nutzen wollte, um nach Polen zurückzukehren. Ropp schloss: „dort wird der arme Bischof ein Märtyrer sein, hier nur ein Beichtvater“.56 Pius XI. befahl in der Audienz vom 8. Mai 1931, „Ropp zu antworten, dass die Anwesenheit eines Bischofs und Apostolischen Administrators bei den verfolgten Gläubigen niemals vergebens ist. Wenn Malecki sich jedoch zu niedergeschlagen fühlt und wenn er Russland verlassen möchte, müsste er zuerst offiziell von seinem Amt als Administrator abtreten; nach seinem Amtsverzicht könnte er 53 D’Herbigny schrieb zum 10. Jahrestag seiner Bischofsweihe am 10. März 1936 an Pacelli: „Der Herr erlaubte nicht, dass dieses Leben in der UdSSR genommen würde. Es bleibt zur vollständigen Verfügung des Heiligen Vaters und sein einziges Streben geht dahin, für den Heiligen Stuhl in einem oder Tropfen für Tropfen vergossen zu werden“; S.RR.SS., AA.EE. SS., PCPR, Scat. 46, Fasc. 271, fol. 19r. 54 Zecchini an Vatikan, 9. März 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 21, Fasc. 135, fol. 30. Das Telegramm wurde Pius XI. in einer Audienz von Kardinal Sincero am 10. März 1928 vorgelegt. 55 Aufzeichnung über die Audienz vom 22. März 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 21, Fasc. 135, fol. 32r. 56 Ropp an „Excellence“, 30. April 1931; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 18, Fasc. 113, fol. 26rv.
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dann einwilligen, an einem möglichen Austausch teilzunehmen“.57 Diese Antwort des Papstes ist insofern von besonderer Bedeutung, als dass sie an einen russischen Bischof im Exil gerichtet war. Während der dreißiger Jahre machte das Erscheinen von unmittelbaren Zeugnissen von „Überlebenden“ aus sowjetischen Gefängnissen, die Russland verlassen hatten (Sloskan58 im Jahr 1933, Anatolia Nowicka – Schwester Josaphat – 1932,59 Malecki 1934, Julia Danzas 1934), und indirekter Zeugnisse von Pie Neveu und Maurice Amoudru über den 1936 gestorbenen Leonid Feodorov nach und nach die Festlegung auf eine Strategie der Hagiographie notwendig, die die Sammlung und Verbreitung der Geschichten dieser Märtyrer vereinigte. Die Bestände der Kommission „Pro Russia“ zeigen, dass sich zu Beginn der 1930er Jahre die Perspektive änderte: Von einer politischen und unmittelbaren Bewertung der Berichte von Überlebenden ging man über zur Aufbewahrung von Informationen zum Zwecke der Erinnerung. 1931 übersandte der Nuntius in Warschau die Geschichte von Pater Lewinski, einem Kanonikus, der im Gefängnis gewesen war und schließlich aus Russland ausgewiesen wurde, und befand, dass dieser „Bericht nichts Neues für diese päpstliche Kommission“ enthielt.60 1933 jedoch gab der Heilige Stuhl die italienische Übersetzung von Berichten exilierter Priester aus der UdSSR in Auftrag; darunter befanden sich neben dem Bericht Bischof Skalskis61 auch 57 Aufzeichnung über die Audienz vom 8. Mai 1931; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 18, Fasc. 113, fol. 27. 58 Vgl. „Geplante Route Mgr. Sloskans“ und „Fünf Jahre im Gefängnis und die Religion in Russland (Unser Interview mit Erzbischof Boleslaw Sloskan)“ in: L’Illustrazione Vaticana (französische Ausgabe) Nr. 9 vom 1.-15. Mai 1933, 327–329; S.RR.SS., AA.EE.SS. , PCPR, Scat. 21, Fasc. 136, fol. 49r. 59 Dieser Bericht ist in verschiedenen Archiven zu finden, z. B. im Archiv der Erzdiözese Lyon (Kardinal Gerlier, Schachtel „Église du Silence“), dem Historischen Archiv des Staatssekretariats (S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 25, Fasc. 161), dem Archiv der Franziskaner Missionarinnen Mariens (AFMM, 4.082, „Récits des événements de Petrograd 1922“, Anatolie Nowicka (Sœur Josaphata), „Mes souvenirs concernant la communauté des soeurs dominicaines du Tiers-Ordre de rite oriental à Moscou“, Torokanie en Polésie, mars-avril 1933, 35 Seiten). In der Akte im AFMM entdeckt man auch das Zeugnis Pater Donat Nowickis („Moscou et Solowki“, 1936, 20 Seiten). Auf beiden Dokumenten stehen Warnungen, die striktes Stillschweigen über deren Inhalt, besonders vor der Presse, empfehlen. 60 Marmaggi an d’Herbigny, 9. Oktober 1931; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 19, Fasc. 124, fol. 36rv; Anhang „Sprawozdanie Księdza Jana Lewińskiego o położeniu Kościoła Rzymsko-Katolickiego w Rosji Sowieckiej“; ebd., fol. 39–91, italienische Übersetzung ebd., fol. 92–117. 61 Skalskis Bericht, 19. Mai 1933; S.RR.SS, AA.EE.SS., PCPR, Scat. 20, Fasc. 125, fol. 62– 80 (polnisch); S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 20, Fasc. 126, fol. 2–83 (italienische Übersetzung). Pater Sipiaguine scheint für diese Übersetzung zuständig gewesen zu sein, nachdem der General der Jesuiten, Ledóchowski, es abgelehnt hatte, einen Pater für diese
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weitere Berichte von einfachen Priestern.62 Anlässlich des von Apostolischen Administratoren im Exil (Skalski, Naskreski, Swiderski) eingereichten Zeugnisses gab der Heilige Stuhl im Februar 1933 Instruktionen für diese Berichte: Sie sollten „die Geschichte allen erlebten Leidens unter genauer Angabe der Orte, an denen sie festgenommen oder an die sie verbannt worden waren“ erzählen, eine Beschreibung „der von den Bolschewiken angeführten Gründe für die Festnahme oder die Internierung“ liefern, über die Prozessbedingungen berichten und „biographische Informationen zu den Personen, die über sie gerichtet oder die sie an die Zivilbehörde denunziert hatten“, geben. Außerdem sollten Angaben „zu den religiösen, moralischen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen der UdSSR sowie zur Geistesverfassung und zur Hoffnung der russischen Bevölkerung“ gegeben werden.63 Diese Elemente sollten das unmittelbare Agieren der Kommission Pro Russia leiten, aber auch den Seligsprechungsprozess unterstützen. Möglicherweise führte die Erfahrung, die man mit den Prozessen um die Märtyrer der Französischen Revolution gemacht hatte, den Heiligen Stuhl dazu, frühzeitig Material zu den Opfern der Verfolgung in Russland einzuholen. Damals war die katholische Administration, genauerhin die einzelnen Diözesen und die Römische Ritenkongregation, dazu genötigt gewesen, Historiker zu konsultieren, um den „Hass des Glaubens“64 nachzuweisen. Die Aussicht auf Seligsprechungsprozesse war zudem während dieser Zeit bereits da. Pius XI. bat darum, das Zeugnis eines italienischen Flüchtlings aus der UdSSR, der mit Bischof Baumtrog zusammen inhaftiert gewesen war, aufzubewahren, da dieses „Dokument […] in der Angelegenheit der Seligsprechung nützlich sein kann, wenn es vom Martyrium von Bischof A. Baumtrog
Aufgabe zu bestimmen; Notizen von d’Herbigny und Giobbe, 12. Juni 1933; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 20, Fasc. 126, fol. 84. Vgl. auch Ledóchowski an d’Herbigny, 22. Mai 1933; Archivum Romanum Societatis Iesu (künftig ARSI), Collegium Russicum, 1. 62 Polnischer Bericht „Jedenascie lat w Rosji Sowieckiej“; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 19, Fasc. 122; italienische Übersetzung „Undici anni nella Russia Sovietica“; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 19, Fasc. 123, fol. 2–170. Diese Übersetzung wurde von Sipiaguine erstellt. 63 Aufzeichnung über die Audienz um den 6. Februar 1933; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 11, Fasc. 74, fol. 13. D’Herbigny-Giobbe an Marmaggi, 18. Februar 1933; ebd., fol. 14f. 64 Diese Seligsprechungen wurden im 20. Jahrhundert immer zahlreicher: die Karmeliten aus Compiègne (1906), die Töchter der Barmherzigkeit in Arras und die Ursulinen in Valenciennes (1920), Ursulinen und Sakramentinen aus Bollène (1925) und die Märtyrer des Septembers (1926); vgl. Philippe Boutry, Hagiographie, histoire et Révolution française. Pie XI et la béatification des martyrs de septembre 1792 (17 octobre 1926), in: Achille Ratti, pape Pie XI. Actes du colloque de Rome (15–18 mars 1989), Rom 1996, 305–355.
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spricht“.65 Gleichermaßen wird im Bestand zu Anna Abrikosova, der wahrscheinlich aus den späten 1930ern stammt, daran erinnert, dass sie „während der bolschewistischen Verfolgung in Russland im Rufe der Heiligkeit gestorben“ sei und dass diese Materialien benutzt werden sollten, um „zur Erleuchtung vieler Menschen über das Leben von Frau Abricossoff zu schreiben“.66 Diese Zeugnisse hatten in die kollektiven westlichen Vorstellungen einen Mythos von heroischem Leben in den Konzentrationslagern eingeprägt, die stets mit den antiken Katakomben verglichen wurden. Manche Dinge hatten die westliche Vorstellung besonders getroffen, wie die Verheimlichung der religiösen Identität oder das Feiern der Messe in ungewöhnlichen Situationen und ohne angemessene Ausstattung.67 Als weiteres Beispiel lässt sich die Reaktion von Francesco Marmaggi, dem Nuntius in Warschau, auf ein Treffen mit Malecki anführen, einem erschöpften „Helden“, der 1934 in der polnischen Hauptstadt eintraf. Der Nuntius sprach insbesondere das „Heilige Opfer“ an, das Malecki „jede Nacht im Geheimen auf seinem armseligen kleinen Altar zu feiern pflegte“.68 Die Anerkennung des Martyriums der russischen Katholiken muss schließlich im Rahmen der Anerkennung des Martyriums von Gläubigen anderer Konfessionen, besonders der orthodoxen Kirche, betrachtet werden. Als 1929 die sowjetischen Konzentrationslager immer bekannter wurden,69 berichtete Georges Goyau den französischen Lesern des „Figaro“ über die orthodoxen Hierarchen und die „katholischen Nonnen“ in Solovki.70 Somit begann in den späten zwanziger Jahren die Vorstellung aufzukommen, dass die sowjetischen Konzentrationslager ein Ort interkonfessioneller Solidarität seien, eine Vorstel-
65 Aufzeichnung über die Audienz vom 14. August 1931; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 22, Fasc. 141, fol. 19r. 66 Anonyme Notiz, o. D.; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 37, Fasc. 212, fol. 20f., fol. 23r (italienische Übersetzung). Zu Anna Abrikosova vgl. Ambrosius K. Eszer, Ekaterina Sienskaja (Anna I.) Abrikosova und die Gemeinschaft der Schwestern des III. Ordens vom hl. Dominikus zu Moskau, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 40 (1970), 277–373. 67 Vgl. die Bilder einer Gruppe von litauischen Priestern in klerikaler und in Laienkleidung, die im Oktober 1933 befreit wurden; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 11, Fasc.76, fol. 33. 68 Vgl. das Bild von den Hausgegenständen, die von den gefangenen Priestern in der Messe benutzt wurden; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 11, fasc. 76, fol. 15. Vgl. auch Marmaggi an Pacelli, 29. April 1934; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 664 II, Fasc. 67, fol. 22f. 69 Vgl. Nicolas Werths Einleitung im Buch von Raymond Duguet, Un bagne en Russie rouge, Paris 2004 [1927], 7f. 70 Georges Goyau, Dieu chez les Soviets, Paris 1929, 113f.
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lung, die in der katholischen Welt bis zum Pontifikat Johannes Pauls II. bestehen bleiben sollte.71
Der Kreuzzug der Gebete und seine Ungereimtheiten72 Der bereits erwähnte Brief an Kardinal Pompilj vom 2. Februar 1930 war die erste päpstliche Nachricht, die die russische Verfolgung der Kirchen eindeutig als „Martyrium“ beschrieb. In diesem Text kommt der Appell an die Einheit der Kirche auch sehr klar zum Vorschein, die theologischen Divergenzen werden jedoch nicht unterstrichen. Im Gegenteil insistiert der Text auf dem alleinigen Glauben an Christus, „damit die Menschen und Völker so schnell wie möglich zur einzigen Herde des einzigen Retters und Befreiers zurückkehren“.73 Dieser Brief ist schließlich ein Appell an alle Gläubigen zu einem gemeinsamen „Kreuzzug“ von Gebeten, angeführt durch den Papst. Dieser Appell wurde von den meisten gehört: Er stieß auf allgemeine Zufriedenheit im Westen, bei den Orthodoxen, aber auch bei den Protestanten, Juden und Muslimen. In diesem multikonfessionellen Rahmen war die katholische Ausarbeitung einer Spiritualität der Verfolgung als Reaktion auf die Gewalt, die über die traditionellen ethnischen und religiösen Solidaritäten hinausging, etwas vollkommen Neues. Jedoch kamen einige Kritiker durch die offizielle Stimme der russischen Orthodoxie zum Vorschein. Der katholische Kreuzzug des Gebets wurde von der Sowjetregierung in seiner primären militärischen Bedeutung interpretiert und der Metropolit Sergius bekräftigte in einer wohlbekannten Antwort an die Presse, dass es „religiöse Verfolgung in der UdSSR
71 Andrea Riccardi führt in Bezug auf die Solidarität zwischen katholischen und orthodoxen Gläubigen im Sokol’niki-Gefängnis (Moskau) und im Solovki-Lager verschiedene Beispiele an. Letzteres wurde in der christlichen Erinnerung rasch zu einem Ort von besonderer Bedeutung, nicht nur, weil viele Gläubige dort gefangen gehalten wurden, sondern auch wegen der „Schändung“ dieses monastischen Ortes, der Veruntreuung seiner ursprünglichen Zweckbestimmung; dies machte daraus – in einer letzten Wende – einen Ort der Heiligung der gefolterten Christen; Andrea Riccardi, Il secolo del martirio, Mailand 2000, 36f. In Vorbereitung des Heiligen Jahrs 2000 wurden von den örtlichen Kirchen Zeugnisse zu zeitgenössischen Märtyrern gesammelt, die für die „Commissione nuovi martiri“ in Rom und die Geschichte zusammengefasst wurden; Roman Dzwonkowski, Losy duchowieństwa katolickiego w ZSSR, 1917–1939, Martyrologium, Lublin 1998; Irina I. Osipova, Se il mondo vi odia ...: martiri per la fede nel regime sovietico, Mailand 1997. 72 Vgl. Laura Pettinaroli, „La campagna di preghiera per la Russia del 1930: una crociata?“ Vortrag vom Oktober 2005 auf einer Tagung in Eichstätt, organisiert durch das „Pontificio Comitato di Scienze Storiche“. 73 Acta Apostolicae Sedis 22 (1930), 89–93.
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nie gegeben hat – und dass es gegenwärtig auch keine gibt“.74 Zudem hatten die Bildung einer „religiösen Front“ und der Begriff „Kreuzzug“, der in besagtem Brief verwendet wurde, das Papsttum in eine seltsame Lage gebracht. Die Aussicht auf eine politische Instrumentalisierung dieses Kreuzzuges sowie auf das Risiko eines ideologischen Kriegs der „Zivilisation“ gegen das „barbarische“ Russland wurde vom Papst nicht gänzlich in Betracht gezogen. Er begann die politischen Konsequenzen dieses Kreuzzugs zu fürchten, besonders seitdem der vorsichtige Pacelli an der Spitze des Staatssekretariats stand.75 Allerdings sollten die wachsenden internationalen Spannungen in den dreißiger Jahren den Heiligen Stuhl dazu zwingen, immer mehr Obacht auf die politischen Risiken dieser Kreuzzüge zu geben,76 sodass zwischen 1934 und 1939 die katholische Solidarität mit den verfolgten russischen Gläubigen noch mehr in Richtung Spiritualisierung tendierte.
Das Gebet der Katholiken für die verfolgten russischen Gläubigen Nach dem Kreuzzug vom März 1930 etablierte sich das Gebet der Katholiken im Okzident für die verfolgten russischen Gläubigen, das niemals seine unionistische, ökumenische Dimension verlor, auf einer permanenten Ebene. Im Juni 1930 befahl Papst Pius XI. dem Klerus des lateinischen Ritus, am Ende der Heiligen Messe die Gebete Leos XIII. (anfangs für die Lösung der Römischen Frage) mit der Intention für „Russland“ zu sprechen.77 Aber nicht nur Rom setzte sich dafür ein, das Gebet für Russland zu verbreiten, sondern auch die Gläubigen ergriffen die Initiative. Seit 1931 war die „Kommunion der katholischen Kinder für die russischen Kinder“ darum bemüht, auf Initiative eines schweizerischen Priesters während der Woche um den 8. Mai (Jahrestag der ersten Kommunion von Teresa vom Kinde Jesu) Kinderkommunionen zu organisieren, um „die Rettung der russischen Kinder“ zu unterstützen.78 Jedes katholische Kind sollte die von sowjetischen Kindern erlittenen und begangenen Sünden durch das eigene Opfer aufwiegen. Im Mai 1931 74 Eine französische Version wurde publiziert in: V.O.K.S. Organe de la société pour les relations culturelles entre l’U.R.S.S. et l’étranger 1 (1930), H 3, 33–36. 75 Pacelli an Borgongini Duca, 13. Februar 1930; S.RR.SS., AA.EE.SS., Russia, Pos. 667, Fasc. 73, f. 60r. Vgl. auch verschlüsselte Telegramme Pacellis vom 13. Februar 1930 an die Nuntien in Deutschland und in Frankreich; ebd., fol. 61r und 62r. 76 Philippe Chenaux, L’Église catholique et le communisme en Europe. 1917–1989: de Lénine à Jean-Paul II, Paris 2009, 117–146 („Guerre juste ou guerre sainte?“). 77 Actes de S. S. Pie XI, Bd. 6, Paris 1934, 223f. 78 „Prière des enfants en l’honneur de Ste Thérèse de l’Enfant Jésus pour le salut des malheureux petits russes“ 13,2 mal 8,1, cm, éditions Salvator, Mulhouse; Archives of the Carmel
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erwies sich diese Initiative als großer Erfolg: „Tausende von Kindern hatten an jedem Fleck des Universums ihre Kommunion für ihre kleinen verlassenen oder einer satanischen Verdorbenheit ausgelieferten Brüder geopfert“.79 1933 erteilte Pius XI. dieser Initiative den päpstlichen Segen, die aus „sehr effizienten Gebeten […] für so viele Hunderttausende von armen kleinen Unschuldigen, die in Russland litten“, bestand.80 Eine weitere bemerkenswerte Bewegung war die Mobilisierung der kontemplativen Schwestern für Russland. 1929 war in Locarno die „Pia opera pro Russia“ gegründet worden, eine Gebetsgemeinschaft, die einige hundert „Klostermitglieder“ (im Jahre 1931 waren es 753) umfasste. Der örtliche Apostolische Administrator ermutigte die Oberen dieser weiblichen Ordensgemeinschaften, die „Waffen“ für das „arme Russland“ zu verdoppeln, das heißt, die „Gebete“ und „Opfer“ zu vervielfachen.81 Im März 1936 wurde diese Initiative unmittelbar vom Heiligen Stuhl verbreitet, auch wenn es keinen Beweis für einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Initiativen gibt. Der Staatssekretär erinnerte daran, dass der katholische Klerus „nun auf einige wenige Dutzend von Priestern, die noch frei sind“, reduziert sei, und behauptete, dass die katholische Kirche das „Hauptziel“ der sowjetischen antireligiösen Politik sei, und zwar „wegen ihrer disziplinierteren Organisation und ihrer tieferen Vitalität“ sowie ihrer Ablehnung von jeder Art von „Kompromiss“. Nicht nur interkonfessionelle Solidarität, sondern eine „Lenkung des Märtyrertums“ im sowjetischen Russland forderte die katholische Kirche hier ein. Angesichts der schweren Verfolgung musste jedoch die Politik eine rein spirituelle werden: „Der Heilige Vater, sagt Pacelli, vertraut nur auf das Gebet“, besonders auf das Gebet von Mönchen und Nonnen, die überall auf der Welt dazu eingeladen waren, „Gebete und Opfer für Russland zu bringen […] und dabei jede Art von Öffentlichkeit zu meiden, die in Russland die traurige Folge haben könnte, die religiösen Verfolgungen noch grausamer zu machen“.82 Zu dieser Zeit löste sich die Anpranof Lisieux (künftig ACL), S-9 7. Zum Ursprung dieser Bewegung vgl. Pettinaroli, La politique (wie Anm. 33), 1071f. 79 Croisade d’innocence contre la grande pitié des petits russes, in: Les Annales de Sainte Thérèse de Lisieux 8 (1932) H 4, 128. 80 D’Herbigny an Besson, 11. April 1933; S.RR.SS., AA.EE.SS., PCPR, Scat. 13, Fasc. 87, fol. 92f. Dieses Schreiben wurde am 20. April in „La Semaine catholique de la Suisse romande“ veröffentlicht, dann in einer gesonderten Abhandlung „Nouvelle approbation romaine en faveur de la communion universelle et annuelle de l’enfance catholique pour le salut de l’enfance russe“, Imprimatur 24. April 1933; ACL, S-9 7. 81 Rundschreiben von Bacciarini an „révérende mère“, 18. Februar 1931; S.RR.SS., PCPR, Scat. 4, Fasc. 28, fol. 4r. 82 Rundschreiben von Pacelli, 4. März 1936; S.RR.SS., AA.EE.SS., Arch. Nunz. Italia, Pos. 9, Fasc. 3, fol. 4–7.
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gerung sowjetischer Verfolgungen von der konkreten Situation der russischen Gläubigen (die hauptsächlich orthodox waren) und nahm eine neue Richtung: ein erneuertes, spezielleres Gebet für Russland. Dadurch, dass die Wahl auf das Gebet von Frauen fiel, das in der Stille der Klöster gesprochen wurde, wurde das Zeichen für ein bewusstes Verlassen des politischen und kämpfenden Ringens gesetzt. Durch diese unerwartete Mobilisierung von Frauen und Kindern wurde das Gebet für Russland in zwei Dimensionen „neu geladen“, die sich in der Spiritualität dieser Zeit häufig ergänzten: einerseits Unschuld und Reinheit, auf der anderen Demütigung und Opfer, die als Internalisierung und Sublimierung der staatlichen Gewalt interpretiert werden können.
Schlussfolgerung Obwohl die Geschichte der interkonfessionellen Beziehungen durch Jahrhunderte voller Auseinandersetzungen stark belastet ist und sich manchmal sogar zu wiederholen scheint, konnten einige besondere Ereignisse tiefgreifende Veränderungen herbeiführen: Dies war während der Zeit des antireligiösen Kampfes im sowjetischen Russland der Fall, der sich von 1917 bis 1939 erstreckte. Die Verfolgung aller Religionen hat paradoxerweise dazu beigetragen, dass sich die interreligiösen und besonders die katholisch-orthodoxe Beziehung veränderten, sowohl in Russland als auch weltweit. In den frühen zwanziger Jahren wurde Gewalt, obwohl sie im alltäglichen Leben der Katholiken präsent war, vom Oberhaupt der Kirche ausdrücklich abgelehnt, um die Verhandlung mit der Sowjetmacht lebendig zu erhalten und die katholische Minderheit zu schützen. Andererseits erkannte Rom an, dass die Unterdrückung der orthodoxen Kirche eine tatsächliche Verfolgung von Religion war und engagierte sich in ihrer Verteidigung. Im Westen brachte die Solidarität mit Russland große materielle Unterstützung mit sich, zuweilen jedoch auch Missverständnisse auf katholischer Seite und Sorgen auf Seiten der orthodoxen Emigranten. Die großen politischen Veränderungen der späten Zwanziger brachten eine neue Ordnung der Dinge mit sich, die das Schachbrett der interkonfessionellen Beziehungen leicht vereinfachte. Nach einer kurzen, aber intensiven Phase der religiösen Offensiven, die durch den universellen und interreligiösen Kreuzzug der Gebete für die „Märtyrer“ 1930 bestimmt war, entwickelte sich die Leitung der katholischen Kirche in Richtung einer eigenständigeren Politik, die aus einem erneuerten Gebet für Russland bestand. Dieses lag in den Händen von Randgruppen der öffentlichen Meinung, die per Definitionem unpolitisch waren, nämlich Frauen und Kinder. Zusammengefasst kann man sagen, dass
Die katholische Kirche und die Verfolgung der Kirchen in Russland
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neben dem allgemein bekannten dogmatischen Ringen des Katholizismus – genannt seien die Enzyklika „Divini redemptoris“ vom März 1937 oder die Rezension „Lettres de Rome sur l’athéisme“ in den antikommunistischen Medien seit 1936 – es auch wichtig ist, die Dimension der Frömmigkeit zu beachten. In Bezug auf Russland musste die katholische Spiritualität eine Spiritualisierung der Gewalt einbeziehen, das heißt Gewalt wurde nicht legitimiert, sondern es musste ein Modus gefunden werden, um mit und nach totaler Gewalt zu leben, die den Katholizismus in Russland am Vorabend des Zweiten Weltkriegs fast zerstört hatte. Schließlich müssen wir in einer Langzeitperspektive, die die richtige Maßeinheit für die Erinnerung ist, daran erinnern, dass die Verfolgung in Russland eine Art Matrix darstellt, um die religiöse Gewalt des 20. Jahrhunderts zu verstehen. 1994 stellte Papst Johannes Paul II. die Märtyrer des 20. Jahrhunderts als eine Art ökumenischen Anreiz dar: „In unserem Jahrhundert sind die Märtyrer zurückgekehrt, häufig unbekannt, gleichsam ‚unbekannte Soldaten’ der großen Sache Gottes. Soweit als möglich dürfen ihre Zeugnisse in der Kirche nicht verlorengehen. […] Der Ökumenismus der Heiligen, der Märtyrer, ist vielleicht am überzeugendsten. Die communio sanctorum, Gemeinschaft der Heiligen, spricht mit lauterer Stimme als die Urheber von Spaltungen.“83 Daher plante Piero Marini, der die päpstlichen Zeremonien leitete, während der Eucharistiefeier, die am Sonntag, dem 7. Mai 2000 stattfand und der der Papst im Kolosseum unter dem Beisein von Vertretern der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften vorsaß,84 an acht „Gruppen von Zeugen des Glaubens im 20. Jahrhundert“ zu erinnern. Die erste davon waren „Christen, die Zeugnis ablegten von ihrem Glauben unter dem sowjetischen Totalitarismus. Zwei bezeichnende Zeugnisse werden vorgelesen: Das erste stammt von dem russischen orthodoxen Patriarchen Tichon, während das zweite von einem anonymen Zeugen aus dem Gulag auf den Solovki-Inseln kommt. Beide berichten vom Ökumenismus des Leidens, der Katholiken und Orthodoxe eint“.85
83 § 37 des Apostolischen Schreibens „Tertio millennio adveniente“, 10. November 1994, URL: http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/apost_letters/documents/hf_jp-ii_apl _10111994_tertio-millennio-adveniente_ge.html (eingesehen am 9. März 2012). Hervorhebungen im Original. 84 Piero Marini, Notificazione „Cappella papale: commemorazione ecumenica dei testimoni della fede del secolo XX“, 29. April 2000, URL: http://www.vatican.va/news_services/liturgy/documents/ns_lit_doc_20000507_notif-test-fede_it.html (eingesehen am 9. März 2012). 85 Piero Marini, „Ökumenische Gedenkfeier von Glaubenszeugen im 20. Jahrhundert. Pressekonferenz“, URL: http://www.vatican.va/news_services/liturgy/docum ents/ns_lit_ doc_20000507_testimoni-fede_en.html (eingesehen am 9. März 2012).
Norbert Köster
„Viele mexikanische Bischöfe sind Revolutionäre“ Der Vatikan, die Cristiada und der mexikanische Episkopat Welche Rolle der Vatikan bei der Cristiada, dem bewaffneten Aufstand der mexikanischen Katholiken gegen die Regierung in den Jahren 1925 bis 1929, spielte, ist bislang wenig erforscht. Unterstützte der Vatikan den bewaffneten Kampf? Oder duldete er die Cristiada, um eine gute Verhandlungsposition gegenüber der Regierung zu bekommen? Welche Rolle spielte der mexikanische Episkopat? Ein Nuntiaturbericht aus Havanna gibt hier einen interessanten Einblick. Der Bischof von Veracruz, Rafaele Guizar, wurde im Mai 1927 aus Mexiko ausgewiesen und lebte seit Ende 1927 auf Kuba im Exil. Am Morgen des 18. Mai 1928 machte er in Havanna einen Besuch in der Apostolischen Delegatur. Der Auditor in der Delegatur, Liberato Tosti,1 war sehr überrascht, da der mexikanische Bischof in der diplomatischen Vertretung des Vatikans ein seltener Gast war. Guizar erklärte kurz und bündig, er wolle fünf Dinge zu Protokoll geben: 1. Viele mexikanische Bischöfe seien Revolutionäre. 2. Die drei Bischöfe in Rom seien es. 3. Der Erzbischof von Mexiko habe 14.000 Dollar, die er aus Rom bekommen habe, für den Kauf eines Dampfschiffes und die Beschaffung von Munition gebraucht. 4. Bischof Díaz von Tabasco besitze nicht das Vertrauen des Episkopates. Außerdem sei er Indianer und halte es, wie alle Indianer, mit der Wahrheit nicht so genau. Und schließlich: 5. Alle Jesuiten seien ebenfalls Revolutionäre. Am Nachmittag setzte sich Tosti hin und schrieb einen Bericht an Staatssekretär Pietro Gasparri, dem er Überlegungen zur Redlichkeit des Besuchers und dessen Motiven anfügte. Tosti schrieb, Guizar sei wahrscheinlich von der Meldung aufgeschreckt worden, Díaz solle Erzbischof von Mexiko werden. Falsche Motive könne er bei Guizar nicht entdecken, zumal dieser im Ruf der Heiligkeit stehe. Gut zwei Wochen später, am 5. Juni 1928, traf der Bericht in Rom ein und landete wenige Tage später im Archiv.2 Der Besuch Guizars in der Apostolischen Delegatur gibt einen guten Einblick in das Geschehen. 1 Vgl. Annuario Pontificio 1928, 523. 2 Segretaria di Stato, Sezioni per i Rapporti con gli Stati, Archivio Storico, Rom (künftig S.RR.SS.), Congregazione per gli Affari Ecclesiastici Straordinari (künftig AA.EE.SS.), Messico, Pos. 521, Fasc. 229, fol. 37r, 38r.
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Norbert Köster
Die Cristiada Guizar wurde, wie viele Bischöfe in den Jahren 1926 bis 1929, des Landes verwiesen. Seit 1926 kämpften die Katholiken, angeführt von der Liga Nacional para la Defensa de la Libertad Religiosa (kurz LIGA), gegen den antikirchlichen Kurs des Präsidenten Plutarco Elías Calles. Dieser hatte in der sogenannten Ley Calles äußerst scharfe Ausführungsbestimmungen zur Verfassung von 1917 erlassen: Alle kirchlichen Gebäude wurden enteignet, die Schulen an den Staat überschrieben, alle ausländischen Priester ausgewiesen, öffentliche Gottesdienste verboten und so weiter. Der Widerstand der Katholiken bestand zunächst aus einem Wirtschaftsboykott und verschiedenen publizistischen Kampagnen. In den Jahren 1927 bis 1929 entwickelte sich daraus ein bewaffneter Kampf katholischer Guerilla-Truppen gegen die mexikanische Armee, dem etwa 90.000 Menschen zum Opfer fielen. Im Jahr 1929 kam es zu Vereinbarungen zwischen Kirche und Staat, die einen Modus Vivendi ermöglichten. Gegen diese Vereinbarungen gab es massive Proteste seitens vieler Bischöfe, Priester und Laien. Grundsätzlich wurde der Konflikt erst 1992 durch eine Verfassungsänderung beendet, für die sich Papst Johannes Paul II. sehr eingesetzt hatte. Die Cristiada ist auf mexikanischer Seite durch die Untersuchungen von Jean Meyer, Moisés González Navarro und anderen gut erforscht.3 Da die Akten im Vatikanischen Archiv bis 2006 nicht zugänglich waren, musste die Frage offen bleiben, wie der Vatikan in dieser Angelegenheit agiert hatte. Was wusste der Vatikan? Wie dachte er? Warum schwieg er zu der Anwendung von Gewalt? Die jetzt zugänglichen Unterlagen können diese Frage weitgehend beantworten.
Der Vatikan und Mexiko Was passierte nun mit den Informationen Guizars im Vatikan? Tostis Schreiben war einer der Berichte, die in Nuntiaturen wenigstens wöchentlich angefertigt und nach Rom geschickt werden. Rom wurde zu dieser Zeit von 28 Nuntiaturen und sechs Delegaturen in aller Welt regelmäßig detailliert über die Lage der Kirche und politische Entwicklungen im Land informiert.4 Die Mexiko betreffenden Berichte kamen vor allem aus den Delegaturen Mexiko und Washington. Die Bestände zu Mexiko im Vatikanischen Archiv sind für die Zeit Pius XI. 3 Moisés González Navarro, Cristeros y agraristas en Jalisco. 3 Bde., México 2000–2003; Jean A. Meyer, La cristiada. 3 Bde., México, 1973–1976 (letzte Neuauflage 1991); María Alicia Puente Lutteroth, Movimiento cristero. Una pluralidad desconocida,. México 2002. 4 Vgl. Annuario Pontificio 1928, 519–524.
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und seine Staatssekretäre Pietro Gasparri und Eugenio Pacelli sehr umfangreich. Allein der Bestand der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten verzeichnet für die Jahre 1922 bis 1939 unter Messico 235 jeweils etwa hundertseitige Faszikel, dazu kommt ein Pressearchiv von 156 Faszikeln. Tostis Bericht landete schnell in den Akten. Doch wurde mit diesen Akten gearbeitet? Wurden Informationen ausgewertet und zusammengefasst? Oder war eine Akte de facto bereits im Archiv? Eine eingehende Auswertung der Akten der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten lässt sich für die zwanziger Jahre nicht erkennen. Staatssekretär Gasparri sichtete letztlich allein die eingehende Post. Waren nach einigen Wochen mehrere Berichte zu Mexiko in Rom eingetroffen, bestätigte der Staatssekretär mit einem kurzen dispaccio deren Eingang, zumeist ohne dass er inhaltlich darauf einging. Die Kongregation arbeitete nicht eigenständig mit den Informationen weiter. Sie wurde in der Kurienreform Pius’ X. 1908 in das Staatssekretariat integriert und verlor immer mehr an Bedeutung. In den zwanziger Jahren war sie nicht mehr für das Bearbeiten, sondern vor allem für das Archivieren von Unterlagen zuständig. Dies war im 19. Jahrhundert noch anders, als die Behörde mit einem großen Stab an Beratern dem Staatssekretär äußerst präzise Beurteilungen zur Lage der Kirche in allen Teilen der Welt erstellte. Unter Gasparri war der Sekretär der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten, Borgongini Duca, zwar gelegentlich Adressat eingehender Briefe, die Antworten aber, wenn es denn welche gab, schrieb der Kardinal in der Regel selbst. Die wenigen Kardinäle der Kongregation trafen sich etwa zehnmal im Jahr, um mit dem Staatssekretär über die Lage der Kirche in einzelnen Ländern zu sprechen. Dafür bereitete die Kongregation kurze Dossiers vor, die vor allem Auszüge aus Nuntiaturberichten und anderer Korrespondenz enthielten. In den Jahren 1922 bis 1931 gab es zur Lage der Kirche in Mexiko vier kurze Sitzungen der Kongregation, von denen in drei über die Ausweisung beziehungsweise Ernennung eines Delegaten beraten wurde.5 In einer Sondersitzung im Juli 1926 wurde aufgrund mehrerer aktueller Anfragen von Bischöfen ebenfalls sehr kurz über den Umgang mit der Ley Calles gesprochen.6 Allerdings lässt das Protokoll nur in einer Sitzung erkennen, dass ein Kardinal über nähere Kenntnisse zur Geschichte und zu der besonderen Situation der Kirche in Mexiko verfügte. Der Vatikan hatte also zu dieser Zeit keine Fachabteilung für Lateinamerika und somit auch keine Fachkenntnisse. Nur theoretisch war der Vatikan über alles, was Mexiko betraf, bestens informiert. Denn neben den Berichten aus den Delegaturen finden sich 5 Die Sitzungen Nr. 1259 vom 19. März 1923, Nr. 1263 vom 15. Juli 1923 und Nr. 1276 vom 15. Juni 1924; vgl. S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones 1923 und 1924. 6 Sitzung Nr. 1292, 18.7.1926; vgl. S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones 1926.
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im Archiv zahllose Briefe und Memoranden von Bischöfen und anderen Personen mit umfangreichen Einschätzungen zur Lage in Mexiko. Hinzu kam das immense Pressearchiv eines amerikanischen Jesuiten, das Delegat Pietro Fumasoni Biondi paketweise von Washington nach Rom schickte, das dort aber nicht ausgewertet wurde. Dass der Vatikan auf wesentliche, am Horizont aufziehende Probleme nicht rechtzeitig reagierte, lag ganz wesentlich an Gasparri, der sich zwar redlich mühte, aber die Informationsflut nicht im Entferntesten bewältigen konnte und deshalb nur auf das reagierte, was ihm bekannte Vertrauensleute als wichtig meldeten. Für Mexiko ganz wesentliche Informationen zur sozialen Frage, zu ethnischen Spannungen, zum schwierigen Verhältnis zu den USA, zum teils korrupten Klerus und zu vielem anderen sind im Vatikan vorhanden, aber eben nur in den Akten einer Behörde, die die Informationen nicht verwertete. Gasparri ersetzte die Arbeit einer Fachabteilung durch das Vertrauen auf einzelne Personen, die in das Geschehen involviert waren.
Die Delegatur in Mexiko Zurück zu dem Brief aus Havanna. Die Informationen aus Tostis Brief wurden von Gasparri nicht weiter verfolgt. Erst ein halbes Jahr später, im Dezember 1928, glaubte Gasparri einem Informanten, dass ein Bischof Waffen gekauft habe. Dass die Informationen Guizars nicht weiter verfolgt wurden, hing auch damit zusammen, dass der Absender des Berichtes, Tosti, nur Auditor der Delegatur war und keine Bischofsweihe besaß. Gewöhnlich verfasste ein Auditor nur Berichtsentwürfe für den Nuntius, die dieser zu korrigieren und dann mit seiner eigenen Unterschrift abzusenden hatte. Mit Berichten von Auditoren und erst recht von Sekretären ging Gasparri ganz anders um, wie aus den Akten deutlich zu erkennen ist. Im Falle Mexikos hatte die Nichtbeachtung des Schreiben Tostis schwere Folgen. Als Nuntius Filippi im Januar 1923 nach der Teilnahme an der Grundsteinlegung zum Monument Cristo Rey auf dem Cerro del Cubilete, etwa 300 Kilometer nordwestlich von Mexiko-Stadt, ausgewiesen wurde, war Gasparri äußerst irritiert. Es folgte ein Notenwechsel mit der Regierung, der jedoch letztlich keine Klärung brachte. Noch zweimal ernannte der Vatikan einen Delegaten,7 aber die Bischöfe Serafino Cimino und Giorgio Guiseppe Caruana blieben 1925 und 1926 jeweils nur wenige Wochen in Mexiko. Beide wurden nach Reisen in die USA nicht wieder ins Land gelassen. Caruana 7 Die Instruktionen für sie sind kurze Texte, die nur auf die Schwierigkeiten mit der Regierung hinweisen, aber keine klare Zielvorstellung erkennen lassen; vgl. die Instruktion für Cimino, 17. Januar 1925; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 489, Fasc. 13, fol. 67r–70r.
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wartete eineinhalb Jahre in Washington auf ein Visum, das ihm nicht erteilt wurde. Diese diplomatischen Schwierigkeiten haben einen Großteil der vatikanischen Kapazitäten für Mexiko absorbiert. Das Engagement ist verständlich: Ohne einen Delegaten war es kaum möglich, auf Augenhöhe mit der Regierung zu verhandeln und die Bischöfe zu kontrollieren. Das Fehlen eines Delegaten versuchte Gasparri durch den Delegaten in Washington, Erzbischof Pietro Fumasoni Biondi,8 auszugleichen. Fumasoni war jederzeit telegrafisch zu erreichen und hielt zudem die Kommunikation zu denjenigen mexikanischen Bischöfen aufrecht, die sich in Texas (Laredo) und Kalifornien (Los Angeles) aufhielten. Der spätere Kurienkardinal Fumasoni war ein exzellenter Diplomat, aber mit den USA mehr als genug beschäftigt. Er konnte sich Mexiko immer nur wenig widmen und war zwar über vieles, aber eben längst nicht alles im Bilde. Wenn er allerdings in Rom etwas als dringlich anmeldete, reagierte Gasparri sofort. In Mexiko-Stadt hielt der Priester Tito Crespi als Sekretär in der Apostolischen Delegatur unter äußerst schwierigen Bedingungen bis 1926 die Stellung.9 Er schrieb viele Berichte, die Gasparri durchaus las, auf die er aber im Normalfall nicht reagierte. In wesentlichen Fragen wurde Crespi übergangen. In Rom diskutierte man schon 1923 seine Qualität und die seiner Berichte.10 Auch die Bischöfe in Mexiko betrachteten Crespi allenfalls als Postbeamten. Schließlich hatten sie sich von einem einfachen Priester nichts sagen zu lassen. Die Nichtbesetzung der Delegatur in Mexico-City hatte also sehr verhängnisvolle Konsequenzen: Der Vatikan fühlte sich in Bezug auf Mexiko handlungsunfähig und war von 1923 bis 1929 ganz wesentlich damit beschäftigt, wieder einen Geschäftsträger in Mexiko zu installieren. Dass die Mexikanische Regierung die Delegaten auswies, war am Ende ein großes Eigentor. In der Ablehnung der Cristiada waren der Vatikan und die mexikanische Regierung gleicher Meinung. Doch die mexikanische Regierung hatte eine große Aversion gegen ausländische Geistliche und hielt überdies die Delegatur irrtümlich für die Nachschubbasis der Revolutionäre im Episkopat. Doch davon wusste der Vatikan zu dieser Zeit nichts. Ebenso wenig wusste er von den Machenschaften einiger Bischöfe. Das war Bischof Rafaele Guizar bewusst und deshalb ging er in Havanna in die Delegatur.
8 Annuario Pontificio 1928, 524. 9 Das letzte Dispaccio Gasparris an ihn datiert auf den 19. Oktober 1926; S.RR.SS., AA.EE. SS., Messico, Pos. 483, Fasc. 4, fol. 19r. 10 Sessio 1259 vom 19. März 1923 und Sessio 1263 vom 15. Juli 1923; S.RR.SS., AA.EE.SS., Sessiones 1923.
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Die Bischöfe und die LIGA Guizar äußerte gegenüber Tosti, als die Cristiada längst in vollem Gang war, viele mexikanische Bischöfe seien „Revolutionäre“ und vor allem die drei Bischöfe in Rom seien es. Was er damit meinte, ist unmissverständlich: Diese Bischöfe seien für einen gewaltsamen Sturz der Regierung und unterstützten den Kampf der LIGA. Der mexikanische Episkopat war in dieser Frage gespalten. Die Dokumente aus dem Vatikanischen Archiv zeigen, dass der Vatikan lange gebraucht hat zu erkennen, dass einige Bischöfe den bewaffneten Kampf der LIGA sogar finanziell unterstützten. Schuld an dem langsamen Erkenntnisprozess im Vatikan waren die drei von Guizar erwähnten Bischöfe in Rom. Da Gasparri im Vatikan keine Fachabteilung hatte, vertraute er Bischöfen, die er persönlich kennen lernte. Bischöfe, die sich nach Rom aufmachten und es schafften, bei Gasparri eine Audienz zu bekommen, hatten gute Karten, dass ihr Anliegen Gehör fand. Das hatte sich im mexikanischen Episkopat herumgesprochen. Bereits im Oktober 1924 war der berühmte Erzbischof Francisco Orozco von Guadalajara, einer, der sich sehr früh und sehr lautstark mit den Behörden anlegte, nach Rom gereist und hatte dort in einer Eingabe an den Vatikan den Wirtschaftsboykott für erfolglos erklärt und den Papst zu einem klaren Wort aufgerufen, womit er natürlich einen Aufruf zu energischem Widerstand meinte.11 Ein Jahr später, im September 1925, tauchten die ersten Vertreter der LIGA in Rom auf und begannen, den Vatikan mit Eingaben und Memoranden zu traktieren.12 Etwa zur gleichen Zeit machten sich zwei Bischöfe nach Rom auf, Bischof José Maria González y Valencia von Durango und Bischof Miguel María de la Mora y Mora von San Luis Potosí. Sekretär Crespi schickte von Mexiko aus eine Warnung nach Rom und klärte Gasparri über die Absichten der beiden auf: Sie wollten zum Vorwurf Stellung nehmen, sie seien Revolutionäre, wollten eine Anweisung für den Delegaten erwirken und die Bedeutung der LIGA erklären.13 Mitte November schickten diese Herren tatsächlich vom römischen Collegio Pio Latino aus ein erstes mehrseitiges Promemoria an Pius XI.14 Nach einer Darstellung der Gesetzeslage und des Kampfes der Regierung
11 S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 483, Fasc. 3, fol. 10r, 11r/v, 12r–17r. 12 Gabriel Fernández Somellera und Miguel Palomar y Vizcarras schickten im Namen de katholischen Verbände Mexikos aus Rom ein Memorandum an den Papst; S.RR.SS., AA.EE. SS., Messico, Pos. 500, fasc. 22, fol. 4r–8r. 13 Crespi an Gasparri, 8. Oktober 1925; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 483, Fasc. 4, fol. 27r/v, 28r/v, 29r/v, 30r. 14 González y Valencia und Mora y Mora an Pius XI., 12. November 1925; S.RR.SS., AA.EE. SS., Messico, Pos. 502, Fasc. 23, fol. 33r–41r.
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gegen die Kirche sahen die Bischöfe nur eine Lösung: „Das einzige Mittel, das nach dem Urteil Vieler bleibt, ist das einer starken Organisation der Katholiken…“.15 Dieses Zitat ist bereits bezeichnend für die Politik der Bischöfe: Was sie in Wahrheit vorhatten, verschwiegen sie. Während die Bischöfe unter „potente organizzazione“ eindeutig eine politisch agierende Truppe verstanden, dachten Pius XI. und Gasparri an nichts anderes als eine innerkirchlich wirkende Organisation wie eine azione cattolica. Dennoch war Gasparri misstrauisch. Er schrieb dem ehemaligen Delegaten in Mexiko, Filippi, der inzwischen Erzbischof von Monreale in Sizilien war, und bat um eine Einschätzung der beiden Bischöfe. Filippi, dessen diplomatische Karriere nicht umsonst nach einem Zwischenspiel in der Türkei in Monreale endete, schilderte die Bischöfe in schwärzesten Farben, nannte aber als ihren eigentlichen Beweggrund die Unterdrückung der Delegatur. Auf die Spur eines aktiven Kampfes brachte er Gasparri nicht.16 Dieser musste den Eindruck bekommen, Filippi sei noch wegen seiner Ausweisung gekränkt und schenkte den beiden Gehör. Nachdem am 2. Februar 1926 das päpstliche Schreiben „Paterna sane“ erschien, reisten beide wieder ab und äußerten noch von der Reise in einem Brief an den Sekretär der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten, in Rom alles erreicht zu haben, was sie wollten.17
Päpstliche Schreiben Das eher kurze päpstliche Schreiben an die mexikanischen Bischöfe „Paterna sane“ beklagt in der ersten Hälfte die Ausweisung der Delegaten und die antikirchlichen Maßnahmen der Regierung. Im zweiten Teil verbietet es die Gründung einer katholischen Partei und empfiehlt die Katholische Aktion als wirksames Mittel zur Stärkung der Katholiken. In einer solchen Katholischen Aktion eröffne sich den Priestern „ein großes Feld religiöser, moralischer, kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Tätigkeiten mit dem Ziel, das katholische Gewissen der Bürger zu bilden, vor allem das der Jugend, sowohl der studierten, wie der Arbeiterjugend.“18 15 „L’unico rimedio che a giudizio di molti resta, è quello di una potente organizzazione dei cattolici…“ Ebd., fol. 33r (S. 7). 16 Filippi an Gasparri, 17. November 1925; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 501, fasc. 22, fol. 25r. 17 González und de la Mora aus La Coruña (Spanien) an Borgongini Duca, 3. Februar 1926; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 502, fasc. 23, fol. 87r–88r. 18 „… avendo davanti a sé un largo campo di azione religiosa, morale, culturale, economia e sociale allo scopo di formare la coscienza cattolica dei cittadini, e soprattutto della gioventù,
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Die nach Rom gereisten Bischöfe und viele andere sahen in der LIGA den Auftrag ausgeführt. Die Gewissensbildung bestand für sie vor allem darin zu verkünden, den Feinden der Kirche müsse Widerstand geleistet werden und mit ihnen dürften in keiner Art und Weise Verhandlungen geführt oder gar Geschäfte gemacht werden.19 Diese Grundhaltung vieler Bischöfe zog sich bis Ende der dreißiger Jahre durch und war die geistige Grundlage der Cristiada. Rom dagegen verstand unter der Katholischen Aktion eine innere Stärkung der Katholiken, damit sie die Situation aushielten und ihren Glauben nicht verlören. Auch das folgende päpstliche Dokument wurde in Mexiko anders interpretiert, als es in Rom gemeint war. Ein halbes Jahr später, nach Inkrafttreten der Ley Calles am 1. August 1926 und der Vertreibung zahlreicher Bischöfe, machte sich Bischof José Maria González, ermutigt von seinem ersten Erfolg, wieder nach Rom auf, nahm aber diesmal zwei andere Gesinnungsgenossen mit: den Bischof von León, Emeterio Valverde y Telles, und den von Tehuantepec, Jenaro Méndez del Rio. Diese Troika gewann wieder schnell Einfluss und bewirkte innerhalb kürzester Zeit ein zweites päpstliches Dokument: die Enzyklika „Iniquis Afflictisque“ vom 18. November 1926, die weitgehend auf ein Memorandum der drei zurückgeht.20 Diese Enzyklika schildert zunächst in aller Ausführlichkeit die Antikirchlichkeit der Verfassung, die massiven staatlichen Verfolgungen von Bischöfen, Priestern und Laien und die Enteignungen kirchlicher Gebäude und Schulen. Dann fährt Pius XI. fort: „Deshalb halten wir es, verehrte Brüder, für notwendig, kurz darzulegen, in welcher Art und Weise die Bischöfe, Priester und Gläubigen Mexikos sich zum Widerstand erhoben und eine Mauer zur Verteidigung des Hauses Israel errichtet haben und in ihrem Kampf fest geblieben sind.“21 Daran anschließend wird breit dargelegt, was die Bischöfe, Priester und Verbände angesichts der Verfolgungen unternommen haben. Am Ende werden sie mit verschiedenen Schriftzitaten ermuntert, wie Märtyrer der Verfolgung standzuhalten. Adressat des Schreibens war neben den Gläubigen vor allem die mexikanische Regierung. Ihr sollte dargelegt werden, was die si studiosa, sia lavoratrice.“ 19 Daher lehnen sie z.B. die Rückmietung enteigneter kirchlicher Gebäude strikt ab, während Gasparri darin kein Problem sah; vgl. Crespi an Gasparri, 30. Juni 1924; S.RR.SS., AA.EE. SS., Messico, Pos. 483, Fasc. 2, fol. 63r/v, 65r/v; und Gasparris Antwort, 29. Juli 1924; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 483, Fasc. 2, fol. 66r. 20 Bischöfe in Rom an Gasparri, 17. Oktober 1926; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 509, Fasc. 32, fol. 24r. 21 „Ora crediamo conveniente, Venerabili Fratelli, esporre brevemente in qual modo i Vescovi, i sacerdoti e fedeli del Messico siano insorti a resistere ed abbiamo opposto una muraglia a difesa della casa di Israele e siano rimasti fermi nella lotta [Ezech. XIII,5].“
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Katholiken Mexikos tun und dass sie dafür die Unterstützung des Vatikans hatten. Die vermeintliche Unterstützung des Vatikans beruhte auf einem fundamentalen Missverständnis dessen, was mit Martyrium gemeint war. Während Rom ein passives Martyrium, nämlich das Aushalten der Situation und den passiven Widerstand meinte, fühlten sich viele Mexikaner zum aktiven Martyrium ermuntert, dem aktiven Kampf unter Einsatz des Lebens.22 Genau das hatten die drei Falken beabsichtigt, und es ist nicht auszuschließen, dass sie dieses Missverständnis bewusst in Kauf nahmen. Schwer zu verstehen ist jedenfalls, dass Gasparri dies nicht bemerkte. Er verschlimmerte die Sache sogar noch, als er nach der Sitzung der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten vom 18. Juli 1926 in der äußerst angespannten Lage kurz vor Inkrafttreten der Ley Calles den mexikanischen Bischöfen den Rat gab, alles zu vermeiden, was wie eine Akzeptanz der Verfassung aussehen könnte.23 Während Gasparri eine Stärkung katholischer Wagenburgmentalität im Sinn hatte, verstand man dies in Mexiko als Aufruf zum Kampf. Es ist kein Wunder, dass nach „Iniquis afflictisque“ vom November 1926 der bewaffnete Kampf erst richtig losging.
Neue Bischöfe des Vertrauens Die Rolle der Falken in Rom konnte nicht ohne Widerstand der gemäßigteren Kräfte im Episkopat bleiben. Im Oktober 1927 machte sich deshalb Bischof Díaz y Barretto von Tabasco nach Rom auf. Vorher hatte er alle mexikanischen Bischöfe, die in den USA im Exil waren, gebeten, ihm Lagebeurteilungen nach Rom vorauszuschicken.24 In Rom schaffte Díaz es, das Vertrauen Pius’ XI. und Gasparris zu gewinnen. Seine Strategie war dabei überraschend einfach: Vor seinem ersten Gespräch in der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten reichte er eine Liste mit einer Beurteilung aller mexikanischen Bischöfe ein, jeweils drei bis vier, zum Teil vernichtende Zeilen.25 Für einen Monat gab es zwischen ihm und den drei Hardlinern in Rom noch einen Kampf um den Einfluss auf Gasparri, den die drei aber verloren und Anfang Dezember
22 Vgl. Díaz an Morrow, 24. Juli 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 521, Fasc. 231, fol. 54r, 55r, 56r. 23 Gasparri an Tosti, 21. Juli 1926; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 508, Fasc. 31, fol. 20r. 24 Díaz an die Bischöfe, 4. Oktober 1927; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 509A, Fasc. 46, fol. 28r. 25 Díaz an Borgongini, 27. Oktober 1927; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 509A, Fasc. 46, fol. 69r.
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von Gasparri nachdrücklich zur Abreise aufgefordert wurden.26 Dennoch blieb ihre Anwesenheit in Rom nicht gänzlich ohne Wirkung. Als in Sommer 1928 die Verhandlungen mit der Regierung Calles kurz vor dem Abschluss standen, beharrten Pius XI. und Gasparri zum Entsetzen der Verhandlungsträger in Mexiko auf Bedingungen, auf die Calles nicht eingehen konnte.27 Das und die Ermordung von General Alvaro Obregón am 17. Juli 1928 verlängerte schließlich die Cristiada um ein Jahr. Mit dem Abschluss des Modus Vivendi von 1929 kam es auch zu einem personellen Wechsel. Bischof Ruiz y Flores, der sich im Mai 1928 zum ersten Mal nach Rom aufgemacht hatte28 und Bischof Díaz y Barreto wurden nun offiziell Vertraute des Vatikans und nahmen als Delegat und Erzbischof von Mexiko-Stadt die Fäden in die Hand. Ihnen gelang es in den dreißiger Jahren aber kaum, die lautstarken Gegner des Modus Vivendi wie Erzbischof Orozco von Guadalajara und Bischof Manríquez von Huejutla in Schach zu halten. Unklar ist, ob sie dies auch wirklich wollten. Bischof Guizar hatte im Mai 1928 unter Punkt vier deutlich vor Díaz gewarnt. Diese Warnung verschwand ebenso wie andere im Archiv. Gasparri fehlten zur Beurteilung der Lage in Mexiko die Fachkenntnisse. Er wusste kaum etwas von der Lage im Land, kannte die Bischöfe nicht und durchschaute daher ihre eigentlichen Absichten nicht. Gasparri vertraute dem, der sich in Rom am besten präsentierte. Er handelte erst, als er zu ahnen begann, dass einzelnen Bischöfe sich den Anordnungen des Heiligen Stuhls widersetzten.
Waffenkäufe Bischof Rafael Guizar erhob schwere Vorwürfe gegen den Erzbischof von Mexiko, Mora y del Rio. Mora habe 14.0000 Dollar, die er von Rom bekommen habe, für Waffen ausgegeben. Zehn Tage vorher traf in Rom das Dankschreiben Moras für das Geld ein. Mora sprach darin sogar von 24.000 Dollar, also 10.000 mehr als von Guizar angegeben, und behauptete, das Geld für arme Priester verwendet zu haben. Dass die LIGA Geld für Waffen sammelte, vermutete Gasparri schon länger. Als die LIGA im Januar 1928 international Geld sammelte, erkundigten sich die Nuntien aus Bern und Paris, ob sie die Kollekte unterstüt26 Vgl. Gasparri an Fumasoni, 5. Dezember 1927; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 509A, Fasc. 47, fol. 50r. 27 Vgl. Gasparri an Fumasoni, 18. Juni 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 521, Fasc. 229, fol. 76r. 28 Vgl. Fumasoni an Gasparri, 21. Mai 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 521, Fasc. 228, fol. 49r.
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zen sollten. Gasparri antwortete umgehend, die LIGA sage nicht eindeutig, dass sie das Geld nicht für Waffen gebrauche und deshalb solle die Sammlung in keinem Fall unterstützt werden.29 Dass aber Bischöfe für den Kampf der LIGA Geld sammelten, ahnte er erst jetzt, im Mai 1928. Als er hörte, Bischof González – einer der drei aus Rom verwiesenen Bischöfe – sammle in Köln Geld und werde dabei von Kardinal Schulte unterstützt30, schickte er einen scharfen Brief an González mit der Aufforderung, Europa sofort zu verlassen.31 Anfang Dezember war es ihm dann zur Gewissheit geworden. In einem Brief an Delegat Fumasoni heißt es: „Mons. González, Erzbischof von Durango, hat Geld für die Munition der mexikanischen Kämpfer gesammelt. Eure Eminenz mögen ihn befragen und bei ihm gegen das oben Genannte protestieren. Im Falle einer bejahenden Antwort ermahne er ihn streng und sage ihm, dass dieser Ungehorsam gegen die ausdrücklichen Anordnungen des Heiligen Vaters bei diesem einen großen Schmerz hervorgerufen hat.“32 Diesem und ähnlichen Dokumenten lässt sich Gasparris klare Grundhaltung entnehmen: Kein Priester und Bischof darf den Kampf der LIGA unterstützen. Damit war es ihm sehr ernst. Aber ist damit eine grundsätzliche Verurteilung des Kampfes verbunden? Schloss sich Gasparri hier der Haltung an, die viele mexikanische Bischöfe hatten und die der spätere Delegat Leopoldo Ruiz in eben diesem Mai 1928 auf die Formel brachte, der Kampf der LIGA sei keineswegs unnütz, denn die Regierung habe ja eine äußerst wirksame Lektion erhalten?33
29 Gasparri an beide Nuntien, 28. Januar 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 517, Fasc. 221, fol. 25r/v-26r. 30 Diese Information kam vielleicht von Ruiz, der im Mai 1928 nach Rom reiste. Es ist aber noch unklar, ob er am 31. Mai bereits in Rom war. 31 Gasparri an González, 31. Mai 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 509A, Fasc. 50, fol. 26r. 32 „Mons. Gonzales [sic], Arcivescovo di Durango, ha chiesto denaro da servire per munizioni dei Messicani Combattenti. V. S. Illma e Revm l’interroghi, contestandogli quanto sopra. In caso di risposta affermativa l’ammonisca seriamente dicendogli che questa disubbidienza agli ordini espressi del Santo Padre ha recato allo stesso Santo Padre grave cordoglio.“ Gasparri an Fumasoni, 5. Dezember 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 517, Fasc. 221, fol. 62r. 33 „Questo però non vuol dire che la Difesa Armata sia stata inutile e continui ad esserlo adesso: difatti il Governo ha avuto una lezione molto efficace e confessa che questa lotta costa molte spese e molto sangue, onde è da credere che la disposizione che adesso mostra lo stesso Governo si debba, in parte al meno, alla Difesa.“ Aus einem Memorandum von Ruiz, das Fumasoni am 28. Mai 1928 an Gasparri schickte; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 521, Fasc. 229, fol. 24r/v, 25r (Brief Fumasonis) und 31r–33r (Memorandum Ruiz’).
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LIGA und Katholische Aktion Bischof Díaz schlug in einem Gespräch mit Borgongini am 5. November 1927 – Anfang November wurde er noch nicht zu Gasparri vorgelassen – eine Umwandlung der LIGA in eine Katholische Aktion vor.34 Dieses Anliegen wurde drei Tage später dem Papst vorgetragen, und Pius XI. unterstützte es voll und ganz. Er diktierte der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten, die LIGA solle vor die Wahl gestellt werden, zur Partei zu transformieren, die sich nicht katholisch nennen dürfe, oder die Waffen fallen zu lassen und Katholische Aktion zu werden.35 Dieses Programm konnte nicht durchgesetzt werden, auch und gerade weil viele Bischöfe es nicht teilten. Erst nach dem Modus Vivendi von 1929 wurde Bischof Manuel Fulcheri y Pietrasanta von Zamora, ein Italiener, mit der Durchführung beauftragt, ohne nachhaltigen Erfolg.36 Pius XI. und Gasparri hatten also eine klare Haltung: Alles, was den Namen katholisch trägt, weil es in institutioneller Verbindung zur Katholischen Kirche steht, hält sich aus dem Kampf heraus. Das Markenzeichen „katholisch“ darf darüber hinaus nicht verwendet werden, vor allem nicht für eine Partei, die sich im Kampf engagiert. Durch die Katholische Aktion sollten die Katholiken im Durchhalten gestärkt werden. Ihre Gewissen sollen so geschärft werden, dass sie vom Virus sozialistischer Weltanschauungen nicht beeinflusst würden. Die Kirche war nach Überzeugung der Päpste mit der antichristlichen modernen Welt völlig unvereinbar. Die Kirche konnte nur versuchen, sich innerlich zu stärken um wie die frühen Christen in der feindlichen Welt zu überleben. Im Bezug auf Mexiko hieß das: Die Cristiada ist eine Aktion irregeleiteter Katholiken, die durch die Katholische Aktion schnell in die Kirche zurückzuholen sind. Die, die sich zurückholen lassen, werden treue Schäfchen der Kirche. Die, die mit dem Kampf weitermachen wollen, werden eine politische Partei und bewegen sich damit außerhalb der Kirche. Sie müssen durch intensive seelsorgliche Anstrengungen zurückgeholt werden und sind im Falle des Misserfolgs für die Kirche verloren.
34 Vgl. das Protokoll des Gesprächs von Díaz und Borgongini, 6. November 1927; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 517, Fasc. 220, fol. 36r, 37r. 35 Vgl. Audienzprotokoll, 8. November 1927; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 517, Fasc. 220, fol. 27r/v und das Memorandum der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten, 9. November 1928; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 517, Fasc. 220, fol. 31r, 32r/v. 36 Vgl. eine interne Notiz der Kongregation vom Frühjahr 1930; S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 530, Fasc. 246, fol. 80r.
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Ergebnis Der Vatikan war zwar durch das Fehlen eines Delegaten in Mexiko in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, trug aber auch selbst dazu bei, dass der bewaffnete Konflikt nicht eher beendet wurde. Verfügbare Informationen wurden nicht gründlich genug ausgewertet, Verlautbarungen wurden nicht klar genug formuliert und lange wurde Bischöfen Vertrauen geschenkt, die den Vatikan in die Irre führten. Am 15. Oktober 2006 wurde Bischof Rafael Guizar durch Papst Johannes Paul II. als erster gebürtiger Lateinamerikaner heilig gesprochen.37 Sein Besuch in der Delegatur hat dabei wohl keine Rolle gespielt. Es wurde aber ein Bischof heilig gesprochen, der klar beim Namen genannt hatte, was in Mexiko vor sich ging – und der deswegen bei den Falken im Episkopat äußerst verhasst war. Im Vatikanischen Archiv gibt es eine ganze Akte mit weitgehend anonymen Anklagen gegen ihn.38 Die Heiligsprechung von 2006 kann man insofern noch als ein spätes, aber klares Wort des Vatikans zur Cristiada sehen.
37 Anerkennung des Wunders per Dekret vom 2. Juli 1994; AAS 87 (1995), 367–368. Seligsprechung am 29. Januar 1995; vgl. ebd., 834–839. 38 S.RR.SS., AA.EE.SS., Messico, Pos. 539, Fasc. 263.
Roberto Blancarte
Soziopolitische und religiöse Gewalt unter der Bedingung katholischer Hegemonie Der Fall Mexiko
Religiöser Wettbewerb und Gewalt Der Bundesstaat Chiapas in Mexiko ist zumindest seit dem Aufstand der sogenannten „Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung“ (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) von 1994 bekannt. Die Diskussionen zu der indigenen Bewegung haben jedoch dazu geführt, dass andere Elemente einer beständigeren Gewalt sowie die großen Schwierigkeiten, mit Auseinandersetzungen und Gewalt in den indigenen Gemeinden umzugehen, nur selten in den Blick gerieten. Dieser Text will die religiöse Gewalt in Mexiko in Zusammenhang mit anderen Formen der Gewalt erklären. Seine Hauptthese ist, dass das, was wir religiöse Gewalt nennen, nicht durch eine vermehrte religiöse Konkurrenz entsteht, sondern durch einen mangelhaften und manchmal eigennützigen politischen Umgang mit Pluralität. Laut einer nationalen Umfrage von 1980 erschien Chiapas mit nur 76,87 Prozent Katholiken und 11,46 Prozent Protestanten oder Evangelikalen als der Staat, in dem die wenigsten Katholiken lebten. Bis 1990 sank der Anteil der Katholiken auf 67,2 Prozent und derjenige der Protestanten und Evangelikalen stieg auf 16,2 Prozent. Im Jahr 2000 machten Katholiken 63,8 Prozent der Einwohner aus, während fast 22 Prozent Protestanten und Evangelikale waren. Die bedeutendste Ziffer hinsichtlich des Glaubens und der persönlichen Positionierung in Bezug auf die Religionen war jedoch diejenige, die den Nicht-Gläubigen zukam. Während der Anteil der Atheisten oder Agnostiker 1980 landesweit 3,1 Prozent betrug, belief sich in Chiapas die Prozentzahl der Menschen, die sich selbst als nicht religiös bezeichneten, auf zehn Prozent. Das Ergebnis der Zählung von 1980 hätte als Fehler angesehen werden können, aber zehn Jahre später wurden die Zahlen bestätigt. Tatsächlich stieg die Prozentzahl 1990 auf 12,72 Prozent an und in der Zählung von 2000 belief sich die Zahl der Personen, die sich selbst als Ungläubige betitelten, in Chiapas auf 13,06 Prozent, während der nationale Durchschnitt bei 3,5 Prozent blieb.1 Zu Beginn des 1 Die Volkszählung von 2010 zeigte einen leichten Rückgang von Nicht-Gläubigen in Chiapas (12,10 Prozent). Der Prozentsatz der Katholiken sank ebenfalls auf 58,30 Prozent und der der Evangelikalen und Protestanten stieg auf 19,20 Prozent.
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neuen Jahrtausends liegen von den 15 Gemeinden mit dem höchsten Prozentsatz an Nicht-Gläubigen in Mexiko dreizehn in Chiapas und die meisten von ihnen weisen einen hohen Anteil indigener Bevölkerung mit einem hohen Grad an Marginalität auf. Es stellt sich deshalb die Frage: Warum ist die Zahl der Nicht-Gläubigen in Chiapas so groß und warum ist sie so viel höher als der nationale Durchschnitt? Was verursachte diesen Rückzug von der Religion in einer Region, in der die indigene Bevölkerung so stark vertreten ist und in der die Religiosität niemals wirklich herausgefordert wurde?2 Einige Erklärungen wurden vorgebracht: Laut dem Nationalen Institut für Geografie, Statistik und Informatik (INEGI), welches für die nationale Volkszählung verantwortlich ist, identifizieren einige indigene Gruppen ihre religiösen Praktiken nicht als Religion, sondern eher als ihre Gewohnheiten, die Art wie sie Dinge traditionellerweise machten, also das, was gelegentlich als Sitten und Gebräuche bezeichnet wird. Eine andere Erklärung bezieht sich auf die große religiöse Rivalität nicht nur zwischen Katholiken, Protestanten und Evangelikalen, sondern auch zwischen Mitgliedern anderer Pfingstkirchen, Zeugen Jehovas, Mormonen und Adventisten. Demnach „kann der zunehmende Pluralismus in Zusammenhang mit einem intensiven religiösen Wettbewerb zwischen verschiedenen Kirchen dazu führen, dass einige Bevölkerungsgruppen sich selbst in einer undefinierten Situation wiederfinden oder es vorziehen, ihre religiöse Neigung in dieser Gruppe zu verbergen.“3 Allerdings gibt es eine andere, aus meiner Perspektive plausiblere Erklärung. Laut des INEGI ist die Prozentzahl der Nicht-Gläubigen in bestimmten Regionen oder bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen wie den Indigenen angestiegen, bei denen religiöse Differenz und die Verteidigung ihres Glaubens zu sozialen Spannungen geführt haben. Die Kategorie ohne Religion kann ebenso Bevölkerungen einschließen, die ihre Religionszugehörigkeit verbergen, wenn diese von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird oder wenn die Möglichkeit eines Konflikts mit religiösen Bezügen besteht.4
2 Gemäß der Volkszählung von 2000 war Oaxaca mit 1.127.137 gezählten Personen in dieser Kategorie der mexikanische Bundesstaat mit den meisten Indigenen und Chiapas war der zweitgrößte mit 910.145. Vgl. Carlos Garma und Alberto Hernández, “Los rostros étnicos de las adscripciones religiosas”, in: Renée de la Torre und Cristina Gutiérrez, Atlas de la diversidad religiosa en México, Mexiko-Stadt 2007, 207, Schaubild 6.2. 3 Instituto Nacional de Estadística, Geografía e Informática (INEGI), La diversidad religiosa en México, CD, Mexiko. Zitiert in Cristina Gutiérrez Zúñiga, Población ‘sin religión’, in: Torre und Gutiérrez, Atlas (wie Anm. 2), 122. 4 Ebd.
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Cristina Gutiérrez warnt vor eingefahrenen oder simplen Erklärungen: Nicht immer, wenn es einen religiösen Konflikt gibt, gibt es hohe Bevölkerungszahlen ohne Glauben, und noch viel weniger werden wir mehr Zahlen [von Ungläubigen] vorfinden, während mehr Konflikte herrschen. Wir reden hier über eine mögliche Strategie, die nicht nur angesichts eines bestimmten Ereignisses eingenommen wird, sondern möglicherweise in einer Wettbewerbs- und Konfliktsituation, in der das Nicht-Teil-Sein einer bestimmten Gruppe eine Art Schutz oder Möglichkeit zur Vermeidung von Konfrontation bieten kann”. Eine andere Wissenschaftlerin, Carolina Rivera Farfán, fügt hinzu, dass “religiöse Konflikte in indigenen Gemeinden andere nicht-religiöse Spannungen verschärfen können“.5
In jedem Fall zeigt sich, dass die Zahl der Nicht-Gläubigen in Verbindung steht mit unterschiedlichen Arten von Konflikten, die der ansteigenden Rivalität und des möglichen Umschlagens dieser Spannungen in Gewaltausübung geschuldet sind. Zumindest im Falle von Chiapas zeigt eine solch hohe Prozentzahl von Personen, die sich selbst noch vor dem Ausbruch der zapatistischen Rebellion das Merkmal ohne Religion gaben, dass religiöser Pluralismus und Wettbewerb angestiegen oder Teil von verschiedenen Konflikt- und Gewaltformen in der Region geworden sind, die Tausende Männer und Frauen dazu zwangen, eine Art religiöse Neutralität anzunehmen. Religiöse Identität kann also andere Spannungen und Konflikte verschärfen, was in erster Linie bedeutet, dass es sehr schwierig ist, religiöse Gewalt von anderen Arten der Gewalt zu trennen. In den meisten Fällen ist religiöse Gewalt ein Teil anderer Gewaltursachen, auch wenn Religion das Hauptelement von Uneinigkeit zu sein scheint. Im Falle Mexikos und insbesondere Chiapas, aber auch an anderen Orten, ist die sogenannte religiöse Gewalt Teil eines größeren soziopolitischen Kontextes, in dem Unterschiede und Vielfalt historisch bedingt fehlen und deshalb politisch mangelhaft „verwaltet“ werden. In diesem Sinne stellt die soziopolitische und religiöse Gewalt vor dem Hintergrund der katholischen Hegemonie eine ernstzunehmende Herausforderung sowohl für religiöse Institutionen als auch für das juristische und politische System dar. Das Problem ist nicht der religiöse Wettbewerb als solcher, sondern die politische Verwaltung einer Gesellschaft und von Gemeinden, die nicht an Pluralität gewöhnt sind.
5 Carolina Rivera Farfán (et al.), Diversidad religiosa y conflicto en Chiapas; Intereses utopías y realidades, Mexiko-Stadt 2005, zitiert in Gutiérrez, Población (wie Anm. 3), 134.
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Das Massaker von Acteal Am Morgen des 22. Dezember 1997 um ungefähr elf Uhr umstellte eine Gruppe bewaffneter Männer eine arme und kürzlich gegründete Siedlung, genannt Los Naranjos, die am Stadtrand von Acteal in der Gemeinde Chenalho in Chiapas lag, und hauptsächlich von katholischen indigenen Flüchtlingen bewohnt wurde, die Mitglieder einer Organisation mit Namen Las Abejas waren.6 Bei den Einwohnern der kleinen Stadt Acteal überwiegen katholische Traditionalisten und protestantische Minderheiten. In den darauffolgenden Stunden ergab sich eine Schießerei. Niemand weiß genau, was passierte, aber vier Stunden später waren 45 Menschen tot, hauptsächlich Frauen (21), Kinder (16) und alte Männer (sechs), deren Körper teilweise übereinander gestapelt waren. Einige Beschreibungen erwähnen offene Körper und Babys, die aus ihren schwangeren Müttern herausgerissen wurden, offizielle Berichte sprechen jedoch lediglich von Kugeln durchlöcherten Körpern. Unmittelbare Analysen beschrieben dies als ein Problem zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen gläubigen Anhängern der Befreiungstheologie und katholischen Traditionalisten oder zwischen paramilitärischen Gruppen und zapatistischen Rebellen. Wie so oft, ist die Realität komplexer als diese einfachen Unterscheidungen und zehn Jahre später gibt es objektivere Beschreibungen. Allerdings bleiben die meisten Fragen noch bestehen: Wie konnte die Gewalt diesen Höhepunkt erreichen? Es gibt lang-, mittel- und kurzfristige Erklärungen. Die kurzfristige Erklärung geht zurück auf die zapatistische Rebellion des 1. Januar 1994. Die mittelfristige Ursache kann mit der Ankunft des Linguistischen Sommerinstituts (ILV) bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre oder sogar bis in die 1940er Jahre zurückverfolgt werden und die langfristige Erklärung geht entweder zurück auf die Jahre der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung oder sogar auf die spanische Eroberung im 16. Jahrhundert. Die zapatistische Rebellion erstreckte sich nicht über die ursprüngliche Region von Las Cañadas hinaus und ging auch nicht über die Grenzen von Chiapas hinweg. Der Einfluss der zapatistischen Bewegung wuchs jedoch nach der Übernahme der Regierung Ernesto Zedillos im Dezember 1995, die beinahe unmittelbar nach Amtsantritt durch eine Finanzkrise geschwächt worden war, die das Land an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Im März des gleichen Jahres wurde ein nationales Gesetz „für den Dialog, die Schlichtung und den Frieden mit Würde in Chiapas“ verabschiedet und es wurden einige Verhand6 Ich richte mich bei der Beschreibung des Massakers und seiner Hintergründe nach den drei Artikeln, die von Héctor Aguilar Camín anlässlich des 10. Jahrestages des Massakers veröffentlicht wurden. Vgl. Héctor Aguilar Camín, Regreso a Acteal, in: Nexos, Oktober, November und Dezember 2007.
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lungsrunden zwischen der Regierung und den Rebellen geführt. Nach Lokalwahlen in Chiapas im gleichen Jahr, an denen die Zapatisten nicht teilnahmen, wurden viele Gemeinden durch die Partei der Institutionellen Revolution (PRI, an der Macht seit 1929) regiert, obwohl die Befürworter des PRI gegenüber den zapatistischen Anhängern in der Unterzahl waren. Später im Jahre 1995 wurde den zapatistischen Rebellen der Befehl gegeben, so viele lokale Regierungen wie möglich gewaltsam zu übernehmen und diese Gemeinden in „autonome“ Gebiete und Städte zu verwandeln. In vielen der Gemeinden widersetzten sich manche Einwohner und erklärten ihre Loyalität mit der konstitutionellen Regierung. Dies war der Beginn einer Spaltung innerhalb der Gemeinden, die sich in den folgenden Monaten und Jahren auf immer gewaltsamere Art und Weise ausdrücken sollte. Die Zapatisten waren bewaffnet, so dass eine fragile Waffenruhe die Ausbreitung ihrer Bewegung nicht aufhalten würde. Die Regierungsanhänger (diejenigen, die der lokalen Regierung von Chiapas oder der Regierung von Mexiko-Stadt loyal gegenüberstanden) entschieden sich, sich selbst zu bewaffnen, um ihre Besitztümer zu verteidigen. Dabei ist nicht klar, ob ihnen von Seiten der Regierung (erneut lokal oder staatlich) oder der lokalen Kaziken geholfen wurde oder ob es eine spontane Bewegung gab, die sich zunehmend auf Selbstverteidigungsmaßnahmen konzentrierte. Auf jeden Fall führte diese Bewaffnung zu wachsenden bewaffneten Konflikten zwischen denjenigen, die die zapatistische Bewegung verteidigten und als Katholiken definiert wurden und denjenigen, die die Regierung unterstützten und als priístas (Anhänger des PRI) und protestantisch bezeichnet wurden. Hinzu kam eine weitere Unterscheidung unter den Katholiken, die der Befreiungstheologie angehörten (eine Minderheit) und denjenigen (die Mehrheit), die sich selbst als Traditionalisten sahen, was bedeutete, dass sie keine Anhänger des Bischofs von San Cristóbal de las Casas waren.7 Es gab keinen Platz für diejenigen, die in diesem Kampf neutral bleiben wollten. Tatsächlich stellten sich die Mitglieder von Las Abejas, die im Dezember 1997 massakriert wurden, immer als neutral dar, obgleich sie als Anhänger der Diözese von San Cristóbal de las Casas angesehen und durch die zapatistische Bewegung geschützt wurden. Die Existenz zweier lokaler Regierungen, die eine zapatistisch und die andere konstitutionell, machte die ohnehin schon angespannte Situation noch komplexer. Die natürlichen Ressourcen und die Einnahmen, die aus lokalen Steuern oder Kriegssteuern kamen, wurden zur Quelle vieler Konflikte. Seit 7 Samuel Ruiz war von 1959–1999 Bischof von San Cristóbal de las Casas in Chiapas. Er hing der Befreiungstheologie an und setzte sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein. Bischof Ruiz trat mehrmals als Vermittler zwischen den Zapatisten und der Regierung auf (Anm. der Hg.).
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dem Sommer 1996 war Acteal, eine Sandbank, auf der die Erbauung einer Autobahn geplant wurde, der Grund für einen größeren Disput zwischen den zwei Regierungen, der offiziellen und der autonomen. Der Streit zwischen den ejidatarios (Mitglieder kommunaler landwirtschaftlicher Betriebe) und den Zapatisten über diese Einkommensquelle entlud sich in Gewalt. Die offizielle Regierung, die in San Pedro, dem Hauptort der Gemeinde, ansässig war, wurde größtenteils unterstützt von bewaffneten Milizen (im Übrigen von den Zapatisten Paramilitärs genannt), die sich entweder als katholische Traditionalisten oder Protestanten herausstellten. Jedoch standen Protestanten und Evangelikale nicht immer auf der Seite der Traditionalisten. In der Tat stellten sie in den meisten Fällen eine Herausforderung für traditionelle Regierungsformen dar, gerade weil es ihnen ihre religiösen Bräuche erlaubten, sich der sozialen und politischen Kontrolle der Kaziken zu entziehen. Aber aufgrund der Nähe einiger lokaler Katechisten zu der zapatistischen Rebellion waren Protestanten und Evangelikale auch misstrauisch gegenüber den Diözesankatholiken. Hinzu kam, dass die regionale und staatliche Regierung nicht bereit war, zu intervenieren, wie es in diesen Konflikten ihre Aufgabe gewesen wäre. Auf der einen Seite wollte sie nicht als eine repressive Regierung erscheinen, die die Bestrebungen der Zapatisten verhinderte, aber sie wollte auch nicht die „legitimen“ Aktionen loyaler Lokalregierungen gegen den Vormarsch der Zapatisten unterbinden, da sie tatsächlich von dieser Opposition profitierte. So half die Regierung den loyalen Gruppen, sich selbst zu bewaffnen oder sie stellte sogar direkt Waffen zur Verfügung in dem Bestreben, die zapatistische Rebellion aufzuhalten. Dies ist der Ursprung einiger „Selbstverteidigungs“-Gruppen, die beschuldigt wurden, eine paramilitärische Fraktion unter dem Namen „Entwicklung, Frieden und Gerechtigkeit“ zu bilden, die hauptsächlich im Norden des Staates agierte, wo es zahlreiche Konvertierungen zu evangelikalen Kirchen gab.8 In jedem Fall ist klar, dass die Untätigkeit der regionalen und bundesstaatlichen Regierung ein politisches Vakuum schuf. Die sogenannte religiöse Gewalt, die folgte, war nicht die Folge von religiöser Pluralität und Konkurrenz, sondern eher das Ergebnis einer schlechten Administration von religiösem und politischem Wettbewerb; mit anderen Worten öffnete das unbeabsichtigte oder gewollte Fehlen des Staates als politischer Macht den Weg zur Gewalt. So wagten in der Nähe 8 Bezüglich der Paramilitarisierung von Chiapas vgl. zwei widersprüchliche Berichte: Menschenrechtsorganisation Fray Bartolomé de las Casas, Ni paz ni justicia. Informe general y amplio acerca de la guerra civil que sufren los choles en la zona norte de chiapas, San Cristóbal de las Casas 1996 und Desarrollo, Paz y Justicia, Ni derechos ni humanos en la zona norte de Chiapas. La otra verdad de los sucesos en la zona Ch’ol como respuesta a la versión difundida por el CDHFBC, Tila, Chiapas 1997. Vgl. ebenfalls den Artikel von Alejandro Agudo Sanchíz, Actores, lenguajes y objetos de confrontación y conflicto en la Zona Chol de Chiapas, in: Estudios sociológicos, XXIV; Nr. 72 (2006), 569–600.
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stationierte Polizeikräfte am Tag des Massakers in Acteal nicht einzugreifen, obwohl die Schießerei über Stunden andauerte, entweder aus Angst, mitten in den Kampf zwischen Zapatisten und Paramilitärs zu geraten, oder weil sie von der Attacke wussten und sie unterstützten. In diesen Jahren breitete sich die Gewalt aus. Überfälle, kleinere Kämpfe, Prügeleien, Ermordungen und jegliche Art von Erpressung häuften sich. Am 23. September nahm eine Gruppe von Zapatisten in Naranjatik Alto Manuel Vázquez fest, band ihn für zwei Stunden an einen Baum und schlug ihn, um ihn dazu zu bringen, Waffen herauszugeben, die er angeblich versteckt hatte. Die Gruppe drohte damit, ‚alle umzubringen, wenn sie nicht Mitglieder des EZLN würden‘. Laut dem Generalstaatsanwalt wurden die Einwohner von Naranjatik Alto dazu gezwungen, ihnen Nahrung zu geben und für zwei Monate Teil von Überwachungsgruppen zu werden, bis sie sich entschlossen, aus dem Dorf zu fliehen und in die Hauptstadt der Gemeinde von Chenalho zu gehen.
Im Oktober 1997 wurde ein indigenes Mitglied des PRI getötet und ein anderes während Schießereien mit Zapatisten in den Gemeinden Tila und Chenalho verletzt. Um acht Uhr des nächsten Morgens wurde ein anderes Mitglied der Loyalisten-Gemeinde von einer Kugel getroffen. Später wurde die Gemeinde von La Esperanza von einer Gruppe von Leuten attackiert, die zu Los Chorros gehörten (der Regierung gegenüber loyal eingestellt), was zu zahlreichen niedergebrannten Häusern und einer Vertreibung von 52 Familien führte. Der Angriff auf La Esperanza war ein klares Indiz dafür, dass die sich selbst verteidigenden Kommandotruppen der Dörfer der priístas bereits jetzt Angriffs- und Plünderungsbanden waren.9
Die Angriffe von beiden Seiten setzten sich weiter fort ohne irgendeine maßgebliche Intervention von Seiten der regionalen oder bundesstaatlichen Regierung. Das Ereignis, das zum Massaker von Acteal führte, war der Überfall und die Ermordung eines Anführers der Miliztruppen, Agustín Vázquez Secum, am 17. Dezember. Schon bei seiner Beerdigung wurden Drohungen gegen seine mutmaßlichen Mörder, die unter den Mitgliedern der Organisation Las Abejas vermutet wurden, laut. Tage später, am 22. Dezember, wurde das Massaker an 45 wehrlosen Menschen verübt. Was dort genau passierte, ist immer noch unklar, aber beinahe sicher ist, dass die lokalen Polizisten Komplizen der Angreifer waren und dass die Militärbehörden zur gleichen Zeit ein gewisses Maß an Toleranz gegenüber den Angreifern walten ließen. Zusätzlich wurden Dutzende 9 Beide Zitate in: Aguilar Camín, Regreso (wie Anm. 5), 2. Teil, November 2007.
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unschuldige Opfer (die meisten von ihnen Evangelikale) verhaftet und in unfairen Prozessen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Nach mehreren Monaten wurden 83 Personen verurteilt, wobei diese Verurteilung mehr darauf ausgerichtet war, die öffentliche Meinung zu beschwichtigen als den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen. Im Jahre 2007 wandte sich der Schriftsteller Héctor Aguilar Camín gegen die Ungerechtigkeiten und die Transformation unschuldiger Menschen in Schuldige, während die wirklichen Mörder noch immer auf freiem Fuße waren: Die Wahrheit ist, dass es zehn Jahre nach dem schrecklichen Massaker von Acteal mindestens fünf Personen gibt, die offensichtlich die Schuld an dem Massaker tragen: die vier direkten Angreifer und der Anführer der bewaffneten Truppen. Dem entgegen stehen Dutzende unschuldige Opfer, die unmittelbar nichts mit den Morden zu tun hatten und im Gefängnis sitzen. Verschiedene Verantwortliche für die öffentliche Sicherheit sind verurteilt worden und haben ihre Strafe verbüßt, ohne dass klar wurde, was sie taten oder im Auftrag von wem. Dreißig Haftbefehle aufgrund des Massakers sind nicht ausgeführt worden. Keine der 22 vorangegangenen Ermittlungen zu den Mordfällen von 1996 und 1997, der Zeit des Anstiegs politischer Gewalt in der Gemeinde, wurde aufgeklärt. Sie stellen weitere 22 ungesühnte Tode dar.10
Für ein Jahrzehnt saßen diese Evangelikale, die des Massakers angeklagt und für schuldig befunden wurden, als scheinbare Sündenböcke im Gefängnis, um die öffentliche Meinung zu beruhigen. Sie wurden jedoch von einer wichtigen Vereinigung Evangelikaler Kirchen, der Confraternice (Confraternidad Nacional Evangélica), verteidigt, die sie als Opfer religiöser Vorurteile und politischer Gewalt ansah. Der Präsident von Confraternice, Arturo Farela, schickte mir am 4. Mai 2010 einen Brief, in dem er mir seine Version der Tatsachen schilderte: Dieses bedauernswerte Massaker, welches im Dezember 1997 stattfand, war nicht religiös motiviert. Aufgrund des Ortes, an dem die 45 Körper gefunden wurden (die Opfer beteten gerade in einem kleinen Tempel), betrachtete es die Regierung, die offiziell für die Überwindung [sic!] dieser Tragödie mit den geringsten politischen Kosten für die regionale und bundesstaatliche Regierung verantwortlich war, möglicherweise trotzdem als angebracht, für den Tod von 45 katholischen Indigenen eine Gruppe von fast hundert Indigenen verantwortlich zu machen, von denen 80 Prozent Evangelikale waren, die aus drei protestantischen Konfessionsgemeinschaften kamen: Pfingstler, Baptisten und Presbyterianer. Confraternice übernahm die Verteidigung von fast hundert Gefangenen weniger als ein Jahr nach diesen Vorfällen. Die Verteidigung ging von der historischen und juristischen Wahrheit
10 Ebd., 3. Teil, Dezember 2007.
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aus. Von den hundert Angeklagten waren an diesem Tag nur fünf anwesend, sie stritten jedoch ab, an dem Massaker beteiligt gewesen zu sein.11
Mehr als ein Jahrzehnt später willigte der Oberste Gerichtshof ein, einige Fälle noch einmal zu überprüfen und entlastete dreizehn Jahre später acht der Evangelikale, die jedoch aus „Sicherheitsgründen“ nicht in ihre Gemeinden zurückkehren durften. Brachte der Oberste Gerichtshof damit Gerechtigkeit oder war dies nur eine weitere politische Maßnahme?
Das Fehlen einer Kultur der Pluralität Wenn wir davon ausgehen, dass die sogenannte religiöse Gewalt Teil einer komplexeren politischen Dynamik ist, müssen wir zu den Wurzeln der Intoleranz und der Kultur der Pluralität in Mexiko zurückgehen. Nach der Eroberung wurde Neuspanien nach den religiösen Prinzipien von cuius regio, eius religio aufgebaut. Karl I. von Spanien, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, wurde der größte Gegner des Luthertums und des Protestantismus. All seine Herrschaftsgebiete, inklusive der neu „entdeckten“ und eroberten in der Neuen Welt, wurden Teil des katholischen Königreichs unter Ausschließung aller anderen Religionen und bis zum Ende der Kolonialzeit blieb der Katholizismus die einzig zulässige Religion. Dabei muss man verstehen, dass der Katholizismus in dem, was heute Mexiko ist, in seine Praktiken und Überzeugungen die alten magischen Glaubensvorstellungen und vorspanische Rituale mit einschloss, welche mehr oder weniger vom Klerus toleriert, aber immer als Abweichung von der Norm verurteilt wurden. Die Gewalt der Evangelisierung hatte einen großen Einfluss auf die indigene Mentalität. Die vorspanische Bevölkerung war gewöhnt an die Zerstörung von Bildern der Besiegten und daran, ihre Götter den erobernden Göttern unterzuordnen, aber nicht an die totale Vernichtung alter Glaubensvorstellungen. Zu Beginn der Eroberung dachten sie an eine mögliche Vereinbarkeit von Gottheiten, mussten jedoch sehr schnell feststellen, dass christliche Priester von der Ausschließlichkeit ihrer Überzeugungen sprachen. Die folgende Kolonialisierung führte zu fundamentalen Veränderungen in der Glaubenslandschaft, obwohl ein schneller Eingliederungs- und Anpassungsprozess stattfand. Bettelorden (hauptsächlich Franziskaner, Dominikaner und Augustiner) spielten eine zentrale Rolle in der Evangelisierung der Indianer. 11 Arturo Farela (Organisation Confraternice), Intolerancia religiosa. E-Mail an Roberto Blancarte, 4. Mai 2010, enthält Informationen über viele Fälle der Intoleranz gegenüber Evangelikalen in Mexiko.
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Millionen Indigene wurden von einigen hundert Priestern und Mönchen zum Christentum konvertiert. Wie in anderen historischen Erfahrungen ersetzten die neuen Götter (sowie die Jungfrau und die Heiligen) die alten Gottheiten. Darüber hinaus wurden in vielen Gebetsstätten die alten Götterbilder durch die neuen einfach ersetzt (mit der Jungfrau Maria von Guadalupe von Tepeyac und dem Christus von Chalma als bekannteste, obgleich nicht einzige Fälle). Es gab außerdem einen intensiven Substitutionsprozess von Gottheiten durch Heiligenpatrone in jeder Gemeinde. Drei wesentliche Merkmale, die die Religion während der Kolonialzeit charakterisierten, sollten über die Rolle der Religion in den darauffolgenden Jahrhunderten entscheiden: 1. Die Konzentration der Kirchenpräsenz in sehr spezifischen Regionen (im Zentrum und Westen) des Landes führte zu einer eingeschränkten Seelsorge und einem Katholizismus, der sich mehr an Ritualen als an der Doktrin ausrichtete; 2. entstand daraus ein populärer Katholizismus mit einer ausgeprägt autonomen und teilweise kirchenfeindlichen Tendenz; 3. unterlag Religion der Kontrolle und Leitung des Staates. Dieses weitere gemeinsame Merkmal der vorspanischen und kolonialen Epoche sollte, aus meiner Sicht, den Platz vorbestimmen, den die institutionelle Religion in der Zukunft einnehmen würde. Ebenso wie in der Gesellschaft der Azteken und Inka, in der Priester Teil der Machtstruktur waren und die Reproduktion ihrer Weltanschauung und damit die zentrale Macht der herrschenden Gesellschaftsklasse sicherstellten, sollte das Patronat während der Kolonialzeit zu einer Integration der Kirche in den Staat führen. Die Kirche war ein Zweig der kolonialen Verwaltung und die Krone war berechtigt, in die inneren Angelegenheiten der Kirche in Amerika einzugreifen. Als die Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten, strebten die meisten Anführer der neuen Länder danach, das Königliche Patronat zu übernehmen12 und 12 Bewilligt durch den Apostolischen Stuhl hatte das Patronat durch verschiedene “Bullen“ (Dekrete) den spanischen katholischen Königen Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts unterschiedliche Rechte gegeben, was die kirchliche Administration anging. Die Bulle von Alexander VI. vom 4. Mai 1493 gewährte ihnen das Gebiet der Neuen Welt und das exklusive Privileg, Indianer zu christianisieren. Eine andere Bulle vom 16. November 1501 gewährte den Königen den Zehnten und die ersten geistlichen Pfründe der Kirche und am 28. Juli 1508 sprach Papst Julius II. das Recht des allgemeingültigen Patronats über die Katholische Kirche auf dem indischen Subkontinent aus. Die Könige sahen sich selbst als „eine Art apostolischer Vikar mit der Macht über geistliche Angelegenheiten in Amerika“. Mit anderen Worten, da die Krone alle Kosten für die Verbreitung des Glaubens übernahm, räumte der Apostolische Stuhl das Recht ein, Kirchen zu errichten, Bischöfe und Geistliche zu benennen und einige von den benötigten Geldmitteln über den Zehnten für die Kirche zu beziehen. Vgl. John Lloyd Mecham, Church and State in Latin America: A History of Politico-Ecclesiastical Relations, Chapel Hill 1934, 14.
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schrieben Verfassungen, in denen die katholische Religion beschützt wurde und der römisch-katholischen Kirche Privilegien zukamen, die andere Konfessionen nicht erhielten. So legte in Mexiko die erste Verfassung der neuen Republik von 1824 fest, „die Religion der mexikanischen Nation ist und wird fortwährend die katholisch-apostolische und römische sein. Die Nation wird sie durch angemessene und weise Gesetze schützen und verbietet die Ausübung jeder anderen.“13 Folglich ist der Gedanke an einen religiösen Pluralismus relativ neu für Mexiko. Die Geschichte einer monopolistischen Kirche, kaum vorhandener Religionsfreiheit und legaler sozialer und kultureller Diskriminierung von Minderheitsreligionen hat das Land geprägt. Der Trend zum religiösen Pluralismus verstärkte sich seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, insbesondere aber nach dem Zweiten Weltkrieg. Der mexikanische Protestantismus weist jedoch seine ganz eigenen Probleme auf. Genauso wie der Katholizismus im 16. Jahrhundert die vorspanische amerikanische Gesellschaft durchdrang und sich selbst zu einer dem europäischen Katholizismus ähnelnden aber doch anderen Religion entwickelte, passte sich der Protestantismus im Lateinamerika des 19. und 20. Jahrhunderts an eine ständische und autoritäre Kultur an und verwandelte sich somit in etwas, das von seinen europäischen oder nordamerikanischen Ursprüngen vollkommen abwich. Gleichzeitig kann der Autoritarismus des heutigen mexikanischen Protestantismus nicht nur durch endogene Faktoren erklärt werden. Der europäische und insbesondere der nordamerikanische Protestantismus haben einen konservativen und autoritären Charakterzug. Aus diesem Grund sollte man eine automatische Gleichsetzung von Katholizismus und der ständischen und autoritären Kultur vermeiden. Nicht alles Katholische ist traditionell und „vormodern“ und Protestantismus und evangelische Kirchen sind nicht der „weberianische Ausdruck“ der Modernität. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass populärer Protestantismus und die gegenwärtige Pfingstbewegung aus der ständischen und autoritären Kultur in Lateinamerika stammen, jedoch müssen sie nicht zwingend einem populären Katholizismus entspringen, der eben auch von seinem sozialen Kontext beeinflusst wird. Wie schon angemerkt, kann auch die populäre Religion eine Religion des Widerstandes sein, die sowohl befreiend als auch revolutionär wirkt. Manchmal ist der Katholizismus weniger ständisch und autoritär und der traditionelle Protestantismus weniger befreiend und demokratisch, als für gewöhnlich angenommen. Aufgrund der historischen Präsenz der katholischen Kirche wurde religiöser Pluralismus in Lateinamerika sogar von einigen Wissenschaftlern als ein Problem oder gar als eine Bedrohung der lokalen Kultur dargestellt. Durch katho13 Manuel Ceballos Ramírez, El siglo XIX y la laicidad en México, in: Roberto Blancarte (Hg.), Laicidad y valores en un Estado democrático, Mexiko-Stadt 2000, 96.
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lische Propaganda geschürt, sahen Anthropologen in vielen Fällen jede fremde und insbesondere amerikanische Missionarsaktivität als Teil eines imperialistischen Projekts, um die kulturelle Identität des lateinamerikanischen Volkes zu unterdrücken. Im Staat von Chiapas wurden beispielsweise bis zu den 1980er Jahren die Aktivitäten des oben erwähnten Linguistischen Sommerinstituts (Instituto Lingüístico de Verano), das sich auf die Übersetzung der Bibel in verschiedene indigene Sprachen spezialisierte, als ein Versuch angesehen, polarisierende amerikanisch-protestantische Werte in integrierte katholisch-indianische Gemeinden einzuführen. Religiöser Pluralismus wurde als eine externe Beeinflussung, die die Integrität indigener Gemeinschaften zerstören könnte, und als eine Bedrohung für ihre Kultur gesehen. Dabei wurden häufig nicht nur die autoritären Aspekte dieser Kultur, sondern auch die inneren Tendenzen, die auf eine Veränderung drängten, ignoriert. Die Ausbreitung des Protestantismus an Orten wie Chiapas oder dem Südosten Mexikos hat Forscher dazu veranlasst/ gebracht, wichtige interne Faktoren herauszuarbeiten, die dieses Wachstum erklären, welches sich nicht ohne Schwierigkeiten vollzogen hat.14
Intoleranz und religiöser Widerstand Religiöser Widerstand kann eine Bedrohung für die existierenden religiösen und politischen Einrichtungen sein, insbesondere wenn sie miteinander verknüpft sind. In Chiapas liegt die politische Gewalt nicht in den Händen der Katholischen Kirche (obgleich der Bischof in manchen Regionen sehr einflussreich sein kann), sondern in den Händen derer, die sich selbst als „traditionalistische“ oder „kostumbristische“ Katholiken bezeichnen. Wenn man von feinen Unterschieden absieht, kann man mit Juan Pedro Viqueira und Jaume Vallverdú sagen, dass sie eine Minderheit von reichen Indigenen und Kaziken darstellen, die für gewöhnlich die politische und wirtschaftliche Kontrolle über ihre Gemeinden haben, das Land besitzen, das Transportwesen, den Handel, die Arbeit und die lokale Macht kontrollieren und die traditionsgemäß für viele Jahre mit bundesstaatlichen und föderalen Behörden, genauer gesagt mit der Partei der Institutionellen Revolution (PRI), in Verbindung gestanden haben.15
14 Für eine umfangreichere Beschreibung dieser Debatte vgl. Roberto J. Blancarte, Mexico: A Mirror for the Sociology of Religion, in: James A. Beckford und N. J. Demerath III (Hg.), The Sage Handbook of the Sociology of Religion, London 2007, 710–727. 15 Jaume Vallverdú, Violencia religiosa y conflicto político en Chiapas, México, in: Nueva Antropología, Revista de Ciencias Sociales, Nr. 65 (2005), 55–74. Siehe auch Juan Pedro Viqueira, Los Altos de Chiapas: Una introducción general, in: Juan Pedro Viqueira und
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Obwohl Konflikte zwischen neuen protestantischen und evangelikalen Konvertiten auf der einen Seite und Diözesankatholiken auf der anderen Seite schon in den Jahrzehnten davor bestanden, intensivierte sich die Gewalt, als beide Gruppen damit begannen, die traditionsgemäße religiöse und politische Macht der Kaziken anzuzweifeln. Seit 1974 wurden flächendeckend Vertreibungen von Protestanten und Evangelikalen dokumentiert, insbesondere in San Andrés Larráinzar, San Juan Chamula, San Pedro Chenalhó, aber auch in vielen anderen Dörfern. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gab es mindestens 30.000 religiöse Dissidenten (Protestanten, Evangelikale, aber auch Diözesankatholiken) aus diesen Städten, die zu Flüchtlingen in den Vororten von La Hormiga in San Cristóbal de Las Casas wurden. Man kann mit Viqueira festhalten, dass die Befreiungstheologie ebenso wie der protestantische Glaube eine Herausforderung für die traditionelle religiöse und politische Macht darstellten. Die Tatsache, dass traditionelle Bräuche, bei denen Alkohol verabreicht wurde, ebenso aufgegeben wurden wie das traditionelle cargo-System, das an politische Autoritäten gebunden wurde, hat die Macht der Kaziken an ihrer Basis beendet. Die Aufgabe des cargo-Systems bedeutete sowohl eine Befreiung vom wirtschaftlichen und sozialen System, das die Basis für die Dienstleistungen der Gemeinde darstellte, als auch von der politischen Kontrolle, die mit der herrschenden Partei verknüpft war. Wie Vallverdú feststellt: Man begann, den religiösen Diskurs und die Symbole für explizit politische Ziele zu nutzen, um politische Gegner zu kritisieren und zu diffamieren. Die Abwanderungen und Vertreibungen, die seit den 1970er Jahren stattgefunden haben, müssen in diesem Zusammenhang nicht nur als Ursache und Konsequenz eines religiösen Konflikts verstanden werden, sondern auch als Ursache und Konsequenz anderer zusätzlicher Faktoren, wie beispielsweise Konflikten um Land, Fehden zwischen Familien, interethnischen Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen bezüglich politischer Macht. Sie sind nicht grundsätzlich religiöser Natur, obgleich die neuen Glaubensrichtungen und das Verhalten der Gläubigen eine größere Rolle gespielt haben. Sie sind nicht nur verbunden mit der Ersetzung traditioneller Bräuche des populären Katholizismus durch protestantisch- oder katholisch-progressive Überzeugungen, sondern mit einem klaren politischen und sozialen Kampf. So ist einer der Schlüssel für den Konflikt in Chiapas, dass Bekehrungen nicht nur religiöse, sondern auch politische Dissidenz bedeuten. Ein Widerstand, der sich zunächst durch politischen Kampf zeigt, identifiziert sich am Ende mit den religiösen Gründen.16
Humberto Mario Ruz (Hg.), Chiapas. Los rumbos de otra historia, Mexiko-Stadt 1998, 219–236. 16 Vallverdú, Violencia (wie Anm. 15), 65.
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Tatsächlich kann man es auch andersherum sagen: politischer Widerstand, der auf Probleme stößt, sich zu artikulieren, beginnt in vielen Fällen mit unterschiedlichen Formen religiösen Widerstands. Viele religiöse und politische Vertreter erkennen diese Tatsache an, wenn auch aus ihrer eigenen Perspektive. Der stellvertretende Minister für religiöse Angelegenheiten von Chiapas, José María Morales, sagte im Jahr 2003, wobei er sich auf einen Streit zwischen Traditionalisten und vertriebenen Evangelikalen in der Stadt Mitzitón bezog, dass diese Gruppen Religion als „eine Entschuldigung“ verwendet hätten, um gegeneinander zu kämpfen, denn „wenn wir verhandelt haben, kamen sofort Themen auf, die landwirtschaftliche Fragen und beiderseitige Ansprüche betreffen, wie zum Beispiel, dass die staatliche Subventionierung nicht bei allen ankommt.“ Auf ähnliche Weise sah dies der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Felipe Arizmendi: „Der wesentliche Grund des Konflikts ist nicht die Religion, diese wird benutzt und verbunden mit politischen und wirtschaftlichen Interessen bestimmter Personen oder Gruppen. Dies ist nicht nur heute in Mitzitón der Fall. Es ist in vielen Fällen so geschehen.“ Der Vertreter der Evangelikalen, Esdras Alonso, erklärte, dass die Angriffe auf Protestanten 1982 begonnen hatten, als 50 Familien gewaltsam vertrieben wurden mit der Begründung, dass sie dort aufgrund ihres religiösen Glaubens nicht mehr leben könnten, obwohl es das eigentliche Ziel der traditionalistischen Kaziken war, das Land der Evangelikalen zu stehlen, um ihre Wälder auszubeuten. Tatsächlich umfasst der Konflikt wirtschaftliche Fragen, insbesondere den Menschenschmuggel mit Migranten, die aus Zentralamerika kommen, um über Mexiko in die Vereinigten Staaten zu gelangen, und den Verkauf von Edelhölzern trotz des existierenden Verbots der Abholzung. Jede Gruppe beschuldigt die andere, das Gesetz zu brechen und scheinbar verfügt die regionale Regierung über Befehle zur Festnahme von Traditionalisten und Protestanten, wobei sie diese jedoch nur selten ausführt.17 Knapp zehn Jahre später haben sich die Dinge nicht sehr verändert. Am 2. März 2010 berichteten die Zeitungen von einem anderen Konflikt in Mitzitón.18 Evangelikale einer Organisation, die sich Die Armee Gottes nennt, waren beteiligt an einem Konflikt mit katholischen ejido-Behörden, die mit der Zapatistenbewegung in Verbindung standen. Drei Evangelikale und vier Katholiken wurden verletzt, einer wurde von einer Kugel getroffen. Jede Seite nahm drei Geiseln und ein Waffenstillstand und Austausch der Geiseln waren nur möglich durch das Eingreifen staatlicher Behörden mit mehr als 200 Polizisten. Die Mitglieder der Armee Gottes stehen auf eine sehr bedeutsame Weise in Kontinuität zu anderen Selbstverteidigungsgruppen und es wurde erwähnt, dass die Gruppe sich „als evangelikal [Presbyterianer] identifiziert, obwohl sie jetzt auch einige 17 La Jornada vom 30. Dezember 2003. Siehe www.jornada.unam.mx. 18 La Jornada vom 2. März 2010.
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traditionalistische Katholiken unter sich hat“.19 Wenn dies wahr ist, würde die Komplizenschaft die gleiche sein, wie im Falle des Massakers von Acteal.
Fazit Die Ursachen religiöser Gewalt in Mexiko sind zahlreich, aber in vielen Fällen basiert sie auf drei wesentlichen Elementen: 1. religiöser, aber auch politischer und sozialer Intoleranz, verwurzelt in der Geschichte des Landes; 2. religiös ausgedrücktem politischem Widerstand oder politisch ausgedrücktem religiösem Widerstand, der der Bindung der traditionalistischen Kaziken zu den regionalen und bundesstaatlichen Autoritäten, in denen die dominante Religion und hegemonistische politische und wirtschaftliche Macht eng miteinander verknüpft sind, die Stirn bietet; 3. gewolltem oder ungewolltem Fehlen oder mangelhafter Verwaltung der politischen Macht des Staates, um im Rahmen einer anwachsenden religiösen und politischen Pluralität Frieden durchzusetzen. Wenn diese drei Faktoren in Erscheinung treten, wird die Gewalt nicht nur ausbrechen, sondern auch bestehen bleiben. Abhängig von der Situation wird die notwendige politische Intervention der Regierung häufig deshalb nicht erfolgen, weil eine kulturell begründete Nachlässigkeit existiert, die das Fortbestehen religiöser und politischer Intoleranz erlaubt. Aber sie wird auch nicht erfolgen, wenn regionale und bundesstaatliche Autoritäten mit einer der Konfliktparteien verbündet sind, so dass in den meisten Fällen offensichtlicher Intoleranz schlicht keine Intervention erwünscht ist. Erst wenn die Gewalt ausbricht, ist die Regierung gezwungen, zu vermitteln. So kann zumindest in einigen Fällen gesagt werden, dass Gewalt ein Aufruf zu staatlicher Intervention ist. Leider ist in Mexiko die bundesstaatliche Regierung (und nicht die regionale oder lokale) die einzige Einheit, die gesetzlich dazu befähigt ist, in religiösen Angelegenheiten zu handeln, hat dabei aber nicht immer die Mittel und den Willen, einzugreifen. Außerdem existiert für gewöhnlich die Vorstellung, mit den verschiedenen Fraktionen zu verhandeln, anstatt dem Gesetz Geltung zu verschaffen und die Verbrecher zu verurteilen. Artikel 37 des Gesetzes der Religionsgemeinschaften und öffentlichen Kulte stellt unter anderem fest: „Im Hinblick auf Konflikte, die auf religiöse Intoleranz zurückzuführen sind, wird der Weg des Dialogs und der Einigung zwischen Parteien bevorzugt werden, wobei man gegebenenfalls darauf achtet, dass die gemeinschaftlichen Bräuche und Sitten respektiert werden, solange diese die fundamentalen Menschenrechte, insbesondere das der 19 Hermann Bellinghausen in La Jornada vom 7. März 2010.
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Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung, nicht verletzen.“20 Mit anderen Worten kündigt die bundesstaatliche Regierung in dieser Verordnung an, dass in Fällen der Intoleranz verhandelt wird, anstatt das Gesetz bei denen anzuwenden, die intolerant sind. Damit wissen Gesetzesbrecher, dass im schlimmsten Falle alles so sein wird, wie es war, bevor sie ihre Verbrechen begingen. Eine schlechte politische „Verwaltung“ von religiösem Pluralismus ist daher der hauptsächliche Grund für politische Gewalt. Es würde folglich einiger tiefgreifender kultureller, rechtlicher und politischer Reformen bedürfen, um die alltägliche Gewalt in Mexiko zu beenden. Allerdings wird dies nicht passieren, bis es ein klares soziales Verständnis dafür gibt, dass Pluralität einen Gewinn und kein Problem für das Zusammenleben bedeutet.
20 Reglamento de la Ley de Asociaciones Religiosas y Culto Público, in: Diario Oficial de la Federación, 6. November 2003.
Leo J. O’Donovan, S.J.
Die Theologie der Befreiung und das Problem der revolutionären Gewalt Der 12. Januar 2010, ein Dienstag, begann warm und herrlich in Porte-auPrince, Haiti. Doch ein Erdstoß, dessen Zentrum ungefähr 25 Kilometer westlich der Hauptstadt in Léogane lag, ließ um 16.53 Uhr die Erde beben. Das Beben erreichte eine Stärke von 7,0 auf der Richterskala. Bis zum 24. Januar bebte die Erde noch weitere 52 Mal mit einer Stärke von 4,5 oder mehr, die dem ärmsten Land in der westlichen Hemisphäre weiteren Schaden zufügten. Die Regierung schätzte, dass mindestens drei Millionen Menschen von dem leidvollen Beben betroffen wurden. 230.000 Tote und etwa 300.000 Verletzte waren das grausame Resultat, circa eine Millionen Menschen verloren ihre Wohnungen und wurden obdachlos. Öffentliche Gebäude und Wahrzeichen der Hauptstadt wurden schwer getroffen und zerstört: der Präsidentenpalast, die Nationalversammlung und das Hauptgefängnis. Betroffen waren auch künstlerische und kulturelle Denkmäler: die bischöfliche Kathedrale zur Heiligen Dreifaltigkeit, die einige der größten Wandmalereien aus dem Jahr 1950 beherbergte, die katholische Kathedrale sowie zahlreiche Museen und private Sammlungen Haitischer Kunst. Unter den Toten waren auch der Erzbischof Joseph Serge Miot, der Oppositionsführer Micha Gaillard und Hedi Annabi, der führende Vertreter der Stabilisierungskommission der Vereinten Nationen in Haiti (MINUSTAH). Deren Hauptgeschäftsstelle wurde ebenfalls völlig zerstört. Am 27. Februar 2010 bebte die Erde in der Region Maule in Chile (nördlich von Concepción). Mit einer Stärke von 8,8 auf der Richterskala erreichte das Beben sogar ein noch höheres Katastrophenpotenzial als die Beben in Porte-auPrince. 1,5 Millionen Menschen waren betroffen und verloren ihr Zuhause. Die Todesrate war jedoch im Vergleich geringer. Obwohl der physische Schaden beträchtlich war, wurde er teilweise abgemildert, weil in den baulichen Maßnahmen Regelungen getroffen worden waren, die mögliche Erdbeben einkalkuliert hatten. In Haiti hingegen hatte die angerichtete Verwüstung apokalyptische Ausmaße. Es herrschten völlig chaotische Verhältnisse: Kommunikation, Transportwesen, medizinische Hilfen, elektronische Netze brachen zusammen. Haiti besaß keine zivile und religiöse Führung mehr. Es musste Massengräber anlegen, um all die Toten zu begraben. Durch das große Beben wurde die Armut des Landes, das Fehlen der Infrastruktur und sozialer Organisationen offenbar, insbesondere die Abwesenheit aller Formen von Zivilgesellschaft. Mir kam damals der Gedanke an das „Große Erdbeben von Lissabon“ am 1. November 1755, das, gefolgt von einem Tsunami und einer fünftägigen Feuersbrunst,
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die schöne portugiesische Hauptstadt in Schutt und Asche verwandelt hatte. 85 Prozent der Gebäude wurden zerstört einschließlich aller bekannten Kirchen. Zwischen 10.000 und 100.000 Menschen starben – zum Vergleich: die Gesamtbevölkerung betrug damals 200.000. Zu den Überlebenden gehörte König Joseph I. Dieser hatte schon frühmorgens angesichts des hohen Feiertages (Allerheiligen) der Messe beigewohnt und anschließend mit seinem Hofstaat die Stadt verlassen. Von diesem Zeitpunkt an soll er niemals mehr in einem von Wänden umgebenden Raum geschlafen haben. Damals verbreiteten sich in ganz Europa Spekulationen über mögliche Ursachen des Erdbebenunglücks – geologischer und theologischer Art. Mit vielen anderen hat später Theodor W. Adorno die Ansicht vertreten, das Erdbeben von Lissabon sei eine „Wasserscheide“ in der Europäischen Geschichte gewesen. Lissabon wurde wieder aufgebaut. Der Freund des Königs und Premierminister Sebastião de Melo, später Marquis von Pombal, zeigte Mut und Entschlossenheit, indem er einen kühnen, neuen Plan für die Stadt entwarf. Er reagierte so in schöpferischer Weise auf das, was einige für göttliche Strafe und Vergeltung für Sünden hielten. Obwohl er von der etablierten Aristokratie verspottet und belächelt wurde, zeigte er den Willen und die kulturelle Kompetenz, sein Land aus der Katastrophe herauszuführen. Der zerstörerischen Gewalt der Natur, wie destruktiv auch immer, sollte es nicht gestattet sein, den Sieg davonzutragen. In Haiti stellte sich die internationale Gemeinschaft verwundert und zugleich bestürzt die Frage, was sie in aller Großzügigkeit tun konnte. Eines stellt sich im Vergleich von Portugal und Haiti besonders deutlich heraus: die Armut Haitis.
Armut und Macht Natürlich besteht zwischen Haiti und Lissabon ein weiterer bedeutender Unterschied, der anhand des Führungsverhaltens des Marquis de Pombal festgemacht werden kann. Es ist interessant, dass dessen Stellung innerhalb der portugiesischen Gesellschaft vor 1755 alles andere als sicher war. Obwohl er vom König geschätzt wurde, verspottete ihn die alteingesessene, fest verwurzelte Aristokratie wegen seiner geringen Herkunft. Marquis de Pombal war der Sohn eines Landjunkers, eines Bauern. Als er sich jedoch an der Seite des Königs für den radikalen Neuaufbau Lissabons durch den Ingenieur Manuel de Maia einsetzte, kam sein großes Talent ans Tageslicht. Sein Einfluss festigte sich. Auch seine geringere Herkunft hinderte ihn nicht daran, sich ein neues Lissabon vorzustellen, das nicht einfach der Wiederaufbau des alten sein sollte.1 1 Es mag ungewöhnlich scheinen, dass ein Jesuit die Leistungen Pombals positiv würdigt (er war wohl in seiner oft diktatorischen Weise ein dezidierter Feind de Gesellschaft Jesu). Hier geht es allerdings strikt um seinen Einsatz für den Wiederaufbau Lissabons.
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Der Vergleich der beiden Naturkatastrophen von Lissabon und Haiti kann auch eine andere Dimension des Verhältnisses zwischen Armut und Macht offen legen: beide Begriffe, sowohl Armut als auch Macht, sind komplex und formbar. In der Natur begegnet beispielsweise eine zerstörerische Macht, die wir normalerweise von der Zerstörung unterscheiden, die durch eine menschliche Instanz verursacht wird. Diese Unterscheidung verschwimmt jedoch in wissenschaftsund technikorientierten Gesellschaften, in denen viele Umweltschäden und destruktive Machenschaften auf menschliche Intervention in natürliche Prozesse zurückgehen; oder umkehrt wird die Unterscheidung innerhalb von Gesellschaften unklar, in denen anerkannte soziale Tätigkeiten – Erziehungspraktiken, ökonomische Systeme, kulturelle Entwicklung, soziale Konstruktion generell – destruktive und überaus gewalttätige Folgen haben können. Internationale Aufmerksamkeit erreichten die Reflexionen von Gustavo Gutiérrez über erschreckende Armut und über unterdrückende Machtstrukturen in Lateinamerika zuerst in seinem klassischen Werk „Eine Theologie der Befreiung“.2 Während die europäische (oder nördliche) Theologie sich damit befasste, wie in einer säkularisierten Kultur von Gott die Rede sein könne, fragte diese neue Vision, „wie den Armen dieser Welt vermittelt werden könne, dass Gott sie liebt“.3 Dieses Konzept arbeitete mit drei unterschiedlichen, aber zusammenhängenden Begriffen von Armut: 1. reale Armut als ein Übel (das heißt, etwas von Gott nicht Gewolltes); 2. geistliche Armut als Verfügbarkeit für den Willen des Herrn; und 3. Solidarität mit den Armen und ihrer Situation, unter der sie leiden. Gutiérrez analysierte in seinem Buch zudem drei unterschiedliche, aber eng damit zusammenhängende Dimensionen von Befreiung: 1. die politische und soziale Befreiung, die daran arbeitet, die Ursachen von Armut und Unterdrückung, insbesondere die ökonomischen, zu beseitigen; 2. die menschliche Befreiung, die Männern und Frauen erlaubt, sich in Freiheit und Würde zu entwickeln; und 3. die Befreiung von der Sünde als der grundlegenden Quelle von Ungerechtigkeit und für eine wieder gewonnene Gemeinschaft mit Gott und mit anderen menschlichen Wesen (LG 1).4 Gutiérrez fasste das Denken vieler Theologen (und Bischöfe) unmittelbar vor und dann nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zusammen. Es fanden regelmäßige Treffen zwischen den katholischen Theologen Gustavo Gutiérrez, Se2 Gustavo Gutiérrez, A Theology of Liberation: History, Politics and Salvation, Maryknoll/ New York 1971, 31973. 3 Gustavo Gutiérrez, Option for the Poor, in: Ignacio Ellacuría/Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis: Fundamental Concepts of Liberation Theology, Maryknoll/New York 1993, 235–250. Vgl. auch Gutiérrez, Theology (wie Anm. 2), Kap. 12. 4 Vgl. auch Gustavo Gutiérrez, The Task and Content of Liberation Theology, in: Christopher Rowland (Hg.), The Cambridge Companion to Liberation Theology, Cambridge 1999, 19–38.
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gundo Galilea, Juan Luis Segundo und Lucio Gera sowie den Protestanten Emilio Castro, Julio de Santa Ana, Rubem Alves, und José Míguez Bonino statt. Dabei wurde besonders intensiv über das Verhältnis von Glaube und Armut, über das Evangelium und soziale Gerechtigkeit nachgedacht.5 Im März 1964 beschrieb Gutiérrez seine theologische Methode als „eine kritische Reflexion auf Christliche Praxis im Lichte des Wortes“.6 Drei Jahre später begann er in einigen Vorlesungen eine fundamentale Analyse der kirchlichen Antworten auf das Phänomen Armut. Mit vielen Kollegen zitierte er häufig Papst Johannes XXIII. in seinem Aufruf vom 11. September 1962. „Was die unterentwickelten Länder angeht, so ist die Kirche – und sie wünscht es zu sein – die Kirche aller, insbesondere die Kirche der Armen.“7 Berühmt wurde das Großereignis, das diese neue Vision verkörperte. Es war die zweite Generalkonferenz der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM), die im Jahre 1968 in Medellín, Kolumbien stattfand. Die Generalkonferenz begann mit einer Beschreibung der kirchlichen Situation und einer anschließenden theologischen Reflexion auf sie in der Art und Weise des Zweiten Vatikanums. Die Bischöfe beklagten das „unmenschliche Elend“, das die große Mehrheit der Menschen zu erdulden hatte. Sie nannten es ein „Unrecht, das zum Himmel schreit“. Es war ein äußerst wichtiger Fortschritt an sozialethischer Einsicht, als die Bischöfe zwar vor der Gewalt warnten, zugleich aber erklärten, dass die ihnen anvertrauten Menschen durch die strukturelle Vernachlässigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse oftmals „institutioneller Gewalt“ ausgesetzt seien. Diesem Konzept sowie der Rede von der „strukturellen Sünde“ begegnete man auf hoher Ebene mit starker Kritik; möglicherweise erhielt sie dann doch eine bemerkenswerte Anerkennung in der Enzyklika Johannes Pauls II. „Sollicitudo rei socialis“ (1987), die wiederholt von „struktureller Sünde spricht“.8 Bekanntlich lag der Hauptschlüssel für alle Themen der Konferenz in der einhelligen Bestätigung der kirchlichen „Option für die Armen“. Dieser Einsatz war der erste Schritt, die Entwicklung einer Theologie sollte der zweite Schritt sein. 5 Arthur F. McGovern, Liberation Theology and Its Critics: Toward an Assessment, Maryknoll/New York 1989, Kap. 1: A Brief History of Liberation Theology. Vgl. auch Roberto Oliveros, History of the Theology of Liberation, in: Ellacuría/Sobrino, Mysterium Liberationis (wie Anm. 3), 3–32. 6 Gutiérrez, Theology (wie Anm. 2), 13. 7 Ellacuría/ Sobrino, Mysterium Liberationis (wie Anm. 3), 244. 8 Mark O’Keefe, What Are They Saying about Social Sin? New York 1990; Charles E. Curran/Kenneth R. Himes/Thomas Shannon, Commentary on Sollicitudo rei socialis, in: Kenneth R. Himes (Hg.), Modern Catholic Social Teaching: Commentaries and Interpretations, Washington 2005, 415–435. Vgl. auch Margaret R. Pfeil, Power and the Preferential Option for the Poor, in: Stephen J. Pope (Hg.), Hope & Solidarity: Jon Sobrino’s Challenge to Christian Theology, Maryknoll/New York 2008, 215–227, hier 217f.
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Zwischen Medellín und dem nächsten Treffen von CELAM im mexikanischen Puebla 1979 entwickelte sich das Befreiungsdenken weiter. Die internationale Synode der Bischöfe machte in ihrem Dokument über die „Gerechtigkeit in der Welt“ extensiven Gebrauch vom Befreiungsvokabular und verkündete: „Handeln im Interesse der Gerechtigkeit und Teilhabe an der Veränderung der Welt erscheinen uns in voller Weise als eine konstitutive Dimension in der Verkündigung des Evangeliums, oder mit anderen Worten: sie erscheinen uns als die Sendung der Kirche für die Erlösung der Menschheit und ihre Befreiung aus Situationen der Unterdrückung“ (Nr. 6).9 Zudem gab es bedeutende Entwicklungen auf sozialem Gebiet, insbesondere in den Basisgemeinden, die größtenteils von Brasilien ausgingen. Was die Hauptereignisse in der Politik angeht, so ist der Staatsstreich Pinochets in Chile im Jahr 1973 zu nennen, und der Aufstand der Sandinisten in Nicaragua und der Beginn des Bürgerkrieges in El Salvador im Jahr 1979. Prominente Kritiker traten auf, zu den nicht Geringsten zählte Alfonso López Trujillo von Bogota, Kolumbien. 1977 veröffentlichte die Internationale Theologische Kommission eine Erklärung über „Menschliche Entwicklung und christliche Erlösung“. Darin wurden ohne Namensnennung aktuelle kritische Stimmen an der Befreiungstheologie zusammengefasst. Kritisiert wurden die Ansichten über Welt- und Heilsgeschichte, die Meinungen, die die Praxisbedeutung betonten, das Bibelverständnis, die Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Befreiung. In Puebla strebte die CELAM nach einem erfolglosen Anfangsversuch, die Synode zu kooptieren, einen Ausgleich an. Es kam zu einer gewissen Neubewertung von Medellín mit der begrifflichen Fassung „integrale Befreiung“ und zu einer Vertiefung durch die Erklärung einer „bevorzugten Option für die Armen“ und durch die Billigung des Phänomens der Basisgemeinden. Puebla sprach in beredter Weise von der Erkenntnis „der Leidenszeichen Christi des Herrn in den Gesichtern eines gequälten und unterdrückten Volkes.“10 Bevor nun die spezifische Thematik von Revolution und Gewalt angegangen wird, sollte ein Wort über die Anwesenheit und Darstellung Johannes Paul II. in Puebla gesagt werden. Bei seiner Ankunft in Puebla wurde der Papst von der mexikanischen Bevölkerung herzlich empfangen. Einige Beobachter jedoch, die wussten, dass der Papst den Marxismus aus erster Hand erfahren hatte und ihm sehr ablehnend gegenüberstand, interpretierten seine Ansprache vor den Bischö9 Kenneth R. Himes, Commentary on Justitia in mundo, in: Himes (Hg.), Teaching (wie Anm. 8), 333–362. 10 Puebla, Schlussdokument, 31–39. Dieser Text mit seiner neuen Betonung der Verbindung des Mystischen mit dem Prophetischen sollte auf dem nächsten CELAM Treffen in Santo Domingo 1992 wieder aufgenommen werden.
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fen als eine Anklage gegen die neue lateinamerikanische Theologie. Eine vermittelnde Position – und gewiss diejenige, die von den meisten anwesenden Theologen vertreten wurde – bestand in der Aussage, der Papst verbinde seine Kritik an einigen Ansätzen der neuen Theologie mit einer starken Befürwortung des Einsatzes für soziale Gerechtigkeit. Gegen den Primat der Praxis, der von vielen Befreiungstheologen vorgeschlagen wurde, betone er die geoffenbarte Wahrheit Gottes, wie sie in Schrift und Tradition zu finden sei. In der Ablehnung einer Interpretation des Evangeliums von einem Klassenstandpunkt aus betone er nachdrücklich (aber auch mit Einschränkung), dass „die Vorstellung Christi als einer politischen Figur, als Revolutionär, als subversive Figur aus Nazareth mit der kirchlichen Katechese nicht übereinstimmt“. Das Neue Testament lehre eine „unzweideutige Ablehnung von Gewalt“; anstelle von Gewalt rufe es zu einer Liebe auf „die verändert, Frieden schafft, verzeiht und versöhnt“. Ebenso sei die Kirche keine Reaktion auf die politische Umgebung; sie sei vielmehr „geboren aus unserer Reaktion im Glauben an Christus.“ Die Kirche sei nicht einfach das Volk mit einer besonderen Vorliebe für die Armen; sie besitze notwendigerweise eine offizielle, hierarchische Dimension.11 Johannes Paul II. bewegte sich dann von dieser kritischen Betrachtung weg, um einen christlichen Humanismus oder eine christliche Anthropologie vorzuschlagen, sie sich dessen voll bewusst ist, dass das Volk Gottes unter Unterdrückung und Missbrauch leidet. So äußerte der Papst: „die vollständige Wahrheit über das Wesen des Menschen bildet die Grundlage der kirchlichen Soziallehre und das Fundament wahrer Befreiung“ (I, 9). Bei der Verteidigung aller menschlichen Wesen sei die Kirche vom Evangelium her inspiriert. Sie handle „zugunsten von Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden und gegen alle Formen von Dominanz, Sklaverei, Diskriminierung und Gewalttätigkeit“. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen beklagte der Papst die Tatsache, „dass der wachsende Reichtum weniger parallel verläuft zur wachsenden Armut der Massen“. Er betonte nachdrücklich, „dass innerer und internationaler Friede nur gesichert werden kann, wenn ein soziales und ökonomisches System heranwächst, das auf Gerechtigkeit gründet“ (III, 4). Somit verwies Johannes Paul II. in der Tat auf eine positive Theologie der Befreiung, die durch die volle Wahrheit des Evangeliums und im Einsatz und in der Einheit mit den Hirten der Kirche zum Wohle der Armen geleitet wird. Indem er fundamentale Prinzipien ins Gedächtnis rief und dabei seine Lehrautorität behauptete, schlug der Papst etwas vor, was man eine politisch sensible, aber nicht politisierende Interpretation des Evangeliums heute nennen könnte. Er entwi-
11 Peter Hebblethwaite, Liberation Theology and the Roman Catholic Church, in: Rowland (Hg.), Cambridge Companion (wie Anm. 4), 179–198.
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ckelte jedoch dabei nicht seine Ansichten über den Gegensatz von Kapitalismus und Marxismus. Dies blieb „Sollicitudo rei socialis“ vorbehalten.
Glaube und Gewalt Revolution und Gewalt war von Anfang Thema sowohl unter den Befreiungsanhängern als auch unter deren Kritikern. War Jesus subversiv, und wenn überhaupt, in welchem Sinne? Machte die Befreiungstheologie den Vorschlag einer Revolution und wenn so irgendwie, dann genau wie? Wenn radikaler Wechsel in einer Situation angesagt war, die sich als unterdrückerisch und sozioökonomisch ungerecht darstellte, wer sollte den Umsturz bewirken, und wie? Gustavo Gutiérrez hatte vor „unfruchtbaren Ausbrüchen einer Guerilla-Gewalt“ gewarnt; er selbst distanzierte sich schon früh von Theologien von Revolution und Gewalt.12 Seine Kritiker griffen ihn aufgrund von Unklarheiten in seiner Bewunderung für Revolutionsfiguren an, wie zum Beispiel für den jungen Bolivianer Nestor Paz. Moniert wurden gelegentlich auch sehr allgemeine Aussagen wie: „In Lateinamerika muss sich die Kirche innerhalb des Revolutionsprozesses querstellen, inmitten der Gewalt, die in verschiedenen Weisen gegenwärtig ist.“13 In einer eher gemäßigten Kritik an der Befreiungstheologie hielt es Alfonso Kardinal López Trujillo für annehmbar, wenn die Befreiungstheologie Umkehr, Versöhnung und die religiöse Sendung der Kirche in der Gesellschaft hervorhob; er kritisierte aber jede Auffassung, die politischen Konflikt schürte und Kategorien von Klassenkampf verwendete. Weniger zurückhaltend vertrat er jedoch die polemische Auffassung, dass Befreiungsanhänger die Marxistische Revolution voranbringen wollen, dass sie Gewalt predigen und die Hierarchie bekämpfen, da diese in ihren Augen zu den Anhängern des Status quo gehört. „Ist Christus ein Eiferer, der radikale Veränderung mit Gewaltmitteln herbeizuführen sucht?“, schrieb der Kardinal erzürnt in seiner Schrift „Befreiung oder Revolution?“. „Sucht er ungeduldig das Königreich, und möchte er seinen Auftrag mit Mitteln von Gewalt beschleunigen?“14 Nur kurze Zeit, nachdem der Vatikan Leonardo Boff ein Rede- und Lehrverbot auferlegt hatte, gab die Glaubenskongregation zwei „Instruktionen“ heraus. Die erste aus dem Jahr 1984 „Libertatis Nuntius“ („Instruktion über gewisse Aspekte der ‚Theologie der Befreiung’“) ist ein bemerkenswertes Dokument. In ei12 Gutiérrez, Theology (wie Anm. 2), 51, Nr. 5; 250, Nr. 124; 253, Nr. 3; vgl. zu seinen späteren Äußerungen Ders., Task and Content (wie Anm. 4), 21. 13 Gutiérrez, Theology (wie Anm. 2), 138. Vgl. auch ebd., 135, 262. 14 Alfonso López Truillo, Liberation or Revolution? Huntington 1977, 37–46.
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ner Sprache, die an Härte jedem Befreiungstheologen gleichkommt, brandmarkt diese Verlautbarung das Elend der Armen „als eine unerträgliche Verletzung ihrer Menschenwürde“ und ebenso den „Skandal der schockierenden Ungleichheit zwischen den Reichen und den Armen“ (I, 6). Sie warnte jedoch vor „Abwegen“, die mit einem unkritischen Gebrauch marxistischen Denkens verbunden seien. Dabei qualifizierte sie auch den Begriff der „strukturellen Sünde“ und sprach sich vage gegen Revolution aus. Die stärkste Kritik richtete sich aber gegen den besagten Gebrauch einer marxistischen Analyse, die das Reich Gottes mit einem historischen Prozess identifizierte. Auch wurde im Dokument gegen „die verheerende Vermischung der in der Schrift erwähnten Armen mit dem Proletariat von Marx“ (IX, 10) polemisiert. Zwei Jahre später (1986) veröffentlichte die Glaubenskongregation die Instruktion „Libertatis Conscientia“ („über christliche Freiheit und Befreiung“), die, obschon moderater, die Befreiungstheologie doch noch zur Rechenschaft zog. Die Zielrichtung des Dokumentes hatte Kommentatoren allerdings dazu veranlasst, darin die soziale Lehre von Johannes Paul II. selbst zu entdecken. Sie war als leitend überall erkennbar.15 In bezeichnender Weise erkennt das Dokument die Verantwortung der „Ortskirchen, in Gemeinschaft untereinander und mit dem Stuhl Petri“ (Teil 2) an. Jedoch schlägt es ein höchst spirituelles Verständnis der Bedeutung von Armut und ihrer Behebung vor, verweisend auf die Erfahrung der Heiligen, auf die ethische Reinheit, wie sie im Magnifikat Mariens zum Ausdruck kommt, und es verweist weiter auf ein primär spirituelles Sinnverständnis des Exodus, von Anfang an ein Hauptthema der Befreiungstheologie. Im Schlussparagraphen wird die Thematik von Revolution und Gewalttätigkeit aufgegriffen. Das Dokument ist eindeutig: „Die systematische Zuflucht zur Gewalt, vorgeschlagen als notwendiger Weg zur Befreiung, muss als eine destruktive Illusion verdammt werden; sie öffnet den Weg zu neuen Formen sklavischer Abhängigkeit.“ (§ 76) Ich setze voraus, dass wir alle damit einverstanden sind. Aber wer könnte einen Befreiungstheologen nennen, der damit nicht einverstanden wäre?16 Im Folgenden will ich kurz das Denken dreier Befreiungsanhänger skizzieren, die sicherlich keine „systematische Zuflucht zur Gewalt“ unterstützen. Der erste ist Juan Luis Segundo, der in seinem Werk „Befreiung von Theologie“ eine originäre (und ziemlich eigenwillige) Interpretation von Gewalt präsentiert. In einem Kapitel, das hauptsächlich dem Verhältnis zwischen normati15 Das fünfte Kapitel trug die Überschrift „Die Soziallehre der Kirche – auf dem Wege hin zu einer christlichen Praxis der Befreiung“. 16 Zu den Instruktionen vgl. McGovern, Liberation Theology (wie Anm. 5), 15–19 und passim; Hebblethwaite, Liberation Theology (wie Anm. 11), 190–195; Ricardo Antoncich, Liberation Theology and the Social Teaching of the Church, in: Ellacuría/Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis (wie Anm. 3), 103–122.
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ver Theologie und historischem Relativismus gewidmet ist, konstruiert Segundo seine fundamentale Unterscheidung zwischen Glauben (in seiner absoluten Wahrheit als von Gott geoffenbart) und Ideologien (als konkrete Systeme, die durch Geschichte bedingt sind). Er stellt die Frage, wie Liebe und Gewalt in ihrem Verhältnis zueinander verstanden werden sollten. Weil Liebe nur „innerhalb einer Ökonomie von Energie“ existieren könne, argumentiert er, müsse es irgendeinen Mechanismus geben, mit dem wir eine Unmenge an Leuten auf Armeslänge halten, so dass wir in der Lage sind, eine bestimmte Gruppe von Menschen wirksam lieben zu können. Das aber impliziert, so behauptet er weiter, „einen anfänglichen Grad an Gewalt“, durch den Menschen eher wie Funktionen behandelt werden, denn als Personen. Wie das Gesetz von einer Zwangsgewalt begleitet sein muss, die, wenn nötig, Willfährigkeit erzwingen kann, so ist auch die Gewalt „eine intrinsische Dimension jeglicher und aller konkreten [historischen] Liebe“. „Die Dynamik der Liebe tendiert jedoch in Richtung auf Gewaltreduktion, die für die Wirksamkeit auf der nach Möglichkeit niedrigsten Ebene erforderlich ist.“17 Segundos wirkliches Anliegen, so scheint mir, ist zu zeigen, dass selbst die Liebe als grundlegendster Wert in seiner Ausübung historisch bedingt ist. Somit hat die notwendige Interpretation dessen, was die wirksamste und umfassendste Liebe in einer besonderen Situation ist, sowohl eine absolute und eine relative Dimension – muss aber nicht notwendig relativistisch sein. Zum Vorwurf, er vertrete eine Situationsethik, entgegnet Segundo, Situationismus sei ahistorisch und er selbst betrachte sich als ethischen Kontextualisten. Auf den Vorwurf, er sei ein Utilitarist, antwortet er, dass seine christliche Moral auf der Suche danach sei, was am universalsten und gemeinschaftlichsten ist, und nicht bloß individualistische Befriedigung. Es sollte in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen werden, dass er in seiner späteren Arbeit „Glaube und Ideologien“ (1984) die Auffassung vertritt, dass es gewisse Formen von Gewalt gebe, wie zum Beispiel Folter, die zu verdammen sind. Die Feinheit seiner Analysen scheint gegen eine Zensur der Glaubensbehörde immun zu sein. Der zweite, mit einem umfangreichen Schrifttum, ist José Míguez Bonino, Methodist und Professor für Systematische Theologie am Instituto Superior Evangélico de Estudios Teológicos in Buenos Aires. Er hat eine protestantische Version einer politischen Ethik entwickelt, die in beträchtlicher Weise von seiner gründlichen Kenntnis der katholischen Tradition geprägt ist. Wie andere Befreiungsanhänger war sein Ausgang die Praxis. Die bedauerliche Lage der Armen, aber auch ihren Durchhaltewillen, beschrieb er in beredter Weise. Míguez Bonino setzte sich für beides ein: für die persönliche Transformation und für 17 Juan Luis Segundo, The Liberation of Theology, Maryknoll/New York 1976, hier Kap. 6, Ideologien und Relativität, 161f.
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den institutionellen Wandel. Auf letzteres bezogen erarbeitete er einen flexiblen Prozess ethischer Reflexion, die als ethisches Basiskriterium vorschlägt, „die Maximierung universeller menschlicher Möglichkeiten und die Minimierung menschlicher Kosten“.18 Wie andere Befreiungsbefürworter bezog er sich bei der Diskussion um den revolutionären Wandel auf Kriterien des gerechten Kriegs. Er näherte sich dem Gewaltthema im großen historischen Kontext, in dem für Lateinamerika die Eroberung und der Kolonialismus herausragende Figurationen darstellen. Dabei war er sehr genau, was die unterschiedlichen Formen von Gewalt betraf: die institutionelle Gewalt, wie sie Medellín zuerst und danach Puebla beschrieben haben; die repressive Gewalt, die Menschen mit Mitteln behandelt, die von Einschüchterung bis Folter reichen; und die revolutionäre Gewalt, die eine neue soziale Ordnung anstrebt. Er unterschied zudem zwischen zwei verschiedenen Annäherungen an Frieden und Gewalt: die eine ist priesterlich, schätzt Ordnung über alles; die andere ist prophetisch, ruft vor allem nach Gerechtigkeit. Indem Míguez Bonino der möglichen Rechtfertigung revolutionärer Gewalt eine Erlaubnis erteilte, hielt er jedoch daran fest, dass Christen, die Jesus folgen, generell nur gewaltlose Mittel verfolgen sollten, die mit größerer Wahrscheinlichkeit Schaden minimieren und menschliche Würde maximieren. Eine dritte Stimme, die sich in der Gewaltdiskussion erhob und vielleicht die weitreichendste war, war die von Ignacio Ellacuría, einem baskischen Jesuiten, der die meiste Zeit seines Lebens in El Salvador verbrachte. Am 16. September 1989 wurde er von Regierungssoldaten auf dem Campus der Universität von Zentralamerika José Simeón Cañas (UCA) in San Salvador zusammen mit fünf priesterlichen Mitbrüdern, deren Köchin und deren Tochter brutal ermordet.19 Ellacurías „historischer Realismus“ wurde zwar erst nach seinem Tod auf Englisch publiziert, hatte jedoch bereits zuvor großen politischen wie theologischen Einfluss ausgeübt.20 In bemerkenswerter Weise verband er spirituelle Weisheit und soziale Klugheit.21 Für ihre praktische Umsetzung gab er sein Leben hin. Ellacuría sprach von „ursprünglicher Gewalt“ als die zerstörerische Wirkung ungerechter Strukturen; sie ist begleitet von „repressiver Gewalt“, die gegen alle vorgeht, die gegen Ungerechtigkeit protestieren oder opponieren. Gegen eine 18 Zitiert und kommentiert in: Thomas L. Schubeck, Liberation Ethics: Sources, Models, and Norms, Minneapolis 1993, 221. 19 Leo J. O’Donovan, Martyrdom and Mercy, in: The Washington Post, 19. November 1989, D4; Ders., Martyrs in El Salvador, in: The Washington Post , 16. November 1999, A32. 20 Vgl. als seinen wichtigsten Aufsatz: Ignacio Ellacuría, The Historicity of Christian Salvation, in: Ders/Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis (wie Anm. 3), 251–289. 21 Jon Sobrino, Ignacio Ellacuría. El hombre y el cristiano, Bd. 1 (Revista Latinoamericana de Teología 32) , San Salvador 1994, 135ff.
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solche ursprüngliche Gewalt erhebt sich eine „reaktive Gewalt“, die auch revolutionäre Gewalt einschließen mag. Von Natur aus moralisch zweideutig kann reaktive Gewalt legitime Selbstverteidigung mit sich bringen. Wenn aber ihre Mittel unsittlich sind, wie im Fall von Terrorismus, muss sie verurteilt werden. Ein Bewerten fordert immer kritische Unterscheidung: solche Unterscheidung aber kann unter außergewöhnlichen Umständen zur Beurteilung führen, das Auflehnung legitim sein könne. Ellacuría kannte die berühmte Stelle in „Populorum Progressio“ (1967) von Paul IV., in der der Papst vom Umsturz tyrannischer Regierungssysteme sprach.22 In der Praxis trat Ellacuría wiederholt für ein Ende der Waffengewalt ein. Im Jahr 1981 plädierte er für Dialog und ein Ende des Bürgerkriegs in El Salvador. 1989 wandte er sich während der nationalen Debatte um Herbeiführung von Frieden mit starken Ratschlägen gegen die letzte bewaffnete Offensive durch die Befreiungsfront Farabundo Martí. Er war ebenfalls der Auffassung, dass der Einsatz von Gewalt durch baskische Separatisten ungerecht sei, weil das Kriterium eines „letzten Mittels“ nicht eingehalten wurde. Jedoch vertrat er die Ansicht, dass „bewaffneter Kampf“, vorausgesetzt, er nimmt nicht terroristische Formen an, berechtigt sein mag; dies allerdings nur, wenn strukturelle Ungerechtigkeit einen Großteil der Bevölkerung in schwere Gefahr bringt, sei es, dass die Menschen der zum Überleben notwendigen Mittel beraubt werden, oder sei es durch Repression, durch die diejenigen mit dem Leben bedroht sind, die für soziale Gerechtigkeit kämpfen. Diese Argumentation bewegt sich jenseits der expliziten Positionen, die von neueren päpstlichen Dokumenten eingenommen werden; sie scheint aber nichtsdestoweniger innerhalb der breiten Tradition der Katholischen Soziallehre zu verbleiben. Erwähnt werden sollte noch die fundamentale Glaubensüberzeugung Ellacurías: „Von einem letzten Christlichen Standpunkt aus, jenem der Vollkommenheit, der dem historischen Jesus folgt, sollten jene Christen, die in ihren Haltungen und Handlungen durch und durch christlich sind – indem sie die ersten und heroischsten sind, die alle Formen von Ungerechtigkeit bekämpfen – jene besagten Christen sollten keinen Gebrauch von Gewalt machen. Nicht dass Christen immer und überall Gewalt verwerfen müssen, aber Christen, die als solche handeln, werden normalerweise ihr spezifisches Zeugnis nicht durch die Anwendung von Gewalt geben.“23 22 Vgl. Allan Figueroa Deck, Commentary on Populorum progessio, in: Himes, Teaching (wie Anm. 8), 292–314; Charles E. Curran, Catholic Social Teaching: 1891-Present: A Historical, Theological, and Ethical Analysis, Washington 2002, 162–63; John Langan, Violence and Injustice in Society: Recent Catholic Teaching, in: Theological Studies 46 (1985), 685–99. 23 Kevin F. Burke, The Ground Beneath the Cross: The Theology of Ignacio Ellacuría, Washington 2000, 26. Vgl. Ders., Violence and the Way of Peace: The Moral Vision and Theological Witness of Ignacio Ellacuría, in: Rassegna di Teólogia 45 (2003) H 2, 165–187.
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Sterben in Gewalt, Auferstehen in Frieden Ein Jahr nach der Ermordung Ellacurías und seiner Gefährten beklagte sein jesuitischer Mitbruder Jon Sobrino, dass die Befreiungstheologie „aus der Mode“ gekommen sei. „Unterdrückung ist keine Mode“, so schrieb er. „Die Schreie der Unterdrückten steigen zum Himmel empor […] mehr und mehr vernehmlich […]. Ich frage mich, was ist mit der Theologie los, wenn sie die fundamentale Tatsache der göttlichen Schöpfung, wie sie ist, ignoriert. Wie kann sich eine Theologie ‚christlich’ nennen, wenn sie an der Kreuzigung ganzer Völker und an ihrem Bedürfnis nach Auferstehung vorbeigeht?“24 Auch wenn sich dieses Essay fast ausschließlich auf die Befreiungstheologie in Lateinamerika konzentriert, darf man nicht vergessen, dass es ähnliche Befreiungsbewegungen von Afroamerikanern, in Afrika und Asien und auch unter Frauen gab und gibt, die ebenfalls von großer Bedeutung sind.25 Verbunden durch kontextuelle Entsprechungen und ähnliche Erfahrungen teilen diese Stimmen der Solidarität eine Hingabe an bestärkte Erfüllung; sie bieten neue Versionen der rettenden Gegenwart Gottes in menschlicher Geschichte – ob in ausdrücklich christlicher Terminologie oder einfach durch ihren mutigen, inklusiven Humanismus.26 Nicht zu vergessen ist die Sicht der Konferenz der katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten in Bezug auf Fragen von Krieg, Gewalt und Friede. Zu den stärkeren Positionen, die von der Konferenz bezogen wurden, gehörte die „Stellungnahme zum Irak“ am 13. November 2002. Darin erhoben die US-amerikanischen Bischöfe „ernsthafte Bedenken über die moralische Legitimität eines vorschnellen, einseitigen Gebrauchs von militärischer Gewalt, um die Regierung zu stürzen“. „Basierend auf Tatsachen, die uns bekannt sind“, so formulierten sie, 24 Jon Sobrino, Companions of Jesus. The Murder and Martyrdom of the Salvadorean Jesuits, London 1990. 50–1. Vgl. auch Ders., The Latin American Martyrs: Summons and Grace for the Church, in: Daniel G. Groody (Hg.), The Option for the Poor in Christian Theology, Notre Dame 2007, 89–116; Martin Maier, Aktualität der Theologie der Befreiung; in: Stimmen der Zeit 227 (2009) H 9, 577f. Es war Ellacuría, der zuerst die Armen als Agenten ihrer eigenen Befreiung in Solidarität mir ihrer Kirche „das gekreuzigte Volk“ genannt hat, vgl. Jon Sobrino, Where Is God? Earthquake, Terrorism, Barbarity, and Hope, Maryknoll/New York 2004, Kap. 4: „The Crucified People“, 49–70. Vgl. auch Paul G. Crowley, Theology in the Light of Human Suffering: A Note on „Taking the Crucified Down from the Cross“, in: Pope (Hg.), Hope (wie Anm. 8), 16–30. 25 Einen kurzen Überblick gibt Gregory Baum, Religion and Alienation: A Theological Reading of Sociology, Maryknoll/New York ²2007, 185–193. Detaillierter bei Rowland, Cambridge Companion (wie Anm. 4), mit Kapiteln über Asien, „Schwarze Theologie“, feministische Perspektiven, usw. 26 Ein gutes Beispiel bei: Nicholas D. Kristof/Sheryl WuDunn, Half the Sky: Turning Oppression into Opportunity for Women Worldwide, New York 2009.
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„finden wir es weiterhin schwierig, den Rückgriff auf einen Krieg gegen den Irak zu rechtfertigen, da eine klare und angemessene Evidenz eines drohenden Angriffs gravierender Art fehlt. Mit dem Heiligen Stuhl, mit Bischöfen des Nahen Ostens und Bischöfen rund um den Erdball fürchten wir, dass der Rückgriff auf Krieg – unter den gegenwärtigen Umständen und im Lichte der aktuellen, öffentlichen Information – nicht den strikten Bedingungen der katholische Lehre entspräche, die ein Beiseiteschieben der starken Wahrscheinlichkeit gegen die Anwendung militärischer Gewalt gestatten würde.“27 Zwei Jahre später, am 22. Juni 2004, äußerte nach bereits erfolgter Invasion wiederum Bischof Wilton D. Gregory, Präsident der Konferenz, die schweren moralischen Bedenken seiner Amtsbrüder über die militärische Intervention im Irak. „Dass Anstrengungen für größere Sicherheit unternommen werden, sind für die ökonomische und politische Rekonstruktion wesentlich“, pflichtete er bei. „Wir sind jedoch zutiefst besorgt wegen der übermäßig aggressiven Taktiken, die das Risiko der Zivilbevölkerung erhöhen, bedeutsame kulturelle und religiöse Sensibilität vermissen lassen und zu Gewalttaten und Terrorismus anstacheln. Sie können auch die so sehr benötigte Wiederherstellung physischer, ökonomischer und sozialer Infrastruktur verzögern; sie können die Anstrengungen unterminieren, eine zivilere Gesellschaft aufzubauen.“28 Ich bin für diese klaren und meiner Meinung nach mutigen Stellungnahmen dankbar. Ihre Wirksamkeit wurde natürlich durch den erschreckenden Skandal des Kindesmissbrauches in der US-amerikanischen Kirche kompromittiert. Sie waren aber keine „Gelegenheitsentwürfe“. Die Äußerungen basierten eher auf Jahrzehnten ernsthafter Reflexion. Repräsentativ für diesen Reflexionsprozess ist ein Hirtenschreiben über Krieg und Frieden, welches die Konferenz 1983 veröffentlicht hatte: „Die Herausforderung des Friedens: Göttliches Versprechen und Unsere Antwort“.29 In diesem ausführlichen Dokument findet man die Frucht einer weitreichenden Konsultation und des Dialogs in der Gesamtkirche. Die US-amerikanischen Bischöfe versuchten den Ruf der Pastoralkonstitution hörbar zu machen und „eine vollständig neue Bewertung des Krieges vorzunehmen“ (GS 80). Indem sie das fundamentale Recht auf Verteidigung gegen Aggression (und zwei christliche Traditionen der Wahl, Waffen zu tragen oder sich weigern, sie zu tragen) anerkannten, schrieben die Bischöfe: „Wir glauben an eine Arbeit, die 27 United States Conference of Catholic Bishops, Statement on Iraq, Washington, 13. November 2002, online unter http://old.usccb.org/bishops/iraq.shtml (letzter Aufruf: 8. August 2012). 28 Wilton D. Gregory, Statement on Iraq, 22. Juni 2004, online unter http://old.usccb.org/ sdwp/international/iraqstatem.shtml (letzter Aufruf: 8. August 2012). 29 Vgl. Philip J. Murnion (Hg.), Catholics and Nuclear War: A Commentary on „The Challenge of Peace“. The U. S. Catholic Bishops’ Pastoral Letter on War and Peace, New York 1983.
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gewaltlose Mittel entwickelt, Aggression abzuwehren, und wir glauben an Konfliktlösung, die den Ruf Jesu nach Liebe und Gerechtigkeit reflektiert und beherzigt“ (Art. 78.). Sie offerierten dann eine sorgfältig nuancierte Zusammenfassung der Tradition „Gerechter Krieg“ über das Eintreten in einen Krieg und über die Kriegsführung (ius ad bellum, ius in bello).30 Zehn Jahre später suchten die Bischöfe in einem bescheideneren Hirtenbrief „Die Ernte der Gerechtigkeit wird in Frieden gesät“ (1993) erneut die Zeichen der Zeit zu lesen – im Licht der dualen Tradition einer Ethik des gerechten Kriegs und einer Ethik der Gewaltlosigkeit. Sie versuchten auch „Lehren zu ziehen aus den gewaltlosen Revolutionen in Osteuropa 1989 und der früheren Sowjetunion 1991 einerseits und aus den Konflikten in Mittelamerika, am Persischen Golf, in Bosnien, Somalia, Libanon, Kambodscha und Nordirland andererseits“. Angesichts des immensen menschlichen Leids, das in den letzten Jahren durch diese Kriege, mit ihrem dramatischen Anstieg von nicht kämpfenden Opfern, verursacht wurde, vertrat der Hirtenbrief die Ansicht, dass die Wendung gegen die Anwendung von Gewalt nur stärker werden kann. Somit heißt es zusammenfassend: 1. In Konfliktsituationen muss es unsere konstante Hingabe sein, so weit wie möglich mit gewaltlosen Mitteln für Gerechtigkeit zu kämpfen. 2. Wenn aber nachhaltige Versuche gewaltlosen Handelns darin versagen, Unschuldige gegen fundamentale Ungerechtigkeit zu schützen, dann ist es legitimen politischen Autoritäten erlaubt, als letzte Maßnahme begrenzte Gewalt anzuwenden, um Unschuldige zu retten und Gerechtigkeit herzustellen.31 Gut dreißig Jahre nach seinem Martyrium soll abschließend eine Stimme, die es in besonderer Weise verdient, gehört zu werden, zu Wort kommen. Gemeint ist natürlich Erzbischof Oskar Romero, der die Welt mit der Kraftfülle seiner pastoralen Führung überraschte – für viel zu kurze Zeit auf dem Bischofsstuhl von San Salvador. Innerhalb der großen Gaben, die Romero seiner Kirche und der Weltkirche hinterlassen hat, nehmen seine vier Hirtenbriefe einen besonderen Platz ein. Der vierte, veröffentlicht am 6. August 1979, am Nationalfeiertag
30 Besondere Beachtung für die Legitimationsfrage von revolutionären und antirevolutionären Konflikten wird in der Forderung zusammengefasst, dass die Anwendung von Gewalt durch kompetente Autorität gebilligt werden muss; vgl. Philip Berryman, Liberation Theology and the U.S.Bishops’ Letters on Nuclear War and the Economy, in: Richard L. Rubenstein/John K. Roth (Hg.), The Politics of Latin American Liberation Theology, Washington 1988, 247–265. 31 United States Conference of Catholic Bishops, The Harvest of Justice is Sown in Peace, 17. November 1993, online unter URL: http://www.usccb.org/beliefs-and-teachings/ what-we-believe/catholic-social-teaching/the-harvest-of-justice-is-sown-in-peace.cfm (eingesehen am 8. August 2012).
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von El Salvador im schrecklichen Bewusstsein eines drohenden Bürgerkrieges, ist für unsere Thematik von besonderer Relevanz.32 Indem Romero seinen Leuten den „Geist von Puebla“ darlegte, schrieb er über die nationale Krise im Land, über den Beitrag der Kirche für die Befreiung des Volkes, über einige konkrete Probleme (einschließlich der Gewalt) und über Wege, auf denen das Erzbistum den pastoralen Ansatz von Puebla übernehmen könnte. Mit Puebla geißelte er „die ernste Verschlechterung einer politischen Situation, die Ungerechtigkeit institutionalisiert“. Er bestand auf „der dringlichen Notwendigkeit tiefen strukturellen Wandels im sozialen und politischen Leben unseres Landes“. Der erste Beitrag, den die Kirche zur Situation leisten könne, sei sie selbst, ihre Identität als Vorbotin Christi und Dienerin einer „integralen Evangelisierung“. Nicht politische Lösungen, sondern das Evangelium sei das, was die Kirche anbieten solle. Aber sie könne das Evangelium nicht predigen, wenn sie sich der sozialen Situation derer nicht bewusst ist, die ihr zuhören. Im Besonderen beschrieb Romero in lebendiger Weise den Auftrag der Kirche, ungeprüften Götzendienst zu entlarven. Er brandmarkte falsche Absolutsetzungen (wie zum Beispiel den „nationalen Sicherheitsstaat“).33 Er anerkannte freimütig Sünde oder Gefahr innerhalb der Kirche: durch Uneinigkeit, durch Versagen des Mutes bei der Erneuerung und durch Verfälschung der Kriterien des Evangeliums. Eine integrale und befreiende Evangelisierung müsse zwei Formen des Reduktionismus vermeiden. „Sie kann entweder nur die transzendenten Elemente der Spiritualität und der menschlichen Bestimmung betonen, oder sie geht in das andere Extrem und sucht nur jene immanenten Elemente eines göttlichen Reiches, das schon auf dieser Erde beginnen soll.“ Der dritte Teil des Hirtenbriefes bietet einige Schlüsselbegriffe zum Thema Gewalt. Unterschieden werden die „strukturelle“ oder „institutionalisierte“ Gewalt, die einer Mehrzahl von Salvadorianern das Lebensnotwendige versagt; die „willkürliche Gewalt“ des Staates, die jede öffentliche Kritik erstickt; die „Gewalt des extremen Rechten“, die in terroristischen Gruppen offensichtlich ist; und die „terroristische Gewalt“, die durch politisch-militärische Gruppen verkörpert wird. Das Schreiben erlaubt „aufständische Gewalt“ unter den strikten Bedingungen, die wir bereits oben im Zusammenhang mit Ellacuría diskutiert haben. 32 Oskar Romero, The Church’s Mission amid the National Crisis, in: Ders., The Voice of the Voiceless: The Four Pastoral Letters and Other Statements, Maryknoll/New York 1985. 33 Vgl. Simone Weil, Reflections on War, zitiert in: E. Jane Doering, Simone Weil and the Specter of Self-Perpetuating Force, Notre Dame 2010: „The worst possible betrayal always consists in willingly subordinating oneself to the state machinery of the administration, the police, and the military and serving it by trampling on one’s own and others’ human values.“
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Ähnlich verhält es sich mit der „Gewalt legitimer Verteidigung“ (der wir gern einen anderen Namen geben würden, die aber eben genau als Gewalt klassifiziert werden muss).34 Kurz: Dieses Dokument ist kongruent zu den Standpunkten eines Großteils der übrigen Befreiungstheologen, obwohl es eher zur Kategorie Hirtenbrief zu zählen ist, als dass es sich in den Kontext systematischer Theologie einordnen lässt. Man fragt sich traurig, wie dieser große Mann des Volkes – so überraschend stark und zugleich äußerst einfach – sein pastorales Programm hätte voranbringen können. Denn dazu sollte er keine Gelegenheit erhalten. Nur knapp ein Jahr nach seinem letzten Hirtenschreiben und einer Predigt, in der er dazu aufgerufen hatte, dass ein für andere geopfertes Leben ein sicheres Zeichen für Auferstehung und Sieg sei, wurde er am 24. März 1980 am Altar einer kleinen Kapelle des Hospitals zur göttlichen Vorsehung erschossen. Nur wenige Wochen vorher hatte er in seinem letzten Interview gesagt: „Wenn ich getötet werde, werde ich im Salvadorianischen Volk wieder auferstehen.“35 Was kann von gewaltsamem Tod kommen? Was kann von der Gewalt herkommen, die den Toten und Verwundeten Haitis angetan wurde – oder El Salvadors mit seinen eigenen Erdbeben? Sind Engagement und Solidarität mit dem Leiden anderer menschlicher Wesen, und insbesondere mit den Armen, ein Weg, das Leben menschlicher zu machen für die kurze Lebensspanne, die jedem Mann und jeder Frau gegeben ist, die man aber dann schließlich aufgeben muss? Ist das Elend, das in den Gesichtern unserer Mitmenschen geschrieben steht, vielleicht ein Reflex unseres eigenen Elends, aber eine Bedingung, die unbesiegbar durch alle Geschichte anhält? Ist der gewaltsame Tod am Kreuz, das Kreuz Christi und seines gekreuzigten Volkes, einfach eine Vordeutung eines universellen Holocaust? Oder gibt es Hoffnung? Eine Hoffnung, für die in einer geteilten und vertrauenden Liebe bezahlt wird, eine Hoffnung, die das fast vernichtete Volk von Haiti nicht der Verlassenheit preisgibt, einer Verarmung physischer und spiritueller Art, eine Hoffnung, dass unsere Solidarität mit den Gekreuzigten in der Tat unsere wahrste und innerste Berufung ist?
34 „Die Kirche erlaubt Gewalt bei legitimer Verteidigung“, schrieb der Erzbischof, „aber unter folgenden Bedingungen: (l) Dass die Verteidigung nicht das Maß ungerechter Aggression überschreiten darf (zum Beispiel, wenn sich jemand mit den eigenen Händen adäquat verteidigen kann, dann wäre es falsch, einen Angreifer zu erschießen); (2) dass der Rekurs auf angemessene Gewalt nur stattfindet, nachdem alle friedlichen Mittel erschöpft sind; und (3) dass eine gewaltsame Verteidigung nicht ein größeres Übel hervorbringt als das der Aggression – namentlich größere Gewalt, ein größeres Unrecht.“ Romero, The Voice (wie Anm. 32), 145. 35 James Brockman, Romero: A Life, Maryknoll/New York 1989, 248.
Die Theologie der Befreiung und das Problem der revolutionären Gewalt
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Der heilige Paulus war eindeutig: „Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt“ (Gal 6,14). Er sah sich selbst als gänzlich eins mit Christus und mit Christi Leib, all den Frauen und Männern, die in ihrer sich entwickelnden Welt zu Christus gehören und zueinander. Die Geistgabe der Hoffnung für eine erlöste Menschheit kann nur wachsen im Verhältnis zur Solidaritätspraxis in ihr. Die Konfrontation der Befreiungstheologie mit dem Anliegen der gekreuzigten Männer und Frauen nahm und nimmt immer noch ihren Mut vom Kreuz, von dem sie heruntergenommen werden sollten, um in Frieden aufzustehen jetzt und eines Tages für immer. Hören wir es noch einmal: „Wenn sie mich töten, werde ich im Salvadorianischen Volk wieder auferstehen.“
Vicente Durán Casas, S.J.
Option für die Armen und Demokratie Selbstverständlich werde ich in diesem Beitrag keinen historischen Überblick über die wichtigsten Eckpunkte in der Geschichte der Befreiungstheologie geben. Ebenso wenig beabsichtige ich, irgendeine evaluative oder bewertende These über diese theologische Bewegung zu etablieren oder vorzuschlagen, über ihren vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Wert, über ihre biblischen Wurzeln, ihre wissenschaftliche Zusammensetzung oder ihre historische Relevanz. Noch viel weniger möchte ich über die Wichtigkeit dieser theologischen Bewegung Lateinamerikas sprechen, welche ich als meine eigene ansehe, in dem Sinne, dass durch sie ein großer Teil meines religiösen Glaubens beeinflusst wurde und immer noch wird. Vielleicht ein Grund, weshalb wir auch – möglicherweise etwas zu weit – heute immer noch von Befreiungstheologie sprechen. Ich werde nun kurz und in sicherlich nicht erschöpfender Weise einige philosophisch-politische Aspekte dieser theologischen Bewegung kritisch betrachten.
Der universelle Wert einer Wiederentdeckung Nach der endgültigen Überwindung der Krise und des internationalen Desasters des Zweiten Weltkriegs durchlebten Westeuropa und Nordamerika in den fünfziger und sechziger Jahren eine Phase des ökonomischen und politischen Aufschwungs. Trotz der Spannungen des sogenannten Kalten Kriegs erfüllte der Aufschwung diesen Teil der Welt mit Optimismus und Vertrauen in die Zukunft. Afrika, Asien und Lateinamerika hatten jedoch keinerlei Anlass, an diesem Optimismus teilzuhaben. Obwohl ihre wirtschaftlichen und ökonomischen Eliten diesen durchaus besaßen, hingen doch ihre ökonomischen Interessen vom Handel mit der Ersten Welt ab. Für die Mehrheit der Bevölkerung in der Dritten Welt stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung. Die Ungleichheit und das soziale Missverhältnis wuchsen, während sich gleichzeitig – zumindest im Fall Lateinamerikas – die Militärdiktaturen vermehrten. In diesem historischen Kontext hat die Befreiungstheologie ihre Wurzeln. Sie entwickelte in ihrem Inneren eine große Unzufriedenheit, eine Anklage, einen Aufruf. Eine Unzufriedenheit, die in Form einer unbequemen Frage formuliert sein kann: Wie ist es möglich, dass in einem Kontinent, der katholisch dominiert ist, die Armut und Misere der immensen Mehrheit seiner Bevölkerung das Gewissen und die moralische Verantwortung seiner Führer unberührt lässt, seiner geistlichen Führer eingeschlossen?
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Eine Anklage, die in einem affirmativen Vorschlag formuliert werden müsste: Die Gründe der Misere und der Armut liegen in den ökonomischen und politischen Strukturen, die in diesen Ländern vorherrschen. Es wird zu einem Dialog aufgerufen, welcher als solcher, mittels des Willens, zur Handlung führt – ein Aufruf an das eigene Selbstverständnis des Glaubens, welcher nicht auf authentische Art gelebt werden kann, wenn er diese ökonomischen und politischen Strukturen nicht verändert und nicht zu einer Konstruktion eines sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen, gleichberechtigten und gerechten Lebens führt, das in größerer Übereinstimmung mit dem Evangelium steht. Es war dieser letzte Aufruf, welcher meiner Meinung nach in einer sehr klaren Weise den Rahmen der Entwicklung der Befreiungstheologie seit dem Ende der sechziger Jahre bis in unsere Tage hinein geprägt hat. Natürlich haben während dieser langen Zeit viele heterogene und verschiedene Entwicklungen stattgefunden – einige von ihnen scheinen heute durchaus nicht untereinander inkompatibel zu sein –, Entwicklungen, die sich von der Verwendung der marxistischen Theorie der ökonomischen Ausbeutung und des Klassenkampfs in dem Versuch, die Welt besser zu verstehen, bis hin zur unbestreitbaren Vitalität und Fruchtbarkeit einer christlichen Spiritualität erstrecken, die die Armen als privilegierte Empfänger der guten Nachricht wiederentdeckt und die die Realität des Martyriums und die Verfolgung als Konsequenz des Vertrauens in den Willen Gottes akzeptiert. Erinnern wir uns daran, dass das Zweite Vatikanische Konzil gerade zum Ende gekommen war und dass es vonseiten der lateinamerikanischen Kirche auf der Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats in Medellín im Jahr 1968 anerkannt wurde. Erinnern wir uns daran, dass 1971 das wohl signifikanteste und einflussreichste Werk dieser gesamten theologischen, politischen, spirituellen, ästhetischen und ökumenischen Bewegung erschien: „Teología de la liberación, perspectivas“, verfasst von dem peruanischen Priester Gustavo Gutiérrez, heute Mitglied des Dominikanerordens. Ohne versuchen zu wollen, ihren Inhalt zusammenzufassen oder zu synthetisieren, glaube ich, dass sich die Befreiungstheologie trotz einer Vielzahl von konzeptuellen und methodologischen Wendungen vor allem um eine fundamentale Frage bewegt: um die Frage nach der theologischen Bedeutung der strukturbedingten ungerechten Armut. Armut gab es zwar schon immer und es wird sie sicherlich auch immer geben. Aber nicht jede Armut ist strukturbedingt. Katastrophen wie Dürrezeiten und Überschwemmungen, Kriege, Seuchen und eine Vielzahl ähnlicher Phänomene, waren in historischen Zeiten die Hauptgründe für Armut. In ihnen erscheint nicht – nicht auf den ersten Blick – etwas, das man als strukturbedingt bezeichnen könnte, zumindest nicht in dem Sinn, in dem dieser Terminus in der modernen Sozialwissenschaft ver-
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wendet wird. In diesem Sinn lässt sich nachvollziehen und akzeptieren, dass nicht alle Armut zwangsläufig ungerecht ist. Menschen wurden und werden mit unterschiedlichen Qualitäten und individuellen Fähigkeiten geboren, sie erleiden verschiedene Krankheiten und sind unterschiedlichen Arten des Bösen ausgesetzt, welche sich im Allgemeinen nicht gleichmäßig verteilen. Trotzdem gelangen wir nicht zu der Annahme, dass die Natur im moralischen Sinne ungerecht sei. Die Befreiungstheologen sehen die Ursache der Armut in Lateinamerika, unabhängig von den bereits erwähnten natürlichen Gründen, in den ökonomisch-politischen Strukturen – dies gilt ebenso für viele marxistische Analytiker derselben Epoche –, die ihr eigenes Wachstum begünstigen und dazu neigen, sich und damit die Armut zu verfestigen. Das ist der springende Punkt. Und die Geschichte des Kontinents seit der Eroberung und der Kolonialisierung bis in unsere Tage hinein scheint zu bestätigen, dass sich in fast allen diesen Ländern schrittweise eine ausgesprochen starke und definierte soziale und ökonomische Pyramide zu konsolidieren begann, in welcher sich rassische, ökonomische und kulturelle Elemente vermischten, die Ausgrenzung, Armut und Ungleichheit begünstigten, so dass es angesichts dessen nicht ausreichte, den Bedürfnissen der Armen lediglich mit Hilfe der reichen und wertvollen christlichen Caritas nachzukommen. Die Neuheit bestand somit nicht in dem Inhalt der Anklage, nach der die allgemeine Armut durch ungerechte soziale und ökonomische Strukturen ausgelöst wurde, sondern in der Frage nach der theologischen Bedeutung dieses schmerzhaften Umstands. An dieser Stelle fließen meiner Meinung nach die drei bereits erwähnten Aspekte ineinander: Gefühle von Unzufriedenheit und Solidarität motivieren im Verstand die Anklage der strukturbedingten Gründe für diese Situation. Daraus erwächst ein individueller und kollektiver Aufruf der Gläubigen. Meines Erachtens ist dies alles in einem Begriff zusammenzufassen, welcher ebenfalls auf dem lateinamerikanischen Kontinent Geschichte gemacht und sich von dort aus ausgebreitet hat und von einer Vielzahl von Gläubigen in zahleichen Ländern und historischen Kontexten übernommen wurde: die Option für die Armen. Mit diesem Ausdruck möchte man auf etwas hinweisen, was tatsächlich nicht so sehr als eine Entdeckung, vielmehr als eine Wiederentdeckung von etwas Essentiellem des Glaubens und der christlichen Offenbarung zu verstehen ist. Es geht nicht nur darum, mit religiöser Ausdrucksweise die Armut als Folge von ungerechten Strukturen zu verurteilen – die jetzt übrigens als Strukturen der Sünde bezeichnet werden –, es geht darum, die christliche Offenbarung und Tradition als die gute Nachricht, als eu-angelion, wiederzuentdecken und neu zu deuten. Die neue Deutung ist in besonderer Weise an die Armen gerichtet und beruft sich auf die Aussage Lukas zu Beginn der Mission Jesu: „Der Geist des
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Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setzte und ein Gnadenjahr des Herren ausrufe“ (Lk 4,18–20). Natürlich war vieles von dem, was die Befreiungstheologen in ihrer Hermeneutik der Offenbarung entdeckten, schon lange vorher auf wunderbare Weise durch die Tradition hervorgebracht worden, vor allem durch die heiligen Väter der Kirche. Das Neue ist im befreiungstheologischen Ansatz jedoch nicht die Versicherung, dass Gott die Armen liebt, sondern die Interpretation des praxeologischen Einbeziehens dieser Liebe in einen sozialen Kontext von Armut und Misere auf einem mehrheitlich katholischen Kontinent. Es handelt sich um eine kreative Assimilation des erneuernden Impulses, der auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil angenommen worden war. Dass diese theologische Bewegung tiefgehende politische Implikationen und Konsequenzen haben würde, war für jedermann deutlich. Es war logisch, dass dies geschehen würde und so geschah es auch. Wie immer, wenn Religion und Politik sich berühren – oder sich meiden – gab es auch in Lateinamerika viele Formen von Fusion, Überlagerung, Auflösung, Vermischung, Assoziation, Zusammenarbeit und Übereinstimmung in der Frage der Option für die Armen – eigentlich ein theologisches Konzept, welches unserem Urteil nach seinen Ursprung in der Heilszusage Gottes hat sowie in der Option von Parteien und politischen Bewegungen der Linken. Beginnend mit der berühmten Option des Don Helder Cámera, Bischof von Recife, Brasilien, einem mutigen Verfechter der zivilen und politischen Rechte, welcher mit gleicher Courage die immensen Ungerechtigkeiten des brasilianischen Agrarkapitalismus – Raubtier der Natur und der Ausbeuter der Massen von armen Bauern – anprangerte und ein Apostel der internationalen Bewegung „Keine-Gewalt“ war, kommt man schließlich zur Option für die GuerillaGewalt des kolumbianischen Priesters Camilo Torres Restrepo, welcher sich 1965 dazu entschloss, in die Guerilla der ELN (Ejército de Liberación Nacional, Nationale Befreiungsarmee) einzutreten, wo er im Kampf wenige Monate später fiel. Auf welche Art und Weise rechtfertigte Camilo Torres 1965 seine Entscheidung für die Gewalt und den bewaffneten Kampf? „Es ist wichtig, dass wir Christen in diesem entscheidenden Moment für unsere Geschichte standhaft bleiben um die Grundsäulen unserer Religion herum. Das Grundsätzlichste des Katholizismus ist die Nächstenliebe. ‚Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt’ (Brief an die Römer 13,8). Diese Liebe, damit sie auch echt ist, muss nach Wirksamkeit streben. Wenn die Wohltätigkeit, die Almosen, die wenigen kostenfreien Schulen, die wenigen Wohnungsbaupläne, das was man ‚die Barmherzigkeit’ genannt hat, weder ausreichen, um der Mehrheit der Bedürftigen Essen zu geben, noch die Mehrheit der Nackten anzuzie-
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hen, noch der Mehrheit der Unwissenden etwas zu lehren, müssen wir effiziente Mittel zum Wohlergehen der Massen suchen. Nach diesen Mitteln werden nicht die privilegierten machthabenden Minderheiten suchen, weil diese effizienten Mittel diese Minderheiten dazu zwingen würden, ihre Privilegien zu opfern. Zum Beispiel wäre es besser, um eine Erhöhung der Arbeitsplätze in Kolumbien zu erreichen, wenn nicht das gesamte Kapital in Form von Dollars herausgegeben würde, sondern wenn man in das Land und in Arbeitsquellen investieren würde. Aber weil der kolumbianische Peso jeden Tag an Wert verliert, werden diejenigen, die das Geld und die Macht haben, nie den Export von Geld verbieten, weil sie sich, in dem sie es exportieren, vor einer Devaluation retten. Es ist deshalb notwendig, den privilegierten Minderheiten die Macht wegzunehmen, um sie an die arme Mehrheit zu übertragen. Das, wenn es schnell gemacht wird, ist das essentielle einer Revolution. Die Revolution kann friedlich sein, wenn die Minderheiten keinen gewalttätigen Widerstand leisten. Infolgedessen ist die Revolution die Möglichkeit, eine Regierung zu erzielen, die dem Hungernden Essen gibt, den Nackten bekleidet, den Unwissenden lehrt, die der Aufgabe der Barmherzigkeit nachkommt, der Liebe zum Nächsten, nicht nur sporadisch und übergangsweise, nicht nur für einige wenige, sondern für die Mehrheit unserer Nächsten. Deshalb ist die Revolution nicht nur erlaubt, sondern auch obligatorisch für alle Christen, die in ihr die einzige effiziente und weitreichende Art und Weise zur Realisierung der Liebe für alle sehen“.1 Ich versuche damit nicht anzudeuten, dass diese Ideen ein konstituierender Teil der Befreiungstheologie sind oder waren. Weder die Befreiungstheologie, noch die Option für die Armen implizieren Gewalt. Tatsächlich hat die Mehrheit der Christen, die die Option für die Armen als einen Aufruf zur Konversion gelebt hat, dies in pazifistischer Form getan, als Konstrukteure des Friedens auf der Grundlage der Gerechtigkeit, und das praktiziert, was wir als eine mutige Prophezeiung der Anklage der Ungerechtigkeiten und der Schaffung von brüderlichen Beziehungen, die auf die großzügige Nächstenliebe basiert, bezeichnen könnten. Aber ich glaube doch, dass Argumentationen wie die von Camilo Torres die politischen Kategorien vieler Gläubiger in ihrer Suche nach den effizienten Mitteln, Befreiung zu erlangen, inspiriert haben – Kategorien, die durch die Dringlichkeit bewegt wurden, dass die Befreiung bald, nicht nur in diesem Leben, sondern so bald wie möglich erlangt werden müsse. Für die Armen zu optieren führte – und führt noch immer – viele Gläubige dazu, sich für den Sozialismus zu entscheiden, welcher, auf kurze Sicht gesehen, das wirkungsvollste Mittel ist, um soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Inspiriert durch den Triumph der noch frischen kubanischen Revolution betrachteten 1 Nachricht an die Christen, Bogotá 26. August 1965.
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viele die Gewalt als ein Mittel, wenn auch vielleicht nicht unbedingt als das wirksamste, um ihre Ziele zu erreichen. 1972 trat im sozialistischen Chile Salvador Allendes die Bewegung „Cristianos por el Socialismo“, Christen für den Sozialismus, auf, welche sich sehr bald über ganz Lateinamerika und auch über Spanien ausbreitete. Viele Katholiken (und nicht wenige Priester) beteiligten sich direkt oder indirekt an – oder kollaborierten mit – Guerilla-Bewegungen und am bewaffneten Widerstand in Argentinien, Uruguay, Chile, Brasilien, Nicaragua, El Salvador, Guatemala und Kolumbien. Ohne ein Urteil über diese Art von Beteiligung abgeben zu wollen, müssen wir doch heute sagen, dass es uns überrascht, und wir uns fragen müssen: musste das so sein? Abgesehen von den unterschiedlichsten Analysen über die Situation in jedem einzelnen Land wage ich die Hypothese aufzustellen, dass die beschriebenen Phänomene durch ein sehr schwaches Demokratiekonzept möglich wurden. Hätte dieses sich eines größeren Respekts und einer größeren Anerkennung im kollektiven politischen Bewusstsein erfreut, hätte man nicht nur viel Blutvergießen verhindern, sondern auch bedeutendere Fortschritte im Kampf gegen die Armut erreichen können.
Demokratie: Eine unvollendete Aufgabe Im Unterschied zur Option für die Armen ist der Demokratiebegriff nicht theologisch, sondern philosophisch-politisch angelegt. Das bedeutet nicht, dass das Demokratiekonzept eine konzeptuell größere Legitimität hätte; es drückt lediglich aus, dass es methodologisch auf eine andere Art und Weise vorgeht als die Konzepte, die ihren Ursprung und ihre Rechtfertigung im religiösen Glauben haben. Im wirklichen Leben verwirren uns die verschiedenen Typen jedoch, indem sie sich spontan miteinander vermischen. Bei der Teilnahme an Wahlen beispielsweise halten wir uns nicht damit auf, zu überlegen, ob die Stimmabgabe für diesen oder jenen Kandidaten beziehungsweise diese oder jene Partei mit unserem christlichen Gewissen vereinbar ist, genauso wenig, ob sie unserem staatspolitischen Bewusstsein entspricht. Und wenn man auch sagen kann, dass es vernünftig erscheinen würde, eine Partei zu wählen, die eine Weltanschauung fördert, welche unserer eigenen Vision am nächsten liegt, würden wir uns schwer damit tun zu sagen, dass alle diejenigen, die unseren Glauben teilen, auch für diese Partei oder den Kandidaten unserer Wahl stimmen müssten. Das Vorherige erklärt sich teilweise durch den Umstand, dass wir heute mit einer Überzeugung an die Demokratie glauben, die unseren tiefsten religiösen Überzeugungen ähnlich ist. Jedoch war dies nicht immer so, schon gar nicht in Lateinamerika, wo das Gesetz und das Recht – Lex et Jus – und somit auch die Demokratie zumindest
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in der Erinnerung und in der kollektiven Imagination enger mit dem Motto: „Trample es nieder, wenn du es kannst“ verbunden waren als mit dem Motto: „Respektiere irgendwie, was du zu respektieren hast.“ Bürgerkriege, Militärdiktaturen, Korruption, Schmuggel, Schutzherrschaft, Drogenhandel, Gewalt und viele andere ähnliche Formen, die im Gegensatz zum Recht und zur Justiz stehen, waren das tägliche Brot im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben vieler unserer Länder. In diesem Zusammenhang sollte es uns nicht überraschen, dass die Demokratie als legitime Formalität, um Machtbeziehungen auf minimale Weise gerecht und vernünftig zu organisieren, weder von den lateinamerikanischen Theologen angesprochen noch in ihren klassischen Texten je erwähnt wurde im Sinne einer Forderung, einer Reklamation beziehungsweise eines Verlangens in zwangsläufiger Verbindung mit den Prozessen der historischen Befreiung. Es ist demnach meines Erachtens sinnvoll, einen systematischen Annäherungsversuch zwischen den Konzepten der Option für die Armen und der Demokratie zu machen, die in dem modernen Sinn verstanden werden soll, also so, wie wir sie heute verstehen und verteidigen in den Ländern, in denen es freie Wahlen (Repräsentation und Partizipation), Gewaltenteilung, Meinungs- und Pressefreiheit und das Monopol zur Einsetzung des Militärs durch den legitim konstituierten Staat gibt. Jorge Luis Borges bezeichnete die Demokratie als einen weit verbreiteten Aberglauben, einen Missbrauch der Statistik. Von Winston Churchill heißt es, er habe gesagt, dass die Demokratie das schlechteste politische System sei, das existiere, mit Ausnahme von allen anderen Systemen. Die Aussage Borges’ ist intuitiv richtig und fordert uns dazu auf, die Augen immer offen zu halten, auch wenn wir denken, dass wir immer wachsam sind. Ich weiß nicht, ob die Aussage Churchills richtig ist, aber ich glaube, dass es uns allen sehr bequem erscheint, was er sagt: der einzige Grund aufzuhören, an die Demokratie zu glauben, wäre, einen besseren Vorschlag zu haben, um die Macht in der Gesellschaft zu verteilen. Wie auch immer, ich wage an dieser Stelle, eine problematische und sicherlich unvollständige Hypothese zu lancieren, von der ich aber der Überzeugung bin, dass es lohnenswert ist, darüber zu diskutieren: die Option für die Armen – und damit alle Ideale und theologisch-politischen Utopien, die in der Befreiungstheologie enthalten sind –, muss innerhalb der Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie gelebt werden und niemals außerhalb. Um diese Hypothese zu rechtfertigen – eine Hypothese, die uns heute vernünftig erscheint, die aber in den sechziger und siebziger Jahren wie eine wahrhafte Häresie vorkam –, müssen wir bei einigen etwas paradoxen Aspekten verweilen. Stellen wir uns zum Beispiel vor, wie eine Option für die Armen ohne Demokratie aussähe, um im Anschluss an die Nachteile einer Demokratie ohne Option
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für die Armen zu denken. Option für die Armen ohne Demokratie: Soweit ich weiß, hat noch nie jemand so etwas vorgeschlagen, zumindest nicht in dieser einfachen und reduzierten Formel. Ich bin aber davon überzeugt, dass so etwas ähnliches in vielen der Optionen der katholischen lateinamerikanischen Linken präsent war – Optionen, in welchen die demokratische Formalität durch ideologische Faktoren außer Kraft gesetzt und kontrolliert wurden. Über viele Jahre hinweg waren es nicht wenige Befreiungstheologen, welche öffentlich ihre Sympathie für das kommunistische Regime Kubas erklärten und soweit gingen, die Beschneidung und die Unterdrückung der Freiheit des Einzelnen und der fundamentalen Politik zu rechtfertigen, weil dieses Regime, angeblich, die Armen begünstigte und betont „anti-Yankee“ war. Mit den Worten Camilo Torres hatte dieses Regime ein Ideal erreicht: den privilegierten Minderheiten die Macht wegzunehmen, um sie an die arme Mehrheit zu übertragen. Sie brauchten lange, um zu entdecken, dass die Sympathie mit diesem Regime sie in Wirklichkeit in Verteidiger einer politisch-dominanten Elite verwandelte, wenn nicht sogar in Komplizen eines totalitären Regimes der Linken. Intellektuelle der lateinamerikanischen Linken, wie der Nobelpreisträger Gabriel García Márquez, der niemals seine persönliche Freundschaft mit dem Diktator Fidel Castro verheimlicht hat, oder wie der brasilianische Theologe Frei Betto, haben, soweit ich weiß, niemals Solidarität oder Mitgefühl mit den Dissidenten und den politischen Gefangenen Kubas ausgedrückt. Es wäre einfach politisch inkorrekt gewesen. Dieser Skandal ist meiner Meinung nach von vielen auf dem lateinamerikanischen Kontinent immer noch nicht erkannt worden. Tatsächlich müsste das, was hinter einer Option für die Armen ohne Demokratie steht, als eine fundamentalistisch-theologische Politik bezeichnet werden, als eine politische Theologie ohne das kritische Fundament einer adäquaten politischen Philosophie, als ein Phänomen, das wir vielleicht mit größerer Klarheit wahrnehmen, wenn wir einige fundamentalistische islamische Bewegungen untersuchen, das aber in keiner Weise als fremd vom linken oder rechten Christentum angesehen werden darf. In Lateinamerika – und auch in Europa – war es nicht verwunderlich, dass Ansichten vertreten wurden, nach denen die moderne Demokratie nicht mehr sei als eine Erfindung der Bourgeoisie, um die Armen, die Unvorsichtigen und die Ignoranten unterjocht und unterworfen zu halten. Ihre Funktion, so heißt es in derartigen Diskursen, denen auch einige postmoderne Theologen nicht entgehen, ist es, existierende ökonomische, politische und kulturelle Machtstrukturen zu legitimieren. Sie vermögen nicht, darüber hinaus zu blicken. Meiner Meinung nach ist die erstaunliche Abwesenheit einer Demokratietheologie als Propädeutik für eine Befreiungstheologie auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Konstruktion einer echten demokratischen Gesellschaft niemals wirklich als Bestandteil der Befreiung verstanden worden ist. Mehr noch: Einige
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derjenigen Theologen, die der marxistischen Analyse des Kapitalismus am nächsten stehen und von ihr am meisten abhängig sind, sind sogar zu dem Gedanken gekommen, dass es eigentlich darum gehe, sich von der Demokratie zu befreien, da man mit der Befreiung versuche, die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern – und dafür nütze die Demokratie nur wenig oder rein gar nichts. „Ein Volk mit Hunger wählt nicht, es kämpft“: das war der gemeinsame Leitspruch vieler marxistischer und revolutionärer Bewegungen – ein Leitspruch, der ein positives Echo in den Predigten und theologischen Reflexionen fand. Es scheint paradox, aber bei näherer Betrachtung lässt sich das, was Camilo Torres als Ziel der Revolution bezeichnete (den privilegierten Minderheiten die Macht wegzunehmen, um sie an die arme Mehrheit zu übertragen), als Minimalessenz einer echten Demokratie verstehen. Schließlich handelt es sich um das griechische Wort demos, Volk, und kratía, Regierung, Herrschaft. Es gibt nichts Antidemokratischeres als einen oligarchischen Staat. Das sagte uns nicht gerade Karl Marx, sondern Aristoteles, und das ist gute politische Philosophie. Dieses Ideal der Demokratie als Regierung durch das Volk und für das Volk steht offensichtlich im Kontrast zu dem, was die Demokratie in fast allen lateinamerikanischen Ländern war, welche wohl als formale Demokratie ohne Option für die Armen verstanden werden kann. Es ist einfach und ebenso ethisch korrekt, gegenüber einer Demokratie skeptisch zu werden, wenn sich diese auf einen bloßen formalen Wahlablauf reduziert, in dem die Menschen gleich behandelt werden, jedoch nur wenn sie wählen, aber nicht, ob sie bei der Geburt ernährt werden, ob sie in die Schule gehen, medizinische Behandlung erhalten oder danach streben, die Wirtschaft beziehungsweise die produktiven Prozesse zu lenken. In diesem Sinne erscheint es mehr als verständlich, den Vorwurf zu akzeptieren, dass in vielen Fällen die Demokratie dazu verwendet wurde, um die Vorherrschaft und die sozialen Ungleichheiten zu rechtfertigen. Aufgrund dieser Erfahrung ist es wichtig, ein demokratisches Konzept zu haben, das über den demokratischen Formalismus hinausgeht und innerhalb seiner fundamentalen Prinzipien kollektive Vorschläge einführt, die an Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit orientiert sind. Nehmen wir also an, dass nicht jede WahlDemokratie eine echte Demokratie ist, dann könnten wir sagen, dass unsere Suche auf eine Demokratie abzielt, die, ohne auf die demokratische Formalität zu verzichten, als vernünftigerweise gerecht gegenüber allen Personen angesehen werden kann, weil sie die wirkliche Ungleichheit akzeptiert, im Besonderen die Armut, als eine Realität, die in großem Maße das demokratische Leben beeinflusst und einschränkt. Meiner Meinung nach ist eine solche Möglichkeit in den philosophischen Vorschlägen, etwa in denen von John Rawls (1921–2002), gegeben. Rawls beleuchtet am Rande von anderen kritischen Aspekten seiner Arbeit die politische Philosophie, indem er in das Herz des politischen Konzepts
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der Gerechtigkeit differenzierende Elemente einführt, welche erlauben, die bloß formalen Konzepte von Demokratie zu überwinden und darauf zu verweisen, was eine Demokratie als Option für die Armen wäre. In seinem Hauptwerk „A Theory of Justice“ (1971) schlägt John Rawls ein Gerechtigkeitskonzept vor, welches aus der notwendigen Zusammenarbeit und der Anwendung von zwei Prinzipien resultiert: Ein erstes Prinzip, das für Rawls lexikographische Priorität hat, garantiert eine größere Zahl von Grundfreiheiten, ist kompatibel mit einem System der allgemeinen Freiheit und garantiert die größtmögliche Zahl von gleichen Freiheiten für alle; ein zweites Prinzip zur Regelung von Differenzen und von wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten, so dass man (a) einen größeren Vorteil für die am wenigsten Begünstigten produziert und (b), dass die Posten und Stellen für alle nach gleichen Möglichkeiten zugänglich sind.2 Neben der immensen Anzahl von Reaktionen und Interpretationen, die dieser Vorschlag ausgelöst hat, was uns der enorme Einfluss des Werkes Rawls auf die politische Philosophie des 20. Jahrhunderts zeigt,3 ist ein Hinweis für unseren Zusammenhang besonders interessant: Entsprechend solcher Vorschläge müsste eine Demokratie gemäß der Effektivität des zweiten Prinzips bewertet werden. Also müsste geprüft werden, ob sie auch wirklich dazu dient, die sozialen Ungleichheiten zu korrigieren oder zu verringern, so dass nur solche Ungleichheiten akzeptiert werden, die nicht als ungerecht verstanden werden. Die Demokratie, wenn man sie so versteht, würde nicht um jeden Preis soziale Gleichheit schaffen wollen (welche durch das erste Prinzip der Priorität dennoch garantiert bliebe), sondern nur solche Ungleichheiten bekämpfen, die verständlicherweise als ungerecht angesehen werden. Dieser letzte Aspekt erscheint mir interessant: Handelte es sich nicht eigentlich darum, alle Ungleichheiten zu bekämpfen? Ich bin nicht dieser Meinung. Es verdient eine grundsätzliche Betrachtung sowie weitere methodologische Untersuchungen. Die grundsätzliche Betrachtung muss vor allem erfolgen, um ein weitverbreitetes Vorurteil zu entkräften, nach dem das Projekt einer absolut gleichberechtigten Gesellschaft mit dem Königreich Gottes, das von Jesus verkündet wurde, gleichzusetzen sei. Enrique M. Ureña macht uns darauf aufmerksam, welche Bedrohung eine derartige Hypothese für den christlichen Glauben darstellt. Zwar kann es Personen geben – und tatsächlich gibt es solche –, die sich für eine egalitäre Gesellschaft im Stil des marxistischen Sozialismus entscheiden 2 John Rawls, A Theory of Justice, Harvard 1971, 302. 3 Zum Beispiel: Norman Daniels, Reading Rawls. Critical Studies on Rawls’ A Theory of Justice, Stanford 1989; Chandran Kukathas/Philip Pettir, Rawls. A Theory of Justice and its Critics, Stanford 1990; Roberto Gargarella, Las teorías de la justicia después de Rawls. Un breve manual de filosofía política, Paidós 1999.
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– dies aber im Namen des christlichen Glaubens zu tun, stellt eine inakzeptable ideologische Instrumentalisierung des Glaubens dar: „die Christen, die diese sozialistische Option auswählen, müssen sich darüber im Klaren sein, warum sie diese in letzter Instanz wählen, und eine ideologisch-religiöse Legitimation vermeiden. Dem Christen ist nicht erlaubt (weder aus theologischer noch aus profaner Sicht), für den Sozialismus zu optieren indem er behauptet, Jesus sei für die Armen gewesen, und sein Tod sei das Ergebnis seines politischen und revolutionären Kompromisses für das Wohl der Ausgegrenzten seiner Zeit [...]. Man sollte auf der Hut sein“, fügt Ureña hinzu, „um nicht das christliche Ideal der Brüderlichkeit und der Verteidigung des Armen und Unterdrückten, und sei es nur implizit, mit der objektiven Realisation der sozialistischen (beziehungsweise kapitalistischen) Gesellschaft gleichzusetzen.“4 Eine methodologische Betrachtung muss die Schwierigkeit in Angriff nehmen, solche Ungleichheiten, die verständlicherweise als ungerecht angesehen werden, von solchen zu unterscheiden, die es nicht sind, ohne dabei in eine Art von rechtfertigendem Zynismus des Status Quo zu verfallen. Wer definiert und wie und nach welchen Kriterien wird definiert, wann eine Ungleichheit auch tatsächlich eine ungerechte Ungleichheit ist und wann nicht? Ich beziehe mich erneut auf Rawls, der betont: „truth and justice are uncompromising“. Wie er selbst zu Beginn des ersten Kapitels von „A Theory of Justice“ bestätigt, ist es eine seiner Bestrebungen, eine Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, „die eine machbare Alternative zu diesen Theorien [Utilitarismus und Intuitionismus] ist, die über lange Zeit hinweg unsere philosophische Tradition dominiert haben“.5 Während die rawlsianische Kritik am Utilitarismus zum Objekt zahlreicher Analysen und Studien wurde, ist die Perspektive einer Theorie der Gerechtigkeit, welche eine Kritik und Alternative zum Intuitionismus repräsentiert, ziemlich unbeachtet geblieben.6 Allerdings verlangt diese Perspektive gerade eben die Überwindung dieser Position, die allgemein von nicht wenigen Sozialtheologen akzeptiert wird, die besagt, dass das, was eine Ungerechtigkeit ausmacht, auf der Hand liegt. Es geht um Folgendes: der Kampf gegen die ungerechte Armut wird nicht ausreichend voran kommen und nicht in die richtige Richtung gehen, wenn nicht vorher auf dem Niveau der Gerechtigkeitsprinzipien gelöst wird, welche die Prioritäten 4 Enrique M. Ureña, El mito del cristianismo socialista, tercera edición, Madrid 1984, 185– 186. 5 Rawls, Theory (wie Anm. 2), 3. 6 Die Schwierigkeit mit dem moralischen Intuitionismus besteht nicht darin, dass er moralische Fragen unbeantwortet lässt, sondern dass er zwar mit moralischen Prioritäten operiert, ohne aber vorher die Frage nach einem Prioritätsprinzip gelöst zu haben. Vgl. dazu meinen Aufsatz: John Rawls y el intuicionismo moral, in: Delfín Ignacio Grueso (Hg.), John Rawls. Legado de un pensamiento, Cali 2005, 55–67.
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sind und warum sie es sind. Es ist richtig, dass wir Christen eine Verpflichtung haben, immer unserem Nächsten zu helfen, in der Sprache der Bibel den Waisen und Witwen beizustehen; aber falls wir auch wollen, dass sich dieses in Form von ökonomischer Umverteilung in einer Sozialökonomie des Marktes umsetzt, dann müssen wir dazu fähig sein, wirklich zu zeigen, dass es sich um Angelegenheiten von sozialer Gerechtigkeit handelt und nicht um Wohltätigkeit. Es ist zwar richtig, dass es in einer demokratischen Gesellschaft die Personen und nicht die Strukturen sind, die für die Armen optieren, doch es ist in der Tat möglich, soziale und ökonomische Strukturen zu haben, deren Prinzipien mehr – oder weniger – die weniger Begünstigten unterstützen, und davon hängt zum großen Teil der Fortschritt oder das Zurückbleiben im Aufbau einer Demokratie ab. Für viele Menschen in Lateinamerika ist die Demokratie ein ausgeschöpftes Konzept und vielleicht auch dekadent, ein Konzept, das schon alles gegeben hat, was es geben konnte. Diejenigen, die so denken, setzen voraus, dass die Demokratie ein statisches, ja hypostatisches Konzept ist, das sich nicht ändert und sich nicht ändern muss. Und darin täuschen sie sich. Ich denke, dass man ausgerechnet im Inneren des Demokratiekonzepts eine große Eigendynamik feststellen kann, und diese Dynamik erfordert eine stetige Neuentdeckung und Neudeutung. Aufgrund seiner Etymologie ist die gängige Meinung, dass die Demokratie eine griechische Erfindung sei. Verglichen mit dem, was wir heute als Demokratie verstehen, muss man aber sagen, dass die Griechen vielleicht lediglich die Erfinder des Wortes waren. Tatsächlich war die Demokratie eine Erfindung der Athener des 5. Jahrhunderts vor Christus. Davon ausgeschlossen waren Sklaven, Frauen, Kinder, Ausländer, diejenigen, die keinen Militärdienst ausgeübt hatten sowie diejenigen, die Schulden bei der Polis hatten, letztlich die Mehrheit der Bevölkerung. Eine Demokratie, die sehr wenig demokratisch war, würden wir heute sagen. Aber wenn wir akzeptieren, dass die Wörter die Realität nicht nur auf mechanische Weise widerspiegeln, sondern sie auch auf eine ideale Weise konstruieren und modellieren, können wir akzeptieren, dass die Demokratie im Zeitalter von Perikles trotz ihrer Unvollkommenheiten und ihrer Grenzen schon den Keim des Gebrauchs – die Bedeutung – von dem enthielt, was wir wahrhafte Demokratie nennen. Rousseau dachte zu Recht, dass die Demokratie eher eine Regierungsform für Götter als für Menschen sei, eben weil sie so perfekt sei. Dennoch glauben wir, dass die Demokratie auch ein humanes, ja viel zu humanes Ideal repräsentiert, das sich weiterentwickelt hat und sich möglicherweise noch weiter entwickeln wird. Im Zeitraum der antiken Welt bis zur europäischen Aufklärung war die Verwendung des Begriffs Demokratie fast ausschließlich Intellektuellen und Gelehrten vorbehalten; ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann es in fast aller Munde zu sein als das Konzept, das dazu dient, Parteien, Bewegungen und Ansprüche politischer Gruppierungen zu identifizieren, die nach Macht streben. Das war in der anti-
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ken oder in der mittelalterlichen Epoche nicht geschehen. Und es liegt in dieser Bewegung, dass sich die moderne Verwendung, die wir vom Demokratiekonzept haben, entwickelt hat. In der modernen Welt wurde die Demokratie in Mythos und Ideologie verwandelt. Mitten im revolutionären Eifer von 1791 verkündete Claude Fauchet, dass Christus gestorben sei „pour la démocratie de l’univers“.7 Heute sind wir bescheidener und zugleich respektvoller gegenüber der Demokratie. Wir erkennen sie als Beschreibung für soziale Bewegungen an, aber sie dient uns auch, um politische Institutionen zu unterscheiden und einzuschätzen. Die Bürger wünschen sich Demokratie und die Institutionen geben uns Demokratie. Das hat dazu geführt, dass sich die Demokratie in ein Konzept verwandelt hat, das auf Erneuerung seiner programmatischen Inhalte und seiner institutionellen Formen drängt. Uns interessieren Gesellschaften, politische Parteien und Institutionen, die in ihrer Realität immer demokratischer und nicht nur respektvoller gegenüber ihren Formalitäten werden, die jedoch jegliche Inhalte entbehren. So lässt sich aus dem zuvor Gesagten zusammenfassend die historische Notwendigkeit bestätigen, das Demokratiekonzept im Hinblick auf die aktuelle Weltlage inhaltlich zu füllen. Die Option für die Armen, welche in der jüngsten Geschichte Lateinamerikas in nicht unbedeutendem Unfang zur Erneuerung des Glaubens und der Theologie beigetragen hat, kann das Demokratiekonzept bereichern, weil ihre Absichten eine strukturbedingte Gerechtigkeit von universellem Wert haben und in die Rationalität, die diesem Konzept eigen ist, einbezogen werden können. Auch die Rückgängigmachung der Umweltverschmutzung oder der Schutz der Natur können die Idee der Demokratie mit Inhalten von universalem Charakter bereichern – eine Gesellschaft wäre nicht sehr demokratisch, wenn sie für die zukünftigen Generationen unmögliche Lebensbedingungen bewirken würde. Die Überwindung der strukturbedingten Gründe für Armut ist dazu aufgerufen, sich in einem Kriterium der Evaluation und Erneuerung der politischen Systeme zu konstituieren, die sich selbst als demokratisch bezeichnen. Ich glaube, dass in der Zukunft eine Gesellschaft nicht als demokratisch erachtet werden kann, die ihre ungerechten Armutsverhältnisse, so wie wir sie bis heute kennen, nicht sichtlich reduzieren kann.
7 Claude Fauchet, Sermon sur l’accord de la religion et de la liberté, Paris 1791.
Antje Schnoor
Umkämpfte Gewalt Jesuitische Perspektiven auf die soziale Ordnung, Chile 1968–1973 Im Oktober 1969 war in dem Editorial der chilenischen Jesuitenzeitschrift Mensaje zu lesen: „Nur der Gewalttätige, der liebt, kann […] gerechtfertigt werden.“1 Diese Feststellung bezog sich auf die Figur des Revolutionärs, der mittels Gewalt eine neue Gesellschaft zu errichten beabsichtigt. Welche Rolle Gewalt für die Aufrechterhaltung oder den Wandel der gesellschaftlichen Ordnung spielen kann und darf, wurde seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Chile zu einem wichtigen Thema in der politischen Auseinandersetzung, an der sich auch die chilenischen Jesuiten und ihre Zeitschrift Mensaje beteiligten. Während der christdemokratischen Regierung unter Eduardo Frei, der ab 1970 folgenden sozialistischen Regierung der Unidad Popular unter Salvador Allende und der nach dem Putsch 1973 errichteten Militärdiktatur unter Augusto Pinochet bezog die Jesuitenzeitschrift nicht nur zu der jeweiligen Regierungspolitik Stellung, sondern brachte in die politischen Debatten auch ihre Vorstellungen über die Legitimität von bestehenden Machtverhältnissen und physischer Gewaltanwendung ein. Zeitgenössische Kritiker warfen der Mensaje – und damit implizit dem Jesuitenorden – vor, in ihren Editorials revolutionäre Gewalt zu rechtfertigen. Das eingangs genannte Zitat scheint diesen Vorwurf zu bestätigen, weist aber zugleich darauf hin, dass die legitime Gewaltanwendung aus der Perspektive der Mensaje bestimmten Bedingungen unterlag. Diese Beobachtung bildet in dem vorliegenden Beitrag den Ausgangspunkt, um den Blick auf die Legitimierung beziehungsweise Delegitimierung von Gewalt durch die Jesuitenzeitschrift Mensaje zu richten. In erster Linie geht es dabei um die Frage, wie die Mensaje physische Gewalt im politischen Kontext beurteilte. Diese Frage kann jedoch nicht beantwortet werden, ohne dabei zugleich den Blick auf den Begriff der institutionalisierten Gewalt zu richten, der zur 1 Vgl. Editorial, Agresividad Ambiental, in: Mensaje 183 (Okt. 1969), 465−467, hier: 467. Diese und folgende Übersetzungen sind von mir, A.S. “Solo el violento que ame […] puede ser justificado“. Dieser Aufsatz stützt sich auf die Diskussionen und den Gedankenaustausch mit Silke Hensel, Stephan Ruderer und Barbara Rupflin des Projektes D10 des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der WWU Münster: „Zwischen Unterstützung autoritärer Regime und Verteidigung der Menschenrechte. Die katholische Kirche in Chile und Argentinien während der Militärdiktaturen der siebziger und achtziger Jahre“ unter der Leitung von Silke Hensel. Die grundlegenden Ideen dieses Beitrages habe ich gemeinsam mit Barbara Rupflin entwickelt. Ihr, Manuel Ossa und Thies Schulze danke ich zudem herzlich für Anmerkungen und Kritik.
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Bezeichnung ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse verwandt wurde. Der Begriff stimmt im Wesentlichen mit dem Konzept der strukturellen Gewalt, das Johan Galtung einige Jahre später prägte, überein. Gewalt liegt demzufolge dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.2 Gewalt wurzelt aus dieser Perspektive im System selbst und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen.3 Der Gewaltbegriff war seit den sechziger Jahren in der politischen Auseinandersetzung stark umkämpft. Während er auf der einen Seite auf physische Gewalt begrenzt wurde und somit besonders zur Verurteilung der gegen die herrschende Ordnung gerichteten Gewalt diente, wurde andererseits – auch in der Mensaje – das Konzept der institutionalisierten Gewalt in die Debatten eingeführt. Damit wurden zugleich die Herrschafts- und Machtverhältnisse in Frage gestellt, die als Ursache der institutionalisierten beziehungsweise strukturellen Gewalt verstanden wurden. Eine ähnliche Perspektive findet sich in der Befreiungstheologie und auch wenn sich nicht alle Redakteure der Mensaje als Repräsentanten der Befreiungstheologie verstanden, stimmten die theologi2 Siehe Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Reinbek bei Hamburg 1975. Der Begriff institutionalisierte Gewalt wurde vor allem in Lateinamerika bereits benutzt, bevor Galtung 1969 den Begriff der strukturellen Gewalt prägte. Galtungs Begriff ist dadurch gekennzeichnet, dass die Gewalt keinem konkreten Akteur zugerechnet werden kann, sondern in den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen, also in der gesellschaftlichen Ordnung begründet liegt. Diese Merkmale treffen auch für den Begriff der institutionalisierten Gewalt zu. Einige von Galtungs Beispielen für strukturelle Gewalt, nämliche eine hohe Analphabetenrate und eine geringe Lebenserwartung, wurden bereits 1968 explizit in der Mensaje herangezogen, um den Begriff institutionalisierte Gewalt zu definieren. Vgl. Editorial, Violencia en América Latina, in: Mensaje 174 (1968), 531–532. Galtungs Denken war unter anderem von seinen Forschungsaufenthalten in Lateinamerika geprägt. Am Rande sei erwähnt, dass er im Oktober 1963 auch im jesuitischen Forschungszentrum Bellarmino zu Gast war, dem die Zeitschrift Mensaje angehörte. Vgl. Roger Vekemans, El Centro Bellarmino, unveröffentlichtes Manuskript, o. O. u. J., S. 178. Die Überlassung des Manuskripts verdanke ich Renato Poblete S.J. Dem lateinamerikanischen Diskurs entsprechend wird hier überwiegend der Begriff institutionalisierte Gewalt verwendet, er kann aber als Synonym für strukturelle Gewalt verstanden werden. 3 Zur jüngeren Diskussion des Gewaltbegriffes siehe Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner, Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt am Main 2004. Darin vor allem den Beitrag von Markus Schroer. Während in der neueren Gewaltforschung der Gewaltbegriff mehrheitlich auf physische Gewalt begrenzt und der Begriff der ‚strukturellen Gewalt‘ abgelehnt wird, plädiert Schroer dafür, den Begriff der ‚strukturellen Gewalt‘ beizubehalten und die Beziehung zwischen den beiden Gewaltformen in den Blick zu nehmen. Vgl. Markus Schroer, Gewalt ohne Gesicht. Zur Notwendigkeit einer umfassenden Gewaltanalyse, in: Heitmeyer/Soeffner, Gewalt, 151–173, hier: 154f.
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schen und politischen Positionen der Jesuitenzeitschrift im betrachteten Zeitraum in weiten Teilen mit befreiungstheologischen Anschauungen überein. Der zeitgenössische Vorwurf an die Zeitschrift Mensaje, Gewalt legitimiert zu haben, entsprach dem Vorwurf an die Befreiungstheologen dieser Epoche. Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Jesuitenzeitschrift Mensaje und des jesuitischen Forschungszentrums Centro Bellarmino, dem die Zeitschrift angehörte, steht in der Forschungsliteratur außer Frage.4 Dennoch gibt es bisher kaum Studien, die sich explizit mit der gesellschaftlichen und innerkirchlichen Rolle der Zeitschrift beziehungsweise des Jesuitenordens beschäftigen.5 Auch die Frage nach der Haltung der katholischen Kirche zur Gewalt für die Zeit vor dem Militärputsch 1973 ist bisher weder in Bezug auf die Jesuiten noch in Bezug auf die chilenischen Bischöfe explizit gestellt worden.6 Die Positionen der Mensaje werden anhand der Editorials beleuchtet, die oft, aber nicht zwangsläufig, vom Direktor der Zeitschrift in Rücksprache mit dem Redaktionsrat geschrieben wurden. Die hier betrachteten Editorials ent-
4 Vgl. z.B. Sofía Correa/Consuelo Figueroa/Alfredo Jocelyn Holt et al., Historia del siglo XX chileno, Santiago 2001, 216–218; Brian H. Smith, The Church and Politics in Chile: Challenges to Modern Catholicism, Princeton 1982, 135–137. 5 Ausnahmen bilden: Thomas G. sanders, Catholic Innovation in a Changing Latin America, CIDOC, Sondeos no. 41, 1969; David Mutchler, The Church as a Political Factor in Latin America. With Particular Reference to Colombia and Chile, New York 1971. Mutchlers Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle des Centro Bellarmino in der Katholischen Kirche. Als Ex-Jesuit war er persönlich in die Geschehnisse involviert und die Vertrauenswürdigkeit seiner Aussagen ist, da er sie nur teilweise belegt, fraglich. Aus jesuitischer Perspektive geschrieben ist die Arbeit von Juan Claudio Barrientos S.J./Claudio Barriga S.J. et al., Historia de la Revista Mensaje 1951–1984, unv. Mskr., Santiago 1984. Außerdem ist zu erwähnen: Cincuenta años de historia de Chile vistos desde la Revista Mensaje. De la sociedad tradicional a la construcción de la sociedad nueva, hrsg. von Ediciones Universitarias Universidad Católica del Norte, 2008. Darin findet sich u.a. der Beitrag von José Fernando Vial, La mirada de Mensaje a las problemáticas económicosociales y las políticas públicas en el periodo 1951–1973. Fernando Vial beschränkt sich allerdings explizit darauf, die politischen Analysen der Mensaje wiederzugeben ohne diese selbst als Untersuchungsgegenstand zu verstehen. 6 Die Frage nach der Haltung der katholischen Kirche zur Gewalt spielt hingegen für die Zeit nach dem Militärputsch eine bedeutende Rolle. Sie bezieht sich aber entsprechend auf die Haltung der Kirche zur repressiven Gewalt, die von der Militärregierung ausging. In der Forschungsliteratur wird das menschenrechtliche Engagement der Kirche für die Zeit nach 1973 immer wieder betont. Siehe z.B. Pamela Lowden, Moral Opposition to Authoritarian Rule in Chile, 1973–1990, Oxford 1996; Hugo Cancino Troncoso, Chile: Iglesia y dictadura 1973–1989. Un estudio sobre el rol político de la Iglesia Católica y el conflicto con el régimen militar, Odense 1997.
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standen unter der Direktion von Hernán Larraín S.J. und Juan Ochagavía S.J.7 Es steht außer Frage, dass die Zeitschrift nicht die Meinung aller Jesuiten in Chile spiegelte, noch lassen sich die Aussagen der Mensaje als offizielle Position der Gesellschaft Jesu in Chile verstehen, dennoch handelte es sich bei den Darstellungen der Mensaje um die in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommene Position der Jesuiten. Die Gesellschaft Jesu, der in den sechziger und siebziger Jahren größte und mächtigste Orden der katholischen Kirche, gab und gibt in vielen Ländern Zeitschriften heraus, die sich sozialen, politischen, philosophischen und theologischen Fragen widmen. Die Mensaje zählte in dieser Epoche zu den wichtigsten Jesuitenzeitschriften und erreichte auch außerhalb Chiles eine breite Leserschaft.8 Mit welcher Argumentation, so lautet die wesentliche Frage, wurde in der Jesuitenzeitschrift Gewalt legitimiert beziehungsweise delegitimiert. Diese Frage zieht weitere nach sich, nämlich welche Phänomene die Zeitschrift Mensaje als Gewalt verstand und benannte, welche Ursachen der als Gewalt bezeichneten Phänomene sie jeweils ausmachte, wen sie für die Gewalt verantwortlich machte und welche möglichen Folgen von Gewalt sie sah. Betrachtet wird die explizite Verwendung des Gewaltbegriffes in den Editorials zwischen 1968 und 1973, um dessen Bedeutungsgehalt für die Jesuiten der Mensaje zu beleuchten. Der Untersuchungszeitraum umfasst somit die Regierungen unter Eduardo Frei und Salvador Allende und den Beginn der Militärregierung unter Augusto Pinochet. Die Wahl des Zeitfensters ergibt sich aus der Annahme, dass Kontinuitäten und Brüche in historischen Entwicklungen, hier konkret in den Argumentationslinien der Jesuitenzeitschrift, nur erfasst werden können, wenn der Untersuchungszeitraum nicht durch politische Zäsuren begrenzt wird, sondern diese umfasst. Sogenannte revolutionäre Gewalt wurde, so wird dargelegt, ab Ende der sechziger Jahre durchaus gerechtfertigt. Die Legitimation von Gewalt erfolgte 7 Die Direktoren der Mensaje in dem betrachteten Zeitraum waren: 08.1960–07.1970: Hernán Larraín S.J.; 08.1970–12.1970: José Vial S.J.; 01.1971–12.1972: Juan Ochagavía S.J.; 01.1973–09.1974 Hernán Larraín S.J. Die Autorschaft lässt sich nicht für alle Artikel abschließend klären. Ein Teil der Artikel wurde in einer Aufsatzsammlung Hernán Larraíns wiederabgedruckt. Siehe: El humanismo de Hernán Larraín, hg. v. Instituto Chileno de Estudios Humanisticos (ICHEH), Santiago de Chile 1975. Aus Krankheitsgründen hatte Hernán Larraín zwischen August 1970 und Dezember 1972 nicht den Posten des Direktors inne, hat aber nach Angaben Juan Ochagavías weiterhin an vielen Editorials mitgewirkt, die in dieser Zeit wahrscheinlich in der Mehrzahl von Arturo Gaete S.J. verfasst wurden. 8 Vgl. Gutiérrez J. Casilas, Medios de Comunicación Social, in: Diccionario Histórico de la Compañía de Jesús (DHCJ): biográfico-temático, Rom/Madrid 2001, 2603–2609, hier: 2603.
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aber ausschließlich in einem theoretischen Diskurs, tatsächliche Gewaltakte wurden hingegen nicht verteidigt. Dies hing zusammen mit den strikten Bedingungen, an die eine legitime Gewaltanwendung in der Jesuitenzeitschrift geknüpft wurde. Es wird darüber hinaus gezeigt, dass die Argumentation der Mensaje nur im Zusammenhang mit dem diskursiven Kampf um den Bedeutungsgehalt des Gewaltbegriffes verstanden werden kann.
Die theoretische Legitimation revolutionärer Gewalt Seit der Sonderausgabe von Oktober 1962 Revolution in Lateinamerika bezeichnete die Mensaje die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Strukturen als ungerecht. Die gegebene soziale Ordnung könne nicht weiter akzeptiert werden, da sie dem Gemeinwohl nicht diene, so die Mensaje.9 Die aus den gesellschaftlichen Strukturen resultierende Ungerechtigkeit wurde seitdem in den Editorials immer wieder aufgegriffen und ein Wandel der Strukturen gefordert. Die Mensaje hatte mit dieser Sonderausgabe und ihrem Folgeheft Revolutionäre Reformen in Lateinamerika im Oktober 1963 wesentlich dazu beigetragen, dass der Begriff Revolution in Chile mit neuen Assoziationen verknüpft wurde. Dieser neuen Definition zufolge wurde unter Revolution eine radikale Reformpolitik verstanden, der sich die Christdemokraten, die 1964 die Wahl gewannen, verschrieben. Die Mensaje verfolgte mit der Umdeutung des Revolutionsbegriffes das Ziel, gegen die kubanische Revolution einen gesellschaftlichen Wandel zu propagieren, der im Wesentlichen durch die Regierung geleitet und ohne gewalttätige Ausschreitungen ablaufen sollte. Mit der Begriffsumdeutung ging die Verurteilung ‚revolutionärer‘ physischer Gewalt einher. Das jesuitische Centro Bellarmino, zu dem die Zeitschrift Mensaje zählte, hatte die Christdemokratische Partei (PDC) Anfang der sechziger Jahre – unter anderem durch die Sonderausgaben der Mensaje – stark unterstützt und zu deren Wahlsieg beigetragen. Der große Zuspruch zur christdemokratischen Reformpolitik ebbte 1967 ab. Auch die Redaktion der Mensaje distanzierte sich in dieser Zeit von der christdemokratischen Politik, da sie sich einen schnelleren und tiefergreifenden sozialen Wandel erhofft hatte. Diese Position wurde auch von Gruppen innerhalb des linken Flügels der Partei vertreten, die sich 1969 von der PDC abspalteten und die MAPU10 ins Leben riefen. 9 Vgl. Editorial, Revolución en América Latina, in: Mensaje 115, (1962), 589–592, hier: 589. 10 Movimiento de Acción Popular Unitaria. Ab 1970 gehörte die MAPU dem Regierungsbündnis unter Salvador Allende an.
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Während, wie erwähnt, in der Mensaje Anfang der sechziger Jahre revolutionäre Gewalt, verstanden als gewalttätige Rebellion gegen die staatliche Autorität, vehement abgelehnt wurde, änderte sich die Position gegen Ende des Jahrzehnts. Im November 1968 widmete die Mensaje dem Thema Gewalt eine gesamte Ausgabe. Im Editorial wurde der Begriff der institutionalisierten Gewalt erläutert und die Frage aufgeworfen, ob dieser Gewalt nicht mit einer anderen Gewalt entgegen getreten werden müsse.11 Es blieb letztlich offen, welche Art Gewalt diese andere Gewalt sein könnte, Waffengewalt wurde jedenfalls ausgeschlossen. Bereits drei Monate zuvor, im August 1968, war ein Editorial über das Tagebuch Che Guevaras veröffentlicht worden, in dem der Revolutionär als Vorbild für die Christen gepriesen wurde.12 Das Editorial legte dar, dass Che Guevaras Handeln darauf abgezielt habe, die Menschen zu befreien, er demnach aus Liebe und nicht aus Hass gehandelt habe. Zudem wurde Che Guevara für seine konsequente und loyale Haltung gewürdigt und mit quasireligiösen Begriffen charakterisiert. Bei seiner „Pilgerreise“ durch Lateinamerika habe der Revolutionär die Armut und Hoffnungslosigkeit von Millionen von Menschen erfahren.13 Gewalt wurde in dem Editorial zwar grundsätzlich abgelehnt, zugleich aber zwischen verschiedenen Gewaltphänomenen unterschieden: neben der institutionalisierten Gewalt, die „in einem System, das Ordnung vortäuscht, die Menschen zu Armut und Resignation“ verurteile, existiere zweitens eine destruktive, physische Gewalt aus niederen Beweggründen und drittens gäbe es eine Gewalt, die von „Nächstenliebe geprägt im Dienst am Gemeinwohl“ angewandt würde und darauf abziele, die institutionalisierte Gewalt durch den Aufbau gerechter sozialer Strukturen zu ersetzen.14 Diese letztgenannte Gewalt sei es gewesen, die der Revolutionär befürwortet habe. Die revolutionäre Gewalt wurde in dem Artikel nicht direkt gerechtfertigt, sie wurde aber auch nicht abgelehnt. Die Aussage „Es ist möglich, dass die Guerilla eine schlechte Lösung ist“, schließt ein, dass sie dennoch als mögliche Lösung verstanden wurde.15 11 Vgl. Editorial, Violencia en América, (wie Anm. 2), 531–532. 12 Vgl. Editorial, El „Che“: reflexiones sobre un diario, in: Mensaje 171 (1968), 333–338, hier: 338. 13 Vgl. ebd., 334, 337. Die quasireligiöse Verehrung Che Guevaras war ein weit verbreitetes Phänomen. Bemerkenswert ist aber, dass hier von Klerikern gleichsam eine Parallelisierung Che Guevaras mit Jesus Christus vorgenommen wurde, indem beide nicht nur als moralisches Vorbild beschrieben wurden, sondern auch das Sterben beider gleichgesetzt wurde. Vgl. Editorial, El „Che” (wie Anm. 12), 338. 14 Vgl. Editorial, El „Che“ (wie Anm. 12), 335. 15 Vgl. ebd., 337. Aus einem Leserbrief im Folgeheft von Sep. 1968 geht hervor, dass das Editorial von Zeitgenossen in der hier beschriebenen Weise verstanden worden ist. Die Redaktion beantwortete den Brief mit der klaren Feststellung, dass sich die Zeitschrift nicht für
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Ab 1969 begann die Mensaje Gewalt unter der Bedingung, dass sie der Schaffung gerechterer sozialer Strukturen diente, ausdrücklich zu rechtfertigen. In dem zu Beginn zitierten Editorial „Aggressive Atmosphäre“ lässt sich lesen: Chile braucht […] eine authentische Revolution. Aber […] eine Revolution kann nur gerechtfertigt werden, wenn sie eine Pseudoordnung zerstört und eine wahre und gerechte Ordnung schafft. […] Zerstörung um der Zerstörung willen ist keine Revolution, sondern […] negativer Primitivismus.16
Am Ende des Artikels wurde erklärt, dass es darauf ankomme, die Gewalt von der zerstörerischen, atavistischen Gewalt zu reinigen. „Nur der Gewalttätige der liebt, kann gerechtfertigt werden.“17 In diesem Editorial wurde Gewalt unter der Voraussetzung legitimiert, dass sie eine gerechte Ordnung zu schaffen beabsichtigt und dass man sich ihrer nicht aus Aggressivität, sondern aus Liebe – im Sinne einer bejahenden, konstruktiven Haltung – bediene. Aus dieser Perspektive darf Gewalt nur unter der Bedingung angewandt werden, dass es keine beziehungsweise keine gerechte Ordnung gibt und die Gewalt dem Gemeinwohl dient. Von wem die Gewalt ausgehen kann und darf und in welcher Form man sich ihre Ausübung vorstellte, wurde allerdings nicht erklärt. In dem Editorial „Jenseits der Gewalt“ im Juni 1970 vertrat die Mensaje die Ansicht, dass sich die als unsichtbar beschriebene institutionalisierte Gewalt in physischer Gewalt manifestieren könne. In dieser Weise wurde der Mord an einem Beamten interpretiert, der im Rahmen der Agrarreform unter Eduardo Frei für die Durchsetzung der Enteignung großer Ländereien zuständig war. Zwar wurde der Beamte von einem Landarbeiter erschlagen, doch machte die Mensaje den Landbesitzer, in dessen Auftrag die Tat geschah, für den Mord verantwortlich. „Er war der Vertreter einer Klasse […] für die das Wort Gesetz heilig war, den Guerilla-Kampf ausgesprochen habe. Vgl. Cartas y Consultas: El „Che“, ¿un ejemplo?, in: Mensaje 172 (1968), 394. Die Antwort der Mensaje ist im Anschluss abgedruckt. Der Artikel wurde nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerkirchlich stark diskutiert und war einer der Gründe für eine Verlautbarung der Bischöfe am 4. Okt. 1968, in der die Zeitschrift gerügt und ihre Artikel als extremistisch bezeichnet wurden. Die heftigen Angriffe gegen die Mensaje vor allem in der konservativen Presse veranlassten den Präsidenten der Bischofskonferenz José Manuel Santos der Jesuitenzeitschrift in einem Brief an dessen Direktor Hernán Larraín das Vertrauen auszusprechen und die Verlautbarung somit zu relativieren. Vgl. Carta del Presidente de la Conferencia Episcopal, 26 de octubre de 1968, in: Mensaje 174 (1968), 527. 16 Editorial, Agresividad Ambiental (wie Anm. 1), 465f. „Chile necesita [...] una auténtica revolución. Pero [...] una revolución sólo se justifica cuando destruya un pseudoorden para construir uno verdadero y justo. [...] destruir por afán de destruir no es hacer revolución sino [...] primitivismo negativo.“ 17 Ebd., 467.
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da es eine Ordnung sicherte, die ihre eigene war […].18 Die unsichtbare institutionalisierte Gewalt wurde der Mensaje zufolge sichtbar, da die Gesetze geändert worden waren, die die ungerechte Ordnung gestützt hatten. Statt die neue Ordnung zu akzeptieren, wollte der Großgrundbesitzer die ungerechten Strukturen, von denen er zuvor profitiert hatte, bewahren. Die Mensaje machte ihn daher einerseits für die institutionalisierte, strukturelle Gewalt mitverantwortlich, andererseits wurde der von ihm befehligte Mord als physischer Ausdruck der institutionalisierten Gewalt verstanden. Nach der Wahl Salvador Allendes Abb. 1 Mensaje 193, Der Triumph der hoffte die Mensaje darauf, dass die Unidad Popular, Okt. 1970. sozialistische Politik der Unidad Popular gerechtere soziale Strukturen schaffen würde. Die Regierungsziele der Unidad Popular wurden in der Mensaje begrüßt, dies wird auch deutlich am Titelblatt des Heftes Nr. 193, das nach der Wahl herauskam. Auf dem Bild sind feiernde Menschen zu sehen, vor allem Frauen und Kinder, die den Blick freudig und erwartungsvoll in die Höhe richten. Das Regierungsbündnis wurde von der Zeitschrift als Vertretung der breiten, mittellosen Bevölkerung verstanden. Angesichts des aufgeheizten politischen Klimas, das nicht zuletzt daraus resultierte, dass vor der Wahl die Angst vor dem Kommunismus von vielen Gegnern der Unidad Popular geschürt worden war, ist anzunehmen, dass das Bild der harmlosen, fröhlichen Menschen zugleich deeskalierend wirken sollte. Warum die bestehende Ordnung als ungerecht bezeichnet und wer für diese Ungerechtigkeit verantwortlich gemacht wurde, machte unter anderem das Editorial der Juniausgabe von 1972 deutlich, das aus Anlass des ersten lateinamerikanischen Treffens der Christen für den Sozialismus entstand.19 Die Bewegung war in Cuile von dem Jesuiten Gonzalo Arroyo mitbegründet worden. Die Mitglieder, zu denen neben Arroyo weitere Jesuiten zählten, sprachen sich 18 Editorial, Más allá de la violencia, in: Mensaje 189 (1970), 220–221, hier: 221. “Era el representante de una clase [...] para la cual la palabra ley era sagrada, ya que significaba un orden que era el propio [...].” 19 Zu den Christen für den Sozialismus siehe den Beitrag von Silke Hensel in diesem Band.
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dafür aus, die Politik Allendes aktiv zu unterstützen.20 Das Editorial mit dem Titel: „Klassenkampf, Politisches Engagement, Christentum“ erklärte, dass es sich beim Kapitalismus um eine Ordnung handele, die die „Ausbeuter“ in der Gesellschaft begünstige, eine Ordnung, die von diesen selbst errichtet wurde und häufig nichts weiter sei als die „Institutionalisierung der Ungerechtigkeit“.21 „[…] sie verschleiern die Gewalt, die sie gegen die Unterdrückten ausüben und erscheinen als die Verteidiger der Demokratie, der Ordnung und des Gesetzes.“22 Schließlich hieß es: „Sich dieser physischen ungerechten Gewalt mit gerechter Gewalt zu widersetzen, kann aus unserer Sicht einem Christen nicht verboten sein.“23 Diese Darstellung legitimierte Gewalt gegen die institutionalisierte Gewalt, die zwar einerseits als unsichtbar, andererseits aber dennoch als physische Gewalt beschrieben wurde, da die Zeitschrift sie für die Armut und Not der Menschen verantwortlich machte. Neben den Strukturen des kapitalistischen Systems wurden weitere verantwortliche Verursacher der Gewalt genannt: jene, die über politische und wirtschaftliche Macht verfügten, einen Strukturwandel befördern könnten, ihn aber stattdessen verhinderten. Das entsprach dem Vorwurf der zwei Jahre zuvor in dem Editorial „Jenseits der Gewalt“ an den Großgrundbesitzer formuliert worden war. Im Zentrum der Argumentation hinsichtlich der Gewalt stand in allen Editorials die soziale Ordnung, die die Jesuiten der Mensaje durch die institutionalisierte Gewalt bedroht sahen. Die Beurteilung und Legitimierung von Gewalt kann nicht unabhängig von der Auseinandersetzung um den Gewaltbegriff verstanden werden. Die Argumentation der Mensaje zielte darauf ab, einen Gewaltbegriff durchzusetzen, der das Konzept der institutionalisierten beziehungsweise strukturellen Gewalt umfasste, um einen gesellschaftlichen Konsens über die Unannehmbarkeit der darunter fallenden Phänomene zu schaffen. Die Rechtfertigung von Gewalt, die sich gegen die institutionalisierte Gewalt richtete, diente auch dazu, den Begriff der institutionalisierten Gewalt durchzusetzen.24 20 Gonzaleo Arroyo gehörte zum Centro Bellarmino und schrieb – vor allem wirtschaftspolitische – Artikel für die Mensaje. 21 Vgl. Editorial, Lucha de clases, Compromiso político, cristianismo, in: Mensaje 209 (1972), 301−308, hier: 301f. 22 Ebd., 302. „[…] se las arreglan para encubrir la violencia que de hecho ejercen contra los oprimidos y aparecen como los defensores de la democracia, del orden, de la ley.“ 23 Ebd. „Oponer a esta violencia física injusta otra violencia justa, no se ve que tenga que ser ilícito para un cristiano.“ 24 Diese Überlegung entspricht ansatzweise methodischen Forderungen Quentin Skinners, der die Sprechakttheorie von John L. Austin für die politische Ideengeschichte fruchtbar machte. Skinner vertritt die Ansicht, dass zum Verständnis eines Textes nicht nur die intendierte Bedeutung des Textes, sondern auch die intendierte Rezeption der Bedeutung
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Die Beziehung zwischen Gewalt und Ordnung in der kirchlichen Lehrmeinung und der Zeitschrift Mensaje Die enge Beziehung, die zwischen Gewalt und Ordnung in den Editorials der Mensaje geknüpft wurde, entsprach theologischen Grundprinzipien. Neben der Lehre der Gewaltlosigkeit steht im traditionellen christlichen Denken die Lehre des gerechten Krieges, die auf Augustinus und Thomas von Aquin zurückgeht.25 Zu den Bedingungen der legitimen Gewaltanwendung zählt, dass ein gerechter Grund (causa iusta) vorliegen muss. Dies ist der Fall, wenn sich die Gewalt gegen ein illegitimes Regime richtet. Beispielsweise gegen ein Regime, das zur Aufrechterhaltung der Ordnung, beziehungsweise einer ‚wahren‘ und ‚gerechten‘ Ordnung, nicht in der Lage ist. Des Weiteren muss der Gewaltanwendung eine gerechte Absicht (intentio recta) zu Grunde liegen, sie muss der Herstellung einer gerechten Ordnung dienen. Darüber hinaus darf Gewalt nur als letztes Mittel (ultima ratio) angewandt werden und es muss Hoffnung auf die erfolgreiche Etablierung einer neuen Ordnung bestehen. Schließlich muss die Gewalt von einer Autorität angeordnet beziehungsweise gebilligt werden. Deutlich wird bei den genannten Bedingungen, dass ein weiter Interpretationsspielraum für die Beurteilung der Gewalt besteht. Wie z.B. wurde ‚illegitime Herrschaft‘ definiert? Hier ist zu berücksichtigen, dass aus theologischer Perspektive nicht jede tyrannische Herrschaft unter ‚illegitimes Regime‘ fiel. Da in der kirchlichen Lehrmeinung jede Form von Herrschaft auf Gott zurückgeführt wird, ist auch die Herrschaft des Tyrannen, der dem Gemeinwohl schadet, göttlich legitimiert.26 Zudem muss das Vorgehen gegen die illegitime Herrschaft von einer Autorität ausgehen beziehungsweise von dieser gebilligt werden.27 Festzuhalten ist, dass die Argumentation der Mensaje, wenn sie auch
miterfasst werden sollte. Vgl. Quentin Skinner, Bedeutung und Verstehen der Ideengeschichte, in: Martin Mulsow (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin 2010, 21–87, hier 81. 25 Es wird unterschieden zwischen dem Recht zum Krieg (ius ad bellum), dessen Bedingungen hier genannt wurden und dem Recht im Krieg (ius in bellum), das sich auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten bezieht. 26 Röm 13,1. 27 Zum Tyrannenmord siehe: Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart 2004, 23–26. Die Ausführungen bei Thomas von Aquin können allerdings unterschiedlich interpretiert werden. Die Konstitution „Cura dominici gregis“ Pauls V. vom 24. Jan. 1615 verurteilt den Tyrannenmord hingegen eindeutig.
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nicht alle der oben genannten Bedingungen beinhaltete, doch in engem Bezug zum traditionellen christlichen Denken stand. Die Argumentation wich allerdings insofern ab, als Herrschaft und Ordnung in keinem direkten und ausschließlichen Zusammenhang miteinander standen. Weder bei der christdemokratischen Regierung noch bei jener der Unidad Popular handelte es sich aus der Perspektive der Mensaje um illegitime Herrschaft, dennoch mangelte es in beiden Fällen an Ordnung. Für die ungerechte Ordnung wurden aber nicht in erster Linie die Regierungen, sondern die gesamte politische und wirtschaftliche Führung zur Verantwortung gezogen. Der christdemokratischen Regierung wurde Ende der sechziger Jahre letztlich vorgeworfen, dass sie nicht in der Lage sei, gegen diese Elite eine gerechte Ordnung durchzusetzen. Abgesehen davon wurde nicht allein auf nationalstaatlicher Ebene, sondern auf internationaler Ebene argumentiert. Chile befand sich in der Wahrnehmung vieler, auch der Redaktion der Mensaje, in einem vor allem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis, durch das man den Handlungsspielraum der Regierenden begrenzt sah. Wenn aber die internationale Ordnung als ungerecht und illegitim beurteilt wurde und diese von der Regierung nicht zu beeinflussen war, so konnten die ersten Bedingungen für die legitime Gewaltanwendung im Sinne des gerechten Krieges als erfüllt verstanden werden: Es handelte sich aus dieser Perspektive um die legitime Selbstverteidigung gegen die institutionalisierte, strukturelle Gewalt, die die soziale Ordnung zerstörte. Die Gewalt diente in diesem Verständnis aufgrund der Machtlosigkeit der Regierungen als letztes Mittel und zielte darauf ab, eine gerechte Ordnung zu etablieren. In den bisher betrachteten Editorials der Mensaje wurde auf die anderen Bedingungen der legitimen Gewaltanwendung, darunter die Anordnung oder Billigung der Gewalt durch eine Autorität, nicht Bezug genommen.28 28 Da der Mensch nach Röm 13,1 dem weltlichen Herrscher zu Gehorsam verpflichtet ist, spielt die Frage nach der Autorität, die die Gewalt gegen einen illegitimen Herrscher anordnen beziehungsweise billigen muss, eine bedeutende Rolle. Leo XIII. erklärte in den Enzykliken „Quod apostolici muneris“ von 1879 und „Immortale Dei“ von 1885, dass die Menschen gegen einen Souverän auch bei Machtmissbrauch nicht aus eigenem Entschluss angehen dürfen. Leo XIII., Enzyklika „Quod apostolici muneris“, 28. Dez. 1978, Kap. Die Rechte des Menschen in der Gesellschaft; Leo XIII., Enzyklika „Immortale Dei“, 1. Nov. 1885, Kap. Abriß der christlichen Lehre von der Staatsverfassung. Die Rolle der Autorität wird in der Enzyklika „Firmissimam constantiam“ von Pius XI. deutlich. In diesem 1937 an die mexikanischen Bischöfe verfassten Brief wiederholte der Papst zwar zunächst das Verbot der Gewaltanwendung, rechtfertigte dann aber die Menschen, die sich gegen den Herrscher richteten, um sich selbst und das Gemeinwohl zu schützen. Pius XI., Enzyklika „Firmissimam constantiam“ an die Bischöfe der Vereinigten Staaten von Mexiko, 28. März 1937. Der Brief ist im Zusammenhang mit den Konflikten zwischen katholischer Kirche und Staat im Anschluss an die Verfassung von 1917 zu verstehen, die die Kirche aus dem
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In der zeitgenössischen kirchlichen Lehrmeinung finden sich Äußerungen konkret zu der als revolutionär bezeichneten Gewalt in der Enzyklika „Populorum Progressio“ (1967) von Papst Paul VI. (1963–1978). Dort heißt es: Es gibt ganz sicher Situationen, deren Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Wenn ganze Völker, die am Mangel des Notwendigsten leiden, unter fremder Herrschaft gehindert werden, […] am sozialen und politischen Leben teilzunehmen, dann ist die Versuchung groß, solches gegen die menschliche Würde verstoßende Unrecht mit Gewalt zu beseitigen. Trotzdem: Jede Revolution – ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes ernsten Schaden zufügt – zeugt neues Unrecht […]. Man kann das Übel, das existiert, nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben.29
Diese Erklärung ist jedoch ambivalent; sie lässt sich einerseits als Verurteilung revolutionärer Gewalt verstehen, andererseits kann aber auch auf die Ausnahme der Gewaltablehnung hingewiesen werden.30 Schließlich konnte institutionalisierte Gewalt als eine lange andauernde Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der menschlichen Person verletzt, definiert werden.31 Hierbei ist auch zu bedenken, dass in derselben Enzyklika die gesellschaftlichen Ungleichheiten sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene ausdrücklich angeklagt wurden. In der Beurteilung der gesellschaftlichen Probleme stimmte die Jesuitenzeitschrift Mensaje mit der kirchlichen Lehrmeinung überein. Nach der Veröffentlichung von „Populorum Progressio“ legte die Redaktion der Mensaje in der Ausgabe vom Mai 1967 dar, dass die Enzyklika eben das rechtfertige, was die Mensaje als Revolution definiert habe.32 Wie zu Beginn erwähnt, hatte die öffentlichen Leben verdrängte. Der Konflikt mündete in einen Bürgerkrieg, der sogenannten Guerra Cristera von 1926 bis 1929. Die die Gewalt billigende Autorität war hier der Papst selbst. 29 Paul VI., Enzyklika “Populorum Progressio”, 26. Mai 1967, 30/31. 30 Es sei erwähnt, dass auch die chilenische Bischofskonferenz die Enzyklika „Populorum Progressio“ als bedingte Legitimation von Gewalt verstanden hat. Vgl. Chilenische Bischofskonferenz (CECH), Chile, Voluntad de ser, 5. April 1968, Abs. 36. 31 Der Grund für die Delegitimation von Gewalt ist in „Populorum Progressio“ das neue Unrecht, das aus revolutionärer Gewalt vermeintlich folgt. Dies bezieht sich auf die bereits genannte Bedingung, dass Gewalt nur angewandt werden darf, wenn Hoffnung auf die Etablierung einer gerechteren Ordnung besteht. Die Aussage ist in sich nicht konsistent. Die Ausnahme der Gewaltablehnung bezieht sich auf den Fall, dass sich die Gewalt gegen eine lange andauernde Gewaltherrschaft richtet, die näher bestimmt wird. Wenn revolutionäre Gewalt aber zwangsläufig zu neuem Unrecht führt, so muss sie das unabhängig davon, gegen welche Form von Gewaltherrschaft sie sich richtet. 32 Vgl. Editorial, Populorum Progressio, in: Mensaje 158 (1967), 139–144, hier: 143. Auch die Enzyklika selbst wurde in der Ausgabe abgedruckt und neben dem Editorial beschäftig-
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Mensaje ab 1962 den Begriff ‚Revolution‘ zu ‚Reform‘ umgedeutet und auf die Notwendigkeit struktureller Reformen, unter anderem einer umfassenden Agrarreform, beharrt. In der Sozialenzyklika von 1967 wurden nicht nur Reformen zur Bekämpfung der sozialen Ungerechtigkeit gefordert, sondern auch konkrete Handlungsoptionen, wie die Enteignung von Grundbesitz, aufgezeigt. Bedeutend für die Orientierung der Redaktion der Mensaje war auch der 1966 verfasste Brief des Jesuitengenerals Pedro Arrupe (1965–1983) an die lateinamerikanischen Provinziäle des Ordens, in welchem der Generalobere des Jesuitenordens Stellung zu den sozialen Konflikten in Lateinamerika bezog.33 In dem Brief, der auch außerhalb Lateinamerikas große Bekanntheit erlangte, kritisierte Arrupe, dass die Jesuiten in der Vergangenheit zu wenig für die soziale Gerechtigkeit getan hätten und hielt sie an, sich stärker für einen gesellschaftlichen Wandel zu engagieren. Die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit und die Anklage institutionalisierter Gewalt wurden schließlich besonders deutlich bei der zweiten lateinamerikanischen Bischofskonferenz 1968 in Medellín formuliert. In weiten Teilen der Kirchenhierarchie wurde somit scharfe Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen geübt. Sie als illegitim zu beurteilen, wie die Jesuiten der Zeitschrift Mensaje es taten, war von da aus nur noch ein kleiner Schritt.34 Nachdem bereits dargelegt wurde, wie in der Mensaje die mangelnde und ungerechte Ordnung definiert wurde, ist nun danach zu fragen, was die Jesuitenzeitschrift unter wahrer und gerechter Ordnung verstand. Die richtige Ordnung musste der Mensaje zufolge eine demokratische Ordnung sein, die ten sich noch zwei weitere Artikel mit der Enzyklika. 33 Pedro Arrupe, Carta a los Provinciales Jesuitas de América Latina. Rom, 12. Dezember 1966, in: Mensaje 157 (1967), 126–130. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Hernán Larraín, Autor vieler der hier zitierten Artikel, 1966 von Pedro Arrupe zum Generalsekretär des CLACIAS ernannt worden war. CLACIAS war der Koordinationsrat für das Soziale Apostolat der Jesuiten auf lateinamerikanischer Ebene. Larraíns Positionen entsprachen folglich der Linie des Jesuitenordens. 34 In den Folgejahren sollte sich zeigen, dass das kirchliche Lehramt einen Schritt in die andere Richtung tat, den Gewaltbegriff auf physische Gewalt begrenzte und zwischen staatlicher Gewalt wie z.B. Folter und Gegengewalt nicht differenzierte. So findet sich eine eindeutige Verurteilung revolutionärer Gewalt in dem apostolischen Schreiben „Evangelii Nuntiandi“ (1975) von Paul VI., in welchem erklärt wurde, dass die Kirche Gewalt als Weg zur Befreiung des Menschen nicht akzeptieren könne. Vgl. Paul VI., „Evangelii Nuntiandi“, 8. Dez. 1975, 37. Diese Aussage wurde in dem Dokument der dritten Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla (Mexiko) „La Evangelización“ aufgenommen und konkretisiert. Auch langanhaltender Herrschaftsmissbrauch ist in „La Evangelización“ keine Rechtfertigung für Gegengewalt. Der Herrschaftsmissbrauch wurde zwar verurteilt, sollte aber von der Bevölkerung ertragen werden. Vgl. Lateinamerikanisches Episkopat „La Evangelización”, 13. Feb. 1979, Puebla (Mexiko), 531/532.
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sich auf die Partizipation der gesamten Bevölkerung gründet. Die Demokratie erscheint in vielen Artikeln als ein Wert um seiner selbst willen. So wurde z.B. in dem Editorial „Mündigkeit des Volkes und Unreife der Politiker“ der Wert der Demokratie durch ihre Tradition in Chile erklärt.35 Die Haltung der Mensaje zur Demokratie lässt sich nur in einem größeren Kontext des kirchlichen Wandels im 20. Jahrhundert verstehen. In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts nahm die katholische Kirche noch eine reservierte Haltung zur Demokratie ein und warnte vor ihren Gefahren.36 Seit der Weihnachtsansprache 1944 von Papst Pius XII. (1939–1958) nahmen die kirchlichen Vorbehalte gegen die Demokratie ab und mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, vor allem mit der Enzyklika „Pacem in Terris“ (1963) fand die katholische Kirche zu einer klaren Anerkennung der Demokratie.37 In dem apostolischen Brief „Octogesima Adveniens“ (1971) wurde darüber hinaus das Streben der Menschen nach Gleichheit und der Teilnahme an Leitungsaufgaben als zwei Formen der menschlichen Würde und Freiheit bezeichnet.38 Der Wunsch der Menschen nach einer demokratischen Gesellschaft wurde damit anerkannt, zugleich aber festgehalten, dass kein existierendes demokratisches Modell von der Kirche in allen Einzelheiten gebilligt würde. Eine gewisse Demokratiepräferenz lässt sich in dem Apostolischen Schreiben erkennen, die grundsätzliche Neutralität der Katholischen Kirche gegenüber der Art des politischen Systems wurde gleichwohl beibehalten.39
35 Vgl. Editorial, Madurez del pueblo e inmadurez de los políticos, in: Mensaje 177 (1969) 73−75, hier: 74. 36 Vgl. Herbert Schambeck, Kirche, Staat und Demokratie. Ein Grundthema der katholischen Soziallehre, Berlin 1992, 43 und 63. 37 Johannes XXIII., „Pacem in Terris“, 11. April 1963, Kap.: Notwendigkeit der Autorität. „Aus der Tatsache, dass die Autorität von Gott ausgeht, wird nun aber keineswegs geschlossen, daß den Menschen nicht die Vollmacht innewohne, die zu wählen, die dem Staate vorstehen sollen, die Form der Gemeinwesen zu bestimmen und die Weisen und Grenzen der Machtausübung festzuschreiben. Daraus folgt, dass die Lehre, die Wir dargelegt haben, mit jeder Art von Herrschaft des Volkes […] zusammenstimmen kann.“ 38 Vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben „Octogesima Adveniens“,14. Mai 1971, 22/24. 39 Dies wird anders beurteilt von Lothar Roos, der die Absätze 22 und 24 in „Octogesima Adveniens“ als normative Festlegung darauf versteht, dass ausschließlich eine demokratische Ordnung angestrebt werden darf. Vgl. Lothar Roos, Kirche und Demokratie. Über den Weg des deutschen Katholizismus in eine sozialstaatliche und demokratische politische Ordnung, in: Peter Hünermann/Margit Eckholt (Hg.), Katholische Soziallehre – Wirtschaft – Demokratie. Ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm I, Mainz 1989, 153–177, hier 173. Meines Erachtens geht aus den Absätzen keine normative Festlegung hervor; sie würde im Übrigen der kirchlichen Selbstdefinition in Bezug zur weltlichen Ordnung widersprechen.
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Was das Verhältnis zwischen Befreiungstheologie und Demokratie betrifft, so legt Vicente Durán in diesem Band dar, dass die Befreiungstheologie nicht auf einer eigenen politischen Philosophie basiert habe, sondern sich der Anschauungen revolutionärer und sozialistischer Ideen bedient habe, die zumeist nicht demokratisch waren.40 Das Beispiel der Zeitschrift Mensaje liefert ein anderes Bild. Die Mensaje vertrat, wie erwähnt, deutlich befreiungstheologische Positionen, zugleich aber wurden vehement demokratische Prinzipien verfochten. Indem die Mensaje die Demokratie als einzig richtige Staatsform verstand, verstieß sie letztlich gegen das Neutralitätsgebot der kirchlichen Lehrmeinung.41
Die Positionen der Mensaje zu konkreten Fällen der Gewaltanwendung Im ersten Teil dieses Beitrages wurde dargelegt, dass die Mensaje zwischen 1968 und 1973 revolutionäre Gewalt legitimierte, wenn sie als einzige Möglichkeit zur Schaffung einer gerechten sozialen Ordnung verstanden wurde. Allerdings definierte die Redaktion in keinem einzigen Editorial näher, wie die Gewalt, die eine solche Ordnung hervorbringen sollte, beschaffen sein könnte. Tatsächlich wurde in den Editorials, die ein gewaltsames Vorgehen gegen die institutionalisierte Gewalt rechtfertigten, ausschließlich auf theoretischer Ebene argumentiert. Wann immer sich die Editorials auf einen konkreten Gewaltakt bezogen, wurde die Gewalttat mitunter erklärt, keinesfalls aber gerechtfertigt. Dies trifft z.B. für das Editorial „Es reicht nicht, den Tod zu beweinen“ der Maiausgabe von 1970 zu, das sich mit dem Mord der Guerilla an dem deutschen Botschafter in Guatemala beschäftigte.42 Das Editorial vertrat die Position, dass das Verbrechen in keiner Weise gerechtfertigt werden könne, sich aber erklären ließe. Die Mensaje legte dar, dass die legitime Regierung Guatemalas von einem Diktator verdrängt worden sei und dass die Guerilla beabsichtige, die Freiheit Guatemalas mittels des bewaffneten Kampfes wieder zu gewinnen. Zudem wurde dargelegt, dass der Botschafter in enger Beziehung zum Diktator stand, das Opfer also nicht grundlos gewählt wurde. Deshalb handele es sich 40 Siehe den Beitrag von Vicente Durán S.J. in diesem Band. 41 Nicht nur die chilenischen Jesuiten, auch die Bischofskonferenz in Chile bekannte sich deutlich zur Demokratie. Zwar haben die Bischöfe die Demokratie nicht als einzig richtige Staatsform gepriesen, jedoch auf ihr demokratisches Selbstverständnis hingewiesen. Vgl. z.B. Los obispos de Chile, Evangelio, política y socialismos, 27 de mayo de 1971, 52/54; José Manuel Santos, Presidente de la Conferencia Episcopal de Chile, Chile exige el advenimiento de una sociedad más justa, 4. September 1970. Beide Dokumente sind zugänglich unter: http://documentos.iglesia.cl/documentos.php [12.12.2011]. 42 Vgl. Editorial, No basta llorar la muerte, in: Mensaje 188 (Mai 1970), 163–164.
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nicht, wie der Guerilla im Allgemeinen vorgeworfen werde, um anarchischen Terrorismus. Auch hier stellte die Jesuitenzeitschrift einen Bezug zwischen Gewalt und Ordnung her: die Guerilleros seien nicht gegen die Ordnung, sie seien nicht anarchisch, sondern wollten eine bessere als die diktatorische Ordnung schaffen. Aus diesem Grunde, so lässt sich interpretieren, wurden die Beweggründe der Guerilleros nachvollzogen. Der Mord an dem Botschafter aber wurde abgelehnt, da er nicht der Schaffung einer neuen Ordnung diente. Es handelte sich aus der Perspektive der Mensaje um eine rein destruktive Gewalt. Die Gewalt der Guerilla, so das Fazit der Abb. 2 Mensaje 188, Das Elend, die Ursache der Gewalt, Mai 1970. Mensaje, resultiere aus der institutionalisierten Gewalt, die Armut und Elend produziere und sie werde nur ein Ende finden, wenn Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Diktatur aufhörten. Dem entspricht das Titelblatt der Ausgabe; über einem Foto, auf dem man in der Ferne in schwarzen Umrissen ziegenhütende, indigene Frauen sieht, heißt es: „Das Elend, Die Ursache der Gewalt“. Im Januar 1972 wurde das Editorial „Nein zu den Extremismen“ veröffentlicht, in welchem sowohl die politische Gewalt von rechts als auch von links verurteilt und festgestellt wurde, dass beide politischen Seiten für die Unordnung und das Chaos in Chile verantwortlich seien.43 Die deutliche Verurteilung der Gewalt, also auch jener, die sich gegen die strukturelle Gewalt richtete, scheint überraschend und lässt einen Positionswechsel der Zeitschrift im Laufe der zwei Jahre vermuten. Allerdings ist zu bedenken, dass dieses Editorial ein halbes Jahr vor dem Artikel „Klassenkampf“ geschrieben wurde, der hier als Beispiel für die Gewaltlegitimation durch die Jesuitenzeitschrift herangezogen wurde. Die Positionen der Mensaje ähnelten den Anschauungen des Befreiungstheologen Ignacio Ellacuría S.J., auf die Leo J. O’Donovan in seinem Beitrag in diesem Band ein-
43 Vgl. Editorial, No a los extremismos, in: Mensaje 206 (Jan./Feb. 1972), 11–16, hier: 14.
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geht.44 Ellacuría bezeichnete die von den ungerechten Strukturen ausgehende Gewalt als ‚ursprüngliche Gewalt‘ gegen die sich eine ‚reaktive Gewalt‘ richtet, bei der es sich unter bestimmten Bedingungen um legitime Selbstverteidigung handeln kann. Zu diesen Bedingungen zählte unter anderem die Angemessenheit der Mittel, die beim Terrorismus nicht gegeben war. Obwohl also Ellacuría die Möglichkeit legitimer Gewaltanwendung bejahte, übte er dennoch vielfach an konkreten Gewaltakten Kritik. Auch bei den gewalttätigen Ausschreitungen, um die es in dem Editorial „Nein zu den Extremismen“ ging, handelte es sich – der Mensaje zufolge – nicht um legitime Gewaltanwendung. Dabei stand weniger die Angemessenheit der Mittel, als der Ordnungsbegriff im Zentrum der Argumentation: Die Gewalt ziele nicht darauf ab, eine neue Ordnung zu schaffen, sondern ausschließlich darauf, die bestehende Ordnung zu zerstören. Die Haltung der Mensaje zur Regierung der Unidad Popular wandelte sich im Laufe des Jahres 1972. Zwar sympathisierte die Zeitschrift weiterhin mit den Zielen der Regierung, doch kritisierte das Editorial mit dem Titel „Vertrauenskrise“ im November 1972 die Unidad Popular, sich nicht ausreichend um eine breite Unterstützung der Bevölkerung bemüht zu haben.45 Ausgangspunkt des Artikels war der Streik von LKW- und Taxifahrern im Oktober 1972. Das Editorial warnte vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen und stellte fest, dass sich das Land im Chaos befinde. Dies war ein deutlicher Vorwurf an die Regierung, ihrer Ordnungsfunktion nicht nachzukommen. In der theologischen Beurteilung politischer Herrschaft ist diese Anklage schwerwiegend. Die einzige Möglichkeit, einen Bürgerkrieg zu verhindern, sah die Mensaje in einem Dialog zwischen der Unidad Popular und der Opposition, konkret den Christdemokraten. Die christdemokratische Partei wurde für die politische Situation mitverantwortlich gemacht, da sie den Streik unterstützt und sich somit an dem versuchten Regierungssturz beteiligt hatte.46 Der Sturz der Regierung war der Zeitschrift zufolge nur durch das verfassungstreue Militär verhindert worden. In dem Folgejahr forderte die Mensaje die Regierung und die Christdemokraten wiederholt zur Kooperation auf und machte die Politiker für das zunehmend gewalttätige Klima im Land verantwortlich. Um die Verantwortung der politischen Führung aufzuzeigen, wurde sie von der Jesuitenzeitschrift schon in früheren Editorials der „verbalen Gewalt“ bezichtigt, die der physischen Gewalt in der politischen Auseinandersetzung vorausgehe.47 Mit der Erweiterung des 44 Vgl. den Beitrag zum befreiungstheologischen Gewaltdiskurs von Leo J. O’Donovan S.J. in diesem Band. 45 Vgl. Editorial, Crisis de Confianza, in: Mensaje 214 (Nov. 1972), 630−633, hier 633. 46 Vgl. ebd., 631f. 47 Siehe z.B. Editorial, Amor Cristiano, Violencia y Asesinato, in: Mensaje 200 (Juli 1971), 261–263, hier: 262; und das Editorial, No a los extremismos (wie Anm. 43), 12.
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Gewaltbegriffes auf die verbale Aggressivität und die gegenseitige Diffamierung der Politiker benannte die Mensaje eine weitere Ursache für die physischen politischen Gewaltakte. In dem bereits erwähnten Editorial „Nein zu den Extremismen“ wurde zudem erklärt, dass die Situation […] zu einer bewaffneten und blutigen Auseinandersetzung führen kann, wodurch das Militär zur Intervention und Machtübernahme verpflichtet würde. Und wer versichert uns, dass das Militär gewillt ist, […] die Macht nach kurzer Zeit wieder abzugeben?48
Es ist bemerkenswert, dass nicht nur die Möglichkeit eines Putsches, sondern auch die Möglichkeit, dass das Militär die Macht langfristig behalten könnte, bereits gut anderthalb Jahre vor dem Militärputsch erwogen wurde. Für unsere Fragestellung ist aber vielmehr die Formulierung „das Militär zur Intervention […] verpflichtet“ von Bedeutung 49. Daraus ist zu schließen, dass die Mensaje in einer bürgerkriegsähnlichen Situation eine militärische Intervention legitimiert, beziehungsweise zumindest für notwendig erachtet hätte. Voraussetzung für die Legitimation eines Putsches wiederum war, dass er dazu diente, Ordnung zu schaffen, in einer Situation, in der es keine Ordnung mehr gibt. Wenn nun der Blick darauf gerichtet wird, wie die Mensaje auf den Militärputsch im September 1973 reagierte, so ist festzustellen, dass die Jesuitenzeitschrift den Putsch tatsächlich nicht eindeutig delegitimierte. Ebenso wenig wurde der Putsch gerechtfertigt, er wurde aber erklärt. In dem Editorial „Militärische Erhebung“ in der Oktoberausgabe von 1973 war zu lesen: „Entweder Putsch, oder zunehmende Anarchie, oder Bürgerkrieg. So sahen die Militärs die Sache.“50 Es wurde deutlich, dass die Mensaje diese Sichtweise nachvollzog, denn in demselben Editorial wurde dargelegt: „Was wir von den Streitkräften erwarten ist, […] dass sie Ordnung in das Chaos bringen, das die Allende-Regierung in der öffentlichen Verwaltung hinterlassen hat […], dass sie das Land aus dem Sumpf ziehen, in dem es steckt.“51 Da die Mensaje die politische Situation als anarchisch beurteilte, war, so lässt sich annehmen, aus der Perspektive der Redaktion die erste Bedingung für 48 Editorial, No a los extremismos (wie Anm. 43), 16. „[...] puede conducir a un enfrentamiento armado sangriento y obligar a que el Ejército intervenga y asuma el poder. ¿Y quién nos asegurará que el Ejército [...] esté dispuesto a entregar el poder a corto plazo?” 49 Vgl. Editorial, No a los extremismos (wie Anm. 43), 16. Hervorhebung von mir, A.S. 50 Editorial, Pronunciamiento Militar, in: Mensaje 223 (Okt. 1973), 468–469, hier: 468. “O golpe o anarquía creciente o guerra civil. Así vieron las cosas los militares.” 51 Ebd., 469. „Lo que esperamos de las Fuerzas Armadas [...] es que pongan orden en el caos en que dejó el gobierno de Allende en la administración pública [...], que saquen al país del pantano en que está.”
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legitime Gewaltanwendung erfüllt: Die Absicht Ordnung zu schaffen in einer Situation, in der es keine Ordnung gab. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Mensaje den Militärputsch begrüßte. Im Gegenteil wurde die Zeitschrift nach dem Putsch durch die Militärjunta zensiert und entwickelte sich in den Folgejahren zu einer der wenigen kritischen Stimmen in den öffentlichen Medien, die die Menschenrechtsverletzungen durch die diktatorische Militärregierung anklagten. Dennoch fügt sich die Argumentation hinsichtlich der Beziehung von Gewalt und Ordnung in frühere Darlegungen der Mensaje ein. Die Argumentation der Jesuitenzeitschrift beruhte über die politischen Zäsuren hinweg auf den gleichen theologisch-philosophischen Annahmen und war in sich konsistent. Darin unterschieden sich die chilenischen Jesuiten der Mensaje beispielsweise von der argentinischen Bischofskonferenz, deren Argumentation zwischen 1970 und 1976 bei der Beurteilung politischer Gewalt nicht konsistent war, sondern von der jeweiligen politischen Situation und den politischen Überzeugungen der Bischöfe abhing.52 Folgt man der Argumentation des Editorials „Militärische Erhebung“ resultierte die wenig später deutlich werdende Kritik der Mensaje an der Militärregierung weniger aus dem Putsch, als daraus, dass erstens die Herrschaft nach dem Putsch nicht an eine demokratische Regierung übergeben worden war und dass zweitens ein repressives Regime errichtet worden war, in dem Menschen gefoltert und ermordet wurden.53 Gegen diese Interpretation ist einzuwenden, dass weder 52 Barbara Rupflin legte in einem Vortrag bei dem XVI. Kongress der AHILA dar, dass, obwohl die argentinischen Bischöfe in ihrem Gewalt-Diskurs zwischen 1970 und 1976 die Möglichkeit legitimer Gewaltanwendung zur Schaffung einer neuen Ordnung prinzipiell negierten, sie in ihrem ersten Dokument nach dem Putsch 1976 das gewaltsame Vorgehen des Militärs legitimierten. Vgl. Barbara Rupflin, La violencia engendra más violencia – Perspectivas acerca de la violencia política en Argentina durante la década de los '60 y '70, unv. Man., Vortrag beim XVI. internationalen Kongress der AHILA, Ayuntamiento de San Fernando/Universidad de Cádiz, Spanien, 9. September 2011. 53 Die Forderung, dass die Herrschaft an eine demokratische Regierung übergeben werden solle, wurde in dem Editorial deutlich formuliert. Vgl. Editorial, Pronunciamiento Militar (wie Anm. 50), 469. Die Frage nach der Reaktion der Katholischen Kirche direkt nach dem Putsch wurde in der Forschungsliteratur mit Bezug auf die chilenische Bischofskonferenz breit diskutiert. Die ersten Verlautbarungen des Episkopats nach dem Putsch waren sehr zurückhaltend und beinhalteten keine Kritik an der Militärjunta. Während das Verhalten der Bischöfe in manchen Darstellungen als pragmatisch und diplomatisch eingestuft wird, sehen andere in der anfänglichen Haltung der Bischofskonferenz eine stillschweigende Legitimation des Putsches. Zur Forschungsdiskussion siehe Silke Hensel/Stephan Ruderer, Zwischen Macht und Moral? Die katholische Kirche während der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile. Ein Forschungsüberblick, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 48 (2011), 361–388, hier 373f.
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das Festhalten an der Herrschaft noch die von der Militärjunta ausgehende repressive Gewalt die Redaktion der Mensaje überrascht hat, und es daher Anlass gab, den Absichtserklärungen der Militärjunta zu misstrauen. Dass die Redaktion der Mensaje die mit dem Putsch einsetzenden Repressionen erwartete, wird unter anderem an dem zweiten Editorial in der Oktoberausgabe von 1973 deutlich. Der Artikel „Ein Warnruf“ beschäftigte sich mit Folter und richtete sich offenbar an die neuen Machthaber und potentiellen Folterer, da er sich nicht mit den Opfern, sondern mit der „kranken psychischen Verfassung“ des Folterers beschäftigte.54 Bei der BeAbb. 3 Mensaje 223, Militärische urteilung des Editorials „Militärische Erhebung, Okt. 1973 Erhebung“ ist zu berücksichtigen, dass es nicht nur von der Zensur betroffen war, sondern zudem mit Leerstellen erschien, um die Leserschaft auf die Zensur aufmerksam zu machen. Die Argumentation in dem Editorial kann fraglos nicht in Unabhängigkeit von der Zensurgefahr verstanden werden. Zumal die Leerstellen, die auf die den Militärs wohlwollende Erklärung des Putsches folgten, deutlich darauf hinweisen, dass kritische Äußerungen der Mensaje zum Militärputsch entfernt worden waren. Das Titelblatt, auf dem der zerstörte Regierungspalast zu sehen ist, scheint der Darstellung im Editorial in gewisser Weise zu widersprechen. Gezeigt wird nicht das Ergebnis konstruktiver Gewalt, die eine neue Ordnung schuf, sondern im Gegenteil das Ergebnis destruktiver Gewalt, die die vorhandene Ordnung zerstörte.
Fazit Ausgangspunkt dieses Beitrages war der zeitgenössische Vorwurf, die Mensaje habe revolutionäre Gewalt gerechtfertigt. Tatsächlich wurde in den Editorials der Mensaje Gewalt gegen die institutionalisierte Gewalt legitimiert, da die politische Ordnung aufgrund der strukturellen, institutionalisierten Gewalt 54 Vgl. Editorial, Un grito de alerta, in: Mensaje 223 (Okt. 1973), 470–471.
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als illegitime Ordnung definiert wurde und die Anwendung von Gewalt zur Schaffung einer gerechten Ordnung unter bestimmten Bedingungen als legitim verstanden wurde. Der zentrale Begriff in der Argumentation der Mensaje war somit ‚Ordnung‘ und die Durchsetzung einer gerechten Ordnung in einer Situation, in der es keine Ordnung gab, stellte die wesentliche Bedingung zur Legitimation von Gewalt dar. Die Legitimation der Gegengewalt diente nicht zuletzt der diskursiven Durchsetzung eines neuen Gewaltbegriffes, der die institutionalisierte beziehungsweise strukturelle Gewalt umfasste. Die Phänomene, die als institutionalisierte Gewalt bezeichnet wurden, tatsächlich als Gewalt zu verstehen, implizierte das christliche Recht auf Selbstverteidigung gegen diese Gewalt, das die Mensaje in der Idee der revolutionären Gewalt umgesetzt sah. Indem die Jesuitenzeitschrift revolutionäre Gewalt unter bestimmen Bedingungen legitimierte, kritisierte sie zugleich den bestehenden Gewaltbegriff, der die aus den gesellschaftlichen Strukturen resultierenden Ungerechtigkeiten ignorierte und trug zur Durchsetzung eines komplexeren Gewaltbegriffes bei. Diese Ansicht wird gestützt durch die Tatsache, dass die Rechtfertigung revolutionärer Gewalt ausschließlich in einem theoretischen Diskurs erfolgte, konkrete Gewaltakte aber mit dem Hinweis auf die nicht erfüllten Bedingungen legitimer Gewaltanwendung missbilligt wurden. Dass die Argumente der Mensaje nicht in Abhängigkeit ihrer Nützlichkeit für die Durchsetzung eigener Deutungsmuster gewählt wurden, wird durch das Editorial nach dem Putsch im Oktober 1973 deutlich, das die Argumentationslinien der früheren Editorials hinsichtlich der Beziehung von Gewalt und Ordnung weiterführte und den Putsch nicht deutlich verurteilte. Hierbei spielte die Zensurgefahr sicherlich eine bedeutende Rolle, dennoch wurde die Begründung der Militärjunta, in einer Situation Ordnung schaffen zu wollen, die – auch aus der Perspektive der Mensaje – der Ordnung entbehrte, in dem Editorial nachvollzogen. Um an die hier dargestellten Ergebnisse zu gelangen, war es notwendig, ein Zeitfenster zu wählen, das die politische Zäsur von 1970, also die Wahl der Unidad Popular, und vor allem die durch den Militärputsch erfolgte Zäsur von 1973 umfasst. Auf diese Weise erschloss sich, dass die Argumentationslinien der Mensaje über die politischen Zäsuren hinweg unverändert blieben und in sich konsistent waren, da die Urteile zur Gewalt in erster Linie theologischen Erwägungen und weniger politischen Überzeugungen folgten.
Silke Hensel
Religion, Politik und Gewalt in Argentinien und Chile Die Organisationen „Priesterbewegung für die Dritte Welt“ und „Christen für den Sozialismus“ In aktuellen Debatten um Religion und Gewalt geht es hauptsächlich um die Frage, inwieweit Religionen eine Quelle von Intoleranz und daraus resultierender Gewalttätigkeit gegen anders Denkende beziehungsweise Gläubige darstellen. Diese Frage wird vor allem – aber nicht nur – im Hinblick auf den islamischen Fundamentalismus gestellt. Gegenüber den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeigt sich hier eine erhebliche Verschiebung in der Debatte um den Einfluss von Religion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, stand doch zumindest die christliche Religion in dieser Zeit eher als Garantin oder Förderin einer gerechten Ordnung und friedlichen Gesellschaft zur Debatte. In Bezug auf die Frage, was unter Frieden und Gerechtigkeit verstanden werden sollte, fand allerdings seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Umdeutung in den sozialen Ordnungsvorstellungen statt. Eine friedliche Gesellschaft zeichnete sich zunehmend nicht mehr vor allem durch stabile Herrschaftsverhältnisse aus, sondern durch „gerechte“ soziale Verhältnisse, in denen Armut, Hunger und Ausbeutung keine Rolle mehr spielen sollten. Diese Betonung sozialer Gerechtigkeit ist neben den jeweiligen innenpolitischen Situationen auch auf transnationale Entwicklungen zurückzuführen. Antikoloniale Bewegungen in Afrika und Asien beziehungsweise so genannte nationale Befreiungskriege in Lateinamerika sowie soziale Bewegungen beeinflussten sich gegenseitig in ihrer Gesellschaftsanalyse und ihren Gerechtigkeitsvorstellungen. In diesem Zusammenhang fand auch eine Umcodierung von Gewalt statt, die jetzt nicht mehr ausschließlich als physische Gewalt gesehen wurde, sondern als strukturelle Gewalt beziehungsweise „institutionelle Gewalt“ – so die Übersetzung des zeitgenössischen spanischen Begriffs1 – und die im Diskurs über Gewalt eine wichtige Rolle erlangte. Religiöse Sinnstiftungen und daraus resultierende Handlungsoptionen innerhalb der katholischen Kirche blieben von den Forderungen nach Gerechtigkeit und einem würdigen Leben nicht unberührt. Deutlichster Ausdruck auf der obersten Hierarchieebene waren die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen 1 Johan Galtung prägte den Begriff der strukturellen Gewalt, gemeint war damit das, was in Lateinamerika unter der Bezeichnung „institutionelle Gewalt“ (violencia institucional) seit den sechziger Jahren intensiv diskutiert wurde. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Reinbek bei Hamburg 1975.
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Konzils 1962–1965, dem in Lateinamerika die Bischofskonferenz von Medellín 1968 folgte.2 Dort sollte die Umsetzung des Konzils vorangebracht werden. Diese transnationalen Veränderungen stießen auf jeweils spezifische politische Situationen in den einzelnen Ländern, die ihre Akzeptanz und Umsetzungsmöglichkeiten wesentlich beeinflussten. Im Zusammenhang mit der innerkirchlichen Debatte um die sozialen Verhältnisse wurde auch die Diskussion um den Gewaltbegriff geführt. Während die katholische Kirche in Lateinamerika lange Zeit vor allem als Verbündete der konservativen Eliten zu deren Machterhalt beitrug, brachten die skizzierten Veränderungen einen Wandel in der politischen Positionierung eines Teils des Klerus mit sich. Dies lässt sich besonders gut an politisch links orientierten Priestervereinigungen zeigen, wie sie zuerst 1967 in Argentinien mit dem Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo (Priesterbewegung für die Dritte Welt; MSTM) und in Chile 1971 mit den Cristianos por el Socialismo (Christen für den Sozialismus; CpS) entstanden. Diese Gruppen bildeten sich in einer politisch höchst aufgeladenen Zeit. Die kubanische Revolution hatte erhebliche Unruhe auf dem Kontinent und darüber hinaus ausgelöst.3 Aufgrund der internationalen Situation, in der nationale Auseinandersetzungen schnell in den globalen Zusammenhang des Kalten Krieges gestellt wurden, schien die Revolution die Systemfrage in besonders prägnanter Weise zu stellen. Eine Positionierung zur Revolution konnte in dieser aufgeheizten Situation nur negativ oder positiv ausfallen; Zwischentöne waren kaum möglich. Während die einen also eine Wiederholung der Revolution in anderen Ländern Lateinamerikas befürchteten, sehnten die anderen sie herbei. Die differierenden Einschätzungen der Revolution fanden sich in der Kirche ebenso wie in der Gesellschaft insgesamt. Hintergrund einer Hoffnung auf revolutionäre Veränderungen waren die sozialen Missstände in allen lateinamerikanischen Ländern, die teilweise durch die Umwälzungen um die Mitte des 20. Jahrhunderts zugenommen hatten und vermehrt städtische Bevölkerungsschichten betrafen. Aufgrund der Landflucht wuchsen die städtischen Armenviertel, in denen die Armut immer sichtbarer wurde. Die Bewohner organisierten sich in sozialen Bewegungen und klagten die Verhältnisse zunehmend an. Arbeiter und Angehörige der Unterschichten in den 2 Vgl. Johannes Meier/Veit Strassner, Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert. Eine Einführung, in: dies. (Hg.), Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd. 6: Lateinamerika und Karibik, Paderborn 2009, 1–28. Die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils durch die lateinamerikanische Bischofskonferenz behandelt ausführlich José Oscar Beozzo, Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) und die Kirche in Lateinamerika, in: Klaus Koschorke (Hg.), Transkontinentale Beziehungen in der Geschichte des außereuropäischen Christentums, Wiesbaden 2002, 219–242. 3 Zum Einfluss der kubanischen Revolution in Lateinamerika vgl. Hal Brands, Latin America’s Cold War, Cambridge 2010, 25–31.
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Städten forderten soziale und politische Partizipationsrechte. Aber auch die Landbevölkerung organisierte sich und forderte wirtschaftliche und politische Rechte, häufig animiert von der kubanischen Revolution. Wenn sie es nicht schon vorher getan hatten, wandten sich Teile des katholischen Klerus nicht zuletzt aufgrund der Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils den Angehörigen der Unterschichten zu und sahen deren soziale Probleme als ein Feld, in dem sich die Kirche engagieren musste. Dieser Fokus der Kirche auf die soziale Frage war in Lateinamerika zwar nicht gänzlich neu. So hatte etwa in Argentinien und Chile die Katholische Aktion (Acción católica) bereits seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts regen Zulauf erhalten.4 Darüber hinaus entstanden seit den vierziger Jahren in mehreren Ländern christdemokratische Parteien, die zu einer Liberalisierung auch der Kirche beitrugen.5 Allerdings lassen sich erst in den sechziger Jahren eine zunehmende Politisierung und Radikalisierung der Vorstellungen in Bezug auf die Gesellschaftsordnung innerhalb der Kirche beobachten. Die lateinamerikanische Bischofskonferenz von Medellín äußerte sich in deutlicher Weise zu dem Problem der Armut und wollte die Kirche auf der Seite der Marginalisierten sehen.6 Darüber hinaus kam ein Teil des Klerus zu der Ansicht, dass karitative Arbeit nicht mehr ausreiche, und forderte deshalb revolutionäre Umwälzungen der sozialen Verhältnisse. Die Angst der herrschenden Eliten vor einer Revolution nach dem Vorbild Kubas brachte nicht etwa die Einsicht in einen notwendigen Wandel, vielmehr stiegen häufig die Repression und Gewaltanwendung gegenüber Mitgliedern von sozialen Bewegungen an, deren Legitimation eingebettet wurde in die internationale Blockkonfrontation des Kalten Krieges. So kam es in vielen Ländern zu einer politischen Radikalisierung und zum Einsatz politisch motivierter Gewalt. Dazu musste sich die Kirche verhalten, auch wenn ihre Mitglieder selten (Camilo Torres ist ein prominenter Ausnahmefall)7 selbst zur Waffe griffen. Begreift man aber physische Gewalt nicht als Angelegenheit, die allein Täter und Opfer der Gewalttat betrifft, sondern die immer in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist, in dem Dritte durch ihr Verhalten und ihre Deutungen von Gewalt eine wichtige Rolle im Gewaltgeschehen spielen, so ergibt sich die Notwendigkeit,
4 John Frederick Schwaller, The History of the Catholic Church in Latin America. From Conquest to Revolution and Beyond, New York 2011, 207–211. 5 Vgl. dazu Paul E. Sigmund, The Transformation of Catholic Social Thought in Latin America: Christian Democracy, Liberation Theology, and the Catholic Right, in: Satya R. Pattnayak (Hg.), Organized Religion in the Political Transformation of Latin America, Lanham/NewYork/London, 41–64. 6 Beozzo, Konzil (wie Anm. 2), 233–238. 7 Vgl. den Beitrag von Daniel Levine in diesem Band.
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die Haltung der Kirche und des Klerus dazu in den Blick zu nehmen.8 Dies möchte ich im Folgenden für Argentinien und Chile im Hinblick auf die bereits genannten Priestervereinigungen tun. Ich werde ihre Positionen in Bezug auf die gesellschaftliche Ordnung und die Bedeutung von Gewalt, aufgrund derer sie schnell in Opposition zur Kirchenhierarchie gerieten, beleuchten. Zuvor werde ich jeweils die Entstehungsgeschichte der beiden Vereinigungen in ihrem jeweiligen nationalen Kontext umreißen.
Die Priestervereinigungen Die Bildung der beiden Priestervereinigungen stand in engem Zusammenhang mit dem Wandel der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, der in einigen Punkten weitgehenderen lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellín und der Theologie der Befreiung. Das Konzil ebenso wie die Befreiungstheologie wurden allerdings in beiden Ländern unterschiedlich rezipiert. Dies hing auch mit der gesamtgesellschaftlichen Situation zusammen. Dem Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo und den Christen für den Sozialismus war gemeinsam, dass sie in einer innenpolitisch stark aufgeladenen Zeit entstanden, wenn auch unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen. Während die Sacerdotes tercermundistas in der vorletzten argentinischen Diktatur unter General Onganía (1966–1973) in einer Zeit politischer Repression zusammenfanden und sich von Anfang an gegen die Militärjunta sowie die Unterstützung der Diktatur durch die Kirchenhierarchie artikulierten, formierten sich die Christen für den Sozialismus in einer Phase gesellschaftlicher Aufbruchstimmung nach dem Wahlsieg Salvador Allendes 1970 und unterstützten sein politisches Projekt. Beide standen der befreiungstheologischen „Option für die Armen“ nahe und versuchten, ein neues Verhältnis zwischen Christentum und Sozialismus zu finden. Damit waren beide Gruppen involviert in die ideologischen und politischen Auseinandersetzungen und sie nahmen teil am Gewaltdiskurs, der seit den späten sechziger Jahren immer offener in beiden Ländern geführt wurde.
Die katholische Kirche in Argentinien und der Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo In Argentinien war die Kirchenhierarchie gegen Ende der ersten Regierungszeit von Juan Domingo Perón (1946–1955) von ihm und seiner Bewegung des Ju8 David Riches, The Phenomenon of Violence, in: ders. (Hg.), The Anthropology of Violence, Oxford 1986, 1–27, hier 8–9.
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sticialismo deutlich abgerückt. Dies hing einerseits mit den Ansprüchen Peróns zusammen, dass die Peronisten die wahren Christen seien, andererseits wertete die Kirche Maßnahmen der Regierung in gesellschaftspolitischen Fragen wie der Ehescheidung und im Bildungsbereich als Angriff auf ihre genuine Einflusssphäre.9 Deshalb stellten sich viele Bischöfe und katholische Verbände gegen Perón und die Opposition sammelte sich um die Kirche.10 Der Konflikt intensivierte auch die Beziehungen zwischen der Armee und der Kirche, die sich beide als die wichtigsten Stützen der „katholischen Nation“ sahen. Nach dem Sturz Peróns war der Einfluss der Kirche auf die Politik sehr groß. Die Regierungen unter Eduardo Lonardi, Pedro E. Aramburu und dem ersten nach dem Ende der peronistischen Herrschaft gewählten zivilen Präsidenten Arturo Frondizi bedurften der Legitimation durch die Kirche, was wiederum deren Position als wesentlichen Bezugspunkt der Nation stärkte.11 Die von Instabilität gekennzeichnete Politik Argentiniens in den Jahren seit 1955 drehte sich um den Gegensatz zwischen Peronisten und Antiperonisten. Dieser Antagonismus durchzog die Kirche ebenso wie den Rest der Gesellschaft. Ein Teil der Priesterschaft bekannte sich zum Peronismus und dessen Zielen. Die daraus resultierenden innerkirchlichen Spannungen kamen an die Oberfläche als Papst Johannes XXIII. zum Zweiten Vatikanischen Konzil einlud. In den vorkonziliaren Debatten zeichnete sich in Argentinien bereits ab, dass es innerhalb der Kirche zwei Strömungen gab. Eine kleinere begann, die Laien einzubinden, und wollte die Kirche neuen Entwicklungen öffnen, die ältere und stärkere war hingegen stark traditionalistisch und lehnte größere Veränderungen ab. Dies zeigte sich auch in den Äußerungen von Kardinal Caggiano vor seiner Abreise nach Rom 1962. Er forderte die Rückkehr zur Einheit der Kirche und von der Jugend vor allem Gehorsam und unterstrich: „Reform der Kirche, nein – Reformen in der Kirche, ja.“12 Obwohl die Gruppe der Reformer in der Kirche eine relativ kleine Zahl von Klerikern an der Katholischen Universität von Buenos Aires und dem Priesterseminar in der Hauptstadt sowie einigen jüngeren Bischöfen umfasste, erschien sie den Traditionalisten doch als Bedrohung, weil sie den Versuch des Episkopats, der Vorbereitung des Konzils in Argentinien keine Bedeutung zu geben, durchkreuzten. Als 1961 die einflussreiche katholische Zeitschrift Criterio in ih9 Lila Caimari, Perón y la Iglesia Católica. Religión, Estado y sociedad en la Argentina (1943–1955), Buenos Aires 2010, 267–276 und 309–312. 10 Peter Waldmann, Argentinien. Schwellenland auf Dauer, Freiburg 2010, 85. 11 Roberto Di Stefano, Loris Zanatta, Historia de la Iglesia argentina, Buenos Aires 2009, 477. 12 Ebd., 483–486; Zitat im spanischen Original: “Reformas de la Iglesia, no; reformas en la Iglesia, si”, 486.
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rer Weihnachtsausgabe den Reformforderungen europäischer und argentinischer Theologen ein ganzes Heft widmete, ging nicht nur der argentinische Episkopat dagegen vor, sondern sogar der Papst forderte Mäßigung. Damit war jedoch die Auseinandersetzung zwischen „Konservativen“ und „Progressiven“ in der argentinischen Kirche zu einem offenen Konflikt geworden.13 In dem Maße, in dem die konservativen Teile der Kirche radikaler wurden, galt dies auch für die progressiven Kleriker, die zudem feststellen mussten, dass die Laien wesentlich mehr politische Optionen hatten als sie selbst. Besonders im studentischen Milieu und der Arbeiterschaft entstand eine Reihe von linken Gruppen, die am christlichen Glauben festhielten. Außerdem erschienen neue Periodika, die sich zum Ziel setzten, den christlichen Glauben und radikale politische Orientierungen miteinander zu verbinden.14 Die innerkirchlichen Spannungen fanden in einer Zeit allgemeiner politischer Instabilität statt. Das Militär griff immer wieder gegen die Peronisten in die Politik ein. Zwar konnten die anderen Parteien ohne die Unterstützung der Peronisten keine Wahlen gewinnen, an der Regierung konnten sie allerdings ohne die Billigung des Militärs auch nicht bleiben. Obwohl die peronistische Partei mehrfach verboten beziehungsweise von den Wahlen ausgeschlossen wurde, gelang es nicht, die Bewegung aufzulösen. 1966 putschte einmal mehr das Militär und der General Juan Carlos Onganía wurde Präsident. Die Militärregierung errichtete ein repressives System, dessen Wirtschaftskurs vor allem die Arbeiter traf. So formierten sich die Gewerkschaften aber auch viele Angehörige der Mittelschicht und Intellektuelle in der Opposition.15 Auch im katholischen Milieu regte sich Widerstand. So gründete Juan García Elorrio, der dem Kommando Camilo Torres angehörte und ein prominenter militanter Christ war, 1966 die Zeitschrift Cristianismo y Revolución. Das an eine christliche Linke gerichtete Magazin wurde zum Forum für diejenigen Teile der argentinischen Gesellschaft, die christlichen Glauben und radikale Politik miteinander verbinden wollten. Im ersten Editorial betonte Elorrio die Bedeutung der Revolution in der Dritten Welt und dass entgegen der Rhetorik des Regimes Onganía die Revolution nicht im Gang war, sondern Argentinien sich im vorrevolutionären Stadium befand. Die Aufgabe des Magazins sah er darin, Christentum und Revolution miteinander zu verbinden und er forderte, dass der Hunger und die Unterdrückung der Armen und Arbeiter beendet werden müsse. García Elorrio sah die Aufgabe der Christen in der
13 Ebd., 493–497. 14 Michael A. Burdick, For God and the Fatherland. Religion and Politics in Argentina. New York 1995, 130. 15 Sandra Carreras, Barbara Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, Frankfurt 2010, 206–213.
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Aufopferung für die Revolution. Der Kampf musste notfalls auch mit Gewalt geführt werden.16 Innerhalb der Kirche kam es 1967 mit der Gründung des MSTM zu einer Institutionalisierung der progressiven Tendenzen. Die Gruppe stellte die erste Priestervereinigung ihrer Art in Lateinamerika dar und ihre Gründung lag noch vor der Bischofskonferenz von Medellín. Den Anlass der Gründung bildete die Antwort einiger Bischöfe aus der Dritten Welt auf die Veröffentlichung der Enzyklika Populorum Progressio 1967 von Papst Paul VI. Diese „Botschaft von 18 Bischöfen der Dritten Welt“ (Mensaje de los 18 Obispos del Tercer Mundo) war unter der Federführung des brasilianischen Kardinals Dom Helder Cámara zustande gekommen. Sie befürwortete den revolutionären Kampf gegen die Unterdrückung und Armut und bezog sich explizit auf die Enzyklika Populorum Progressio. Damit ging die Botschaft allerdings über die Enzyklika hinaus, die zwar die ungleichen Lebensverhältnisse auf der Welt verurteilte und ihrem Aufruf zum Wandel durchaus Dringlichkeit verlieh, die allerdings trotzdem einen revolutionären Umbruch ablehnte. In Argentinien ließ der Bischof von Goya, Alberto Devoto, der zu den wenigen reformorientierten Bischöfen gehörte, die Botschaft kursieren. Innerhalb kürzester Zeit unterschrieben 270 Kleriker das Dokument. Dies gilt allgemein als Gründungsakt der Sacerdotes. Bereits 1968 war die Zahl der Unterstützer auf über 500 gestiegen. Die Mitglieder des MSTM umfassten zeitweise zehn Prozent der gesamten Priesterschaft in Argentinien. Nach dem Erfolg der Unterschriftenkampagne riefen die Anführer zu einem Treffen auf, das dem Zusammenschluss dienen sollte. Argentinien wurde in Zonen unterteilt und es wurden Delegierte entsandt, die mit den Unterzeichnern sprechen sollten. Anfang Mai 1968 fand eine nationale Konferenz in Córdoba statt, an der 21 Priester aus 13 Diözesen teilnahmen. Auf dem ersten nationalen Treffen wurden ein Sekretariat zur Koordination sowie das interne Publikationsorgan „Enlace“ gegründet, dessen Verbreitung über die Mitgliedschaft hinausging und für die Wirkung des MSTM wichtig war.
Der Diskurs über Gewalt des MSTM Die Sacerdotes erzielten mit ihren Positionen große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. In der Presse überwogen ablehnende Berichte über ihre Anliegen, was wiederum zu deren Radikalisierung beigetragen haben mag. Auch die Konflikte der Sacerdotes mit der Kirchenhierarchie erhöhten die öffentliche Aufmerksamkeit. Ein Diskurs im Habersmas’schen Sinne über die gesellschaftliche 16 Burdick, God (wie Anm. 15), 130–132.
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Lage und notwendige politische Maßnahmen war jedenfalls unter den Bedingungen der Militärdiktatur nicht möglich. Bereits auf dem ersten Treffen in Córdoba formulierten die teilnehmenden Priester einen öffentlichen Brief an Papst Paul VI. und die lateinamerikanischen Bischöfe, deren Konferenz in Medellín bevorstand.17 Darin nahmen sie zunächst Bezug verklausuliert auf die wachsende Angst vor revolutionären Gewalttätigkeiten, um dann ausführlich darzulegen, welche Gewalt in Lateinamerika sie für die eigentlich entscheidende hielten. Demnach beherrschte Gewalt den Kontinent seit einigen Jahrhunderten. Die Sacerdotes klagten die Gewalt einiger weniger Privilegierter gegenüber dem ausgebeuteten Volk an: „Es handelt sich um die Gewalt des Hungers, der Schutzlosigkeit und der Unterentwicklung, die Gewalt der Verfolgung, der Unterdrückung und der Ignoranz, die Gewalt der erzwungenen Prostitution, der illegalen aber effektiven Sklaverei und der sozialen, intellektuellen und wirtschaftlichen Diskriminierung.“18 In ihrem Brief bezogen sich die Sacerdotes auf ein Dokument zur Vorbereitung der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín, das wirtschaftliche Unterentwicklung, Armut und Analphabetismus in Lateinamerika anklagte. Auch die politische Situation wurde wegen der nur oberflächlich demokratischen Verhältnisse und des Machtmissbrauchs durch die Herrschenden und das Militär kritisiert. Diese ökonomische, soziale und politische Lage umrissen die Sacerdotes mit dem Begriff der Gewalt – in anderen öffentlichen Äußerungen sprachen sie häufig von der strukturellen Gewalt19. Mit ihrer Kritik an Kapitalismus und Imperialismus, die als Ursache von Armut und Unterdrückung identifiziert wurden, nutzten die Autoren eine Argumentation, die mit den Ansätzen der Dependenztheorie übereinstimmten, die in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika in den Sozial– und Wirtschaftswissenschaften diskutiert wurden und großen Einfluss auf die wissenschaftlichen und politischen Diskussionen nahmen.20 Darüber hinaus argumentierten die Sacerdotes, die sich als Diener Jesus Christus inmitten des 17 Burdick, God (wie Anm. 15), 138–139. 18 Im spanischen Original: „Es la violencia del hambre, del desamparo y del subdesarrollo. La violencia de la persecución, de la opresión y de la ignorancia. La violencia de la prostitución organizada, de la esclavitud ilegal pero efectiva, de la discriminación social, intelectual o económica.“ A los Obispos de América Latina, Juni 1968. Abgedruckt in: Domingo A. Bresci (Hg.): Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo. Documentos para la memoria histórica, Buenos Aires 1994, 48–53, hier S. 48–49. 19 Im Spanischen „violencia institucional“. 20 Die Positionen der Dependenztheorie finden sich in André Gunder Frank, Capitalism and Underdevelopment in Latin America. Historical Studies of Chile and Brazil, New York 1967. Fernando Henrique Cardoso/Enzo Faletto, Dependencia y desarrollo en América Latina, Mexiko–Stadt 1969.
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unterdrückten Volkes sahen, dass es nur allzu verständlich sei, dass dieses Volk gewaltsamen Widerstand leistete. Im Spanischen nutzt der Text unterschiedliche Worte für Gewalt: während mit „violencia“ die Unterdrückung und Ausbeutung des Volkes bezeichnet wurden, hat das für die Gewaltanwendung im Kampf dagegen benutzte Wort „fuerza“ eine Konnotation, die weniger mit Illegitimität verbunden ist. Wenn die Kirche diesen Widerstand anklagte, dann machte sie sich in den Augen der Sacerdotes nicht nur erneut der Parteilichkeit zugunsten der Oligarchie schuldig. Darüber hinaus würde sie unglaubwürdig, wenn sie einerseits die Unabhängigkeitskämpfer des frühen 19. Jahrhunderts ehrte, nicht jedoch die zeitgenössischen Kämpfer für die Freiheit. Mit dieser Gleichsetzung des Kampfes gegen die Kolonialherrschaft und des Kampfes gegen Armut und Repression wurde implizit die „nationale Befreiung“ heraufbeschworen, die ein wichtiges Schlagwort im politischen Kampf der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika darstellte. Darüber hinaus war dies wohl auch ein Versuch, der nationalistischen Rhetorik der konservativen Kirchenhierarchie etwas entgegenzusetzen. Die Bezüge auf die Dependenztheorie stellten nur eine Quelle der Rechtfertigung revolutionärer Gewalt dar. Wichtig war für die Sacerdotes auch ihre theologische Begründung. Sie sahen sich als „Diener Jesu“21, deren priesterliche Aufgaben sie in die Mitte des Volkes stellten, das sich gegen die Ungerechtigkeit zu widersetzen begann. Keine Partei für die Befreiung zu ergreifen, bedeutete für sie, die Unterdrücker weiterhin zu unterstützen. Ziel der Befreiung lag in einer gerechten und brüderlichen Gesellschaft. In einer Weihnachtsbotschaft 1968 bezogen sich die Sacerdotes vor allem auf den theologischen Hintergrund ihres Handelns. Die Geburt von Jesus Christus in Armut vollzog sich demnach tausendfach in der eigenen Zeit22 und die Verfolgung damals wie heute diente gleichermaßen den Interessen der herrschenden Minderheit. Dem wollten die Sacerdotes handelnd entgegentreten, indem sie sich auf die Seite der Armen stellten. In ihrer Weihnachtsbotschaft kündigten sie eine mehrtägige Fastenaktion bis zum Heiligen Abend an und forderten alle Christen auf, sich daran zu beteiligen. Auch wollten sie kein Abendmahl durchführen, um damit auf die Sünden gegen die Armen aufmerksam zu machen und alle Christen zur Aktion aufzurufen. In allen ihren öffentlichen Stellungnahmen bezogen sie sich immer auf zumindest eine der folgenden innerkirchlichen Quellen: das Zweite Vatikanische Konzil, die Enzyklika Populorum Progressio und die Abschlusserklärungen der Bischofskonferenz in Medellín. Diese Bezüge zeigen die Verbundenheit der Sacerdotes mit der reformorientierten Kirche auf. 21 A los obispos, (wie Anm. 19), 50–51. 22 „Cristo nace hoy en miles de hombres“. Declaración „Compromiso de Navidad“, Dez. 1968, in: Bresci, Documentos (wie Anm. 19), 56.
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Die Frage der politischen Gewalt rückte in den innenpolitischen Auseinandersetzungen in Argentinien zunehmend in den Vordergrund. Dies war endgültig im Mai 1969 mit dem sogenannten Cordobazo der Fall, als es in Córdoba, einem wichtigen Industriezentrum im Landesinneren, zum Aufstand gegen die Wirtschaftspolitik der Militärjunta und deren hohe soziale Kosten kam. Angeführt von Gewerkschaftern und studentischen Aktivisten nahmen Aufständische das Stadtzentrum ein und konnten dem Militär einige Stunden trotzen. Der Cordobazo löste eine landesweite Protestwelle aus gegen die massiven sozialen Folgen der Wirtschaftspolitik der Militärjunta sowie gegen die politische Repression.23 Die Sacerdotes äußerten sich zu den Ereignissen in ähnlicher Weise wie ein Jahr zuvor in ihrem offenen Brief an den Papst. Sie rechtfertigten die von Arbeitern, Armen und Guerilleros ausgeübte Gewalt. Camilo Torres galt ihnen als Symbol eines wahren Christen und authentischen Revolutionärs, ebenso lobten sie die Guerillagruppe der „Montoneros“. Der bewaffnete Kampf stellte in ihren Augen einen berechtigten Widerstand gegen despotische Verhältnisse dar. Die Bilder und Symbole waren dabei teilweise christlich konnotiert, wenn der Tod von Guerilleros als Selbstopfer und göttliche Reinigung beschrieben wurde. Die gesellschaftliche Gewalt und die Unterstützung des MSTM für gewaltsame revolutionäre Aktionen wurden bald zu einem Problem für die Bewegung. Mitglieder wurden verhaftet und die Bewegung insgesamt musste sich und ihre in Gewaltaktionen verstrickten Mitglieder rechtfertigen. Ende Mai 1970 schlugen die Wellen nach der Entführung und Ermordung von General Aramburu durch die Montoneros besonders hoch. Alberto Carbone, Mitglied des nationalen Sekretariats der Sacerdotes und Herausgeber von Enlace, wurde beschuldigt, an dieser Aktion beteiligt gewesen zu sein. Der MSTM nahm dazu in einer ambivalenten Erklärung öffentlich Stellung. Zwar wurde festgestellt, dass die Geringschätzung eines Menschenlebens unchristlich sei, gleichzeitig kritisierten die Autoren aber die Überbewertung eines Menschenlebens gegenüber dem von anderen und erinnerten an das Verschwinden von mehreren politischen Aktivisten. Erneut wurden die politischen und sozialen Verhältnisse verantwortlich gemacht für die Gewalt und die Verantwortung dafür der Regierung übertragen.24 Angesichts der erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber den Sacerdotes veröffentlichte der Episkopat im August 1970 eine Erklärung, in der die Haltung der Sacerdotes verurteilt wurde. Er ergriff aber keine drastischen Maßnahmen gegen die 23 Jeffrey Klaiber, The Church, Dictatorships and Democracy in Latin America, New York 1998, 72. 24 Marcello Gabriel Magne, Dios está con los pobres. El Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo: Prédica revolucionaria y protagonismo social, 1967–1976, Buenos Aires 2004, 153.
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Organisation, um eine Spaltung der Kirche nicht voranzutreiben. Auf die Kritik der Bischöfe antwortete die Bewegung zwei Monate später und lehnte die Beschreibung als gewalttätig ab. Vielmehr verwies ihre Erklärung auf die strukturelle Gewalt, die eine gewaltsame Gegenwehr des Volkes rechtfertige. Der Hierarchie warfen die Sacerdotes Einseitigkeit vor, wenn sie zwar Gewalttaten gegen die Oligarchie verurteilten, nicht jedoch die brutale Repression, die Hungerlöhne, die katastrophale Lage der indigenen Bevölkerung sowie den Imperialismus.25 Trotz der Kritik am MSTM durch die Kirchenhierarchie und der Repression gegen seine Mitglieder waren dies nicht die Gründe für die Auflösung der Sacerdotes als nationaler Organisation. Vielmehr führten interne Auseinandersetzungen um die Frage der politischen Orientierung 1973 zu einer Spaltung, die verhinderte, dass die Sacerdotes auf nationaler Ebene mit einer Stimme sprechen konnten. Die Organisation löste sich in regionale Verbände auf. Während einige Mitglieder die nationalistische Orientierung des Peronismus kritisierten, die ihrer Meinung nach nicht dem sozialistischen Ziel der Revolution entsprach, befürworteten viele Sacerdotes eine Unterstützung des Peronismus, da er die Wahl des Volkes sei. Die endgültige Auflösung der Organisation erfolgte dann allerdings durch die wachsende Repression seit 1974 und den Militärputsch von 1976.
Die katholische Kirche in Chile und die Christen für den Sozialismus In Chile hatte die Verfassung von 1925 die Trennung von Staat und Kirche festgelegt. Diese Maßnahme war mit der Kirche ausgehandelt worden und wurde deswegen von beiden Seiten akzeptiert. In den folgenden Jahrzehnten fand eine innere Umstrukturierung der Kirche statt und es kam zu einer institutionellen Verselbständigung.26 1931 wurde die Acción Católica gegründet. 1935 entstand die erste theologische Fakultät an der Katholischen Universität Santiago. Außerdem erschien eine Reihe von katholischen Zeitschriften und Publikationen. Wichtiger noch war die 1952 gegründete chilenische Bischofskonferenz, die aus der 1939 geschaffenen ständigen Bischofskommission für die Katholische Aktion hervorging und fünf Jahre nach ihrer Gründung einen Ständigen Rat 25 Enlace 12, 161. Im spanischen Original: “Es extraño que nuestros obispos se sientan conmovidos y recuerden que el uso de la violencia es ilegítimo, sólo cuando son los poderosos quienes sufren el impacto. Quisiéramos que nuestros obispos condenasen por lo menos con tanta fuerza como lo hacen contra los revolucionarios, la brutal represión policial, los salarios de hambre, la entrega al imperialismo, la situación de los aborígenes. En una palabra la violencia opresora.” 26 Veit Strassner, Chile, in: Johannes Meier/Veit Strassner (Hg.), Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd. 6: Lateinamerika und Karibik, Paderborn 2009, 385–408, hier: 387.
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einrichtete. Auch die Ordensleute schlossen sich 1954 in einer Vereinigung, der Conferencia de Religiosos y Religiosas de Chile (CONFERRE), zusammen. Diese Institutionalisierungen, die teilweise durch die Gründung von neuen Diözesen notwendig geworden waren, stärkten die Kirche insgesamt. Bereits 1925 hatte die Kirche sich verpflichtet, zum Wohl des chilenischen Volkes zu wirken. In den folgenden Jahrzehnten sollte sich auch aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung immer stärker eine vom Sozialkatholizismus inspirierte Deutung dieses Ziels herausschälen. In den vierziger und fünfziger Jahren bewegte sich die katholische Kirche aufgrund des Engagements der sozial aktiven Laien von der Konservativen Partei weg. Bis diese an den Sozialkatholizismus angelehnte Richtung innerhalb der Kirche in den fünfziger Jahren zur einflussreichsten Tendenz werden konnte, entstanden zwar Konflikte mit den traditionellen Katholiken, die ein anderes Bild von den Aufgaben der Kirche hatten.27 Diese Konflikte hatten allerdings nicht die gleiche Schärfe wie diejenigen in der argentinischen Kirche. Zwar verließ die Kirche ihre neutrale Position in der Parteipolitik in den dreißiger Jahren und stellte sich hinter die Konservative Partei. Dies führte auch dazu, dass der Episkopat die Falange, die sich 1938 von der Konservativen Partei abspaltete, zunächst ablehnte. Die Initiatoren der Falange waren in der Katholischen Aktion aktiv und wollten die Sozialenzykliken in der chilenischen Politik umsetzen. Sie forderten außerdem einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Als sich die Falange 1948 gegen das Verbot der Kommunistischen Partei Chiles aussprach, wollten die Bischöfe die Partei als nicht wählbar für Katholiken erklären, unterließen dies jedoch nach einer Einmischung des Vatikans.28 In den fünfziger und sechziger Jahren vertrat die chilenische Kirche progressivere Positionen in dem Sinne, dass sie Sozialreformen als notwendig erachtete und gegenüber der Politik anmahnte. In Chile ebenso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern wuchsen in diesen Jahrzehnten aufgrund von Landflucht die Städte stark an und in ihnen die Elendsviertel. Die Kirche begann dort Pfarreien aufzubauen, um sich der Armen anzunehmen. In diesen Pfarreien spielten Ordensgeistliche und ausländische Pfarrer eine wichtige Rolle. Viele Priester wurden in dieser Zeit als Arbeiter tätig und teilten die Erfahrungen der Unterschichten, über die sie wiederum in der Kirche berichteten.29 Zur reformorientierten Ausrichtung trug auch die Katholische Aktion bei, in der in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ca. 57.000 Menschen in 27 Michael Fleet, Brian H. Smith, The Catholic Church and Democracy in Chile and Peru, Notre Dame, Ind., 1997, 41. 28 Ebd., 43–46. 29 Strassner, Chile (wie Anm. 26), 389.
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der Hauptstadt Santiago und 100.000 Katholiken im ganzen Land organisiert waren.30 In dieser Zeit erreichte die Kirche auch Arbeiter, Bauern und Bewohner der städtischen Elendsviertel. Die Kirche ernannte zudem neue Bischöfe, die nicht mehr so stark der Konservativen Partei zugeneigt waren, sondern den Christdemokraten nahestanden. Die Christdemokratische Partei ging 1957 aus einem Zusammenschluss der Falange und christlichen Konservativen hervor. Viele Katholiken auch in der Hierarchie standen nun nicht mehr der Konservativen Partei nahe, sondern fanden in der Christdemokratischen Partei eine neue politische Heimat. Die Christdemokraten hatten wiederum großen Einfluss in der Katholischen Aktion.31 Die Einladung zum Zweiten Vatikanischen Konzil traf in Chile auf offene Ohren. Der Bischof von Talca, Manuel Larraín, und vor allem der Erzbischof von Santiago, Kardinal Raúl Silva Henríquez, waren bereits vorher für soziale Reformen eingetreten und nahmen am Konzil teil. Die Konzilsbeschlüsse wurden in der chilenischen Kirche überwiegend positiv aufgenommen und auch umgesetzt. Seit Ende der fünfziger Jahre hatte die Regierungspolitik zur Verschärfung sozialer Probleme beigetragen. Die sinkenden Reallöhne führten zur wachsenden Unzufriedenheit bei Beziehern von mittleren und geringen Einkommen. Angehörige dieser Gruppen wandten sich zunehmend linken Parteien zu. In den Wahlen 1963 wurden die Christdemokraten erstmals stärkste Partei und ein Jahr später gewann Eduardo Frei die Präsidentschaftswahlen. Diesen Wahlsieg hatte er auch der katholischen Kirche zu verdanken. Zwar gab der Episkopat keine offene Wahlempfehlung, indirekt unterstützte er aber eindeutig Frei gegen seinen Mitbewerber Salvador Allende.32 Zwar leitete die Regierung unter Frei, die mit dem Wahlspruch „Revolution in Freiheit“ angetreten war, einige wichtige Reformen ein. Diese reichten jedoch nicht, um sozialen Frieden zu bringen. So kam es seit 1967 zu massiven Protesten von Arbeitern und zu Landbesetzungen. Die letzten drei Jahre der Regierung Frei zeichneten sich durch eine zunehmende politische Polarisierung aus. Die Regierung schlug Arbeiterproteste blutig nieder, seit 1966 ging die linke Guerillagruppe MIR bewaffnet vor und 1969 erhoben sich Armeeoffiziere mit der Forderung nach höherem Sold.33 Die Probleme der Christdemokratischen Regierung brachten die Bischöfe dazu, sich von der großen Nähe zu dieser Partei zu lösen und eine neutralere Po30 Fleet/Smith, Church (wie Anm. 27), 46. 31 Ebd., 48. 32 Brian H. Smith, The Church and Politics in Chile. Challenges to Modern Catholicism, Princeton 1982, 109–111. 33 Ebd., 127.
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sition einzunehmen. Nun versuchten sie, sich als moralische Stimme in die Gesellschaft einzubringen. Der politischen Polarisierung begegneten die Bischöfe mit Aufrufen zur Mäßigung. Bei den Wahlen 1970 enthielt sich die Hierarchie einer Wahlempfehlung für eine bestimmte Partei, ohne deshalb die eigene Verpflichtung zum Einsatz für eine bessere Situation der Armen aufzugeben. Sie betonte stattdessen, dass die Kirche für Anhänger aller politischen Richtungen da sei und dass sie die Grundlage für die Einheit der Chilenen sei. Priestern wurde untersagt, eine ideologische Position oder gar eine Partei zu unterstützen. Die Kirche forderte die Einhaltung der demokratischen Verfahren und warnte vor den Gefahren eines Bürgerkriegs.34 Unter Allende behielten die Bischöfe ihre unparteiische Position bei. Nach der Wahl stellten sie sich gegen Intrigen von rechts, die versuchten, Allendes Amtsantritt zu verhindern. Nach der Amtsübernahme Allendes gab Kardinal Silva ein Interview, in dem er die Unterstützung der Kirche für die Reformprogramme der Regierung herausstrich und außerdem feststellte, dass im Sozialismus wichtige christliche Werte enthalten seien und er dem Kapitalismus überlegen sei.35 Die Christen für den Sozialismus formierten sich 1971 in einer gänzlich anderen politischen Situation als die Sacerdotes in Argentinien es vier Jahre zuvor getan hatten. Zwar war die politische Situation nicht einfach, nichtsdestotrotz herrschte nach dem Wahlsieg Allendes zunächst in einem Teil der Gesellschaft eine Aufbruchsstimmung. Dies galt auch für einen Teil der Kirche. Priester und Ordensschwestern, die zunächst mit pastoralem Interesse in die Armenviertel gegangen waren, begannen sich verstärkt politisch zu engagieren. Um darüber zu diskutieren, wie die Arbeit zukünftig aussehen könnte, wurde für April 1971 ein Treffen einberufen, auf dem über die Beteiligung der Christen am Aufbau des Sozialismus diskutiert werden sollte. Aus diesem Treffen ging zunächst eine lose Vereinigung hervor, die als „los ochenta“ bezeichnet wurde, weil 80 Priester eine öffentliche Erklärung unterzeichneten, in der sie die Notwendigkeit des Sozialismus erläuterten. Obwohl diese Erklärung einer ähnlichen Analyse der Verhältnisse folgte, wie sie auch die Sacerdotes mit ihrer Anlehnung an die Dependenztheorien vornahmen, war die Sprache der Erklärung weniger radikal.36 Abgesehen von den unterschiedlichen politischen Situationen in den beiden Ländern lag dies wohl vor allem an der Unterstützung der Priester für die Re34 Fleet/Smith, Church (wie Anm. 27), 54. Brian H. Smith, The Catholic Church and Politics in Chile, in: Dermot Keogh (Hg.), Church and Politics in Latin America, London 1990, 321–343, hier 324. 35 Fleet/Smith, Church (wie Anm. 27), 55. 36 Vgl. Declaration of the 80, in: John Eagleson (Hg.), Christians and Socialism: Documentation of the Christians for Socialism Movement in Latin America, Maryknoll 1975, 3–6.
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gierung Allendes. Die Erklärung sollte das Projekt eines sozialistischen Chile befördern, nicht jedoch Gräben aufreißen. Solidarität als christliche Eigenschaft stand deshalb im Vordergrund. Den CpS gehörten zeitweise etwa 300 Priester an, das waren etwa zehn Prozent der Priesterschaft im Land. Auch Ordensschwestern konnten der Vereinigung beitreten, allerdings sollten sie vor allem an der Basis tätig werden, öffentliche Stellungnahmen der CpS sollten allein Priestern vorbehalten sein.37
Der Diskurs über Gewalt der CpS Ebenso wie der MSTM nahmen die Christen für den Sozialismus vor allem über ihre öffentlichen Stellungnahmen Einfluss auf die politische Lage. Sie fanden dabei bessere Möglichkeiten zur Verbreitung ihrer Ideen. In den wichtigsten Tageszeitungen erschienen wöchentliche Kommentare zum Evangelium und jeden Samstagnachmittag wurde ein Programm im Fernsehen ausgestrahlt, das sich „Consecuencias del evangelio“ nannte.38 Große Aufmerksamkeit erhielt eine Stellungnahme vom März 1972 von zwölf Mitgliedern der CpS, als diese Kuba besuchten. Über die Ziele der Christen für den Sozialismus erklärten sie: „Wenn es darum geht, die falschen Götter der Imperialisten zu zerstören, dann betonen wir, dass unser Glaube uns dazu anhält, alle falschen Götter zu bekämpfen. Wenn es darum geht, die strukturelle und militante Gewalt einer Minderheit zu zerstören [gemeint war hier die Minderheit der Eliten, S.H.], dann stellen wir Christen uns nicht gegen das Recht, für sein Leben zu kämpfen sowie für Gerechtigkeit und Gleichheit. Wenn die reaktionäre Gewalt uns daran hindern will, eine gerechte und gleiche Gesellschaft aufzubauen, dann müssen wir mit revolutionärer Gewalt antworten.“39 Diese Stellungnahme, die eine Antwort des Episkopats provozierte, ist vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden innenpolitischen Situation in Chile
37 Vgl. David Fernández Fernández, La ‘Iglesia’ que resistió a Pinochet. Historia desde la fuente oral, del Chile que no puede olvidarse, Madrid 1966. 38 Pablo Richard, Cristianos por el socialismo. Historia y documentación, Salamanca 1976, 59. 39 Im spanischen Original: „Si se trata de destruir los falsos dioses del imperio, nuestra fe nos impulsa a luchar contra todos los falsos dioses. Si se trata de destruir la violencia institucionalizada y militante de las minorías, los cristianos no renunciamos la lucha para defender el derecho a vivir e instaurar un régimen de justicia e igualdad. Si la violencia reaccionaria nos impide construir una sociedad justa e igualitaria, debemos responder con la violencia revolucionaria.“ Zitiert in ebd., 81–82.
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zu sehen, in der die Konservativen sich mittlerweile reorganisiert hatten und die politischen Lager sich immer unversöhnlicher gegenüber standen. Die Christen für den Sozialismus wirkten in größerem Maße als der MSTM über nationale Grenzen hinweg und nahmen auch Diskussionen aus anderen lateinamerikanischen Ländern auf. Im Frühjahr 1972 veranstalteten sie ein erstes lateinamerikanisches Treffen in Santiago. Der chilenische Episkopat fühlte sich bereits im Vorfeld genötigt, den Episkopaten der anderen Länder mitzuteilen, dass er mit dieser Initiative nichts zu tun habe. Trotzdem war das Treffen für die CpS sehr wichtig.40 Die 400 Teilnehmer kamen aus allen Teilen Lateinamerikas. Außerdem nahmen einige Beobachter aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa teil.41 Die Abschlusserklärung dieses Treffens wurde in zwei unterschiedlichen Versionen veröffentlicht, eine davon richtete sich mit vereinfachter Sprache und Bildern an ein breiteres Publikum. Die Erklärung begann mit einer Analyse der lateinamerikanischen Situation, in der die Anklage der institutionalisierten Gewalt mit den Folgen von Armut, Unterernährung, Analphabetismus, wachsender Ungleichheit zwischen Armen und Reichen sowie rassistischer und sozialer Diskriminierung im Vordergrund standen. Kapitalismus und Imperialismus griffen demzufolge immer häufiger als letztes Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft auf Militärdiktaturen, Folter und Repression zurück. Dagegen hatte sich ein Befreiungskampf erhoben, den die Autoren in einer Linie sahen, die sich von den Unabhängigkeitskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur kubanischen Revolution erstreckte. Diesem Kampf, so die Erklärung weiter, schlossen sich immer mehr Christen an und schlossen eine strategische Allianz mit den Marxisten. Der zweite Teil der Erklärung ging auf den eigenen Anteil am revolutionären Kampf ein. Hier stellten die Autoren vor allem die Notwendigkeit der ideologischen Auseinandersetzung heraus und kritisierten die ihrer Meinung nach deformierte Verwendung des christlichen Glaubens durch die Herrschenden. Die Erklärung rief zur Beteiligung an Parteien und Arbeiterorganisationen auf.42 Obwohl hier kein direkter Aufruf zu physischer Gewaltanwendung enthalten war,43 richtete sich die Kritik an den Positionen gegen die Christen für den 40 David Fernández Fernández, Cristianos por el socialismo en Chile, 1971–1973: aproximación histórica a través del testimonio oral, in: Studia zamorensia 4 (1997), 187–202, hier 194. 41 Hugo Assmann/Luis Bach/José Blanes/José Miguez Bonino/J. Girardi/R. Coste, Cristianos por el Socialismo. Exigencias de una opción, Montevideo 1973, 15. 42 Vgl. Documento final, in: Ebd., 18–31. 43 Indirekt verwiesen die Nennung von Ché Guevara und Camilo Torres ebenso wie der Revolutionsbegriff selbst auf physische Gewaltanwendung als ein Mittel im politischen Kampf, direkt standen aber andere Aspekte im Vordergrund.
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Sozialismus immer wieder auch gegen den Aufruf zur Gewalt. In ihrer Reaktion darauf gaben die CpS zu bedenken, dass die Anwendung physischer Gewalt im Klassenkampf in bestimmten Situationen gerechtfertigt sei, etwa, wenn damit der gewaltsamen Repression durch die Herrschenden begegnet wurde. Allerdings, so wurde weiter ausgeführt, gingen Klassenkampf und physische Gewalt nicht notwendigerweise miteinander einher.44 In den folgenden Monaten spitzte sich der politische Kampf zwischen den Konservativen und der Regierung und ihren Anhängern immer stärker zu. Kritik kam aber auch von unzufriedenen Arbeitern, denen die Maßnahmen der Regierung nicht weit genug gingen. Massendemonstrationen, Straßenkämpfe, Streiks und Aussperrungen waren an der Tagesordnung. Die Regierung traf außerdem einige Fehlentscheidungen, die zu massiven wirtschaftlichen Problemen und sozialen Konflikten führten.45 Hinzu kamen die Einmischungen der USA. Die CpS sahen das sozialistische Projekt und damit ihre Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft immer stärker bedroht. Dies fand sich auch in ihren öffentlichen Verlautbarungen wieder. Im März 1973 standen Wahlen für den Kongress an. Die Christen für den Sozialismus verfassten im Vorfeld eine Erklärung, in der sie Chile an einem Scheideweg sahen: entweder würde die Arbeiterschaft die Macht erobern, oder sie würde brutal unterdrückt werden. Das Ziel der Bourgeoisie lag demnach in der Zerstörung der Regierung und der Unterdrückung des Volkes „a sangre y fuego“. Auch wenn die Regierungskoalition in den Wahlen nicht die Mehrheit gewann, wurde das Wahlergebnis, das ihr einen höheren Anteil der Wählerstimmen ebenso wie eine größere Anzahl an Stimmen eingebracht hatte, nicht nur von den CpS als Triumph angesehen, da die Opposition ihr Wahlziel einer Zweidrittelmehrheit nicht erreicht hatte. Es sollte sich jedoch bald zeigen, dass dem Scheitern der Opposition auf parlamentarischem Weg eine gewaltsame Strategie folgen sollte. Ein erster Militärputsch im Juni scheiterte, im September 1973 putschte das Militär dann aber erfolgreich.
Fazit Die hier in den Blick genommenen Auseinandersetzungen der beiden Priestervereinigungen der Sacerdotes und der Christen für den Sozialismus mit der Frage, ob und wann die Anwendung physischer Gewalt zulässig sei, lassen sich nur verstehen, wenn man sie in die entsprechenden innergesellschaftlichen und 44 Giulio Girardi, Una incomprensión sintomática, in: Assmann/Bach/Blanes/Miguez Bonino/Girardi/ Coste, Cristianos (wie Anm. 42), 74–100, hier 90–91. 45 Vgl. Stefan Rinke, Kleine Geschichte Chiles, München 2007, 152–157.
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transnationalen Kontexte stellt. Gewalt wurde von beiden nicht als undifferenziertes Phänomen wahrgenommen. Vielmehr unterschieden sie nach gerechter und ungerechter Gewalt. Ungerechte Gewalt verübten die Eliten des eigenen Landes ebenso wie ganze Nationen im Interesse ihres Machterhalts. Gerechte Gewalt wandten dagegen diejenigen an, die sich im Widerstand gegen die Unterdrückung und Ausbeutung durch einige Wenige befanden. Im Leben der Armen sahen viele Priester eine Parallele zu Geburt und Leben Jesu Christi und fühlten sich deshalb durch ihren Glauben verpflichtet, sich auf die Seite der Armen zu stellen und sich an ihrem Kampf zu beteiligen. Dieser Positionierung verliehen beide Priesterorganisationen mit ihrer Einmischung in die öffentlichen Debatten um die gesellschaftliche Lage Nachdruck. Sie beriefen sich dabei stark auf innerkirchliche Entwicklungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Enzyklika Populorum Progressio von Papst Paul VI. und die Beschlüsse der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín spielten dabei eine wichtige Rolle. Beide untersuchte Priesterorganisationen beteiligten sich an der Gewaltdebatte, die in Argentinien und Chile eine wichtige Rolle spielte. Die Kritik an den herrschenden Verhältnissen als institutioneller Gewalt teilten sie mit vielen Sozialwissenschaftlern und Linken und beteiligten sich über die beständige Anklage dieser Situation an der teilweise erfolgreichen Umcodierung des Gewaltbegriffs. Dies bedeutete allerdings nicht, dass sie der Gewalt gegen diese Verhältnisse vorbehaltlos das Wort redeten, wenn sie auch immerhin nicht dagegen argumentierten, sondern in konkreten Situationen Gewalt gegen Militärs oder Angehörige der Elite nicht verurteilten. Die Gegner einer Gesellschaftsanalyse, wie sie die beiden Priesterorganisationen vertraten, griffen diese Fälle auf und warfen den beiden Organisationen vor, Gewalt zu befürworten und zu befördern. Die Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse als gewalthaft lehnten sie dagegen als zu schematisch ab. Mehr hatten sie dem nicht entgegenzusetzen. Kommt man auf die eingangs aufgeworfene Frage zurück, welche Rolle die Haltung der Kirche im Gewaltgeschehen der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Argentinien spielte, so muss man im Hinblick auf die beiden untersuchten Priestervereinigungen feststellen, dass sie die Aufforderungen des Zweiten Vatikanischen Konzils ernst nahmen und sich auf die Seite der Armen stellten. Damit bezogen sie in den innenpolitischen Auseinandersetzungen, die sich immer weiter radikalisierten, eindeutig Stellung für eine linke politische Position. Im Kontext des Kalten Krieges wurde dies aber von den Herrschenden stets als eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung überhaupt gedeutet. Die Priester waren außerdem nicht die einzigen kirchlichen Akteure, die eine solche Positionierung vornahmen. In Argentinien stärker als in Chile stellte sich die Hierarchie weiterhin auf die Seite der Herrschenden und warnte
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mit religiös aufgeladenen Argumenten vor Sozialismus und gesellschaftlichem Umbruch. Gerade in Argentinien ging der größere Teil der Bischöfe so weit, die Militärdiktatur und deren Menschenrechtsverbrechen zu legitimieren.46 Letztlich wird man hier also feststellen müssen, dass die Kirche zu sehr in die politischen Auseinandersetzungen verstrickt war, um eine friedensstiftende Wirkung entfalten zu können. Die Akteure trugen vielmehr durch ihre Unterscheidung von Gewaltgründen und der Rechtfertigung der einen oder der anderen Gewalt zur Radikalisierung der politischen Lage bei. Allerdings muss hier in Chile stärker als in Argentinien zwischen den unterschiedlichen Teilen der Kirche unterschieden werden. Der Episkopat versuchte in Chile mäßigend auf die politischen Auseinandersetzungen einzuwirken. Dies lag einerseits an der stärkeren Reformorientierung der chilenischen Kirche. Andererseits bestand hier keine so enge Verknüpfung wie im argentinischen Episkopat und weiten Teilen des Klerus, dass eine unmittelbare Verbindung zwischen der Aufrechterhaltung der nationalen Ordnung der Einheit der Kirche bestünde. Allein ihre Gründung in der christlichen Botschaft macht Kirche also nicht per se zu einem friedensstiftenden Akteur. Vielmehr legt der Umkehrschluss nahe, dass auch Kirche nur dann Frieden stiften kann, wenn sie als externer Vermittler agiert oder geschlossen als Friedensakteur auftritt.
46 Vgl. Stephan Ruderer, „Gerechter Krieg“ oder „Würde des Menschen“. Religion und Gewalt in Argentinien und Chile. Eine Frage der Legitimation, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12, Dezember 2010, 973–993; Ders., „Unsere solideste Waffe ist unsere Religion“ – Der Staatsterrorismus während der argentinischen Diktatur als gerechter Krieg, in: Gerd Althoff, Theo Riches (Hg.), Denkmuster christlicher Legitimation von Gewalt, (Würzburg im Druck); sowie den Beitrag von Stephan Ruderer in diesem Band.
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Camilo Torres: Glaube, Politik und Gewalt „Ich denke, dass der revolutionäre Kampf ein christlicher und priesterlicher Kampf ist. Nur durch ihn können wir, mit den konkreten Gegebenheiten unseres Volkes, die Liebe umsetzen, die die Menschen für ihre Mitmenschen haben sollen.“ Camilo Torres, August 19652 „Die Pflicht eines jeden Christen ist es, revolutionär zu sein.“ Camilo Torres „Die Pflicht eines jeden Revolutionärs ist es, die Revolution umzusetzen.“ Che Guevara3
Camilo Torres wurde am 15. Februar 1966 bei einem Zusammenstoß zwischen seiner Guerillakolonne (der nationalen Befreiungsarmee ELN, Ejército de Liberación Nacional) und einer bewaffneten Patrouille des kolumbianischen Militärs auf einem Platz namens Patio Cemento getötet. Seitdem erlangte er einen ikonenhaften Status im linksorientierten Lateinamerika und besonders unter katholischen Aktivisten der Linken. In seinem Leben, seinen Worten und seinem Engagement schien er viele der Veränderungen, die damals im lateinamerikanischen Katholizismus im Gange waren, zu verkörpern und wichtige Ideen und Bewegungen für den Umschwung vorwegzunehmen, die in den nächsten Jahrzehnten aufkommen sollten. Für viele artikulierten seine Entscheidung, zu den Waffen zu greifen, und sein Tod als Guerillakämpfer auf deutliche und unvergessliche Weise das Bedürfnis gläubiger Menschen, ihre Anpassung und bequeme Komplizenschaft zu beenden und eine aktive Entscheidung für die Revolution zu treffen, und sei es mit Gewalt. Er erhielt Kultstatus als Vorbild und Beispiel der Aufopferung für die Revolution, wobei er, wie es sein Biograph darstellt, eine Art Che Guevara für Katholiken wurde.4 1 Ich bin Leslie Anderson, Edward Cleary, Silke Hensel, Jeffrey Klaiber, Jose Enrique Molina, Gustavo Morello und Stephan Ruderer dankbar für hilfreiche Kommentare und Ratschläge. Vielen Dank auch an Friederike Simon für die deutsche Übersetzung des Textes. 2 Zitiert in: Einem Interview mit dem französischen Journalisten Jean Pierre Sergent, „Razones de un Adios“, Semana al Dia, Bogota, August 1965. Zitiert in Hernan Brienza, Camilo Torres, Sacristán de la Guerrilla, Buenos Aires 2009, 80. 3 Ebd., 11. 4 Walter J. Broderick, Prólogo, in: Walter J. Broderick/Camilo Torres, Camilo Torres. Escritos políticos, Bogotá 2002, 21.
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In diesem Kapitel untersuche ich Camilo Torres’ Leben, öffentliche Karriere und Kernideen mit besonderem Interesse für das Verständnis der Beziehung zwischen seinem Glauben und den von ihm getroffenen politischen Entscheidungen, in die Politik einzutreten und sich der Guerilla anzuschließen. Um die Entwicklung, den Einfluss und die Hinterlassenschaft von Camilo Torres zu verstehen, ist es notwendig, an dem Schnittpunkt zwischen seiner persönlichen Biographie und der Geschichte, die ihn umgab und beeinflusste und in der er ein aktiver Teilnehmer war, anzusetzen. Drei Stränge der Geschichte kreuzten die Linie seines Lebens: die Geschichte seines Landes, Kolumbien, die Geschichte des lateinamerikanischen Katholizismus in diesen Jahren und die Geschichte der lateinamerikanischen Politik. Sein Leben und seine öffentliche Karriere im Kontext dieser historischen Stränge und der strukturellen Veränderungen zu lokalisieren, erlaubt uns, die folgenden Fragen zu stellen: Wie können wir den sehr schnellen Schritt hin zu einer gewalttätigen politischen Handlung als das einzige Mittel zur Umsetzung von effektiver Wohltätigkeit und Nächstenliebe erklären? Warum sah Torres diese Option als legitim, notwendig und möglich an? Warum damals und warum auf diese besondere Art und Weise? Bei der Einschätzung der Hinterlassenschaft Camilo Torres’ liegt die Herausforderung darin, die Macht, die überwältigende Kraft seiner Ideen, seinen Idealismus und sein Beispiel anzuerkennen, aber diese Elemente mit Blick auf die Wirklichkeitsnähe seiner politischen Analyse und seiner Handlungen abzugleichen.5 Ich argumentiere hier, dass die Entwicklung seiner Ideen und seines Engagements geprägt war von einer Mischung aus großem Idealismus, tiefgreifender politischer Naivität und einem rückständigen Paternalismus, der zurück ging auf die dominante Rolle der Kirche und des Klerus in der kolumbianischen Gesellschaft und der ihn dazu brachte anzunehmen, dass er als Priester eine Führungsrolle in der Förderung von politischen Veränderungen einnehmen könnte und sollte. Torres wird oft als ein Vorreiter der großen Veränderungen in Religion und Politik bezeichnet, die Lateinamerika in den Jahrzehnten nach seinem Tod charakterisierten, jedoch lohnt es sich zu fragen, wofür genau er als Vorreiter gelten kann? War er ein Vorreiter oder lediglich ein weiteres Beispiel in einer langen Kette symbolischer Aufopferungen, mit denen Lateinamerika allzu gut vertraut ist? 5 Zusammen mit seinen detaillierten soziologischen Studien bieten uns die langen Reihen von Briefen, Sendungen, Programmen und Nachrichten, die in den letzten zwei Jahren seines Lebens erzeugt wurden, reichlich Analysematerial. Es gab spezifische „Nachrichten“, gerichtet an Christen, Kommunisten, das Militär, die Neutralen, Bauern, Frauen, Studenten, die Arbeitslosen, die Oligarchie, politische Gefangene, die Vereinigte Volksfront und eine zuletzt Gesendete, als er bereits der Guerilla beigetreten war, eine Proclama al Pueblo Colombiano, für gewöhnlich als „An die Kolumbianer aus den Bergen“ übersetzt.
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Leben und öffentliche Karriere Camilo Torres Restrepo lebte nur 37 Jahre (3. Februar 1929—15. Februar 1966) und seine öffentliche Karriere in Kolumbien umfasste nur etwas mehr als sieben dieser Jahre. Er wurde in eine prominente Familie hinein geboren und während seiner Universitätszeit beeinflussten ihn der Unterricht und das Beispiel französischer Dominikanerpriester. Er entschied sich, Priester zu werden, absolvierte sein erstes Studium in dem Diözesanpriesterseminar von Bogotá, wurde 1954 zum Priester geweiht und ging danach für ein Studium der Soziologie an die Universität von Löwen, Belgien. Löwen war zu jener Zeit ein bedeutendes Zentrum der katholischen Reformbewegung und der christlich-demokratischen Politik. Er arbeitete mit François Houtart (der zu den einflussreichen Persönlichkeiten in der Entwicklung des lateinamerikanischen Katholizismus gehörte) zusammen und wurde an die Ideen von beispielhaften Personen wie Maritain, Teilhard de Chardin und den Priester Pierre herangeführt, der sein Engagement für eine Soziologie im Dienste der Gerechtigkeit verstärkte. Der Kontakt mit einer Gruppe von Christen, die mit der Revolution in Algerien sympathisierte, hatte ebenfalls einen tiefen und langlebigen Einfluss auf ihn.6 Bei seiner Rückkehr nach Kolumbien 1958 wurde er an der Nationalen Universität, wo er auch Mitbegründer der Soziologischen Fakultät war, zum Studentenpfarrer gewählt. Schnell wurde er zu einer bekannten öffentlichen Person und nachdem er sich offen mit einem Studentenstreik solidarisiert hatte, forderte ihn der Erzbischof von Bogotá auf, die Universität zu verlassen. Danach ging er an die Hochschule für Öffentliche Verwaltung zum Institut für Agrarreform, wo er sich aktiv an Studien- und Praxisprojekten beteiligte, die ihn in direkten Kontakt mit Bauernverbänden brachten. Diese Arbeit konfrontierte ihn unmittelbar mit den Bestrebungen politischer Parteien und derer, die über das Vermögen und die Macht verfügten, Reformen zu beschränken oder gar aufzuheben. Während dieser Zeit widmete sich Torres wichtigen soziologischen Studien, die Themen von Urbanisierung und städtischen Reformen bis hin zu sozialen Veränderungen und ländlicher Gewalt umfassten. Er hatte auch zahlreiche Kontakte mit Geistlichen und anderen, die andernorts in Lateinamerika mit radikalen Bewegungen in Verbindung standen. Durch seine Soziologiestudien, seine Begegnungen mit bäuerlichen Gruppen und seine Kontakte in der ganzen Region begann Torres, sich auf das zu konzentrieren, was er als eine Serie von Blockaden bezeichnete, die Reformen hin zu einer sinnvollen Gleichheit innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft verhinderten. Er war schnell 6 Vgl. Walter J. Broderick, Camilo Torres. A Biography of the Priest Guerrillero, New York 1975 und Dorothy Day, Introduction, in: John Alvarez Garcia (Hg.), Camilo Torres. His Life and Message, Templegate 1968, 10.
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davon überzeugt, dass es nicht ausreichte, die Situation zu studieren und zu verstehen: Handeln war nötig, ein Handeln, das alle Schichten der kolumbianischen Gesellschaft (abgesehen von der Oligarchie und dem Militär) zu einem effektiven Bündnis für einen Wandel bringen konnte. Zu dieser Überzeugung brachten ihn seine christlichen Ideale und die Einsicht in die Situation der kolumbianischen Gesellschaft und Politik. Zu diesem Zwecke handelte Torres in den letzten zwei Jahren seines Lebens zweigleisig. Er beteiligte sich maßgeblich an der Gründung einer Vereinigten Front der Linken (1965) und widmete seine Zeit und Energie dem Aufbau, der Organisation und dem Entwurf und der Verbreitung ihres Parteiprogramms. Zur gleichen Zeit kam er auch mit der Guerillabewegung in Kontakt7 und verpflichtete sich ihr. Innerhalb kürzester Zeit forderte er die Aufhebung seines Priesterstatus, wobei er angab, nicht länger in kirchlichen Strukturen arbeiten zu können. Im Oktober 1965 verschwand er aus der Öffentlichkeit, um der ELN in den Bergen beizutreten. Sein Tod folgte nur wenige Monate später. In diesem kurzen, jedoch intensiven öffentlichen Leben identifizierte sich Torres mit einigen Kernideen, die in den meisten seiner öffentlichen Aussagen auftauchen und die die Basis für sein Handeln schufen. Von besonderer Bedeutung waren folgende drei Punkte: das Verständnis christlichen Glaubens und wirklicher Nächstenliebe; eine Analyse von Ungleichheit und Macht und die von der Oligarchie errichteten Blockaden zur Veränderung; und eine Analyse der Gewalt. Das Verständnis dieser Ideen und für den Weg, auf dem sie entwickelt, beibehalten und propagiert wurden, ist zentral, um dem politischen Engagement, das Torres auf sich nahm und das zu seinem frühen Tod führte, einen Sinn zu geben.
Ideale christlichen Glaubens Die Ideale christlichen Glaubens waren zentral für das Engagement, dem sich Camilo Torres widmete und zu dem er andere antrieb. Der Kern dieser Ideale war die Nächstenliebe, die ihre wirksame Form in konkreten Aktionen annahm, die das Leben der Nächsten, also der Mehrheit der Menschen, verbessern würden. Christliche Ideale hatten eine zentrale und unentbehrliche Funktion. In seiner „Mensaje a los Cristianos“, Botschaft an die Christen (26. August 1965), rief er Kolumbiens Christen dazu auf, sich auf ihren Glauben stützend Stellung zu beziehen. „An erster Stelle“, schrieb er,
7 Die ELN (Ejército de Liberación Nacional oder Armee der Nationalen Befreiung), die kurz zuvor ihre ersten größeren Aktionen aufgenommen hatte.
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steht im Katholizismus die Liebe zum Nächsten. „Wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz erfüllt“ (Röm. XIII, 8). Wenn diese Liebe echt sein soll, so muß sie auch versuchen, wirksam zu sein. Wenn Wohltätigkeit, Almosen, einige kostenlose Schulen, einige Wohnungsprojekte, kurz das, was man Caritas nennt, nicht genügen, um die Mehrheit der Hungrigen zu speisen, die Mehrheit der Nackten zu bekleiden, die Mehrheit der Unwissenden zu unterweisen, dann müssen wir nach wirksameren Mitteln suchen. Die privilegierten Minderheiten, die über die Macht verfügen, werden nicht nach solchen Mitteln suchen, denn dann müßten sie ihre Privilegien aufgeben. Wir müssen also den privilegierten Minderheiten die Macht nehmen und sie den Massen der Armen geben. Daß das so schnell wie möglich geschieht, ist das Hauptziel einer Revolution.8
In einem Interview Mitte des Jahres 1965 sagte er: Der Christ, falls er wirklich einer sein möchte, darf sich nicht nur auf bloße Worte beschränken, sondern muss sich aktiv an den Veränderungen beteiligen. Der passive Glaube genügt nicht, um sich Gott zu nähern: Die Nächstenliebe ist unabdingbar. Und die Nächstenliebe bedeutet konkret, das Gefühl der menschlichen Bruderschaft zu leben. Dieses Gefühl manifestiert sich heute in den revolutionären Bewegungen des Volkes, in der Notwendigkeit, die schwachen und unterdrückten Länder zu vereinen, um die Ausbeutung zu beenden und hierbei ist unsere Position ganz klar auf dieser Seite und nicht auf der Seite der Unterdrücker. Deshalb gebe ich mich, ein bisschen im Spaß, aber auch ausreichend ernsthaft, unnachgiebig und sage: der Katholik, der nicht revolutionär ist und nicht mit den Revolutionären zusammen ist, begeht eine Todsünde.9
Seiner oft wiederholten Ansicht nach hatte das Feiern religiöser Rituale (wie die Eucharistiefeier) in einer ungerechten Gesellschaft seine Gültigkeit verloren. Ich habe aufgehört, die Messe zu lesen, um die Nächstenliebe im weltlichen – im wirtschaftlichen und sozialen – Bereich verwirklichen zu können. Wenn mein Nächster nichts mehr gegen mich vorzubringen hat, werde ich nach Vollendung der Revolution wieder das Meßopfer darbringen, wenn Gott es mir erlaubt. Ich glaube, daß ich auf diese Weise dem Gebot Christi folge, das da heißt: „Wenn du also deine Gabe zum Altare bringst und dich dort erinnerst, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem
8 Aus dem „Aufruf an die Christen”, veröffentlicht in Frente Unido 1, 26. August 1965, deutsche Übersetzung in Camilo Torres, Vom Apostolat zum Partisanenkampf. Artikel und Proklamationen, Reinbek bei Hamburg 1969, 204. 9 Interview mit Adolfo Gilly, veröffentlicht in Marcha (Montevideo), 4. Juni 1965, zitiert in Brienza, Camilo Torres (wie Anm. 2), 76.
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Altare und gehe hin und versöhne dich zuvor mit deinem Bruder und dann komme und opfere deine Gabe“ (Matth. V, 23–24).10
Camilo liebte und respektierte die Kirche, aber für ihn war sie mehr als die Hierarchie und in jedem Fall sollte die Hierarchie die Aktionen derer, die durch christliche Werte angetrieben wurden, nicht begrenzen. Wenn die Kirche als hierarchische Institution nicht das Richtige tat, dann könnten und sollten einzelne Christen (inklusive des Klerus) dies tun. In einem Brief an den Weihbischof von Bogotá, der versuchte, ihn in ein Forschungsprogramm aufzunehmen und so zu verhindern, dass er aus dem Priesteramt ausschied, schrieb er: Ich [habe] über die Reaktion nachgedacht, die Ihr Vorschlag bei mir auslöste: Ich empfand einen tiefen Widerwillen, im Rahmen der klerikalen Institutionen unserer Kirche zu arbeiten. […] Als ich die Möglichkeit einer Forschungsarbeit innerhalb der erzbischöflichen Kurie überdachte, spürte ich, daß ich dadurch unweigerlich von der Welt und von den Armen isoliert wäre, weil ich der abgeschlossenen Gruppe einer Organisation angehörte, die zu den Mächtigen dieser Welt gehört.11
Macht, Ungleichheit und „Blockaden“ Torres war ein sorgfältiger Student der kolumbianischen Gesellschaft. Seine soziologischen Analysen von Macht und sozialen Blockaden in Kolumbien stehen in einem wesentlichen Zusammenhang mit seinem späteren politischen und revolutionären Engagement. In Kombination mit seinem ausgeprägten Verständnis der Bedeutung von echtem Glauben stellen sie die Basis für seine Handlungen und sein Engagement dar.12 In diesem Sinne nahm er viele der Kernpunkte des lateinamerikanischen katholischen Glaubens vorweg, die sich kurze Zeit nach seinem Tod in den Dokumenten der Katholischen Bischofskonferenz in Medellín (1968) und später in der Befreiungstheologie, die 1971 zum ersten 10 Aus dem „Aufruf an die Christen”, veröffentlicht in Frente Unido 1, 26. August 1965, in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 205. 11 Aus dem „Brief an Rubén Isaza“, in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 153. 12 Gemäß Orlando Fals Borda, der zusammen mit Torres der Mitbegründer der School of Sociology an der Nationalen Universität in Bogotá war, war Camilos politisches Engagement in zwei soziologischen Kernkonzepten verwurzelt. „Diese zentralen Konzepte sind das der ‚Würde‘, basierend auf den existentiellen Werten des Humanismus; und das der ‚Gegengewalt‘ der Reaktion oder wahren Rebellion, die sich auf die Moral der kollektiven Ziele stützt.“ (Rede im Auditorium Camilo Torres, Universidad de Colombia, 15. Februar 2006 (40. Jahrestag von Camilos Tod)). Zitiert in Brienza, Camilo Torres (wie Anm. 2), 91–92.
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Mal mit diesem Namen auftauchte, herauskristallisierten.13 Seine politischen Ansichten waren radikaler und dringlicher, indem sie eine sofortige Handlung forderten, aber er teilte mit Medellín und einem Großteil der Befreiungstheologen eine Beharrlichkeit bezüglich der Notwendigkeit präziser Soziologiestudien, um ein wahres Bild der lateinamerikanischen Realität zu bekommen. Mit diesem wahren Bild zur Hand könne die Theologie, wie Gustavo Gutiérrez es genannt hat, zu einem „zweiten Akt“ werden, einem Moment der Reflektion über die Realität angesichts grundlegender religiöser Werte und biblischer Lehren, der dann zu einem Engagement in dieser Realität führte. Ein zentrales Thema der Befreiungstheologie auf dieser Basis war, dass es eine Geschichte gibt, dass menschliches Leben und das Königreich Gottes nicht getrennt, sondern Teile eines Kontinuums sind. Dies bedeutete, dass es richtig und notwendig war, daran zu arbeiten, dieses Königreich im Diesseits zu errichten, als darauf zu warten, ihm nach dem Tod zu begegnen. Die Neuere Geschichte Kolumbiens hatte einen entscheidenden Einfluss darauf, wie sich Torres’ Ideen und Karriere entwickelt haben. Zwei Elemente sind hier besonders relevant: die Verankerung und das Muster der Gewalt und die Bemühungen, diese zu kontrollieren und in Grenzen zu halten; sowie die besondere Macht und institutionelle Position der Katholischen Kirche. Was in Kolumbien häufig und einfach als La Violencia (die Gewalt) bezeichnet wird, war eine vernichtende Kette von Hinrichtungen und Konflikten, die in dem Jahrzehnt nach 1948 mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete.14 Die Wurzeln der Gewalt lagen in einem intensiven und anhaltenden Parteikonflikt zwischen Liberalen und Konservativen, der nach der Ermordung des Anführers der Liberalen Jorge Eliécer Gaitán in Bogotá am 9. April 1948 in einen offenen Bürgerkrieg mündete. Konflikt und Kampf gingen bald über die Parteien hinaus, um Guerillaaktionen und die Bildung einer Zahl von bäuerlichen unabhängigen Republiken (kleine Regionen, die tatsächlich versuchten, sich vom Kampf fernzuhalten) einzubeziehen, die durch Luftangriffe und Invasionen Mitte der 1960er Jahre brutal bekämpft wurden. Ein kurzzeitiges Militärregime, das 195315 auf einen Putsch folgte, sollte die innerparteiliche Gewalt unterdrücken und hatte damit einigen Erfolg, es wurde jedoch bald von den Anführern der liberalen und konservativen Parteien als eine Gefahr für ihr Regelsystem und ihre Existenz wahrgenommen.
13 Gustavo Gutiérrez, Teología de la Liberación. Perspectivas, Lima 1971. 14 Es gibt reichlich Literatur zu La Violencia in Kolumbien. Unter anderen siehe die klassische Arbeit von German Guzman, La Violencia en Colombia. Parte Descriptiva, Bogotá 1968 und auch Paul Oquist, Violencia. Conflicto y Política en Colombia, Bogotá 1978. 15 Das Regime, geführt von General Gustavo Rojas Pinilla, bestand vier Jahre.
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Das Ergebnis war eine Serie von Vereinbarungen zwischen den Parteiführern, die institutionalisiert und bekannt wurden als die Nationale Front, welche einen Versuch bedeutete, die Gewalt zu kontrollieren, in dem man den politischen Streit beendete und das Überleben der zwei größten Parteien und des Staates garantierte. Dieser Pakt (durch einen Volksentscheid bestätigt und in die Verfassung integriert) verpflichtete liberale und konservative Parteien dazu, die Macht für sechzehn Jahre auf allen Ebenen zu teilen. Ungeachtet der Wahlergebnisse mussten die Präsidentschaft und andere höhere Ämter zwischen den Parteien rotieren und Positionen in der Verwaltung auf einer gerechten Basis geteilt werden.16 Die kolumbianische Katholische Kirche, die ein aktiver Teilnehmer in den zivilen Konflikten der 1930er und 1940er Jahre gewesen war, gab der Nationalen Front ihren Segen. Ab den 1950er Jahren versuchten die obersten Kirchenführer die Kirche aus der Politik zurückzuziehen, sie von parteipolitischen Auseinandersetzungen fernzuhalten. Sie sollte sich vielmehr auf die Erneuerung ihrer Strukturen und Aktivitäten konzentrieren. Das soziale und seelsorgerische Engagement wurde verstärkt durch Programme der katholischen Aktion und Maßnahmen, wie die Radio-Schulen der Acción Cultural Popular (Radio Sutatenza), die die Lese- und Schreibfähigkeit trainieren und gleichzeitig die religiöse Botschaft auf dem Land verbreiten sollten. Insgesamt sollte das politische System befriedet und die Kirche modernisiert und aus der parteipolitischen Anbindung herausgenommen werden. Als Camilo Torres von seinem Studium in Löwen zurückkehrte, erfüllt von einem großen Reformwillen und von dem Glauben an die Wirksamkeit soziologischer Methoden, kam er in ein Land, das im Grunde erstarrt war. Strukturelle Reformen strebten die Parteien nicht an, sie setzten hingegen auf politischen Frieden, zwischen Liberalen und Konservativen geteilte Macht, wirtschaftliches Wachstum und einige begrenzte Reformen. Angesichts dieser Umstände ist es nicht verwunderlich, dass Torres bald frustriert war von den elitären Überzeugungen, reformistischen Methoden und der Aussicht, dass seine Arbeit innerhalb kirchlicher Strukturen und Geschäftsordnungen verharren sollte. Seiner Ansicht nach hatte sich die kolumbianische Kirche nie aus der Politik zurückgezogen. Ihre Anführer hatten lediglich die Politik der Parteinahme im Konflikt für die Politik der neu etablierten Ordnung ausgetauscht, die Emmanuel Mounier als die etablierte Unordnung betitelte und die aus der Sicht Torres’ bedeutete, die Ungerechtigkeit aufrechtzuerhalten.17 Die Hierarchie der Katholischen Kirche vermied es nun, innerhalb der zwei 16 Der Wechsel zu offenen Wahlen begann 1974, obgleich die Bürokratie bis 1978 weiterhin geteilt wurde und die Koalition selbst bis 1986 bestand. 17 Zu Mounier und seinem Einfluss siehe John Hellman, Emmanuel Mounier and the New Catholic Left 1930–1950, Toronto 1981.
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größten politischen Lager Partei zu ergreifen, wies aber jegliche Zweifel an der Legitimität des Systems der Nationalen Front ab. Gewalt an sich war nicht länger ein innerparteilicher Kampf: sie kam jetzt hauptsächlich vom Staat, um Guerillagruppen aufzulösen und die unabhängigen Bauernrepubliken zu zerstören, insbesondere Marquetalia, welches das Ziel einer größeren Luft- und Bodenoffensive im Mai 1964 gewesen war.18 Seine Studien sowie die Kontakte mit Bauerngruppen überzeugten Torres, dass die Mächtigen niemals ihre Position und Privilegien abgeben würden, wenn sie nicht durch eine ebenso starke Macht dazu gezwungen würden. Individuelle Handlungen der Freundlichkeit, der Almosenspende und Nächstenliebe wurden wirkungslos gemacht durch strukturelle Ungerechtigkeiten, die nur nach Erlangung der Macht umgekehrt werden konnten, nicht durch Appelle an den guten Willen. Die Kirche und gewiss jeder Christ konnten reale Konflikte und wahre soziale Kluften nicht wegwünschen mit Aufrufen zur Bruderliebe, Christengemeinde oder elementaren Theorien sozialer Harmonie. Der entscheidende Punkt war zu handeln, die Seite der Schwachen gegen die Starken einzunehmen und in die Politik zurückzukehren, um Gerechtigkeit zu erlangen. Um der institutionalisierten Gewalt des Systems zu begegnen, war Gegengewalt die einzige Option und wenn dies bedeutete, die Kräfte mit der Guerillabewegung zu vereinen, dann sollte es so sein.
Gewalt Die Wahl der Gewalt als Mittel erfordert eine nähere Untersuchung. Zunächst gilt es festzuhalten, dass Torres keine romantischen Illusionen von Gewalt als einer kreativen Kraft hegte. Er war weit entfernt von Figuren wie Georges Sorel, der Gewalt nicht nur als ein Werkzeug der Veränderung, sondern auch als Möglichkeit sah, um die Grenzen der Konvention zu durchbrechen und zu völlig neuen Wegen des Verstehens und der Gesellschaftsorganisation zu kommen.19 Torres wollte in erster Linie eine Volksorganisation, die Veränderung bringen konnte. Daher rührten all die Bemühungen, die er in die Vereinigte Front, das endlose Verfassen von Botschaften und Programmen steckte, und der unermüdliche Drang, die Botschaft zu publizieren und zu verbreiten. Die Entscheidung, die Revolution mit gewaltsamen Mitteln zu verwirklichen, erschien 18 Die gewaltsame Unterdrückung von Marquetalia hatte einen tiefen Einfluss auf Torres. Einige der Überlebenden vereinigten sich anderswo erneut und wurden Teil des Bloque del Sur, dem Ursprung der Guerillabewegung Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), die bis heute besteht. 19 Georges Sorel, Reflections on Violence, Cambridge, 1999.
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als eine praktische Möglichkeit, eine angesichts der Blindheit der regierenden Klasse vorzuziehende Alternative, und letztlich als die einzig verbliebene Option für all diejenigen, die ernsthaft an einem Wandel interessiert waren. Torres schrieb: Ich bin überzeugt, dass es notwendig ist, alle friedlichen Wege auszuschöpfen und dass die Entscheidung über den Weg, den es zu wählen gilt, letztlich nicht von der Volksklasse ausgeht, da das Volk, das die Mehrheit darstellt, ein Recht auf Macht hat. Vielmehr ist es notwendig, die Oligarchie zu fragen, wie sie sie [die Macht] abgeben wird; wenn sie es auf eine friedliche Art tut, werden wir sie uns ebenfalls auf eine friedliche Art nehmen, aber wenn sie sie nicht hergeben will oder denkt, dies auf gewaltsame Art tun zu müssen, werden wir sie uns gewaltsam nehmen. Meine Überzeugung ist, dass das Volk genug Rechtfertigung für einen gewaltsamen Weg besitzt.20
Torres war sich der vielen Wege äußerst bewusst, auf denen eine ungerechte Gesellschaftsordnung den Bürgern Gewalt zufügt und somit die Gegengewalt der Revolution hervorbringt, was er (mit der Berufung auf Thomas von Aquin) als Widerstand gegen die Tyrannei rechtfertigte. Der Begriff der institutionalisierten Gewalt (bekannt gemacht in Medellín) war noch nicht geprägt, aber Torres‘ Gebrauch kommt ihm sehr nahe. Vergleichbare Unterscheidungen zwischen Formen der Gewalt wurden kurze Zeit später in den Dokumenten von Medellín beschrieben und nur ein Jahrzehnt später (im Rahmen des revolutionären Krieges) erweitert in den Hirtenbriefen des Erzbischofs Oscar Romero von El Salvador. Romero unterschied die Gewalttypen nach ihrem Ursprung, ihrer Intention, ihrer Legitimität: strukturelle oder institutionelle Gewalt, willkürliche Gewalt ausgeführt durch den Staat, die Gewalt der extremen Rechten, terroristische Gewalt, aufständische Gewalt und eine Gewalt der legitimen Selbstverteidigung. Romero berücksichtigte dabei auch die Gefahren der Gewalt, die in schwer aufzuhaltenden Spiralen der Zerstörung außer Kontrolle geraten kann.21 Im Gegensatz dazu macht eine nähere Betrachtung der Reden und Botschaften Torres’ deutlich, dass er niemals die 20 Aus einem Interview mit dem französischen Journalisten Jean Pierre Sergent in Semana al Día, Bogotá, August 1965, zitiert in Brienza, Camilo Torres (wie Anm. 2), 80. Die Ideen des gerechten Krieges und des legitimen Tyrannenmords sind im Katholizismus nicht neu. Populorum Progressio Nr. 31 (März 1967) sagt: „Jede Revolution – ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes ernsten Schaden zufügt – zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zerrüttung hervor. Man kann das Übel, das existiert, nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben.“ 21 Msgr. Romero beschrieb diese Unterscheidung deutlich in seinen letzten beiden Hirtenbriefen, The Church and Popular Organizations (6. August 1978) und The Church‘s Mission
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praktische Seite der Gewalt – der Gewalt, die nötigt, bombardiert, schießt, verstümmelt, tötet und zerstört – vor Augen hatte und auch nicht berücksichtigte, wie Gewalt zu sich selbst verstärkenden Spiralen des Todes und der Zerstörung führen kann.22
Vom Glauben zur politischen Aktion Bei Camilo Torres vermischte sich die soziologische Analyse der kolumbianischen Gesellschaft mit einem mächtigen christlichen Idealismus, der auf effektive Wohltätigkeit und Nächstenliebe ausgerichtet war, um sein Engagement für die verändernde Kraft der Revolution zu untermauern. Aufgrund der sozialen und politischen Situation lag in seinen Augen der einzig effektive Weg der Nächstenliebe darin, die Unheil schaffenden Umstände zu ändern. Diese Umstände wurden aufrechterhalten durch Strukturen der Ungleichheit, die wiederum unterstützt wurden durch Gewalt – daher war für Torres eine Revolution vonnöten. Diese Ideen und Basiskonzepte sind typisch für einen Großteil der katholischen Linken in Lateinamerika in den 1970er und 1980er Jahren. Was Torres hervorstechen lässt, ist der Drang seines Engagements zur Tat und sein simpler Blick darauf, wie Politik funktionieren muss, ohne dass er äußere Umstände oder eventuell nötige Kompromisse berücksichtigte. Bei der Lektüre des Programms der Vereinigten Front und der Botschaften, die an diverse Gruppen gerichtet waren, entsteht der Eindruck, dass Torres glaubte, ein Programm oder eine Botschaft entwerfen zu können, mit denen die einfache Wahrheit übermittelt werden könne und, wenn diese ausreichend verbreitet würden, die Menschen die Wahrheit auch erkennen, dem Kampf beitreten und den Sieg durch die überwältigende Kraft ihrer Anzahl und die Macht ihrer Überzeugungen erringen würden. Der Schlüssel lag für Torres darin, die Botschaft richtig zu übermitteln und an dem Aufbau einer vielschichtigen Organisation zu arbeiten, die das Programm an die Menschen richtete, die es lesen und diskutieren würden und die letztlich dadurch zur Hingabe und Aktion bewegt würden. In einer „Rede an die Arbeiter“ vor
Amid the National Crisis (6. August 1979), vgl. Msgr. Oscar A. Romero, Voice of the Voiceless. The Four Pastoral Letters and Other Statements, Maryknoll 1985. 22 Auch berücksichtigt oder reflektiert er nicht die destruktive Macht, die Gewalt nicht nur auf die Opfer ausüben kann, sondern auf diejenigen, die sie aus welchem Grund auch immer anwenden. Für weitere Details über Gewalt und Religion siehe Daniel Levine, Reflections on the Mutual Impact of Violence and Religious Change in Latin America, in: Latin American Politics and Society 52:3 (2010), 131–150.
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dem Hauptsitz der Gewerkschaft der Bavaria am 14. Juli 196523 stellte er die These so auf: Was muß also unbedingt getan werden, damit die unteren Klassen in Kolumbien wirklich zur Macht kommen? Erstens: Wir müssen den unteren Klassen ein gemeinsames Bewußtsein vermitteln. Solange wir keine gemeinsamen Ziele haben, werden wir uns zersplittern. […] Deshalb müssen wir eine gemeinsame Plattform schaffen, auf der wir uns einig sind, für deren Ziele wir gemeinsam kämpfen werden. Deshalb haben wir eine ‚Plattform für die Einheitsfront‘ verteilt, die uns jenseits aller ideologischen und religiösen Unterschiede vereinigen soll.24
Das Programm und seine Verbreitung waren das Gerüst für die Bildung der Bewegung. Die allererste Ausgabe von Frente Unido führte die Parolen der Bewegung in einer Art und Weise auf, die dies deutlich macht.25 Die erste Weisung verlangte, das Programm bekannt zu machen und zu diskutieren. Die zweite verdeutlichte, wie das Programm an den Mann zu bringen war: es zu drucken, es den Analphabeten vorzulesen, es auf den Straßen hinauszuschreien; die dritte rief zur Finanzierung und zur Verbreitung der Zeitung Frente Unido auf (es wurde angemerkt, dass der Preis nur einen Peso betrug, also weniger als der für ein Bier); die vierte sah die Wahl von Anführern verschiedener Kommandotrupps oder Befehlsbereiche (in Haziendas, Fabriken, Nachbarschaften, Gemeinden und Ämtern) vor, sodass man am Ende des Jahres „ein großes Volksabkommen in Bogotá organisieren könne, das ein Nationalkommando der Revolution wählt, und wir die Taktiken festlegen, die es für den endgültigen Angriff auf die Macht zu verfolgen gilt.“26 In der oben zitierten Rede an die Arbeiter der Bavaria malte Torres ein romantisches Portrait davon, wie dieser politische Prozess funktionieren würde.
23 Bavaria war die wichtigste Brauerei in Bogotá. In seiner Rede, die später in der Vanguardia Sindical (23. Juli 1965) veröffentlicht wurde, fährt Torres damit fort, einen Boykott der Wahlen zu verkünden „…Und wir werden eine aktive Stimmenthaltung erlangen, es wird ein Volk sein, dass sich ein weiteres Mal erhebt, um NEIN zu sagen; es wird ein Volk sein, das, wie ein einziger Mann, diesem Regime unter Beweis stellen wird, dass es seinen Anführern überlegen ist und dass es in der Lage ist, kollektive Haltungen einzunehmen, massive Haltungen, um das Land aus dem Abgrund zu retten, in den es durch diese herrschende Klasse gestürzt wurde.“ Zitiert in Camilo Torres: Camilo. El cura revolucionario y sus obras, Barcelona 1968, 245. 24 Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 184. 25 „Consignas del Frente Unido” , in: Broderick, Camilo Torres (wie Anm. 4), 111–113. 26 Ebd., 112.
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Unsere ‚Plattform‘ ist der erste Ansatz einer Organisation. Als zweites werden wir eine Zeitung gründen. Die Probleme ihrer Finanzierung und Verteilung sowie die Beiträge für sie werden nach und nach zur Bildung von Basisgruppen führen. Da die Zeitung überall hingelangen wird, werden wir das ganze Land auf allen Wegen mit einem Netz von Basisgruppen überziehen, die die ‚Plattform‘ studieren und die Zeitung verteilen. Wir werden in alle unsere Arbeiterviertel und in alle unsere Fabriken gehen. In jeder Abteilung einer Fabrik, in jeder Schulklasse, in jedem Universitätsseminar werden Leute sitzen, die sich für das Studium unserer ‚Plattform‘ und unserer gemeinsamen Zeitung zusammengeschlossen haben.27 Die festen Überzeugungen, die durch das Studium und die Erklärung der ‚Plattform‘ – in einer Ladenecke vielleicht oder irgendwo auf dem Land beim trüben Schein einer Kerze – gewonnen werden und ein gemeinsames Bewußtsein schaffen, werden uns die unbezwingbare Kraft einer Vereinigung durch gemeinsame Ideen geben, und ein Volk, das sich um eine Idee schart, ist unbesiegbar.28
Torres war hinsichtlich der Aussichten optimistisch und eifrig zu beginnen. Eine seiner am häufigsten zitierten Aussagen ist „Der Kampf ist lang, lasst uns sofort beginnen.“29 Und obwohl er zugab, dass der Kampf hart und zeitintensiv sein würde, glaubte er offensichtlich, dass die Organisation tatsächlich ein einfacher Prozess sei. In einem Leitartikel in Frente Unido (7. Oktober 1965) äußerte er: Die Vereinigung der Volksklasse von der Basis her ist nicht schwer. Wer unter Hunger, Arbeitslosigkeit, sozialer Unsicherheit, niedrigen Einkünften, Mangel an Ausbildung leidet, identifiziert sich leicht mit konkreten politischen Zielen, besonders mit dem Maximalziel, der Machtübernahme durch die kolumbianische Volksklasse. Die Organisation der Volksklassen von der Basis her vollzog sich viel einfacher und schneller als erwartet.30
Für einen empirischen Soziologen schien er wenig Verständnis für die Bedingungen einer Revolution zu haben, geschweige denn für das, was es mit sich bringt, eine Gemeinschaft aus einer zersplitterten und zerstreuten Bevölkerung zu schaffen und noch weniger für das, was Gewalt in der Praxis bedeutet. Politik ist nie simpel und Loyalitäten, Engagements, Trägheit und die Macht, Menschen zu etwas zu zwingen, müssen ebenfalls berücksichtigt werden. In drei 27 Aus der „Rede vor einer Gewerkschaftsversammlung“, in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 191. 28 Ebd., 189. 29 Aus dem „Aufruf an die Christen” in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 205. 30 Aus dem „Leitartikel vom 7. Oktober 1965” in Frente Unido (Bogotá), in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 223.
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Briefen von Juli und August 1965 analysierte Torres die Situation der Revolution mit bemerkenswert naiven Ausdrücken. Die „Situation könnte nicht besser sein“ schrieb er, und die Revolution „fährt damit fort, in einer wirklich gewaltigen Weise voranzuschreiten“31. Wie sich herausstellte, waren die in die Vereinigte Front investierten Bemühungen zwar intensiv aber von kurzer Dauer und nichts von dem, was Torres sich als nicht aufzuhaltenden Prozess vorgestellt hatte, trat ein. Wie bereits erwähnt, hatte er sich definitiv in der Zeit, die er mit dem Aufbau der Vereinigten Front, dem Schreiben des Programms und dem Halten von Reden beschäftigt war, schon der Guerillabewegung verpflichtet. Diese Verpflichtung wurde im Herbst 1965 aktiviert, als er in die Berge ging, um sich dem ELN anzuschließen. Die Vereinigte Front, die bereits an Bedeutung verlor, kollabierte nach seiner Abreise vollkommen.
Der Kontext des lateinamerikanischen Katholizismus Obwohl der rasche Schritt zu radikalen Handlungen und die Bereitschaft zu Gewalt unter den Bedingungen der politischen und sozialen Verhältnisse in Kolumbien nachvollziehbar sind, passen die Vorstellungen, für die sich Camilo Torres einsetzte und die Art, wie sich seine Ideen, Handlungen und sein Engagement entwickelten, ebenso in ein breiteres Muster von Unruhe und Veränderung, das in diesen Jahren im lateinamerikanischen Katholizismus in vollem Gang war. Sein aktives öffentliches Leben in Kolumbien überlappte zeitlich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65), das so viele Änderungen im Katholizismus mit sich brachte. Torres war sich der Debatten und Beschlüsse des Konzils bewusst, doch als sie sich herauskristallisierten, hatte er bereits beschlossen, dass die Treue zum Evangelium hieß, sich weit über die Grenzen der institutionellen Kirchen hinaus zu engagieren. Er wohnte den lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellín (1968) und Puebla (1979) mit ihren Verurteilungen der institutionalisierten Gewalt und der strukturellen Sünde und ihrem Engagement für eine Option für die Armen nicht als Zeuge bei. Er lebte auch nicht lange genug, um die Herausbildung vieler dieser Ideen zu sehen, die als Befreiungstheologie bekannt wurden. Jedoch fällt es schwer zu glauben, dass diese Entwicklungen sein Engagement für Veränderung durch Revolution beeinflusst hätten. In einer Rede anlässlich seines 35. Todestages legte Javier Giraldo, SJ, seinen Einfluss folgendermaßen aus: „Camilo stellte das Konzept der traditionel31 Maurice Zeitlin (Hg.), Father Camilo Torres Revolutionary Writings, New York 1972, 298.
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len christlichen Pastorale auf den Kopf, das als Kultus begann, indem man die Menschen einlud, sich taufen und konfirmieren zu lassen, zu beichten, zu heiraten, der Messe zu dienen, etc.; was mit der Katechese oder der doktrinären Angleichung weiterging und mit einer Art optionaler Appendizes aufhörte, die das Werk der Nächstenliebe waren. Für Camilo sollte das Konzept genau umgekehrt sein: ausgehen von der Verpflichtung zur Veränderung der Realität als die einzige Garantie dafür, dass es eine Orientierung an realen Werten geben wird und nicht an Werten, die bloß verkündet wurden, damit sie als Maske für die entgegengesetzten gegnerischen Werte dienen.”32 In seinen Schriften und seiner Arbeit wies Torres eine große Übereinstimmung mit vielen der Gedanken und Organisationsformen auf, die in der ganzen Region aufkamen, als Teile der Kirche daran gingen, die Natur des Glaubens und die eigentliche Rolle der Kirche als Institution angesichts der tatsächlichen Zustände der lateinamerikanischen Gesellschaft und Politik zu überdenken. Im September 1961 nahm er an einer Soziologiekonferenz teil, die von der FLACSO Chile organisiert wurde und auf der er einen Vortrag zu „El problema de la estructuración de una auténtica sociologíal latinoamericana“33 (Das Problem der Strukturierung einer authentischen lateinamerikanischen Soziologie) hielt. Elf Monate später, im August 1962, nahm er an Treffen von Priestern und Bischöfen teil, die von Bischof Manuel Larraín aus Chile organisiert wurden, um über Wege zu diskutieren, wie man die kirchliche Botschaft in diesem historischen Moment verständlicher machen konnte. Der hauptsächliche Fokus dieser Treffen lag darauf, die vermeintliche Rolle zu spezifizieren, die die Christen in der bevorstehenden Revolution einnehmen sollten. Das Ziel von Bischof Larraín war es, dass die Christen „die Revolution für sich einnahmen“, bevor Marxisten mit ihr „davonliefen“. Laut seines Biographen „schien es Camilo, als wenn die Chilenen fixiert darauf waren, die offizielle Demokratie um jeden Preis zu wahren. Dies erklärte ihre zwanghafte Angst vor Marxisten. Auf der anderen Seite hatte Camilo unzureichenden Respekt vor demokratischen Formen; die kolumbianische Geschichte hatte ihm gezeigt, wie sie dafür genutzt wurden, eine wohlhabende Minderheit zu bevorzugen.“34 Seine Verbindungen zu Argentinien sind von besonderer Bedeutung. Torres besuchte Argentinien zweimal und machte die Bekanntschaft mit Carlos Mugica und anderen, die später die Bewegung der Priester für die Dritte Welt
32 Zitiert in Brienza, Camilo Torres (wie Anm. 2), 93. 33 „El problema de la estructuración de una auténtica sociología latinoamericana“ (Das Problem der Strukturierung einer authentischen lateinamerikanischen Soziologie), in: Torres, Camilo Torres, 65–72. 34 Broderick, Father Camilo Torres (wie Anm. 6), 149.
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(Movimiento de Sacerdotes del Tercer Mundo, MSTM) gründeten.35 Er diente als Vorbild für den MSTM und sein Beispiel wurde regelmäßig von einer Gruppe militanter Christen herangezogen, die die Zeitschrift „Cristianismo y Revolución“ herausgaben. Ein Artikel in dieser Zeitschrift von Juan Garcia Elorrio zur Rolle der Christen in der Revolution hielt fest, dass Camilo gestorben sei „in der einzig wirksamen und umfassenden Weise, um die Liebe für alle zu realisieren… Die manchmal wegen der Hartherzigkeit der Menschen notwendigerweise gewaltsame Revolution ist der einzige Weg, um die Hoffnung und die Liebe für die Menschheit zurückzugewinnen.”36 1967 formten die Montoneros ein Comando Camilo Torres und veröffentlichten folgende Erklärung: Im Namen Camilos erklären wir hiermit den totalen Krieg gegen die Ausbeutung, den Imperialismus, die Unterentwicklung und die Anti-Vaterlands-Politik von innen und von außen. Wir erklären ebenfalls unseren revolutionären Glauben, und unser revolutionäres Leben. Ein Glaube voll von Hoffnung auf den Triumph des Volkes, eine endgültige und dauerhafte Notwendigkeit, ein Leben, das von unserem Christentum gefordert wird. Denn mit Camilo, so glauben wir, ist die Revolution die einzig wirksame und hinreichende Weise, die Liebe für alle umzusetzen.37
Zu einer anderen Gelegenheit, während eines Besuchs in Lima, Peru, wo er Lesungen hielt und Presseinterviews gab, präsentierte Torres seine Ideen zu „einem lateinamerikanischen Programm einer Volkseinheit“ und traf seinen alten Freund Gustavo Gutiérrez, der explizit Camilos Vorstellung von Priestern als politische Anführer ablehnte, da sie wenig mehr sei als ein Klerikalismus der Linken. Gutiérrez machte sich Sorgen bezüglich der Alles-oderNichts-Haltung, die Torres unterstützte. Laut Broderick war er zum Beispiel nicht einverstanden mit dem theologischen Inhalt von Camilos Presseaussage. 35 Durch Mugica wurden Mario Firmenich und andere, die zentral waren für die Gründung der Montoneros, mit Camilos Arbeit bekannt gemacht. 36 Zitiert in Gustavo Morello, Prólogo: Camilo y Argentina, in: Brienza, Camilo Torres (wie Anm. 2), 11. Zu der Bedeutung des Christentums und der Revolution in der Entwicklung der Argentinischen Linken siehe Gustavo Morello, Cristianismo y Revolución. Los orígenes intelectuales de la guerrilla argentina, Córdoba 2003. 37 Aus Juan Garcia Elorrio, Bajo el Signo de Camilo, in Cristianismo y Revolución, Nr. 4 (1967), zitiert in Brienza, Camilo Torres, 12. Das Kommando Camilo Torres war ein erster Schritt auf dem Weg zu den Montoneros, der größten Guerillaorganisation in Argentinien in den 1970er und frühen 1980er Jahren. Eine Vorgängergruppe der Montoneros wurde gegründet, nachdem Firmenich und andere mit Mugica gebrochen hatten, um eine direktere politische Rolle einnehmen zu können. Für weitere Details siehe Morello, Prologo (wie Anm. 35) und auch Norberto Habegger, Camilo Torres. El cura Guerrillero, Buenos Aires 1967.
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„Wenn wir die Eucharistie nicht feiern können, bis wir die perfekte Gesellschaft erreicht haben, dann werden wir warten müssen bis wir in den Himmel kommen, in welchem Falle die Eucharistie überflüssig sein wird!“ Gutiérrez war ebenso verärgert über Camilos Behauptung, Marxisten wären ausnahmslos großzügiger als Christen, was er schlichtweg als eine „Art von umgekehrtem Snobismus“38 ansah. Gutiérrez war auch verwundert über das Beispiel der Guerilla. Broderick berichtet, dass „Camilo Gutiérrez während einer Unterhaltung fragte, was er von der Guerilla hielt. Gustavo dachte gleich an die Guerilla in Peru, die Aufständischen der MIR, die gerade in jener Woche zwei Zivilbeamte in den Bergen von Junín getötet hatten. Er sagte, dass er ihre Chancen auf Erfolg für wenig vielversprechend hielt. Camilo öffnete sich ihm und erzählte ihm von seinem Engagement für das ELN und Gustavo fühlte wieder einmal, dass sein Freund einen Fehler machte. ‚Ich bewundere Dich dafür, Camilo. Ich bewundere Dich sehr. Aber ich sehe Dich einfach nicht als einen Guerillakämpfer. Ich meine, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Du Soldaten erschießt. Und ich kann mir Dich auch nicht vorstellen, wie Du jahrelang ununterbrochen durch den Dschungel marschierst. Wenn Du Dich entscheidest, der Guerilla beizutreten, ist das Beste, was Dir passieren kann – vergib mir, dass ich so ehrlich bin! – aber das Beste für Dich wäre, wenn Du mit der ersten Kugel, die in Deine Richtung fliegt, erschossen würdest‘“.39
Der Kontext lateinamerikanischer Politik Um die Entwicklung der lateinamerikanischen Politik dieser Zeit und ihre Auswirkungen auf Camilo Torres einzuschätzen, ist es notwendig, sich den enormen Einfluss der Kubanischen Revolution zu vergegenwärtigen. Sie erschien all denjenigen, die einen Wandel anstrebten, als Zeichen dafür, dass ein revolutionärer Wandel tatsächlich möglich war. Kubas Beispiel mobilisierte radikale Gruppierungen auf dem ganzen Kontinent sowie gleichermaßen eine konservative Gegenreaktion, die sich äußerte in vermehrter Unterdrückung, Militärputschen und dem Aufkommen von anhaltenden Guerillakämpfen in El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Peru, Bolivien, Argentinien und anderswo.
38 Broderick, Father Camilo Torres (wie Anm. 6), 257–258. 39 Ebd., 258. Ich reproduziere diese beiden Dialoge von Broderick, obgleich ihr Status unklar ist. Broderick konnte bei dieser Unterhaltung nicht anwesend gewesen sein und man nimmt an, dass er sie aufgrund der Aussagen von anderen rekonstruierte. Jedoch klingen sie glaubhaft genug hinsichtlich dessen, was wir über die Ansichten der Akteure wissen.
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Der Zeitabschnitt des öffentlichen Lebens von Camilo Torres und die zwei Jahrzehnte nach seinem Tod waren auch eine Zeit, in der Themen, die das Verhältnis von Kirche und Staat betrafen, in ganz Lateinamerika in den Mittelpunkt rückten. Dies ist nichts Neues in der Geschichte der Region, jedoch waren die besonderen Wege, auf denen Religion und Politik nun miteinander verbunden waren, in der Tat neu. Themen der sozialen Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie traten in den Mittelpunkt und es gab einen heftigen Konflikt (und zahlreiche Tote) um die Rolle der Kirchen in Bezug auf den Schutz und die Ermächtigung der Opposition gegenüber dem Militär und autoritären Regierungen. Der kombinierte Effekt dieser Entwicklungen sollte das Niveau des Konflikts zwischen Kirche und Staat in eine Dimension befördern, die seit den Bürgerkriegen des 19. Jahrhunderts nicht mehr gesehen worden war. Dies ist der Kontext, in dem Camilo Torres eine Art Che Guevara für Katholiken wurde, nicht nur in der Region sondern überall auf der Welt. Sein Beispiel und seine Persönlichkeit als ein Märtyrer im Dienste der Christen für eine Revolution zogen viele an, so auch die Guerillatruppen, die eine prominente Rolle in ihren Ländern spielten. Wichtige Beispiele sind Argentiniens Montoneros, denen, wie zuvor erwähnt, ein Comando Camilo Torres angehörte, Elemente der kolumbianischen Guerillabewegung, die einst eine Unión Camilista des ELN formten,40 ein signifikanter Teil der Basis der Guerillabewegung in El Salvador, der katholische Teil der sandinistischen Koalition in Nicaragua und zahlreiche individuelle Fälle wie der von Nestor Paz in Bolivien.41 Nachdem er Camilo mit den, wie er es nennt, 1960er Jahren voll von großen Hoffnungen in Verbindung bringt, verweist Broderick auf seine Macht im Tode als ein Symbol für Märtyrertum und neues politisches Engagement: „In Camilo als Märtyrer fand sich ein Lockmittel mit rein christlichen Merkmalen. Und die christlichen Kirchen erfuhren überall eine Bewusstseinsbildung im Sozialen. Es ist offensichtlich, dass Camilo nicht die neue Kirche erfunden hat; in der Realität übernahm Papst Juan XXIII die unerwartete Führung dieser Kirche während der wenigen Jahre seines Pontifikats. Jedoch bildete Camilo einen Teil von ihr und verwandelte sich letztlich in eine ihrer Leitfiguren, um nicht zu sagen in einen ihrer Heiligen.”42 Doch die Wahrheit trotz dieser vielen Nachahmungen ist, dass Bewegungen und Individuen, außer den Sandinisten, die von dem Beispiel Camilo Torres’ 40 „Camilo Torres: priest and guerrilla fighter”, http://www. Greenleft.org.au/1996/219/15042. 41 Paz zitiert Torres mehrere Male in dem Brief, den er zurückgelassen hat und in dem er seine Entscheidung ankündigt, der bolivianischen Guerilla beizutreten. Laut seinen Kameraden verhungerte Paz nach 70 Tagen in der Aktion. Nestor Paz, My Life for my Friends. The Guerrilla Journal of Nestor Paz, Christian. Maryknoll 1978. 42 Broderick, Camilo Torres (wie Anm. 4), 22.
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inspiriert wurden oder ihm folgten, nur begrenzten politischen Erfolg hatten. Ihr Einfluss auf die Agenda und die Aktionen im Feld von Religion und Politik währte nicht lange. Sie stellten nicht die zentrale, entscheidende Dimension in der Beziehung zwischen Religion und Politik oder dem Konflikt zwischen Kirche und Staat dar, noch waren sie in den meisten Fällen die Hauptakteure. Die Botschaft und das Programm zum Handeln schritten in der Befreiungstheologie fort – die mit ihrer Betonung auf der Schaffung eines langfristigen Bewusstseins, Volksbildung und sozialen Bewegungen wohl einen weitaus langlebigeren Einfluss hatte.
Die Option der Gewalt: persönlich und politisch Es hat lange Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben, ob Camilo Torres tatsächlich auf den Kampf ausgerichtete Waffen benutzte oder nicht und ob er wirklich mit einer Waffe in seinen Händen in der ersten und einzigen Aktion starb. Das Thema an sich hätte keine größere Bedeutung, wenn es nicht das Missverhältnis symbolisieren würde, das bewaffnete Gewalt durch einen Priester noch immer für viele darstellt. Offensichtlich ist, dass Torres nicht viel vom militärischen Training mitbekam und zweifellos wenig Kampferfahrung hatte.43 Sobald er in den Bergen war, bestand er darauf, ein Soldat unter vielen zu sein, der Waffen trug und sich im Kampf engagierte. Er wollte Risiken und Gefahren als Teil seines Engagements für die Revolution mit Kameraden teilen. Als das Guerillakommando ihn hauptsächlich für die Schulung von Kämpfern einsetzen wollte, protestierte er: Glauben Sie, dass ich hierhergekommen bin, um wie ein Nichtsnutz behandelt zu werden? Oder dass ich weniger Mut besitze als Sie. Entweder behandeln Sie mich wie einen Guerillakämpfer oder dies ist nicht mein Platz. Ich habe das gleiche Risiko auf mich zu nehmen wie das, das Sie eingehen.44
Weil er in seiner ersten Aktion getötet wurde, gibt es keine von ihm verfassten Aufzeichnungen über seine Erfahrung. Die detaillierteste Beschreibung, die ich gefunden habe, ist El Final de Camilo von seinem Freund Alvaro Valencia Tovar, der damals ein General und verantwortlich für die Zone war, in der die
43 Vgl. Alvaro Valencia Tovar, El Final de Camilo, Bogotá 1976. 44 Brienza, Camilo Torres (wie Anm. 2), 112. Diese Darstellung wird bestätigt in Biographien von Broderick, Guzman, Harbegger und Valencia Tovar und in zahlreichen Erklärungen der ELN-Führung.
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Operationen der Guerilla stattfanden.45 Basierend auf anderen biographischen Werken, Aussagen von ELN-Anführern, seinen eigenen Interviews mit Soldaten und Interviews mit Überlebenden dieser Aktion, folgert Valencia Tovar, dass Torres tatsächlich bewaffnet war und in der Tat einen aktiven Part in dieser Aktion einnahm, die ein ausgeklügelter Angriff der Guerilla aus dem Hinterhalt auf die Armee sein sollte. Der Überfall verlief jedoch schlecht für die Guerilla, die letztlich selbst in eine Falle geriet, in der Camilo erschossen wurde, während er versuchte, an eine Waffe zu gelangen, die ein gefallener Kamerad hatte fallen lassen. Weitere Einblicke in Camilos Entscheidung, zur Waffe zu greifen und sich, falls nötig, am gewaltsamen Kampf zu beteiligen, können in mehreren bekannten Dokumenten gefunden werden: „La revolución: imperativo cristiano” (zum ersten Mal vorgelegt bei einem Treffen in Louvain 1964), ein Brief, der im Juni 1965 an den Kardinal und Erzbischof von Bogotá geschrieben wurde und den Übergang in den Laienstatus forderte, eine öffentliche Erklärung an die Presse am selben Tag, die den Kern des Briefes wiederholte, ein undatiertes Dokument (das ein paar Monate zuvor geschrieben worden zu sein scheint) mit dem Titel „Encrucijadas de la Iglesia en América Latina“; und zwei Botschaften – die „Mensaje a los Cristianos“ (veröffentlicht in der ersten Ausgabe von „Frente Unido“ vom 1. August 1965) und die „Mensaje a los Comunistas“ (veröffentlicht in der zweiten Ausgabe der „Frente Unido“ vom 2. September 1965).46 Aufgrund seines Titels wird das Dokument „Die Revolution: Ein christlicher Imperativ“47 oft als der Beweis für Torres’ Unterstützung von Revolution und Gewalt zitiert. Tatsächlich behandelt der Text die Revolution jedoch nur sehr wenig und Gewalt überhaupt nicht. Seinen Großteil stellt ein eher trockener Bericht über die Planung dar. Für Torres konnte eine effiziente wirtschaftliche Planung nur ein wirksames Instrument für revolutionären Wandel sein, wenn sie von einer ganzheitlichen Weltanschauung geleitet wurde. Er überprüfte die Planungsansichten von Christen, Marxisten und Indifferenten und schloss daraus, dass nur die christlichen und marxistischen Ideologien die für die praktische Planung notwendige integrale Weltanschauung besäßen.48 Von diesem 45 Valencia Tovar, El Final (wie Anm. 42), 159–62, der ELN-Dokumente zitiert. Valencia Tovar bekleidete später die höchsten Positionen des kolumbianischen Militärs. 46 Diese Texte sind alle verfügbar in Torres, Camilo Torres (wie Anm. 11). 47 „La Revolución Imperativo Cristiano”, in: Ebd., 166–192. Deutsche Übersetzung: „Die Revolution – ein christlicher Imperativ”, in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 124– 149. 48 Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 146: „Ohne eine umfassende Weltanschauung läßt sich der revolutionäre Kampf nicht führen. In der modernen westlichen Welt wird daher dieser Kampf kaum unabhängig von der christlichen oder der marxistischen Weltanschauung stattfinden, die einzigen umfassenden Weltanschauungen, die es heute gibt. Deswegen
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Grundprinzip ausgehend gab Torres den Marxisten aufgrund einer größeren „wissenschaftlichen“ Logik ihres Denkens und Programms den Vorzug. Die Überlegungen zur Planung werden von zwei kurzen Abschnitten von besonderem Interesse eingerahmt. Am Anfang steht die Diskussion des „christlichen Apostolats und wie wir es erkennen können“. Das christliche Apostolat wird mit dem Sehen und der Anerkennung der Priorität der Nächstenliebe in Verbindung gebracht. Weit über dem, was, wie in der Heiligen Schrift spezifiziert (Gebet, Sakramente, die Messe), als das „gewöhnliche Mittel, um ein außergewöhnliches Leben zu erhalten“, beschrieben wird, verweist Torres auf das Gebot der Nächstenliebe. Er macht klar, dass diese herkömmlichen Mittel ohne Nächstenliebe, die ein anderer Begriff dafür ist, christliche Liebe effektiv umzusetzen, keine Zeichen von übernatürlichem Leben sind.49 Später, in einem Abschnitt, der mit „Schlussfolgerung“ betitelt ist, führt Torres eine Reihe von Behauptungen an: 1. In den unterentwickelten Ländern werden strukturelle Veränderungen nicht möglich sein ohne den Druck seitens der Volksklasse, 2. die friedliche Revolution wird direkt von der Weitsicht der herrschenden Klasse bestimmt, obwohl es schwierig ist, den Wunsch (nach Veränderung) aufseiten dieser Klasse zu erwecken, 3. die gewaltsame Revolution ist eine recht wahrscheinliche Alternative, da die herrschende Klasse Schwierigkeiten damit hat, vorausschauend zu handeln. Das Planen ist für strukturelle Veränderungen essenziell, jedoch wird dies nicht passieren ohne Druck seitens der Mehrheit, sei er friedlich oder gewaltsam. Unter diesen Bedingungen ist die Hauptaufgabe eines jeden Christen, in einer Art und Weise zu handeln, die die Ausübung der Nächstenliebe nicht verrät. Er soll die Welt in der Wahrheit weihen (Joh. XVII, 19). Wie Christus soll er Fleisch werden unter den Menschen, in ihrer Geschichte und in ihrer Kultur. Darum kann der die himmlische Liebe nur durch Einwirkung auf die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Strukturen verwirklichen.50
Revolution ist das Mittel, um der effektiven Nächstenliebe nachzukommen, die die christliche Liebe fordert. Obwohl technische Lösungen für die Probleme ist es kaum denkbar, daß Personen, die sich von keiner dieser beiden Weltanschauungen leiten lassen, eine revolutionäre Führung übernehmen.” 49 Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 125: „Die üblichen Mittel zur Erlangung des überirdischen Lebens finden wir durch die Heilige Schrift und die Praxis der Kirche gegeben: Gebet, Sakramente, Messe. Sie bieten indes, obwohl sie ein Zeichen für ein himmlisches Leben sind, keine absolute Gewißheit dafür, außer durch eine besondere Offenbarung. Es ist möglich, daß diese Mittel ohne Nächstenliebe angewandt werden, und ohne Nächstenliebe sind sie kein Zeichen für ein überirdisches Leben.” 50 Ebd., 143.
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der Armut und des Elends bekannt und verfügbar waren, stand für Torres fest, dass sie nicht umgesetzt wurden, da dies den Interessen der dominanten Minderheiten widersprach. Daß eine Gruppe gegen ihre eigenen Interessen handelte, ist soziologisch gesehen absurd. Deshalb muß man sich dafür einsetzen, daß die Mehrheit an die Macht kommt, damit sie die strukturellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Reformen verwirklichen kann, die nur im Interesse der Mehrheit liegen. Das nennt man Revolution, und wenn zur Verwirklichung der Nächstenliebe eine Revolution nötig ist, dann muß ein Christ ein Revolutionär sein.51
Die offenste Äußerung der Logik und des Bedürfnisses nach Revolution tritt in dem Brief an den Kardinal Erzbischof von Bogotá, in dem Torres seine Versetzung in den Laienstatus fordert, zu Tage sowie in seiner Erklärung an die Presse von Bogotá am gleichen Tag (in der er die gleichen Worte benutzt) und in „Encrucijadas de la Iglesia en América Latina“.52 In diesen drei Dokumenten argumentierte Torres für die Revolution, die einen Imperativ darstellte, der aus dem Kern christlicher Verpflichtung zur Nächstenliebe stammte. Die Presseerklärung (24. Juni 1965) wurde mit diesen Worten eröffnet: Wenn bestimmte Umstände es den Menschen unmöglich machen, den Geboten Christi zu folgen, dann hat der Priester die Aufgabe, diese Umstände zu bekämpfen, selbst auf Kosten der Möglichkeit, den eucharistischen Ritus zu zelebrieren, denn das kann nicht ohne die Nachfolge Christi geschehen. Bei der augenblicklichen Struktur der Kirche sehe ich mich nicht in der Lage, die Ausübung meines Priesteramtes in seinen äußeren Formen fortzusetzen. [...] Die Messe, die den eigentlichen Inhalt des Priesteramtes ausmacht, ist in ihrem tiefsten Sinn eine gemeinschaftliche Handlung. Die christliche Gemeinschaft kann jedoch das Meßopfer nicht wirklich darbringen, wenn sie nicht vorher das Hauptgebot der Nächstenliebe in wirksamer Weise erfüllt hat.53
Er fuhr fort, indem er mit großer Klarheit sein eigenes Verständnis seiner Karriere und Mission darstellte: Ich habe mich für das Christentum entschieden, weil ich in ihm die reinste Form des Dienstes am Nächsten sehe. Ich wurde von Christus zum lebenslänglichen Priesteramt 51 Aus „Encrucijadas de la Iglesia en América Latina“, deutsch „Die lateinamerikanische Kirche am Scheidewege“, in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 195–198, hier 197. 52 Ebd. 53 „Carta al Cardenal“, deutsch „Brief an den Kardinal Erzbischof von Bogotá Luis Concha Cordoba und Presseerklärung dazu“, in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 177.
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auserwählt, weil ich mich vollständig der Liebe zu meinen Mitmenschen hingeben wollte. Als Soziologe wollte ich dieser Liebe mit Hilfe von Technik und Wissenschaft Wirksamkeit verleihen. Bei der Untersuchung der kolumbianischen Gesellschaft wurde mir klar, daß eine Revolution nötig ist, wenn man die Hungrigen speisen, die Durstenden tränken, die Nackten bekleiden und den Massen unseres Volkes ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen will. Ich vertrete die Ansicht, daß der revolutionäre Kampf ein christlicher und priesterlicher Kampf ist. Nur durch ihn können wir unter den konkreten Umständen unseres Landes die Liebe verwirklichen, die die Menschen ihren Mitmenschen entgegenbringen sollen. Seit ich mein Priesteramt ausübe, habe ich mit allen Mitteln versucht, Laien, Katholiken und Nichtkatholiken für diesen revolutionären Kampf zu gewinnen. Als die massive Antwort des Volkes auf die Aktion der Laien ausblieb, beschloß ich, mich selbst diesem Kampf zu widmen, um so einen Teil meines Auftrages, die Menschen durch die Liebe zueinander zur Liebe Gottes zu führen, verwirklichen zu können. Diese Tätigkeit sehe ich in Kolumbien als die wichtigste Aufgabe meines christlichen und priesterlichen Lebens an.54
Die Presseerklärung endete mit folgenden Worten: Ich glaube, daß meine Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen, das Gebot der Nächstenliebe wirksam zu erfüllen, mir dieses Opfer auferlegt. Das höchste Ziel aller menschlichen Entscheidungen kann nur die Nächstenliebe, die himmlische Liebe sein. Ich bin bereit, alle Gefahren auf mich zu nehmen, die das Streben nach diesem Ziel mit sich bringt.55
Torres gab zu, dass es für viele schwierig sein würde, die Vorstellung zu akzeptieren, dass ein Priester solch eine Position einnahm, jedoch beharrte er darauf, dass der echte Glaube einen aktiven Einsatz erforderte, um das Leben anderer zu verbessern. Ohne solch ein Engagement sei der Glaube nicht vollkommen echt. Je mehr die Gemeinschaft sich liebt, desto wirksamer kann der Priester das eucharistische Opfer darbringen, in dem wir kein individuelles, sondern ein gemeinschaftlich dargebrachtes Opfer sehen müssen. Wenn zwischen denen, die das Opfer darbringen wollen, keine Liebe herrscht, dann dürfen wir Gott dieses Opfer nicht geben. Wenn also die Laien keinen Anteil nehmen am Kampf um das Wohlergehen ihrer Brüder, so wird das Priesteramt etwas rein Rituelles, Individuelles und Oberflächliches. Der Priester hat die Verpflichtung, den Laien bei ihren irdischen Aufgaben zu helfen, wenn dies die Nächstenliebe von ihm verlangt. Wenn der Eindruck entsteht, daß diese Liebe aufgehört hat, das Wesen der Kirche zu
54 Ebd., 177–178. 55 Ebd., 178.
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sein, dann bedarf es eines überzeugenden Zeugnisses dafür, daß die Gemeinschaft der alle Menschen umfassenden Kirche auf der Nächstenliebe gründet. […] Wenn die Christen wirklich aus der Liebe leben und die anderen zur Liebe anhalten, wenn der Glaube ein vom Leben und vor allem vom Leben Gottes, Jesu und der Kirche beseelter Glauben ist, wenn der äußere Ritus der Ausdruck der Liebe in der christlichen Gemeinschaft ist, dann werden wir sagen können, daß die Kirche stark ist, nicht stark durch wirtschaftliche und politische Macht, sondern stark durch die Liebe. Wo immer das irdische Engagement eines Priesters im politischen Kampf dazu beitragen kann, erscheint sein Opfer als gerechtfertigt.56
In der „Mensaje a los Comunistas“57, die einige Monate später geschrieben wurde, bestätigte Torres seine allgemeine Position und gab sich große Mühe, zu verdeutlichen, dass er nicht anti-kommunistisch sei: nicht als Kolumbianer, nicht als Soziologe, nicht als Christ und nicht als Priester. Die Kommunisten hatten seiner Meinung nach Vorstellungen, Pläne und authentische Verpflichtungen, die notwendig waren für die Revolution und Torres zitierte die Enzyklika von Papst Johannes XXIII. „Pacem in Terris“ als Rechtfertigung für die Zusammenarbeit mit allen, die guten Willens seien. Er fuhr fort: Diese pauschale Verurteilung [der Kommunisten] aber läuft Gefahr, mit dem Ungerechten auch das Gerechte zu verurteilen, und das ist unchristlich. Als Priester kann ich kein Antikommunist sein, weil es unter den Kommunisten, auch wenn sie es selbst nicht wissen, viele echte Christen geben kann. Wenn sie guten Willens sind, können sie der heiligenden Gnade teilhaftig werden, und wenn sie die heiligende Gnade besitzen und ihren Nächsten lieben, werden sie erlöst werden. Als Priester, der ich bin, auch wenn ich den äußeren Kult nicht ausübe, muß ich die Menschen zu Gott führen, und das geschieht am wirksamsten, wenn die Menschen nach ihrem besten Wissen und Gewissen ihrem Nächsten dienen.58
Die vorausgegangene Diskussion weist auf die Wurzeln und die Beharrlichkeit der Art des Klerikalismus (der Linken) hin, die Gustavo Gutiérrez erwähnte. Wie wir gesehen haben, war die Katholische Kirche in Kolumbien über eine lange Zeit extrem mächtig. Es ist außerdem offensichtlich, dass die Rolle als Priester für Camilo Torres trotz oder besser gesagt zusammen mit seinem Engagement für die Volksmobilisierung die Annahme beinhaltete, dass er sich in
56 „Encrucijadas de la Iglesia en América Latina“, deutsch „Die lateinamerikanische Kirche am Scheidewege“, in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 198. 57 „Mensaje a los Comunistas“ in: Broderick, Camilo Torres (wie Anm. 4), 117–120. 58 „Mensaje a los Comunistas“, deutsch „Aufruf an die Kommunisten“, in: Torres, Vom Apostolat (wie Anm. 8), 206–207.
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einer einzigartigen Position befand, in der er die Pflicht hatte, für Führerschaft und Leitung zu sorgen und christliche Werte zu bekräftigen.
Fazit: Camilo Torres als Vorreiter Camilo Torres war für lange Zeit eine Ikone für die lateinamerikanischen Linken, Katholiken und Nicht-Katholiken. Sein kurzes Leben und seine kometenhafte öffentliche Karriere warfen ein Licht auf viele Themen, die bald in Debatten und Konflikten innerhalb des lateinamerikanischen Katholizismus zentral wurden. Dazu zählten die Möglichkeit zu sozialer Gerechtigkeit, Solidarität mit den Linken und die revolutionären Bewegungen, die danach strebten, diese Gerechtigkeit zu implementieren. Ideen stehen oft für sich selbst, das heißt, sie haben Erfolg oder versagen in Abhängigkeit von der Logik und der Stärke ihrer Aussage. In diesem Fall ist es jedoch ebenso wichtig, sich die Art und Weise bewusst zu machen, in der die Ideen beibehalten und geordnet wurden und zu sehen, wie sich aus Torres’ Denkweise sein Engagement entwickelte. Bevor ich dieses Kapitel schrieb, waren viele Jahre vergangen, seitdem ich mich mit Camilo Torres und seinen Vorstellungen beschäftigt hatte.59 Bis ich zu dem Thema zurückkehrte, hatte ich vergessen, wie positivistisch, deduktiv, hart und letztlich, trotz der Bekräftigungen des Glaubens an die Menschen, paternalistisch er war. Torres war positivistisch in dem Sinne, dass er einen starken Glauben an die Möglichkeit des Findens soziologischer „Wahrheit“ durch wissenschaftliche Analyse und an die Dringlichkeit der Kommunikation und Umsetzung dieser Wahrheiten hatte. Viele seiner Texte aus den wenigen Jahren, die seinem Eintreten in die Guerillabewegung vorausgingen, waren geprägt von einer deduktiven Logik, die Ideen immer bis zu ihrer letzten Konsequenz führte. Die Hinwendung zur Revolution und zur Gewalt als notwendigem, tatsächlich einzig möglichem Instrument wirksamen Handelns entsprang direkt und logischerweise aus seiner allgemeinen soziologischen Analyse. Dass sein Denken und Handeln keine vermittelnden Faktoren im Feld der politischen Handlungen wahrnahmen, ist zum Teil das Ergebnis politischer Naivität, ergab sich aber auch direkt aus seiner soziologischen Analyse, die an die Möglichkeit einer objektiven Wahrheit glaubte. Die besonderen Umstände der kolumbianischen Politik, die einen kargen Boden für politisches Handeln außerhalb des Rahmens der Nationalen Front bot, ließen seine Wahl umso dringlicher erscheinen.
59 Daniel H. Levine und Alexander Wilde, The Catholic Church, ,Politics‘ and Violence: The Colombian Case, in: The Review of Politics 39:2 (1977), 220–249.
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In den zahlreichen herausgegebenen Sammlungen seiner Arbeit, den Biographien und Erklärungen durch die eine oder andere Gruppe, die in dem Jahrzehnt nach seinem Tod erschienen, wird sein Einfluss auf einen radikalen katholischen Aktivismus als durchdringend und stark dargestellt. In der Einleitung seiner viel gelesenen Sammlung „Revolutionary Priest. The Complete Writings and Messages of Camilo Torres“, zitiert John Gerassi einen kolumbianischen Priester dahingehend, dass „Pater Torres einen höheren Weg eröffnet hat, den viele Idealisten, die nach Gerechtigkeit streben, gehen werden.“60 Er wird als Vorreiter vieler Ideen und Bewegungen beansprucht, die im lateinamerikanischen Katholizismus der 1960er und 1970er Jahre aufkamen und danach strebten, neue Wege für religiöse Werte und Gruppen zu schaffen, um die Politik auf der Suche nach Gerechtigkeit zu verpflichten. Doch seine bekanntesten Ideen – dass die Revolution eine christliche Verpflichtung darstellte und dass der einzige Weg, um ein echter Christ sein zu können, der war, ein Revolutionär zu sein – zogen nicht viele Anhänger an und ihr Einfluss war wohl viel geringer als der Einfluss der Denkströmungen (wie z. B. der Befreiungstheologie), in deren Mittelpunkt soziale Bewegungen und gewaltloser politischer Wandel standen. Wie können wir den Einfluss und die dauerhafte Bedeutung seiner Vorstellungen und seines Lebens über den symbolischen Appell eines jungen Priesters hinaus, der zu den Waffen griff, um Ungerechtigkeit zu bekämpfen und dabei starb, am besten beurteilen? Der Schlüssel zum Verständnis der politischen Entwicklung Camilo Torres’, seiner Entscheidungen und seiner Wahl, die Waffen zu erheben, liegt in der Kombination seiner akademischen Ausbildung als Soziologe mit einem tiefen Idealismus und politischer Naivität. Seine akademische Berufung als Soziologe gab ihm einen Glauben an wissenschaftliches Wissen und eine Überzeugung, dass technische und effiziente Lösungen zwar existierten, aber von denen, die die Macht hatten, blockiert würden. Seine priesterliche Berufung war der Ausdruck eines tiefen Idealismus, verwurzelt in einer Verpflichtung zur Nächstenliebe, nicht nur der Liebe Einzelner, sondern der Liebe aller Menschen. Politische Naivität und eine tief empfundene Dringlichkeit zur Veränderung erforderten, dass diese Lösungen, wenn nötig, durch eine Revolution eingeführt werden mussten. Wie Margaret Pfeil herausstellte, müssen wir dann, wenn wir soziale Sünde und soziale Zerrissenheit anerkennen, auch über Handlungsformen nachdenken, die über den Einzelnen hinausgehen und das heilen, was in der Gesellschaft zur Zerrissenheit geführt hat. Für Camilo Torres bedeutete das Arbeiten innerhalb des Systems (zum Beispiel bei Wahlen, die er ablehnte) mitschuldig zu sein an 60 John Gerassi (Hg.), Revolutionary Priest. The Complete Writings and Messages of Camilo Torres, New York 1971, 33, dort Zitat von Carlos Pérez Herrera, Pastor von Santa Ana, Kolumbien (zitiert in El Siglo, 3. März 1966).
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den Ungerechtigkeiten, die das System in den Schranken hielt.61 Das, was zerbrochen war, konnte nur durch die Organisation einer Gegenmacht geheilt werden, genauer gesagt durch einen revolutionären Kampf. Sein Verständnis von der christlichen Mission trieb seine beständigen Bemühungen an – in seiner Arbeit und seinen Botschaften und Programmen –, um Christen mit der Theorie und vor allem mit der Umsetzung der Revolution zu verbinden. Genauer gesagt sollte die christliche Mission die guten Nachrichten verkünden und der wahre, gläubige Jünger Christi war derjenige, der sein Leben aufs Spiel setzte, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Botschaft erhört und gelebt werden konnte. Die Logik war unausweichlich. Man kann nicht vollkommen an die Botschaft glauben und ihre Bedeutung ignorieren: wahre Liebe und wahre Nächstenliebe erfordern Handlungen, um die Bedingungen zu verändern, die soziales Leben verhindern und die Hilfe für den Nächsten überhaupt erst notwendig machen. War der Schritt zur Gewalt auf einer realistischen Analyse begründet oder war er vielmehr die Frucht einer politischen Naivität, die zu geringem oder gar keinem Ergebnis führte? War Camilo Torres dann noch ein weiterer in einer langen Kette symbolischer Opfer, mit denen Lateinamerika nur allzu gut vertraut ist? Ich habe hier angenommen, dass seine Ideen und sein politisches Vorhaben zugleich zutiefst idealistisch und zutiefst unrealistisch waren. Er schien nicht zu begreifen oder konnte die wirklichen Schwierigkeiten politischer Arbeit nicht erfassen, was Max Weber bekanntlich mit einem langen, langsamen Bohren durch harte Bretter hindurch verglich. Er glaubte wirklich daran, dass die Revolution bevorstehen würde und die Kräfte auf ihrer Seite überwältigend seien, sobald sie aktiviert würden. Er sah sich in der Rolle, sie zu aktivieren und zusammenzuführen. Da er glaubte, dass die Revolution sowohl bevorstand als auch essenziell sei, schien er sich nicht allzu sehr um die Zwischenschritte zu sorgen. Jedoch kann ein defizitärer Realitätssinn in der Politik und vielleicht besonders in der Revolution fatal sein für Personen und politische Vorhaben. Für Valencia Tovar war Camilo kein fähiger Volksanführer, gerade weil ihm die Geduld für die langsame, schwierige Arbeit, eine Bewegung aufzubauen, fehlte. „Er hat durchaus mit zweifellosem Erfolg aufgehetzt. Jedoch gibt es zwischen Aufhetzen und Führen eine Kluft, die er nicht spürte und die er weder in seiner psychologischen Struktur noch in seinen Führerprojektionen fähig war auszufüllen. Vielleicht hätte die Geschichte einen völlig anderen Weg genommen, wenn es gelungen wäre, einen außergewöhnlichen Generalstab zu formen, der 61 Margaret Pfeil, Social Sin, Social Reconciliation, in: Iaian S. MacLean, Reconciliation, Nations and Churches in Latin America, London 2006, 171–192. Dies erinnert an Dietrich Bonhoeffers Beharrlichkeit, die Komplizenschaft und das Zufriedensein mit der billigen Gnade bequemer Anpassungen zu vermeiden (Dietrich Bonhoeffer, The Cost of Discipleship, New York 1959).
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ordnungsgemäß im Namen seiner Inspiration arbeitete und sich methodisch auf den langen Weg vorbereitete, den es zu gehen galt, und dabei jeden Vorfall im Detail einplante, so dass alles Teil einer disziplinierten längerfristigen Strategie wäre. Dem war nicht so. Es gab keinen Generalstab, sondern eine Gruppe ungestümer Jugendlicher, potenzielle Anführer, Revolutionäre im Herzen wie Camilo, gierig nach sofortigem Ruhm und besessen von einer Euphorie, die der ihres Anführers ähnelte, dessen ausgetretene Spur sie mit mehr Eifer als Überlegung oder Berechnung von Wahrscheinlichkeiten verfolgten.“62 Vor fast einhundert Jahren sprach Max Weber diese Sorgen in seiner berühmten Diskussion „Politik als Beruf“ an. Als er mit deutschen Universitätsstudenten über die Niederlage im Ersten Weltkrieg sprach, machte er sich Sorgen über eine Art der Politik, die die höchsten Ziele mit dem verknüpfen könnte, was unvermeidliche, fehlbare menschliche Mittel und Methoden sind und er betonte die Unterscheidung zwischen dem, was er eine Gesinnungsethik (gut oder böse, das Königreich Gottes auf Erden darstellend) und eine Ethik der Verantwortung nannte. Webers Meinung nach erforderte Politik eine Ethik der Verantwortung, da solch eine Ethik die Akteure dazu zwinge, sich die Konsequenzen bewusst zu machen. Im Gegensatz dazu gefährde ein Arbeiten in der Politik mit einer Gesinnungsethik nicht nur die Politik, sondern ebenso die höchsten Ziele selbst. Er schrieb: Wer das Heil seiner Seele und die Rettung anderer Seelen sucht, der sucht das nicht auf dem Wege der Politik, die ganz andere Aufgaben hat: solche, die nur mit Gewalt zu lösen sind. […] Denn das alles, erstrebt durch politisches Handeln, welches mit gewaltsamen Mitteln und auf dem Wege der Verantwortungsethik arbeitet, gefährdet das ‚Heil der Seele‘. Wenn ihm [dem Ziel] aber mit reiner Gesinnungsethik im Glaubenskampf nachgejagt wird, dann kann es Schaden leiden und diskreditiert werden auf Generationen hinaus, weil die Verantwortung für die Folgen fehlt.63
Zuvor spricht Weber in dem gleichen Text über die Bergpredigt und ihre Ethik des Friedens: Mit der Bergpredigt – gemeint ist: die absolute Ethik des Evangeliums – ist es eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: sie ist kein Fiaker, den man beliebig halten lassen kann, um nach Befinden ein- und auszusteigen. Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten herauskommen soll.64 62 Valencia Tovar, El Final (wie Anm. 42), 85–86. 63 Max Weber, Politik als Beruf, Berlin 71982, 64–65. 64 Ebd., 56.
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Trotz seines Status als Ikone blieb Torres’ Einfluss innerhalb des lateinamerikanischen Katholizismus für lange Zeit beschränkt. Obwohl er oft als Vorreiter der Befreiungstheologie genannt wird, liegt dies offensichtlich eher in der Art allgemeiner Verpflichtungen zum Wandel begründet als an anderen Gründen. Obgleich es eine gemeinsame Betonung der Notwendigkeit soziologischer Analyse und einer allgemeinen Verpflichtung zum Wandel gibt, haben die Befreiungstheologie und diejenigen, die mit ihr verbunden waren, von Anfang an einen anderen Weg eingeschlagen, was die Einzelheiten des sozialen Engagements, des politischen Engagements und der Gewalt anging.65 Ihr charakteristisches Engagement konzentrierte sich auf die Bewusstmachung durch langfristige Ausbildung und Mobilisierung der Masse, wobei parteipolitisches Engagement vermieden werden sollte, und auf die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit sowohl von der institutionellen Kirche (Unabhängigkeit durch Loyalität) als auch von Staaten und politischen Parteien. Torres kann auch nicht gut als ein Vorreiter für die Wellen der religiös inspirierten sozialen Bewegungen gelten, die eine solch zentrale Rolle für den Widerstand gegen die Militärdiktaturen in der ganzen Region in den 1970er und 1980er Jahren spielten – Gruppen, die in Menschenrechts- und Gemeinschaftsaktionen jeglicher Art aktiv waren. Letztlich war sein Einfluss in seinem eigenen Land minimal. Die kolumbianische Politik bleibt zutiefst ungerecht und wird weiterhin gekennzeichnet von Wellen der Gewalt, die so hartnäckig sind, dass sie manchmal einfach nicht aufzuhören scheinen, sondern sich nur die Namen, Parolen und Organisationen ändern, aber Entführungen, Ermordungen und Zerstörungen weiter anhalten. Er bleibt am Ende eine symbolische Figur, ein tragisches Opfer, ein weiteres Symbol für unerfüllte Möglichkeiten.
65 Torres war eindeutig nicht mit ausdrücklich religiös-politischen Parteien, wie beispielsweise den Christdemokraten, verbunden, die er bestenfalls als Palliativreformisten und schlimmstenfalls als Verräter des Systems ansah.
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Justitia et Pax Beispiele aus der Menschenrechts- und Friedensarbeit der Katholischen Kirche in Lateinamerika seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
Zur Entstehung der Kommission „Justitia et Pax“ unter Papst Paul VI. In einem der Ergänzungsbände zur zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche, in denen die Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils lateinisch und deutsch dokumentiert und kommentiert worden sind, schrieb der Löwener Hochschullehrer Charles Moeller, ein Vertrauter von Kardinal Léon-Joseph Suenens, einem der vier Moderatoren der großen Kirchenversammlung: „Es war ein Bischof aus Lateinamerika, von dem der Anstoß kam, der zu dem Beschluß führte, ein Schema über die Kirche in der Welt zu verfassen. Dom Hélder Câmara, zu dieser Zeit Weihbischof von Rio de Janeiro, hörte nicht auf, mit seinen Besuchern über Probleme der Dritten Welt zu sprechen. Ohne Unterlaß wiederholte er: ‚Was sollen wir also jetzt tun?‘ Er beschäftigte sich mit dem allzu internen Charakter der Session: ‚Sollen wir unsere ganze Zeit darauf verwenden, interne Probleme der Kirche zu diskutieren, während zwei Drittel der Menschheit Hungers sterben? Was haben wir angesichts des Problems der Unterentwicklung zu sagen? Wird das Konzil seiner Sorge um die großen Probleme der Menschheit Ausdruck geben? Soll Papst Johannes in diesem Kampf alleine bleiben?‘ In einer Konferenz in der Domus Mariae1 sagte er: ‚Ist das größte Problem Lateinamerikas der Priestermangel? Nein! Die Unterentwicklung!‘ Eine kleine Gruppe, die von Abbé P[aul] Gauthier2 inspirierte ‚Kirche der Armen‘, beschäftigte sich seit dem 26.10. [1962] mit diesem Prob1 Domus Mariae, ein großes Backsteingebäude inmitten eines Parks an der Via Aurelia 480, war der Sitz der italienischen Katholischen Aktion für Frauen und beherbergte während des Zweiten Vatikanischen Konzils die brasilianischen Bischöfe, außerdem Bischöfe aus Ungarn und einigen afrikanischen Ländern wie Burundi und Ruanda. 2 Paul Gauthier, Professor am Priesterseminar von Dijon, hatte als Arbeiterpriester in Nazareth gelebt und war auf dem Konzil als theologischer Berater des galiläischen Erzbischofs der Melkiten, des späteren Patriarchen Georges Hakim. Er veröffentlichte 1964 ein Buch „Die Armen, Jesus und die Kirche“; vgl. auch Paul Gauthier, Tröstet mein Volk. Das Konzil und „die Kirche der Armen“, Graz 1966.
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lem. […]. Dom Hélder Câmara schloß sich von Anfang an dieser Gruppe an. Er fand ihre Arbeiten zu ausschließlich spirituell. Doch diese Gruppe hatte den Vorzug, daß es sie gab. Dom Hélder war sich als Sekretär der brasilianischen Bischofskonferenz der Bedeutung bewusst, die die (Bischofs-)Konferenzen für das Konzil haben konnten. Er rief alsbald die Sekretäre anderer Bischofskonferenzen zusammen. Bald nahmen auch Frankreich (Msgr. Etchegaray), Afrika (Msgr. Zoa, Blomjous), Deutschland,3 die Niederlande, Japan, Indien, Kanada und Kongo an den Treffen teil, die Msgr. Hélder ‚ökumenisch‘ nannte. Er bekam bald zu Kardinal Suenens Kontakt: diese beiden so verschiedenen Männer verstanden sich […]. Am 1.12. [1962] wurde im Belgischen Kolleg [in Rom] eine Zusammenkunft mit etwa 50 Bischöfen veranstaltet, die Schlüsselgestalten für verschiedene Kontinente waren […]. Nach dem Treffen im Belgischen Kolleg kamen die Kardinäle Suenens, Lercaro, Liénart, Léger und ebenso Kardinal Montini bei dem Bemühen, die Schemata des Konzils ein wenig zu ordnen und miteinander zu verbinden, zu übereinstimmenden Schlüssen. Am 4.12. hielt Kardinal Suenens die Rede, die die Zustimmung der Väter fand. Er schlug vor, die Texte um zwei Pole zu gruppieren: ad intra, ad extra. Am folgenden Tag unterstrich Kardinal Montini die Verbindung zwischen Christus und der Kirche und brachte auch seine Zustimmung zum vorgeschlagenen Schema über Kirche und Welt zum Ausdruck. Am 6.12. beharrte Kardinal Lercaro nachdrücklich auf der Notwendigkeit, von der Kirche der Armen zu sprechen.4 Die erste Session [des Zweiten Vatikanischen Konzils] beschränkte sich daher nicht auf ausschließlich innere Fragen der Kirche.“5 Hélder Câmara und Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI., kannten sich seit 1950. Ende dieses Jahres hatte Hélder Câmara als Generalse3 José Oscar Beozzo, Dom Helder Camara und das II. Vatikanische Konzil, in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 9 (2009), 199–216, hier 205–207; Johannes Meier/Veit Strassner, Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Kirche und Katholizismus seit 1945. Bd. 6: Lateinamerika und Karibik, Paderborn u. a. 2009, 1–28, hier 9, Anm. 29. 4 Es soll Papst Johannes XXIII. selbst gewesen sein, der Kardinal Lercaro zu seiner eindringlichen Rede aufgefordert habe; so Gauthier, Volk (wie Anm. 2), 247. Zu Lercaros Rede vgl. Marie-Dominique Chenu, „Kirche der Armen“ auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Concilium 13 (1977), 232–235, hier 233; Giuseppe Alberigo, „Die Kirche der Armen“. Von Johannes XXIII. zum Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Mariano Delgado/ Odilo Noti/Hermann-Josef Venetz (Hg.), Blutende Hoffnung. Gustavo Gutiérrez zu Ehren, Luzern 2006, 67–88, hier 76; Ders., Die Fenster öffnen. Das Abenteuer des Zweiten Vatikanischen Konzils, Zürich 2006, 78. 5 Charles Moeller, Die Geschichte der Pastoralkonstitution, in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen, lateinisch und deutsch, Kommentare I–III. Ergänzungsbände zum Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg/Basel/Wien ²1966–1968, hier Bd. 3, 242–279, 247.
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kretär des Komitees der brasilianischen Kirche für die Feier des Heiligen Jahres 1950 in Rom Bericht erstattet und war dabei mit Montini zusammengetroffen. Dieser unterstützte ihn in den folgenden Jahren bei der Gründung der Brasilianischen Bischofskonferenz (1952) und des Lateinamerikanischen Bischofsrates (1955).6 Montini lernte Lateinamerika aus eigener Anschauung im Jahre 1960 kennen.7 In Brasilien besuchte er São Paulo, Rio de Janeiro, wo er Hélder Câmara traf, und Brasilia, die neue Hauptstadt, wo er mit Präsident Juscelino Kubitschek sprach. Die Reise muss ihn sehr beeindruckt haben, denn er bezieht sich noch in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ (1967) auf sie (in Nr. 4). Er sei dort zum ersten Mal „mit den beängstigenden Problemen“ der unmenschlichen Armut direkt in Kontakt gekommen. In die Enzyklika flossen auch vielerlei Erfahrungsberichte lateinamerikanischer Bischöfe ein, mit denen Paul VI. während des Konzils gesprochen hatte, wie er später selbst einmal gegenüber dem Erzbischof von Panama, Marcos Gregorio McGrath, erklärte.8 Den Präsidenten des CELAM, Bischof Manuel Larraín Errazuriz von Talca in Chile, hat Paul VI. so sehr geschätzt, dass er ihn in der Enzyklika namentlich erwähnt.9 Im letzten Konzilsjahr 1965 gab das zehnjährige Bestehen des CELAM den Anlass zu einer Begegnung Papst Pauls VI. mit allen auf dem Konzil anwesenden lateinamerikanischen Bischöfen. Etwa einen Monat vor Beginn der vierten Sitzungsperiode schrieb Bischof Manuel Larraín an den damaligen Sekretär der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten, Antonio Samoré, der auch Präsident der 1958 gegründeten päpstlichen Kommission für Lateinamerika (CAL) war, eine zweite Generalversammlung des CELAM – nach der ersten, 1955 in Rio de Janeiro gehaltenen – solle sich mit der Anwendung der Beschlüsse des Konzils auf Lateinamerika befassen; sie solle nach Möglichkeit in zweieinhalb Jahren stattfinden. Im Vorfeld ließ Bischof Larraín dem Papst die Idee zukommen, man könne die Versammlung in Verbindung mit dem vorgesehenen 39. Eucharistischen Weltkongress in Bogotá planen. Die 6 Peter Hebblethwaite, Paul VI. The First Modern Pope, London 1993, 234f. u. 240f.; Osmar E. Gogolok/Johannes Meier, Brasilien, in: Meier/Strassner (Hg.), Kirche (wie Anm. 3), 465–530, hier 477f. 7 Hebblethwaite, Paul VI. (wie Anm. 6), 292f.; Bernhard Bleyer, Option für die Armen. Der Weg der lateinamerikanischen Kirche seit Medellín, in: Herder-Korrespondenz 62 (2008), 479–484, hier 480. 8 Marcos McGrath, Vaticano II. Iglesia de los pobres y teología de la liberación, in: Medellín 21 (1995), 371–407, hier 383. 9 Vgl. Nr. 32, Anm. 33, wo der Papst auf dessen Hirtenschreiben „De civili progressu et de pace“ verweist und sein Beispiel erwähnt, großzügig aus dem eigenen Vermögen zugunsten größerer Gerechtigkeit zu opfern.
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Audienz Pauls VI. für den lateinamerikanischen Episkopat wurde auf den 23. November 1965, zwei Wochen vor Ende des Konzils, anberaumt. Auf ihr empfahl der Papst den Bischöfen des Erdteils, gemäß dem in „Gaudium et Spes“ beachteten Modell des Dreischrittes „Sehen – Urteilen – Handeln“ die Arbeit an einer Analyse der lateinamerikanischen Realität aufzunehmen und darauf aufbauend eine Pastoral zu planen, welche eine signifikante „acción social“ für die jeweiligen Regionen beinhalten solle. So hat Papst Paul VI., dem Vorschlag Bischof Larraíns folgend, noch vor Ende des Konzils die zweite Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats für 1968 nach Kolumbien einberufen.10 Am 24. August 1968 eröffnete er sie in der Kathedrale von Bogotá.11 Besondere Beachtung verdient, dass der Papst am Tag zuvor in einer Predigt vor 200.000 Landarbeitern in San José de Mosquera, 25 Kilometer von Bogotá entfernt, jene Gedanken von der „Kirche der Armen“, die Kardinal Giacomo Lercaro am 6. Dezember 1962 im Anschluss an eine Radiobotschaft Johannes XXIII. an die Katholiken der Welt vom 11. September 196212 in der Konzilsaula vorgetragen hatte, ausdrücklich aufnahm; dabei weilte Lercaro als von ihm für den Eucharistischen Weltkongress bestellter päpstlicher Legat in seiner Nähe.13 In Auslegung der Perikope vom Weltgericht (Mt 25,31–46) rief Paul VI. den Campesinos zu: „Ihr seid ein Zeichen, ein Abbild, ein Mysterium der Präsenz Christi […], ein heiliges Abbild des Herrn in der Welt.“ Er versicherte ihnen, die elenden Umstände zu kennen, unter denen sie lebten, und verknüpfte damit einen Satz, den bald darauf die Bischöfe auf ihrer Konferenz in Medellín aufgreifen sollten: „Ihr hört uns jetzt schweigend zu, aber Wir hören den Schrei, der aus euren Leiden emporsteigt.“14 Ähnlich eindringlich hatte der Papst am 4. Oktober 1965, dem Festtag des heiligen Franz von Assisi, eine Woche vor Beginn der letzten Session des Zweiten Vatikanischen Konzils, der Vollversammlung der Vereinten Nationen in 10 Hebblethwaite, Paul VI. (wie Anm. 6), 448f. 11 Ebd., 521–524. Zwei Tage später nahm die Versammlung im Seminar von Medellín ihre Arbeit auf. 12 Nikolaus Klein, Aggiornamento und „Zeichen der Zeit“. Zu den Konzilsprojekten von Johannes XXIII. und Paul VI., in: Gotthard Fuchs/Andreas Lienkamp (Hg.), Visionen des Konzils. 30 Jahre Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“, Münster 1997, 27–50, hier 34f.; Knut Wenzel, Kleine Geschichte des II. Vatikanischen Konzils, Freiburg i. Br. 2005, 16. 13 Friedrich Oberkofler, An den Wurzeln des Glaubens Gott, sich und die Welt finden. Kardinal Giacomo Lercaro (1891–1976). Leben, Werk, Bedeutung, Würzburg 2003, 117. 14 Bernhard Bleyer, Das Sakrament Christi: die Armen. Die Predigt Pauls VI. in San José de Mosquera (23. August 1968), in: Günter Prüller-Jagenteufel/Hans Horn/Franz Helm/Christian Tauchner (Hg.), Theologie der Befreiung im Wandel. Revisionen – Ansätze – Zukunftsperspektiven, Aachen 2010, 205–217, hier 211f.
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New York zugerufen: „Jamais plus la guerre! Niemals wieder Krieg!“15 Gerechtigkeit und Frieden waren für ihn Ecksteine des Auftrags der Kirche. Am 6. Januar 1967, dem Fest der „Epiphanie“, Erscheinung des Herrn, errichtete er die päpstliche Kommission „Justitia et Pax“.16 Am Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember 1976, erhielt sie noch unter seinem Pontifikat definitive Strukturen. Papst Johannes Paul II. wandelte sie am 28. Juni 1988 in einen Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden um. Ihre Aufgabe ist es, auf den Fortschritt von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt gemäß dem Evangelium zu achten und die Soziallehre der Kirche zu verbreiten. Sie sammelt Nachrichten über die Verletzungen der Menschenrechte und arbeitet mit Organisationen und Verbänden zusammen, die sich auch außerhalb der Kirche der Förderung von Gerechtigkeit und Frieden und dem Schutz der Menschenrechte widmen. Die Gründung der Päpstlichen Kommission „Justitia et Pax“ durch Papst Paul VI. gab 1967 zusammen mit der Enzyklika „Populorum progressio“ den Impuls zur Bildung von heute achtzig weltweit tätigen derartigen Kommissionen, darunter solche in fast allen Ländern Lateinamerikas. In den siebziger Jahren herrschten in weiten Teilen Lateinamerikas autoritäre Regime und Militärdiktaturen. Deren Verbrechen hat sich die katholische Kirche überall dort entgegengestellt, wo sie sich durch besondere Nähe zum Volk und durch soziale Sensibilisierung auszeichnete. Diözesen, Kirchengemeinden und Einrichtungen der Orden fungierten als Schutzräume für bedrohte zivilgesellschaftliche Gruppen; sie setzten sich dabei oft selbst der Verfolgung aus. In vielen Fällen konnte die Kirche mäßigend auf die militärischen Machthaber einwirken. Bei der Rückkehr zur Demokratie trug sie zur Aufklärung der Verbrechen der Unrechtsregime bei. Herausragend war etwa die Wahrheitskommission der Erzdiözese São Paulo, die noch in der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur von August 1979 bis März 1985 bei absoluter Geheimhaltung an der Erfassung der seit 1964 im Land begangenen Menschenrechtsverletzungen arbeitete und schließlich einen mehr als 5.000 Seiten umfassenden Bericht vorlegte, den Paulo Evaristo Kardinal Arns und der presbyterianische Pastor Jaime Wright herausgaben.17 Aus einer Fülle von weiteren Beispielen – man könnte mit dem Hebräerbrief (12,1) von einer Wolke von Zeugen sprechen – sollen im 15 Jean-Marie Mayeur, Das Papsttum nach dem Konzil, in: Ders. (Hg.), Die Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur. Bd. 13: Krisen und Erneuerung (1958–2000), Freiburg i. Br. u.a. 2002, 108–130, hier 111. 16 Hebblethwaite, Paul VI. (wie Anm. 6), 435–440 und 478f. Ebenfalls am 6. Januar 1967 errichtete Paul VI. auch den Laienrat an der Römischen Kurie (Consilium de Laicis). Besonders lag ihm, gerade angesichts des Vietnamkrieges, an der Einführung des Weltfriedenstages; dieser wurde erstmals am 1. Januar 1968 begangen. 17 Eine Synthese wurde im Sommer 1985 als Buch veröffentlicht: Brasil – Nunca mais. Um relato para a História. Prefacio de D. Paulo Evaristo Cardeal Arns, Petrópolis 1985.
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folgenden zwei Personen herausgegriffen werden, die sich für Menschenrechte und Frieden in ihren kleinen zentralamerikanischen Heimatländern Guatemala und El Salvador eingesetzt haben, Juan Gerardi Conedera und María Julia Hernández Chavarría.
Gewalt und Aufarbeitung der Gewalt in Guatemala – das Engagement des Bischofs Juan Gerardi Conedera Juan Gerardi Conedera stammte aus Guatemala-Stadt, wurde 1946 zum Priester geweiht, war Generalvikar der Erzdiözese und wurde 1967 zum Bischof der Hochlanddiözese La Verapaz ernannt. Er begann damit, Laien am kirchlichen Leben zu beteiligen, das Q´echi´ als liturgische Sprache zu verwenden und in den Pfarreien Gesundheitsdienste, landwirtschaftliche Beratung und Bildungsarbeit zu fördern. Die Indianer „lebten unter Bedingungen, die oft untermenschlich waren, unter dem Regiment der Marginalisierung und Ausbeutung, mit höchsten Analphabetismuszahlen und Hungerlöhnen. Diese Situation bewegte unser Gewissen stark, und in einem mutigen Entschluss entschieden wir uns als Diözese, eine Option für die Indianer zu treffen, die Ärmsten unter den Armen. […] Mein ganzes späteres Handeln bestand nur noch darin, diese Option zu verwirklichen.“18 1974 wurde Gerardi zum Bischof der Nachbardiözese Quiché ernannt, blieb aber als Administrator auch für Verapaz zuständig. In dieser erst 1967 errichteten Diözese hatten die Herz-Jesu-Missionare seit den vierziger Jahren planmäßig die Katholische Aktion gefördert, die hier 80.000 Mitglieder zählte.19 Vielerorts gab es Spar- und Kreditgenossenschaften; das kirchliche Radio strahlte Programme zur Alphabetisierung und religiösen Erziehung aus. 3.600 Katecheten hielten in den Gemeinden Bibelkurse und Werkwochen in Katholischer Soziallehre. Dadurch war die Fähigkeit der Einheimischen gewachsen, sich in das politische Geschehen einzuschalten. Als Gerardi die Diözese übernahm, war bereits das Bewusstsein der Indianer erwacht, gerechte Löhne und gerechte Dienstleistungen zu verlangen. Die zunächst selektive und subtile Unterdrückung der Katholischen Aktion durch den Gouverneur und das Militär nahm rasch massive Formen an. Gewalt und Menschenrechtsver18 Stefan Herbst, „Gerechtigkeit angesichts der offensichtlichen Verletzungen der grundlegendsten Menschenrechte fordern.“ Juan Gerardi Conedera (1922–1998), Bischof in Guatemala, in: Johannes Meier (Hg.), Die Armen zuerst! 12 Lebensbilder lateinamerikanischer Bischöfe, Mainz 1999, 158–174, hier 161f. 19 Silvia Brennwald, Die Kirche und der Maya-Katholizismus. Die Katholische Kirche und die indianischen Dorfgemeinschaften in Guatemala 1750–1821 und 1945–1970, Stuttgart 2001, 146–240.
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letzungen, besonders durch paramilitärische Gruppen, wuchsen. Einige Priester stellten sich an die Spitze der sozialen Bewegungen. Der Bischof prangerte die Übergriffe des Militärs öffentlich an. Nach dem Massaker von Panzos, wo am 29. März 1978 über hundert friedlich demonstrierende Q´echi´-Indianer ermordet worden waren, erklärte er, die Angst der Mächtigen vor dem Bewusstsein der einfachen und besitzlosen Bevölkerung über ihre Rechte als Menschen und Kinder Gottes sei der tiefste Grund der Gewaltspirale.20 Im Jahr 1980 spitzte sich die Lage zu. Mehrere Pfarrer wurden ermordet, andere verließen wegen Todesdrohungen ihre Stellen. Am 19. Juli scheiterte ein Attentatsversuch auf Bischof Gerardi, weil dieser vorher gewarnt worden war. Gemeinsam mit den verbliebenen pastoralen Mitarbeitern entschloss sich der Bischof, da die staatlichen Behörden keinerlei Garantien des Respektes und für die physische Integrität der pastoralen Mitarbeiter geben wollten, um nicht noch mehr Leben aufs Spiel zu setzen, zu einem vorübergehenden Rückzug aus der Diözese Quiché. Bischof Gerardi reiste nach Rom und erläuterte Papst Johannes Paul II. die Entwicklung. Bei der Rückkehr verweigerte man ihm die Einreise nach Guatemala. Zwei Jahre Exil in Mexiko und Costa Rica waren die Folge.21 1982 konnte Gerardi nach Guatemala zurückkehren, wo er ab 1984 als Weihbischof in Guatemala-Stadt an der Seite von Erzbischof Prospero Peñados del Barrio arbeitete. Drei Berufungen prägten fortan sein Leben: die Verteidigung der Menschenrechte, die soziale Pastoral und der Dienst am Frieden und der Versöhnung. Versöhnung war sein Projekt, aber nicht um den Preis der Wahrheit und Gerechtigkeit, um den Preis des Vergessens, wie es Militärs und Machthabern vorschwebte. In der Erzdiözese übernahm Gerardi die Verantwortung für die Caritas und die Sozialpastoral. Den Übergang von der Militärdiktatur zu einer zivilen Regierung begleitete er mit großer Aufmerksamkeit; die Räume der Zivilgesellschaft und der Kirche wollte er nach der Zeit der Verfolgung wieder ausweiten. Die erste Zivilregierung unter Vinicio Cerezo (ab 1986) maß er an der Einhaltung der Menschenrechte. Am 20. Februar 1991 zog er vor der UN-Menschenrechtskommission in Genf sehr kritisch Bilanz. Als endlich 1994 Friedensverhandlungen zwischen Militärs und Guerilla begannen, spielte 20 Herbst, „Gerechtigkeit“ (wie Anm. 18), 164. 21 Zur damaligen Lage in Guatemala: Johannes Meier, Selig die hungern nach Gerechtigkeit. Aus dem Leben der Kirche in Mittelamerika, Würzburg 1981, 9–36; Informationsstelle Guatemala (Hg.), … und sie fordern nur das Land und ihr Leben. Ein Interview mit zwei Priestern der „Guatemaltekischen Kirche im Exil“. Mit einem Nachwort von Dorothee Sölle, München 1981; Elisabeth Burgos, Rigoberta Menchú. Leben in Guatemala, Bornheim 1984; Erich Hackl, Das Herz des Himmels. Vom Leiden der Indios in Guatemala, Wien u.a. 1985.
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Gerardi dabei eine wichtige und konstruktive Rolle. Im März 1996 kam es endlich zu einer Übereinkunft, die Guatemala Frieden brachte. Seit 1994 leitete Bischof Gerardi das von der Bischofskonferenz getragene Projekt „Recuperación de la Memoria Histórica“, Wiedererlangung der historischen Erinnerung. Dessen Ziel war es, die Opfer zum Erzählen der Ereignisse zu bringen und so zur Versöhnung beizutragen, Heilung also nicht von Vergessen und Verdrängen zu erwarten, sondern durch Aufdecken und Verarbeiten der Wunden anzustreben. „Wir glauben, daß wir nur auf diese Weise den Frieden festigen können. Deswegen bitten wir […] alle, die die Wahrheit fürchten, daß sie ihren Verstand und ihr Herz für ein besseres Guatemala öffnen, damit sie in einem Sinn der Bekehrung den Schritt zur Anerkennung der Schuld machen können, um so die Vergebung der Opfer und der Gesellschaft zu erlangen. Nur auf diese Weise können wir uns vollständig versöhnen. Die Wahrheit ist also unverzichtbar […]. Die Wahrheit und die Gerechtigkeit sind, im Licht des Evangeliums betrachtet, nicht Synonyme der Rache. Sie sind vielmehr das Öffnen von Wegen für eine Zukunft des Friedens und der Hoffnung. Das bedeutet, die Kultur der Angst, die unsere guatemaltekischen Geschwister bedrückt, auszulöschen.“22 Rund 800 Personen brachten landesweit 6.500 Opfer der Gewalt zum Sprechen; 50.000 Menschenrechtsverletzungen wurden in einem vierbändigen Bericht dokumentiert. Unter dem Titel „Guatemala, nunca más“ stellte ihn Bischof Gerardi am Freitag, 24. April 1998, in der Kathedrale von Guatemala-Stadt der Öffentlichkeit vor. Der Präsident des Landes, der Verteidigungsminister, Bischöfe, Nicht-Regierungsorganisationen und vor allem Hunderte von betroffenen Indígenas wohnten diesem öffentlichen Akt der Wahrheit und Versöhnung bei. Zwei Tage später wurde Bischof Gerardi, als er von einem Besuch bei Verwandten sonntagabends heimkehrte, in seiner Garage von einem nicht identifizierten Mann feige und brutal ermordet. Dieser Mord wurde nie voll aufgeklärt. Zwar wurden drei mutmaßliche Täter und ein Priester als „Komplize“ verurteilt. Die Auftraggeber aber, die man in den Reihen des Militärs vermutet, sind offiziell nicht bekannt. Der Priester und zwei Militärs büßen Gefängnisstrafen ab, der dritte wurde im Gefängnis ermordet.23 In der Kathedrale zwei Tage zuvor hatte Gerardi gesagt: „Wir möchten einen Beitrag leisten zum Aufbau eines anderen Guatemala […]. Dies ist ein Weg, der voller Risiken war und ist. Aber der Aufbau des Gottesreiches birgt Risiken. Und nur die, die Kraft haben, diese Risiken zu tragen, können daran
22 Herbst, „Gerechtigkeit“ (wie Anm. 18), 169f. 23 Maria-Christine Zauzich, Guatemala, in: Meier/Strassner, Kirche (wie Anm. 6), 111– 132, hier 129f.
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bauen.“ Juan Gerardi war bereit, diese Risiken zu tragen. Er war jemand, der es erschwert hat, dass die Taten der Vergangenheit nochmals geschehen.24
María Julia Hernández Chavarría und der Rechtshilfedienst des Erzbistums San Salvador Die 1939 geborene María Julia Hernández Chavarría wuchs in einer streng katholischen, relativ wohlhabenden Familie in San Salvador auf. Sie besuchte eine von Schwestern geleitete Mädchenschule in ihrer Heimatstadt und studierte nach dem Abitur zunächst Anglistik in Kansas (USA) und dann Theologie in Spanien. Nach jahrelangen Überlegungen entschied sie sich gegen ein Leben als Ordensfrau und studierte seit 1970 an der Zentralamerikanischen Universität der Jesuiten in San Salvador Philosophie, unter anderen bei Ignacio Ellacuría. Nach dem Magisterexamen 1974 wurde sie Lehrbeauftragte für philosophische Einführungskurse an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der staatlichen Nationaluniversität in San Salvador und Religionslehrerin an ihrer ehemaligen Schule. In diesen Jahren eskalierte in El Salvador die Repression des Staates gegen die wachsenden zivilgesellschaftlichen Organisationen von Arbeitern, Bauern, Gewerkschaftern und Studenten.25 Ihre Berufung fand María Julia während des Requiems, das der erst kurz zuvor eingeführte Erzbischof Oscar Arnulfo Romero im März 1977 für den von der Oligarchie ermordeten Jesuitenpater Rutilio Grande halten musste: „Helft mir, in diesen schrecklichen Momenten als Euer Bischof an Eurer Seite zu stehen! Helft mir, das Richtige zu tun! Helft mir für mehr Menschlichkeit und Gerechtigkeit in El Salvador!“ María Julia übernahm freiwillig Büroarbeiten im Ordinariat; aus freien Stücken begann sie, die Predigten Romeros aufzunehmen und zu verschriftlichen. Romero wurde seit dem Mord an Rutilio Grande zu einer mutigen und klaren, für die Machthaber unbequemen Stimme der armen und rechtlosen Bevölkerung des Landes; seine Predigten wurden, Sonntag für Sonntag vom katholischen Radio übertragen, landesweit gehört. María Julia gelang es, Romero unter Verweis auf die vielen Anfragen aus dem In- und Ausland nach den Texten seiner Ansprachen von der Notwendigkeit einer Veröf-
24 Herbst, „Gerechtigkeit“ (wie Anm. 18), 173. 25 Johannes Meier, Die Kirche, der Bischof Romero diente: Das Erzbistum San Salvador, in: Giancarlo Collet/Justin Rechsteiner (Hg.), Vergessen heißt verraten. Erinnerungen an Oscar A. Romero zum 10. Todestag, Wuppertal 1990, 17–30, hier 21–27.
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fentlichung zu überzeugen. Dass die nur dreijährige Amtszeit Romeros so gut dokumentiert ist, ist auch ihr Verdienst.26 Romero wurde am Montag, dem 24. März 1980, ermordet. Als bei der Trauerfeier am folgenden Sonntag auf dem Vorplatz der Kathedrale von den umliegenden Dächern, auch dem des Regierungspalastes, in die Trauergemeinde geschossen wurde und Panik die Menge ergriff, die in die Kathedrale flüchtete, weil die angrenzenden Straßen abgeriegelt waren, verharrte María Julia Hernández Chavarría am Sarg Romeros und trug ihn mit drei Seminaristen in das völlig überfüllte Gotteshaus. Damals begann in El Salvador der zwölfjährige Bürgerkrieg. Romeros Nachfolger, Bischof Arturo Rivera y Damas, der zunächst drei Jahre Administrator war, ehe er zum Erzbischof ernannt wurde, richtete 1982 im Ordinariat eine Rechtsschutzstelle ein, die „Tutela Legal“. Die einfache Bevölkerung, die sich keinen Anwalt leisten konnte und deren Rechte mit Füßen getreten wurden, sollte unter dem Dach der Kirche Rechtsbeistand finden. Ähnliches hatten die Jesuiten bereits mit ihrem „Socorro Jurídico“ begonnen.27 Nun übernahm María Julia Hernández den Erzbischöflichen Rechtshilfedienst. Diese Arbeit hat sie 25 Jahre bis zu ihrem Tod im März 2007 ausgeübt. Oft übernachtete sie in ihrem Büro, um keine Arbeitszeit zu verlieren. Ihre Familie verließ in diesen Jahren des beginnenden Bürgerkriegs El Salvador und wanderte nach Kanada aus. Sie blieb ihrer Heimat treu. Nur zu Weihnachten besuchte sie alljährlich Eltern und Geschwister in Kanada. Aber sonst lautete ihre Option: Einsatz für Dialog, Frieden und Menschenrechte in El Salvador. Ihre Kraftquellen waren ein tiefer Glaube, die Liebe zu ihrem Volk und ihr Gerechtigkeitsempfinden. In jedem ermordeten Menschen, in jedem sinnlos leidenden Kind, in jedem in Elend sterbenden Alten oder Flüchtling sah sie das Antlitz des gekreuzigten Gottes. Auf den unterschiedlichsten Ebenen kämpfte sie gegen das Unrecht. In den Botschaften Australiens, Kanadas, Schwedens und anderer europäischer Länder setzte sie sich dafür ein, salvadorianischen Kriegsflüchtlingen Asyl zu gewähren. Hartnäckig arbeitete sie an der Aufklärung der scheußlichen Massaker von El Sumpul und El Mozote, wo das von US-Militärberatern ausgebildete Spezialbataillon Atlacatl auf der Suche nach Stützpunkten der Guerilla „FMLN“ Hunderte von Kindern, Frauen und alten 26 Ulrike Purrer Guardado, „Eines Tages werden Wahrheit und Gerechtigkeit in unserem Land blühen.“ María Julia Hernández Chavarría (1939–2007), Menschenrechtlerin in El Salvador, in: Annegret Langenhorst/Johannes Meier/Susanne Reick (Hg.), Mit Leidenschaft leben und glauben. 12 starke Frauen Lateinamerikas, Wuppertal 2010, 115–136, hier 118. 27 Arturo Rivera Damas (Bearb.), El Salvador: Der Aufschrei eines Volkes. Ein Bericht der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador. Bd. 16, Mainz/München 1984, 113.
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Leuten ermordet hatte (1980/81). Unter widrigsten Bedingungen dokumentierte sie die Hergänge und kämpfte für die Hinterbliebenen der Opfer, die sich danach sehnten, ihre Verwandten wenigstens würdig beerdigen zu können. Mit Hilfe argentinischer Gerichtsmediziner wurde das Personal von „Tutela Legal“ fortgebildet; die unschuldigen, von der Regierung und den Streitkräften geleugneten Toten konnten aus den Massengräbern geborgen und ihnen ein Stück Menschenwürde zurückgegeben werden. Ihre vielleicht schwerste Stunde fiel auf den Morgen des 16. November 1989. Mit Erzbischof Rivera y Damas stand sie auf dem Campus der Zentralamerikanischen Universität vor den grausam zugerichteten Körpern sechs ermordeter Jesuiten, darunter ihres Lehrers Ignacio Ellacuría, und der beiden Frauen, die ihnen den Haushalt führten. Gegen die totale Ohnmacht, die sie beschlich, gab ihr das Wort des Erzbischofs Kraft: „María Julia, du musst diesen Fall aufklären!“ Man betete gemeinsam, und dann sammelte sie die herumliegenden Patronenhülsen als Beweismittel ein. Zwei Wochen arbeitete sie Tag und Nacht – gegen vielfältigen Widerstand von Staat und Militär – und legte dann einen zwanzigseitigen Bericht vor, der die Streitkräfte für die Ermordung verantwortlich machte. Erzbischof Rivera y Damas trug ihre Untersuchungsergebnisse in der folgenden Sonntagspredigt öffentlich vor. Der Erzbischof, Romeros Nachfolger, arbeitete unentwegt auf den Frieden hin; er wollte keiner der beiden Konfliktparteien zum Sieg, sondern dem salvadorianischen Volk zu einem nachhaltigen, auf Gerechtigkeit beruhenden Frieden verhelfen.28 María Julia Hernández stand in Kontakt zu den Guerillaführern und begleitete diese mehrfach zu den Friedensgesprächen, jedoch einzig um sicherzustellen, dass sie den Ort der Verhandlungen unversehrt erreichten und auch wieder verlassen konnten. Das tat sie als Frau der Kirche. Und weiter erarbeitete sie Woche für Woche einen Bericht über die Situation der Menschenrechte im Land; stets verteidigte sie die Schwachen. 1992 konnten die Friedensverträge unterzeichnet werden. Im Anschluss daran dokumentierte eine von der UNO eingesetzte Wahrheitskommission die im Bürgerkrieg begangenen schweren Gewalttaten. Der Bericht enthielt 22.000 Anzeigen von Mord, Hinrichtungen und Folterungen. Er fußte in großen Teilen auf den Arbeiten von „Tutela Legal“. UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali hatte María Julia Hernández als Ehrengast der Präsentation nach New York eingeladen. Wenige Tage darauf erließ die Regierung von Präsident Alfredo Cristiani ein Amnestiegesetz, das die Strafverfolgung der Täter der von der Wahrheitskommission dokumentierten Verbrechen verhinderte. 1994 starb Erzbischof Rivera y Damas. Sein Nachfolger Sáenz Lacalle, ein Spanier und 28 Johannes Meier, El Salvador, in: Meier/Strassner, Kirche (wie Anm. 3), 133–153.
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Mitglied des Opus Dei, knüpfte zwar kaum an die Arbeit seines Vorgängers an, erhielt die Arbeit von „Tutela Legal“ jedoch aufrecht. Deren Schwerpunkt wurde jetzt die Aufklärung der einfachen Bevölkerung über ihre grundlegenden Menschenrechte. In fast allen Gemeinden des Landes hielt María Julia Hernández Kurse über sie. Mit ihrem Team gab sie ein Heft heraus, wo auf jeweils einer Seite alle dreißig Menschenrechtsartikel von 1948 zitiert, verständlich kommentiert und durch zwei oder drei Fragen sowie Anregungen für Gruppenarbeiten und Reflexionen erschlossen werden; den Abschluss bildet jeweils ein biblisches Zitat und eine bildliche Darstellung im Stil der Volkskunst.29 Zu nennen ist auch noch ihr langjähriger Einsatz für ein Mahnmal mit den Namen der Opfer und Verschwundenen des Bürgerkriegs, das im Dezember 2003 eingeweiht wurde. Am 15. November 2004, dem 15. Jahrestag der Ermordung der Jesuiten, erhielt María Julia Hernández Chavarría die Ehrendoktorwürde der Zentralamerikanischen Universität. In ihrer Ansprache sagte sie: „Das Wissen eines Volkes um die Geschichte seiner Unterdrückung gehört zu seinem Erbe. Es hat zum Ziel, die kollektive Erinnerung vor dem Vergessen zu bewahren. Die Ausübung dieses Rechtes auf Wahrheit und Gerechtigkeit ist grundlegend, wenn wir in Zukunft verhindern wollen, dass sich derartige Dinge wiederholen.“30 Im Jahre 2006 erkrankte María Julia Hernández Chavarría. Sie starb am 30. März 2007. Nicht mehr erlebt hat sie den politischen Wandel des Jahres 2009, der endlich ermöglicht, dass Verbrechen wie der Mord an Erzbischof Romero nun auch vor den Gerichten El Salvadors verhandelt und abgeurteilt werden. Doch der Samen ihrer 25-jährigen intensiven Menschenrechtsarbeit ist in unseren Tagen aufgegangen.31
29 Oficina de Tutela Legal del Arzobispado, Declaración Universal de Derechos Humanos, San Salvador 1994. 30 Purrer Guardado, „Eines Tages“ (wie Anm. 26), 133f. 31 Zur heutigen Menschenrechtsarbeit der Erzdiözese vgl. Gaby Herzog, Die geheime Fabrik. Das Menschenrechtsbüro der Erzdiözese San Salvador kämpft für die Durchsetzung von Menschenrechten, in: Bernd Klaschka (Hg.), Laien in der Pastoral. Zeugen des Glaubens in Lateinamerika: Kontinent der Hoffnung 30 (2010), 46–51.
Autorenverzeichnis Roberto Blancarte ist Professor am „Colegio de México“. [email protected] Lucia Ceci ist Dr. phil. und Mitarbeiterin der „Università degli Studi“ in Rom. [email protected] Carlos Collado Seidel ist Dr. phil und Privatdozent am „Seminar für Romanische Philologie“ in Göttingen. [email protected] Vicente Durán Casas S.J. ist Mitarbeiter der „Facultad de Filosofía“ der „Universidad Javeriana“ in Bogotá. [email protected] Silke Hensel ist Professorin am Historischen Seminar der „Westfälischen Wilhelms-Universität“ in Münster. [email protected] Michael Kißener ist Professor am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften an der „Johannes Gutenberg-Universität“ in Mainz. [email protected] Norbert Köster ist Dr. theol. und Akademischer Oberrat am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der „Westfälischen Wilhelms-Universität“ in Münster. [email protected] Daniel H. Levine ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der „University of Michigan“ in Ann Arbor. [email protected] Andreas Linsenmann ist Dr. phil. und Mitarbeiter am Fachbereich Geschichtsund Kulturwissenschaften der „Johannes Gutenberg-Universität“ in Mainz. [email protected] Fortunato Mallimaci ist Präsident der „Facoltà di Scienze Sociali“ der „Università di Buenos Aires“ in Argentinien. [email protected] Johannes Meier ist Professor am Seminar für Kirchengeschichte der „Johannes Gutenberg-Universität“ in Mainz. [email protected] Leo O’Donovan S.J. ist ehemaliger Präsident der „Georgetown University“ in Washington DC. [email protected] Laura Pettinaroli ist Dr. phil. und Mitarbeiterin des „Institut catholique“ in Paris. [email protected]
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Autorenverzeichnis
Stephan Ruderer ist Dr. phil und Mitarbeiter am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der „Westfälischen Wilhelms-Universität“ in Münster. [email protected] Antje Schnoor ist Mitarbeiterin am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der „Westfälischen Wilhelms-Universität“ in Münster. [email protected] Hubert Wolf ist Professor am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der „Westfälischen Wilhelms-Universität“ in Münster. [email protected] Gianmaria Zamagni ist Dr. phil und Mitarbeiter am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der „Westfälischen Wilhelms-Universität“ in Münster. [email protected]
Peer Schmidt / Sebastian Dorsch / Hedwig Herold-Schmidt (Hg.)
Religiosidad y Clero en América L atina – Religiosity and Clergy in L atin America (1767–1850) L a época de l as Revoluciones Atl ánticas – The Age of the Atl antic Revolutions (L ateinamerik anische Forschungen, Band 40)
Religión, clero y sociedad experimentaron un cambio profundo durante la Época de las Revoluciones Atlánticas. En la Independencia de América Latina probablemente ninguna otra agrupación sufrió un impacto tan directo y profundo en su ubicación social como el clero católico. Este volumen, resultado de un congreso internacional en Gotha/Alemania en 2008, recoge las investigaciones más recientes sobre el papel del clero y la importancia de la religiosidad durante la descolonización latinoamericana considerada sobre todo como parte de un proceso de más larga duración o »tránsito a la modernidad« (1767–1850). A partir de esta perspectiva se consideran los cambios de mentalidad y la consecuente transformación paulatina de la religiosidad. Religion, clergy and society experienced profound changes in the Age of the Atlantic Revolutions. No other part of society was more intensely affected by the independence of Latin America than the catholic clergy. The volume, result of an international conference in Gotha/Germany in 2008, presents the findings of recent investigations into the role of clergy, clerical culture, and religious mentality in the longue durée of decolonization (1767–1850). 2011. 376 S. 12 farb. Abb. Gb. 150 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20749-6
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
Bernd Oberdorfer / Peter Waldmann (Hg.)
Machtfaktor Religion Formen religiöser Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft
Wie definieren Religionen ihre Stellung in Staat und Gesellschaft? Wie üben religiöse Institutionen und Funktionsträger weltlichen Einfluss aus? Und wie wirkt dies auf das geistliche Selbstverständnis von Religionsgemeinschaften zurück? In Fallstudien aus Geschichte und Gegenwart untersuchen die Autor/innen dieses Bandes den Einfluss der Religionen auf das politisch-gesellschaftliche Leben. Der Schwerpunkt liegt auf dem Christentum, vergleichend werden jedoch Studien zu Islam und Judentum hinzugezogen. Die interdisziplinär angelegten Beiträge verbinden dabei religions-, sozial- und geschichtswissenschaftliche »Außensichten« mit einer theologischen »Innensicht«. Das thematische Spektrum reicht vom Christentum in der Spätantike bis zu den Kirchen in der modernen deutschen Gesellschaft. Betrachtet werden unter anderem die Rolle von Einzelgestalten wie Billy Graham und Ian Paisley, die Einwirkung der Kirchen auf gesellschaftliche Transformationsprozesse in Südamerika und Südafrika oder die Macht jüdisch-orthodoxer Parteien in Israel und schiitischer Geistlicher im Iran. 2012. VIII, 264 S. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20826-4
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
L ateinamerik anische Forschungen Beihef te zum Jahrbuch für Geschichte Lateinamerik as Herausgegeben von Thomas Duve, Silke Hensel, Ulrich Mücke, Renate Pieper und Barbara Potthast Eine Auswahl
Bd. 40 | Peer Schmidt, Sebastian Dorsch, Hedwig Herold-Schmidt (Hg.)
Bd. 35 | Margarita Gómez Gómez
Religiosidad y Clero en América
El sello y registro de Indias
Latina – Religios ity and Clergy in
Imagen y representación
Latin America (1767–1850)
2008. 373 S. 18 s/w-Abb. Gb.
La época de las Revoluciones
ISBN 978-3-412-20229-3
Atlánticas – The Age of the Atlantic Revolutions
Bd. 36 | Hans Werner Tobler,
2011. 376 S. 12 farb. Abb. Gb.
Peter Waldmann (Hg.)
ISBN 978-3-412-20749-6
Lateinamerika und die USA im »langen« 19. Jahrh undert
Bd. 41 | Werner Stangl
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Zwischen Authentizität
2009. 310 S. Gb. | ISBN 978-3-412-20428-0
und Fiktion Die private Korrespondenz
Bd. 37 | Sebastian Dorsch
spanischer Emigranten aus
Verfassungskultur in
Amerika, 1492–1824
Michoacán (Mexiko)
2012. 583 S. 3 s/w-Karten. 6 s/w-Abb.
Ringen um Ordnung und
Gb. | ISBN 978-3-412-20887-5
Souveränität im Zeitalter der Atlantischen Revolutionen
Bd. 42 | Jens Streckert
2010. XIV, 634 S. 9 s/w-Abb. Gb.
Die Hauptstadt Lateinamerikas
ISBN 978-3-412-20632-1
Eine Geschichte der Latein amerikaner im Paris der Dritten
Bd. 38 | Oliver Gliech
Republik (1870–1940)
Saint-Domingue und die
2012. 340 S. 5 s/w Abb. Gb.
Französische Revolution
ISBN 978-3-412-21049-6
Das Ende der weiSSen Herrschaft in einer karibischen Plantagen
Bd. 43 | Debora Gerstenberger
wirtschaft
Gouvernementalität im Zeichen
2011. XIV, 554 S. Gb.
der globalen Krise
ISBN 978-3-412-20679-6
Der Transfer des portugiesischen Königshofes nach Brasilien
Bd. 39 | Sebastian Chávez Wurm
2013. Ca. 448 S. 5 s/w-Abb. Gb.
Der Leuchtende Pfad in
ISBN 978-3-412-22156-0
Peru (1970–1993) Erfolgsbedingungen eines revolutionären Projekts
RB081
2011. 297 S. Gb. | ISBN 978-3-412-20720-5
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