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German Pages 276 Year 2014
Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hg.), in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes Die interkulturelle Familie
Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft hrsg. v. Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg | Band 2
Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.
Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hg.), in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes
Die interkulturelle Familie Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven
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Inhalt I. E INLEITUNG Familie, Familiennarrative und Interkulturalität. Eine Einleitung Michaela Holdenried | 11
II. I NTERKULTURELLE F AMILIENKONSTELL ATIONEN AUS PSYCHOLOGISCHER UND SOZIOLOGISCHER
P ERSPEK TIVE
Familie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Von der selbstverständlichen Matrix zum Balanceakt Heiner Keupp | 27
Verschwindet die Familie? Eine soziologische Bestandsaufnahme Sylka Scholz | 45
Migration – Zerreißprobe oder Stärkung des Familienzusammenhalts? Überlegungen anhand von zwei empirischen Studien zu Familienplanung und Migration im Lebenslauf Cornelia Helfferich | 63
III. I NTERKULTURELLE F AMILIENKONSTELL ATIONEN IN L ITERATUR UND F ILM DER G EGENWART Eine Position des Dritten? Der interkulturelle Familienroman Selam Berlin von Yadé Kara Michaela Holdenried | 89
Interkulturelle Familienkonstellationen in Literatur und Film. Beispiele aus dem türkisch-griechisch-deutschen Kontext Aglaia Blioumi | 107
»Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett«. Die Familie in literarischen Texten russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren Weertje Willms | 121
Familiengedächtnis und jüdische Identität. Die Romane Familienfest von Anna Mitgutsch und Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur von Vladimir Vertlib Monika Riedel | 143
Die heilende Familie? Interkulturelle Familienmodelle als Versöhnungsutopien und Strategien der Verortung in Amos Oz’ autobiographischem Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis und Eytan Fox’ Film Walk on Water Lena Ekelund | 157
Die Emanzipation der Subalternen. Monica Alis interkultureller Familienroman Brick Lane Jutta Weingarten | 177
IV. H ISTORISCHE P ERSPEK TIVEN AUF INTERKULTURELLE F AMILIENKONSTELL ATIONEN IN DER L ITERATUR Der fremde Sohn. Hybridität und Gesellschaftskritik in J.M.R. Lenz’ interkulturellem ›Familiendrama‹ Der neue Menoza Stefan Hermes | 197
Schiffbruch und Liebestod. Literarische Phantasien vom Scheitern interkultureller Beziehungen im frühen 20. Jahrhundert Ulrike Stamm | 215
Familien auf der Flucht. Residualkonstellationen in Erzählungen von Flucht und Vertreibung seit dem Zweiten Weltkrieg Sigrid Nieberle | 233
V. Z USAMMENFASSUNG UND D ISKUSSION Interkulturelle Familienkonstellationen aus literaturund sozialwissenschaftlicher Perspektive. Zusammenfassung und Diskussion Weertje Willms | 257
Kurzbiographien der AutorInnen | 271
I. Einleitung
Familie, Familiennarrative und Interkulturalität Eine Einleitung Michaela Holdenried
1. F AMILIE UND INTERKULTURELLER K ONTE X T Der Familie als scheinbar »selbstverständlichste[r] Form gesellschaftlicher Nahwelt«1 wurde in den letzten Jahren erhöhte Aufmerksamkeit zuteil: ein untrügliches Zeichen zumindest für den Wandel dieser Keimzelle (westlicher) Soziabilität, was ihre Funktion, Wirkmächtigkeit und (Neu-)Konstellation angeht, wenn nicht gar für den von den medialen Diskursen unterstellten Funktionsverlust als gesellschaftliche Instanz in toto. Demographischer Wandel wird in olusculäre Termini gefasst, an die Stelle der Tomaten- rückt die Bohnenstangenfamilie (bean pole family nach Vern Bengtson). Die Mechanismen der De- und Rekonstruktion familialer Zusammengehörigkeiten im Zeichen postmoderner Beliebigkeit – und steigender Scheidungsraten – werden in Begriffe gekleidet, die einen Verlust anzeigen: Der quantitativ sich ausweitenden Single-Existenz (zumindest in den Metropolen) steht eine, wie auch immer geflickte, Patchworkfamilie gegenüber; von der Großfamilie scheint keine Rede mehr zu sein, die Kern- oder eher Schrumpffamilie bildet schon namentlich einen defizitären Zustand ab. Die Familie ist ins Gerede gekommen als Ort der Gewalt, des Missbrauchs und einer weitgehenden Fehlfunktion als Bildungsträger. Positive Funktionen der Familie, die ebenfalls periodisch aufgerufen wer1 | Thomas Martinec und Claudia Nitschke: »Vorwort«, in: Dies. (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 9-14, hier S. 9.
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den, scheinen durch solch mediale Überrepräsentanz des Mangelhaften verdeckt zu werden. Wie aber verhalten sich diese und andere medial verbreitete Einschätzungen über den schwindenden Stellenwert der Familie zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik? Eine Beschäftigung mit der Familie und ihren sich ja seit jeher in Veränderung befindlichen Konstellationen – diachron in Bezug auf die Stellung der Generationen zueinander, synchron in Bezug auf das Verhältnis von Individuum und Familie, was Modi der Identitätsformung,2 die Mechanismen der familiären Transmission (oder Infragestellung) gesellschaftlich akzeptierter Genderparadigmen angeht – muss in einer Zusammenschau der Ergebnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen wie der Soziologie und der Psychologie zunächst einmal die empirischen Grundlagen sichern. Auch aus diesem Grund haben wir unseren Band, der aus der im Oktober 2010 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg abgehaltenen Tagung »Familienkonstellationen aus interkultureller Perspektive« hervorgegangen ist, breiter interdisziplinär angelegt als andere Publikationen der letzten Jahre, die sich ausschließlich der Literatur widmen.3 Dies erwies sich deshalb als fruchtbares Unternehmen, weil bestimmte Vorannahmen – insbesondere die vom vermeintlichen Funktionsverlust der Familie – durch die Berücksichtigung soziologischer Daten stark relativiert werden. Dass die Familie nicht tot ist,4 dass es aber umgekehrt verfehlt wäre, eine geradezu anthropologische Konstanz – oder »ontologische Matrix« (vgl. 2 | Vgl. Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, 4. Auflage, Reinbek 2008, und ders. (Hg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1998. 3 | Dies gilt für die Bände von Claudia Brinker-von der Heyde und Helmut Scheuer (Hg.): Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur, Frankfurt a.M. u.a. 2004, Martinec und Nitschke (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur, und Simone Costagli und Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München und Paderborn 2010. 4 | Vgl. die Rezension zum Band von Martinec und Nitschke von Fabienne Imlinger: »Die Familie ist tot. Lang lebe die Familie!«, in: IASLonline (12.10.2009). URL: www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=3083 (letzter Zugriff am 26.08.2011).
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den Beitrag von Heiner Keupp) – ihrer Fortexistenz anzunehmen, kann als eines unserer Ergebnisse gelten. Im Fokus der Tagung stand die Familie im interkulturellen Kontext. Auch hierfür galt es, die Schlagzeilen-Stereotype von den empirischen Befunden einerseits, von den literarisch-künstlerischen Interdiskursen andererseits abzuheben. Damit wird im ersten Segment des Bandes auf soziologischer Ebene weitgehend Neuland betreten, insofern die Migration in ihren spezifischen Auswirkungen auf die interkulturelle Familie dort bislang erstaunlicherweise vernachlässigt wurde. Sind im Zuge der Integrationsdebatten vorrangig jene Thesen publizistisch breit aufgenommen worden, die, wie Thilo Sarrazins Streitschrift Deutschland schafft sich ab (2010), eine Integrationsmisere behaupten, so kann bei einer differenzierteren Betrachtung auf das positive Potential von Zuwanderung verwiesen werden, das nicht zuletzt aus dem paradigmatischen Neuaushandeln (nicht nur) familiärer Wertvorstellungen und damit gerade einer Stabilisierung der Integration resultiert (vgl. den Beitrag von Sylka Scholz). Die in diesem Band vorgestellten literarischen und medialen Repräsentationsformen bilden, solcher wissenschaftlichen Analyse gewissermaßen vorgreifend, einen Fundus zentraler Themen ab: Dazu zählen der intergenerationelle Wertewandel, die Infragestellung angenommener paternaler Dominanz sowie Genderkonstrukte von Weiblichkeit und Männlichkeit als variantenreiches Spektrum konfliktauslösender und/oder eben Neuverhandlungen initiierender Elemente der Interkulturalität. Die Exemplarität dieser literarischen und filmischen Krisennarrative spricht insofern nicht nur für sich, sondern berührt eine weitere, gewissermaßen proto-empirische Dimension, wird doch in ihnen zum Teil vorweggenommen und einer probeweisen Lösung zugeführt, was noch der konkreten wissenschaftlichen Aufarbeitung bedarf.
2. F AMILIENNARR ATIVE IN DER G EGENWARTSLITER ATUR UND IM F ILM Kann eine literarische Gattung deutsch sein? Was den Familienroman als die mit Abstand bedeutendste Gattung der Gegenwartsliteratur, die sich mit der Familie beschäftigt, angeht, so scheint dies der Fall zu sein, folgt man den neueren Publikationen zum Thema. Der Sammelband von Thomas Martinec und Claudia Nitschke bekundet schon im Titel, sich auf die
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»deutsche[] Literatur«5 beziehen zu wollen, und auch in Simone Costaglis und Matteo Gallis Sammelband Deutsche Familienromane6 widmet sich exakt ein Beitrag dem Roman der ›Migranten‹, der gegenüber dem ›internationalen Kontext‹ als weniger bedeutsam markiert wird. Bei Ariane Eichenberg werden lediglich ›deutsch-jüdische‹ Familienromane einbezogen,7 da diese kontrapunktisch zur im Familienroman kondensierten ›Gefühlsgeschichte der Deutschen‹ gelesen werden müssten. Trotz Sigrid Löfflers These, der Familienroman »orientalisiere«8 sich, international gesehen, scheint der Familienroman in der akademischen Rezeption hierzulande weitgehend in seiner generischen Reinheit festgeschrieben zu werden – irgendwo zwischen Thomas Manns Buddenbrooks (1901) und Die Merowinger (1962) von Heimito von Doderer. Eine Ausweitung im Sinne der Interkulturellen Literaturwissenschaft wie auch der Komparatistik tut also not, um zeigen zu können, dass der bei Homi Bhabha beschriebene, wiewohl nicht besonders genau konturierte Dritte Raum jener transnationale Raum zwischen den Kulturen ist, in dem Neues entsteht.9 Den Aspekt des Familiären hat Bhabha dabei nicht in den Blick genommen; ihn interessiert allein das Individuum. In den Literarisierungen von ›Bindestrich-Existenzen‹, von denen im zweiten Segment des Tagungsbandes die Rede ist, kann die oft schwierige Genese dieses Dritten Raumes beobachtet werden. Ob türkisch-deutsch, griechisch-deutsch, russisch-deutsch, jüdisch-deutsch oder pakistanisch-britisch, das Migrationserlebnis ist ein familiäres Bindemittel und wirkt sich nicht nur auf das Individuum aus, sondern auf die Familie als ganze. Da Migration als »Familienprojekt« gelten kann (vgl. den Beitrag von Cornelia Helfferich), sollte es nicht verwundern, dass ›Migranten-AutorInnen‹ diese im Rahmen eines Familiennarrativs beschreiben. Kann allgemein für den internationalen Kontext ein stärkerer Einfluss nicht-realistischer Er-
5 | Martinec und Nitschke (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur. 6 | Costagli und Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. 7 | Vgl. Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane, Göttingen 2009. 8 | Sigrid Löffler: »Die Familie. Ein Roman: Geschrumpft und gestückelt, aber heilig: Familienromane I«, in: Literaturen 6 (2005), S. 18-26, hier S. 20. 9 | Vgl. Homi Bhabha: The Location of Culture, London und New York 1994, S. 36-39.
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zählformen konstatiert werden,10 so gilt dies auch für viele deutschsprachige interkulturelle Familienromane. Größte Vorsicht scheint allerdings bei der Verallgemeinerung solcher Befunde geboten. Macht man »archaische[] Familienstrukturen« und »orale Erzähltraditionen«11 im interkulturellen Familienroman aus und verabsolutiert diese Elemente, wie Martin Hielscher es tut, zum Remedium gegen angebliche Defizite einer deutschen erzählenden Literatur,12 so ist man sehr schnell beim Stereotyp des Orientalischen angelangt – beim »teppichhaft Ornamentalen«13 eben. Von da ist der Weg zur Abwertung als Unterhaltungs- oder Trivialliteratur nicht weit. Die Konjunktur des Familienromans wurde vielfach als Ergebnis eines Interesses an genealogischem Wissen, an der »Gedächtnis- und Erinnerungsthematik«14 gedeutet. Harald Welzer hat in breit rezipierten Beiträgen sozialpsychologische Erklärungsansätze für diejenigen deutschen 10 | Isabel Allendes Roman Das Geisterhaus (1982) war sicher auch – ebenso wie die Verfilmung – deshalb so erfolgreich, weil in ihm das Generationennarrativ durch die Infusion magisch-realistischer Praktiken eine neue Qualität gewann. 11 | Martin Hielscher: »Kontinuität und Bruch der Genealogie. Die Inszenierung archaischer Familienstrukturen im Roman der ›Migranten‹«, in: Costagli und Galli (Hg.): Deutsche Familienromane, S. 195-206, hier im Titel und S. 196. 12 | Eine Tendenz, wie sie bei Hielscher schon in seinem Beitrag »NS-Geschichte als Familiengeschichte. ›Am Beispiel meines Bruders‹ von Uwe Timm«, in: Friedhelm Marx (Hg.), unter Mitarbeit von Stephanie Catani und Julia Schöll: Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms, Göttingen 2007, S. 91-102, hier bes. S. 98, feststellbar ist, wo von einer »Rückeroberung der erzählenden Literatur« die Rede ist, die daraus resultiere, dass Erzählen von familiären Zusammenhängen und Geschichte wieder möglich werde – über das biographisch verursachte Schweigen der Elterngenerationen hinaus. 13 | Hielscher: Kontinuität und Bruch der Genealogie, S. 200. Hielscher bedient in seinem informativen Artikel diverse Klischees: vom »magischen Realismus der Balkanliteratur« (S. 205) bis hin zum »farbigen und anekdotischen Reichtum« (S. 199). Dass es diese Elemente gibt, stellt auch mein eigener Beitrag im vorliegenden Band fest; problematisch ist jedoch die Verallgemeinerung und Verabsolutierung Hielschers für eine in sich so heterogene Gruppe wie die der ›Migranten-AutorInnen‹. 14 | Bernhard Jahn: »Familienkonstruktion 2005: Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman«, in: Zeitschrift für Germanistik 16.3 (2006), S. 581-596, hier S. 581.
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Familienromane bereitgestellt, die sich der generationell übergreifenden Erinnerungsliteratur zuordnen lassen – was in seiner Allgemeinheit übertragbar auf einen großen Teil der interkulturellen Literatur ist: Das »kommunikative Gedächtnis«15 funktioniere als Deutungs- und Konstruktionsmechanismus zwischen den Generationen, indem es Festschreibungen der Vergangenheit hinterfrage und Neudeutungen vornehme. Die intergenerationelle Überlieferung, »Familie als Erinnerungsgemeinschaft«16, spielt im Migrationsprozess eine wichtige identitätsstabilisierende Rolle – was allerdings keineswegs deren kritische Infragestellung, ja Dekonstruktion ausschließen muss. In den besonderen narrativen Verfahren für diese intergenerationelle Tradierung können durchaus neue, die autobiographisch-faktuale Erzählanlage transzendierende Elemente gesehen werden. Ohnehin dürfte die Realismuskategorie, die Yi-ling Ru für den Familienroman in Anschlag bringt, wie die anderen Kategorien ihrer Definition – Darstellung von Familienriten, Verfall einer Familie, vertikale erzählerische Organisation in chronologischer Folge entlang der Generationen17 – inzwischen mehr als fraglich geworden sein. Es ist indessen symptomatisch, dass ihre auf klassische Familienromane Chinas, Großbritanniens und Frankreichs bezogene konventionelle Klassifizierung von erstaunlicher Beharrungskraft ist. Wo heute das Weiterwirken bestimmter generischer Konventionen wie im pakistanisch-britischen Familienroman beobachtbar ist, kann dieses jedoch mit einer durchaus gegenläufigen Bewegung auf inhaltlicher Ebene verbunden sein, mit der Lösung aus Konventionen der Herkunft nämlich (vgl. den Beitrag von Jutta Weingarten). Eine Position des Dritten wird ferner durch solche Erzählformen markiert, die man als ›hybride‹ bezeichnen kann, insofern sich in ihnen transkulturelle Erzählelemente finden lassen, die gerade nicht ausschließlich aus der Herkunfts- oder Zielkultur stammen, sondern aus einem frei verfügbaren, internationalen Reservoir erzählerischer Möglichkeiten. Damit aber trägt der interkulturelle Familienroman zu einer Bereicherung des 15 | »Erinnern. Im Gedächtniswohnzimmer. Warum sind Bücher über die eigene Familiengeschichte so erfolgreich? Ein ZEIT-Gespräch mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer über das private Erinnern«, in: Die Zeit vom 25.03.2004. URL: www.zeit.de/2004/14/st-welzer (letzter Zugriff am 26.08.2011). 16 | Erinnern. Im Gedächtniswohnzimmer. 17 | Vgl. Yi-ling Ru: The Family Novel: Toward a Generic Definition, New York 1992, S. 2.
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Gattungsarsenals bei. In eine neue, den interkulturellen und internationalen Kontext gleichermaßen berücksichtigende Definition des Familienromans müsste dies eingehen: Der Familienroman kann so als eine Gattung erfasst werden, die sich inhaltlich auf ein symbolisches System Familie bezieht und in einer mindestens zwei, meist drei Generationen umfassenden, jedoch nicht mehr unbedingt chronologisch-linear angelegten Erzählform sowie oft mit hybriden Erzählstrategien die Geschichte dieser Familie aufzeichnet – wobei diese perspektivisch auf die identitäre Verortung der Protagonisten fokussiert ist. Im Medium des Films lassen sich vergleichbare Phänomene beobachten. So gewann Fatih Akin 2004 den Goldenen Bären mit einem Film, der die Zerrissenheit seiner Protagonisten auch auf dem Hintergrund einer Familienkonstellation ausstellte, die durch interkulturelle Konflikte zerbricht. In vielen neueren Filmen von Regisseuren mit Migrationshintergrund, neuerdings auch von Regisseurinnen, wird die Familie hingegen trotz aller Konflikte als Ort der Zusammengehörigkeit gezeigt, als sich wandelnder und dennoch beständiger Hort eines überpersönlich geprägten kulturellen Gedächtnisses der Migration. Vielfach wird dieses im komödiantischen Genre situiert, weniger im tragischen. So ist etwa in dem jüngsten Film der Schwestern Samdereli Almanya – Willkommen in Deutschland (2011) die Reise in die Türkei eine Erinnerungsreise über die Generationen hinweg, die sie zugleich zusammenschmiedet. In den hier vorliegenden Beiträgen, die sich mit dem Film beschäftigen, wird die Familie ebenfalls als durch das Migrationserleben gefestigte und durch die keinesfalls verschwiegenen, aber auch nicht tragisch stilisierten Krisen gestärkte Gemeinschaft gezeigt.
3. I NTERKULTURELLE F AMILIENKONSTELL ATIONEN IN HISTORISCHER P ERSPEK TIVE Die Verschränkung von Familiengeschichte und nationaler Geschichte zeigt sich auch in Repräsentationen interkultureller Beziehungen früherer Epochen und in anderen Gattungen als dem Roman. Zu einem Topos paarbezogener Interkulturalität wurden etwa Inkle und Yarico, 1711 von Richard Steele in die Literatur eingeführt und seitdem als Geschichte eines Verrats des englischen Kaufmanns an der ›edlen Wilden‹ Yarico vielfach, etwa von Christian Fürchtegott Gellert, weiter tradiert; ebenso sind Pocahontas und Captain Smith Beispiele der Popularisierung solcher bikultureller Be-
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ziehungen, deren gewaltförmige Asymmetrie zu ihrem Überdauern beigetragen haben mag. Zur Aufklärungskritik taugten ferner die Einlassungen kulturell hybrider Figuren, wie sie der Sturm und Drang hervorgebracht hat – selbst wenn sie sich dann, wie in Lenz’ Der Neue Menoza (1774), als geborene Sachsen herausstellen (vgl. den Beitrag von Stefan Hermes). Was in den Kolonialromanen oder -novellen eines Hans Grimm gipfelt, ist in der deutschen Literatur lange vor der kolonialen Durchsetzung eines Rassereinheitsdispositivs zu beobachten, interessanterweise nicht zuletzt bei weltreisenden Frauen wie Ida Pfeiffer oder Alma Karlin: Kann man für die Literatur um 1900 von einer exotistischen Grundtendenz ausgehen, die mannigfache Brechungen evoziert, so gehen Rassismus und Exotismus dort wie im Kolonialroman oft Hand in Hand (vgl. den Beitrag von Ulrike Stamm). Auf solche Tradierungen verweisen die aktuellen Darstellungen interkultureller Familien- oder Paarbeziehungen in oft ironisch akzentuierter Form zurück und dekonstruieren diese. Im Anschluss an diese Traditionslinien würde sich eine Weiterführung der Analysen bis in die Gegenwart empfehlen. So wären auch höchst eigenwillige literarische Bearbeitungen des Themas Interkulturalität, die sich jeder kanonischen Zuordnung entziehen – etwa bei Sibylle Lewitscharoff in Apostoloff (2009) –, mit diachronen Bezügen zu versehen.
4. D IE B EITR ÄGE IM E INZELNEN Der (sozial-)psychologisch ausgerichtete Beitrag von Heiner Keupp erörtert die Frage, inwiefern sich die zunehmende Verbreitung interkultureller Familienkonstellationen im Kontext eines generellen Wandels familiärer Strukturen in der Spätmoderne verorten lässt: Die Familie sei eben nicht als eine »ontologische Matrix« zu begreifen, sodass familiäre Nähe-Distanz-Relationen fortwährend neu auszuhandeln seien. Gegenwärtig geschehe dies im Zeichen einer tiefgreifenden Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft sowie einer anwachsenden Mobilität großer Bevölkerungsteile, womit eine Relativierung tradierter Wertvorstellungen, Identitätskonzepte und Geschlechterrollen einhergehe. Dies aber bedeutet Keupp zufolge nicht, dass die Institution Familie ausgedient hat: Vielmehr ermögliche die ›demokratische Familie‹ im Sinne Anthony Giddens’ ihren Mitgliedern ein Zusammenleben, das auf Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit gründet und die Souveränität der Individuen nicht beschneidet.
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Den Prophezeiungen eines unmittelbar bevorstehenden Verschwindens der Familie begegnet auch Sylka Scholz dezidiert kritisch. In ihrer soziologischen Bestandsaufnahme kann sie auf Grundlage statistischen Materials nachweisen, dass der (nicht zuletzt auf den Geburtenrückgang zurückführbare) Veränderungsprozess der Familie keineswegs mit deren Ende gleichzusetzen ist. Anschließend widmet sich Scholz den Spezifika von Familien mit Migrationshintergrund: einem Thema mithin, das die Soziologie bislang vernachlässigt hat. Hier legt sie dar, inwiefern Migration – auch die von Einzelpersonen – stets in einen Verwandtschaftskontext eingebunden und somit als ein Familienprojekt zu verstehen sei: Besondere Bedeutung komme in diesem Zusammenhang transnationalen Ehen, transnationaler Mutterschaft und transnationalen Formen des Aufwachsens zu. Prinzipiell trägt Migration laut Scholz eher zur Stabilisierung denn zur Anomisierung der Aufnahmegesellschaft bei. Insofern sei es an der Zeit, die Potentiale migrantischer Familien stärker in den Blick zu rücken, ohne dabei bestehende Integrationsschwierigkeiten auszublenden. Der Beitrag von Cornelia Helfferich fragt aus soziologischer Perspektive danach, ob Migrationsprozesse überwiegend zu einer Schwächung oder aber zu einer Stärkung familiärer Bindungen führen. Ausgehend von den Ergebnissen zweier Forschungsprojekte, die quantitative und qualitative Zugänge miteinander verbinden, beschreibt Helfferich zunächst die historische Entwicklung der Zuwanderung von Frauen aus der Türkei und den ehemaligen GUS-Staaten nach Deutschland. Sodann diskutiert sie die soziale und familiäre Situation dieser Migrantinnen und ihrer Nachkommen und stellt dabei fest, dass der familiäre Zusammenhalt in beiden Gruppen seinen hohen Wert behält, ja eher verfestigt denn gelockert wird – ungeachtet je unterschiedlicher sozialer Schwierigkeiten. Indes entwickelten die Angehörigen der zweiten Generation häufig neue Vorstellungen eines gelungenen Lebens, sodass nicht selten innerfamiliäre Konflikte um Fragen der Segregation und Integration entstünden. Die Reihe der Beiträge, die sich Repräsentationen interkultureller Familien in der Gegenwartsliteratur zuwenden, eröffnet Michaela Holdenrieds Aufsatz zu Yadé Karas Selam Berlin (2003). Er geht von dem Befund aus, dass sich die germanistische Forschung zwar seit langem intensiv mit dem Genre des Familienromans befasst, den interkulturellen Familienroman aber noch immer weitgehend ignoriert. Von erheblichem Interesse sei dieser jedoch insofern, als er eigene narrative Akzente setze und dadurch die Konventionalität des üblichen Generationenmodells unterlaufe.
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So werde bei Kara eine Vielzahl intertextueller Bezüge hergestellt und auf Elemente des Satirischen, des Humoresken und der Fantastik rekurriert, um traditionelle Schreibweisen aufzubrechen. Mit diesen Erzählverfahren korrespondiert laut Holdenried der Inhalt des Romans, dessen Protagonist, ein junger Berliner Deutsch-Türke, sich von seiner Herkunftsfamilie zu emanzipieren sucht und zugleich danach strebt, gängigen kulturalistischen Zuschreibungen zu entgehen. Allerdings führe Selam Berlin eindringlich vor, dass hybride Identitätskonzepte stets durch äußere Einflüsse gefährdet sind: Eine Position des Dritten einzunehmen, erscheine bei Kara als ein lohnendes Unterfangen, das aber alles andere als leicht zu bewerkstelligen ist. Der Aufsatz von Aglaia Blioumi erörtert zunächst, inwiefern der Zwischenraum der Kulturen, in dem sich nicht wenige Migrantinnen und Migranten zu befinden scheinen, keineswegs negativ konnotiert sein muss: Mit Homi Bhabha lasse er sich durchaus auch als ein Ort der produktiven Grenzüberschreitungen fassen. In der Folge greift Blioumi auf Beispiele aus dem türkisch-griechisch-deutschen Kontext zurück, um ihre These zu belegen, dass zahlreiche Texte der Migrationsliteratur ohne Inszenierungen schwerer Generationenkonflikte auskommen. Denn gerade das Migrationserlebnis schweiße Kinder und Eltern oft noch enger zusammen, so jedenfalls in den Erzählungen und Romanen Emine Sevgi Özdamars und Eleni Torossis, denen Blioumis Aufmerksamkeit zuallererst gilt, und in Anno Saouls Kinofilm Kebab Connection (2005). Insofern macht sie im Bereich der Fiktion ganz ähnliche Beobachtungen wie jene, zu denen Cornelia Helfferich mit Blick auf die außerliterarische Realität kommt. In ihrem Beitrag zur russisch-deutschen Literatur des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts beschäftigt sich Weertje Willms vornehmlich mit Romanen von Lena Gorelik, Eleonora Hummel, Julya Rabinowich, Vladimir Vertlib und Natascha Wodin. Sie erschließt die spezifischen Familienkonstellationen sowie die innerfamiliären Beziehungen und Generationskonflikte, die in diesen Werken zur Darstellung gelangen, und analysiert die Integrationsmuster und Identitätsmodelle, die den einzelnen Familienmitgliedern zugeschrieben werden. Dabei fällt auf, dass – neben einigen wenigen ursächlich auf die Migrationserfahrung zurückzuführenden Konflikten (wie z.B. die Angst der Eltern vor dem Verlust der Kinder an das Migrationsland) – die meisten der geschilderten Familien- und Identitätsproblematiken auch in Familien ohne Migrationserfahrung auftreten; in der Migrationsfamilie erfahren diese lediglich eine besondere Schärfe
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sowie eine spezifische Ausprägung (z.B. die Scham der Kinder gegenüber den Eltern). Mit dem Zusammenhang von Familiengedächtnis und jüdischer Identität setzt sich Monika Riedel anhand der deutschsprachigen Migrationsromane Familienfest (2003) von Anna Mitgutsch und Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur (2001) von Vladimir Vertlib auseinander. Im Rekurs auf die Gedächtnistheorie Maurice Halbwachs’ fragt sie hauptsächlich danach, auf welche Weise die Texte intergenerationelle Überlieferungen sowie deren kritische Dekonstruktion thematisieren und welche Bedeutung beide Gesichtspunkte für die Identitätsbildung – in kultureller, religiöser und politischer Hinsicht – der einzelnen Figuren besitzen. Darüber hinaus machen Riedels close readings deutlich, dass das permanente Oszillieren zwischen Faktualität und Fiktionalität als ein wesentliches Charakteristikum von Mitgutschs und gleichermaßen von Vertlibs Schreiben gelten muss. Mit Aspekten jüdischer Identitätskonstitution befassen sich auch die Überlegungen Lena Ekelunds, die indes den Werken zweier Israelis gewidmet sind, nämlich Amos Oz’ autobiographischem Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (2002) und Eytan Fox’ Kinofilm Walk on Water (2005). Ekelunds Beitrag führt vor, mittels welcher Gestaltungselemente Oz und Fox zwei (kultur-)historisch wichtige Bewegungen nachzeichnen: Während der Autor die israelische Abkehr von einem vertrauten und dann mörderisch gewordenen Europa im Zuge der Staatsgründung schildere, bringe der Regisseur die Wiederannäherung der zweiten und dritten Generation an Europa zur Anschauung. In beiden Fällen vollziehen die männlichen Hauptfiguren laut Ekelund eine Abnabelung von ihren Vätern, die mit der sukzessiven Überwindung herkömmlicher Männlichkeitsideale einhergeht und überdies die Möglichkeit einer – ihrerseits nicht unproblematischen – Integration in eine neue, interkulturelle Familie aufscheinen lässt. In ihrem Aufsatz zu Monica Alis Bestseller Brick Lane (2003) diskutiert Jutta Weingarten zunächst, auf welche Weise der Text im Feld des (britischen) Familienromans zu situieren ist. Im Anschluss argumentiert sie, dass Ali bestimmte Konventionen der traditionsreichen Gattung erfülle, um den langwierigen Emanzipationsprozess ihrer Protagonistin, einer in London lebenden Migrantin aus Pakistan, parallel zur Desintegration der Familie inszenieren zu können. Der erfolgreiche Abschluss der Selbstfindung dieser subalternen Figur (im Sinne Gayatri Spivaks) werde in Brick Lane durch das Entstehen einer weiblichen familialen Linie markiert, die
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zugleich das Versagen des patriarchalen Prinzips im Kontext der Migration offenkundig werden lasse. Die drei abschließenden Beiträge verleihen dem Band insofern eine historische Dimension, als sie sich Repräsentationen interkultureller Familien in früheren Literaturepochen zuwenden. So vermag Stefan Hermes zu zeigen, dass die kulturelle Hybridität des Protagonisten von Jakob Michael Reinhold Lenz’ ›Familiendrama‹ Der neue Menoza (1774) mit jener Gesellschaftskritik korrespondiert, die der Autor seiner Figur in den Mund legt. Denn analog dazu, dass sich der ›orientalische‹ Prinz als lang verschollener Sprössling einer sächsischen Familie entpuppt, seien die Einwände des ›Exoten‹ gegen die europäische Gesellschaftsordnung mit den Werten der europäischen Aufklärung keineswegs unvereinbar: Nicht auf die Verabschiedung des Vernunftdenkens habe es der ›fremde Sohn‹ abgesehen, sondern auf seine Ergänzung durch einen weniger restriktiven Umgang mit der menschlichen Sinnlichkeit. Besonders deutlich werde dies im Zusammenhang mit dem originären ›Familienproblem‹ eines scheinbaren Geschwisterinzests, das Lenz in seiner – auch formal hybriden – Komödie gestaltet. Der Aufsatz von Ulrike Stamm beschäftigt sich daraufhin mit literarischen Phantasien vom Scheitern interkultureller Beziehungen, wie sie im frühen 20. Jahrhundert entstanden sind. Mit Blick auf die Erzählungen Den Abendschnee am Hirayama sehen (1911) von Max Dauthendey und Die blaue Eidechse (1930) von Alma Karlin erläutert sie, weshalb die darin geschilderten Verbindungen zwischen deutschen Frauen und asiatischen Männern geradezu zwangsläufig ins Unglück führen müssen: Im Zuge der Durchsetzung biologistischer Denkmuster seit der Mitte des 19. Jahrhunderts seien Vorstellungen vom unbedingten Wert der ›Rassenreinheit‹ in Europa derart dominant geworden, dass von der Entstehung stabiler interkultureller Familien kaum mehr erzählt werden konnte. Allerdings unterscheiden sich die beiden Texte Stamm zufolge dadurch, dass Dauthendeys Exotismus eine Reihe ambivalenter Brechungen aufweist, während Karlins rassistisch-essentialisierende Perspektive durchweg stabil bleibt. Der intermedial orientierte Schlussbeitrag von Sigrid Nieberle erweitert die thematische Ausrichtung in produktiver Weise. So kann Nieberle anhand zahlreicher Beispiele plausibel machen, welch große Relevanz die Auseinandersetzung mit der Zerrüttung familiärer Strukturen für jene Erzählungen von Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten besitzt, die Historiographik, Autobiographik, Roman und Film
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seit 1945 ausformulierten. In diesem Zusammenhang konzentriert sie sich – anders als die bisherige Forschung – vor allem auf die narrativen Strategien, mittels derer familiäre wie auch interkulturelle Konflikte inszeniert werden. Dabei gelingt ihr der Nachweis, dass diese Erzählverfahren überwiegend dem Genre des (maternalen) Melodrams entstammen, als dessen Inbegriff Margaret Mitchells Roman Gone with the Wind (1936) und seine berühmte Verfilmung gelten können. Den Band beschließt eine Zusammenfassung von Weertje Willms, in der die in den einzelnen Beiträgen wiederkehrenden Themen und literarischen Formen sowie einige zentrale Begriffe noch einmal resümierend aufgegriffen und diskutiert werden.
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II.
Interkulturelle Familienkonstellationen aus psychologischer und soziologischer Perspektive
Familie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war Von der selbstverständlichen Matrix zum Balanceakt Heiner Keupp
1. I NTERKULTURELLE F AMILIEN : V ON DER E XOTIK ZUM N ORMALFALL Familienkonstellationen aus interkultureller Perspektive zu betrachten, lässt bei naiver Betrachtung exotische Kontrastbilder zu jenen Normalitätserwartungen vermuten, die sich in Mitteleuropa in der Moderne verfestigt haben. Meine eigenen Erfahrungen und auch die Studien von Ilhami Atabay1 zu familiären Mustern der muslimischen Welt, die ich aus großer Nähe verfolgen konnte, scheinen diese Erwartungen teilweise zu bestätigen. Als meine Tochter vor einigen Jahren die Beziehung zu einem jungen Mediziner aus einer palästinensischen Familie, die in Deutschland Asyl gesucht und gefunden hatte, einging, wurde ich mit einem mir sehr fremden Familienmodell konfrontiert. Dieses konnte die Entscheidung des eigenen Sohns für eine deutsche Frau, die bald von ihm eine Tochter bekam, nicht akzeptieren. Er war schon als Kind von seinem Vater mit der Tochter seines Bruders verlobt worden, die in einem palästinensischen Flüchtlingslager lebte. Auch ein deutscher Vater hat sicherlich Vorstellungen, welche Bezie1 | Vgl. Ilhami Atabay: »Ist dies mein Land?«. Migration und Identität bei türkeistämmigen Kindern und Jugendlichen, Herbolzheim 1994, Ilhami Atabay: »Ich bin Sohn meiner Mutter«. Elterliches Bindungsverhalten und männliche Identitätsentwicklung in türkeistämmigen Familien, Freiburg 2010, und Ilhami Atabay: Die Kinder der »Gastarbeiter«. Familienstrukturen türkeistämmiger MigrantInnen zweiter Generation, Freiburg 2011.
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hung für Sohn oder Tochter ideal wäre, aber er würde wohl in aller Regel die davon abweichende Entscheidung seines Kindes akzeptieren. Nicht so im Falle meines heutigen Schwiegersohns. Er hatte einen mehrmonatigen Ausbildungsaufenthalt in einer amerikanischen Klinik in Beirut nutzen wollen, um in gut europäischer Tradition, die er schon fast zwei Jahrzehnte kennengelernt und auch verinnerlicht hatte, der ihm fast unbekannten Verlobten im Libanon mitzuteilen, dass er eine andere Frau liebe und vorhabe, mit ihr eine Familie zu gründen. Dieses Konzept einer selbst gewählten und von einem spezifischen Liebeskonstrukt geprägten Partnerschaft kollidierte in aller Härte mit den Vorstellungen der eigenen Eltern, die von einer traditionellen arabischen sozialen Ordnung geprägt waren. Diese verpflichtet den Vater, die Ehe der eigenen Kinder zu arrangieren, und sein Ehrgefühl verlangt die Akzeptanz der Kinder. Aus diesem Normalitätsverständnis heraus war ohne Kenntnis meines Schwiegersohns eine Hochzeit in Beirut arrangiert worden, und der Vater hatte mit Selbstmord gedroht, wenn der Sohn die arrangierte Ehe nicht einginge. Er hat sich diesem Druck gebeugt, aber seinen Eltern gezeigt, dass er sie nicht leben würde, und nach vier Jahren endlich wurde sie wieder geschieden und die Schuld dafür der palästinensischen Ehefrau zugewiesen, weil sie es nicht geschafft hatte, den ihr angetrauten Mann zu binden. Die Ehe mit meiner Tochter, an die ich schon nicht mehr glaubte, konnte jetzt geschlossen werden, und die zwei gemeinsamen Kinder, die geboren wurden, haben einen stabilen familiären Rahmen bekommen, der eher mitteleuropäischen Normvorstellungen entspricht, aber auch seinen arabischen Anteil nicht verleugnet. Diese hier nur in groben Umrissen skizzierte Erfahrung hat mir einerseits die Relativität unserer westlich-mitteleuropäischen Vorstellungen von Familie und Ehe deutlich gemacht, mich aber auch schmerzlich meine multikulturellen Toleranzgrenzen spüren lassen. Diese hindernisreiche Familiengründung hat mir gezeigt, warum Schlagworte wie Huntingtons clash of civilizations2 oder Sarrazins pseudowissenschaftliche Thesen3 so begierig aufgenommen werden. Kulturelle Differenz, die zu Irritationen und Konflikten führen kann, wird ontologisch gesetzt und damit als unüberbrückbar behauptet. Wenn ich aber die Familie meiner Tochter sehe, dann 2 | Vgl. Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 2002. 3 | Vgl. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Stuttgart 2010.
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sehe ich, wie Differenzen nicht nur ausgehalten werden können, sondern dass sie die Chance zu etwas Drittem beinhalten. Kulturalistisch verengte Blickweisen, die purifizierte Identitäten und Lebensweisen unterstellen, verfehlen die komplexen Realitäten hybrider Lebensmuster. Eine Formulierung wie ›Leben mit Differenz‹ bringt eine Reihe von hoch voraussetzungsvollen Diskursen zum Schwingen, die in den Köpfen sehr unterschiedliche Assoziationen entstehen lassen. Die Aussage kann die schlichte Feststellung sein, dass zwischen Frauen und Männern, zwischen Menschen, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen kommen, zwischen mir und den Anderen Unterschiede bestehen, die beachtet und anerkannt werden müssen. ›Leben mit Differenz‹ kann die Behauptung von ›Parallelgesellschaften‹ sein, die nicht in einem gutmenschlichen ›Multikultidiskurs‹ verwischt werden dürften, und hier bekommt die Aussage den Charakter einer radikalen und unüberbrückbaren Kluft, die Identitätsarbeit als Kampf der Sicherung von claims und Grenzen versteht, die nicht mehr zur Disposition stehen dürfen. Diese Art von Differenzdiskurs bildet die Vorstufe von Identitätskriegen und nicht selten auch von realen Kriegen. Für mich heißt ›Leben mit Differenz‹ sich von Identitätsvorstellungen zu verabschieden, die so etwas wie reine Identitäten, ob individuell oder kollektiv verstanden, unterstellen, die aus der Wahrnehmung von Differenzen eine Aussage über die Notwendigkeit dieser Differenzen macht. Es geht um die Überwindung von ›Identitätszwängen‹ und die Anerkennung der Möglichkeit, sich in normativ nicht vordefinierten Identitätsräumen eine eigene ergebnisoffene und bewegliche authentische Identitätskonstruktion zu schaffen. Differenzen werden dabei nicht verwischt, aber auch nicht als Waffen missbraucht. Ich werde den Aspekt der Multikulturalität gar nicht eigens erörtern, weil er längst ein Stück Normalität in allen westlichen Großstädten darstellt, und ich werde nicht von vornherein einen thematischen Scheinwerfer auf MigrantInnen richten, wenig über Minderheiten sagen und noch weniger über Spezialmaßnahmen zur Integration von Minderheiten. Das hat mit meiner Sicht spätmoderner Gesellschaften zu tun, die genau besehen als ein »Patchwork von Minderheiten«4 beschrieben werden müssen. In irgendeiner Hinsicht ist jede(r) von uns Angehöriger einer Minderheit, selbst wenn er in seiner eigenen Definition ›die Mehrheit‹ repräsentiert. 4 | Jean-François Lyotard: Das Patchwork der Minderheiten. Für eine herrenlose Politik, aus dem Französischen übersetzt von Clemens-Carl Haerle, Berlin 1977.
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Ohne dass ich die Legitimität und Notwendigkeit spezifischer Förderprogramme für Minderheiten bestreiten würde, wäre es mir doch wichtig, diesen Blick nicht von vornherein ethnisch auszurichten. Ethnische Differenzierung und Pluralisierung ist eine Grunddimension, aber daneben gibt es Differenzierungen entlang der Dimensionen soziale Ungleichheit, Geschlecht, Familienform oder sexuelle Orientierung. Auf all diesen Dimensionen lassen sich gesellschaftliche Ausschließungs- und Einschließungspraxen beobachten, ergeben sich Minderheits- und Mehrheitskategorien, Macht- und Ohnmachtspositionen. Nicht jede Minderheit ist ohnmächtig, und die Zurechnung zur Mehrheit kann mit einem starken Gefühl der Benachteiligung verbunden sein.
2. F AMILIEN ALS INSTITUTIONELLE R EGUL ATIVE VON N ÄHE -D ISTANZ -B EDÜRFNISSEN Was haben Familienkonstellationen mit Stachelschweinen zu tun? Es war Arthur Schopenhauer, der in Parerga und Paralipomena (1851) die Geschichte von den Stachelschweinen erzählte, die sich an einem kalten Wintertag nach Wärme sehnten. Um sich vor dem Erfrieren zu schützen, drängten sie sich daher ganz dicht aneinander. Doch die erhoffte Gemütlichkeit blieb aus: Mit ihren Stacheln verletzten sie sich gegenseitig. So liefen sie wieder auseinander und jedes Stachelschwein fror alleine vor sich hin. Schließlich rückten sie wieder ein wenig näher zusammen – doch nicht allzu nahe – bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten – und diese Entfernung nannten sie Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: ›keep your distance!‹ – Vermöge derselben wird zwar das Bedürfniß gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. – Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen. 5
5 | Arthur Schopenhauer: »Gleichnisse, Parabeln und Fabeln«, in: Ders.: Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Lütkehaus, Bd. V:
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Diese Geschichte von Arthur Schopenhauer macht auf klassische Weise deutlich, wie gerade in der Suche nach Nähe und Verbundenheit das Scheitern oft gleich mitgeliefert wird. In der sich zunehmend individualisierenden Gesellschaft werden wir alle wohl noch mehr zu Stachelschweinen, und das richtige Maß für Nähe und Distanz zu finden, wird kaum einfacher. Allerdings wäre es wohl auch ein Fehler, wenn wir übersehen würden, dass Schopenhauer eine allgemeine anthropologische oder philosophische Aussage über menschliches Zusammenleben vor allem in primären Mustern, wie die Familie eines darstellt, treffen wollte. Es entsprach nicht seiner Weltsicht, dass wir uns historisch von einem Zustand gelungener sozialer Einbettung von Beziehungen in eine Konstellation des Verfalls bewegen würden. Er hat ja seine Position zu einem Zeitpunkt formuliert, an dem die Mehrheit der Menschen an eine familiäre Lebensform gebunden war, die sie als natur- oder gottgewollt ansah. Es waren Stachelschweine mit ihren ambivalenten Wünschen nach Nähe und Distanz, die in einem Korsett frühbürgerlicher Regelungen familiärer Beziehungen unterzubringen waren. Dieses Korsett hat in den letzten Jahrzehnten seinen Geltungsanspruch zunehmend verloren, und Menschen in der spätmodernen Gesellschaft werden zu Stachelschweinen, die ihre Nähe-Distanz-Regelungen zunehmend selbst erproben und finden müssen, die mit ihrem so typischen »Chaos der Liebe«6 selbst zurechtkommen müssen. Das gilt für hybride Familienkonstellationen ebenso wie für solche, die auf dem Hintergrund gemeinsamer kultureller Wurzeln scheinbar eine geordnete gemeinsame Matrix mit Leben erfüllen. Das ist nicht immer einfach, denn das ›Handwerk der Freiheit‹ will gelernt sein, und nicht selten sucht man im Rückwärtsgang Orientierung in einem phantasmatischen Bild heiler Beziehungswelten, in denen die Stachelschweine Kuscheltiere ohne Stacheln waren.
Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften II, Zürich 1988, S. 554-560, hier S. 560. 6 | Diesen Slogan hat uns das Buch von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1990 beschert, und sie haben nachgelegt: Elisabeth Beck-Gernsheim: Was kommt nach der Familie? Alte Leitbilder und neue Lebensformen, München 2010, und Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim: Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Frankfurt a.M. 2011.
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3. F AMILIE ALS MY THOLOGISCHE M ATRIX Warum spielen Mentalisierungen von heilen Beziehungswelten so eine zentrale Rolle in den Erwartungsmustern auch der Menschen in der Spätmoderne? Es sind Bilder aus »besonnter Vergangenheit«7. Sie lassen beim Betrachten das Gefühl entstehen, dass die Teile sich zu einem stimmigen ›Ganzen‹ fügen; dass die Zuordnung der Menschen zueinander passt und mit gelebter Bezogenheit erfüllt ist; dass die Menschen nicht nur irgendeine Inszenierung betreiben, sondern echt und authentisch wirken; dass sie glaubhaft innere Werte und Überzeugungen verkörpern. Es wird nicht ein Typus simuliert, sondern gelebt. Ich denke an Bilder von Unternehmerpersönlichkeiten der frühen Industrialisierungsepoche, die in einer Mischung von Selbstbewusstsein, Demut und Väterlichkeit einen spezifischen Typus verkörpern; ich denke an Bilder von Arbeitern, die ihre eigenen Produkte in einem nachvollziehbaren Produzentenstolz präsentieren; es ist ihrer Hände Arbeit, ihr Fleiß, ihre Geschicklichkeit, und ihre Solidarität wird ohne Pose sichtbar gemacht. Ich denke an Bilder aus dem ländlichen Raum, die eine bäuerliche Mehrgenerationenfamilie inmitten ihres Hofes, des Gesindes, ihres Viehs und ihrer Gerätschaften zeigen: Die Ernte ist eingefahren. Die Gesichter vermitteln etwas von der Naturnähe bäuerlicher Lebensform. Ich denke aber auch an Familienfotos, auf denen das bürgerliche Familienideal in perfekter Inszenierung festgehalten sein soll, auch wenn man bei genauerem Hinsehen, vor allem auf den Gesichtern der Kinder (mindestens drei), erkennt, dass die Idylle nicht ohne Zwang auskam. Wir wissen natürlich, dass solche stimmigen Verkörperungen spezifischer epochaler Typen und ihrer Lebenswelt längst nicht immer so widerspruchsfrei, harmonisch und eindeutig waren, wie sie uns in Bildern erreichen oder wie wir sie in romantischer Verklärung gerne hätten. Wir kennen solche Bilder nicht nur aus Museen oder Bildbänden; wir haben sie in unseren eigenen Köpfen, und an der Gegenwart gemessen oder besser: im Kontrast zu ihr gebildet, gewinnen sie noch mehr Eindeutigkeit, Klarheit, Übersichtlichkeit. Meine Bilder stammen aus einem kleinen oberfränkischen Dorf in den 1950er Jahren, in dem Bauern- und Arbeiterfamilien lebten, deren erwachsene Mitglieder fast alle in der Porzellanfa7 | So lautet der Titel eines Bestsellers aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts: Carl L. Schleich: Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen (18591919), Berlin 1922.
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brik tätig waren. Idyllisch sind meine Bilder nicht, dazu mussten sich die Menschen um mich herum ihren Lebensunterhalt zu hart verdienen. Aber es war ein übersichtlicher Mikrokosmos. Der Jahresablauf war von natürlichen Rhythmen und dem Kirchenkalender bestimmt. Ich lege mich immer mit Großstädtern an, die das Leben auf dem Lande idealistisch verklären, als Inbegriff nicht-entfremdeter Lebensverhältnisse sehen und ihren Lebensmittelpunkt am liebsten dorthin verlagern möchten. Bei solchen romantisierenden Fehldeutungen fallen mir die heftigen Konflikte ein, die dieses Dorf und auch die Kirchengemeinde oft zerrissen haben, die Ausgrenzungen von Außenseitern, die engen Sozialkontrollen. Und trotzdem liefert mir meine dörfliche Erfahrungswelt – heute wohl besser: Erinnerungswelt – eine Folie, um die verwirrenden und unübersichtlichen Erfahrungen der gegenwärtigen Alltagswelt als Phänomen ganz neuer Qualität zu konturieren. Solche selbst erlebten historisch-biographischen Kontrastierungen greifen einen mehr oder weniger kurzen Abschnitt aus einem gattungsgeschichtlichen Prozess heraus, in dem sich das Verhältnis des Einzelnen zu Natur und Gesellschaft auf eine spezifische Weise verändert hat. Peter Berger schreibt in seinem religionssoziologischen Buch Sehnsucht nach Sinn von einer »mythologischen Matrix«: In ihr ist das Ich »eingebettet in eine Kontinuität des Seins, die sich erstreckt von der menschlichen Gemeinschaft über das, was wir heute ›Natur‹ nennen, bis hinein ins Reich der Götter oder anderer geheiligter Wesen. Das Ich ist in dieser Welt in einem emphatischen Sinn nicht einsam.«8 Viele unserer Sehnsüchte nach Heimat, Zugehörigkeit und Verortung werden in unseren Urbildern von ›Familie‹ gebündelt und verstärkt. In der Bewusstseinsbildung von Kindern und Jugendlichen werden ›Schlüsselelemente‹ dieser mythologischen Matrix durchlaufen, und Berger vermutet hier die Quelle »für die Sehnsucht, die selbst die modernsten Menschen nach jener Welt zu entwickeln scheinen, einer Welt, in der alles im vollen Wortsinn ein ›Ganzes‹ war«9 . Dieses mythologische Weltverständnis bekam im Laufe der Geschichte immer mehr Risse, und »mit jedem dieser Risse [ging] eine gewisse Individu-
8 | Peter L. Berger: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt a.M. 1994, S. 90. 9 | Berger: Sehnsucht nach Sinn, S. 90.
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ierung einher – das Individuum fiel aus dem festen Zusammenhang von Gemeinschaft, Kosmos und Göttern heraus«10. Dieser Individualisierungsprozess hat sich also nicht als kontinuierlicher Prozess vollzogen, sondern nach ›heißen‹ Phasen der Veränderung gab es immer wieder Stabilisierungsphasen, in deren Folge sich eine gute Synchronisation des Subjekts und seiner Welt herstellte und darüber eine Annäherung an die mythologische Matrix: So haben es die Natur, die Schöpfung oder die Götter eingerichtet, so soll es sein, so muss es sein. Eine besonders tief in uns verankerte mythologische Matrix bezieht sich auf Familie. Es ist eine emotionale Matrix, die sehr früh in unserer Biographie grundgelegt worden ist. Sie hat etwas mit bedingungsloser Anerkennung, mit Sicherheit, mit Verortung, mit Fallenlassen, mit Wurzeln, mit Oralität und Versorgtwerden zu tun. Es geht um all die basalen Grundlagen unserer personalen Existenz, die Erik Erikson als ›Urvertrauen‹11 oder die Bindungstheoretiker als ›sichere Bindung‹12 bezeichnen. Max Horkheimer13 hat unsere Utopien von einer besseren und nicht-entfremdeten Welt an dieser ›Ur-Matrix‹ festgemacht: In ihrer allerersten Lebensphase sind Menschen auf die bedingungslose Akzeptanz ihrer ersten Bezugspersonen angewiesen. Die Erfüllung ihrer basalen Bedürfnisse hängt noch nicht an jenen Konditionen, die dann später so entscheidend sind: ›Wenn du die erwarteten Leistungen bringst, dann bekommst du die emotionalen, oralen oder materiellen Gratifikationen, die dir so wichtig sind.‹ In der ersten Lebensetappe – so Horkheimer – müssen wir für Liebe und Anerkennung noch keinen Preis bezahlen, insofern ist hier die Quelle für unsere Sehnsüchte nach und Utopien von einer nichtentfremdeten Welt. Es ist aber auch die Quelle unserer Verführbarkeit durch idyllische Versprechungen und Kitsch. Familienidealisierungen sind eine unerschöpfliche Basis für regressive Botschaften, die sich nicht zuletzt auch gesellschaftliche Interessengruppen wie Kirchen oder Parteien zunutze machen. Die Beschwö10 | Berger: Sehnsucht nach Sinn, S. 90. 11 | Vgl. Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus. 3 Aufsätze, aus dem Amerikanischen übersetzt von Käthe Hügel, Frankfurt a.M. 1966. 12 | Vgl. John Bowlby: Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen, Stuttgart 1980. 13 | Vgl. z.B. Max Horkheimer: »Autorität und Familie«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 3: Schriften 1931-1936, Frankfurt a.M. 1988, S. 336-417.
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rungsformeln von der Familie als der ›Keimzelle‹ unserer Gesellschaft oder das Versprechen, die Familie zu schützen, kommen immer noch sehr gut an, sie finden ihren Resonanzboden in unserer Ursprungskonstruktion. Mir selbst ist es sehr schwer gefallen, nicht auf meine eigenen regressiven Wünsche hereinzufallen. Weihnachten ist das ›Fest der Familie‹ und es lebt sehr stark von der mythologischen Matrix. Meine Kindheitserinnerungen stammen aus einer Großfamilie in einem fränkischen Pfarrhaus, und es sind die 1940er und frühen 1950er Jahre. Die enge Verbindung von religiöser Bezogenheit auf die ›heilige Familie‹ und Erinnerungen an das eigene Familien(er)leben war ein wichtiges Element. Meine eigene Kleinfamilie hatte keine große Chance, die gleiche Erlebnisklaviatur zu bieten. Meine halbwüchsige Tochter fragte mich vor einem Weihnachtsfest, ob ich denn wieder meine »Weihnachtsdepression« bekäme. Ich reagierte zuerst sehr abwehrend: »Wie kommst Du darauf?« oder »Ist doch Blödsinn!« Aber sie hat etwas Richtiges getroffen: Es fehlt mir schon etwas. Als zum vergangenen Weihnachten meine vierjährige Enkelin auf dem Bahnhof mit einem kleinen Weihnachtsliederbuch auf mich zulief und mir zurief: »Opa, Du musst mit mir alle Lieder singen!«, war ich beglückt, weil sie genau auf meine regressiven Wünsche getroffen ist. Unsere Gefühle sind nicht analytisch und folgen keiner historischen Rekonstruktion. Sie leben aus einer tief verankerten Annahme über das Selbstverständliche, und wir reagieren irritiert, wenn das als selbstverständlich Unterstellte sich als höchst wandelbar erweist. Es kann einen irritieren, dass das als selbstverständlich angenommene Modell von Familie sich als sehr fragwürdig herausstellt. Ich bin – wie die Mehrheit meiner Mitmenschen – mit der Annahme aufgewachsen, dass es eine Familie in der Gestalt, wie ich sie in meiner Kindheit erlebt hatte, immer schon gab und überall gibt. Das Studium der Soziologie hat da bereits erste Zweifel aufkommen lassen, aber richtig nachdenklich wurde ich, als ich in den 1970er Jahren den Roman von August Kühn Zeit zum Aufstehn14 las, der die Geschichte einer Arbeiterfamilie im Münchner Westend bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt und dabei eindrucksvoll aufzeigt, dass erst mit den Erfolgen der Arbeiterbewegung auch Proletarier die Chance hatten, eine eigene Familie zu gründen. Vorher hatten sie dafür keine materielle Basis. Kinder, die Mägde im ländlichen Raum zur Welt brachten, wurden in Pfle14 | August Kühn: Zeit zum Aufstehn. Eine Familienchronik, Frankfurt a.M. 1975 (Neuauflage München 2010).
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gefamilien aufgezogen, und sobald sie arbeitsfähig waren, haben sie ihre Arbeitskraft in den wachsenden Städten verkauft. Die bürgerliche Familie existierte bereits, aber auch sie ist ein Geschöpf der Neuzeit. Familie ist also keine ontologische Matrix, die seit Menschengedenken immer die gleiche Form annimmt. Sie ist vielmehr jeweils ein Kind ihrer Zeit und auch nur im jeweiligen soziokulturellen Rahmen richtig zu begreifen. Für den distanzierten Sozialwissenschaftler ist das ein spannendes wissenschaftliches Projekt, für den Alltagsmenschen steckt in dieser Wahrheit jedoch auch ein Moment von Beunruhigung. Sie ist ein wichtiger Grund für das, was Helmuth Plessner ›ontologische Bodenlosigkeit‹ genannt hat, das Gefühl des modernen Menschen, dass er seine Existenz und Identität nicht auf einem gesicherten Fundament errichten könne.15 Dieses Gefühl verunsichert und gibt fundamentalistischen Angeboten eine gute Chance. Auch der ›Psychobereich‹ liefert dafür Beispiele. Was treibt Tausende von Psychofachleuten in die großen Hörsäle von Universitäten, um einem 70-jährigen ehemaligen katholischen Ordenspriester bei seinen familientherapeutischen Schnellschüssen von 10 bis 20 Minuten zu lauschen und zuzusehen? Welche faszinierende Erzählung hat Bert Hellinger zu bieten? Es ist die von unerschütterlicher Gewissheit getragene Erzählung von der unverrückbaren Ordnung der Dinge. Da gibt jemand eindeutige Antworten und strahlt in unbeirrbarer Sicherheit einen Habitus aus, den man in einem einfachen und klaren Satz unterbringt: »Ich weiß, daß es so ist«16. Er spricht von der »Wahrheit« und dem »Richtigen« und immer wieder davon, dass er die »Wahrheit« »herausgefunden« habe. Er sieht »Ordnungen, die heilend in der Seele wirken«. Eine dieser Ordnungen ist die Ehre und Liebe, die Kinder ihren Eltern entgegenzubringen haben, auch wenn sie von ihnen misshandelt und missbraucht worden sein sollten. »Wenn man den Eltern Ehre erweist, kommt etwas tief in der Seele in Ordnung«. Die »Ursprungsordnung« in den Familien muss anerkannt werden: »Wer oder was zuerst in einem System da war, hat Vorrang vor allem, was später kommt«, und natürlich hat auch das Geschlechterverhältnis seine Urform: »Der Mann muß Mann bleiben, die 15 | Vgl. Helmuth Plessner: »Über die gesellschaftlichen Bedingungen der modernen Malerei«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1965), S. 1-15. 16 | So Hellinger in einem Interview mit Psychologie heute vom Juni 1995, S. 22-26, aus dem im weiteren Text Formulierungen aufgenommen werden.
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Frau muß Frau bleiben. Denn wenn der Mann das Weibliche in sich zu entwickeln sucht, dann ist das nicht richtig und umgekehrt«. Was für eine Botschaft in einer Welt, in der in den letzten Jahren traditionelle Geschlechterrollen ›dekonstruiert‹ werden: ›Strampelt euch an dieser Front nicht ab, die Ordnung der Dinge könnt ihr doch nicht verändern, und lasst euch keine Emanzipationsflausen einreden, sie machen euch nur unglücklich.‹ Hellinger sieht auch gar keinen Grund für grundlegende Revisionen der bestehenden Welt: »Ich stimme der Welt zu, wie sie ist. Ich bin ganz zufrieden damit. Ich denke, daß in der Welt Kräfte am Werk sind, die lassen sich nicht steuern.« Leid tun Bert Hellinger alle, die die Welt verändern wollen. Widerstand gegen diese Kräfte ist sinnlos. Das exemplifiziert er am antifaschistischen Widerstand: »Was war das Ergebnis des Widerstandes? Es war gleich Null. Das zeigt, daß Widerstandskämpfer nicht im Einklang waren. Das waren Leute, die gemeint haben, sie könnten das Rad der Geschichte aufhalten. Das geht nicht«. Das regressive Moment der Hellinger’schen Botschaft sehe ich in der Ermutigung zur Fixierung auf die mythologische Matrix. Sie soll eine Ordnung absichern, die in einer Welt, in der – wie es schon vor 164 Jahren im Kommunistischen Manifest hieß – »[a]lles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige […] entweiht [wird]«17, so verzweifelt gesucht wird. Hellinger ermutigt die Menschen nicht, sich kritisch-reflexiv mit ihrer familiären Herkunftsordnung auseinanderzusetzen und einen Weg der autonomen Selbststeuerung zu gehen, sondern er gibt der Herkunftsordnung den Status einer unanfechtbaren Wesenseinheit. All die Gewalt, die Familien auch erzeugen, ist damit ›entschuldet‹. Es bleibt nichts übrig von den Analysen, in denen die Zurichtung von Menschen zu gesellschaftskonformen Sozialcharakteren aufgezeigt wird. Erich Fromm hat in seinem Klassiker Furcht vor der Freiheit18 vorgeführt, wie die ›heilige Familie‹ vor allem die Aufgabe erledigt, gesellschaftliche Zwänge so früh und so tief in die Motivstrukturen von Menschen zu implantieren, dass ihnen Konformi-
17 | Karl Marx und Friedrich Engels: »Manifest der kommunistischen Partei«, in: Dies.: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, zwölfte Auflage, Berlin 1964, S. 17-57, hier S. 20. 18 | Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt a.M. 1966 (engl. 1941).
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tät zu einem Bedürfnis wird. Die regressive Bindung an die Familie hat etwas von der ›Identifikation mit dem Aggressor‹.19
4. F AMILIEN IM GESELLSCHAF TLICHEN S TRUK TURWANDEL Wenn wir die Bedeutung von Familien nicht aus dem regressiv besetzten ›Urschlamm‹ heraus begreifen können, wie denn dann? Ich denke, wir müssen uns die Gesellschaft und ihre Dynamiken anschauen, um zu begreifen, welche sozialen Figurationen sich jeweils für das primäre Zusammenleben von Menschen ergeben, und insbesondere interessieren natürlich die Auswirkungen des aktuellen gesellschaftlichen Strukturwandels. Einer der interessanten Analytiker der Gegenwartsgesellschaft ist Manuel Castells, der in einer großangelegten Analyse die gesellschaftlichen Transformationen der Weltgesellschaft in den Blick genommen hat. Er rückt die elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten ins Zentrum seiner Globalisierungstheorie. Sie hätten zum Entstehen einer »network society« (so der Titel des ersten Bandes der Castells’schen Trilogie) geführt, die nicht nur weltweit gespannte Kapitalverflechtungen und Produktionsprozesse ermögliche, sondern auch kulturelle Codes und Werte globalisiere. Für Castells bedeutet »die Netzwerkgesellschaft einen qualitativen Wandel in der menschlichen Erfahrung.«20 Die Konsequenzen der Netzwerkgesellschaft »breiten sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus, und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben.«21 Dieser mächtige neue Kapitalismus, der die Containergestalt des Nationalstaates demontiert hat, greift unmittelbar in die Lebensgestaltung der Subjekte ein. Auch die biographischen Ordnungsmuster erfahren eine reale Dekonstruktion – und natürlich auch die familiären Muster.
19 | Den Begriff hat Anna Freud in Das Ich und die Abwehrmechanismen, München 1964, geprägt. 20 | Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001, S. 477. 21 | Manuel Castells: »Informatisierte Stadt und soziale Bewegungen«, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt a.M. und New York 1991, S. 137-148, hier S. 138.
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Wenn wir uns der Frage zuwenden, welche Entwicklungstendenzen die gesellschaftlichen Lebensformen der Menschen heute prägen, welche Auswirkungen das auf Familien und Beziehungen hat, dann kann man an den Gedanken des disembedding oder der Enttraditionalisierung anknüpfen. Dieser Prozess lässt sich einerseits als tiefgreifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits beschreiben. Diese Trends hängen natürlich zusammen. In dem Maße, wie sich Menschen herauslösen aus vorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein Stück eigenes Leben gestalten können, aber auch müssen, wachsen die Zahl möglicher Lebensformen und damit die möglichen Vorstellungen von Normalität und Identität. Peter Berger spricht von einem »explosive[n] Pluralismus«22 , ja von einem »Quantensprung«23 . Seine Konsequenzen benennt er so: Die Moderne bedeutet für das Leben des Menschen einen riesigen Schritt weg vom Schicksal hin zur freien Entscheidung. […] Aufs Ganze gesehen gilt […], daß das Individuum unter den Bedingungen des modernen Pluralismus nicht nur auswählen kann, sondern daß es auswählen muß. Da es immer weniger Selbstverständlichkeiten gibt, kann der Einzelne nicht mehr auf fest etablierte Verhaltensund Denkmuster zurückgreifen, sondern muß sich nolens volens für die eine und damit gegen eine andere Möglichkeit entscheiden. […] Sein Leben wird ebenso zu einem Projekt – genauer, zu einer Serie von Projekten – wie seine Weltanschauung und seine Identität. 24
Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen lassen sich sehr gut an der Entwicklung privater Haushalte aufzeigen. Wir können eine stetige Verkleinerung der Haushalte und eine ungebremste Zunahme von Einpersonenhaushalten beobachten, und damit haben wir auch einen wichtigen Grund für den ständig steigenden Wohnungsbedarf. Von 12 Millionen Haushalten um 1900 in Deutschland sind wir 100 Jahre später bei 31 Millionen Haushalten angelangt. Die Verkleinerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße ist dafür neben der Bevölkerungszunahme vor allem verantwortlich, ein Prozess, der als Singularisierung der Lebensformen beschrieben werden kann. Um 1900 bestand ein Haushalt durchschnitt22 | Berger: Sehnsucht nach Sinn, S. 83. 23 | Berger: Sehnsucht nach Sinn, S. 95. 24 | Berger: Sehnsucht nach Sinn, S. 95 (Hervorhebungen im Original).
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lich aus 4,5 Personen, heute sind wir bei 2,2 Personen angelangt, und die Fachleute halten diesen Trend für nicht gebremst. Vor allem die Anzahl der bewusst oder erzwungenermaßen allein lebenden Personen nimmt weiter zu. 38 % aller Haushalte sind Einpersonenhaushalte.25 Die Pluralisierung der Haushalte hat zu einer Überwindung des ›Ehezentrismus‹ und hin zu einem »Netz der Lebensformen«26 geführt. In eine Minderheit ist längst die vierköpfige Familie geraten; es gibt eine wachsende Anzahl von Stieffamilien oder ›Patchworkfamilien‹, in denen sich nach Trennung und Scheidung unvollständig gewordene Familienbruchstücke zu neuen Einheiten verbinden, Kinder sich über die Zeit gelegentlich mit zwei, drei ›Vätern und Müttern‹ arrangieren müssen. Es gibt die Ehen auf Zeit und ohne Trauschein, die bewusst auf Kinder verzichten. Es gibt die bewusst alleinerziehenden Frauen und Männer, und es gibt die Wohngemeinschaften in vielfältigsten Konstellationen. Das alles sind Varianten von Familie. Die Pluralisierungsprozesse ergeben schon deshalb ein noch komplexeres Bild, weil es im Lebenslauf eines Individuums immer häufiger zu einem Wechsel zwischen verschiedenen Haushalts- und Familienformen kommt. Auch in diesem Prozess ist die Fluidität der spätmodernen Gesellschaft begründet. Als ein weiteres Merkmal der ›fluiden Gesellschaft‹ wird die zunehmende Mobilität benannt, die sich u.a. in einem häufigeren Orts- und Wohnungswechsel ausdrückt, von dem natürlich vor allem die jüngeren Altersgruppen betroffen sind, die in ihrer Ausbildungs- und Berufseinstiegsphase immer häufiger im globalisierten Raum ihren Wohnort wechseln oder zwischen zwei Wohnungen pendeln. Individualisierung, Pluralisierung und Mobilität gehören also zu den Normalerfahrungen in unserer Gesellschaft. Sie beschreiben strukturelle gesellschaftliche Dynamiken, die die objektiven Lebensformen von Menschen heute prägen. Doch wir müssen in der Analyse noch einen Schritt 25 | Die Angaben stammen von Wolfgang Glatzer: »Neue Wohnformen für Junge und Alte«, in: Schader-Stiftung (Hg.): Wohn:wandel. Szenarien, Prognosen, Optionen zur Zukunft des Wohnens, Darmstadt 2001, S. 216-227. 26 | Gesine Hefft: »Das Netz der Lebensformen. Umrisse einer neuen Kultur des Zusammenlebens«, in: Harald Schützeichel (Hg.): Nicht für die Ewigkeit – aber auf Dauer. Beziehungs- und Lebensformen in unserer Gesellschaft, Freiburg 1997, S. 88-102.
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weiter gehen, wenn wir begreifen wollen, auf welchem Lebensgefühl die unterschiedlichen Vorstellungen vom ›guten Leben‹ aufruhen. Auch hier gibt es in der Werte-, Lebensstil- und Milieuforschung wichtige Hinweise.
5. P LUR ALISIERTE V ORSTELLUNGEN VOM › GUTEN L EBEN ‹: W ERTE WANDEL , L EBENSSTILE UND M ILIEUS Unsere Vorstellungen vom ›guten Leben‹, also unsere zentralen normativen Bezugspunkte für unsere Lebensführung, haben sich in den letzten 40 Jahren grundlegend verändert. Es wird von einer »kopernikanischen Wende« grundlegender Werthaltungen gesprochen: Dieser Wertewandel musste sich in Form der Abwertung des Wertekorsetts einer (von der Entwicklung längst ad acta gelegten) religiös gestützten, traditionellen Gehorsams- und Verzichtsgesellschaft vollziehen: Abgewertet und fast bedeutungslos geworden sind ›Tugenden‹ wie ›Gehorsam und Unterordnung‹, ›Bescheidenheit und Zurückhaltung‹, ›Einfühlung und Anpassung‹ und ›Fester Glauben an Gott‹. 27
Von diesem Wertewandel sind zentrale Bereiche unseres Lebens betroffen. Ich möchte das exemplarisch an den Konzepten Familie und Identität aufzeigen. Wenn Familie zum Thema wird, dann scheinen alle zu wissen, wovon die Rede ist, und doch kann das nicht mehr ein gemeinsam geteilter Bestand sein: Das haben wir ja schon an der Pluralisierung der Lebensformen gesehen. Auch die Werte, Wünsche und Bedürfnisse, die mit Familie verkoppelt sind, haben sich im Zuge des Wertewandels deutlich verändert. Familie ist am besten als prozesshaftes Geschehen zur Herstellung von alltäglichem Vertrauen, Sicherheit, Verlässlichkeit und Intimität zu begreifen. Dies ist ein aktiver Herstellungsprozess, der im Ergebnis zu höchst unterschiedlichen Lösungen führen kann, und er ist permanent, das heißt immer wieder erneuer- und veränderbar. Familie ist kein Besitz, sondern ein gemeinsames Handlungssystem der beteiligten Personen, das
27 | Thomas Gensicke: »Wertewandel und Familie. Auf dem Weg zu ›egoistischem‹ oder ›kooperativem‹ Individualismus?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1994), S. 36-47, hier S. 47 (Hervorhebungen im Original).
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sich permanent neu organisieren muss, sozusagen ein permanenter »Balanceakt«28. Auch der Prozess der identitären Selbstverortung ist von den veränderten Wertvorstellungen in zentraler Weise betroffen. Die Vorstellung einer lebenslang stabil wirksamen Identität ist weniger tragfähig und wird durch die alltäglichen Lebenserfahrungen in Familie und Beruf in Frage gestellt. In der Dekonstruktion grundlegender Koordinaten modernen Selbstverständnisses sind vor allem Vorstellungen von Einheit, Kontinuität, Kohärenz, Entwicklungslogik oder Fortschritt zertrümmert worden. Begriffe wie Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch, Zerstreuung, Reflexivität oder Übergänge sollen zentrale Merkmale der Welterfahrung thematisieren. Identitätsbildung unter diesen gesellschaftlichen Signaturen wird von ihnen durch und durch bestimmt. Identität wird deshalb auch nicht mehr als Entstehung eines inneren Kerns thematisiert, sondern als ein Prozessgeschehen beständiger ›alltäglicher Identitätsarbeit‹,29 als permanente Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten. Die Vorstellung von Identität als einer fortschreitenden und abschließbaren Kapitalbildung »wird zunehmend abgelöst von der Idee, daß es bei Identität um einen ›Projektentwurf des eigenen Lebens‹ geht oder um die Abfolge von Projekten«30, wahrscheinlich sogar um die gleichzeitige Verfolgung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Projekte. Der beschriebene Wertewandel vollzieht sich nicht als eine kollektive Formierung, sondern er findet in einer chaotischen Vielfalt einfach statt, wird teilweise als große Chance zur Selbstgestaltung begriffen, kann aber auch Widerstände auslösen, die sich in einem möglichst starren Festhalten am immer schon Gehabten ausdrücken können. Insofern verstärkt der Wertewandel auch die Pluralisierung bzw. ist in seiner ›Ungleichzeitigkeit‹ auch Ausdruck der Pluralisierung. Wir können eine große Vielfalt der Mi28 | Maria S. Rerrich: Balanceakt Familie. Zwischen alten Leitbildern und neuen Lebensformen, Freiburg 1997. 29 | Vgl. dazu ausführlich: Heiner Keupp, Thomas Ahbe, Wolfgang Gmür u.a. (Hg.): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, dritte Auflage, Reinbek 2006. 30 | Heinz Hengst: »Was für Zeitgenossen. Über Kinder und kollektive Identität«, in: Heinz Hengst und Helge Kelle (Hg.): Kinder – Körper – Identitäten. Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel, Weinheim 2003, S. 333-346, hier S. 337.
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lieus, der Lebensstile und Identitätsinszenierungen konstatieren, und diese Vielfalt hat ›Farbe‹ in die soziokulturelle Landschaft gebracht, wie es sich in den 1950er Jahren kaum jemand vorstellen konnte. Ein wesentlicher Motor für diesen innerfamiliären Veränderungsprozess ist die Modernisierung der Frauenrollen. Frauen sind nicht mehr bereit, die klassischen Rollen zu übernehmen, die ihre Aufgaben und Zuständigkeiten in der familiären Innenpolitik sahen. Frauen, die sich in diesem Veränderungsprozess befinden, sind auch nicht mehr in klassischen Leitbildern zu fassen. In diesen Entwicklungen steckt die aktuelle und potentielle Überwindung der ›Halbierung der Moderne‹,31 wie es Ulrich Beck genannt hat. Frauen, die auf diesem Weg sind, akzeptieren nicht mehr ohne Weiteres das traditionelle Geschlechterarrangement. Wie aber soll dann überhaupt so etwas wie Familie gelebt werden? Eines scheint mir offensichtlich: Die allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die wir gegenwärtig zu begreifen versuchen, haben besonders weitreichende Konsequenzen für Familien. Diese können sich nicht als Reservate gegen Globalisierungsfolgen mit einer Schutzmauer umgeben. Anthony Giddens, einer der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostiker, hat in seinem Buch Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert geschrieben: Die wichtigste der gegenwärtigen globalen Veränderungen betrifft unser Privatleben – Sexualität, Beziehungen, Ehe und Familie. Unsere Einstellungen zu uns selbst und zu der Art und Weise, wie wir Bindungen und Beziehungen mit anderen gestalten, unterliegt überall auf der Welt einer revolutionären Umwälzung. […] In mancher Hinsicht sind die Veränderungen in diesem Bereich komplizierter und beunruhigender als auf allen anderen Gebieten. […] Doch dem Strudel der Veränderungen, die unser innerstes Gefühlsleben betreffen, können wir uns nicht entziehen. 32
31 | Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S. 179. 32 | Anthony Giddens: Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Aus dem Englischen übersetzt von Frank Jakubzik, Frankfurt a.M. 2001, S. 69.
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Gerade weil das so ist, haben die Krisendiagnostiker leichtes Spiel. Ihre Kassandrarufe werden gerne aufgegriffen, und sie ›missbrauchen‹ die in uns schlummernde mythologische Matrix. Die Basis für eine zeitgemäße familiäre Lebensmatrix lässt sich für mich mit Anthony Giddens als ›demokratische Familie‹ ansehen. Sie ist bestimmt durch folgende Merkmale:
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»Demokratie der Gefühle«33; Eltern-Kind-Beziehungen brauchen als Basis eine prinzipielle Gleichberechtigung – was nicht im Widerspruch zur elterlichen Autorität steht; Disziplin und Respekt bedürfen der Grundlage einer vernünftigen Begründung und »Demokratie bedeutet ebenso die Anerkennung von Pflichten wie von gesetzlich verankerten Rechten. Der Schutz der Kinder muss die erste Aufgabe von Gesetzgebung und Politik sein.«34
Das Zentrum der ›demokratischen Familie‹ bildet eine spezifische Beziehung, in der die Grundbedingungen für eine souveräne Lebensführung hergestellt werden: Eine gute Beziehung ist eine von Gleichberechtigten, in der jeder Partner gleiche Rechte und Pflichten hat. In einer solchen Beziehung respektiert jeder den anderen und wünscht sein Bestes. Die Beziehung beruht auf Kommunikation, daher ist das Verständnis für den Standpunkt des anderen von wesentlicher Bedeutung. Gespräch und Dialog sind die Grundlagen ihres Funktionierens. Beziehungen funktionieren dann am besten, wenn die Partner offen aufeinander zugehen – gegenseitiges Vertrauen ist nötig. Vertrauen muss man sich erarbeiten; man kann es nicht einfach als gegeben annehmen. Und schließlich ist eine gute Beziehung frei von willkürlicher Machtausübung, Zwang und Gewalt. 35
33 | Giddens: Entfesselte Welt, S. 82. 34 | Giddens: Entfesselte Welt, S. 82f. 35 | Giddens: Entfesselte Welt, S. 80f.
Verschwindet die Familie? Eine soziologische Bestandsaufnahme Sylka Scholz
1. E INLEITUNG Der Titel meines Beitrags knüpft an die vielfältigen Krisendiskurse an, die seit Jahrzehnten nicht mehr verstummen. Vor allem in den Medien ist die Familie ein Feld, das politisch umkämpft ist. Diese öffentliche Debatte, so der Familiensoziologe Günter Burkart, bewegt sich zwischen »Dramatisierung und Beschwichtigung«1 . Oft werden dieselben Zahlen ins Gefecht geführt – den einen dienen sie zum Beleg ihrer ›Zerfallsprognosen‹, den anderen zur Beruhigung. Burkart spricht in dieser Hinsicht von einer »Geschmeidigkeit der Daten«2 . Auch ich werde mich im Folgenden auf einige Daten beziehen und argumentieren, dass die Familie weder verschwindet, noch sich in einer ›Krise‹ befindet. Gleichwohl sind sich Familiensoziologen und -soziologinnen einig darüber, dass sich ein tiefgreifender Wandel vollzieht.3 Strittig ist die Frage, inwieweit die privaten Lebensformen tatsächlich pluralisiert sind. Ist etwa die nichteheliche Lebensgemeinschaft nur eine lebensphasenspezifische Lebensform, die von 20- bis 30-Jährigen bevorzugt wird, welche sich im vierten Lebensjahrzehnt doch für eine Ehe entscheiden, oder ist sie eine dauerhafte alternative Lebensform?
1 | Günter Burkart: Familiensoziologie, Konstanz 2008, S. 9. 2 | Burkart: Familiensoziologie, S. 15. 3 | Vgl. Karl Lenz: »Haben Familien und Familiensoziologie noch eine Zukunft?«, in: Günter Burkart (Hg.): Die Zukunft der Familie. 6. Sonderheft der Zeitschrift für Familienforschung, Opladen und Farmington Hill 2009, S. 73-92.
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Dieser soziologische Beitrag gibt einen Überblick über den Wandel der Familie. Das Thema des Sammelbandes, die Interkulturalität, dies sei gleich vorab konstatiert, ist bisher kaum ein Thema der Familiensoziologie: »Forschungen etwa zu bikulturellen Paaren oder transnationalen Familien umgibt immer noch ein Hauch von Exotik, Studien zur Struktur globaler Familiennetzwerke sind selten«4 . Die deutsche Familienforschung hat den »Veränderungen im Zusammenhang mit der Globalisierung bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt«5, und Elisabeth Beck-Gernsheim wirft ihr deshalb auch, gewohnt pointiert, einen »methodologischen Nationalismus«6 vor.7 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Erkenntnisse ein familiensoziologischer Beitrag zum Thema Familie und Interkulturalität beitragen kann. Ich möchte einerseits einen Überblick über den Wandel der familialen Lebensformen geben, und andererseits möchte ich vor allem begriffliche Arbeit leisten. Denn es ist eine zentrale Aufgabe der Soziologie, so Emile Durkheim, »die Dinge, die […] sie behandelt, zu definieren, damit man weiß und genau weiß, um welches Phänomen es sich handelt«8 . Meine Begriffsarbeit bezieht sich nicht nur auf die Definition von Familie, sondern auch auf Interkulturalität und Transnationalität: Handelt es sich dabei um unterschiedliche Phänomene oder lediglich um zwei Begriffe für denselben Sachverhalt?
4 | Günter Burkart: »Einblicke in die Zukunft der Familie«, in: Ders. (Hg.): Die Zukunft der Familie. 6. Sonderheft der Zeitschrift für Familienforschung, Opladen und Farmington Hill 2009, S. 9-31, hier S. 16. 5 | Burkart: Einblicke in die Zukunft, S. 16. 6 | Elisabeth Beck-Gernsheim: »Ferngemeinschaften. Familien in einer sich globalisierenden Welt«, in: Günter Burkart (Hg.): Die Zukunft der Familie. 6. Sonderheft der Zeitschrift für Familienforschung, Opladen und Farmington Hill 2009, S. 93-110, hier S. 94. 7 | Dies bestätigt sich bei einem Blick in aktuelle Lehrbücher der Familiensoziologie; vgl. Burkart: Familiensoziologie, Rüdiger Peukert: Familienformen im sozialen Wandel. Lehrbuch, Wiesbaden 2008, und Rosemarie Nave-Herz: Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde, Weinheim und München 2006. 8 | Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied 1976, S. 129.
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Zunächst gebe ich einen Überblick über den Wandel der Familienformen in Deutschland. Dabei beziehe ich mich auf die einschlägigen Statistiken und Studien (2.). Familien mit einem Migrationshintergrund gehen in diesen Daten zumeist auf, ich gebe anschließend einen Einblick in ihre Situation (3.). Aber was sagen die Daten genau über die Beschaffenheit der Familie der Gegenwart aus? Diskutiert werden unterschiedliche Familienbegriffe, die in der soziologischen Debatte miteinander konkurrieren; ich werde argumentieren, dass sie nur zum Teil geeignet sind, die Struktur von Familien mit Migrationshintergrund hinreichend zu erfassen (4.). Vor diesem Hintergrund wird aufgezeigt, dass Migration ein Familien- und Verwandtschaftsprojekt ist, sich jedoch die Wege der Familienkonstitution im historischen Zeitverlauf verändert haben (5.). Abschließend ziehe ich ein Resümee in Bezug auf die Ausgangsfrage (6.).
2. D ER W ANDEL VON F AMILIENFORMEN : E IN Ü BERBLICK IN Z AHLEN Entgegen der Dramatisierung eines angeblichen Verfalls der Familie in den Medien zeigen die Daten zwar eindeutig Pluralisierungsprozesse auf, zugleich wird aber deutlich, dass der größte Teil der Bevölkerung mit Kindern weiterhin in einer Ehe lebt. Eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) zur Pluralisierung von Lebensformen zwischen Mitte der 1990er und Mitte der 2000er Jahre zeigt, dass vor allem die nichtehelichen Lebensformen einen Anstieg erfahren haben:9 1996 lebten 1,0 Millionen Personen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern; 2005 waren es bereits 1,5 Millionen, hinzu kommen 3,4 Millionen Personen in Lebensgemeinschaften ohne Kinder. Man kann daher sagen, dass sich die nichteheliche Lebensgemeinschaft als eine anerkannte Lebensform in-
9 | Vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB): Bevölkerung. Daten, Fakten, Trends zum demographischen Wandel in Deutschland, Wiesbaden 2008, S. 60. Anzumerken ist, dass die Bearbeitung der Daten sehr zeitintensiv ist und deshalb die aktuell verfügbaren Daten einige Jahre zurückliegen. Alle im Folgenden angeführten Studien aus den staatlichen Institutionen wie dem BIB oder dem BMFSFJ sind auch im Internet verfügbar, auf die Wiedergabe der langen Internetadressen wurde aus Platzgründen verzichtet.
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stitutionalisiert hat und nicht nur als eine Art Probeehe fungiert.10 Auch der Anteil der Alleinerziehenden stieg weiter an von 2,2 Millionen auf 2,6 Millionen. Angewachsen ist auch der Anteil der Ehen ohne Kinder von 18,4 Millionen auf 19,3 Millionen; diese Lebensform liegt seit 2001 erstmalig über dem Anteil der Ehen mit Kindern, der dementsprechend gesunken ist. Dennoch sollte man eines bei dieser Entwicklung nicht übersehen: Der größte Teil der Bevölkerung lebte 2005 in einer ehelichen Familie mit Kindern (18,5 Millionen gegenüber 20,8 Millionen im Jahr 1996). Drei Viertel aller Kinder – dies belegen auch weitere Studien – wachsen bei ihren leiblichen Eltern auf.11 Hinsichtlich des Heirats- und Scheidungsverhaltens lassen sich folgende Tendenzen zusammenfassen:12 Im historischen Zeitverlauf seit den 1950er Jahren heiraten immer weniger Paare. Wurden im Jahr 1950 noch 11 Ehen je 1.000 Einwohner geschlossen – das sind insgesamt 740.000 Eheschließungen – waren es 2006 4,5 Ehen pro 1.000 Einwohner – das sind nur noch 374.000 Trauungen. Auf eine geschlossene Ehe kommen gegenwärtig sehr viel mehr Scheidungen, als dies in den 1960er und 1970er Jahren der Fall war. So wurde etwa 1960 eine Ehe pro 1.000 Einwohner geschieden, 2006 war dieses Verhältnis auf 2,3 angestiegen. Die Relation von Ehen zu Scheidungen belief sich 2006 auf 374.000 geschlossene Ehen zu 191.000 Ehescheidungen. Bei einem Anhalten der derzeitigen Scheidungshäufigkeit würden 42 % der geschlossenen Ehen wieder geschieden werden. In der historischen Entwicklung zeigt sich seit den 1970er Jahren ein zunehmender Überschuss der Ehelösungen gegenüber den Eheschließungen. 2006 hatte die Hälfte der geschiedenen Ehepartner Kinder unter 18 Jahren; 149.000 minderjährige Kinder waren von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. Hinsichtlich der Entwicklung der Geburtenhäufigkeit zeigen sich im historischen Zeitverlauf von 1871 bis 2006 zwei massive Geburtenrückgänge, die in der Sprache der Demographie als erste und zweite demo-
10 | Vgl. dazu auch Peukert: Familienformen, S. 32-95. 11 | Vgl. Statistisches Bundesamt: Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2009. 12 | Vgl. Statistisches Bundesamt: Datenreport 2006. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2007, S. 41, und Statistisches Bundesamt: Datenreport 2008, S. 32.
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graphische Transition bezeichnet werden:13 Um 1900 setzte ein Geburtenrückgang ein, der mit der Industrialisierung zusammenhing. Zwischen 1890 und 1915 reduzierte sich die Geburtenrate von 4,7 auf 2,9 Kinder pro Frau. Ein zweiter gravierender Geburtenrückgang ist ab den 1960er Jahren zu verzeichnen; er hing mit den Individualisierungsprozessen von Frauen, aber auch mit der Verfügbarkeit von sicheren Verhütungsmitteln zusammen. Von 1965 bis 1975 reduzierte sich die Geburtenrate auf 1,4 Kind pro Frau und ist seitdem konstant niedrig. Deutschland gilt als ein NiedrigFertilitätsland. Während sich mit dem ersten Geburtenrückgang die sogenannte Normalfamilie herausbildete – ein verheiratetes Paar mit zwei bis drei Kindern –, beginnt mit dem zweiten Geburtenrückgang die Dominanz dieser Familienform zu verschwinden. Das Leben ohne Kinder entwickelt sich zu einer weit verbreiteten Lebensform.14 In der Geburtenkohorte der 1950er bis 1960er Jahre, bei denen die fertile Lebensphase als abgeschlossen gelten kann, liegt der Anteil von Frauen ohne Kinder bei 20 % und bei Männern bei 25 %.15 In Bezug auf die familiale Lebensform bildet sich die sogenannte Bohnenstangenfamilie heraus: In der horizontalen Verwandtschaftsdimension wird die Anzahl der Geschwister, Cousins und Cousinen geringer. In der vertikalen Verwandtschaftsdimension breitet sich die Familie durch die höhere Lebenserwartung aus: Die Wahrscheinlichkeit, dass die heute geborenen Kinder nicht nur ihre Großeltern, sondern auch ihre Urgroßeltern über einen längeren Zeitraum kennen werden, ist groß. Die Vier-Generationen-Familie wird zu einer neuen Normalität. Studien zur Kommunikationsdichte zwischen den Familiengenerationen belegen, dass der Kontakt zwischen den Familienmitgliedern eng ist, auch wenn 13 | Vgl. BIB: Bevölkerung, S. 36. 14 | Vgl. Jürgen Dorbritz und Karl Schwarz: »Kinderlosigkeit in Deutschland – ein Massenphänomen?«, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 3 (1996), S. 231-261. 15 | Vgl. Christian Schmitt: »Kinderlosigkeit bei Männern – Geschlechtsspezifische Determinanten ausbleibender Vaterschaft«, in: Angelika Tölke und Karsten Hank (Hg.): Männer – Das vernachlässigte Geschlecht in der Familienplanung. 4. Sonderheft der Zeitschrift für Familienforschung, Wiesbaden 2005, S. 18-43. Grundsätzlich liegt die Kinderlosigkeit von Männern in allen Untersuchungen etwas höher, es gibt zum einen Probleme bei der Datenerhebung, zum anderen wird angenommen, dass Männern manchmal die Vaterschaft verschwiegen wird.
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die Familie nicht an einem Ort lebt. Der Familiensoziologe Hans Bertram spricht deshalb von der »multilokale[n] Mehrgenerationenfamilie«16 in Abgrenzung zu Talcott Parsons’ ›neolokaler Gattenfamilie‹.
3. F AMILIEN MIT M IGR ATIONSHINTERGRUND : Ü BERBLICK UND BEGRIFFLICHE S CHWIERIGKEITEN Gewöhnlich sind in den dargestellten Statistiken Familien mit Migrationshintergrund enthalten, sie werden nicht extra ausgewiesen. Will man sich einen Überblick über den Wandel dieser Familien verschaffen, so muss man auf spezielle Untersuchungen zurückgreifen und steht gleichwohl vor einer Reihe begrifflicher und methodischer Probleme. Der Begriff ›Interkulturalität‹ wird in der Familiensoziologie und in den statistischen Untersuchungen nicht benutzt; stattdessen spricht man vom ›Migrationshintergrund‹. Einen solchen haben laut Migrationsbericht 2008 »alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil«17. Der aktuelle Migrationsbericht gibt folgende Zahlen an: Als Resultat der langjährigen Zuwanderung nach Deutschland haben mittlerweile über 15 Millionen Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund. Das sind 19 % der Gesamtbevölkerung. Von der Bevölkerung mit Migrationshintergrund besitzen 8,3 Millionen die deutsche und 7,3 Millionen Personen eine ausländische Staatsangehörigkeit. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist selbst zugewandert, während ein Drittel bereits in Deutschland geboren wurde. Der stärkste Zuwachs ist bei »Deutschen mit Migrationshintergrund, aber ohne eigene Migrationserfahrung zu verzeichnen, also bei den
16 | Hans Bertram: »Die verborgenen familiären Beziehungen in Deutschland: Die multilokale Mehrgenerationenfamilie«, in: Martin Kohli und Marc Szydlik (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 97-121. 17 | BMI und BAMF: Migrationsbericht 2008 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung, Berlin und Nürnberg 2010, S. 235.
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in Deutschland geborenen Nachkommen der Zuwanderer«18. Die Zuwanderungszahlen sind hingegen seit Mitte der 1990er Jahre rückläufig.19 Der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund ist in den jüngeren Altersstufen am größten.20 Bei den Kindern unter zehn Jahren hat ein Drittel einen Migrationshintergrund. Auch in der Altergruppe bis 35 Jahren liegt der Anteil deutlich über einem Fünftel der Gesamtbevölkerung. Bedenkt man, dass ein großer Teil dieser Kinder keine eigenen Migrationserfahrungen hat, wirft dieses Phänomen die Frage nach der Definition von Interkulturalität auf. Dies gilt auch für die sogenannten binationalen Ehen.21 Im Jahr 2006 wurden insgesamt 377.000 Ehen geschlossen, davon waren 89 % deutschdeutsche Ehen, 9 % binationale und in 2 % der Fälle hatten beide Ehepartner keine deutsche Staatsbürgerschaft. Dabei ist die Geschlechterrelation ungleich: Es werden mehr Ehen zwischen deutschen Männern und nichtdeutschen Frauen geschlossen (6,2 % Männer, 4,8 % Frauen). Hinsichtlich der Nationalität bevorzugen deutsche Männer polnische Frauen und deutsche Frauen türkische Männer. Gerade bei den binationalen Ehen gibt es aber Probleme der Definition: Man sieht binationalen Eheschließungen nicht an, ob es sich bei der Heirat eines deutschen Mannes mit einer osteuropäischen Frau um eine Kettenmigration handelt, die von einem eingebürgerten ›Aussiedler‹ ausgelöst worden ist, und ob es sich bei der deutschen Ehefrau eines türkischen Mannes um einen eingebürgerte Türkin handelt, die somit ein Mitglied aus der Herkunftsgesellschaft heiratet. Um diese Prozesse zu erfassen, müssen nationale und ethnische Zugehörigkeit strikt unterschieden werden. Beide Ehepartner können die gleiche Nationalität haben, aber dennoch verschiedenen ethnischen Gruppen angehören, sie können verschiedene Nationalitäten haben, aber gleichen
18 | BMI: Migrationsbericht 2008, S. 236. 19 | Vgl. BMI: Migrationsbericht 2008. 20 | Vgl. BMFSFJ: Familienreport 2010. Leistungen Wirkungen Trends, Berlin 2010, S. 81. 21 | Vgl. Statistisches Bundesamt: Datenreport 2008, und IAF Verband binationaler Familien und Partnerschaften: Binationale Familien und Partnerschaften. Zahlen und Fakten. URL: www.verband-binationaler.de (letzter Zugriff am 01.08.2011).
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ethnischen Gruppen zugehören.22 Diese Differenzierung ist für eine interkulturelle Perspektive wichtig. Will man sich nun in einem weiteren Schritt einen Überblick über die Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen von Migranten verschaffen, so steht man vor dem Problem, dass sie »in der Migrationsforschung selten explizit thematisiert«23 werden. Die Forschung richtet ihren Blick auf den individuellen Akteur im Migrationsprozess und auf die sogenannte ethnische Kolonie (ethnic community). Die Familiensoziologie wiederum, dies hatte ich bereits am Anfang erwähnt, beachtet die Situation migrantischer Familien nur am Rande. In der Familienberichterstattung, die an der Schnittstelle von Familienpolitik und Familienforschung angesiedelt ist, widmet sich der sechste Familienbericht aus dem Jahr 2000 explizit der »Familie ausländischer Herkunft in Deutschland«, im siebenten und vorläufig letzten Familienbericht wird die Thematik (wieder) nur randständig behandelt.24 Gleichwohl liegt eine Reihe von Einzelstudien in der Geschlechterforschung und in der Ethnologie vor, auf die im Rahmen dieses Aufsatzes nur exemplarisch Bezug genommen wird.25 Im Hinblick auf die Lebenssituation von Familien mit Migrationshintergrund ist zwischen wissenschaftlichen Studien und medialer Wahrnehmung eine Differenz festzustellen. Die von Burkart festgestellte »Dramatisierung« in Bezug auf den Wandel der Familie gilt für die migrantischen Familien umso mehr: Es kursieren »Negativ-Klischees«26 insbesondere über rückständige türkische Frauen und gewaltaffine türkische Jugendli22 | Eine tabellarische Darstellung der verschiedenen Kombinationen findet sich in BMFSFJ: Sechster Familienbericht. Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen – Belastungen – Herausforderungen, Berlin 2000, S. 79. 23 | Bernhard Nauck: »Integration und Familie«, in: APUZ 22-23 (2007), S. 1925, hier S. 19. 24 | Vgl. BMFSFJ: Sechster Familienbericht und BMFSFJ: Siebenter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, Berlin 2006. 25 | An dieser Stelle sei auf den Aufsatz von Cornelia Helfferich im vorliegenden Band verwiesen. 26 | Sinus Sociovision: Zentrale Ergebnisse der Sinus-Studie über Migranten-Milieus in Deutschland. URL: www.sinus-institut.de (letzter Zugriff am 17.09.2011).
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che, die Heterogenität der Lebenssituation von Menschen mit Migrationshintergrund wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Gleichwohl sind Polarisierungen und Stereotype auch in der Forschung leider keine Ausnahme.27 Im Gegensatz dazu zeigt die erste Sinus-Studie über die Migrantenmilieus aus dem Jahr 2008 eine vielfältige und differenzierte Milieulandschaft: »Im Ergebnis sind die Unterschiede in der sozialen Lage, d.h. hinsichtlich Einkommens- und Bildungsniveau, zwischen Migranten und Menschen ohne Migrationshintergrund nicht sehr groß«28 . Die in der Gesellschaft verbreiteten Klischees beziehen sich insbesondere auf das religiös verwurzelte Milieu, dem 7 % der Bevölkerung angehören, und auf Teile des hedonistisch-subkulturellen Milieus, dessen Bevölkerungsanteil 15 % umfasst. Das Segment der gehobenen Mitte ist in der Migrationspopulation aber geringer ausgeprägt als in der Gesamtgesellschaft, dies verweist auf weiter bestehende soziale Ungleichheiten zwischen der autochthonen und der migrantischen Bevölkerung.29 Ebenso wie hinsichtlich der sozialen Lage gibt es im Hinblick auf die privaten Lebensformen zwischen Familien mit Migrationshintergrund und nicht-eingewanderten Familien kaum noch Unterschiede.30 Die Familien27 | Vgl. den Forschungsüberblick zum Thema Familie in der pädagogischen Migrationsforschung von Franz Hamburger und Merle Hummrich: »Familie und Migration«, in: Jutta Ecarius (Hg.): Handbuch Familie, Wiesbaden 2007, S. 112134; zum Gegenstand Migration und Geschlecht vgl. Helma Lutz: »Migrationsund Geschlechterforschung: Zur Genese einer komplizierten Beziehung«, in: Ruth Becker und Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2008, S. 565-573. 28 | Sinus: Zentrale Ergebnisse, S. 4. 29 | Zur Einkommenssituation und sozialen Lage der Familien mit Migrationshintergrund vgl. BMFSFJ: Sechster Familienbericht, und BAMF: Basisbericht: Berichtband. Repräsentativbefragung »Ausgewählter Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007«, Nürnberg 2010. 30 | Vgl. im Folgenden BMFSFJ: Sechster Familienbericht, Nauck: Integration, und Bernhard Nauck: »Dreißig Jahre Migrationsfamilien in der Bundesrepublik. Familiärer Wandel zwischen Situationsanpassung, Akkulturation, Segregation und Reimigration«, in: Rosemarie Nave-Herz (Hg.): Kontinuität und Wandel der Familie in Deutschland. Eine zeitgeschichtliche Analyse, Stuttgart 2002, S. 315-339.
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stände haben sich im historischen Verlauf angeglichen; kamen zunächst vor allem ledige junge Männer als Arbeitsmigranten nach Deutschland, so leben sie heute in Familien. Die Verheiratungsquote der Männer ist über alle Nationalitäten hinweg etwas höher als bei deutschen Männern ohne Migrationshintergrund. Übergreifend ist auch die Tendenz, dass die Frauen jünger heiraten und früher Kinder bekommen als deutsche Frauen ohne Migrationshintergrund. Die Scheidungsrate ist niedriger als bei deutschen Ehepartnern. Die Geburtenrate der Migrantinnen ist ähnlich wie bei den deutschen Frauen ohne Migrationshintergrund gesunken. »Migration«, so der Familiensoziologe Bernhard Nauck, »ist mit einer Reduzierung der Geburten verbunden«31 . Türkische eingewanderte Frauen z.B. bekommen in Deutschland zwei bis drei Kinder, ein viertes Kind ist selten, während in der Türkei vier und mehr Kinder von einer Frau geboren werden. In Bezug auf Familien mit Migrationshintergrund lässt sich insgesamt feststellen, dass sie im Vergleich zu deutschen Familien ohne Migrationshintergrund häufiger in einer Ehe mit Kindern leben. Dies bedeutet aber nicht, dass sie ›konservativer‹ wären, wie der Milieuvergleich zeigt. Es liegt daran, dass die Migration ein Familien- und Verwandtschaftsprojekt ist, auf diesen Aspekt gehe ich im fünften Abschnitt genauer ein.
4. W ER IST EINE F AMILIE ? D EBAT TEN UM DEN F AMILIENBEGRIFF Ich möchte nun genauer der Frage nachgehen, was in der Familiensoziologie unter Familie verstanden wird. »In der Wissenschaftssprache«, so Rosemarie Nave-Herz, »fehlt es an einer allgemein anerkannten Definition von Familie«32 . Dies folgt einerseits aus den unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Traditionen. Anderseits, so die Kritik prominenter Vertreterinnen und Vertreter, geht die Familiensoziologie immer noch vom Modell der bürgerlichen Familie mit der entsprechenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann aus, ohne dies jedoch hinreichend zu explizieren.33 Es ist jedoch fraglich, ob alle Ehepaare mit Kindern diesem Familienmodell entsprechen, weshalb es notwendig ist, Familie neu 31 | Nauck: Dreißig Jahre, S. 326. 32 | Nave-Herz: Ehe- und Familiensoziologie, S. 30. 33 | Vgl. Lenz: Zukunft der Familie, und Nave-Herz: Ehe- und Familiensozologie.
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zu definieren. Ich möchte aus der umfangreichen Debatte die Definitionen von zwei einschlägigen Familiensoziologen miteinander kontrastieren. Günter Burkart geht von einem Strukturmodell der modernen Kleinfamilie aus.34 Die Grundstruktur der Kernfamilie lässt sich als Kreuztabellierung zweier dichotomer Strukturmerkmale darstellen: Filiation (= Abstammung) und Konjugalität (= Ehelichkeit). Der Zusammenhang von zwei Geschlechtern und zwei Generationen charakterisiert die Kernstruktur der modernen Familie. Burkart schließt damit an das von Talcott Parsons in den 1950er Jahren entwickelte Modell der modernen Kernfamilie an.35 Dieses weist in der Binnenstruktur dem Vater die instrumentelle und der Mutter die expressive Rolle zu. Zwar ist das Modell insbesondere aus Geschlechterperspektive vielfach kritisiert worden,36 aber nach Burkart kann man es als ein theoretisches Modell begreifen, zu dem die Praxis erst in Bezug gesetzt werden muss. Für eine Minimaldefinition von Familie genügt heute aus seiner Perspektive die Filiation: die Beziehung zwischen einem Elternteil und einem Kind. Burkart geht davon aus, dass der Familie immer noch bestimmte Grundfunktionen zukommen: Er spricht von biologischer Reproduktion, welche das Prinzip der verantwortlichen Elternschaft umfasst. Die Sozialisationsfunktion bezieht sich insbesondere auf die primäre Sozialisation. Die Familie hat in Deutschland immer noch das »Monopol für die Kleinkindsozialisation«37, und die Anforderungen an eine gute Erziehung steigen sogar. Zu nennen ist die soziale Reproduktion, sie bezieht sich auf die Aspekte Regeneration, Erholung, Entspannung, aber auch auf emotionale Stabilisierung, Gesundheit, Unterstützung, wechselseitige Hilfe. Ebenso ist die Statuszuweisung eine zentrale Funktion: Der Lebenserfolg von Kindern hängt stark von der sozialen Herkunft ab, wie die Pisaund Folgestudien hinreichend belegt haben. Karl Lenz geht hingegen davon aus, dass auf der Ebene der Familienwirklichkeit »die Abkehr vom bürgerlichen Familienmodell weit fortge-
34 | Vgl. Burkart: Familiensoziologie, S. 140. 35 | Vgl. u.a. Talcott Parson: »The normal American family«, in: Barash Meyer und Alice Scourby (Hg.): Marriage and the Family. A Contemporary Analysis of Contemporary Problems, New York, S. 193-211. 36 | Vgl. z.B. Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, Opladen 1998. 37 | Burkart: Familiensoziologie, S. 145.
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schritten«38 ist. Für ihn sind drei zentrale Wandlungstendenzen ausschlaggebend: Das bürgerliche Ideal, dies ist der erste Aspekt, beinhaltete, dass Frauen ein Leben lang nicht erwerbstätig sind. Hingegen ist die temporäre Unterbrechung der Berufstätigkeit im Zuge der Familiengründung zur Normalität geworden. Zum zweiten ist die institutionelle Koppelung von Ehe und Familiengründung brüchig geworden. Die hohen Scheidungszahlen verweisen sogar auf eine riskante Koppelung: Die Instabilität der Ehe gefährdet das Eltern-Kind-Verhältnis. Familien haben, dies ist die dritte Tendenz, durch die fortschreitende Vergesellschaftung an Autonomie verloren. Die für die bürgerliche Familie typische starke Abgrenzung nach außen existiert nicht mehr. In dieser Hinsicht ist nicht nur die Institution Schule zu nennen, sondern auch die starke Verrechtlichung: Das Kindswohl wird dem Elternrecht entgegengesetzt. Lenz formuliert in Abgrenzung vom bürgerlichen Familienbegriff, der einer bestimmten historischen Epoche entspringt, einen »Allgemeinbegriff mit überzeitlicher und überräumlicher Geltung«39 . Er argumentiert anthropologisch: Kinder sind auf dauerhafte und zuwendungsintensive Unterstützungsleistungen von Erwachsenen angewiesen, deshalb kann man einen ›universalen Familienbegriff‹ formulieren. Ausschlaggebend für die Konstitution einer Familie ist die Generationendifferenz: »Mit Familie wird demzufolge auf die Zusammengehörigkeit von zwei und mehreren aufeinander bezogenen Generationen hingewiesen, die zueinander in einer Beziehung von Elter und Kind stehen«40. Explizit plädiert Lenz für die Benutzung des Singulars »Elter«, um der Familienrealität gerecht zu werden. Bedeutsamer als die biologische Elternschaft ist seiner Meinung nach die Übernahme der sozialen Elternschaft. Es ist anzunehmen, dass ein Teil der Kinder im Lebensverlauf in Zukunft mehr als eine soziale Mutter und/oder einen sozialen Vater haben wird. Insgesamt halte ich den Familienbegriff von Lenz für flexibel genug, die unterschiedlichen Familienrealitäten analytisch zu erfassen, auch wenn er seinen Blick nicht explizit auf Phänomene der Inter- oder Transkulturalität richtet. Burkart hält hingegen am bürgerlichen Familienmodell fest, auch wenn er es als theoretisches Strukturmodell deklariert. Gerade Fami38 | Lenz: Zukunft der Familie, S. 77; vgl. auch Karl Lenz: »Familie – Abschied von einem Begriff?«, in: Erwägen – Wissen – Ethik 14 (2003), S. 485-498. 39 | Lenz: Zukunft der Familie, S. 78. 40 | Lenz: Zukunft der Familie, S. 78.
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lien mit Migrationshintergrund sind jedoch in ein komplexes Verwandtschaftsnetzwerk eingebunden. Dieses ließe sich durchaus mit einen anthropologischen Familienbegriff erfassen, der auch die Verflechtung von Generationenbeziehungen fokussiert.
5. M IGR ATION ALS F AMILIEN UND V ERWANDTSCHAF TSPROJEK T : V ER ÄNDERTE W EGE DER F AMILIENKONSTITUTION Die Migrationsforschung belegt, dass Migration immer in einen Familienund Verwandtschaftskontext eingebunden ist, unabhängig davon, ob eine einzelne Person wandert oder eine Familie. Die hohen Verheiratungsquoten verweisen auf diese familiale Eingebundenheit der Migrationsprozesse, sagen aber noch nichts über die sich dahinter verbergende Komplexität aus. Nach Nauck ist die »Heterogenität Kennzeichen von Migrantenfamilien«41, sie unterscheiden sich nach regionaler Herkunft, vollzogenem Eingliederungsprozess und Statusdifferenz. Insofern müsste, so Nauck weiter, der Wandel der Familie auf mehreren Ebenen untersucht werden: hinsichtlich des gesamtgesellschaftlichen Wandels in der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft, des sozialstrukturellen Wandels in der Zusammensetzung der Migranten-Population, des intergenerativen Wandels und des intragenerativen Wandels. Diese Wechselwirkung zwischen Verlauf der Migrations- und Eingliederungskarriere und dem Verlauf der Familienkarriere ist bisher kaum in Ansätzen untersucht.42 Konstatieren lässt sich aber, dass sich im historischen Verlauf der Status der Migrantenfamilien verändert hat. Bei der zunächst vorherrschenden Arbeitsmigration war Familie, so Franz Hamburger und Merle Hummrich, eine ›Folgeerscheinung‹ der Wanderung einzelner Arbeitskräfte, die in der Aufnahmegesellschaft in Kauf genommen wurde, obwohl nur ein ökonomisches Interesse an den einzelnen Arbeitskräften bestand. Unter den aktuellen Bedingungen internationalisierter Heiratsmärkte wird Familie »zu einem Migration erzeugenden Faktor«43 , denn Arbeitsmigranten werden – und dies gilt auch für viele andere Länder – in Deutschland nicht 41 | Nauck: Integration, S. 15. 42 | Vgl. auch Hamburger und Hummrich: Familie. 43 | Hamburger und Hummrich: Familie, S. 129.
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mehr aufgenommen. Gefragt sind nur noch spezifische Fachkräfte, deren Zuwanderung streng geregelt ist.44 Die Familienzusammenführung bleibt aber ein Weg, über den Migration erfolgt, auch wenn in diesem Bereich die Regeln strenger geworden sind.45 So zeigt Nauck eine historische Verschiebung im Heiratsverhalten auf. Da die intra-ethnische Gruppe zunächst klein war, heiraten die meist männlichen Arbeitsmigranten in die Aufnahmegesellschaft hinein. Nachdem sich die ethnische Gruppe vergrößert hatte, wurde und wird vermehrt interethnisch geheiratet. Dabei wird nicht nur auf die eigene Migrantenminorität zurückgegriffen, sondern auch auf die jeweilige Herkunftsgesellschaft und darin wiederum auf eine spezifische ethnische, regionale oder verwandtschaftliche Abstammung. Nauck prognostiziert eine anhaltende Nachfrage von Angehörigen der Migrantenminorität der zweiten Generation nach Heiratspartnern aus dem Herkunftsland, denn der »eigene verfestigte Aufenthaltsstatus […] dient als Offerte auf dem Heiratsmarkt in der Herkunftsgesellschaft, um dort einen Ehepartner mit höherem sozialen Status zu finden«46. Die auf solchen Wegen entstandenen Beziehungen haben durchaus den Charakter bikultureller Partnerschaften und Ehen. Dabei verläuft der Migrationsprozess nicht in eine Richtung vom Herkunfts- in das Aufnahmeland; typisch ist vielmehr die »Pendelmigration«47, das Wandern zwischen den Ländern. »Die Fluktuation gerade der ausländischen Wohnbevölkerung ist weiterhin hoch, sodass man von einem lebendigen – oder unruhigen – Migrationsland sprechen kann«, es dominieren »Wanderungsnetzwerke und transnationale soziale Räume der legalen und illegalen Wanderung«48. Entsprechend findet sich in der aktuellen Debatte zunehmend der Begriff der transnationalen Familie. Drei exemplarische Familienkonstellationen lassen sich nach BeckGernsheim gegenwärtig unterscheiden: transnationale Ehen, transnationale Mutterschaft und transnationale Formen des Aufwachsens.49 Diese werde ich im Folgenden genauer darstellen. Das Heiratsverhalten von Mi44 | Vgl. BMI: Migrationsbericht 2008. 45 | Seit 2007 müssen beispielsweise deutsche Sprachkenntnisse nachgewiesen werden. 46 | Nauck: Integration, S. 20. 47 | BMFSFJ: Sechster Familienbericht, S. 202. 48 | Hamburger und Hummrich: Familie, S. 115. 49 | Vgl. Beck-Gernsheim: Ferngemeinschaften.
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granten lässt über die Nationalitäten hinweg eine »Grundlinie«50 erkennen: Ein höherer Anteil heiratet einen Partner bzw. eine Partnerin aus dem Herkunftsland. Als eines der zentralen Motive für eine solche Heirat gilt eben die Einreise in eines der Wohlstandsländer. Die Partnerwahl ist eingebunden in ein weit verzweigtes Netzwerk des Familienverbandes und ist somit nicht nur die Angelegenheit zweier Individuen, sondern diejenige der Familieninteressen. Beck-Gernsheim thematisiert weniger die Zwangsehen, sondern, dass eine Heirat als »Türöffner« fungiert und als eine »Migrationsstrategie«51 zu verstehen ist. Bei vielen der auf diese Weise zustande kommenden Ehen kann man von interkulturellen Beziehungen sprechen, denn beide Partner haben zwar die gleiche ethnische Zugehörigkeit, leben aber bis zur Eheschließung in unterschiedlichen Kulturen. Im Zuge der Hausarbeitsmigration entsteht das Phänomen der transnationalen Mutterschaft. Nachweislich hat im Zuge des gestiegenen Bedarfs an Hausarbeiterinnen die Migration ein weibliches Gesicht erhalten. War das Dienstmädchen im 19. Jahrhundert ein Statussymbol der bürgerlichen Familie, hat sich seit den 1990er Jahren eine »informelle Lösung«52 in den an Partnerschaftlichkeit orientierten besser situierten Familien etabliert: das Weiterreichen der Hausarbeit, aber auch der Kinderbetreuung und der Pflege von Privatpersonen an weibliche Migranten aus Asien, Lateinamerika, Afrika, Osteuropa.53 Die Frauen kommen nicht trotz, sondern wegen ihres hohen Bildungskapitals, welches im Herkunftsland keine Verwendung findet, sie besitzen oft Fremdsprachenkenntnisse und sind in soziale internationale Netzwerke eingebunden. Ihr Geschlecht fungiert als Ressource, denn Hausarbeit ist eine, so Helma Lutz, »ganz besonders vergeschlechtlichte Aktivität, die emotional hochgradig aufgeladen ist und
50 | Beck-Gernsheim: Ferngemeinschaften, S. 97. 51 | Beck-Gernsheim: Ferngemeinschaften, S. 99; vgl. auch Nauck: Dreißig Jahre, und Nauck: Integration. 52 | Helma Lutz: »Der Privathaushalt als Weltmarkt für weibliche Arbeitskräfte«, in: Peripherie 25 (2005), S. 65-87, hier S. 69. 53 | Es gibt keine legalen Rekrutierungsprogramme und keine verlässlichen Zahlen. Schätzungen gehen von 3 Millionen Haushalten aus, die putzen lassen; es ist ein illegaler Markt und die Haushaltsarbeiterinnen sind meist Illegale; vgl. Lutz: Privathaushalt.
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Identität stiftet«54 . Die Umverteilung auf eine andere Frau ist genau deshalb so stark akzeptiert. Viele der immigrierenden Frauen sind Mütter. Sie bleiben mit ihren Familien verbunden und bewegen sich in einem transnationalen Migrationsraum. So entstehen neue sozio-kulturelle Muster der Vergesellschaftung, welche die Elemente der Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft miteinender vermengen und zu einer Neumischung in hybrider Form führen. Die Haus- und Fürsorgearbeit wird von Frauen aus dem großen Verwandtschaftsverbund oder von Migrantinnen aus noch ärmeren Ländern übernommen. Auf diese Weise entstehen »globale Betreuungsketten, die sich über Länder und Kontinente spannen«55 . Verbunden ist die transnationale Mutterschaft mit spezifischen Vorstellungen von Mutterschaft.56 Während im europäischen Kulturkreis Mutterschaft als ›Sorge für das Kind‹ verstanden wird und mit einem Konzept der intensiven Bemutterung einhergeht, findet sich in Lateinamerika eine Vorstellung von Mutterschaft als ›Sorge um das Kind‹, verstanden als finanzielle Unterstützung. Eine Mutter, die ihr Kind liebt, so die Logik, verlässt es, um anderswo die Grundlagen für eine bessere Zukunft zu schaffen. Die Kinder werden aber auch selbst zu einer ›Migrationsstrategie‹ – dies ist der dritte Weg der Familienkonstitution. Beck-Gernsheim differenziert zwei Formen: den »Entbindungstourismus« und eine »Erziehung zum Weggehen«57. Entbindungstourismus meint, dass die Mütter kurz vor der Geburt meist illegal über die Grenze gehen und ihr Kind gebären. Dieses Phänomen findet sich vor allem in Mexiko. Die in den USA geborenen Kinder können dann als amerikanische Staatsbürger im Alter von 18 Jahren einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen. In der zweiten Variante investiert der gesamte Familienverband in die Ausbildung eines Kindes, das gegebenenfalls Eltern und Geschwister nachholen kann. Dies betrifft insbesondere Kinder ostasiatischer Herkunft, die seit den 1980er Jahren vermehrt in den USA ausgebildet werden. Alle drei beschriebenen Familienkonstellationen belegen, dass Migration ein Familien- und Gemeinschaftsprojekt ist. Entsprechende Studien 54 | Lutz: Privathaushalt, S. 73. 55 | Beck-Gernsheim: Ferngemeinschaften, S. 100. 56 | Vgl. Helma Lutz: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt: Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, Opladen 2007. 57 | Beck-Gernsheim: Ferngemeinschaften, S. 102.
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zeigen, dass die intergenerative Transmission in Migrantenfamilien stärker ausgeprägt ist: Die Einstellungen zwischen Eltern und Kindern sind konformer, man kann von einer »Ko-Orientierung«58 sprechen. Die Kinder besitzen eine hohe Bereitschaft, die von ihnen erwartete Solidarleistung zu erbringen, denn stabile intergenerative Beziehungen sind der wichtigste Schutzfaktor gegen mögliche Marginalisierung. Unterschiede zeigen sich in den Generationen hinsichtlich der Stellung im Eingliederungsprozess: Kinder sind stärker in die Aufnahmegesellschaft integriert. Generell belegen die empirischen Befunde einen klaren intergenerativen Trend in Richtung eines stärkeren kulturellen und sozialen Kontakts bei der zweiten Generation – mit zwei Ausnahmen. Sowohl die ›Aussiedler‹ genannten Einwanderer aus dem osteuropäischen Raum als auch eine Gruppe türkischer männlicher Jugendlicher entwickeln eine starke ethnische Identifikation, die zu größerer sozialer Distanz zur Aufnahmegesellschaft führt. Sie antizipieren höhere Erwartungen, als die Eltern tatsächlich an sie haben. Dieses ethnische Revival geht oft mit einer normativen Geschlechtsrollenorientierung und einer rigiden Kontrollüberzeugung einher, die stärker ausgeprägt sind als bei den Eltern.59
6. R ESÜMEE Insgesamt zeigen die verschiedenen Studien, dass zwar die Zahl der Familien abnimmt und die Familiengründung im wachsenden Maße keine kulturelle Selbstverständlichkeit mehr ist, die Familie aber dennoch nicht verschwinden wird. Es gibt, so Lenz, keine Anzeichen dafür, dass Familien »durch ein anderes Sozialarrangement für das Aufwachsen von Kindern abgelöst werden«60. Dies gilt sowohl für Familien mit als auch ohne Migrationshintergrund. Der sechste Familienbericht formuliert pointiert, dass Migration »erheblich zur Stabilisierung (und nicht etwa zur Anomisie-
58 | Nauck: Integration, S. 22; vgl. auch Nauck: Dreißig Jahre, BMFSFJ: Sechster Familienbericht, sowie Hamburger und Hummrich: Familie. 59 | Zu den Geschlechtsrollenorientierungen und zur Arbeitsteilung in migrantischen Familien vgl. BMFSFJ: Sechster Familienbericht, S. 89-95. Entgegen den medialen Klischees sind diese deutlich weniger traditional ausgerichtet. 60 | Lenz: Zukunft, S. 81.
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rung)«61 der Gesellschaft beiträgt. Jedoch sollte der verstärkte Blick auf die Potentiale migrantischer Familien, wie ihn der Familienbericht fokussiert, die durchaus bestehenden Schwierigkeiten in der Integration nicht verdecken. Dem Negativ-Klischee sollte nicht eine Hypostasierung der Migration als Ausdruck einer moderneren Lebensführung, verbunden mit gesteigerter Reflexivität und erweiterter Handlungsfähigkeit, folgen.62 Vielmehr gilt es, die Komplexität der migrantischen Familie in den Blick zu nehmen und nicht nur den Wandel in Zahlen zu dokumentieren, sondern die kulturelle Perspektive zu stärken, welche in der Familiensoziologie generell ein Desiderat darstellt. In dieser kulturellen Dimension ergeben sich interessante Fragen für die weitere Forschung. So diskutiert etwa Beck-Gernsheim, ob nicht Verwandtschaftsnetzwerke, wie man sie aus sogenannten traditionellen Kulturen kennt, besser gerüstet sind für die Herausforderungen einer zunehmend globalisierten Welt.63 Burkart argumentiert, dass es zur »Verschmelzung«64 von modernen westlichen Formen – charakterisiert durch die romantische Liebe und verbunden mit der Autonomie des Paares – und traditionellen östlichen Formen – bestimmt durch arrangierte Ehen und eine Dominanz der Verwandtschaftsbeziehungen – kommen könnte. Antworten auf diese Fragen geben derzeit eher die Literatur- und Kulturwissenschaften als die Familiensoziologie; umso mehr sind inter- oder transdisziplinäre Ansätze zu begrüßen.
61 | BMFSFJ: Sechster Familienbericht, S. 28. 62 | Vgl. die Argumentation von Hamburger und Hummrich: Familie, S. 113. 63 | Vgl. Beck-Gernsheim: Ferngemeinschaften. 64 | Burkart: Einblicke, S. 21.
Migration – Zerreißprobe oder Stärkung des Familienzusammenhalts? Überlegungen anhand von zwei empirischen Studien zu Familienplanung und Migration im Lebenslauf Cornelia Helfferich
1. E INLEITUNG Die Frage, ob Migration den Zusammenhalt von Familien stärkt oder ob sie die familialen Bindungen belastet, wird je nachdem, was und wer in den Blick genommen wird, in die eine oder in die andere Richtung beantwortet werden können. Man kann die Konflikthaftigkeit der Beziehungen zwischen den Generationen aufgreifen, die durch die Differenz der Lebensbedingungen und Lebensgeschichten verschärft wird, man kann aber auch darauf hinweisen, dass die Mitglieder eines Familienverbandes in einem fremden Land enger zusammenrücken. Man kann den Familienzusammenhalt betrachten, wenn Heiratsmigranten nach Deutschland in die Schwiegerfamilie einheiraten, wenn Arbeitsmigrantinnen den Kontakt zu den im Herkunftsland zurückgelassenen Kindern aufrechterhalten, wenn Aussiedlerinnen im ganzen Familienverband zuwandern oder wenn Familien von Asylbewerbern und -bewerberinnen unter schwierigen Lebensbedingungen den Alltag bewältigen. Diese Heterogenität ist eine Herausforderung für die Migrationsforschung allgemein ebenso wie für die familiensoziologische Diskussion. Daher beschränkt sich dieser Beitrag auf zwei ausgewählte Migrationsgruppen, für die der Zusammenhang von Migration und Familienbeziehungen diskutiert wird – auf türkische Migrantinnen und Migrantinnen
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aus den ehemaligen GUS-Staaten.1 Diese beiden Gruppen sind nicht nur die größten Migrationsgruppen in Deutschland, sondern sie unterscheiden sich auch bezogen auf die historische Migrationsentwicklung und, als Folge dessen, bezogen auf den rechtlichen Status und Merkmale der sozialen Lage der Migrierten. Damit eignen sich gerade diese beiden Gruppe gut, um aus soziologischer Perspektive zu zeigen, wie Zuwanderungspolitik, wirtschaftliche Interessen und rechtliche Regelungen den Kontext schaffen, in dem sich Migration auf die Generationenbeziehungen auswirkt. Quellen sind neben den allgemeinen Studien an der Schnittstelle der Migrations- und Familienforschung standardisierte und qualitative Daten aus zwei Forschungsprojekten zu Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Frauen und Männern, die vom Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut (SoFFI F.) durchgeführt wurden: In einem Projekt wurden größere Stichproben türkischer Migrantinnen einerseits und Migrantinnen aus den ehemaligen GUS-Staaten andererseits in vier westdeutschen Städten standardisiert und qualitativ zu ihrer Familien- und Migrationsgeschichte befragt (im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln),2 in dem anderen Projekt wurden qualitative Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit Migranten zu demselben Thema durchgeführt (ein Projekt der Baden-Württemberg-Stiftung im Rahmen des Programms »Impulsfinanzierung Forschung. Zukunftspro1 | Wenn im Folgenden der Einfachheit halber von »osteuropäischer Migration« gesprochen wird, bezieht sich das überwiegend auf Frauen, die selbst oder deren Eltern aus einem der europäischen oder zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zugewandert sind. Zu den Herkunftsländern gehören Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Lettland, Litauen, Moldawien, die Russische Föderation, Tadschikistan, Turkmenistan, die Ukraine, Usbekistan und Weißrussland. Ferner wurde eine vergleichsweise geringe Zahl an Frauen mit südosteuropäischem Migrationshintergrund (n=73, knapp 9 % der Teilstichprobe) in die Erhebung einbezogen. Bei mindestens 50 % der Frauen in der »osteuropäischen Gruppe« handelt es sich um Aussiedlerinnen bzw. Angehörige von Aussiedlern. 2 | Vgl. Cornelia Helfferich, Heike Klindworth und Jan Kruse: frauen leben – Familienplanung und Migration im Lebenslauf. Vertiefungsbericht, Köln 2011; Informationen zu weiteren Veröffentlichungen: www.soffi-f.de/?q=node/42; nähere Angaben zum Forschungsdesign ebenfalls auf der Homepage (letzter Zugriff am 10.09.2011).
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gramm für Fachhochschulen und Berufsakademien«; nähere Angaben zu den Studien sind im Anhang zu finden).3 Nach der Festlegung eines für die Diskussion brauchbaren Begriffs von ›Familie‹ (2.) werden die historische Entwicklung der Zuwanderung der türkischen Migrantinnen und der Migrantinnen aus den ehemaligen GUSLändern und deren aktuelle soziale und familiäre Situation beschrieben (3. und 4.). Das Migrationsziel besteht immer darin, ein besseres Leben zu finden (wie auch immer das definiert ist), wenn nicht für die eigene Generation, dann für die Nachkommen. Daher wird anschließend auf die in Deutschland geborene oder aufwachsende zweite Generation eingegangen (5.); in diesem Zusammenhang werden auch innerethnische Partnerschaften als Versuch diskutiert, die Verbindung zum Herkunftsland aufrechtzuerhalten (6.). Im Anschluss wird zusammengetragen, wie sich die Chancen, das Migrationsziel zu erreichen, auf die Familienbeziehungen auswirken (7.), bevor der Beitrag mit einer zusammenfassenden Bilanz schließt (8.).
2. V ERSTÄNDNIS VON F AMILIE Da das Familienprojekt ›Migration‹ […] typischerweise nicht in der ›ersten‹ Migrationsgeneration abgeschlossen ist, gilt es auch, langfristige Entwicklungen in den Folgegenerationen einzubeziehen. Auch nach einer erfolgten Einbürgerung […] bleibt die Migration ein das Denken und Handeln der Familienmitglieder bestimmendes Projekt. 4
Diese Charakterisierung von Migration als Familienprojekt im 6. Familienbericht legt es nahe, Familie über die Generationenabfolge zu definieren. Dies sollte Familienmitglieder unabhängig von ihrer Lokalität einbezie3 | Vgl. Debora Niermann, Cornelia Helfferich und Jan Kruse: Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Männern. Eine Machbarkeitsstudie, Freiburg 2010. URL: www.soffi-f.de/files/u2/Abschlussbericht_ML2.pdf; nähere Angaben zum Forschungsdesign ebenfalls auf der Homepage (letzter Zugriff am 10.09.2011). 4 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: 6. Familienbericht. Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen – Belastungen – Herausforderungen, Berlin und Bonn 2000, S. 6.
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hen, denn die wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen der Migration lassen es nicht immer zu, dass diejenigen, die sich subjektiv einer Familie zugehörig fühlen, in einem gemeinsamen Haushalt leben, und die Migration kann gerade erzwingen, dass Familienmitglieder im Herkunftsland zurückbleiben. Auch sollte die Definition nicht nur formal verstanden werden, sondern Familie als übergreifendes Normensystem sehen, das die Beziehung zwischen den Jüngeren und den Älteren regelt, etwa mit Regelungen der Weitergabe von Traditionen und Besitz an die Nachkommen, Regelungen wechselseitiger Verpflichtungen der Generationen5 oder – in patriarchalen Gesellschaften in der männlichen Linie besonders wichtig – Regelungen der Nachfolge und der Ablösung der Kinder aus der Herkunftsfamilie. Unter den Bedingungen von Migration gewinnen diese Regelungen der Generationenbeziehungen ein besonderes Gewicht, und zugleich ist zu fragen, ob sich ihre spezifische Form in dem Prozess der Akkulturation verändert oder gar auflöst. Familie sollte zudem als Verwandtschaftssystem im Sinne eines größeren, multilokalen Netzwerks verstanden werden. Die Definition ist damit weiter gefasst als die, die einen gemeinsamen Haushalt und die Eltern-Kind-Beziehung als Kriterien für die (Kern-)Familie nimmt und umfasst eine Fülle unterschiedlicher kultureller Präzisierungen.
3. Z UWANDERUNGSGESCHICHTE ALS F AMILIENGESCHICHTE (N): T ÜRKISCHE Z UWANDERUNG Die Türkei und die ehemaligen GUS-Staaten sind nach den Daten des Mikrozensus 2007 die beiden wichtigsten Herkunftsländer der Migrationsbevölkerung; sie stellen 14,2 % (Türkei) bzw. 11,2 % (Russische Föderation und
5 | Forschungsergebnisse zu value of children (Wert der Kinder) für türkische Migrationsfamilien lassen sich z.B. als System wechselseitiger Verpflichtungen reformulieren. Der Wert von Kindern kann gerade darin bestehen, dass erwartet werden kann, dass sich erwachsene Kinder um die Alterssicherung der Eltern kümmern; vgl. Bernhard Nauck: »Sozialer Wandel, Migration und Familienbildung bei türkischen Familien«, in: Bernhard Nauck und Ute Schönpflug (Hg.): Familien in verschiedenen Kulturen, Stuttgart 1997, S. 162-199.
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Kasachstan) der Zugewanderten.6 Die soziale und familiale Situation, die im Folgenden mit den Daten der Studie frauen leben beschrieben wird, ist bestimmt von den steuernden Regelungen der Zuwanderungspolitik insbesondere in den Bereichen der Arbeitsmigration, des Familiennachzugs bzw. der Heiratsmigration und der Aussiedlung. Migration, um in einem anderen Land zu studieren, und politische Verfolgung werden hier nicht gesondert vertieft. In der Türkei hat die Familie einen hohen Stellenwert, und sie erfüllt wichtige Funktionen sozialer Absicherung. Merkmale sind zum einen die culture of relatedness, zum anderen eine starke Generationen- und Geschlechterhierarchie. Die Familienbande sind eng, Verwandte leben nah beieinander, man unterstützt sich gegenseitig und man fühlt sich füreinander und auch für weitere Verwandte verantwortlich. Patriarchale Prinzipien, die in unterschiedlichem Maß die Vorstellungen und Familienpraktiken von sozialen Gruppen in der Türkei bestimmen, sind verbunden mit der Vorstellung der Ehre, die unter anderem von den Töchtern Jungfräulichkeit bis zur Heirat verlangt.7 Die Entscheidung für eine Heirat ist weitgehend eine Angelegenheit, wenn nicht sogar Entscheidung der beteiligten Familien,8 und Verwandtenehen sind verbreitet.9 In einer Familie zu leben, ist in der Türkei nahezu alternativlos. ›Alternative‹ Lebensformen zur Ehe kommen kaum vor. Erwachsene türkische Frauen leben mit dem Mann und den Kindern zusammen. Geheiratet wird jung, Scheidungen sind möglich, aber vergleichsweise selten. Zur Ehe gehören dann (mehrere, auch: viele) Kinder, Kinder sind selbstverständlich.
6 | Vgl. Stefan Rühl, BAMF: Grunddaten der Zuwandererbevölkerung in Deutschland. Working Paper der Forschungsgruppe des Bundesamtes. Integrationsreport, Teil 6, Nürnberg 2009, S. 21. 7 | Vgl. Bilge Ataca: »Turkey«, in: James Georgas u.a. (Hg.): Families Across Cultures. A 30-Nation Psychological Study, Cambridge 2006, S. 467-474. 8 | Vgl. Gaby Straßburger: Heiratsverhalten und Partnerwahl im Einwanderungskontext: Eheschließungen der zweiten Migrantengeneration türkischer Herkunft, Würzburg 2003. 9 | Vgl. HUIPS – Hacettepe University Institute of Population Studies, Ankara (Hg.): Turkey Demographic and Health Survey (TDHS), Ankara 2003. Dieser repräsentativen Bevölkerungsumfrage zufolge waren 22 % aller geschlossenen Ehen Verwandten-Ehen.
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Die Migration aus der Türkei begann mit dem 1961 geschlossenen Anwerbeabkommen Deutschlands mit der Türkei und war zunächst bestimmt von der gezielten Anwerbung von niedrig qualifizierten Fachkräften, die als ungelernte Arbeitskräfte gebraucht wurden.10 Migrationsmotiv auf Seiten der Migrierenden war vor allem, der Armut in den ländlichen Gebieten der Türkei zu entkommen: In der Regel war es eine Entscheidung der ganzen Familie, dass ein Familienmitglied in Deutschland arbeitet. Der Aufenthalt wurde von der Politik ebenso wie von den ›Gastarbeitern‹ bzw. ›Gastarbeiterinnen‹ zunächst befristet geplant, und so ist diese Phase von häufigen und teilweise langen Trennungen von den in der Türkei verbleibenden Familienmitgliedern und mit einem Aufrechterhalten der Beziehungen über die Grenzen hinweg verbunden. In der zweiten Phase verlagerte sich Familie stärker nach Deutschland: Die Zahl derer, die dauerhaft in Deutschland blieben und ihre Familien bzw. eine Ehefrau nachholten, stieg an, und nach dem ›Anwerbestopp‹ 1973 war keine Arbeitsmigration für Drittstaatsangehörige (Nicht-EU-Länder) mehr möglich. Die einzige und auch verstärkt genutzte Zuzugsoption blieb der Nachzug von Kindern und Ehefrauen oder -männern bzw. die Heirat eines in Deutschland lebenden (überwiegend: türkischen) Mannes (für Männer: einer in Deutschland lebenden Frau).11 Diese Migrationsoptionen trugen wesentlich zu einer Aufrechterhaltung und Erweiterung des Verwandtschaftsnetzes bei, und insbesondere über die Heiratsmigration wird die Verbindung zur (Verwandtschaft in der) Türkei immer wieder gefestigt. 56 % der befragten türkischen Frauen – unter den unter 35-Jährigen sogar 73 % – kamen in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit einer Heirat nach Deutschland, und insgesamt hatten 25 % einen Verwandten
10 | Vgl. Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaşoğlu: Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster 2005, und Faruk Sen: »Türkische Minderheit in Deutschland«. URL: www. bpb.de/publikationen/7LG87X,1,0,T%C3%BCrkische_Minderheitin_Deutsch land.html#indexn (letzter Zugriff am 16.08.2011). 11 | Bis 2007 lag das Mindestalter für den Zuzug verheirateter Frauen bei 16 Jahren; 2007 wurde es auf 18 Jahre angehoben.
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geheiratet.12 In der Folge migrierten ganze Dörfer nach Deutschland und konnten so ihren lokalen und familialen Zusammenhang bewahren.13 Die Zuwanderungsgeschichte hat für viele Familien Armut in Deutschland zur Folge, resultierend daraus, dass aus wirtschaftlichen Interessen vor allem niedrig qualifizierte Arbeitskräfte angeworben wurden. Die Eltern der in der Studie frauen leben befragten Frauen waren überwiegend angeworbene, ungelernte Arbeitsmigranten oder sie selbst waren jung, verheiratet und mit einer kurzen oder keiner Ausbildung zugewandert. 47 % der türkischen Frauen in der Studie frauen leben berichten, dass es ihnen finanziell schlecht oder sogar sehr schlecht gehe. Mehr als die Hälfte aller türkischen Haushalte muss mit einem Haushaltsnettoeinkommen zwischen 1.000 und 2.000 Euro auskommen, 18 % sogar mit weniger als 1.000 Euro, und fast ein Drittel der türkischen Haushalte bezieht staatliche Unterstützungsleistungen. Ebenso wie die Verbindung zur türkischen Verwandtschaft erhalten bleibt, bleibt die Bedeutung von Familie als Lebensform in Deutschland erhalten. Dass man auch ohne Kinder glücklich sein kann, glauben nur 28 % der türkischen Frauen.14 Zusammengefasst: Die Migrationsgeschichte erzeugt ›Brückenfamilien‹ mit engen, transnationalen Verbindungen, die den Wert von Familie als Verwandtschaftssystem und als übergreifendes Normensystem eher stärken als abschwächen. Gleichzeitig erzeugt die Migration Lebenssituationen, in denen Familie nicht so, wie es ideal vorgestellt wird, gelebt werden kann, und zwar aufgrund von Armut und harter Arbeit sowie erzwungenen, auch langjährigen Trennungen und Spannungen zwischen der ersten Generation und der zweiten Generation, die nun in Deutschland Zugang zu Bildung bekommt und sich mit westlichen Lebensbedingungen auseinandersetzen muss.
12 | Vgl. Helfferich, Klindworth und Kruse: frauen leben, S. 33f. 13 | Zur Kettenmigration in der türkischen Gruppe vgl. Czarina Wilpert: »Zukunftsorientierungen von Migrantenfamilien: Türkische Familien in Berlin«, in: Helga Reimann und Horst Reimann (Hg.): Gastarbeiter. Analyse und Perspektiven eines sozialen Problems, Opladen 1987, S. 198-221. 14 | Vgl. Helfferich, Klindworth und Kruse: frauen leben, S. 61f.
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4. Z UWANDERUNGSGESCHICHTE ALS F AMILIENGESCHICHTE (N): O STEUROPÄISCHE Z UWANDERUNG Familie hat auch in den osteuropäischen Ländern eine hohe Bedeutung, allerdings vor einem anderen historischen Hintergrund: Die ehemaligen GUS-Staaten sind gekennzeichnet durch eine rasche Industrialisierung und die herrschende sowjetische Ideologie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und durch den ökonomischen Zusammenbruch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Insbesondere Familien im städtischen Raum wurden zu Kernfamilien; jedoch behielten die Beziehungen der Großeltern, Eltern und Kinder einen großen Stellenwert. Zhuravliova stellt für die Familie in der Ukraine fest, dass finanzielle Unterstützung und Zusammenhalt unter den Familienmitgliedern are preserved to an extent because they provide functional elements, and they probably are the result of the combination of two parameters – political and economic: political, because they can be considered as a continuation of the remnants of socialist ideology, which forces people to collective labor, formation of cooperatives and mutual assistance; and economic as a result of adjustment to recent economic reforms.15
Für Aussiedlerinnen und Aussiedler insbesondere aus Dörfern mit überwiegend deutschstämmiger Bevölkerung spielt über den Zusammenhalt in der Familie hinaus der Zusammenhalt in der dörflichen Gemeinschaft eine Rolle. Das sowjetische Leitbild der werktätigen Mutter und der Gleichberechtigung von Frau und Mann, verstärkt durch die ökonomische Notwendigkeit, die Familie mit zwei Einkommen zu ernähren, erforderte die Berufstätigkeit von Vater wie Mutter. Zugleich sind ausgeprägte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit als polarisiert verankert; Frauen sind für die Arbeit in der Familie zuständig. Eine Familie wurde jung gegründet und eine frühe Mutterschaft wurde durchaus akzeptiert, sofern die Bedingungen es zuließen, ein Kind auf15 | Irina Zhuravliova: »Ukraine«, in: James Georgas u.a. (Hg.): Families Across Cultures. A 30-Nation Psychological Study, Cambridge 2006, S. 475-482, hier S. 481.
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zuziehen, und die damit verbundenen Vorteile genutzt werden konnten: Mutterschaft insgesamt hatte gewisse Vorteile, und sie ließ sich mit dem Studium vereinbaren. Die Schwierigkeiten, den Alltag in den Ländern im ökonomischen Umbruch zu bewältigen, führten zu einem Muster der ›seriellen Einzelkind-Familie‹ mit längeren Geburtenabständen (Kinder ja, aber nicht zu viele). Scheidungen und Wiederheiraten waren möglich und nicht selten. Die Kinder blieben in der Regel bei der Mutter, was eine starke Mutter-Tochter-Verbindung zur Folge hatte. Bei den aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion Zugewanderten handelt es sich überwiegend um deutsche Volkszugehörige bzw. deren Angehörige, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwangsweise in diese Staaten umgesiedelt wurden (Aussiedler) und die unter bestimmten, sukzessive verschärften Bedingungen (v.a. Nachweis der deutschen Abstammung und deutscher Sprachkenntnisse) in Deutschland aufgenommen wurden (s. Fußnote 1). Migrationsmotiv der Aussiedelnden waren vor allem die massiven ökonomischen Probleme in den Transformationsstaaten und die Aussicht auf bessere Lebensperspektiven in Deutschland. Sie bekamen die deutsche Staatsbürgerschaft mit allen entsprechenden Rechten, und die Anerkennung schloss die Familienangehörigen unabhängig von Alter und Qualifikation ein. Auch hier war es in der Regel ein Beschluss der Familie, zusammen zu migrieren.16 Die Zahl der nach Deutschland migrierten Aussiedlerinnen und Aussiedler stieg ab 1986 an und erreichte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einen Gipfel mit knapp 400.000 Zuwanderungen im Jahr 1990; nach einer sukzessiven Abnahme – auch im Zusammenhang mit verschärften Anerkennungsbedingungen – waren es 2009 noch 3.360.17 Seit 1992 kommen fast alle Aussiedlerinnen und Aussiedler nur noch aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die soziale Situation der osteuropäischen Migrantinnen, die in den GUS-Staaten aufwuchsen, ist in Deutschland weniger durch die Zuwanderungsbestimmungen als vielmehr durch die Regelung der Anerkennung 16 | Weitere Zuwanderungsmöglichkeiten boten die Heiratsmigration, die Anerkennung als jüdische Kontingentflüchtlinge oder eine Zuwanderung aufgrund eines nicht gedeckten Arbeitskräftebedarfs. 17 | Vgl. Michael Bommes: »Migration und Lebenslauf: Aussiedler im nationalen Wohlfahrtsstaat«, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 23.1 (2000), S. 9-28.
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von Berufsausbildungen drastisch eingeschränkt. Eine mitgebrachte, höhere berufliche Qualifikation wird in Deutschland überwiegend nicht anerkannt, was die Möglichkeiten, ökonomisch Fuß zu fassen, schmälert. Zwar haben nur wenige keine Ausbildung, wenn man die im Herkunftsland erworbenen Abschlüsse einbezieht, doch hat ein Drittel keine Ausbildung, wenn man nur die in Deutschland anerkannten Abschlüsse gelten lässt. Der Anteil der Hochschulabsolventinnen reduziert sich, bezieht man die Anerkennung in Deutschland mit ein, von 36 % auf 23 %. Diese Ausgangsposition bei der Ankunft in Deutschland ist zwar besser als bei den türkischen Frauen, aber da es ein wichtiger Migrationsgrund gerade der höher Qualifizierten war, die Ausbildung in Deutschland in einen angemessenen Erwerb umsetzen zu können, war die Enttäuschung groß: Entweder mussten die Befragten eine unqualifizierte Arbeit annehmen oder sich unter finanziellen Einschränkungen weiter- und nachqualifizieren. Für die Partner aus dem Herkunftsland trifft die Anerkennungsproblematik in ähnlicher Weise zu. Der berufliche Status spiegelt so nicht die eigentliche Qualifikation: 31 % der Frauen in der Studie frauen leben arbeiten an- oder ungelernt und 34 % als Fachkraft mit Berufsausbildung.18 Migration wird als Dequalifikation erfahren. Im Vergleich zu den türkischen Frauen führen die bessere Bildung und die höhere Erwerbsbeteiligung zu einem höheren Nettoeinkommen, aber dies fällt immer noch deutlich niedriger aus als bei westdeutschen Frauen. Zudem können die osteuropäischen Frauen mit fast 90 % deutlich häufiger über ein eigenes Einkommen verfügen als die türkischen Frauen, doch haben 36 % ein eigenes Einkommen von unter 500 Euro. Zusammengefasst: Migration ist auch hier ein Familienprojekt mit einem auf Dauer angelegten Wechsel nach Deutschland. Auch in Deutschland behalten Familie und der familiäre Zusammenhalt für die Familien ihren Wert. In der Studie frauen leben sind für die osteuropäischen Frauen Familie und Kinder selbstverständlicher als für westdeutsche Frauen. Nur 16 % glauben, dass man auch ohne Kinder glücklich sein kann (westdeutsche Frauen ohne Migrationsgeschichte: 66 %). Die Familien sind aber auch besonderen Belastungen ausgesetzt, insbesondere wenn sich in einer benachteiligten Situation Bildung und Geld als erstrebenswerte Güter, die zur Migration motiviert haben, nur unzureichend realisieren lassen.
18 | Vgl. Helfferich, Klindworth und Kruse: frauen leben, Kapitel 4.1.
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5. D IE Z WEITE G ENER ATION 19 Die Probleme und Chancen der zweiten Generation sind vor allem im Bildungsbereich mehrfach untersucht und beschrieben worden; mit einem Schwerpunkt auf Bildungs- und Aufstiegschancen und Fragen der Akkulturation und Integration.20 Die Studie frauen leben zeigt im Vergleich der beiden Migrationsgruppen die Veränderungen von der ersten zur zweiten Generation bezogen auf Bildung und im Zusammenhang damit bezogen auf Familie.
5.1 Türkische Frauen: Der Zugang zu Bildung verändert auch die Familienpläne Unter den Frauen mit türkischem Migrationshintergrund eröffnen sich für die zweite Generation in einem neuen Ausmaß Bildungschancen.21 23 % haben das Abitur – das sind doppelt so viele wie bei den zugewanderten türkischen Frauen (10,7 %). 34,7 % haben die Schule mit der mittleren Reife abgeschlossen; auch das waren in der ersten Generation weniger (22,3 %). Doch liegt der Anteil derer, die nur einen Hauptschulabschluss oder keinen Abschluss haben mit 42,3 % zwar niedriger als in der ersten Generation (67 %), aber viermal höher als in der deutschen Vergleichsgruppe (10,5 %). Ähnliches gilt für einen Ausbildungsabschluss: In der ers19 | Üblicherweise und auch in der Studie frauen leben wird von der ersten Generation als von denjenigen gesprochen, die ab einem Alter von 12 Jahren zugewandert sind. Zur zweiten Generation werden diejenigen gezählt, die entweder in Deutschland geboren sind oder die als Kind unter 12 Jahren zuwanderten. 20 | Vgl. z.B. Anne Juhasz und Eva Mey: Die zweite Generation. Etablierte oder Außenseiter? Biographien von Jugendlichen ausländischer Herkunft, Wiesbaden 2003, Norbert Gestring, Andrea Janssen und Ayca Polat: Prozesse der Integration und Ausgrenzung. Türkische Migranten der zweiten Generation, Wiesbaden 2006, und Hilde Weiss (Hg.): Leben in zwei Welten. Zur sozialen Integration ausländischer Jugendlicher der zweiten Generation, Wiesbaden 2007. 21 | Die folgenden Zahlen stammen aus der Studie frauen leben und werden zitiert nach Heike Klindworth: Bildungsbenachteiligung unter Lebenslaufperspektive bei türkischen und osteuropäischen Migrantinnen – Sonderauswertung der Studie Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Frauen, Expertise für den 1. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, Freiburg 2010.
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ten Generation haben 61,3 % keinen Ausbildungsabschluss, in der zweiten Generation sind es ›nur noch‹ 26,5 % – aber das sind auf der anderen Seite fünfmal so viele wie unter den deutschen Frauen (4,8 %). Die zugewanderten türkischen Eltern wünschen sich für ihre Söhne wie Töchter gleichermaßen eine gute Ausbildung und eine gute Arbeit. Sie treffen aber auf ein Ausbildungssystem, das unabhängig vom Migrationshintergrund Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt und Leistungsschwache nicht genug fördert.22 Doch entsprechend der relativ gesehen höheren Qualifikation ist der berufliche Status der Frauen der zweiten Generation höher, während die Frauen der ersten Generation nur eingeschränkt berufstätig sind und wenn, dann überwiegend im un- oder angelernten Bereich.23 Noch in einem anderen Sinn hat die zweite Generation türkischer Frauen bessere Chancen: Während die Frauen, die in der Türkei aufgewachsen sind, zu 69,1 % keine Ausbildung abgeschlossen hatten, bevor sie das erste Kind bekamen, sind es in der zweiten Generation ›nur noch‹ 39,6 %. Dies ist von hoher Bedeutung, weil in Deutschland Ausbildung und Familie kaum vereinbar sind und diejenigen, die keine Ausbildung vor der Familiengründung abgeschlossen haben, schlechte Chancen haben, dies nachzuholen.24 In diesem Sinn muss die Zahl von 39,6 % Frauen, auf die das in der zweiten Generation zutrifft, als Hinweis auf ein Problem im Bildungssystem gesehen werden (deutsche Vergleichsgruppe: 7,3 %). Bildung bringt bessere Erwerbschancen. Die qualitativen Interviews von frauen leben zeigen, dass Bildung darüber hinaus für das Kennenlernen der Welt und für die Jugend als Lebensphase steht, in der Zeit mit Gleichaltrigen außerhalb des Elternhauses verbracht wird. Eine solche Bildungsphase als Jugendphase war in der Türkei für Mädchen kaum vorgesehen: Frauen wechselten oft direkt aus der Herkunftsfamilie mit einer sehr frühen Heirat in die Familie des Mannes und brachen eine eventuelle Ausbildung mit der Heirat ab. In allen Ländern und allen Altersgruppen 22 | Vgl. zusammenfassend Ulrike Hess-Meining: »Geschlechterdifferenzen in der Bildungssituation von Migrantinnen«, in: Iris Bednarz-Braun und Ulrike HessMeining (Hg.): Migration, Ethnie und Geschlecht. Theorieansätze – Forschungsstand – Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2004, S. 133-174. 23 | Vgl. Helferich, Klindworth und Kruse: frauen leben, Kapitel 4.1. 24 | Vgl. Sachverständigenkommission für den ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung: Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebenslauf, München 2010, S. 72f.
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verschiebt eine längere Ausbildung die Familienphase und senkt die Kinderzahl, so auch bei den türkischen Frauen: Das Durchschnittsalter bei der Heirat steigt in der zweiten Generation mit dem Zugang zu Bildung auf 21,6 Jahre und das Alter bei der Geburt des ersten Kindes auf 24 Jahre bzw. bei einer hohen Schulbildung sogar auf 27,2 Jahre (s. Tabelle). Die Kinderzahl geht erkennbar zurück. Die höher Qualifizierten argumentieren in den qualitativen Interviews wie die deutschen Frauen: Erst soll die Ausbildung abgeschlossen sein, dann können Kinder kommen. Wenn Kindern eine gute Zukunft geboten werden soll, verlangt dies eine gezielte Lebensplanung mit einer Begrenzung der Kinderzahl. Die qualitativen Interviews zeigen auch, dass der Wert vorehelicher Jungfräulichkeit in der zweiten Generation durchaus akzeptiert ist, auch bleibt Familie ein Orientierungspunkt für die Zukunft. Doch gerade mit einem Bildungsaufstieg der Töchter wandeln sich die normativen Vorstellungen. Insgesamt ist der Zugang zu Bildung in Deutschland eröffnet, er bricht aber das tradierte Muster der frühen Verheiratung und häuslichen Bewahrung von Mädchen – mit allen Konflikten, die daraus erwachsen.
5.2 Die osteuropäischen Frauen: Eine neue Konfrontation mit der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie Die Kluft zwischen der ersten und der zweiten Generation der osteuropäischen Frauen ist nicht so groß wie bei den türkischen Frauen, da schon in den Herkunftsländern Frauen Zugang zu einer guten Qualifikation hatten. In der zweiten Generation haben 51,4 % Abitur, 29,7 % mittlere Reife und 18,9 % einen Hauptschulabschluss (vergleichbare Daten für die erste Generation: 38,3 %, 47,1 % und 14,6 %).25 Damit liegt die zweite Generation nur unwesentlich unter dem Bildungsniveau der deutschen Frauen (56,8 %, 32,7 % und 10,5 %). Und trotz vergleichsweise früher Familiengründung hatten auch schon in der ersten Generation nur 23,2 % keine Ausbildung vor dem ersten Kind abgeschlossen; in der zweiten Generation geht der Anteil auf 16,9 % zurück. Die eigentliche Verbesserung liegt damit nicht in den hohen und den biographisch ›rechtzeitigen‹ Abschlüssen, sondern darin, dass die zweite Generation das Problem der fehlenden Anerkennung 25 | Die Zahlen in diesem Abschnitt stammen aus der Studie frauen leben und werden zitiert nach Klindworth: Bildungsbenachteiligung.
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der nunmehr in Deutschland erworbenen Abschlüsse nicht kennt: Gut qualifizierten Frauen steht der Zugang zu gut qualifizierter Arbeit offen. Nicht die Bildung ist also eine neue Errungenschaft in der zweiten Generation. Neu ist in Deutschland vielmehr, dass sich Ausbildung und Familie nicht so vereinbaren lassen wie die erste Generation es von den Herkunftsländern her gewohnt war. In Deutschland fehlen z.B. Angebote wie Kinderbetreuung. Das zwingt die zweite Generation, eine Familiengründung aufzuschieben, bis die Ausbildung abgeschlossen ist, oder auf einen Ausbildungsabschluss zu verzichten. Nicht Mutterschaft per se, sondern eine frühe Mutterschaft verliert ihre Selbstverständlichkeit unter den Bedingungen in Deutschland.
Tabelle: Alter der Mütter bei Geburt des ersten Kindes nach Migrationshintergrund und Generation (Mittelwert in Jahren) Türkisch
Osteuropäisch
Westdeutsch
Niedrige Schulbildung
22,3
23,2
22,2
21,8
25,7
Mittlere Schulbildung
23,3
24,1
23,0
23,6
27,0
Hohe Schulbildung
26,1
27,2
25,2
26,5
29,1
Gesamt
22,8
24,0
23,6
24,2
27,8
Quelle: Datensatz frauen leben 2009 26
Die Bedeutung von Familie verändert sich für beide Migrationsgruppen in dem Prozess, sich auf der Basis der ›mitgebrachten‹ Familienvorstellungen mit den Lebensbedingungen und Bildungschancen in Deutschland auseinanderzusetzen. Wenn sie Bildung wählen, dann um den Preis, eine Familie erst später zu gründen (und für die türkischen Frauen: weniger Kinder zu haben). Die in Deutschland gültige Regel ›Erst wenn die Ausbildung abgeschlossen ist und die anspruchsvollen Voraussetzungen erfüllt sind, kann eine Familie gegründet werden‹,
26 | Vgl. Klindworth: Bildungsbenachteiligung, S. 24.
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ist für beide Migrationsgruppen fremd und neu: für die türkische Gruppe ist [sie] deshalb neu, weil der Zugang zu einer hohen Qualifikation für die spezielle, überwiegend aufgrund einer niedrigen Qualifikation angeworbene Zuwanderungsgruppe neu ist, für die osteuropäischen Migrantinnen ist [sie] neu, weil sie eine Vereinbarkeit von Ausbildung und Familie und eine gute Kinderbetreuung aus den Herkunftsländern kennen. 27
Beide Gruppen sind zudem damit konfrontiert, dass die Verantwortung für die Zukunft der Kinder privat von den Eltern zu verantworten ist, und dies ist ein mächtiger Antrieb für die Begrenzung der Kinderzahl.
6. I NNERE THNISCHE H EIR ATEN Familie bleibt ein Bezugspunkt im Leben. Sind innerethnische Heiraten in der zweiten Generation ein Versuch, die Verbindung zur Herkunft aufrechtzuerhalten? In der Studie frauen leben waren 4 % der türkischen Frauen eine Partnerschaft mit einem deutschen Mann eingegangen; bei den osteuropäischen Befragten war es knapp ein Fünftel. Eine andere Befragung junger Migrantinnen zeigte, dass trotz einer in der zweiten Generation zunehmenden Neigung, eine interethnische Partnerschaft einzugehen, sich junge türkische Frauen aber nach wie vor mehrheitlich einen Partner aus der gleichen Herkunftsgruppe wünschen.28 Mit einer innerethnischen Heirat ist die Hoffnung verbunden, dass der Partner mehr Verständnis zeigt, möglicherweise spielt aber auch das Aufrechterhalten einer Verwandtschaftsbeziehung eine Rolle.29 Doch kann bei Migrantinnen der zweiten Generation eine Ehe mit einem Mann, der zwar der gleichen ethnischen Gruppe angehört, jedoch im Herkunftsland aufgewachsen ist, zu einer Differenz in den Vorstellungen von einer Familien27 | Helfferich, Klindworth und Kruse: frauen leben, S. 199. 28 | Vgl. Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaşoğlu: Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster 2005, S. 262f. 29 | Auf die Schwierigkeiten, einen Partner oder eine Partnerin mit dem gleichen ethnischen Hintergrund zu finden, wird hier nicht eingegangen; vgl. Bernhard Nauck: »Integration und Familie«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22-23 (2007), S. 19-25, hier S. 20.
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gründung führen, vor allem dann, wenn Migrantinnen das ›deutsche Muster‹ von Geburtenaufschub und Begrenzung der Kinderzahl übernehmen: »Wegen der Assimilation der zweiten Generation an die kulturellen Standards der Aufnahmegesellschaft nehmen diese Beziehungen zunehmend den Charakter bi-kultureller Partnerschaften und Ehen an.«30 Vor Differenzen schützt selbst die innerethnische Wahl eines Partners oder einer Partnerin nicht, der oder die ebenfalls in Deutschland aufgewachsen ist: Es gibt zudem Hinweise, dass in der zweiten Generation die Mädchen freiere Vorstellungen haben als die Jungen und für konservativ eingestellte junge Männer nicht als ›passende‹ Heiratspartnerinnen in Frage kommen.31 So mag die Wahl eines Partners aus dem gleichen Kulturkreis ein Versuch sein, an die eigene Herkunft anzuknüpfen, aber sie schützt nicht vor der Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen den Herkunftstraditionen und dem Leben in Deutschland.
7. A USWIRKUNGEN DER M IGR ATION AUF DIE G ENER ATIONENBEZIEHUNGEN Migration bedeutet eine tiefgreifende Veränderung der Lebenssituation, die wesentlich auch die Generationenbeziehungen berührt. Die Auswirkungen der Migration auf die Generationenbeziehungen wird unter zwei Aspekten diskutiert werden: Zuerst wird auf die Solidarpotenziale zur Aufrechterhaltung der Familie und auf die mit Migration verbundenen Trennungen eingegangen, als Zweites auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Bewahren der kulturellen Identität einerseits und dem ›Ankommen‹ und Aufbauen einer Zukunft in Deutschland als Generationenthema.
7.1
Trennungen und Solidarpotenziale
Die ›Solidarpotenziale‹ sind in beiden Migrationsgruppen groß: Beide kommen aus Ländern, in denen der Zusammenhalt der Familie eine große Bedeutung hat, in beiden Gruppen ist Migration ein ›Familienprojekt‹ und Familienbeziehungen können in Deutschland überwiegend aufrechterhalten werden. 30 | Nauck: Integration und Familie, S. 22. 31 | Vgl. Niermann, Helfferich und Kruse: Familienplanung und Migration.
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Internationale Migration vollzieht sich typischerweise nicht als individuelle Entscheidung von (arbeitssuchenden) Monaden, sondern als kollektive Unternehmung von Familienverbänden. Die Herkunftsfamilien stellen hierbei zumeist erhebliche Ressourcen zu Beginn des Migrationsprozesses zur Verfügung, die erste Platzierung in der Aufnahmegesellschaft von Nachwandernden vollzieht sich zumeist unter aktiver Beteiligung von Verwandten oder Familienmitgliedern, die bereits im Aufnahmekontext leben. Entsprechend sind Kettenwanderungen und familiär-verwandtschaftliche transnationale Netzwerke eine effiziente Form der erfolgreichen Bewältigung des Eingliederungsprozesses. Migration führt deshalb im Regelfall eher zu einer Intensivierung der Generationenbeziehung, und – trotz der erheblichen Belastungen, die mit dem für die Generationen unterschiedlich verlaufenden Akkulturationsprozess verbunden sind – nicht zu besonders ausgeprägten Generationenkonflikten. 32
Unter den Anforderungen, Einschränkungen und auch Diskriminierungen rücken Migrationsfamilien zudem enger zusammen.33 Insbesondere in den Erzählungen der türkischen Frauen und Männer spielen die Transferzahlungen der Arbeitsmigranten ein große Rolle, denn sie geben bzw. gaben den Trennungen ihren Sinn: Es sind Trennungen von der Familie für die Familie, um deren materielles Überleben zu sichern. Dass die Elterngeneration etwas für die Familie auf sich genommen hat, indem sie in die Fremde gegangen ist, verpflichtet wiederum die Kinder, die den Eltern zurückgeben sollen, was diese für sie getan haben. In der Migration ist der Verpflichtungscharakter der Generationenbeziehungen in einer besonderen Weise verdichtet. Nicht zufällig ist dieses Thema in besonderer Weise in den Interviews der Männer der Studie Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Männern zu finden und bezieht sich auf die Weitergabe an die Söhne. Auf der anderen Seite wurden in den qualitativen Interviews der Studie frauen leben Belastungen der Generationenbeziehungen deutlich, die 32 | Bernhard Nauck: Solidarpotenziale von Migrantenfamilien, Expertise für die Friedrich-Ebert-Stiftung, Gesprächskreis Migration und Integration, Bonn 2001. URL: http://library.fes.de/fulltext/asfo/01389toc.htm (letzter Zugriff am 15.09.2011). 33 | Vgl. BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Familien ausländischer Herkunft. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. 6. Familienbericht, Berlin und Bonn 2000.
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Bitterkeit, Entfremdung und Unverständnis erzeugten: In der türkischen Gruppe vor allem die schwierige Situation der zurückgelassenen Kinder und Ehefrauen ohne den Vater als Oberhaupt der Familie, die Trennungen der Heiratsmigrantinnen von ihrer Herkunftsfamilie, das Aufwachsen bei Verwandten statt bei den Eltern (»Ich habe meine Mutter, meinen Vater bis zu meinem zwölften Lebensjahr nur zweimal gesehen. Ich konnte mich nicht für sie erwärmen. Da ich sie nicht gut kannte, waren sie für mich wie Fremde«). In Deutschland waren die hohen Arbeitsbelastungen der Pioniergeneration, insbesondere bei Schichtarbeit, ein Problem, weil die Eltern zu wenig Zeit für ihre Kinder hatten. Trennungen sind in den Erzählungen der osteuropäischen Migrantinnen in anderer Weise ein Thema. Wenn Familien im Verbund migrieren konnten, mussten sie sich nicht trennen. Da der Abschied aber als endgültig gedacht war, sahen sich die in der Heimat Verwurzelten, die nicht mit dem Familienverbund nach Deutschland mitgingen, vor eine schwierige Entscheidung gestellt: »Meine Eltern haben mir gesagt, wenn ich nicht mitkomme, dann gehen sie alle nicht mit. Und dann werde ich natürlich […] irgendwie so gegen andere Familienmitglieder solche Schuldgefühle haben. Das hab ich natürlich gewusst, dass ich die Schuldgefühle bekomme, weil das Leben war nicht so schön.« Dort wo die Eltern bzw. die Mutter im Herkunftsland geblieben waren, war es ein großer Wunsch, diese nach Deutschland nachzuholen; auch hier wurden die Familienbezüge nach Möglichkeit aufrechterhalten. Trennungen waren als endgültiger Abschied vom Herkunftsland und als Scheidungen in Deutschland ein Thema, wenn Familien an den Belastungen der Migration, insbesondere an der Konfrontation mit der Dequalifikation, zerbrachen. Die Situation der Migrationsfamilie ist in beiden Gruppen mit unterschiedlichen Akzenten durch den Zusammenhalt der Familie und gleichzeitig durch die Unmöglichkeit, Familie als Zusammenhalt zu leben, gekennzeichnet.
7.2 Segregation und/oder Integration Motiv für die Migration ist es, ein besseres Leben zu finden. In den Interviews der beiden Studien waren hinter diesem Wunsch in der türkischen Gruppe lebensgeschichtliche Erfahrungen von Armut, fehlenden Bildungsmöglichkeiten, familialer Einengung der Töchter zu erkennen, bei den osteuropäischen Müttern und Vätern Erfahrungen des ökonomischen
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Zusammenbruchs in den ehemaligen sozialistischen Ländern mit Arbeitslosigkeit und Armut, teilweise auch verbunden mit politischer Verfolgung. Und wenn eine Überwindung dieser Probleme nicht in der ersten Zuwanderungskohorte realisiert werden kann, so ist der Wunsch umso dringender, die Kinder mögen ein besseres Leben haben. Eine bessere Zukunft für die Kinder bedeutet vor allem eine gute Bildung – diese Ansicht teilen beide Migrationsgruppen: »Die Schulbildung von meinen Kindern, denn deren Zukunft ist meine Zukunft, deshalb möchte ich, dass sie für mich in die Schule gehen« (eine türkische Interviewte); »den Kindern will man ja auch nur das Beste und Anziehen und eine gute Bildung bringen« (eine osteuropäische Interviewte). Das Thema hat eine alte und nicht migrationsspezifische Kehrseite: die Befürchtung, dass sich Kinder als ›Bildungsaufsteiger‹ von der Herkunftsfamilie entfremden. Diese Befürchtungen gewinnen in der Migration eine zugespitzte Bedeutung,34 und sowohl der Wunsch, dass Kinder eine bessere Zukunft haben und dass damit das Migrationsziel in der nächsten Generation eingelöst wird, als auch die Furcht, sie mit einem Bildungserfolg ›an Deutschland zu verlieren‹, wächst vor allem mit der eigenen Marginalisierung, den fehlenden Sprachkenntnissen und der wenig angesehenen sozialen Position der Eltern. Die Sorge, die Kinder an Deutschland zu ›verlieren‹, wird deutlich in einer Gruppendiskussion von türkischen Heiratsmigranten mit nur geringen Arbeits- und Integrationschancen. Sie diskutierten die Verantwortung der Väter: E: du kannst ein Kind kriegen, ja jetzt mal ehrlich, es ist leicht ein Kind zu kriegen, ein Kind kannst du kriegen, aber die Zukunft des Kindes – C: – musst du planen – E: – um es planen zu können, musst du es gut erziehen, du musst an deiner Kultur festhalten. Aber wenn dein Kind schon achtzehn oder neunzehn Jahre alt ist und du ihm deine Kultur noch nicht vermittelt hast, dann verlierst du dein Kind. So einer verbringt den Tag dort, wo die Nacht für ihn aufhört […]. Wenn wir es als zweite Generation schaffen, unsere Kultur, die wir von der ersten Generation er34 | Vgl. Wassilios Baros: »Adoleszente Generationenbeziehungen in Migrantenfamilien als Untersuchungsgegenstand. Theoretische Ansätze und methodische Perspektiven«, in: Vera King und Hans-Christoph Koller (Hg.): Adoleszenz –Migration – Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund, 2. Auflage, Wiesbaden 2009, S. 155-176.
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halten haben, unseren zukünftigen Kindern zu vermitteln, dann werden vielleicht unsere zukünftigen Kinder nicht sich selbst verlieren und eingedeutscht werden […] deshalb stehen Väter sehr in der Pflicht.
Die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen positiver, bewahrender ›Weitergabe‹ des kulturellen Erbes in der Kontinuität der Generationen und einer negativen ›Integration‹ als ›Eindeutschung‹ und als eine Gefahr für diese Identität sind in der Position des zitierten Diskussionsteilnehmers und auch in weiteren Diskussionspassagen besonders ausgeprägt. Es werden jedoch auch andere Positionen vertreten: Ein anderer, jüngerer Diskussionsteilnehmer argumentiert, dass man nicht entweder ganz deutsch oder ganz türkisch sein müsse und dass die Kinder doch immer in einer anderen Welt aufwachsen würden. Und in einer anderen Gruppendiskussion von türkischen Facharbeitern, die in Deutschland aufgewachsen und integriert sind, wird der gewünschte und teilweise selbst realisierte soziale Aufstieg positiv besetzt. Dies deutet darauf hin, dass gerade marginalisierte und wenig integrierte Migranten, die sich als eine ausgegrenzte Minderheit erfahren, auf das Bewahren der Tradition setzen. Eine ökonomische Ausgrenzung und die Unmöglichkeit, die ›Migrationsdividende‹ einzulösen, also der Migration einen Sinn zu geben, führt eher zu einer Abschottung in einem als feindlich wahrgenommenen Umfeld und verschärft die Spannung zwischen den Generationen. Gleichwohl wird dies auch in anderen Diskussionen und bei osteuropäischen Migranten in ähnlicher Weise als Gegensatz von einem gefährlichen ›Draußen‹ oder ›auf der Straße‹, wo Kinder schlechten Einflüssen ausgesetzt sind, einerseits und dem ›sicheren Haus‹ mit der Kontrolle der Eltern andererseits beschrieben. Diese Trennung ist umso problematischer, je weniger die Eltern, hier: Väter, ihre Kinder in eine ihnen fremde Welt begleiten können: »Die Frage ist, ob du die Sprache beherrscht. Beispielsweise hat das Kind Hausaufgaben, es macht seine Hausaufgaben und fragt: Vater, kannst du mir hierbei helfen? Dann kommt es darauf an, ob du die Sprache beherrscht, ob du seine Frage beantworten kannst.« Ähnlich unterstreichen osteuropäische Migranten in den Diskussionen, wie viel sie investieren und auf wie viel sie verzichten, damit die Kinder in der Schule erfolgreich sind, und benennen auch die Grenzen ihrer Unterstützung.
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8. E INE B IL ANZ : A USWIRKUNGEN DER M IGR ATION AUF F AMILIENBE ZIEHUNGEN Migration ist ein Familienprojekt, das nicht in einer Generation abgeschlossen ist. Die Generationenabfolge ist eine Brücke von der Vergangenheit im Herkunftsland in die Zukunft in Deutschland; die Eltern oder Großeltern stehen für diese Vergangenheit und die Kinder und Enkel für die Zukunft. Daher ist die Frage, was in Migrationsfamilien von der Vergangenheit tradiert wird und wo die Zukunft sich für Neues öffnet, auch eine Generationenfrage. Doch ist Familie in diesem Sinn generell, auch ohne das Faktum der Migration, ein Generationenprojekt. Immer findet ein sozialer Wandel statt, bei dem Kinder in einer ›anderen Welt‹ aufwachsen als ihre Eltern. Doch in der Migration spitzt sich der intergenerationale Wandel zu, und beide Generationen stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen Segregation und Integration, zwischen Weitergabe und Neuorientierung. Der von der ersten Generation in Gang gesetzte Wandel führt dazu, dass die zweite Generation ihren Lebenslauf anders gestaltet. Ziel des vorliegenden Beitrags war es, die soziale Dimension der Generationenfrage herauszuarbeiten. Der Beitrag hat die Veränderung der Generationenbeziehungen nicht auf der Ebene konfligierender Kulturen oder in der Terminologie von ›Tradition und Moderne‹ diskutiert, sondern auf die rechtlichen Bestimmungen der Zuwanderung hingewiesen, die die soziale und familiale Situation der Migrierten bestimmen. Diese Zuwanderungsbestimmungen selektieren, wer nach Deutschland kommen darf. Sie erzwingen Trennungen, weil z.B. Arbeitsmigranten in der Vergangenheit als Arbeitskraft ohne Familie zuwanderten, oder sie ermöglichen einen Familiennachzug, und sie haben, zusammen mit anderen Politikfeldern wie der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, Auswirkungen auf das Bildungsniveau und die ökonomische Integration der Migrationsgruppen. Die ökonomische Integration wiederum, das heißt die Position, die die zugewanderten Väter und Mütter in der Gesellschaft erreichen konnten, und ihre Möglichkeiten, den Kindern etwas mitzugeben und ihre Zukunft zu sichern, gibt den Rahmen vor für die Bewältigung der Migration als Teil der Familiengeschichte.
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A NHANG Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Frauen (2006-2010) Institut für Soziologie, Universität Freiburg/SoFFI F. Auftrag: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Stichprobe: 20- bis 44-Jährige Frauen mit türkischem und osteuropäischem Migrationshintergrund (Vergleichsgruppe: Frauen ohne Migrationshintergrund); Erhebungsregionen: Berlin, Nürnberg, Oberhausen, Stuttgart Projektleitung: Cornelia Helfferich Mitarbeit: Stefanie Bethmann, Debora Niermann, Heike Klindworth, Jan Kruse
Methoden a) Quantitative Erhebung: 2513 Frauen, 20 bis 44 Jahre, N=842 Frauen mit türkischem und N=832 Frauen mit osteuropäischem Migrationshintergrund sowie N=839 Frauen ohne Migrationshintergrund, Zufallsstichprobe aus den Einwohnermeldeamtsregistern, Telefonbefragung, standardisierter Fragebogen, Einsatz von türkischsprachigen, in Nürnberg und Berlin auch russischsprachigen Interviewerinnen; Erfragen u.a. reproduktiver Ereignisse im Lebenslauf b) Qualitative Erhebung: 45 qualitativ-biographische, teilnarrative Einzelinterviews, 18 Gruppendiskussionen mit Frauen v.a. mit türkischem und osteuropäischem Migrationshintergrund, 10 ExpertInneninterviews
Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Männern (2009/10) Evangelische Hochschule Freiburg Auftrag: Projekt im Rahmen des Programms »Impulsfinanzierung Forschung. Zukunftsprogramm für Fachhochschulen und Berufsakademien« der Landesstiftung Baden-Württemberg GmbH
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Stichprobe/Methoden: N=15 qualitativ-biographische, teilnarrative Interviews und N=6 Gruppendiskussionen mit 18- bis 50-Jährigen Männern aus der Türkei und aus Osteuropa; in Freiburg, Stuttgart, Lahr.
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III. Interkulturelle Familienkonstellationen in Literatur und Film der Gegenwart
Eine Position des Dritten? Der interkulturelle Familienroman Selam Berlin von Yadé Kara Michaela Holdenried
1. D ER F AMILIENROMAN Z WISCHEN A NACHRONISMUS UND I NNOVATION 1.1 Zur Wiederbelebung eines totgesagten Genres »Ist der Familienroman noch zeitgemäß?«, hat Sigrid Löffler sich 2005 in ihrer Zeitschrift Literaturen gefragt und apodiktisch festgestellt: Nach dem »ultimative[n] Familienroman«, nämlich Heimito von Doderers Die Merowinger oder Die totale Familie (1962), lasse sich »ernsthaft kein Generationenroman mehr schreiben.«1 Gleichwohl erhielt Arno Geiger im selben Jahr für seine Wiener Drei-Generationen-Geschichte Es geht uns gut, einen ›Auslöschungsroman‹ in der Tradition Thomas Bernhards, den Deutschen Buchpreis, und Löffler selbst schrieb ihre Polemik auf dem Hintergrund stärkster Nachfrage nach den »Sippschafts-Schwarten«2 . Was für alle Gattungen gilt, die so oft totgesagt wurden, bewahrheitet sich entgegen Anachronismusverdikten wie demjenigen Löfflers auch am Familienroman: Sie wandeln sich, nehmen neue Stoffe auf und dehnen damit die Gattungsgrenzen, definieren die Variablen neu, ohne die Konstante anzugreifen. Diese heißt nach wie vor Familie, in ihrer retrospektiv erinnerten Form, in ihrer ganzen Brüchigkeit, im Status ihrer absoluten oder relativen Auflösung begriffen. Das Spektrum der Versuche, das Familiäre mit dem Gesellschaftlichen und Historischen zu verbinden, reicht 1 | Sigrid Löffler: »Die Familie. Ein Roman: Geschrumpft und gestückelt, aber heilig: Familienromane I«, in: Literaturen 6 (2005), S. 18-26, hier S. 18. 2 | Löffler: Die Familie. Ein Roman, S. 18.
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dabei von der Affirmation des sippenhaften Zusammenhangs in den eher traditionellen Dynastienromanen über seine kritische Infragestellung bis hin zur demonstrativen »Epochen-Endzeitgeschichte[]«3 . Der Familienroman ist hierzulande ein ›monokulturelles‹ Genre. Wenn Löffler für den englischsprachigen Familienroman vermerkt hat, dass transkulturelle4 Elemente in ihn Eingang gefunden hätten und dass er sich »orientalisier[e]«5 , ja, dass der ethnisch-farbige Hintergrund sogar ein Erfolgsrezept sei (z.B. bei Salman Rushdies Des Mauren letzter Seufzer [1995] und Chang-Rae Lees Turbulenzen [2004]), so scheint dies für den hiesigen Kontext scheinbar nicht zuzutreffen: Keine der jüngeren Studien zum Familienroman erwähnt Yadé Karas Roman oder andere interkulturelle Familiengeschichten auch nur am Rande.6 Schon aufgrund dieses alle interkulturellen Weiterungen der deutschsprachigen Literatur ignorierenden Befundes erscheint es vielversprechend, danach zu fragen, inwiefern Positionen des Dritten innovative Muster für den Familienroman ausbilden können. Am Beispiel von Selam Berlin (2003) soll dies genauer untersucht werden.
3 | Löffler: Die Familie. Ein Roman, S. 22. 4 | Ich verwende abwechselnd die Begriffe Inter- und Transkulturalität. Ersteren im Sinne einer Auffassung von Kulturen als interagierenden, sich in einem unabschließbaren Prozess gegenseitiger Durchdringung befindlichen, nicht starren, sondern selbst flexiblen Entitäten. Letzteren, um im Sinne des von Blumentrath u.a. verfassten Bandes die terminologischen Weiterungen durch die Aufnahme poststrukturalistischer Elemente (hybride Identitäten, Gendertheorie etc.) zu markieren: Weiterungen, welche mehr als in Interkulturalitätskonzepten auf Differenz- und Performativitätsaspekte abheben. Vgl. Hendrik Blumentrath u.a.: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film, Münster 2007. 5 | Löffler: Die Familie. Ein Roman, S. 20. 6 | Das gilt auch für die neueren Sammelbände von Claudia Brinker-von der Heyde und Helmut Scheuer (Hg.): Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur, Frankfurt a.M. u.a. 2004, Thomas Martinec und Claudia Nitschke (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. u.a. 2009 sowie Simone Costagli und Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München und Paderborn 2010.
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1.2 Der interkulturelle Familienroman im zeit- und literaturgeschichtlichen Kontext Im modernen Familienroman, so Aleida Assmann, gehe es nicht (mehr) um ein duales Generationen-Modell und den Generationenkonflikt – wie in der Väter-Söhne/Väter-Töchter- und seltener der Mütter-Töchter-Literatur –, sondern »die erzählte Zeit [weitet sich] zu einer drei (und mehrere) Generationen umspannenden Retrospektive«7 aus. Es hat sich eingebürgert, die ältere Abrechnungsliteratur von dem neueren Modell desjenigen Familienromans zu unterscheiden, in dem »die existentielle Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte […] ein wichtiges Strukturmerkmal«8 darstellt. Der moderne Familienroman ist daher eine zeitspezifische Ausprägung des Generationenromans, in dem die Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit und insbesondere dem ›Zivilisationsbruch‹ (Dan Diner) des Nationalsozialismus im Kosmos der Familie das erzählerische Zentrum bildet. Das genealogische Modell bleibt für den ›deutschen‹ Familienroman, dessen Kernelement die nationale Geschichte ist, gattungstypologisch verbindlich, auch ex negativo, in den Absagen an die Genealogie. Der Familie entgeht man nicht. Gerade den Versuch, sich aus den synchronen Generationenmodellen etwa des Popromans zu lösen und (wieder) in einer diachronen Generationenfolge zu erzählen, sieht Bernhard Jahn von Aporien bedroht, weil eben dafür neue Modelle fehlten – sodass es, wie er nachweist, zum Rückfall in Kohärenzmuster des 19. Jahrhunderts kommt.9 Die interkulturellen Familiengeschichten markieren eine dritte Position – jenseits der ›deutschen‹ mit ihrer intrikaten Bezugnahme auf die eigene Vergangenheit und, als deren Anderem, den Erzählungen von den unterbrochenen bzw. zerstörten deutsch-jüdischen Genealogien (Eva Menasse, Maxim Biller, Barbara Honigmann). Mit deren Erscheinen aber, so kann man thetisch feststellen, werden Entwicklungen verstärkt, wie sie 7 | Aleida Assmann: »Geschichte im Familiengedächtnis: Private Zugänge zu historischen Ereignissen«, in: Neue Rundschau 118.1 (2007), S. 157-176, hier S. 160. 8 | Assmann: Geschichte im Familiengedächtnis, S. 160. 9 | Vgl. Bernhard Jahn: »Familienkonstruktion 2005: Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman«, in: Zeitschrift für Germanistik 16.3 (2006), S. 581-596.
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generell im Familienroman der letzten zehn Jahre spürbar sind: Das private wird gegen das kulturelle Gedächtnis aufgewertet, gefühlte Geschichte wird gegen die autoritative Erzählung von der Vernichtung, der Shoah, gesetzt.10 Neben die Fortsetzung des Schulddiskurses unter genealogischen Vorzeichen oder die voluntative Herauslösung aus genealogischen Fesseln tritt mit dem interkulturellen Familienroman eine dritte Tendenz: Hier wird kein von der Referenz auf nationale Geschichte untrennbarer Zusammenhang zwischen drei oder mehr Generationen mehr gestiftet – die Ahnen verschwinden bei Kara im mythischen Dunkel des Osmanentums –, sondern ein anekdotischer, magischer, ›orientalischer‹ – also ein literarischer. Kara greift nicht auf alte »Kohärenztechniken«11 zurück, sondern setzt eigene narrative Akzente und unterläuft damit die Konventionalität des Generationenmodells. Diese Akzente speisen sich aus transkulturellen Erzählelementen, also solchen, die gerade nicht aus der Herkunfts- oder der Zielkultur stammen, sondern aus einem frei verfügbaren Reservoir von Erzählmodellen wie etwa dem lateinamerikanischen Magischen Realismus oder einem postkolonialen Schreiben in der Art Salman Rushdies. Dass dazu intertextuelle Referenzen auf europäische Traditionen wie den Schelmenroman kommen, auf eine genuin deutsche Gattung wie den Bildungsroman und möglicherweise auf orale Traditionen oder Karagöz-Elemente bzw. eine türkische Tradition der Schelmenerzählung, gilt es im Einzelnen nachzuweisen. Unabhängig davon kann als Gemeinsamkeit all dieser intertextuellen Bezüge eine dominierende Verwendung des Satirischen, des Humoresken, der Ironie und der Fantastik konstatiert werden. Allesamt also nach Hofmann »literarische[] Mittel[,] die poetische Alterität in besonderer Weise bewusst machen.«12 10 | Das gilt nicht nur für die deutsch-jüdischen Geschichten, etwa bei Barbara Honigmann, sondern auch für die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit auf der ›Gegenseite‹: Mit Sebalds Luftkrieg und Literatur (1999) begann eine Phase der Durchbrechung von Tabus, die berechtigterweise einem starken Revisionismusverdacht ausgesetzt waren. Noch Bernhard Schlinks Bestseller Der Vorleser (1995) exerzierte ja plakativ vor, wie die Frage der Schuld ins PrivatimKitschige eskamotiert werden konnte. 11 | Jahn: Familienkonstruktion 2005, S. 588. 12 | Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn 2006, S. 59.
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So ist der Protagonist Hasan, aus dessen Perspektive die Wendeereignisse in Berlin, in das er kurz nach dem Abitur aus Istanbul zurückgekommen ist, beschrieben werden, zugleich tumber Tor – in seinen unreflektierten Zukunftswünschen – und Schelm (und damit vergleichbar dem mimic man Homi Bhabhas, wenn Hasan etwa im Film den ›Spielautomatentürken‹ Ali mimt), aber auch kenntnisreicher Flaneur in den interkulturell dispersen Stadtlandschaften Berlins oder eher noch Nomade, und nicht nur zwischen Istanbul und Berlin. »[A]lles transit«13 ist zugleich Ausdruck einer positiv konnotierten mentalen Grundhaltung wie Negativfolie der Suche nach Heimat,14 die Hasan zunächst von Istanbul in seine ›alte‹ Heimatstadt Berlin aufbrechen ließ und ihn dann – im Fortsetzungsroman Café Cyprus (2008) – nach London treibt. Nicht ohne Grund wird in der Forschungsliteratur zum Familienroman als theoretische Referenz insbesondere auf Karl Mannheim verwiesen. Mannheim hat das für Schiller positive Modell der genealogischen Kette in einem berühmt gewordenen Aufsatz von 1928, Das Problem der Generationen, diversifiziert, indem er statt der diachronen Kettenfolge die synchrone Ebene der in einer ›Generationskohorte‹ durch ›Generationserlebnisse‹ verbundenen Generationsmitglieder stärker in den Blick rückte.15 Wenn man wie Assmann unterstreicht, dass der neuere Familienroman »das Problem der Kontinuität in Gestalt langfristiger Verstrickungen, Übertragungen und Verschränkungen«16 in den Vordergrund stelle, womit aber eine eher durch Empathie als durch Anklage oder Abgrenzung geprägte Suche nach Motiven, Erklärungen und Deutungen der Verstrickungen in die Vergangenheit speziell des Nationalsozialismus einhergehe, so sind in Bezug auf Karas genealogisches Erzählen davon abweichende Konstellationen auffällig: Zwar gibt es auch in Selam Berlin einen Schulddiskurs, doch ist er Ausfluss moralischer Verfehlung unmittelbar auf der Familienebene, nicht 13 | Yadé Kara: Selam Berlin, Zürich 2004, S. 17. Zitate aus dem Roman werden fortan durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. 14 | Eine Position, wie sie Vilém Flussers ›Nomadologie‹ kennzeichnet, ein Konzept, mit dem dieser erfolgreich die ›Bodenlosigkeit‹ – seine Autobiographie trägt den Titel Bodenlos (1992) – globaler Wanderschaften ins Positive wendete. 15 | Vgl. Karl Mannheim: »Das Problem der Generationen«, in: Ders.: Schriften zur Wirtschafts- und Kultursoziologie, hg. von Amalia Barboza und Klaus Lichtblau, Wiesbaden 2009, S. 121-166. 16 | Assmann: Geschichte im Familiengedächtnis, S. 160.
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eines ethischen Bruchs im Nationalgeschichtlichen. Im Unterschied zum ›deutschen‹ Familienroman als einem diachron organisierten stellt Kara zumindest die Möglichkeit der Konstruktion einer eigenen Genealogie dar: Hasan und sein Bruder suchen sich in ihrem Berliner Mietshaus die deutschen Nachbarn Wessels als ›Großeltern‹ aus und konstruieren damit eine interkulturelle Quasi-Generationenfolge, mit der sie sich in den deutschen kulturellen Zusammenhang einschreiben.
2. P OSITIONEN DES D RIT TEN IM F AMILIENROMAN S ELAM B ERLIN 2.1 Zum Inhalt des Romans Der aus der Ich-Perspektive Hasans erzählte Roman beginnt in Istanbul mit dem Berliner Mauerfall in den türkischen Nachrichten. Hasan und seine Familie sind lange Zeit zwischen Berlin und Istanbul gependelt; er und sein Bruder Ediz wurden dann in die deutsche Schule Istanbul geschickt, um dort ihr Abitur zu machen. Der Vater, ›Baba‹, hält sich meistenteils in Berlin auf, wo er ein Reisebüro betreibt. Die Mutter lebt in Istanbul, mit gelegentlichen Abstechern nach Berlin, das sie nicht sonderlich schätzt. Hasan, in einer verborgenen Ecke des Wohnzimmers mit einer heftigen Masturbation beschäftigt – ein intertextueller Verweis auf Thomas Brussigs Helden wie wir (1995) – merkt am schockartigen Verhalten seiner Eltern, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein muss. »Wie starre Janitscharen im Topkapi-Palast saßen meine Eltern immer noch vor dem Fernseher. […] Tot, dachte ich.« (S. 6) Dass von da an nichts mehr wie vorher ist, hängt nicht nur mit dem Zusammenbruch der Weltordnung des Kalten Krieges zusammen, sondern auch mit dem Zusammenbruch der Familienordnung, denn durch den Mauerfall ist das Familiengeheimnis nicht länger verborgen zu halten: Der Vater entpuppt sich als amouröser Pendler zwischen Ost- und Westberlin, der seit zwei Jahrzehnten eine Zweitfamilie mit Rosa Marx [sic!] und dem Sohn Adem im Ostteil der Stadt unterhält. Nachdem das Geheimnis aufgeflogen ist, verlässt seine türkische Ehefrau ihn mit Eklat. Hasan bleibt in Berlin, distanziert sich aber vom Vater, zieht aus der ›Mauerwohnung‹ aus und sucht seinen eigenen Weg, der ihn in eine Schöneberger ›Drei-Mädel-WG‹ führt, eine Rolle in einem Film finden lässt und in amouröse Abenteuer treibt.
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2.2 Selam Berlin als Wenderoman – Mauerfall, Familienzerfall Karas Roman ist als erster türkisch-deutscher Wenderoman einzuordnen.17 Der Blick vom Bosporus auf den Mauerfall erscheint als ein von außen kommender, doch wird sehr rasch deutlich, dass die ganze Familie in die Geschehnisse involviert ist. Die äußere Dynamik stößt die innerfamiliäre an, die ohnehin schon durch die ›interkulturelle‹ Konstellation der Ehe mit erheblichem Konfliktpotential belastet ist.18 Die Mutter stammt aus wohlhabendem Istanbuler Bürgertum, der anatolische Vater kommt zum Studium nach Berlin. Eine ›neutrale‹ Position, wie sie sich Hasan und Ediz im Streit der Eltern sichern wollen, kann es nicht geben – eine dritte Position ist immer schon affiziert vom Globalisierungsgeschehen und in dieses verwoben. Berlin wird im Roman nicht nur abstrakt geschichtlich gesehen, sondern als veränderter Lebens- und Erfahrungsraum jedes Einzelnen. Hasan begreift, dass Geschichte nicht Müll ist,19 sondern Werte und Identitäten beeinflusst. Anders als in vielen Popromanen verweisen die In-out-Kategorien über das bloß Modische hinaus auf diese lebensbestimmenden Prägungen geschichtlicher Verläufe, in deren Strudel die Protagonisten geraten. Identität wird als ein Prozess sichtbar, »als temporalisierte Identität, […] vor dem Hintergrund generationeller Unterschiede und in der Reflexion auf Generationalität.«20 »Zeitschichten«, so hat Reinhart Koselleck formuliert, bezeichnen zeitliche Phänomene »verschiedener Dauer und unterschiedlicher Her17 | Vgl. Petra Fachinger: »A New Kind of Creative Energy. Yadé Kara’s ›Selam Berlin‹ and Fatih Akin’s ›Schmerzlos‹ and ›Gegen die Wand‹«, in: German Life and Letters 60.2 (2007), S. 243-260, hier S. 247. 18 | »Wo sollen wir leben? In Berlin oder Istanbul? Meine Eltern waren ein NordSüd-Gefälle. Ediz und ich standen dazwischen und mussten Position beziehen. Wir entschieden uns für New York.« (S. 10) 19 | Als die Mauer abgerissen wird – »So als wäre gerade die Müllabfuhr dagewesen und hätte alles mitgenommen, den Mist von dreißig, vierzig Jahren« (S. 305) –, merkt Hasan, dass ›seine‹ Mauer auch ein Symbol für Kreativität und Selbstverwirklichung bedeutete: die Möglichkeit, Spuren zu hinterlassen. 20 | Ulrike Hagel: »Die Zeitlichkeit des Erzählens von Generationen. Ein Blick auf neuere Familienromane«, in: Wirkendes Wort 58.3 (2008), S. 373-395, hier S. 377.
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kunft«21, also eine ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹. Vergangenheit ist demnach nicht nur auf einer Zeitachse anzuordnen, sondern auf mehreren – nur vordergründig geht es bei Kara um das Vorher-Nachher des Mauerfalls; viel komplexer lässt sich über die Zeitschichten Generationalität thematisieren. Im Sinne »subjektive[r] Selbst- und Fremdverortung«22 versuchen die Protagonisten sich jeweils auf den sie bestimmenden Zeitkoordinaten zu verorten, aus deren Kohärenz sie ihre identitäre Sinnstiftung beziehen. Diese Zeitschichten interferieren aber zwischen den Generationen, es bilden sich unterschiedliche temporale Referenzsysteme aus. Mit dem Erfahrungsraum Istanbul – dem ›alten‹ Istanbul – ist die Identität beider Eltern verbunden, mit dem Erfahrungsraum ›altes‹ Kreuzberg diejenige Hasans. Eine Verbindung ergibt sich durch die Einsicht, dass beide – durch ihre Liberalität und Lebensfreude vergleichbaren, aber in unterschiedlichen Zeitschichten situierten – Erfahrungsräume verschwunden sind. Der Mauerfall wirkt dynamisierend: Babas sorgfältig gegeneinander abgeschottete Lebenssphären sind in dieser Weise nicht mehr aufrechtzuerhalten – ein Zerfall der beiden Welten setzt ein. Hasan hingegen genießt zunächst die »Berlin-Party« – »ein Weltgeschehen, und ich war mit dabei« (S. 45) –, bis er merkt, dass das Verschwinden der Mauer nicht nur seinen alten Kinderspielplatz beseitigt, sondern auch die damit verbundenen Erinnerungen und ein Lebensgefühl: das des alten SO 36, des Kreuzbergs im Schatten der Mauer, das gerade dadurch zu einem Brouillon aus kreativer Energie und Überlebenskünstlertum geworden war. Nicht nur scheint nach dem Fall der Mauer im zu vereinigenden Deutschland noch weniger Raum für Interkulturalität vorhanden zu sein, scheint die Berliner Liberalität insgesamt zu schwinden.23 Man wohnt auch selbst nicht mehr im 21 | Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S. 9f. 22 | Jürgen Reulecke: »Einführung: Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts – im ›Generationencontainer‹?«, in: Ders. (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. VII–XV, hier S. VIII. 23 | »In der deutschen Schule Istanbul waren die Deutschen deutscher als die Deutschen hier in Berlin. […] Für mich war es jedes Mal eine Erholung, in Berlin anzukommen, wo das alles nicht so verbittert ernst betrieben wurde. Dafür hielten die Türken hier so bitterernst fest an ihrem Türkischsein, dass es einem zuviel wurde.« (S. 29)
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Kreuzberg der Eltern, in dem diese abgeschottet für sich leben konnten, in intakten neighbourhoods – »›In Kreuzberg zu wohnen ist passé‹, sagte Kazim und zündete sich einen Zigarillo an. ›Warum?‹ Hatte ich wieder was verpasst?« (S. 76f.) –, sondern im hippen, metropolitanen Schöneberg am Winterfeldtplatz. Kreuzberg ist die familiäre Vergangenheit, von der man sich lösen will: »Es war jetzt der Ort, wo die Eltern wohnten.« (S. 238) Damit aber wird eine über die Stadt bzw. den Kiez vermittelte Identität prekär.24 Während die Statik seines bisherigen Lebens innerhalb der Triangulierung Ostberlin-Westberlin-Istanbul für Baba eher gezwungenermaßen bestehen bleibt, versucht Hasan mit der Zeit zu gehen. Was Hagel für das Erzählen von Generationen analysiert hat, gilt auch hier: »Zeit scheint im generationellen Leben gar nicht anisotrop zu verlaufen, d.h. einseitig gerichtet.«25 Der generationelle Zusammenhang wird aber nicht nur durch die gegenläufigen Zeitschichten (oder deren Wahrnehmung) gestört: Lange vorher ist die familiäre Vergangenheit schon abgeschnitten, museales Kabinett einer fernen Erinnerung. Es ist Hasans Cousine Leyla, die sich durch ihre deutsche Mutter von ihren türkischen Wurzeln entfremdet fühlt, welche die Familienvergangenheit als repräsentative Ahnengalerie ausstellt: In einer Ecke des Korridors hingen Schwarzweißfotografien. Samuel Beckett mit Falten. Daneben die Ahnengalerie. Generationen von Kazans blickten aus Filzmützen, Kopftüchern und Silberschmuck in die Kamera. Großonkel, Tanten und Urgroßväter aus Mersin am Mittelmeer hingen an dieser Charlottenburger Wand und blickten tief in mich hinein. Die Kazans. (S. 100)
Für Leyla, aufgewachsen in einer bi-kulturellen Familie, sind die Ahnen Sehnsuchtsobjekt; sie selbst ist die ›Exotin‹, wenn sie Urlaub bei den Verwandten in der Türkei macht (vgl. S. 103). Leyla, Anglistikstudentin, ist für Hasan belustigenderweise auf der Suche nach der anatolisch geprägten 24 | Gelang es Hasan bisher, seine Identität aus der Stadt zu beziehen – »›Türke?‹ bohrte Miss Metallic weiter? Pause. ›Berliner‹, antwortete ich knapp. Wir lachten.« (S. 85) –, so gerät er in Schwierigkeiten, weil die innerstädtische Dynamik paradoxerweise Kreuzberg trotz seiner neuen Lage in der städtischen Mitte an den Rand drängt. 25 | Hagel: Die Zeitlichkeit des Erzählens, S. 389.
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Vergangenheit der Familie – diese Wurzeln möchte sie für sich reklamieren: »›Das sind uralte Wurzeln – Zivilisationen. Auf die kannst du stolz sein, kein Holocaust und Horror, kapiert?‹ ›Und was ist jetzt?‹ wendete ich ein. ›Militär, Mafia und Maschinengewehre. Nein, danke. Da ist mir Berlin mit seinem ganzen Mauertrubel viel lieber.‹« (S. 168)26 Während für die bikulturelle Leyla die Vergangenheit paradoxerweise Sehnsucht nach einer eindeutigen Identität erzeugt, sieht Hasan die Ahnen in anderem Licht: Urgroßvater und Großvater waren echte Osmanen, die sich nur widerwillig der Republik Atatürks beugten. Der neuen Wertordnung – »Ansehen durch Bildung und nicht mehr durch Waffe, Pferd und Mannesmut« (S. 66) – folgt der Vater, indem er nach Westen geht, um Maschinenbau zu studieren, gestrickte Wollstrümpfe und ein Amulett im Koffer. Für diesen Weg können die Großelterngenerationen keine Orientierung mehr geben, Baba ist auf sich gestellt. Damit aber bricht auch der Generationenzusammenhang ab, die Schrumpfung auf das Zwei-Generationen-Modell birgt ein Konfliktpotential, das zunächst durch die ZweiWelten-Achse bestimmt wird, in der darauf folgenden Generation Hasans durch die Lösung davon. Einzig ein magisches Objekt, das Amulett der Großmutter, vermutlich mit Suren aus dem Koran in arabischer Schrift, steht noch für den Traditionszusammenhang ein. Einen innertextuellen Reflex auf die Ahnengalerie Leylas stellt Hasans Reaktion auf den Zusammenbruch der Familie dar: Er arbeitet sich am Familienarchiv ab, indem er alte Fotos fotokopiert und neu zusammensetzt: »Eine Collage. Einige Polaroids fielen heraus. Aufnahmen von Familienfeiern, Beschneidungsfest. […] Scharfe Zeitsplitter. Es war eine Zeit, wo wir alle zusammen waren; eine Familie waren; glücklich waren.« (S. 162) Man geht aufgrund der zahlreichen Anspielungen auf kulturwissenschaftliche Theorien in Karas Roman27 sicher nicht zu weit, wenn man in diesem blindwütigen Ausagieren auch eine Anspielung auf Techniken der Dekon26 | Gegen die Ursprungsimaginationen Leylas setzt Hasan immer wieder die polemische Reflexion; Leylas Bekenntnis zum Tschador – »Tschador is sexy« – etwa: »Bestimmt, dachte ich, solange man ihn nicht selber tragen musste.« (S. 169) 27 | Leyla schreibt bezeichnenderweise ihre Magisterarbeit über postkoloniale Literatur: »Sie kritisierte alle Seiten [sic!]. Ich hatte Rushdie nicht gelesen. Es fiel mir auf, dass er zu den Typen gehört, die sich aus Wut über ihren Haarausfall einen gewaltigen Bart wachsen ließen.« (S. 263)
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struktion sieht. »Ich klebte die Bilder wild durcheinander auf ein riesiges Blatt, rollte die halbfertige Collage zusammen […] und versteckte sie in meinem Schrank. Ich hatte keinen Bock mehr drauf.« (S. 165) Das dekonstruktive Re-Arrangement bleibt wirkungslos. Ein halbherziges künstlerisches Happening im Stil des Aktionismus kann das familiäre Setting nicht zu etwas Innovativem rekombinieren. Babas Verrat durchschlägt jeden theoretischen Rettungsversuch. Vor dem Mauerfall, so suggerieren es das Familienalbum und die Tableaus, in denen die Familie abgebildet wird, war diese Familie ›glücklich‹: eine ›normale‹ Familie mit Vater, Mutter, Kindern. Die Zwei-Weltenteilung in Osten und Westen hat für Baba eine ebenso stabile Ordnung erzeugt wie für die im Schatten der Mauer eingerichteten Berliner insgesamt. Mit ihrem Fall gerät diese Ordnung ins Wanken. Dass der Vater, der seine Söhne vor den Berliner Gefährdungen – Drogenkonsum oder Homosexualität – bewahren will und sie deshalb auf die deutsche Schule Istanbul schickt, selbst eine Doppelmoral pflegt, erweist die Stabilität allerdings als eine nur scheinbare. Der Mauerfall, so wird offenkundig, beschleunigt lediglich die Korrosionsprozesse, die lange vorher schon eingesetzt hatten: Korrosionen der familiären und gesellschaftlichen Werte, der Identitäten.28 Das Familienalbum zeigt nur eine oberflächliche Wahrheit, denn die Familie ist durch die Pendelei selten als Ganze zusammen. Zwar wird dieses Hin und Her routiniert betrieben, doch abgesehen von den Sommerferien »hatten wir keinen Alltag, keine Routine und keine gemeinsamen Abende mit unserem Vater. Es war alles transit in unserem Leben. Doch das sollte sich ändern. Ich wollte kein Pendler mehr sein.« (S. 17) Die Suche nach einer festen Zugehörigkeit, nach Heimat, ist es ja, die Hasan nach Berlin gehen lässt. Die Stadt empfindet er als Laboratorium seiner Möglichkeiten – gleichzeitig wird sie zum Ort des intergenerationellen Konfliktes, in dem es, analog zur ›deutschen‹ Väterliteratur, um mehr als persönliche Abrechnungen geht. In der Auseinandersetzung zeigt sich aber zugleich die Nähe zwischen Vater und Sohn. Wie Hasan selbst bezieht auch sein 28 | Die türkische Familie bezieht gegen den Vater Stellung: »Niemand verzieh Baba die Affäre mit einer Ungläubigen, noch dazu aus einem kommunistischen Land ohne Furcht vor Allah. […] Für die Kazans war die Familie heilig, so prahlten sie jedenfalls in der Öffentlichkeit. In Istanbul hatten viele Männer neben ihren Frauen auch Geliebte und Mätressen, aber deswegen trennten sie sich nicht von ihren Ehefrauen und Kindern.« (S. 276f.)
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Vater seine Werte aus verschiedenen, zum Teil unvereinbar erscheinenden Zusammenhängen: »Wenn es ums Essen ging, war Baba Osmane, wenn es um Politik ging, Marxist, und wenn es ums Geschäft ging, dann war Baba Kapitalist. Er hatte von allem etwas, wie die Hindus. Viele Götter, viele Möglichkeiten.« (S. 118) Wenn Hasan seine »Praktiken im Raum«29 freier als sein Vater gestalten kann, indem er sich mit Leichtigkeit ganz Berlin zur »play zone« nimmt – »i.e. a space in which the individual can appropriate a range of identities without serious consequences«30 –, so verbindet ihn darin sehr viel mit seinem Vater, der sich zu seiner Zeit die ihm gemäßen Möglichkeiten ebenfalls offen hielt. Hasans weiter ausgreifende Flanerie, die verbunden mit einem auch erotischen Vagieren ist, hat ihre Grenze allerdings immer noch in den Konfrontationen mit seinem Status als Fremder: Bei der Wohnungssuche und in der S-Bahn ist er der »andere«; aufatmen kann er nur im türkischen »Kernland« (S. 334), am Kottbusser Tor. Auch Kazan junior, so gibt uns Karas Roman zu verstehen, kann seine hybride Identität nur bedingt ausleben.
2.3 Erzählmodelle in Selam Berlin – Habitus, Humor, Hybridisierung Schon von Dagmar Leupold wurde in ihrer Laudatio auf Kara anlässlich der Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Förderpreises auf das pikareske Schema des Romans verwiesen.31 Präzisierend hat Fachinger betont, dass das Schweifen und Vagieren aus hormonellen Gründen und aus Neugier, das unzuverlässige Erzählen zusammen mit dem Humor des Außenseiters Hasan zwar tatsächlich als einen modernen Picaro erscheinen lassen, dieser aber im Gegensatz zu seinen literarischen Vorbildern (Lazarillo de Tormes [ca. 1552], Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache [1599], Grimmelshausens Simplicissimus [1668/69], Christian Reuters Schelmuffsky [1696/97]) nicht nur von Station zu Station stolpernd die sozialen Veränderungen am eigenen Leib erfährt, ohne sich jedoch selbst weiterzuentwickeln. Vielmehr 29 | Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 179. 30 | Fachinger: A New Kind of Creative Energy, S. 252. 31 | Vgl. Dagmar Leupold: »Unterwegs zwischen Türkisch, Berlinerisch und Deutsch. Laudatio auf Yadé Kara«, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 18 (2004), S. 497-502, hier S. 497 u. ö.
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sei Hasan gezwungen, seine Werte und Orientierungen zu überdenken32 – auch wenn seine ironischen Sprüche über die grassierenden Identitätstrips33 ein Entwicklungsmoment nicht gerade nahe legen. Es gilt hier, die verwendeten Erzählmodelle und ihre variierende Verwendung genauer zu bestimmen. Den Habitus einer ganzen Generation – oder, in der Terminologie Karl Mannheims, den Generationenstil34 – borgt der Held sich aus dem Hedonismus der Popliteratur. Es sind Äußerlichkeiten, die helfen, Leute ›abzuchecken‹, insbesondere die Mode.35 Über Mode werden (erotische) Signale gesendet; Babas Vorbereitung auf seinen Besuch im Café Keese (mit Damenwahl) gleicht einem ausgetüftelten Ritual. Vor dem Spiegel probt er – im schwarzen Nadelstreifenanzug und mit Drei-Wetter-Taft im Haar – sein Verführerlächeln. »Es wirkte.« (S. 71) Im Vergleich der Generationen scheint ein nur durch die Zeitschichten getrenntes Gemeinsames auf: die Lust am Leben und an der Sexualität. Doch das Spiel mit den modischen Signalen hat für Hasans Vater klare, heterosexuell markierte Grenzen: Als er an Hasan einen Ohrstecker entdeckt (und Kajal) – »Es wirkte« (S. 63) –, rastet der Vater aus und bezichtigt ihn der Homosexualität. »›Es ist nur Mode, Trend, nichts anderes‹, erklärte ich ruhig. ›Ich scheiß auf diese Mode, diese Jugend, dieses Land‹« (S. 64), schreit der Vater und gibt damit zu erkennen, dass das performative Liebäugeln mit der sexuellen Transgression nicht seine Welt ist. Im Gegensatz zum 32 | So Fachinger: A new creative energy, S. 247: »Unlike the true pícaro, who usually does not change his ways during the course of the narrative, Akif and Hasan reach a point where they are forced to reconsider their values and attitudes.« 33 | »Wieder so einer auf Identitätstrip, dachte ich.« (S. 84) »Ossitürke, klickte es bei mir. Ein Halbtürke im Osten war wie ein Kakadu in der Lüneburger Heide.« (S. 84) 34 | Vgl. Mannheim: Das Problem der Generationen, S. 153. 35 | »Ich blickte prüfend in die Menge und versuchte Ostler von Westlern zu unterscheiden. Mein heimliches Spiel.« (S. 78) Die »Kombinatmode« entlarvt den Ostler, die Mode der 1970er Jahre – Koteletten, gelbe Hemden, hohe Absätze – findet Hasan »HÄÄÄSSLICH!« (S. 208) An die zeitlos sportliche Eleganz Redfords, Leylas schwarzem Freund, reicht Hasan nie heran. Obwohl man als Leserin meint, einem langen und sorgfältigen Auswahlprozess vor dem Spiegel beizuwohnen, zieht Hasan eigentlich immer das Gleiche an: Levi’s 501 und schwarzen Rollkragenpulli.
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Poproman ist Mode ein Thema, aber es wird genauso wenig überbewertet wie alle anderen Themen, an erster Stelle die Sexualität. Mit Agnes Schulze, Besitzerin eines Hundesalons, erlebt Hasan seine erotischen Lehrjahre – »Alles war so einfach. Ich freute mich auf Agnes, sie freute sich auf meinen Hosenschlitz, und Hund Julios freute sich auf uns. […] Jeder bekam, was er wollte.« (S. 184f.) Mit der Liebe wird jedoch nicht gespaßt, hier hört die pikareske Performance auf. Als Hasan sich in Cora verliebt, erfährt er rasch, dass er für sie nur ein Lustobjekt ist; sie bestimmt Zeit und Stunde ihrer Treffen, er »konnte so viel Gelassenheit und Coolness nicht abhaben.« (S. 272) Ungerührt ersetzt Cora ihn als Liebhaber schon nach kurzer Zeit durch einen jüdischen Musiker aus Riga. Im Gegensatz zu seinem Vater, für den die sexuellen Koordinaten klar definiert sind, ist Hasan zwar bereit zu Grenzüberschreitungen, doch ist er kein Hasardeur: »Seit es Aids gab, dachte ich ans Überleben.« (S. 271) Habitus wird nicht nur an der Mode, sondern auch an der Sprache deutlich. Ein Einfluss der Kanaksta-Sprache, wie sie durch Feridun Zaimoglu für bestimmte Gruppen nobilitiert wurde, ist zwar vorhanden – eine weitere Verbindung zum Gauner-Rotwelsch des Picaro –, doch legt Hasan sehr viel Wert auf gepflegtes Deutsch. Sprachliche Vielfalt kennzeichnet seine Codes, code switching gehört zu seinem Arsenal sprachlicher Mimikry. Am Filmset beispielsweise gibt er überzeugend den »Spielotheken-Türken«, nachdem der Filmemacher Wolf ihn zuvor vertraulich gefragt hat, wie es denn so sei, »zwischen den Kulturen, Sprachen hin- und hergerissen zu sein. Das muß hart sein. Andere Werte, Vorstellungen, Traditionen …«. (S. 222) Authentische Kommunikation findet allein in der peer group statt, wohingegen die Familie ein Ort der Kommunikationsstörungen ist, wenn nicht gänzlich geschwiegen wird. Hasans Versuche, mit dem Vater zu reden oder die Mutter in der Türkei aus einer Telefonzelle anzurufen, enden erfolglos.36 Seine Betonung des Performativen und das Talent zur Mimikry stoßen bei Leyla auf Kritik: »So ein abgedroschenes Zeug, fehlt nur noch Hammelfleisch, Prollpapas …«. (S. 237) Zwischen Souveränität der Geste und mimic man droht Hasan die Gefahr des Identitätsverlusts, doch macht der Roman ähnlich wie Zaimoglus Kanak Sprak (1995) die ungeheu-
36 | Darin ist eine deutliche intertextuelle Referenz auf die Rolle der Telefonzelle in Emine Sevgi Özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) zu erkennen, die dort die potentielle Verbindung zu den Eltern in der Türkei repräsentiert.
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re Bandbreite des Registers sichtbar, wie sie der Elterngeneration schon aufgrund ihrer sprachlichen Einschränkung nicht zur Verfügung stand. Weitere narrative Anleihen macht Kara beim Film. Erzähltechnisch vom Film geborgt sind etwa die Tableaus, stills, in denen typische Familienkonstellationen gezeigt werden. Schon der Auftakt mit den Eltern vor dem Fernseher ist ein solches Bild. Eingefroren, wie tot, halten sie Händchen. Ebenso filmisch erscheint das rituelle, aber interkulturell inszenierte Weihnachtsfest: »Im Wohnzimmer ist der Tisch gedeckt, wie in der Reklame für Jacobs Krönung.« (S. 132) »Das einzig Moslemische bei dieser Feier waren die Geschenke. Es gab keine.« (S. 134) Im Gegensatz zu den Essensszenen mit Freunden wird der rituelle, verpflichtende Aspekt dieser Feiern hervorgehoben: »Aber Familie verpflichtet.« (S. 133) Kara verbindet, so kann zusammengefasst werden, in ihrem Roman verschiedene Erzählmodelle zu etwas durchaus Neuem. Gemeinsames Bindeglied ist der Humor: Der Poproman wird auf die Ebene des Schelmenromans gebracht, damit aber wird der Sarkasmus in empathischen Humor transferiert. In der überzeichnenden Art des Lustspiels wird zudem das Motiv der Eifersucht gestaltet, von der Tragödie borgt sich Kara den Bruder-Zwist (der aber ein blindes Motiv bleibt). Mit dieser ›Bricolage‹ (Lévi-Strauss) spielt Kara bis zur Kontrafaktur; jedes angespielte Erzählmodell wird unterlaufen: Der Picaro ist ein sehr genauer Beobachter lebensweltlicher ›Milljöhs‹ (vgl. den zum Wohnzimmer verwandelten Treppenabsatz bei den Wessels, S. 39), die Suche nach einer transnationalen ›hybriden‹ Identität ist ein ironisch verhandeltes Thema. Im Gegensatz zum Poproman geht es um die Aufrechterhaltung von Werten, für die es aber keine Vorbilder in der Generation der Eltern mehr zu geben scheint. »›Glaubst du an die Liebe?‹ [ fragt Hasan seine Vertraute Leyla, M. H.] Bei diesem Thema konnte nichts schief gehen.« (S. 379) – eine höchst ironische Bemerkung angesichts der familiären Zerwürfnisse und der eigenen Desaster. Political correctness wird nicht nur in der Demontage von Stereotypen ironisiert (vgl. den Dialog mit Margit am Filmset, S. 254f., in dem Margit als Schwäbin sämtliche Stereotypen zur Anwendung bringt, die sich auf ›den Türken‹ beziehen, und den Hasan sich gewissermaßen mit Untertiteln anhört, dabei herzhaft eine Schweinewurst verzehrend). Gleiches geschieht mit theoretischen Konzepten. Der Postkolonialismus wird als eine dem Lebensweltlichen abstrakt entgegenstehende akademische Haltung desavouiert, von soziologischen Studien ist in Bezug auf Wolfs klischeehafte Vorstellungen vom Leben zwischen den Kulturen
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die Rede (die Hasan expressis verbis als Konzept ablehnt, vgl. S. 223), ethnologische Verfahren werden ironisiert, wenn Hasan seiner Frauen-WG (und Wolf)37 als ›eingeborener‹ Informant dienen soll. Wohin es führt, wenn die Konzepte, etwa die vom clash of civilizations (Samuel Huntington), über tatsächliche menschliche Begegnungen triumphieren, zeigt Kara am Vorstellungsgespräch mit der Frauen-WG: Nach verständnisinniger Unterhaltung auf gleicher Augenhöhe will die WG Hasans »Wort, dass du keine Familienbesuche mit acht Kindern, Grillparties auf dem Balkon oder Hammelschlachten in der Badewanne veranstaltest!« (S. 201) Wie beliebig und auswechselbar die intellektuellen Moden sind, bringt der Filmemacher Wolf auf den Punkt, indem er sein neues Projekt begründet: »Die Juden bestimmen jetzt die Richtung. Die Türken sind nicht integrierbar, nee, die sind noch zu anatolisch in den Köpfen. Außerdem ist die Türkenthematik schon ausgelutscht. […] [D]iese Juden aus Riga haben Pep, die sind westlich im Kopf.« (S. 373) Über alle fortschrittlichen Lippenbekenntnisse siegt letztlich doch die Vorstellung von der Überlegenheit einer westlichen ›Leitkultur‹.38
3. F A ZIT : F AMILIENBANDE UND HYBRIDE I DENTITÄTEN Selam Berlin hat einen jungen Protagonisten, der seinen eigenen Weg sucht. Schilderungen urbaner Jugendkultur, Konflikte mit der Herkunft und speziell mit den Eltern, das Umgehen mit der Sexualität gehören zu den Genreattributen des Jugendromans. Was die besonderen, interkulturell zu bestimmenden Entwicklungsmomente in Karas Roman ausmacht, 37 | »Wie sollte ich Wolf 60 Millionen Türken nahe bringen. Ich meine, da war alles dabei. Vom alten Schäfer auf dem Berg Ararat bis hin zum New Yorker Yuppie mit Büro am Bosporus. […] Die Bilder in seinem Kopf sind wie in Beton gegossen. Dieser Macker benutzte mich nur dazu, seine abgewichste Meinung, seine Bilder, seine Vorstellungen zu bestätigen.« (S. 245) 38 | Vgl. die Stellungnahme von Necla Kelek, die belegt, dass selbst einige deutsch-türkische Intellektuelle eine solche Überlegenheit anzuerkennen scheinen: »Fast jeder kann ein Handy benutzen, aber die dahinterstehende Technik, das sind eben über fünfhundert Jahre kumulierte europäische Geistesgeschichte und naturwissenschaftliche Forschung.« Necla Kelek: »Ein Befreiungsschlag«, in: FAZ vom 30. August 2010, S. 23.
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sind die Positionierungen der Figuren zum ›Zwischenreich‹ der Kulturen, dem positiv markierten ›in-between‹ Homi Bhabhas wie auch dem negativ konnotierten ›Dazwischen‹, gegen das Leslie Adelson ihr Manifest geschrieben hat.39 Eine »cultural fable«40 sei es, sich den Migranten als einen zwischen zwei Welten zerriebenen Menschen vorzustellen.41 Das Pendeln zwischen zwei Welten führt bei Hasan nicht zu einer binären oder gar zerrissenen Identität. Im Gegenteil. Fast scheint es, als habe Hasan Adelsons Manifest unterschrieben: Ich glaube, Wolf hatte die irrige Annahme von zwei Kulturen, die aufeinanderprallen. Und so einer wie ich musste ja dazwischen zerrieben werden. Eigentlich hatte ich alles von beidem. Von Ost und West, von deutsch und türkisch […]. Sie sahen in mir immer einen Problemfall. […] Piss off! Ich war so, wie ich war. […] Ich war wie ein Flummiball, sprang zwischen Osten und Westen hin und her, ha. (S. 223)
Binäre Oppositionen werden aber nicht nur in Bezug auf kulturelle Verortungen und Identitäten, sondern auch in Bezug auf die Generationen aufgebrochen: Nur der im Roman sattsam auf die Schippe genommene stereotype Gastarbeiter Ali wäre für eine solche Zwei-Welten-Theorie tauglich, doch gibt es diesen längst nicht mehr. Schon für die Eltern Hasans ist von komplexeren Konstellationen auszugehen: Die Ehe zwischen einem Anatolier und einer Istanbulerin ist gewissermaßen schon ›bi-kulturell‹, über Europas Grenzen können sie sich nicht einig werden,42 der Vater bewegt sich in Berlin wie in einem anatolischen Dorf, die Mutter findet »Berlin zu prollig« (S. 12). Die Mutter scheint in Karas Roman die einzige zu sein, die wirklich auf der Strecke bleibt: Sie, die nach Hasans Meinung in 39 | Vgl. Leslie A. Adelson: »Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen«, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Literatur und Migration. Text + Kritik-Sonderband, München 2006, S. 36-46. 40 | Adelson: Against Between, S. 4f. 41 | Vgl. auch Sandra Vlasta: »Das Ende des ›Dazwischen‹ – Ausbildung von Identitäten in Texten von Imran Ayata, Yadé Kara und Feridun Zaimoglu«, in: Helmut Schmitz (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, Amsterdam 2009, S. 101-116. 42 | »Für Mama hörte Europa südlich der Alpen auf.« (S. 10)
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den Vorstand von Hapag Lloyd gepasst hätte, endet nicht nur im Vorstand der Familie – sie scheint auch die einzige Verliererin der deutschen Einheit zu sein, weil im Zuge des Mauerfalls ihre Familie auseinanderbricht. Entgegen dem Zwei-Welten-Spagat der früheren Zuwanderer sind die gebildeten Protagonisten bei Kara freier in ihren Entscheidungen. Doch macht Karas Roman gleichermaßen deutlich, dass mit dem Schwinden der Berliner Liberalität auch den Wahlmöglichkeiten engere Grenzen gezogen werden. Zwar ist es Hasans Entscheidung, nicht mehr ›pendeln‹ zu wollen, doch findet seine Flanerie ihr Ende an den Übergriffen durch Neonazis, die ihn schließlich – wie seinen Vater – zum Rückzug in das türkische Kernland Kreuzberg zwingen (und im Fortsetzungsroman Café Cyprus nach London führen). Die durch den Fall der Mauer beschleunigte Familiendynamik bildet den Motor für die Suche nach alternativen Identitätsentwürfen – nicht nur bei Hasan. Er setzt sich ab von seinem Vater, sucht jedoch schließlich wieder das Gespräch mit ihm. Doch geht es – und das verbindet Karas Familienroman mit dem ›deutschen‹ – nicht um einen intendierten Bruch, sondern um unabhängige Lebensentwürfe in einem transkulturellen Rahmen. Dazu gehören Selbstinszenierungen, versuchsweise Selbstdefinitionen nicht über nationale, sondern über urbane Zugehörigkeiten und die Bejahung kultureller Hybridität: in den Paarbeziehungen, in Bezug auf die eigene Identität. Und wenn alle transkulturelle Theorie nicht hilft, wirkt vielleicht aus den Tiefen der Ahnen das Amulett, eine Art türkischer Voodoo, um statt des genealogischen Zusammenhangs wenigstens einen magischen, sprich: literarischen, zu stiften.
Interkulturelle Familienkonstellationen in Literatur und Film Beispiele aus dem türkisch-griechisch-deutschen Kontext Aglaia Blioumi
Es ist bekannt, dass das Thema ›Familie‹ seine permanente Aktualität dadurch gewinnt, dass es zwei Seiten hat: die Familie als Würde, aber gelegentlich auch als Bürde. In einem interkulturellen Rahmen lässt sich nun fragen, wie sich diese gegensätzlichen Aspekte in Familienkonstellationen niederschlagen, zumal sie aufgrund des interkulturellen Kontextes, dem sie ausgesetzt sind, in einer tiefgreifenden Weise neu verhandelt werden. Zu ermitteln ist demnach, inwiefern die durch Migration provozierten Grenzüberschreitungen Neuverortungen tradierter Familienbeziehungen zur Folge haben. Meine These ist dabei, dass in den von mir untersuchten Texten interkulturelle Neuverortungen einer Grundannahme der Sozialforschung – nämlich den Generationskonflikten zwischen Eltern und Kindern – nicht entsprechen. Im Ausland, aus der Entfernung, werden die evozierten oder imaginierten Eltern anders wertgeschätzt, mehr als noch zu Hause. Als Bezugspunkt fungiert dabei der türkisch-griechisch-deutsche Migrationskontext. Konkret werde ich Prosatexte von Emine Sevgi Özdamar und Eleni Torossi heranziehen, da diese Texte insofern konzeptuelle Ähnlichkeiten aufweisen, als sie vor allem den familiären Wertewandel literarisieren. Im Anschluss daran wird eine Brücke zum Film Kebab Connection geschlagen, der der ›Herstellung‹ einer kleinbürgerlichen deutsch-türkischen Familie bzw. einer interkulturellen Liebe nachgeht.
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1. THEORE TISCHE V ORÜBERLEGUNGEN : I M S OG DES ›D A Z WISCHEN ‹ In Deutschland ist seit den 1970er Jahren in Wissenschaft und Alltag die Rede vom ›Dazwischen‹ der Migranten und vor allem ihrer Kinder, was nicht mit dem Topos des ›Dritten Orts‹ der Hybridität, der in Homi Bhabhas Untersuchungen der postkolonialen Literatur geprägt wurde, zu verwechseln ist. Das ›Dazwischen‹ – das Leben zwischen den Kulturen – hat eine vornehmlich negative Konnotierung erfahren. Maria Brunner belegt, dass in Schulbüchern der 1990er Jahre für den Geographie- und Sozialkundeunterricht des Öfteren das Bild vom Ausländerkind ›zwischen den Stühlen‹ vorkommt. Zwischen zwei Kulturen zu leben, bedeute Kulturkonflikte und Desorientierung; ausländische Kinder leiden angeblich unter Identitätsproblemen, weil sie nicht wissen, wo ihre Heimat ist.1 Das große Verdienst der Einführung des Begriffs des ›Dritten Orts‹ ist dagegen, dass er diesen Zwischenraum der Kulturen emanzipiert und ihm eine positive Sinngebung verleiht. Nach Bhabha ist der ›Dritte Ort‹ als eine Kontaktzone zu verstehen, die sich aus der Überlagerung von hybriden Kulturen ergibt und in der es zu kulturellen Veränderungen kommen kann.2 Im Grunde genommen ist es ein Ort der Grenzüberschreitungen und der Neuverhandlungen.3 Hybridisierung besteht folglich sowohl in der Übernahme neuer Zeichen als auch in der Veränderung der Bedeutung vorhandener Elemente. Dieser Prozess der Hybridisierung wird in Homi Bhabhas Vokabular als De-Platzierung (displacement) bezeichnet, wobei sich die Bedeutung von Zeichen und kulturellen Elementen als kontextabhängig erweist.4 Eine Unter1 | Vgl. Maria Brunner: »›Migration ist eine Hinreise. Es gibt kein ›Zuhause‹, zu dem man zurück kann‹. Der Migrationsdiskurs in deutschen Schulbüchern und in Romanen deutsch-türkischer AutorInnen der neunziger Jahre«, in: Manfred Durzak und Nilüfer Kuruyazici (Hg.): Die andere Deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge, Würzburg 2004, S. 71-90, hier S. 72. 2 | Vgl. Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur, Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2000, S. 55. 3 | Vgl. Michaela Wolf: »Triest als ›Dritter Ort‹ der Kulturen«, in: Federico Celestini und Helga Mitterbauer (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers, Tübingen 2003, S. 153-173, hier S. 154. 4 | Vgl. Werner Suppanz: »Transfer, Zirkulation, Blockierung. Überlegungen zum kulturellen Transfer als Überschreiten signifikatorischer Grenzen«, in: Federico
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scheidung der genannten Begriffe ist hier wichtig, da in den untersuchten Texten sowohl das ›Dazwischen‹ als auch der ›Dritte Ort‹ literarisch konfiguriert und mit der Familienproblematik in Verbindung gebracht werden.
2. E MINE S E VGI Ö ZDAMAR : F AMILIE ALS H ORT DER ›G EBORGENHEIT‹ UND O RT DES W ERTE WANDELS Bereits am Titel der Erzählungen Mutter Zunge und Großvater Zunge, erstmalig 1993 im Sammelband Mutterzunge publiziert, ist symbolhaft die große Bedeutung einzelner Familienmitglieder zu erkennen. Der Plot entfaltet sich im Berlin der 1970er Jahre, und die Stadt wird zum Katalysator von Erinnerungsräumen und zukünftigen Projektionen, wobei ein Zwischenraum entsteht, der Rekontextualisierungen und hybride Erfahrungen erlaubt. In der direkten Übernahme aus dem Türkischen bedeutet ›Mutterzunge‹ Muttersprache, da das Wort für Zunge und Sprache identisch ist. Die Migrationserfahrung löst bei der Ich-Erzählerin den Wunsch aus, herauszufinden, wann und wo sie ihre ursprüngliche ›Heimatsprache‹ verloren hat. Am Anfang der Erzählung steht: »Wenn ich nur wüsste, wann ich meine Mutterzunge verloren habe. Ich und meine Mutter sprachen mal in unserer Mutterzunge.«5 Demzufolge wird die Suche nach der eigenen Sprache unmittelbar an die Mutter gebunden. Am Ende der Erzählung wird dies expliziert: »Vielleicht erst zu Großvater zurück, dann kann ich den Weg zu meiner Mutter und Mutterzunge finden.«6 Der hohe Stellenwert, der den Gesprächen mit der Mutter beigemessen wird, ist daran zu erkennen, dass ihnen Anfang und Ende der Erzählung gelten, wobei der Beziehung zur Mutter am Anfang ein größerer Raum gegeben wird. Laut Cornelia Zierau macht für die Protagonistin nicht die türkische Sprache die Muttersprache aus, sondern der Klang der Sprache in der Stimme der Mutter.7 So heißt es Celestini und Helga Mitterbauer (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers, Tübingen 2003, S. 21-33, hier S. 24. 5 | Emine Sevgi Özdamar: »Mutter Zunge«, in: Dies.: Mutterzunge, Köln 1998, S. 9-14, hier S. 9. 6 | Özdamar: Mutter Zunge, S. 14. 7 | Vgl. Cornelia Zierau: Wenn Wörter auf Wanderschaft gehen. Aspekte kultureller, nationaler und geschlechtsspezifischer Differenzen in deutschsprachiger Migrationsliteratur, Tübingen 2009, S. 75.
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in den ersten Sätzen der Erzählung »Ich erinnere mich jetzt an Muttersätze, die sie in ihrer Mutterzunge gesagt hat, nur dann, wenn ich ihre Stimme mir vorstelle, die Sätze selbst kamen in meine Ohren wie eine von mir gut gelernte Fremdsprache.«8 In der Migration verblasst infolgedessen die Muttersprache dermaßen, dass »einzelne Wörter der neuen Sprache nicht mehr in sie übersetzt werden können. So entsteht eine sprachliche Hybridität, in der es die eine ursprüngliche Sprache und Hierarchisierung zwischen Mutterund Zweitsprache nicht mehr gibt.«9 Die Suche nach der Sprache ist folglich ein Versuch, der eigenen Identitätskonstitution nachzuspüren. Dabei ist jedoch kein Bruch, keine Identitätskrise bemerkbar; das Individuum erfährt sich in einer Pendelsituation, und deswegen sucht es in der Retrospektive jenen Moment, in dem es die Mutterzunge verloren hat. So konstatiert die Protagonistin: »Wenn ich nur wüsste, wann ich meine Mutterzunge verloren habe.«10 Fortan bewegt sie sich im ›Dritten Ort‹ der Sprachen und Kulturen, was auf keinen Fall auf ein defizitäres ›Dazwischen‹ schließen lässt. Am Rande sei hier erwähnt, dass man dasselbe Motiv des Aufspürens der eigenen Identitätskonstitution in Yoko Tawadas Talisman findet. Im literarischen Essay Erzähler ohne Seelen stellt die Protagonistin fest: »Ich habe bei meiner ersten Fahrt nach Europa mit der transsibirischen Eisenbahn meine Seele verloren. Als ich dann mit der Bahn wieder zurückfuhr, war meine Seele noch in Richtung Europa unterwegs. Ich konnte sie nicht fangen. Als ich erneut nach Europa fuhr, war sie auf dem Weg nach Japan.«11 Auch in diesem Text ist kein Identitätsbruch wahrzunehmen, das Individuum konstituiert sich durch die wahrgenommene Gleichzeitigkeit der Pendelbewegungen. Der Zug, migrantisches Motiv schlechthin, wird in Özdamars Text ebenfalls an die Identitätskonstitution gekoppelt. »Ich saß mal im IC-Zugrestaurant an einem Tisch, an einem anderen saß ein Mann, liest sehr gerne in einem Buch, ich dachte, was liest er? Es war die Speisekarte. Vielleicht habe ich meine Mutterzunge im IC-Restaurant verloren.«12 Es ist offensichtlich, dass Migration einen Raum eröffnet, der flüssige Zeichenzirkulationen ermöglicht, zumal die Statik der mitgebrachten 8 | Özdamar: Mutter Zunge, S. 9. 9 | Zierau: Wenn Wörter auf Wanderschaft gehen, S. 74. 10 | Özdamar: Mutter Zunge, S. 9. 11 | Yoko Tawada: »Erzähler ohne Seelen«, in: Dies.: Talisman, Tübingen 1996, S. 16-27, hier S. 20. 12 | Özdamar: Mutter Zunge, S. 12.
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Sprache und somit der Wahrnehmungsschemata neuen Sinnkonstitutionen weicht. Dieser Raum erlaubt – in Özdamars Mutterzunge in einem geographischen Sinn – die gleichzeitige Wahrnehmung differenter Räume, da oft die Rede vom Pendeln zwischen zwei Stadtteilen ist oder die Mutter in Istanbul auf die Frage der Protagonistin, warum die Stadt so dunkel sei, antwortet, dass alles beim Alten sei, nur die Augen der Tochter an Deutschlands Lichter gewohnt seien. Die Räumlichkeit beider Länder wird demnach gleichzeitig wahrgenommen. Der neu eröffnete Raum aber bewirkt, dass die Erinnerung an sich hybride Züge annimmt, da sich die Protagonistin, wie bereits erwähnt, nicht sofort an die ›Mutterzunge‹ erinnern kann, sondern sie nur über die Vorstellung der Stimme ihrer Mutter zu rekonstruieren vermag. Auch an ergreifende Ereignisse, etwa die Worte der Mutter eines Aufgehängten, erinnere sie sich »nur so, als ob sie diese Wörter in Deutsch gesagt hätte.«13 Aus der Distanz der Migration erscheint die Muttersprache wie die Zweitsprache. Es erfolgt also im Sinne Bhabhas eine Rekontextualisierung, da das Geschehen aus einer anderen Perspektive betrachtet wird, die ursprüngliche Sinnstrukturen verfremdet. Besonders aufschlussreich für Özdamars Beschreibungen der Mutterund der Vaterfigur ist der Roman Die Brücke vom Goldenen Horn. Die Eltern, und vor allem die Vaterfigur, werden auf zwei Ebenen dargestellt: Zum einen nimmt der Vater eine abstrakte, normative Funktion ein, da er als Symbol der patriarchalischen Ordnung fungiert, zum anderen ist er individualisiert, verkörpert den liebevollen, progressiven Vater der Protagonistin. Das erste Bild wird plastisch aus dem Munde der Zimmergenossinnen in Deutschland expliziert: Sie sprachen soviel über ihre Brüder und über unsere Väter, dass ich dachte, ihre Sätze über die Brüder und Väter weben ein Spinnennetz, das das ganze Zimmer und unsere Körper bedeckt. Ich fing an, vor ihren Brüdern und meinem Vater Angst zu kriegen. Ich hatte sogar Angst vor Rezzans totem Vater.14
13 | Özdamar: Mutter Zunge, S. 11. 14 | Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn, 2. Auflage, Köln 2000, S. 33.
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In Bezug auf ihren Vater ist von Interesse, dass die Protagonistin erst durch die Wiederholung der imaginierten Väter begonnen hat, Angst vor ihm zu haben. Deshalb stimme ich zwar der bisherigen Forschungsliteratur dahingehend zu, dass, im Vergleich zum Vater, die Erinnerung an die Mutter häufiger und stets emotional ist, teile jedoch nicht die Auffassung, dass der Vater »nur aufgrund seiner Autorität gelegentlich von der Tochter erinnert wird«15, denn dadurch werden die individualisierten Beschreibungen des Vaters unterschlagen. Beispielhaft dafür ist ein Dialog zwischen dem Vater und einer Dame, die ihn fragt, ob seine Tochter in Deutschland Deutsch gelernt habe. Als sie feststellen, dass die Protagonistin kein Deutsch gelernt hat, meint der Vater: »›Meine Tochter, willst du die Sprache lernen, hör, was die Dame sagt, du musst die Sprache lernen.‹ ›Ja, Vater, ich möchte lernen.‹ […] Mein Vater gab mir 3000 Mark und schickte mich zum Goethe-Institut in eine Kleinstadt am Bodensee.«16 Der Vater scheint seiner Tochter jeden Gefallen zu tun und beschränkt sich bei Missbehagen auf Kommentare: »Wenn ich in den Nächten spät nach Hause kam […], sagte [er] zu mir: ›Meine Tochter, du bist ein Mann geworden. Du hast aus Deutschland eine neue Mode gebracht. Du kommst in der Nacht nach Hause.‹«17 An dieser Stelle ist deutlich zu erkennen, dass zwar die Vorstellungen der Protagonistin und dadurch der jungen Generation mit denen der Eltern in Konflikt stehen, sich eine Opposition zwischen modernen und traditionellen Werten eröffnet und die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit neu verhandelt wird, doch dieser enorme familiäre Wertewandel, der wohlgemerkt durch die Migrationserfahrung ausgelöst wird, führt nicht zum Generationenkonflikt. Zwar ist im gesamten Roman gelegentlich die Rede vom Wandel der Familienkonstellationen, doch heftige Auseinandersetzungen und vor allem ein Bruch in der Funktion der Eltern als Halt im Leben der Tochter sind nirgends festzustellen. Deswegen stimme ich auch hier der von der bisherigen Forschung vertretenen Ansicht nicht zu, dass die jungen türkischen Frauen im Roman – und damit auch die Protagonistin – »von der Sehnsucht nach 15 | Ines Theilen: »Von der nationalen zur globalen Literatur. Eine Lese-Bewegung durch die Romane ›Die Brücke vom goldenen Horn‹ von Emine Sevgi Özdamar und ›Café Nostalgia‹ von Zoé Valdés«, in: arcadia 40 (2005), S. 318-337, hier S. 326. 16 | Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn, S. 107f. 17 | Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn, S. 221.
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Unabhängigkeit getrieben [werden], was eine Ablösung von der Mutter voraussetzt.«18 Ebenso widerspreche ich der Auffassung, dass die Erfahrung der Fremdheit eine veränderte Beziehung zu den Eltern zur Folge hat.19 Trotz des Bildes der Eltern als Inkarnation kollektiver Moralvorstellungen fungiert gerade die Mutter als individualisierter emotionaler Halt sowohl zu Hause als auch in der Fremde. Typisch für die Funktion der Mutter als ›Geborgenheitsquelle‹, die für das Beste ihres Kindes eingefahrene Denkweisen und Traditionen überschreitet und somit den familiären Wertewandel entschieden vollzieht, ist das Ende des Romans, wo die Mutter der Tochter ihren Segen gibt: »Flieh und leb dein Leben. Geh, flieg.«20 Insbesondere die Ermutigung zu ›fliegen‹, also nach Deutschland zu migrieren, ist für die Tochter Motivation, sich selbst zu verwirklichen und ihrem Traum, Schauspielerin zu werden, nachzugehen. Dieses innige Mutter-Tochter Verhältnis wird noch einprägsamer in Özdamars im Jahr 2001 publizierter Erzählung Der Hof im Spiegel skizziert. In der Erzählung wird die Wohnung der Protagonistin in Deutschland beschrieben; eine zentrale Rolle spielt ein über dem Tisch hängender Spiegel, in dem sie sich, ihre Küche und die zum Innenhof gelegenen Fenster der Nachbarwohnungen sehen kann. Im Laufe der Erzählung wird der Spiegel zu einem ›Dritten Ort‹ hypostasiert, der eine neue Gemeinschaft beherbergt: die Idole der Nachbarn, die sich im Zuge der Einbindungskraft der Protagonistin verselbständigen, und die erinnerten Toten. So ermuntert die Mutter die Tochter: »›Weine nicht, meine Tochter. Weine nicht. Die Menschen sterben eben.‹ Meine Mutter in Istanbul und ich vor dem Spiegel weinten am Telefon.«21 Eindeutig zeigt sich die Funktion des Spiegels als ›Dritter Ort‹ auch an folgender Stelle: »Ich war glücklich im Spiegel, weil ich so an mehreren Orten zur gleichen Zeit war. Meine Mut-
18 | Theilen: Von der nationalen zur globalen Literatur, S. 327. 19 | Vgl. Irmgard Honnef-Becker: »Pluralität und Differenz: Begegnungen von Kulturen in Sprache und literarischen Texten – die Autorin Emine Sevgi Özdamar im interkulturellen Deutschunterricht«, in: Olga Iljasova-Morger und Elke Reinhardt-Becker (Hg.): Literatur – Kultur – Verstehen. Neue Perspektiven in der interkulturellen Literaturwissenschaft, Duisburg 2009, S. 65-79, hier S. 72. 20 | Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn, S. 329. 21 | Emine Sevgi Özdamar: »Der Hof im Spiegel«, in: Dies: Der Hof im Spiegel. Erzählungen, Köln 2001, S. 11–46, hier S. 24.
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ter und sechs Nonnen und ein Pfarrer, alle wohnten wir zusammen.«22 Wie bereits erwähnt, gibt es in diesem Spiegel nicht nur Platz für die lebendigen Nachbarn, sondern auch für die erinnerten Toten, die imaginativ neben den Lebendigen ›widergespiegelt‹ werden. Es wird folglich eine Gemeinschaftsvorstellung geschaffen, die an eine Art ›extended family‹ erinnert. Heinz Kimmerle zufolge, der die Konstitution der Familie aus afrikanischer Sicht beleuchtet, gehören auch die Geister der Verstorbenen zum sozialen System der Familie.23 Ähnlich betet die Protagonistin in Die Brücke vom Goldenen Horn für die Seelen der Toten, denn ihre Mutter meinte einst: »Wenn man die Seelen der Toten vergisst, werden ihre Seelen Schmerzen bekommen.«24 Es konstituiert sich demzufolge eine neue Familie, die sowohl interkulturell ist als auch die Grenzen zwischen Realität und Einbildungskraft, Diesseits und Jenseits verwischt. Die Tatsache, dass es sich um eine ›Familie‹ handelt, weist den Zwischenraum nicht als ein defizitäres ›Dazwischen‹, sondern als eine lebendige Gemeinschaft aus, die in der Fremde ein neuer Kompass für die eigene Identitätskonstitution wird, da sich die fluide Identität der Protagonistin in diesem wandelnden Kontext stetig neu bestimmt. Der wichtigste Aspekt scheint mir in Bezug auf die Familienkonstellationen bzw. auf das Mutter-Tochter Verhältnis jedoch als Strukturmerkmal in die Narration eingeschrieben zu sein. Meine These ist also, dass dieses Verhältnis nicht nur thematisch angegangen wird, sondern gelegentlich literarisch umgesetzt wird, was wiederum über das Schreiben der Literatur den ›Geborgenheitsfaktor‹ der Mutter verewigt. Somit wird auch Literatur ein Stück Familie. Aufschlussreich dafür ist folgender Auszug aus dem Anfang von Mutter Zunge: Meine Mutter sagte mir: »Weißt du, du sprichst so, du denkst, dass du alles erzählst, aber plötzlich springst du über nichtgesagte Wörter, dann erzählst du wie-
22 | Özdamar: Der Hof im Spiegel, S. 31. 23 | Vgl. Heinz Kimmerle: »Familie, Volk, Nation aus interkultureller Sicht. Ein spannungsvolles Begriffsdreieck im sozial-politischen Denken«, in: Alexander von Bormann (Hg.): Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, Würzburg 1998, S. 199–210, hier S. 203. 24 | Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn, S. 21.
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der ruhig, ich springe mit dir mit, dann atme ich ruhig.« Sie sagte dann: »Du hast die Hälfte deiner Haare in Alamania gelassen.« 25
Es ist offensichtlich, dass in der letzten Wendung diese Erzählweise plastisch vorgeführt wird, da im Zuge der Übermittlung der Erinnerung die Mutter ebenfalls Disparates zusammenführt. Die angebliche Aussage der Mutter kann mit folgenden Auszügen aus Der Hof im Spiegel konfrontiert werden: Als ich Can in Istanbul anrief, sah ich den neuen Mieter wie Goethes Schatten in den Spiegeln aus drei Perspektiven. »Can, im Hof gibt es einen neuen Mieter. Er ist Fotograf und hat eine Katze. Er sieht genau wie der junge Goethe aus. Ich glaube, er ist Nichtraucher.« 26
Die letzte Wendung scheint mir auch hier zusammenhangslos zu sein. Ähnlich verhält es sich, als ein Nachbar der Protagonistin von seinem Leben erzählt: »Er sagte: ›Ich habe eine Rolladenfirma gehabt, aber meine Angestellten haben mich beim Rolladenaufhängen in Wiesbaden im Stich gelassen. Ich fiel aus dem zweiten Stock runter, ich habe Raucherbeine.‹«27 Wichtig sind schließlich die Gedanken der Protagonistin, als ihre Mutter starb. »Ich hatte große Sehnsucht nach ihren Wörtern. Sie hatte gesagt: Die Welt ist die Welt der Toten, wenn man die Anzahl der Lebenden und der Toten bedenkt. Wie viele Wörter lagen jetzt dort unten?«28 Die Sehnsucht nach der Mutter wird also explizit an deren Sprachgebrauch gekoppelt. Ob aber die Ähnlichkeit der literarischen Praxis Özdamars mit der konfigurierten Muttersprache Ansätze einer latenten Poetologie ausmacht, müsste mittels einer umfassenden Sichtung ihrer Werke eingehender untersucht werden.
25 | Özdamar: Mutter Zunge, S. 9. 26 | Özdamar: Der Hof im Spiegel, S. 46. 27 | Özdamar: Der Hof im Spiegel, S. 36. 28 | Özdamar: Der Hof im Spiegel, S. 13.
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3. E LENI TOROSSI : V ON DER M UT TER -S PR ACHE ZUM M UT TERERSAT Z Eleni Torossi, die bekannteste und aktivste griechischstämmige Autorin auf dem deutschen Literaturmarkt, widmet sich dem Eltern-Kind-Verhältnis in ihrem 1998 zweisprachig erschienenen Erzählband Zauberformeln. In der ersten Erzählung, die denselben Titel trägt, legt die Protagonistin dar, dass in ihrer Kindheit auf Papier gekritzelte Buchstaben zu Zauberformeln wurden, da ihr diese, als die Gestik scheiterte, eine Möglichkeit boten, mit ihrer tauben Mutter zu kommunizieren. »Wenn sie [Mutter] mich dann auf ihren Schoß nahm und streichelte, fühlte ich mich verstanden und beschützt.«29 Die Verknüpfung des Muttermotivs mit der Sprache wird in der Erzählung Mutter-Sprache aufgegriffen. Sie besteht darin, dass die Distanz zum Heimatort und auch die Zweitsprache eine Neuverortung ihrer Weiblichkeit und somit den Abstand von der Sprache der Mutter, der Sprache ihrer Kindheit, bewirken. Die unternommene kritische Retrospektive leitet einen Entwicklungsprozess ein, der zum einen ihren Sprachgebrauch erklärt und ihr zum anderen zur bikulturellen Einsicht verhilft. Am Ende der Erzählung fragt sie ihr Sohn: Mama, malst du mir ein Bild? Ja mein Junge, ich male dir eine Löwin – sie brüllt auf deutsch und schmust auf griechisch. 30
Das prekäre ›Dazwischen‹, von dem während der Erzählung die Rede war, mündet zum Schluss in einer ausgewogenen Bikulturalität. Wir haben es jedoch nicht mit einem ›Dritten Ort‹ zu tun, da beide Teile des Ichs deutlich national gefärbt sind. Festzuhalten ist dabei, dass, wie bei Özdamar, die Migrationserfahrung keinen Generationskonflikt auslöst; ganz im Gegenteil bewirkt die Fremde eine kritische Aufarbeitung der eigenen Kindheit, die zu einem ausgeglichenen Verhältnis zur Mutter führt.
29 | Eleni Torossi: »Zauberformeln«, in: Dies.: Zauberformeln, Köln 1998, S. 9-11, hier S. 11. 30 | Eleni Torossi: »Mutter-Sprache«, in: Dies.: Zauberformeln, Köln 1998, S. 79-85, hier S. 85.
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Aufschlussreich für das Eltern-Kind-Verhältnis ist Torossis Erzählung Sinasos. Die Protagonistin verspürt an ihrem vierzigsten Geburtstag den Drang, ihren Vater kennenzulernen, den sie seit ihrer Kindheit aufgrund der Scheidung der Eltern nie wieder gesehen hatte. Ihr vierzigster ist aber ein besonderer Geburtstag, weil er signalisiert, dass sie zwanzig Jahre in Griechenland und genauso viele Jahre in Deutschland gelebt hat. Es klingt absurd, das Dort ein fremdes Land zu nennen. Dieses Dort ist doch inzwischen meine halbe Heimat. Das halbe Leben hier, das halbe Leben dort. Ich kann kaum sagen, was mich mehr prägte, das Hier oder das Dort. Manchmal fühle ich das Hier dort und das Dort hier. Darüber hätte ich gern mit dir an meinem vierzigsten Geburtstag gesprochen, da du auch ein Hier und ein Dort hast, ein Ausgewanderter bist!31
Die Vermischung der kulturellen Signifikanten beschreibt plastisch die Funktion von Hybridisierungsprozessen, und die Migration muss als gemeinsames Schicksal angesehen werden. Abstammungsfragen werden infolge der Suche nach dem Vater patrimonial gekennzeichnet. Ein gewisser Glaube an die prägende Kraft der Herkunft wird ebenfalls in Torossis zuletzt erschienenem Roman Warum Tante Iphigenia mir einen Koch schenkte. Geschichten meiner griechischen Familie32 zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich um einen kulinarischen Roman, oder besser: um ein literarisches Rezeptbuch, dessen Vorlage Torossis Sendung Notizbuch kulinarisch im Radiosender Bayern 2 lieferte. Die Kontakte zu den heißgeliebten Tanten fungieren als Mutterersatz und drehen sich thematisch um Kochrezepte, die am Ende der jeweiligen Episode stehen. Ein ausführliches Abstammungsdiagramm mütterlicherseits gleich auf der Rückseite des Deckblatts, das an den Ecken mit je einem Traubenbündel – dem griechischen Symbol schlechthin – versehen ist, bekundet unter anderem die Überzeugung von der prägenden Kraft der Herkunft. Insgesamt ist sowohl bei Özdamar als auch bei Torossi festzuhalten, dass die Mutter oder der Mutterersatz diejenigen sind, die die Protagonistinnen an das Herkunftsland binden. Die erste Generation von Autorinnen 31 | Eleni Torossi: »Sinasos«, in: Dies.: Zauberformeln, Köln 1998, S. 13-33, hier S. 13. 32 | Eleni Torossi: Warum Tante Iphigenia mir einen Koch schenkte. Geschichten meiner griechischen Familie, München 2009.
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hat es geschafft, beides zu vereinen: sowohl Hybridisierungsprozesse einzuleiten als auch ein Standbein in der Heimat zu haben. Es bleibt nun zu verfolgen, wie diese Balance in der zweiten Generation ausfällt.
4. K EBAB C ONNECTION : »J O MAN , ICH HEIR ATE …« Kebab Connection ist ein im Jahre 2005 erschienener Film von Anno Saoul, an dessen Drehbuch Fatih Akin, Ruth Toma, Jan Berger und Anno Saoul selbst mitgewirkt haben. Inhaltlich geht es, wie es auf der offiziellen Website zum Film heißt, um Ibo, »einen kreativ-chaotische[n] Hamburger Türken«, der sich nichts sehnlicher wünscht, »als den ersten deutschen Kung Fu-Film zu drehen. Die Schwangerschaft seiner Freundin Titzi bringt sein Leben dann aber gehörig durcheinander. Erst zieht Ibo bei seinem Vater Mehmet die rote Karte«, und anschließend fliegt er bei Titzi raus, weil er sich zu wenig über die Schwangerschaft freut. »Ibo bleiben nur noch seine Kumpel und die Werbespots. Und das Gefühl, dass er sein altes Leben wieder haben will – vor allem Titzi, aber auch den Vater und am liebsten die ganze Familie.«33 Der Film arbeitet stark gegen Stereotype an, und zwar auf zwei Ebenen: zum einen gegen angeblich erstarrte Denkweisen der türkischen Minderheit in Deutschland und zum anderen gegen das Stereotyp einer angeblichen türkisch-griechischen Feindschaft. Letzteres wird mittels der Figuren von Kirianis und dessen Sohn Lefti versucht. Der griechischstämmige Lefti ist der beste Freund Ibos, und Kirianis, der sein griechisches Restaurant gegenüber der Imbissbude von Ibos Onkel hat, ist dessen beruflicher Konkurrent. Aufschlussreich ist die Szene am Anfang des Films, in der sich Kirianis als Kontrahent offenbart und sich darüber hinaus über seinen Sohn beschwert, weil dieser einen arabischen Imbiss eröffnet hat und somit kein wahrer Grieche sei. Es ist evident, dass hier die Hybridisierungsprozesse, die durch die zweite Generation von Ausländern eingeleitet worden sind, angesprochen werden, da der junge Lefti nicht in die Zwangsjacke der nationalen Kategorisierung hineinpassen will (13:51 bis 14:39). Die andere Ebene der Stereotype wird unmittelbar danach durch die Darstellung der Reaktion von Ibos Vater auf die Mitteilung, dass seine deutsche Freundin schwanger ist, dargeboten. Der Vater ist strikt gegen diese Schwanger33 | URL: www.kebabconnection.de (letzter Zugriff am 20.01.2011).
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schaft und verkörpert die traditionelle Rolle des türkischen Vaters, der sich gegen kulturelle Mischungen wehrt (18:20 bis 19:24). Titzis deutsche Familie, die eine metonymische Funktion für die moderne deutsche Familie einnimmt, wird ausschließlich durch ihre Mutter repräsentiert, da die Eltern geschieden sind. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit ihrer Tochter ist erreicht, als sie die Tauglichkeit Ibos zum Vatersein bestreitet und sie fragt, ob sie jemals einen Türken gesehen habe, der einen Kinderwagen schiebt (26:00 bis 27:03). Trotz der Auseinandersetzung ist der Einfluss der Mutter auf die Tochter dermaßen groß, dass sie gleich einen Kinderwagen kauft, um den Wahrheitsgehalt des Stereotyps zu testen (27:20 bis 28:58). Und tatsächlich scheint sich das Stereotyp zu bestätigen, woraufhin Titzi Ibo verlässt. Da sich Ibo im Laufe des Films vergewissert, dass er seine Freundin nicht verlieren möchte, wirbt er um sie, indem er sich für einen ›Türken‹ unkonventionellen Tätigkeiten hingibt, etwa dem Windelnwechseln beim Kind des Freundes oder dem Bau eines eigenen Kinderwagens, wobei aus dem konventionellen Kinderwagen ein ›drachenartiges‹ Vehikel entsteht (1:12:51 bis 1:13:00). Endgültig außer Kraft gesetzt werden verbreitete Stereotype, als Titzi in einer Diskussion mit Ibo konstatiert, dass er sich deshalb nicht für das Kind entscheiden könne, weil er Angst vor der Vaterschaft habe – und nicht wegen seines eigenen Vaters. Auch Letzterer revidiert seine Meinung beim Anblick seiner schwangeren Schwiegertochter und ist schließlich derjenige, der sie ins Krankenhaus bringt (1:16:40 bis 1:17:00). Am Ende kann als Botschaft des Films die Verschwisterung zwischen traditionellen Werten und modernen Lebensverhältnissen identifiziert werden. Sowohl Ibo als auch Titzi versuchen ihre Karriere weiterzuführen und gleichzeitig das Kind zu behalten. Die Familie ist folglich gleichrangig mit der beruflichen Entwicklung. Bemerkenswert ist auch, dass in der letzten Szene Ibos und Titzis Hochzeit ›in Weiß‹ gezeigt wird, obgleich im ganzen Film nur vom Behalten des Kindes und nicht von einer Hochzeit die Rede ist. Hier könnte man die Übernahme türkischer Sitten vermuten, die in moderne Zustände eingeflochten werden, zumal in der vorherigen Szene Ibos Vater erklärt, dass ein Mann seiner Frau beistehen müsse. Hybridität setzt sich hier folglich aus traditionellen und modernen Elementen im interkulturellen Kontext zusammen. Die Arbeit am Abbau von Stereotypen wird in der letzten Szene noch einmal unterstrichen, als die Versöhnung mit Kirianis, dem griechischen Restaurantbesitzer, erfolgt. Im Werbespot-
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stil werden die Preise von türkischen und griechischen Gerichten angezeigt (1:25:00 bis 1:27:27).
5. F A ZIT : TRIUMPH DER F AMILIE Wenn man die behandelten Texte und den Film im Hinblick auf Hybridisierungsprozesse vergleicht, ist festzuhalten, dass diese in allen Gattungen konstatiert werden können. In den Romanen, die von Repräsentantinnen der ersten Generation geschrieben worden sind, ist die Bindung an das Heimatland gezielt hervorgehoben, und eine gewisse ›Heimatliebe‹34 wird in den Texten durchaus deutlich. Trotz der Hybridisierungsprozesse ist das eine Standbein im Heimatland. Im Film, der von einem Vertreter der zweiten Generation handelt, fehlt dieser Kontext gänzlich, zumal die Familie des Protagonisten Ibo in Deutschland lebt und er sich niemals als Türke ausweist, sondern vielmehr als Repräsentant der Jugendkultur identifizierbar ist. Die türkische Herkunft wirkt sich im Sinne unsichtbarer Normen aus, die einerseits vom Vater vermittelt werden, andererseits, wie die Hochzeitsszene bekundet, seine Taten trotz Vorbehalten steuern. In Bezug wiederum auf Familienkonstellationen wird in den literarischen Texten die Bindung an das Heimatland über die Liebe zur Mutter oder zum Mutterersatz vermittelt. Auch dieser Kontext fehlt gänzlich in Bezug auf die zweite Generation; der Glaube an die Institution der Familie jedoch triumphiert. Ungeachtet der traditionellen oder stereotypen Sicht der Eltern sind Ibos Freunde im Film von der Idee begeistert, dass Ibo Vater wird; sein Freund geht eine Beziehung mit einer Frau ein, die bereits ein Baby hat. Sowohl Ibo als auch Titzi suchen trotz des Kindes den beruflichen Erfolg. Ibo dreht weiterhin Werbespots und Titzi bewirbt sich bei der Schauspielschule, womit implizit für die Vereinbarkeit von Familie und Karriere plädiert wird. Der interkulturelle Aspekt ist dabei kein Hindernis. Die Identitätsfindung bzw. -konstitution der jüngeren Generationen erfolgt durch die anhaltende Bindung an die Eltern in einem durch die jeweiligen Migrationserfahrungen veränderten Kontext.
34 | Vgl. Aglaia Blioumi: »Subjektkonstitution und hybride Subjektivität im Roman ›Die Brücke vom Goldenen Horn‹ von Emine Sevgi Özdamar«, in: Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis 10 (2009), S. 15-29, hier S. 27.
»Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett«1 Die Familie in literarischen Texten russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren Weertje Willms
1. E INFÜHRUNG In der deutschen Gegenwartsliteratur ist die Familie ein wichtiges Thema, sowohl in den Texten der ganz jungen als auch in denen der mittleren oder älteren AutorInnengeneration. Dabei tauchen einige Aspekte immer wieder auf: die Scheidungsproblematik und die Patchworkfamilie,2 die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit in der eigenen Familie3 und die sich aus dem Zusammenhang der Migration ergebenden Familien-, Generationen- und Identitätsproblematiken.4 Hinsichtlich des letztgenannten 1 | Julya Rabinowich: Spaltkopf, Wien 2008, S. 10. 2 | Z.B. Zoë Jenny: Blütenstaubzimmer, Frankfurt a.M. 1997, Nora Bossong: Gegend, Frankfurt a.M. 2006. 3 | Z.B. Tanja Dückers: Himmelskörper, Berlin 2003, Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003. 4 | Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das derzeit sehr populäre Genre des unterhaltsamen interkulturellen Textes, in dem die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Leben und die sich daraus ergebenden Missverständnisse des Alltags zwischen den verschiedenen Generationen der Migrationsfamilien in heiteren Geschichten verarbeitet sind. Z.B. Hatice Akyün: Einmal Hans mit scharfer Soße. Leben in zwei Welten, München 2007, Dilek Güngör: Ganz schön deutsch. Meine türkische Familie und ich, München und Zürich 2007, Aslı Sevindim: Candlelight Döner. Geschichten über meine deutsch-türkische
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Gesichtspunktes sind neben den türkischstämmigen AutorInnen vor allem SchriftstellerInnen russischer Herkunft in Erscheinung getreten. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, warum in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Feder russischer MigrantInnen bzw. ihrer Nachfahren die Familie einen so großen Stellenwert einnimmt und welche wiederkehrenden gemeinsamen Themen und Formen in den Texten zu erkennen sind. Ich habe meiner Untersuchung Texte zugrundegelegt, welche größtenteils innerhalb der letzten zehn Jahre entstanden sind und den MigrantInnen der sogenannten vierten Welle oder den Nachfahren der zweiten und dritten Emigrationswellen zugeordnet werden können.5 Es handelt sich vornehmlich um die folgenden AutorInnen und WerFamilie, Berlin 2005, Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt’s nicht. Geschichten von meiner italienischen Sippe, Berlin 2003. 5 | Man spricht in Bezug auf die Emigration aus Russland von vier großen Wellen: Die erste Welle erfolgte nach der Oktoberrevolution 1917 und während des darauf folgenden Bürgerkriegs in den 1920er Jahren. Ein großer Teil der russischen Intelligenz und der russischen Künstler ging ins Ausland, da die Betroffenen erwarteten, dass die freie Entfaltung ihrer künstlerischen Tätigkeiten in dem neugegründeten Staat nicht mehr möglich sein würde, zumal einige von ihnen gesellschaftlich hochstehenden oder wohlhabenden Familien entstammten. Die Künstler – allesamt Vertreter der bedeutenden russischen Avantgarde wie z.B. Marina Cvetaeva, Vladimir Nabokov, Andrej Belyj – wählten bevorzugt Berlin als Migrationsort. Berlin war für sie aber keine neue Heimat, sondern ausdrücklich ein Exilort, an dem sie sich mit ihren russischen KünstlerkollegInnen trafen und vornehmlich weiterhin über ihre alten Themen und in den dafür gefundenen Formen schrieben. Mit der zweiten Emigrationswelle sind die im Zuge der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland gekommenen Russen – vornehmlich Zwangsarbeiter – gemeint, welche nach 1945 nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten, da sie dort, unter Stalin, wegen angeblicher ›Kollaboration mit dem Feind‹ ins Lager verbannt worden wären. Diese Generation ist in Deutschland literarisch kaum in Erscheinung getreten, gleichwohl gibt es aber unter ihren Nachfahren eine bedeutende Schriftstellerin, die sich mit der Thematik auseinandersetzt, nämlich Natascha Wodin. Die dritte Welle der Emigration erfolgte zwischen den 1960er und 1980er Jahren und hatte ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren. Die nun ausreisenden russischen Schriftsteller – wie z.B. Vladimir Vojnovič, Vladimir Georgij, Fridrich Gorenštejn – waren, wie auch diejenigen zur Zeit der ersten Welle, bereits als Autoren in Erscheinung getreten, bevor
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ke: Lena Gorelik: Hochzeit in Jerusalem (2008) und Meine weißen Nächte (2009), Eleonora Hummel: Die Venus im Fenster (2009), Julya Rabinowich: Spaltkopf (2008), Anna Sochrina: Moja emigracija/Meine Emigration (2003), Vladimir Vertlib: Zwischenstationen (2005) und Natascha Wodin: Die Ehe (1997).6
sie emigrierten, mehr noch war gerade das Werk in der Regel der Auslöser für die Emigration, welche meist keine freiwillige war, sondern eine unfreiwillige Ausweisung durch den sowjetischen Staat. Auch für sie war Deutschland ein Exilland, auch sie schrieben weiterhin in ihrer Muttersprache Russisch und über ihre alten Sujets. Das vordringlichste Thema für diese Autoren war die kritische Auseinandersetzung mit Russland und seiner Entwicklung durch den Sozialismus. Die Texte der Autoren dieser Generation sind für das vorliegende Thema wenig interessant, wohl aber die Texte ihrer Nachfahren. Hierzu zählen z.B. die Autoren Vladimir Vertlib und Julya Rabinowich. Seit 1990 erleben wir die vierte Welle der Emigration, also nach der Öffnung des Landes durch die Perestrojka. Für diese Emigrationswelle sind weniger politische Gründe vorherrschend, wie bei den früheren Wellen, als vielmehr ökonomische und solche, die mit ethnischer Diskriminierung zusammenhängen. Im Zuge der Öffnung und Umgestaltung der Sowjetunion unter dem Staatschef Gorbačev entstand bekanntlich eine verheerende ökonomische Situation. Außerdem verstärkte sich – wie so häufig in politisch instabilen Situationen – der ohnehin bestehende sowjetische Antisemitismus, was für viele russische Juden der Anlass war, als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland auszuwandern. Darüber hinaus finden sich unter den Auswanderern der vierten Welle viele in die Heimat ihrer Vorfahren remigrierende Russlanddeutsche. Ein großer Teil der Schriftsteller dieser Generation schreibt auf Russisch und wendet sich Themen zu, die nichts mit der Migration zu tun haben, in historischen Romanen, Science fiction-Texten, Aphorismen usw. Ein Teil dieser AutorInnen jedoch schreibt auf Deutsch, setzt sich dezidiert mit interkulturellen Fragestellungen auseinander und thematisiert die eigenen Migrationserfahrungen, wie die russisch-jüdischen Autorinnen Lena Gorelik und Anna Sochrina sowie die Russlanddeutsche Eleonora Hummel. 6 | Lena Gorelik: Hochzeit in Jerusalem, München 2008, Lena Gorelik: Meine weißen Nächte, München 2009, Eleonora Hummel: Die Venus im Fenster, Göttingen 2009, Julya Rabinowich: Spaltkopf, Wien 2008, Anna Sochrina: Moja emigracija/Meine Emigration. Erinnerungen, Berlin 2003, Vladimir Vertlib: Zwischenstationen, München 2005, Natascha Wodin: Die Ehe, Leipzig 1997.
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Die Gemeinsamkeiten dieser Texte in Bezug auf das Thema ›Familie‹ sollen anhand der folgenden Fragen herausgearbeitet werden: 1. Welche Familienkonstellationen liegen vor und welche Bedeutung wird der Familie zugemessen? 2. Wie wird das Verhältnis der Familienmitglieder untereinander dargestellt und welche typischen Familienkonflikte gibt es? 3. Wie sehen die Integrationsmuster und Identitätskonzepte der einzelnen Familienmitglieder aus? 4. Welche Besonderheiten gibt es auf der Ebene der literarischen Vermittlung und welche Funktion nimmt die Vermittlungsebene in Bezug auf die inhaltlichen Aspekte ein? Im Resümee soll abschließend auf die Frage eingegangen werden, worin sich die Gestaltung des Themas in diesen Texten von derjenigen anderer Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unterscheidet, in denen keine Migrationserfahrungen verhandelt werden.
2. D IE F AMILIENKONSTELL ATION UND DER S TELLENWERT DER F AMILIE Die emigrierende Familie besteht in den untersuchten Werken typischerweise aus Vater, Mutter, ein bis zwei Kindern und einer Großmutter. Diese Konstellation deutet bereits auf eine Besonderheit der Migrationsfamilie im Gegensatz zur deutschen ›Durchschnittsfamilie‹ hin, nämlich die Bedeutung der Großeltern für das Gefüge der Kernfamilie. In den Texten der russisch-jüdischen Autoren (Gorelik, Rabinowich, Vertlib) wird dies noch dadurch verstärkt, dass auch die Schicksale der sonstigen Mitglieder der Großfamilie und ihre Beziehung zur Migrationsfamilie immer wieder angesprochen werden. Insgesamt zeigt sich, dass in den untersuchten Texten der Familie ein besonders großer Stellenwert zugemessen wird. Dieser rührt zum einen daher, dass die emigrierte Familie in der Fremde auf sich selbst zurückgeworfen ist und der Familienkosmos das einzig Vertraute und Bekannte darstellt. Die Bindungen unter den Familienmitgliedern und die Notwendigkeit zusammenzuhalten bekommen angesichts der äußeren Instabilität eine besondere Wichtigkeit. So empfindet es der Vater in Hummels Roman als Verrat, dass die erwachsene Schwester nicht mit der Familie nach Deutschland ausreist, sondern bei ihrem Ehemann in Russ-
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land bleibt: Sie hat sich »gegen ihre Familie […] entschieden«7, heißt es.8 Die Wichtigkeit der Familienbindung gilt vor allem für die Eltern, die in der Regel größere Schwierigkeiten haben, sich zu integrieren, als ihre Kinder, woher auch die Konflikte rühren, zu denen ich später komme. Zum anderen wird der hohe Stellenwert der Familie aber auch als eine typische Eigenart der russisch-jüdischen Großfamilie beschrieben, welche einen anderen Begriff davon hat, wer überhaupt zum Kreis der Familie gehört. Lena Gorelik beschreibt diesen Umstand in amüsanter Weise, wenn sie von Familienfeiern berichtet, bei denen Verwandte vierten Grades anwesend sind, welche sie noch nie oder erst ein Mal in ihrem Leben gesehen hat, die sich ihr gegenüber aber alle so verhalten, als stünden sie in engstem Verhältnis zu ihr.9
3. D AS V ERHÄLTNIS DER F AMILIENMITGLIEDER ZUEINANDER UND DIE T YPISCHEN F AMILIENKONFLIK TE Um das Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern zu beschreiben und ihre typischen Konflikte herauszuarbeiten, unterscheide ich folgende Beziehungen: das Verhältnis von Migrationsfamilie und Erzählerfigur zur Großfamilie, die Beziehung zwischen Mutter und Vater, die Bedeutung der mitemigrierenden Großmutter sowie das Verhältnis zwischen den Eltern und den Kindern. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass alle Texte aus der Sicht eines der Kinder der Migrationsfamilie geschrieben sind und die Familienverhältnisse in erster Linie in Bezug auf die Kindergeneration, die dritte Generation, dargestellt werden. Das Verhältnis zwischen Vater und Mutter ist dagegen, obwohl es stets auch thematisiert wird, weniger relevant und auch dasjenige mit den größten Unterschieden, während die anderen genannten Verhältnisse signifikantere Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Großfamilie (dargestellt besonders in den Texten der russisch-jüdischen AutorInnen Gorelik, Rabinowich, Vertlib) bietet in ihrer positiven 7 | Hummel: Venus im Fenster, S. 7. 8 | Unter dem Eindruck der Entwurzelung und Instabilität wird die Familie in ihrer Bedeutung erhöht und wird zu einer »mythologischen Matrix«, wie es der Sozialpsychologe Heiner Keupp ausdrückt (vgl. seinen Beitrag in diesem Band). 9 | Gorelik: Hochzeit in Jerusalem, S. 221.
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Wirkung die Sicherheit einer großen Sippe, eine Anlaufstelle und viele einzelne Personen, die geliebt werden und wichtig für die Erzählerfigur sind. Auf der negativen Seite existieren in der Großfamilie Rivalitäten, Konkurrenz- und Neidgefühle. Diese psychologischen Mechanismen finden sich auch in anderen Familiengefügen und sind nicht migrationsspezifisch. In der durch Migration geprägten Großfamilie knüpfen sie sich aber an die Migration und ihre spezifischen Herausforderungen, besonders dann, wenn mehrere Kleinfamilien aus dem Familienverband emigrieren. Nun geht es nicht mehr darum, wer eine besonders schöne Ehefrau findet und wessen Kinder erfolgreich werden – d.h. sozial hochstehende und wohlhabende Ehepartner finden, einen angesehenen Beruf ausüben und Kinder bekommen –, sondern darum, wer es schafft, in ein besonders attraktives Migrationsland zu gelangen (nämlich vorzugsweise Amerika), wer es schafft, dort beruflich erfolgreich zu werden, Wohlstand zu erwerben, sich zu integrieren, und wessen Kinder dort wiederum beruflich und privat erfolgreich werden. Privater Erfolg bei den Kindern bedeutet, den Wurzeln der Eltern treu zu bleiben, ohne aber einen armen russischen Migranten zu heiraten. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Mutter und Vater finden sich, wie weiter oben angedeutet, die größten Unterschiede in den Texten; die Spannbreite reicht von einer engen Bindung bis hin zur Trennung. Die Identität der migrierenden Kleinfamilie ist jedoch insgesamt nicht nur eine des besonderen Zusammenhalts, sondern in den meisten Fällen eine patriarchalisch geprägte; dies jedoch nur konzeptuell und nicht in Bezug auf den tatsächlichen Familienalltag: Der Vater ist nominell das Familienoberhaupt, die Mutter ist die Familienmanagerin und der stärkste Mensch in der Familie, dessen Anweisungen sich alle unterordnen. In auffälliger Weise wird hier den weiblichen Figuren und den den Frauen zugeordneten Familienkonzepten eine große Bedeutung beigemessen, was auf den hohen Stellenwert des Weiblichen in der russischen Tradition verweist. Häufig zeigt sich nämlich darüber hinaus, dass die eigentliche Kraft in der Familie von der Großmutter ausgeht, denn diese trägt so etwas wie den Identitätskern der Familie, der den anderen Familienmitgliedern – besonders den Kindern – nicht unbedingt bewusst sein muss. In Hummels Die Venus im Fenster tritt die Großmutter als Binnenerzählerin auf, die ihrer Enkelin, der Erzählerin Alina, nach und nach das Schicksal dieser russlanddeutschen Familie seit dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Das Familienschicksal zeichnet sich aus durch die Suche nach Glück, betrogene
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Hoffnungen und verlorene Heimat, und es prägt unbewusst und unausgesprochen die ganze Familienidentität. Es wird deutlich, dass selbst die Enkelin, obwohl sie bereits als Kind nach Deutschland kommt und unter anderen Bedingungen aufwächst als ihre Eltern, sich der Macht der Genealogie und der spezifischen Familiengeschichte nicht entziehen kann. Sie trägt das Erbe der Familie weiter und wird es ihrerseits weitergeben, ohne sich dieser Bürde entziehen zu können: […] ein Erbe, das mir zunehmend zur Last fiel, je mehr ich darüber erfuhr. Aber es war einfach da, und niemand hatte mich zuvor gefragt, ob ich dieses Erbe annehmen oder ausschlagen wolle. Hat das Leben nicht etwas von einem Staffellauf? Die Eltern drücken dir etwas in die Hand, und du musst damit weiterrennen. Du kannst es nicht wegwerfen, weil es wie Pech an dir kleben bleibt, nur eines Tages an die eigenen Kinder weitergeben, ob diese es wollen oder nicht.10
Die Erzählerin in Rabinowichs Spaltkopf lüftet gegen Ende des Romans das Familiengeheimnis, welches die Großmutter ihr Leben lang hütete: Nach einem antisemitischen Pogrom in ihrer Kindheit beschloss die Großmutter, ihre jüdische Identität zu verheimlichen, indem sie sich einen anderen Namen zulegte (nämlich Ada Igorowna statt Rahel Israilowna). Worte und Reden sind für diese Familie, wie von Anfang an deutlich gemacht wird, zentral; durch die Migration erhält die Sprache noch eine zusätzliche Bedeutung, da das reale Miteinander der Verwandten und Freunde minimiert wird und somit die Kommunikation über Briefe oder Telefon maximiert werden muss. Auf einer zweiten Erzählebene, die kursiv gesetzt ist und durch einen anderen Erzähler präsentiert wird als die primäre Handlungsebene des Romans, wird leitmotivisch der Satz »Die Zahl ist das Wort und das Wort ist das Wissen und das Wissen ist die Macht«11 wiederholt. Nur die Großmutter – und das verweist auch auf den besonderen Stellenwert, den das Weibliche im Allgemeinen und die Großmutter im Besonderen in der jüdischen Tradition einnehmen – ist im Besitz der Macht innerhalb der Familie (bzw. über die Familie), denn allein sie hat die Hoheit über die Wörter und das Wissen, welches den anderen Familienmitgliedern verschwiegen wird. Ohne dass jemals darüber geredet worden wäre, hat das Geheimnis der Großmutter, also ihr Identitätswechsel, die Familienidentität geprägt, 10 | Hummel: Venus im Fenster, S. 107. 11 | Rabinowich: Spaltkopf, z.B. S. 97.
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nämlich als ein Geheimnis, das im Schweigen spürbar war: »Wenn es [das Kind, gemeint ist die Erzählerin und Protagonistin des Romans, W. W.] wüsste, was noch im Nebel des Schweigens verborgen liegt, in der tonlosen Übereinkunft der Erwachsenen. […] Jeder kämpft für sich im Stillen.«12 Wie das Schweigen über Unsagbares oder Tabuisiertes als Verschweigen im Diskurs einer Familie erlebt wird, kommt in allen Berichten zum Ausdruck, die nach 1945 über die Therapien von Nachkommen nationalsozialistischer Opfer oder Täter entstanden sind (ohne diese Familien dabei auf eine Stufe stellen zu wollen).13 Die Macht der Genealogie und der gewachsenen Familienidentität, das im Schweigen präsente und die Entwicklung der Kinder prägende Familiengeheimnis ist also kein exklusives Merkmal von Migrationsfamilien, aber bezeichnenderweise macht sich die im Migrationsland aufgewachsene Kindergeneration ebendort diese Strukturen bewusst oder lüftet das Geheimnis. Durch die fremde Umgebung und die in neuen Strukturen aufgewachsenen Nachkommen wird es eben doch möglich, die Macht der Genealogie zu brechen und auf die Familienidentität verändernd Einfluss zu nehmen, was in dem positiven Schluss von Hummels Roman14 ebenso in Aussicht gestellt wird wie in der Bemerkung von Rabinowichs Erzählerin Mischa über ihre kleine Tochter, die am Ende 12 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 54. 13 | Vgl. z.B. Alan L. Berger und Naomi Berger (Hg.): Second Generation Voices. Reflections by Children of Holocaust Survivors and Perpetrators, Syracuse 2001, Kurt Grünberg u.a. (Hg.): Unverlierbare Zeit. Psychosoziale Spätfolgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern und Tätern, Tübingen 2001, Barbara Heimannsberg und Christoph J. Schmidt (Hg.): Das kollektive Schweigen. Nazivergangenheit und gebrochene Identität in der Psychotherapie, Heidelberg 1988, Ilany Kogan: »Vermitteltes und reales Trauma in der Psychoanalyse von Kindern von Holocaust-Überlebenden«, in: Psyche 44 (1990), S. 533-544, Dörte von Westernhagen: Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach, München 1987. 14 | Die Erzählerin und Protagonistin Alina berichtet davon, wie sie seit der Emigration der Familie nach Deutschland stets das ›wahre Leben‹ und das Glück an einem fernen, unbestimmten Ort wähnte. Die Metapher hierfür ist der Planet Venus, den sie in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder mit dem Fernglas zu erkennen versuchte. Am Ende des Romans räumt die nach Deutschland nachgereiste tatkräftige Schwester in Alinas Zimmer auf und stellt eine Skulptur der Venus von Milo auf die von Staub befreite Fensterbank, womit das Leben aus der
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des Textes geboren wird: »Ihr Schritt ist sicher. Das ist auch mein Verdienst, auf den [sic!] ich stolz bin. Ich habe ihr den Boden unter den Füßen geschenkt. Die Wurzeln, die mir nicht sprießen wollen.«15 Die Kernfamilie von Mischa aber zerbricht in der Migration, was sich im totalen Verstummen äußert. Bereits als die Großmutter beschloss, ihre Kinder nicht über ihre wahre Identität aufzuklären, war der Grundstein für die familiäre Identitätsspaltung und die gestörten familiären Bindungen gelegt. Der titelgebende »Spaltkopf« – eine Metapher für das Vergessen und Verdrängen – sagt: »Sie [d. i. die Großmutter, W. W.] hat keinen Grund, unruhig zu sein, denn ich bin bei ihr. Sie hat mir im Austausch dafür ihr erstes Kind versprochen, und ich habe zugestimmt.«16 Die Bindung zwischen Mutter und Kindern kann nicht funktionieren, wenn sie auf Lügen und Verdrängung aufgebaut ist. Als die Verbindung zu den Wurzeln von der Großmutter gekappt wurde, hat sie damit eine funktionierende und emotionale familiäre Bindung für die Zukunft unmöglich gemacht. Wie sich das Verhältnis zwischen den Eltern und den Kindern entwickelt, hängt davon ab, in welchem Alter die Kinder nach Deutschland kommen. Sind sie, wie bei Anna Sochrina, selber bereits erwachsen, so sprechen sie mit großer Hochachtung von ihren Eltern, die ein so schweres Schicksal in der Sowjetunion hatten und in hohem Alter noch die Entwurzelung überstehen mussten.17 Handelt es sich bei den Erzählerfiguren aber um junge Erwachsene, die als Kinder mit ihren Eltern nach Deutschland auswandern und von dieser Entwicklungsphase berichten (bei Gorelik, Hummel, Rabinowich, Vertlib), so werden heftige Konflikte zwischen Eltern und Kindern dargestellt, die sich, je nach Charakter, in Form von Rebellion oder Autoaggression entfalten. Dabei finden sich neben den alterstypischen ElternKind-Konflikten, welche nicht von der Migrationsthematik geprägt sind, einige spezifische Konflikte, die auf die Migrationsfamilie beschränkt sind: Ein Problem, von dem fast alle AutorInnen schreiben, besteht darin, dass sich die Kinder der Eltern schämen, da sie diese dafür verantwortlich machen, dass sie anders sind als die anderen Kinder (bei Gorelik, Hummel, Rabinowich, Wodin). Dieser Aspekt ist prinzipiell nicht migrationsspeziunbestimmten und unerreichbaren Ferne in Alinas Nähe rückt (vgl. auch den Titel des Romans). 15 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 164. 16 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 152. 17 | Vgl. Sochrina: Meine Emigration, S. 190f.
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fisch und er ist auch kein rein literarischer, sondern betrifft viele Kinder in der außerliterarischen Wirklichkeit, da es Teil der kindlichen Entwicklung ist, sich mit anderen – speziell mit den Mitgliedern der peer group – zu vergleichen. Für den stabilen Gruppenzusammenhalt ist es wichtig, dass dieser Vergleich keine Differenzen sichtbar macht; das Ergebnis soll vielmehr lauten: Ich bin so wie die anderen. Dies bekommt dann ein besonderes Gewicht, wenn die soziale Stabilität und die Frage der Zugehörigkeit nicht eindeutig positiv ausfallen, wie es ja bei einem neu in die Schule gekommenen Migrantenkind der Fall ist.18 So stellen die Texte ein Phänomen dar, das auch in der realen ›monokulturellen‹ Gruppe Gültigkeit hat, das dort aber häufig ein schichtspezifisches oder ein finanzielles Problem ist: Die anderen Kinder haben schönere Kleidung, die ›richtigen‹ Marken usw. Bei den Erzählerfiguren aus Migrationsfamilien gibt es darüber hinaus Dinge, die migrationsspezifisch sind und sich in den Texten wiederholen: Die Erzählerfiguren berichten von ihrer Scham als Kinder darüber, dass die Eltern schlechtes, fehlerhaftes Deutsch sprechen,19 und darüber, dass die Eltern die kulturellen Kodes nicht beherrschen, welche für die Kinder so wichtig sind (z.B. wissen sie nicht, wie man sich gegenüber der Lehrerin oder den Freunden ›richtig‹ verhält, welches Essen man zubereiten, welche Feste man wie feiern muss usw.). Diese kindlichen Emotionen werden von den Erzählerfiguren im Nachhinein reflektiert.20 18 | Die psychologische Forschung ist sich über die große Bedeutung der peer group für die kindliche Entwicklung einig. Lew S. Wygotski betont dabei vor allem die Vermittlung von kulturellen Wissensbeständen und Fähigkeiten durch die Gleichaltrigen (vgl. Robert Siegler, Judy DeLoache und Nancy Eisenberg: Entwicklungspsychologie im Kinder- und Jugendalter, deutsche Auflage hg. v. Sabina Pauen, aus dem Amerikanischen übersetzt von Joachim Grabowski, Heidelberg 2008, bes. Kap. 13, zu Wygotski S. 705). Außerdem können entsprechende Untersuchungen zeigen, dass es besonders für die Kinder im frühen und mittleren Jugendalter wichtig ist, mit den Normen der Gruppe übereinzustimmen, was Kleidungsstil, Verhalten und ähnliches betrifft (S. 724). 19 | Vgl. z.B. Hummel: Venus im Fenster, S. 136, Gorelik: Hochzeit in Jerusalem, S. 63. 20 | Die Erzählerin in Goreliks Hochzeit in Jerusalem, Anja, berichtet von einem Gespräch mit ihrer Tante, in der diese erzählt, wie Anjas Mutter sich als Kind für ihre jüdische Großmutter geschämt habe: »Sie wollte so sein wie die anderen, sie hatte Angst, daß ihre Schulfreunde sie auslachen und nach einem Besuch über
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Auch die für das Jugendalter beschriebenen Konflikte erscheinen zunächst als typische Jugend- und Pubertätskonflikte, doch wird diese Phase der Rebellion oder Depression in den Romanen als besonders heftig beschrieben und sie ist stark an die Besonderheiten der Migrationsproblematik gebunden. Der wichtigste Aspekt des migrationsbedingten Pubertätskonflikts, welcher auch in den Texten von MigrantInnen aus anderen Nationen angesprochen wird, ist das Problem der Entfremdung zwischen Eltern und Kindern (Hummel, Rabinowich, Gorelik).21 Diese ergibt sich daraus, dass die Kinder die kulturellen Kodes des Immigrationslandes, sei es bewusst oder unbewusst, annehmen, während die Eltern dies nicht oder zumindest weniger tun. Während der Pubertät ihrer Kinder beobachten die Eltern also nicht nur den normalen, ohnehin schmerzlichen Abnabelungsprozess, sondern, bedingt durch die Integration in das Migrationsland, eine besonders radikale Trennung von den Kindern, die sich neue Kodes und Wertvorstellungen aneignen und die Muttersprache verlernen. Dies werfen die Eltern den Kindern vielfach vor: »Ein Fehler sei es gewesen, ein Fehler! Bald ziehe die Tochter mit den Nichtsnutzen um die Häuser, beflecke sie, beflecke alles. Ziehe ihnen die Ehre von den Knochen.«22 Dadurch, dass das Migrationsland als verantwortlich für die Entfremdung angesehen wird, wird es von den Eltern zunehmend negativ besetzt, was die Entfremdung immer weiter befördert. Dass die Eltern mit der Übernahme der fremden Kultur durch die Kinder eine »Verrohung«23 ihrer Sprösslinge befürchten, muss als ein emotionaler Schutzschild der Eltern interpretiert werden, welche sich ihrer eigenen psychischen Situation nicht sie lästern. Meine Mutter wollte normal sein.« (S. 175) Nach diesem Gespräch erinnert sich Anja an die Scham, die sie in der Zeit nach ihrer Emigration nach Deutschland für ihre Eltern empfunden hatte, als die Eltern ihrer Meinung nach alles falsch machten, und sie reflektiert zusammenfassend: »Ich schäme mich für meine Scham von damals, obwohl ich sie immer noch spüren kann.« (S. 178) 21 | Die Angst vor Entfremdung zwischen Eltern und Kindern nennt auch Cornelia Helfferich als einen der zentralen durch die Emigration entstehenden Familienkonflikte (vgl. ihren Beitrag in diesem Band). In der Literatur lassen sich zahlreiche weitere Beispiele für dieses Thema finden; vgl. Güney Dal: Der enthaarte Affe, München und Zürich 1988, Yadé Kara: Selam Berlin, Zürich 2003, Aslı Sevindim: Candlelight Döner. 22 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 72. 23 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 59.
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bewusst sind oder sie sich nicht eingestehen wollen. Die Vorwürfe der Eltern rühren nämlich aus deren Angst vor dem Verlust der Kinder und der Angst vor Vereinsamung: »Das Fremde schiebt sich zwischen ihn und sein Kind«, heißt es bei Rabinowich, und: »Der Kindsraub wird am vermissten Objekt gesühnt.«24 Die Eltern fühlen sich von ihren Kindern verraten und verlassen, da diese sich in die neue Lebensumwelt integrieren, während sie dieser gegenüber immer fremd bleiben. Die ohnehin schwierige Situation der Pubertät wird dadurch für die Kinder noch belastender. Rabinowichs Erzählerin Mischa unternimmt Versuche, ihre Pubertät zu unterdrücken, um die Abnabelung von den Eltern aufzuhalten: So wie mich zuvor das Heimat- und das Immigrationsland zum Balanceakt zwangen, begehe ich nun eine Gratwanderung zwischen den Welten der Erwachsenen und der Jugend. Der Duft erwachender Sexualität weht schwach in meine Gefilde. Diese zweite Immigration trete ich lieber gar nicht erst an. […] Die Ekstase würde mich weit von den Meinen fortspülen, das wissen wir: ich und die anderen. Mit vereinten Kräften drücken wir den Deckel auf den brodelnden Behälter […]. 25
Mischa reagiert mit Fresssucht und Schulschwierigkeiten und interpretiert dies selbst als einen Versuch, den Zusammenhalt mit den Eltern zu stärken, indem das Migrationsland zum gemeinsamen Feind der Familie erklärt und schuldig gesprochen wird.26
4. I NTEGR ATIONSMUSTER UND I DENTITÄTSMODELLE Nach der Emigration stehen alle Familienmitglieder vor der Notwendigkeit, sich mit der neuen Kultur, den kulturellen Kodes, der Sprache und den Menschen im Immigrationsland auseinanderzusetzen und ein je eigenes, passendes Identitätskonzept für sich zu entwickeln. Auch in der Schilderung dieser Aspekte gibt es interessante Gemeinsamkeiten zwischen den untersuchten Texten.
24 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 85, 81. 25 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 74. 26 | Vgl. Rabinowich: Spaltkopf, S. 81.
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Die sich an die Immigration knüpfende allgemeine Erwartungshaltung ist diejenige, ins Paradies und Schlaraffenland zu kommen,27 eine Vorstellung, die sich allerdings schon bald der Realität anpasst und von allgemeinen Ankunftsschwierigkeiten sowie der demütigenden und bedrückenden Situation im Übergangswohnheim abgelöst wird.28 Auf diese Situation reagieren die Familienmitglieder in höchst unterschiedlicher Weise: Die Väter arrangieren sich zwar vorläufig und oberflächlich, streben aber immer weiter danach, auch dieses Land wieder zu verlassen und in ein anderes zu migrieren, in der Vorstellung, dass das eigentliche Glück an einem anderen Ort zu finden sei.29 Diese Einstellung dem Gastland gegenüber verhindert, Wurzeln zu schlagen, und führt stattdessen dazu, dass die Väter von einem zehrenden Heimweh nach dem Land geplagt sind, das sie gerade verlassen haben und nun aus der Ferne zu verklären beginnen.30 Außerdem werden vor allem die Väter immer konservativer, traditioneller und teilweise religiöser, womit sie ihren Kindern die Integration erschweren. Die mangelnde eigene Integration in die neue Umgebung lässt die Väter auf scheinbar ›altbewährte‹, konservative Konzepte zurückgreifen, was eine häufige Reaktion auf Verunsicherung und äußere Instabilität ist.31 Diese Entwicklung führt bei den Vätern zu schweren psychosomatischen Erkrankungen und Depressionen und endet in den Romanen von Rabinowich und Hummel sogar mit einer Rückkehr in die Sowjetunion. Dass zwei Texte in so frappanter Weise eine parallele Entwicklung der Vaterfigur beschreiben, zwingt zu weiterem Hinsehen auf das GenderKonzept der Texte. Was tun die Mütter? Diese reagieren unterschiedlich auf das Immigrationsland: Die Mutter bei Rabinowich verschließt sich dem neuen Land gegenüber und zieht sich ganz auf ihre russischen Eigenarten 27 | Vgl. Rabinowich: Spaltkopf, S. 43, Hummel: Venus im Fenster, S. 13, 31. 28 | Vgl. Rabinowich: Spaltkopf, S. 58, 61, Hummel: Venus im Fenster, S. 18, 20, Gorelik: Meine weißen Nächte, S. 19f. 29 | Vgl. Rabinowich: Spaltkopf, S. 58, Hummel: Venus im Fenster, S. 67, 75. 30 | Vgl. Rabinowich: Spaltkopf, S. 64, Hummel: Venus im Fenster, S. 69: »Nur eines verstand ich nicht, wieso er plötzlich von der ›Heimat‹ redete, als sei sie weit weg, während ich dachte, wir hätten sie gerade erst betreten.« 31 | Vgl. Heiner Keupp: »Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung«, in: Heiner Keupp und Renate Höfer (Hg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a.M. 1997, S. 11-39, hier S. 25, 30.
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zurück, ohne dabei jedoch den verbohrten Konservatismus ihres Mannes zu teilen. Die Mutter bei Hummel dagegen reagiert mit dem krampfhaften Versuch einer Assimilation an Deutschland, welche mit Selbstverleugnung einhergeht, die sie auch ihren Kindern zumuten möchte, wenn sie z.B. deren russische Namen in deutsche ändern will. Mutter Galina, bzw. später Hilde, passt sich an, indem sie sich ihre Identität jeweils nach den Gegebenheiten der Zeit und der Umwelt neu konstruiert.32 Auch dieses Modell hat indes für ihre Tochter aufgrund seines extremen Charakters keine Vorbildfunktion. Obwohl die Mütter also eine jeweils unterschiedliche Haltung in Bezug auf ihr Gastland einnehmen (Verweigerung auf der einen, Assimilation und Selbstverleugnung auf der anderen Seite), werden sie, anders als ihre Ehemänner, nicht von Sehnsucht und Heimweh geplagt, werden nicht krank und remigrieren auch nicht. Der Grund für diese bessere Bewältigung des Alltags – trotz der Identitätsprobleme, die die Mütter ja durchaus auch haben – ist ein einfacher: Während die Väter sich auf sich selbst und ihr eigenes Unglück konzentrieren, richten die Mütter ihren Fokus auf die Familie und die Kinder, um die sie sich kümmern. Dadurch bleibt ihnen nicht die Zeit, sich über ihre Befindlichkeiten Gedanken zu machen und darüber ein Ungenügen zu empfinden – sie müssen stets ihren Blick in die Zukunft richten, auf das Wohlergehen der Nachkommen und auch der Großmutter. Bei den Kindern beginnen die Integration im Immigrationsland und die Ausbildung der Identität stets mit dem schnellen und guten Erwerb der deutschen Sprache. Dieser ist die Voraussetzung für alles Weitere: die Aneignung der kulturellen Kodes, die Balance zwischen Herkunft und neuer Heimat, zwischen Eltern und peer group, die Herausbildung einer stabilen, interkulturellen Identität. In allen Texten kommt es am Ende zur Ausbildung einer gefestigten Identität, der lange und schwierige Weg dorthin ist je unterschiedlich und wird beeinflusst vom Verhalten der Eltern, von den Menschen, denen die Jugendlichen begegnen und die als Vorbilder dienen oder ihnen helfen, sowie von einzelnen, besonderen Ereignissen. Beispielhaft sei hier die Entwicklung von Rabinowichs Protagonistin skizziert. Die Erzählerin und Protagonistin Mischa benennt ihr Leiden konkret als Spaltung ihrer Psyche, welche sie als migrationsbedingt diagnostiziert. 32 | Vgl. Hummel: Venus im Fenster, S. 107.
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Dies drückt sich in rebellischem und aggressivem Verhalten gegenüber den Eltern aus; gleichwohl leidet Mischa aber auch an autoaggressivem Verhalten (Fresssucht), an Selbsthass, Verlustängsten und einer Bindungsstörung. Diese kulminiert darin, dass sie einen Mann heiratet, den sie nicht liebt, den sie aber in einer folie à deux ebenso benötigt wie er sie: »Er will Männer, braucht aber eine Frau. Er braucht mich als Ausrede vor der Welt. Ich brauche ihn als Ausrede vor mir selbst.«33 Der Spalt schließt sich, als Mischa ein Kind bekommt. Ausschlaggebend dafür ist, dass sie nach diesem einschneidenden Ereignis wieder einen Zugang zu ihren Wurzeln findet, die sie vorher gewaltsam versucht hatte abzuschneiden. In dem Bestreben, sich zu integrieren, hatte sie das Russische verleugnet und ignoriert und alle Kontakte zu Russland abgebrochen.34 Ihre gewaltsamen Integrationsbestrebungen bezeichnet sie als den Wunsch, von der neuen Heimat »adoptiert«35 zu werden, womit ja bereits das Thema Elternschaft angesprochen ist. Nach der Geburt ihrer Tochter beginnt sie, auf Russisch zu träumen, sie entsinnt sich ihrer Muttersprache und alte-neue Gefühle steigen in ihr auf: »Das alte Ich erwacht. Beendet seinen Winterschlaf.«36 Damit beginnen ihre Ängste vor Selbstverlust und der genannte Spalt zu schwinden. Schwangerschaft und Geburt werden in der Literatur häufig als auslösende Ereignisse beschrieben, um Familienmuster kritisch zu reflektieren, einen neuen Zugang zu sich, den Eltern und der Familie als ganzer zu finden oder Familientraumata aufzuarbeiten.37 Auch in der Psychologie 33 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 141. 34 | Eine sehr ähnliche Entwicklung durchläuft die Erzählerin in Wodins Die Ehe: In dem Bestreben, zur deutschen Gesellschaft dazuzugehören, hatte sie stets ihre russische Herkunft verleugnet und sich auf pathologische Art und Weise versucht zu assimilieren. Erst als sie durch den Kontakt zu einem russischen Professor und deutschen Slavistik-StudentInnen erstmals einen positiven Bezug zu ihren Wurzeln findet, wird bei ihr ein Prozess der Selbstbewusstwerdung ausgelöst, der zu einer ausbalancierten Identität führt. 35 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 76. 36 | Rabinowich: Spaltkopf, S. 144. 37 | In dem eingangs genannten Familienroman Himmelskörper von Tanja Dückers z.B. wird durch die Schwangerschaft der Erzählerin und Protagonistin der Prozess ausgelöst, die Nazi-Vergangenheit der Familie aufzuarbeiten und das jahrzehntelange Verschweigen derselben zu durchbrechen und somit auf die genealogische Kette verändernd Einfluss zu nehmen.
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gilt die Schwangerschaft als eine Phase, die bereits selbst einen Identitätswechsel darstellt (von der Frau zur Mutter) und so die aktive Veränderung und Identitätsarbeit erleichtert.38 Entscheidend scheint mir hier die Tatsache zu sein, dass die rebellisch-pubertäre Mischa – zum Zeitpunkt der Geburt 22 Jahre alt – durch dieses Ereignis ihr Kindsein beendet und mit der Mutterschaft Verantwortung für jemand anderen übernimmt, der Fokus sich also von der eigenen Person auf eine andere verlagert, für die es gilt, Sorge zu tragen, womit derselbe Vorgang beschrieben ist wie bei den weiter oben erwähnten Mutter- und Vaterfiguren. Nicht zuletzt nimmt Mischa nun ihren Platz in der Familiengenealogie ein. Sie kann nicht mehr gegen ihre Position innerhalb der Generationenabfolge rebellieren, sie kann aber ihrer Tochter einen besseren Stand verschaffen, was ihr ja auch gelingt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Integration denjenigen in den Texten beschriebenen Figuren gelingt, bei denen eine der beiden folgenden Bedingungen erfüllt ist. Erstens: Sie sind in der Lage, ihre Identitätskonzepte den sich verändernden sozio-kulturellen Gegebenheiten anzupassen statt sich in verstärkendem Traditionalismus, Konservatismus und sich neu entwickelnder Religiosität auf die mitgebrachten Kodes, Sit38 | Diese Identitätsveränderung ergibt sich aus der Rollenzuschreibung. Nimmt die Frau ihre neue Rolle (als Mutter) voll an, so erfolgt daraus eine Veränderung des bisherigen Identitätskonzepts. Keupp und andere sprechen in diesem Zusammenhang von der »Patchwork-Identität«, die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt und in einem lebenslangen und nie abgeschlossenen Projekt immer wieder verändert und neu gestaltet wird. Vgl. Heiner Keupp u.a. (Hg.): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, 4. Auflage, Reinbek 2008. Die Identitätsveränderung von der Frau zur Mutter wird außerdem durch hormonelle und hirnphysiologische Vorgänge hervorgerufen, wie Spitzer und andere Forscher vermuten: »Vieles spricht dafür, dass im Gehirn einer Frau, die gerade Mutter geworden ist, aktive Neu- und Umbauprozesse stattfinden, die als eine Art neurobiologische Antwort des Frauengehirns auf die neue Existenzweise als Mutter verstanden werden können.« (Manfred Spitzer: »Das Gehirn einer Mutter«, in: Nervenheilkunde 4 [2011], S. 269-272, hier S. 269, Hervorhebung im Original.) Und weiter: »[D]iese Befunde [legen] nahe, dass die tiefgreifenden Veränderungen im Leben einer Mutter werdenden Frau von ebenso tiefgreifenden Veränderungen in deren Gehirn begleitet werden, die von manchen Autoren als Konstruktion eines mütterlichen Gehirns bezeichnet werden […].« (S. 271, Hervorhebung im Original.)
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ten und Wertvorstellungen zurückzuziehen. Zweitens: Ihre Sorge konzentriert sich auf die Nachkommen und nicht auf sich selbst, wodurch sie gezwungen sind, eine lebbare Identitätsform für sich zu finden und wodurch sie einen stabileren Platz in der Familiengenealogie einnehmen und auch befähigt werden, diese positiv zu verändern.
5. D IE V ERMIT TLUNGSEBENE UND IHRE F UNK TION FÜR DEN I NHALT Analog zu den zahlreichen genannten Gemeinsamkeiten auf der Inhaltsebene lassen sich auch viele auffällige Übereinstimmungen auf der Ebene der Form beobachten; die narrativen Verfahren sind in einigen der Romane in besonderer Weise an der Generierung des Inhalts beteiligt. Eine erste Auffälligkeit der genannten Texte besteht darin, dass sie stets eine autodiegetische Erzählerfigur haben, welche Held bzw. Heldin der von ihr erzählten Geschichte ist und die Handlung mit interner Fokalisierung, also aus ihrem Blickwinkel, präsentiert. Damit wird ein Hinweis auf die subjektive Sichtweise der eigenen Erfahrung, aber auch auf die Authentizität dieser Erfahrungen gegeben. Die Texte schildern die Lebensgeschichte der Erzählerfiguren von der Kindheit bis zur Erzählgegenwart und beschreiben somit den Zeitraum, der von der Emigration und der Ankunft im neuen Land, den interkulturellen Auseinandersetzungen und Familienkonflikten geprägt ist. Stets hängt diese Perspektive mit der spezifischen Position der Erzählerfiguren im Familiengefüge zusammen, denn es sind die Vertreter der Kindergeneration, die sich hier zu Wort melden. Damit hängt auch die Fokussierung der Themen zusammen: Vor allem die Identitätsprobleme, welche sich aus der Notwendigkeit ergeben, sich zwischen der neuen und der alten Heimat zu positionieren, sind für die Kindergeneration relevant, während sie für die Elterngeneration einen weniger großen Stellenwert einnehmen. Darüber hinaus werden die Erlebnisse und Ereignisse dieser Zeit von den Ich-Erzählerfiguren mit deutlichen autobiographischen Bezügen wiedergegeben, wie man aus Interviews und Paratexten weiß. Dies darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Texte Autobiographien wären – sie werden paratextuell stets als »Romane« bezeichnet und enthalten deutliche Fiktionssignale. In Bezug auf den ›Realitäts- und Wahrheitsgehalt‹ des Erzählten besteht also eine Ambivalenz, welche die Migration als eine besondere Erfahrung erschei-
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nen lässt, die sich von anderen Familienkonflikte hervorrufenden Erfahrungen unterscheidet. Dabei existiert durchaus eine Diskrepanz zwischen dem erzählenden Ich und dem die Ereignisse erlebenden Ich der Kindheit und Jugendzeit: Die früheren Erlebnisse und Gefühle werden reflektiert und bewertet. Die Texte präsentieren somit das Resultat einer abgeschlossenen Aufarbeitung der Kindheit und Jugendzeit, in deren Zentrum die Emigration mit ihren spezifischen interkulturellen Problematiken (bzw. bei Wodin die Fremdheitserfahrung im Nachkriegsdeutschland) steht. Eine weitere auffällige Gemeinsamkeit einiger der untersuchten Romane besteht darin, dass sie in besonderer Weise die chronologische Zeitstruktur durchbrechen. Die erzählte Handlung umfasst stets einen großen Zeitabschnitt (in der Regel mehrere Jahre, manchmal sogar Jahrhunderte), welcher in verschiedene Zeitebenen aufgefächert und mit zahlreichen Analepsen und bei Rabinowich sogar mit Prolepsen präsentiert wird. Die auf der Vermittlungsebene verwendeten Formen verhalten sich somit analog zu der Art, wie Erinnerung funktioniert, nämlich nicht chronologisch, sondern assoziativ, in einem Hin und Her und mit mehreren Stimmen. Die Anachronie macht dabei den Prozess des Erinnerns und Aufarbeitens deutlich – die Romane zeigen somit nicht nur das Resultat, sondern auch den Prozess der Erinnerung. Auch wird durch die besondere Zeitstruktur die generationelle Verflechtung, welche ja einen so wichtigen Bestandteil der Familienproblematik darstellt, deutlich: Die Identität des erzählenden Kindes ist das Resultat dieser Verflechtung, und man kann sich bei seinem individuellen Identitätsprojekt39 nicht der familiären Bürde entziehen. Nicht zuletzt wird hierdurch auch die Zerrissenheit der Identität, die ja stets thematisiert wird, formal umgesetzt: Hier wird eine problematische Suche nach der eigenen Identität beschrieben, welche sich in der Familiengenealogie zu verorten hat. Wie stark die Erzählfiguren mit ihrem Identitätsprojekt in der familiären, generativen Verflechtung gefangen sind, wird außerdem durch die zweite Erzählerstimme markiert, die in den Romanen von Hummel und Rabinowich spricht. Bei Hummel wird ein Teil der Familiengeschichte durch die als Binnenerzählerin auftretende Großmutter erzählt, bei Ra39 | Mit diesem Identitätsbegriff schließe ich mich der in Fußnote 38 genannten Definition Heiner Keupps an, der in der Identität ein unabschließbares Projekt sieht, welches jedes Individuum im Laufe seines Lebens immer wieder neu erschafft. Vgl. Keupp: Identitätskonstruktionen.
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binowich wird die Erzählhandlung durch Abschnitte unterbrochen, die Erlebnisse der Groß- und Urgroßeltern in einem anderen Erzählmodus einblenden und die durch Kursivdruck markiert sind. Bei Rabinowich wird durch diese Erzählweise darüber hinaus deutlich, welch starke Macht das Verschweigen in der Familie hatte. Die Ich-Erzählerin kann ihre Familiengeschichte nicht selber erzählen, da sie ihr bis zum Schluss nicht bekannt ist, eben weil das Schweigen der Großmutter die Familienidentität beherrscht hat und erst nach ihrem Tod von der Enkelin aufgedeckt wird. Die Texte sind Familiengeschichten, die auch zumeist einen größeren Generationenzusammenhang aufzeigen und aus der Sicht und mit der Stimme des im Immigrationsland angekommenen Kindes diesen Prozess des Ankommens erinnern, reflektieren und aufarbeiten.
6. S CHLUSSBEMERKUNGEN Abschließend möchte ich auf die eingangs gestellten, übergreifenden Fragen zurückkommen: Warum ist Familie ein so wichtiges Thema in der Literatur russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren? Diese Beobachtung lässt sich aus der biographischen Situation der AutorInnen heraus erklären. Handelte es sich bei den Autoren der dritten Emigrationswelle vornehmlich um alleinstehende Männer, welche in einer politisch aufgeheizten Phase die Sowjetunion verließen und dann im Exilland Deutschland über ihre Heimat und deren politische Entwicklung schrieben, um auch politisch aufzuklären und kritisch-verändernd Einfluss zu nehmen, sind die in den letzten Jahren erschienenen Texte hauptsächlich von jüngeren Autorinnen und Autoren verfasst worden, die mit ihren Familien ausgewandert sind und sich in den Romanen an die eigene Emigrationssituation erinnern. Diese wird literarisch überformt und aufgearbeitet.40 In Bezug auf die Frage, ob es in den Texten wiederkehrende gemeinsame Themen und Formen gibt, konnten frappierende Überschneidungen 40 | Hier lässt sich ein Brückenschlag zu den Forschungsergebnissen der Soziologin Cornelia Helfferich herstellen (vgl. ihren Beitrag in diesem Band): Sie stellt eindrücklich dar, dass Migration ein Familienprojekt ist, welches die Familie über mehrere Generationen hinweg prägt. Die Romane, in denen Migrationserfahrungen verarbeitet werden, rücken ebenfalls die Familie und die Generationenbeziehungen deutlich in den Mittelpunkt der Darstellung.
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sowohl auf formaler Ebene (Erinnerungen einer Ich-Erzählerfigur, autobiographische Bezüge, verschachtelte Zeitstruktur usw.) als auch auf der thematischen Ebene herausgearbeitet werden, sei es in Bezug auf den Stellenwert der Familie, das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander und die typischen Familienkonflikte sowie in Bezug auf Integrationsmodelle und Identitätskonzepte. Zwei Formen möchte ich zusammenfassend fokussieren: 1. Interessanterweise werden in den untersuchten Familienromanen einige entwicklungspsychologische Konstanten beschrieben, die unter dem Einfluss der Migration und der interkulturellen Situation eine spezifische Färbung annehmen, nicht aber ursächlich auf die Migration zurückzuführen sind. Dies betrifft etwa den Fall, dass sich viele Kinder ihrer Eltern schämen und meinen, dass sie ihretwegen nicht so seien wie alle anderen (dass es sich hierbei um ein Wahrnehmungsphänomen handelt, zeigt sich ja bereits darin, dass die anderen jeweils das Gleiche meinen). Die Kinder aus Migrationsfamilien schämen sich nicht nur für die angeblich falsche Kleidung, sondern auch dafür, dass die Eltern Kodes, Sitten und Sprache des Immigrationslandes nicht oder nicht genügend beherrschen.41 2. Daneben existieren einige spezifische und ursächlich auf die Migration und die interkulturelle Situation zurückzuführende Identitäts- und Familienprobleme, die in den Texten lediglich in individuellen Varianten auftreten, prinzipiell jedoch gleich sind. Dazu gehören zum Beispiel das Gefühl der Spaltung und der fehlenden Verwurzelung und die drohende oder sich vollziehende Entfremdung zwischen Eltern und Kindern. Diese Probleme können individualpsychologisch gedeutet werden, da sie übergreifende psychische Mechanismen betreffen – wie den Wunsch nach Zugehörigkeit, das Bedürfnis nach Orientierung und anderes mehr –, welche durch die Migration und die interkulturelle Situation erschüttert werden. Damit beantwortet sich die letzte Frage, nämlich, worin sich die Behandlung des Themas ›Familie‹ in den Texten russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren von seiner Gestaltung in solchen Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unterscheidet, in denen keine Migrations41 | Auch hier lässt sich wieder eine Querverbindung zu der Untersuchung von Cornelia Helfferich ziehen (vgl. ihren Beitrag in diesem Band): Die soziologische Studie kann zeigen, dass es sich bei zahlreichen der von den Migrationsfamilien berichteten Konflikte um grundsätzlich ›normale‹ Familienkonflikte handelt, die durch die Migration eine spezifische Einfärbung oder Verschärfung erfahren.
»W ENN ICH DIE W AHL ZWISCHEN ZWEI S TÜHLEN HABE , NEHME ICH DAS N AGELBRETT «
erfahrungen thematisiert werden. Es sind ganz ähnliche Phänomene, die in den jeweiligen Texten verhandelt werden, sie haben aber unterschiedliche Ausprägungen: Viele Familientexte arbeiten die Familiengeschichte und deren Auswirkung auf das Individuum auf; geht es dabei in den Texten deutscher AutorInnen ohne Migrationshintergrund häufig um die NS-Vergangenheit der Familie, fokussieren die interkulturellen Texte die Schicksale der russischen, jüdischen oder russlanddeutschen Familiengenealogie. Des Weiteren verhandeln viele Texte Familienkonflikte, welche das Familiengefüge bedrohen; rühren diese in nicht-interkulturellen Texten aus den unterschiedlichen Einstellungen der Familienmitglieder gegenüber der Gesellschaft und den sich verändernden Genderkonzepten in der Generationenabfolge, so steht dies in den interkulturellen Texten zusätzlich vor dem Hintergrund der Herkunftsgesellschaft und der dort gültigen Werteordnung. Das Auseinanderbrechen der Familie ist außerdem für die Migrationsfamilie besonders bedrohlich. Nicht zuletzt ist ein wichtiges Thema der Familientexte die Identität; geht es dabei in nicht-interkulturellen Texten um die persönliche Identitätsfindung des Pubertierenden, beschäftigt die Figuren der interkulturellen Texte die Identitätsfindung unter dem Vorzeichen der Integration in das Immigrationsland und der Auseinandersetzung mit zwei verschiedenen Kulturen.
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Familiengedächtnis und jüdische Identität Die Romane Familienfest von Anna Mitgutsch und Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur von Vladimir Vertlib Monika Riedel
1. E INLEITUNG In der Zeit des viel beschworenen Funktionsverlustes der Familie erscheint die seit Beginn des 21. Jahrhunderts zu beobachtende Renaissance des Familienromans in der deutschsprachigen Literatur etwas überraschend. Die starke Hinwendung zu Familiennarrativen wurde in den Feuilletons oftmals damit erklärt, dass gerade dieser Wandel das Bedürfnis erzeuge, diese Narrative festzuhalten.1 Neben der nach wie vor zentralen Thematik der trans- und intergenerationellen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte,2 zeigt sich in den letzten Jahren eine klare Tendenz zu komplizierten Herkunftsgeschichten, wie sie die Globalisierung schreibt. Dimitré Dinevs Engelszungen (2003), Feridun Zaimoglus Leyla (2006), Doron Rabinovicis Andernorts (2010) oder Melinda Nadj Abonjis Roman Tauben fliegen auf (2010) – der letztgenannte Titel erhielt 2010 den Deutschen Buchpreis
1 | Vgl. Toni Tholen: »Heillose Subjektivität. Zur Dialektik der Selbstkonstitution und Auslöschung in Familienerzählungen der Gegenwart«, in: Thomas Martinec und Claudia Nitschke (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 2009, S. 35-54, hier S. 37. 2 | Hier nur einige Beispiele: John von Düffels Houwelandt (2000), Tanja Dückers Himmelskörper (2003), Ulla Hahns Unscharfe Bilder (2003), Julia Francks Die Mittagsfrau (2007) oder Jenny Erpenbecks Heimsuchung (2008).
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– sind nur einige Beispiele für generationenübergreifende Familiengeschichten, in denen interkulturelle Konstellationen eine Rolle spielen. Auch die beiden hier behandelten Romane gehören in diese Kategorie. Sie thematisieren die Identitätsfindung jüdischer Personen und Familien im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen der Emigration. Während Mitgutsch in ihrem Roman drei Generationen einer in die USA ausgewanderten Großfamilie folgt, schildert Vertlib den Lebens- und Leidensweg einer jüdischen Familie in Russland, die schließlich nach Deutschland übersiedelt. In beiden Fällen kommt die tragende Rolle bei der Tradierung des Familiengedächtnisses Frauen zu. Untersucht werden soll im Folgenden die Identitätsbildung innerhalb der Familie, die durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte, der Aufnahmegesellschaft und den jüdischen Traditionen erfolgt. Die zentralen Fragen dabei sind: Was und wie genau wird tradiert? Welchen Familienmitgliedern kommt neben den dominierenden Müttern bei der Fortschreibung und Infragestellung familiärer Legenden eine Bedeutung zu? Welche Auffassungen von Familie und einer geglückten Integration haben die einzelnen Generationen? Welche Bedeutung haben Familiengeschichten für die Geschichtsschreibung? Den theoretischen Bezugspunkt meiner Untersuchung bilden die Überlegungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis und zu dessen besonderer Form, dem Familiengedächtnis, wie er sie in seinen Werken Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925) und Das kollektive Gedächtnis (1950) entwickelt hat. Laut Halbwachs konstruiert sich das Familiengedächtnis durch die soziale Interaktion mehrerer Generationen: Die Familienmitglieder teilen bestimmte Erfahrungen miteinander und tauschen sich wiederholt darüber aus, sodass auch die Nachkommen, die das Erinnerte nicht selbst miterlebt haben, am Gedächtnis partizipieren können. Gleichzeitig ist für die Rekonstruktion der Vergangenheit gerade dieser »soziale Rahmen« notwendig, durch den die individuellen Erinnerungen erst ihren Inhalt gewinnen: »Man kann […] sagen, daß das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und daß das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.«3 Dem gesellschaftlichen Bezugsrahmen kommt bei diesem Prozess einerseits, weil er durch die Verallgemeinerung der Gemeinsamkeiten einzelner Gedächtnisinhalte entsteht, 3 | Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 23.
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eine stabilisierende Funktion zu, andererseits ist er durch die Einordnung aktueller Ereignisse und Erfahrungen selbst Veränderungen unterworfen.4 So erscheint die Gruppenidentität aus der umgekehrten Perspektive als Ergebnis eines individuellen Erinnerungsprozesses, in dem Kommunikation und Identifikation mit einer sozialen Gruppe eng miteinander verbunden sind. Aus dieser Wechselbeziehung geht hervor, dass das Sich-Erinnern für Halbwachs kein Abrufen von gespeicherten Erinnerungen ist, sondern das Entwerfen einer von den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängigen Version der Vergangenheit, bei dem man hochgradig selektiv vorgeht. Er bezeichnet es in seinen Ausführungen einprägsam als »Umbildungsarbeit an der Vergangenheit«5 .
2. E ROSION UND V ERFALL EINER F AMILIE IN A NNA M ITGUTSCHS FAMILIENFEST Im Roman Familienfest (2003) von Anna Mitgutsch ist die 88-jährige Edna Schatz das lebendige Gedächtnis der weit verzweigten Familie und damit das Bindeglied zwischen den Generationen: Ihre Erinnerungen umfassen etwa ein Jahrhundert und reichen bis zu ihrem Großvater mütterlicherseits Henry Lewis zurück, der aus einem podolinischen Stetl ausgewandert ist. Aus dem Bewusstsein heraus, dass persönliche Erinnerungen an die Lebensspanne eines Individuums gebunden sind, möchte sie ihr Wissen den nachfolgenden Generationen zur Verfügung stellen. Als das letzte lebende Kind von Joseph Leondouri, der wiederum um 1900 aus der Levante nach Boston kam, sieht sie es als ihre Aufgabe an, durch ihre Erinnerungen die Verstorbenen vor dem Vergessen zu bewahren. Auf einer zweiten Ebene wirkt das Erzählen von Erinnerungen identitätsbegründend: Schon als Kind gehörte es zum Eigenbild der Protagonistin, ein unauffälliges kleines Mädchen zu sein, dessen Besonderheiten im Verborgenen, in seiner Phantasie und in seiner Stimme,6 liegen. Als sie nach einem Unfall einen Fuß verliert und die Gefahr besteht, ein Leben lang auf ihre Behinderung reduziert zu werden, werden die Geschichten zu ihrer Identität. Auf einer drit4 | Vgl. Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 380f. 5 | Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 156. 6 | Vgl. Anna Mitgutsch: Familienfest, München 2005, S. 33. Zitate aus dem Roman werden fortan durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
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ten Ebene ist ihr »zwanghaftes Erzählen« (S. 17) stets ein Anreden gegen den eigenen Tod: »Das einzige Mittel gegen den Tod«, sagt sie zu ihrer Tochter, »ist eure Erinnerung an mich« (S. 104). Das Ausrichten größerer Familienfeste gibt ihr die Gelegenheit, nicht nur ihre Geschichten zu erzählen, sondern auch die jüdischen Traditionen lebendig zu halten. Denn mit jeder Generation nimmt jüdisches Wissen ab, religiöse Bräuche trivialisieren sich, aus der jüngeren Generation beherrscht nur ein Neffe das Hebräische. Den Auftakt des Romans bildet das Pessach-Fest mit seinen strengen Ritualen, das an den Auszug aus Ägypten erinnern soll. Edna versteht es, das Fest für ihre Zwecke zu nutzen und zieht gekonnt Parallelen zwischen den in der Hagada erzählten Ereignissen und der Übersiedlung der Leondouri-Sippe nach Amerika. Die mit den Familienlegenden verbundenen Orte in Spanien, Italien und Griechenland, die sie als junge Frau alle besucht hat, fungieren beim Erzählen als Erinnerungsstütze. Im Mittelpunkt ihrer Erzählungen steht die legendäre Gestalt ihres Vaters Joseph Leondouri – er war Nachfahre sephardischer Juden aus Spanien und ein attraktiver, lebensfroher Mann. Seine Idealisierung geht so weit, dass seine levantinischen Gesichtszüge durch den ganzen Roman – fast schon leitmotivisch – bei den Vertretern der jüngeren Generationen exzessiv gesucht und tatsächlich immer wieder ausgemacht werden. Die erste Einwanderergeneration hatte »ihren sturen Willen zu überleben und einen pragmatischen Optimismus bewiesen«, heißt es im Roman, »der sich ausschließlich auf die Zukunft richtete« (S. 16). Auch wenn sich ihr Leben im jüdischen Dorchester, aus dem die Familie später von der zuziehenden schwarzen Bevölkerung verdrängt wurde, abspielte, was eine Orientierung in der neuen Umgebung erleichterte, war sie gezwungen, die kulturelle Distanz zu überwinden. Den älteren Generationen ist es zu verdanken, dass die Familie in einem exklusiven Bezirk Bostons angekommen ist: Sie hat in zwei Generationen den Aufstieg von Ellis Island nach Beacon Hill geschafft und »die Enklave alter protestantischer Mayflower-Familien infiltriert« (S. 11). Es ist übrigens das letzte Fest, das in Ednas vornehmem Haus am Beacon Hill stattfindet, weil sie am nächsten Tag in ein Altersheim ziehen wird. Auch dieser Auszug ist also symbolträchtig. Mitgutsch zeichnet ihre Figur als eine sprachmächtige Erzählerin, die aus dem Bewusstsein heraus, letzte Zeugin der ersten Generation zu sein, ihr Publikum zu fesseln vermag. Sie hat ihre weltanschaulichen Orientierungsraster verinnerlicht, ihr individueller Standpunkt ist längst der der
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Gruppe. Von ihren Zuhörern fordert sie eine bedingungslose Identifikation mit den Figuren ihrer Geschichten. Auf diese Weise geht von ihr ein Homogenitätsdruck aus, da in Halbwachs’ Worten »die Gesellschaft nur leben [kann], wenn zwischen den sie bildenden einzelnen und den Gruppen eine genügende Einheit der Ansichten besteht«7. Daraus ergibt sich folglich auch, dass Gesellschaften dazu neigen, aus ihrem Gedächtnis alles auszuschalten, was die einzelnen voneinander trennen, die Gruppen voneinander entfernen könnte, und darum manipulier[en] sie ihre Erinnerung in jeder Epoche, um sie mit den veränderlichen Bedingungen ihres Gleichgewichts in Übereinstimmung zu bringen.8
Aus dem gleichen Grund werden aus den Erzählungen der ersten Generation zwei Episoden ausgespart: die Wahrheit über einen Onkel, der im Gefängnis saß, allerdings unschuldig, sozusagen stellvertretend für jemanden, und die Kontakte der ersten Generation zu der italienischen Mafia in North End. Ednas Ausführungen erfahren aber immer wieder auch Korrekturen von außen. Vor allem Familienmitglieder, deren Eltern im Zuge eines Konflikts die Kontakte mit der Familie lockerten oder abgebrochen haben, bestehen nach der Beendigung der Fehde auf ihrer Version der Ereignisse (vgl. S. 37). Als Kritik kann man aber auch Fragen nach der zeitlichen Einordnung der jeweiligen Ereignisse und Erfahrungen werten, wenn die jüngere Generation in Kenntnis historischer Tatsachen auf Ungereimtheiten stößt. Wie konnte etwa Edna in den 1930er Jahren, als in Spanien Bürgerkrieg herrschte, dort die Erinnerungsorte der Leondouri-Familie besichtigt haben (vgl. S. 27)? Die meisten Einwände werden von ihr ignoriert; was man nicht widerlegen kann, wird Bestandteil der Familienmythologie. Die jüngere Generation zeigt kein größeres Interesse an den Familiengeschichten. Während in der ersten Generation die Familienbande stabile Bindungen waren, die aktiv gepflegt wurden, auch durch die aktive gedankliche Arbeit an der Rekonstruktion der Vergangenheit, haben die meisten Vertreter der nächsten Generationen durch ihre veränderten Lebensformen aufgehört, »sich als verwandt und über alle Differenzen hinweg einander zugehörig zu betrachten« (S. 16). Auch die Anlässe und Gelegen7 | Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 381. 8 | Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 382.
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heiten eines gemeinsamen Sich-Erinnerns, das die Einheit festigen würde, nehmen kontinuierlich ab. Es existiert lediglich eine Art Generationssolidarität zwischen den (erwachsenen) Kindern und ihren Eltern. Ähnlich verhält es sich mit dem religiösen Zugehörigkeitsgefühl. In der ersten Generation galt die Heirat über die religiösen Grenzen hinweg noch als Verrat der eigenen Traditionen. Gleichzeitig zwingen der Bedeutungswandel des Glaubens unter den Bedingungen einer offenen Gesellschaft und die Selbstverständlichkeit, mit der die nächste Generation nichtjüdische Familienmitglieder behandelt, auch Edna zu mehr Toleranz. Gerade in der Frage der Religion zeigen sich intergenerationelle Konflikte: Edna wird von ihrer Tochter vorgeworfen, zum »assimilierte[n] Establishment der wohlhabenden jüdischen Vorstädte« (S. 83) zu gehören, worin sie die Ursache für die »religiöse Gleichgültigkeit« (S. 84) der Elterngeneration sieht. Selbst- und Fremdbild klaffen hier nicht unerheblich auseinander. Exemplarisch für diese Entwicklungen stehen Ednas 56-jähriger Neffe Marvin und ihre 20-jährige Großnichte Adina, aus deren Perspektive in den beiden anderen Teilen des Romans erzählt wird. »Auch da sind noch Erinnerungen«, sagte Mitgutsch in Bezug auf die jüngeren Generationen in einem Interview, »aber die sind individuell, die sind nicht mehr repräsentativ, um sich irgendwie in der Geschichte, also in Zeit und Ort, zurechtzufinden«9 . Ihre Leben erscheinen in Kenntnis der großen Familiengeschichten grau und trostlos. Marvin findet weder privat noch im Beruf Erfüllung und sehnt sich nach einem anderen Leben. Seine Sehnsucht projiziert er zeitweilig in eine Internet-Bekanntschaft, eine Ärztin aus Alma Ata, kehrt dann aber, seinen nach einem Unfall behinderten Sohn als Vorwand nutzend, resigniert ins gewohnte Leben zurück. Der Alltag der Großnichte spielt sich wiederum zwischen der Schule und dem ›Rumhängen‹ in Shopping-Malls ab. Völlig auf sich gestellt versucht sie, mit dem traumatischen Verlust ihrer ermordeten Freundin klarzukommen. Die in der amerikanischen Verfassung verankerte Ideologie vom Glücksversprechen, heißt es folglich an einer Stelle des Romans, sei »kein Recht, sondern eine undurchführbare Aufgabe« (S. 319). Trotz ihrer augenfälligen Distanz sieht Edna gerade in ihrer Großnichte »ein junges bereitwilliges Gedächtnis« (S. 22), in dem die Geschichten noch einmal 80 Jahre weiterleben könnten. Es gelingt ihr vor ihrem Tod, 9 | Lerke von Saalfeld im Gespräch mit Anna Mitgutsch. URL: www.dradio.de/ dlf/sendungen/buechermarkt/165930/(letzter Zugriff am 05.03.2011).
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mit dem der Roman schließt, ihr Interesse für die Vergangenheit der Familie zu wecken. Während die anderen Trauergäste nach dem Begräbnis als Zeichen emotionaler Verbundenheit anfangen, einander Geschichten zu erzählen, auch über Edna, deren Tod von ihnen als das Ende einer Ära wahrgenommen wird, beschließt Adina, nach Europa zu reisen, wo die Wurzeln ihrer Familie liegen.
3. V ITALITÄT UND K R AF T ALS R E T TUNG EINER F AMILIE IN V L ADIMIR V ERTLIBS D AS BESONDERE G EDÄCHTNIS DER R OSA M ASUR In Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur (2001) von Vladimir Vertlib ist die Erzählerin 92 Jahre alt, als sie ihre Familien- und Lebensgeschichte für ein Jubiläumsbuch, das anlässlich der 750-Jahr-Feier der fiktiven deutschen Kleinstadt Gigricht erscheinen soll, erzählt. Die Anthologie soll den Titel Fremde Heimat. Heimat in der Fremde tragen und Beiträge von ›ausländischen Mitbürgern‹ unterschiedlicher ethnischer Herkunft, unter anderem auch von einem russischen Juden, einem so genannten Kontingentflüchtling aus den GUS-Staaten, enthalten. Mit der Durchführung des Projektes wurde das Institut für Geschichtsforschung der Stadt Gigricht beauftragt. In Vertlibs Roman stehen sich also Gedächtnis (›gelebte‹ Geschichte) und Historie (›gelernte‹ Geschichte) gegenüber, so wie sie schon Halbwachs in seinem Werk Das kollektive Gedächtnis voneinander abgegrenzt hat. Dort hat er das »lebendige Band der Generationen« die Quelle »eine[r] lebendige[n] Geschichte, die durch die Epochen hindurch fortbesteht«, genannt und die im kollektiven Gedächtnis transportierten »Denk- und Erfahrungsströmungen«10 als Mehrwert deklariert. Demgegenüber bestehe die im Zeichen der Epochenbrüche stehende Historie nur aus Jahreszahlen, Namen und Formeln. Der Geschichtsbogen, den Rosa (Abramowna) Masur in ihren Erzählungen spannt, reicht von der Jahrhundertwende bis in die Nachkriegszeit: Sie hat Erinnerungen an die Pogrome ihrer Kindheit, die sie in einem weißrussischen Stetl verbrachte, die Jahre des Bürgerkriegs, den Terror der Stalin-Zeit, den Zweiten Weltkrieg und die Leningrader Blockade sowie die Schikanen des Sowjet-Regimes, das die von offiziellen Darstellungen 10 | Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1991, S. 50.
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abweichenden Erinnerungen fürchtet, in ihrem Gedächtnis bewahrt. Ihre individuelle Geschichte ist untrennbar mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden. Was und auf welche Weise aber erinnert werden soll, gibt der soziale Rahmen vor: Im Wunsch des Bürgermeisters, dass »gerade in den jüdischen Biographien die Tragik, die Umbrüche und Hoffnungen des zwanzigsten Jahrhunderts erkennbar werden«11 , wird eine klare Erwartungshaltung formuliert. Im Gedächtnis der Stadt sollen nicht die unverwechselbaren Zeugnisse erhalten bleiben, sondern die typischen: Die institutionalisierte Historiographie ist an der Objektivierung der persönlichen Erfahrungen und der Beglaubigung der Geschichte interessiert. »[E]twas Individuelles und über das gewöhnliche Maß Hinausgehendes« (S. 36) garantiert aber eine besondere Sichtbarkeit bei der Auswahl und erhöht dementsprechend die Chancen, am Projekt zu partizipieren. Obwohl ihre Beweggründe – das Honorar und damit die Möglichkeit, mit ihrem Sohn endlich die heiß ersehnte Reise in die Provence antreten zu können – zunächst profaner erscheinen als die von Mitgutschs Protagonistin, reizt Rosa das Erzählen, auf das sie von allein wohl nie gekommen wäre. Doch für Rosa Masur bedeutet das Sich-Erinnern vor allem die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen, wie des Verlustes der Schwester, die nach Kanada auswandert, oder die Ermordung ihrer Eltern. Im Gegensatz zu Mitgutschs Edna, die ihre Aufgabe in der Tradierung einer Kontinuität suggerierenden Familiengeschichte sieht, muss Rosa ihre erst herstellen, indem sie die Erinnerungsbruchstücke mühsam zusammensucht und »[d]ie fehlenden Farben in den Löchern zwischen den bunten Mosaiksteinchen« (S. 402) ergänzt. Obwohl es sie viel Überwindung und Kraft kostet, verspürt sie einen inneren Drang, der sie sogar Episoden erzählen lässt, die sie eigentlich verschweigen wollte. Am Ende muss sie sich eingestehen, dass die Gespräche mit dem Interviewer »für mich doch zu einer Art Lebenselixier geworden sind« (S. 307). Rosa Masurs Kindheitserinnerungen aus der vorsowjetischen Zeit nehmen die Familie in ihrem Verwandtschaftsgeflecht in den Blick: Fast alle jüdischen Bewohner des weißrussischen Dorfes sind mit Rosas Familie verwandt oder verschwägert. Für die Eigenwahrnehmung der jüdischen Großfamilie sind im Roman zwei Reflexionsebenen typisch. Was die 11 | Vladimir Vertlib: Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur, München 2007, S. 37. Zitate aus dem Roman werden fortan durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
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Gegenwart betrifft, so nimmt die Verwandtschaft gegenseitig Anteil am Familienleben, diskutiert aktuelle Ereignisse und tauscht sich über Erfahrungen einzelner Familienmitglieder aus (vgl. die Familiengespräche anlässlich der Briefe aus Kanada, S. 41-51). Darüber hinaus ist für die individuellen Identitäten einerseits die Identifikation mit der – zugegebenermaßen von Armut, Elend und Tristesse gekennzeichneten – Region, in der jüdische Familien seit Jahrhunderten ansässig sind, andererseits das Zusammenleben mit den »friedliche[n]« (S. 50) weißrussischen Nachbarn von großer Bedeutung. Die sich wiederholenden Pogrome aufgehetzter Bauern werden stoisch, als Strafe Gottes für die eigenen Sünden, hingenommen. Das Judentum wird in Rosas Erzählungen vor allem als Schicksalsgemeinschaft verstanden. Zwar haben die Männer in ihrer Familie eine religiöse Bildung erfahren, doch dies spielt in ihrem Leben mit jeder neuen Generation eine weniger wichtige Rolle. Der Großvater ist durch seinen Habitus noch als Vertreter jener Generationen jüdischer Männer, denen die eigene kulturell-religiöse Zugehörigkeit inneren Halt gab, zu identifizieren, allerdings stark liberal denkend, sodass er seiner Enkelin Rosa trotz Anfeindungen der jüdischen Dorfgemeinschaft Bildung angedeihen lässt. Demgegenüber ist der Vater schon ein »wortkarge[r] und glücklose[r] jüdische[r] Proletarier« (S. 57). Seine religiöse Bildung bietet ihm »in erster Linie den Stoff für pointierte Bemerkungen mehr oder weniger blasphemischen, manchmal sogar anzüglichen Inhalts und für geistreiche Anekdoten« (S. 49). Sowohl er als auch Rosas Mann werden als untüchtige Familienoberhäupter, eher intellektuell als pragmatisch veranlagt, dargestellt. Beide Male ruht die Verantwortung für die Familie auf den Schultern der Mütter. Für Rosas aus einer wohlhabenden Familie stammende, selbstbewusste und exzentrische Mutter bedeutet dies noch, im Dorf als »Mannweib« (S. 52) abgestempelt zu werden. Rosa selbst entspricht dagegen dem sowjetischen Ideal der heroischen und sich aufopfernden Frau. Der Familienzusammenhalt ist irgendwann durch die historischen Ereignisse, die die jüdische Bevölkerung zum ständigen Wohnortwechsel zwingen, unwiederbringlich zerstört. Durch die räumliche Trennung kommt es zur Entfremdung von der engeren Familie und breiteren Verwandtschaft und, nach dem Bruch mit ihnen, zu einer Fokussierung der Kernfamilie, die den nächsten Generationenzyklus darstellt: Obwohl am Rande auch die Schicksale der (Halb-)Schwester Klara und des (Halb-)
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Bruders Mojsche erzählt werden,12 beziehen sich Rosas Schilderungen primär auf Ehemann und Kinder. Die Funktion der breiteren Verwandtschaft übernehmen in der Zeit der Sowjetunion durch ihre räumliche Nähe die Nachbarn bzw. die zugeteilten fremden Mitbewohner in den Gemeinschaftswohnungen. In Rosas Fall kommt noch eine Freundin hinzu, die über ihren Tod während der Leningrader Blockade hinaus ihre ständige Wegbegleiterin durch das Leben wird. Sie alle bilden in vielerlei Hinsicht einen der Familie ähnlichen sozialen Rahmen, der es dem Einzelnen ermöglicht, sich zu erinnern. Was Rosas persönliche Lebensgeschichte betrifft, so geht sie selbstbewusst und voller Elan ihren Weg; später definiert sie sich durch die Mutterpflichten, die sie vor allem gegenüber ihrem Sohn empfindet. Er ist von ihren beiden Kindern das schwächere, das wegen seiner labilen Gesundheit und seines komplizierten Naturells stets ihrer Hilfe und Fürsorge bedarf. Sie nimmt ihm noch im jungen Erwachsenenalter die »unangenehmen Seiten des Alltags« (S. 308), wie etwa Behördengänge, ab oder versucht ihn vor den Ressentiments seiner Umgebung, die er wegen seiner Herkunft etwa bei der Studienplatzsuche erfährt, zu schützen. Wenn es darum geht, aus den Extremsituationen ihres Lebens einen Ausweg zu finden, ist sie einfallsreich, hartnäckig und rücksichtslos (vgl. S. 343f.).13 Die Bevormundung des Sohns, die bis ins Rentenalter anhält, nimmt in mehreren Episoden des Romans groteske Züge an und wird für die erwachsene Tochter zum Anlass, den Kontakt zu ihrer Familie abzubrechen. Das Familienprojekt Auswanderung wird, nachdem der Versuch von Rosas Eltern, den Sohn auf diese Weise vor der Einberufung zu retten, 1914 gescheitert ist, der Nachfolgegeneration gelingen. Mehr als achtzig Jahre 12 | Die einzige Episode, die im Roman nicht aus Rosas Perspektive erzählt wird, schildert den Bruder aus der Sicht eines jüdischen jungen Mannes, der ihn als Jugendlicher bei einem Besuch des Majors der Roten Armee, der Mojsche war, 1939 in Ostpolen kennenlernte und ihn Ende der 1950er Jahre wiedersehen wollte. Der Bruder ist zu diesem Zeitpunkt schon tot, er wurde 1941 als angeblicher rumänischer Spion hingerichtet und erst 1956 rehabilitiert. 13 | Die als Schlüsselerlebnis ihres Lebens titulierte (angebliche) Begegnung mit Stalin, die sie mit List selbst herbeigeführt hatte, zeugt von der Entschlossenheit einer Mutter, die, um ihren unschuldig inhaftierten Sohn aus den Klauen einer grausamen Diktatur zu befreien, bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen (vgl. S. 366-397).
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später bereitet Rosas Enkelsohn Sascha, der als erster nach Deutschland übersiedelt und sich eine berufliche Existenz als Graphiker aufbaut, den Boden für die Familienzusammenführung. Zu ihm hat Rosa, wie schon zu seiner Mutter Frieda, die, was gemeinsame Entscheidungen der Familie betraf, »nicht viel zu sagen« (S. 23) hatte, keine engere Beziehung. Zwar entgeht die Familie auf diese Weise den Diskriminierungen in Russland, doch ihre Lebensverhältnisse ändern sich, da sie nicht mehr im erwerbsfähigen Alter und auf Sozialhilfe angewiesen sind, nur geringfügig. Eine Integration ist wegen der fehlenden Sprachkenntnisse des Sohnes und der Schwiegertochter vor allem in die jüdische Gemeinde möglich, die fast ausschließlich aus Mitgliedern aus Russland besteht und deswegen nicht primär als religiöse, sondern als soziale Gemeinschaft zu verstehen ist. Eigentlich gibt es in der breiteren Verwandtschaft, wie aus einem Brief von Friedas Tante hervorgeht, Vorbehalte hinsichtlich der Wahl ihrer neuen Heimat. Wie traumatisch die – freiwillige – Übersiedlung letztendlich auch für Rosas Sohn selbst war, zeigt die unmittelbare Folge seines Entschlusses: ein Schlaganfall. Im Unterschied zu den Erzählungen von Mitgutschs Protagonistin ist Rosas Erzählweise eine selbstreflexive, denn sie kommentiert auf einer Metaebene, was sie erzählen kann und will und in welcher Form sie das tut. Zunächst muss sie feststellen, dass das Gedächtnis, ein »sehr launischer Meister« (S. 296) ist, man kann sich nicht einmal in der eigenen Geschichte an alle Details erinnern. Die Vergangenheit, bemerkt Rosa, ist immer mehr ein Produkt der Phantasie als der Erinnerung. Dass sie sich immer wieder gewisse Korrekturen erlaubt, erkennt man am ironischen Grundton Vertlibs. Sie berichtet zuletzt auch vom Versuch des jungen Mannes, der ihre Lebensgeschichte aufzeichnet und aus dem Russischen übersetzen soll, ihren »Erzählfluß zu lenken«, wogegen sie sich allerdings geschickt zu wehren weiß: Bei manchen Details, die er unbedingt wissen wollte, behauptete ich, mich nicht mehr erinnern zu können, anderes, was mir wichtig erschien, erzählte ich sehr ausführlich, auch wenn ich seine Ungeduld spürte. […] Bald bestand seine Hauptaufgabe darin, das Aufnahmegerät einzuschalten, mir ein Stichwort zu geben […]. Damit möchte ich nicht behaupten, seine Rolle sei eine rein passive. Er übersetzt alles, was ich ihm erzähle, in ein gepflegtes Deutsch. Er hat Wiederholungen gestrichen, zeitliche und inhaltliche Sprünge bereinigt und einzelne Episoden in Kapitel zusammengefaßt. Ich habe diese deutsche Version gelesen. Der
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junge Mann hat sich bei der Übersetzung einige Freiheiten erlaubt. Aber ich habe mich entschlossen, großzügig zu sein (S. 312f.).
Wie dieses Zitat, aber auch das bisher über die Arbeitsweise des Instituts Gesagte zeigt, sind auch bei der durch die Fachwissenschaft verbürgten Geschichtsschreibung – bewusst oder unbewusst – Auswahlmechanismen am Werk. So ist es nur folgerichtig, dass am Ende des Romans das Scheitern der Historiographie steht: Es stellt sich heraus, dass die Stadtrecht-Urkunde von Gigricht eine Fälschung aus dem 15. Jahrhundert ist. Die Feierlichkeiten werden abgesagt, und damit nimmt auch das Buchprojekt ein jähes Ende.
4. S CHLUSSBEMERKUNGEN Soll der ganze Aufwand umsonst gewesen sein, fragt sich Rosa Masur, die Zeugnis ablegen wollte und plötzlich nicht mehr gehört wird (vgl. S. 402). Die Antwort ist: Nein, denn wie schon bei Mitgutsch ist die Arbeit an der Vergangenheit Arbeit an einer Identität gewesen, die über die herkömmlichen Zuschreibungen hinausgeht. Denn trotz des weitestgehend säkularen Selbstverständnisses der Familie haben ihre Mitglieder ein Leben lang mit dem Antisemitismus ihrer Umgebung zu kämpfen gehabt. Wie schon bei Mitgutsch wird der Holocaust jedoch auch bei Vertlib nur am Rande thematisiert. Während die Ereignisse in den USA lediglich zur Kenntnis genommen werden, weil die räumliche Trennung von Europa Sicherheit garantiert, werden explizite Erinnerungen in Rosas Erzählungen ausgespart, weil sie Rekonstruktionen fremder Erinnerungen wären. Wenn sie schon das Schicksal ihrer Eltern nicht verbürgen kann, so ist es Rosa Masur wichtig, dass sie über die gängigen Klischees hinaus ein Bild des Ostjudentums vermittelt. Es ist in ihren Erzählungen weder passiv noch vergeistigt: Obwohl die jüdische Bevölkerung immer wieder mit Anfeindungen und Pogromen konfrontiert wird, vertritt sie selbstbewusst ihre Interessen in der Öffentlichkeit und passt sich der sich im permanenten Wandel befindenden Realität an. Auch Rosa erzählt vom Zerfall der alten Ordnung und der Traditionen, doch dies ist kein Grund für Nostalgie, denn es ist der Lauf der Dinge. Die erzwungene Identifikation setzt sich schließlich in Deutschland, wenn auch mit anderem Vorzeichen, fort. Auf die philosemitischen Haltungen der Aufnahmegesellschaft bei gleichzeitiger Betonung
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der Fremdheit bzw. Differenz (auch des Migranten) reagiert Rosa Masur ablehnend: »Die Deutschen lieben ja heute die Juden, zumindest solange die Juden sich nicht so jüdisch benehmen wie sie glauben, daß sich Juden benehmen könnten, aber nicht sollten« (S. 227). Auch den feierlichen Empfang, bei dem sie der Ehrengast ist und besonderer Wert darauf gelegt wird, dass die »ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wie gleichwertige Menschen« (S. 413) behandelt werden, betrachtet sie mit ironischer Distanz. Denn Rosa Masur ist inzwischen in der Lage, mit solchen Dingen selbstbewusst umzugehen. »Am Anfang allen Schreibens steht«, so Mitgutsch in ihren Grazer Poetikvorlesungen, die Erinnerung, und Erinnern ist weder etwas Allgemeines noch etwas Objektives. […] Sowohl für den alltäglichen Vorgang des Erinnerns als auch für das Erinnern als literarische, ja eigentlich als textkonstituierende Tätigkeit […] gilt die Erfahrung, daß das Erinnern ein Scheitern an der Realität ist. Ganz gleich, wie akribisch unser Gedächtnis auch sein mag, es wird nie die Wirklichkeit zutage fördern, nicht das, was sich wirklich zugetragen hat, sondern nur unsere subjektiven Reaktionen darauf, unsere Gefühle, Stimmungen, Ausschnitte einer ganzen, nicht rekonstruierbaren Realität.14
Auch Vertlib versteht Erzählen als eine Einheit von Authentischem und Fiktivem. Er schreibt mit dem Anspruch, aus Emigrationserfahrungen und Familienlegenden historische Texte entstehen zu lassen, wobei er das eigene Schreibverfahren als eine Mischung »aus Erlebtem, Hinzugedachtem und Assoziiertem«15 , das sich in mehreren Transformationsschritten zu einem exemplarischen Fall verdichtet, definiert. So erlangt das Thema Emigration und Exil, auch durch den ständigen Perspektivenwechsel, der immer neue Facetten des Phänomens hervortreten lässt, eine Allgemeingültigkeit und kann – wie es Vertlib dem Leser nahelegt und es wohl auch für die Romane von Anna Mitgutsch gilt – als »die zugespitzte Form jener Erfahrung von Fremdsein und Identitätsverlust, die zu den wesentlichen
14 | Anna Mitgutsch: Erinnern und Erfinden. Grazer Poetik-Vorlesungen, Graz 1999, S. 6f. 15 | Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort. Die Erfahrung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006, Dresden 2007, S. 26.
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Merkmalen unserer Zeit«16 gehört, gelesen werden. Auf diese Weise wird Literatur – nicht Geschichte oder Geschichtsschreibung – zu jener Instanz, die das Gedächtnis der Zeit bewahrt.17
16 | Vertlib: Spiegel im fremden Wort, S. 60. 17 | Vgl. Annette Teufel und Walter Schmitz: »Wahrheit und ›subversives Gedächtnis‹. Die Geschichte(n) von Vladimir Vertlib«, in: Vertlib: Spiegel im fremden Wort, S. 201-253, hier S. 248.
Die heilende Familie? Interkulturelle Familienmodelle als Versöhnungsutopien und Strategien der Verortung in Amos Oz’ autobiographischem Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis und Eytan Fox’ Film Walk on Water Lena Ekelund
1. E INLEITUNG Die Unruhe darüber, wo die Grenzen zwischen Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit zur Familie zu ziehen sind […], begleitet den modernen Familiendiskurs von Anfang an. […] Wer war zum Kreis der Familie zu zählen, wer nicht? […] Wer hat Zutritt zu ihr und findet Einlass in ihre Intimität, wer wird als geduldeter Fremder behandelt […]?1
Die israelische Literatur hat sich besonders in den letzten zehn Jahren immer wieder auf Erkundungstouren durch das Terrain der Familie begeben und dabei zugleich die tiefen Konflikte zwischen religiösen und säkularen, zwischen traditionellen und (post-)modernen Lebensweisen in einem Land abgeschritten, das sich von äußeren Feinden umzingelt sieht und durch das Trauma der Shoah bis heute tief beeinflusst ist. ›Fremde‹ findet sich in einer Einwanderungsgesellschaft wie der israelischen, die sich, wie die Autorin Batya Gur es formuliert, »aus Überbleibseln und Fragmenten gebildet hat«2 , immer schon sowohl im vermeintlich Eigenen, das sich plötzlich als 1 | Albrecht Koschorke u.a.: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, München 2010, S. 8f. 2 | Batya Gur: »Die Spiegelschlange oder: Die Spiegelung politischer Prozesse in der israelischen Literatur«, in: Doreet LeVitte Harten (Hg.): Die neuen Hebrä-
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ein Unbekanntes herausstellen kann, als auch im unbekannten Draußen. Doch auch das ins Abseits der israelischen Gesellschaft verbannte Fremde kann plötzlich zur Identifikation einladen. Oft geschieht dies, wie Gur schreibt, aufgrund einer »starken Bindung und gelebter Nachbarschaft«3 . Was könnte unter solchen Umständen wichtiger sein als die Klärung der Frage, wer eigentlich ›zur Familie gehören‹ soll? Der Autor Amos Oz beschäftigt sich in seinem autobiographischen Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (Ssipur al alhava we-choschech [2002, dt. 2004]) mit dieser Frage der ›Familienzugehörigkeit‹ ebenso wie der Regisseur Eytan Fox in seinem Film Walk on Water (Lalechet al hamaim [2005]), jeder in einem spezifischen historischen Kontext. Der Autor wie der Regisseur präsentieren interkulturelle Familienkonstellationen im Spannungsfeld der israelisch-europäischen, aber auch israelisch-palästinensischen Beziehungen. Die beiden interkulturellen Familienkonstellationen, die hier Gegenstand der Analyse sein sollen – eine literarisch und eine filmisch gestaltete, eine lediglich in der Phantasie des Protagonisten existierende, eine tatsächlich realisierte, beide jedoch mit hochpolitischen Implikationen –, scheinen mir zwei historisch und kulturhistorisch wichtige Bewegungen nachzuzeichnen: die israelische Abkehr von einem vertrauten und dann mörderisch gewordenen Europa als einer Art therapeutischer Maßnahme im Zuge der Staatsgründung einerseits und eine Wiederannäherung der zweiten und dritten Generation an Europa, die Eytan Fox in seinem Film wiederum als therapeutisch beschreibt, andererseits. »Europa ist anziehend […], Europa ist abstoßend«4 , so fasst es Fania Oz-Salzberger in ihrem Buch Israelis in Berlin. Es sind in beiden zur Debatte stehenden Konstellationen männliche Protagonisten, die jeweils eigene Erfahrungen mit ihrem europäischen und arabischen Erbe machen, die sich aus genealogischen Verkettungen lösen und darüber auch ihre Männlichkeitsideale verändern. Dies ist kein Zufall, kam es doch im Zuge der Entstehung des Zionismus auch zur He-
er. 100 Jahre Kunst in Israel, Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau, 20. Mai bis 5. September 2005, Berlin 2005, S. 478-485, hier S. 485. 3 | Gur: Spiegelschlange, S. 485. 4 | Fania Oz-Salzberger: Israelis in Berlin, Frankfurt a.M. 2001, S. 14.
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rausbildung eines neuen jüdischen Männlichkeitsideals5: ein historischer Kontext, der in Oz’ Roman, »a national autobiography, if there is such a genre«6, eine Rolle spielt und der noch in dem von Fox gezeigten Israel der Zeit der zweiten Intifada deutlich zu spüren ist.
2. I M K LEIDERWALD ODER O Z ’ M ÄRCHENSPIEL Schildert Eytan Fox die Krise eines israelischen Männlichkeitsideals, das seinen Ursprung in der zionistischen Bewegung hat, und deren Lösung als Abnabelung von den Vätern und als (Wieder-)Entdeckung Berlins, so erzählt Amos Oz in einer traumartigen Kindheitserinnerung ebenfalls von der Erschütterung eines Männlichkeits- und Vaterbildes, von der Absetzung des europäisch sozialisierten biologischen Vaters und der Inthronisierung einer zweiten, fremden, einer arabischen Vaterfigur. Die interkulturellen Verstrickungen und Identitäten seiner Familie und insbesondere seiner Eltern, die sich, in Jerusalem ansässig geworden, ihr Leben lang nach Europa zurücksehnten, mehrere europäische Sprachen beherrschten, ihrem Sohn jedoch bezeichnenderweise nur Hebräisch beibrachten, implodieren förmlich in einer dichten und furchterregenden Kindheitsszene. Es handelt sich um eine der frühesten Erinnerungen des Protagonisten an einen Nachmittag in einem arabischen Textilgeschäft in Jerusalem wenige Jahre vor der israelischen Staatsgründung. Der Protagonist, der von litauischen und russischen Einwanderern abstammt und seine Geschichte damit beginnt, von der Sehnsucht seiner Eltern nach Europa zu berichten, ist drei oder vier Jahre alt. Mit seiner Tante Greta, deren bevorzugte Freizeitbeschäftigung darin besteht, in Geschäften verschiedene Kleider anzuprobieren, ohne jemals etwas zu kaufen, betritt der kleine Amos die Welt der arabischen Läden. Von Anfang an ist die Sequenz mit intertextuellen Verweisen auf europäische Märchen verwoben. So heißt es gleich zu Beginn, die Damenbekleidungsgeschäfte seien für Tante Greta wie das ›Zauberschloß‹, das Amos in seinen Spielen aus Bauklötzen baut. Von der 5 | Siehe Todd Samuel Presners Studie Muscular Judaism. The Jewish Body and the Politics of Regeneration, London u.a. 2007. 6 | Es handelt sich hierbei um ein Zitat Batya Gurs, zitiert nach: Nancy K. Miller: »I Killed My Grandmother: Mary Antin, Amos Oz, and the Autobiography of a Name«, in: Biography 30.3 (2007), S. 319-341, hier S. 323.
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eifrig anprobierenden Tante einen Moment alleingelassen, gerät Amos das Geschäft zum Wald mit »halbdunkle[n] Seitenwege[n]«7, »schmale[n], verschlossene[n] Dschungelpfade[n]« (S. 332), mit »einem reichverzweigten Regenmantelbaum« (S. 333) und »vielfarbigem Stofflaub[]« (S. 332). Der Wald aus Kleidern ist weiblich: »Eine Frauenwelt war das«, stellt der Erzähler fest, und es kündigt sich in der Beschreibung bereits an, dass der kindliche Protagonist in diesem weiblichen Wald mit seinem »duftende[n] Gewirr von Gängen, ein tiefes, samtseidenes und verlockendes Labyrinth« (S. 332), einen regressiven Gang zu den Müttern antreten wird. Zunächst begegnet das Kind aber einer ›Kindfrau‹, die es als verkleidet erkennt und die an ihm vorbeiläuft, um dann im Gewirr der Kleiderständer unterzutauchen. Angetrieben von narzisstischen Wünschen (»Ich wollte, daß sie mich sah« [S. 331]) und von den mit, wie Freud erklärt hat, männlicher Begierde so häufig einhergehenden, dramatisch überspitzten Rettungs- und Ritterlichkeitsphantasien8 (»Ich würde mein Leben für sie riskieren« [S. 334]), verfolgt Amos die Kindfrau und phantasiert sich immer weiter hinein in seinen Wald, vage ein Lusterlebnis antizipierend: »Was danach kommen würde, wußte ich nicht, aber ich wußte, es würde etwas kommen und hoch aufwallen und mich vollkommen mitreißen.« (S. 334) Eine solche Szene, in der einem männlichen Protagonisten fern aller familialen Bündnisse zwischen unheimlichen Kleiderreihen das reichlich kindliche Objekt seiner Begierde quasi in die Arme läuft, ist nicht ohne Beispiel. In Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1925) hat der Protagonist, der Wiener Arzt und tief in einer Ehekrise steckende Ehemann Fridolin, ähnliche Rettungsphantasien wie das Kind Amos, als ihm mitten in der Nacht im Kostümverleih Gibiser ein »zierliches helles Wesen« im Pierrettekostüm unterkommt, »als müßte er sie schützen«9 . Diese Begegnung mit der Tochter des Kostümverleihers, ebenfalls eine Kindfrau, die aus nebulösen Gründen mitten unter den Kostümen »zwei schlanke junge Her7 | Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Frankfurt a.M. 2004, S. 332. Zitate aus dem Roman werden fortan durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. 8 | Siehe Sigmund Freud: »Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens I: Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne«, in: Ders.: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u.a., Bd. 8: Werke aus den Jahren 1909– 1913, Frankfurt a.M. 1999, S. 66-77, hier S. 74f. 9 | Arthur Schnitzler: Traumnovelle, Frankfurt a.M. 2003, S. 36.
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ren im Frack«10 an einem »kleine[n] gedeckte[n] Tischchen«11 unterhält, ist ebenso wie die Szene bei Oz in einem Setting angelegt, das die europäische Geschichte präsent hält. Bei Oz ist der Wald, in dem der kleine Amos sich aufgrund der mangelnden Obacht seiner Tante verliert wie nur je ein Kind fahrlässiger Eltern sich im Märchenwald verloren hat, das Symbol für Europa schlechthin. »Wenn die europäischen Städte für uns verloren sind, so sind es die europäischen Wälder erst recht«12 , schreibt Fania Oz-Salzberger. Den Weg zurück in den Wald eröffne nur noch die Literatur von in Europa aufgewachsenen israelischen Autoren wie Lea Goldberg, deren Wälder zugleich Sehnsuchtsorte und Orte »von großer, lauernder Gefahr«13 seien. Dass Amos sich in einen Wald träumt, ist gleichzeitig Ausdruck der Europasehnsucht wie auch der Europafurcht seiner Eltern, die zu seiner eigenen wird. Die Traumnovelle thematisiert Europa ebenfalls, jedoch nicht über den Wald, sondern über ein Panorama kultureller Archetypen, mit denen sich jedes Märchen ausstatten ließe und die über die Kostüme Einzug in die Szene halten, fein nach Geschlechtern getrennt und zu einer danse macabre angeordnet, die vom Verfall kündet: Rechts und links hingen Kostüme aller Art; auf der einen Seite Ritter, Knappen, Bauern, Jäger, Gelehrte, Orientalen, Narren, auf der anderen Hofdamen, Ritterfräulein, Bäuerinnen, Kammerzofen, Königinnen der Nacht. […] Es war Fridolin zumute, als wenn er durch eine Allee von Gehängten schritte, die im Begriff wären, sich gegenseitig zum Tanz aufzufordern.14
Fridolin selbst wird von der Pierrette sogar der Rang eines Monarchen zuerkannt, wenn sie ihren Vater auffordert, ihm einen Hermelinmantel und »ein rotseidenes Wams«15 zu geben. Gibiser kontrolliert jedoch die Situation, schickt seine Tochter fort, und Fridolin verlässt das Geschäft mit der gewünschten Mönchskutte, noch immer voll geheimer und unausgelebter Lüste.
10 | Schnitzler: Traumnovelle, S. 37. 11 | Schnitzler: Traumnovelle, S. 36. 12 | Oz-Salzberger: Israelis in Berlin, S. 19. 13 | Oz-Salzberger: Israelis in Berlin, S. 19f. 14 | Schnitzler: Traumnovelle, S. 35. 15 | Schnitzler: Traumnovelle, S. 37.
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Auf das Kind im Kleiderwald hingegen wartet eine schaurige Überraschung. Als der Junge die vermeintliche Kindfrau endlich findet, entpuppt sie sich, märchenhaft, als ›Hexe‹: Zwar ist sie ebenso gepudert wie die Pierrette, aber deren schöne, begehrenswerte Attribute verwandeln sich in ihr grässliches Gegenteil. Aus Puderduft wird eine »dicke bläßliche Puderschicht […] mit Rougeinseln« (S. 334). Wie der männliche Protagonist John aus Nicholas Roegs Film Wenn die Gondeln Trauer tragen (Don’t look now [1973]), der einem kleinen Mädchen in Rot durch das Labyrinth der venezianischen Gassen folgt und am Ende einer psychopathischen, zwergenhaften Killergreisin gegenübersteht, die ihm nach kurzem, rätselhaften Kopfschütteln die Halsschlagader mit einem Beinmesser durchtrennt, begegnet auch Amos in der zunächst so lockenden Fee einer Bedrohung: Sie ist »keine Waldnymphe, sondern eine hämisch dreinblickende, fast schon greisenhafte Frau. Eine Zwergwüchsige. […] Grausig war sie, zwergenhaft, verhutzelt, […] und plötzlich streckte sie die Arme aus und streckte sie mir entgegen, […] versuchte, mich anzufassen, mich zu locken und gefangenzunehmen« (S. 334). Es ist nichts anderes als der Tod, der dem Jungen Amos als etwas Giftiges, Blässliches, Knochiges, Starräugiges und Verschrumpeltes in diesem zuvor noch so lustvoll durchjagten Wald begegnet, man könnte auch sagen, es ist die Todesfratze Europas, das andere Gesicht jener »barfüßige[n] Gänsehirtin« (S. 9), von der Amos als kleiner Junge träumt. Er hat »ihr Geheimnis aufgedeckt, daß sie kein kleines Mädchen war, sondern eine als Kind verkleidete Hexe. Jetzt würde sie mich niemals mehr lebendig aus ihrem dunklen Wald entkommen lassen« (S. 335). Die Bedrohlichkeit einer verführerischen, schutzlosen Weiblichkeit, die sich im Zentrum des Labyrinths als verderblich herausstellt, findet sich bereits bei Roeg und in Schnitzlers Traumnovelle, an deren Ende die Rückkehr Fridolins in seine Rolle als Ehemann und Vater steht. Bei Oz rettet den kindlichen Protagonisten eine arabische Vaterfigur.
3. D ER ANDERE V ATER In Todesangst flieht Amos in einen kleinen Schrank, in dem er sich versteckt und versehentlich eingeschlossen wird. Er sieht sich wiederum in einem mütterlich konnotierten Raum gefangen, gerät aber nur anfänglich in Panik. Eine Wandlung kündigt sich in den Metaphern von Schwangerschaft und Geburt an, wie ein »Fötus« kauert das Kind in seinem »Uterus«,
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»ein bißchen wie frei von allem« (S. 339) treibt es in der schöpferischen Ursuppe dieses »Tintenmeers«(S. 336). Die Auflösung aller Kategorien wird versinnbildlicht in dem Spielzeug, das Amos im Schrank findet, einem Schnappmetermaß, dessen Messband er immer wieder hervor- und wieder zurückschnellen lässt, um sich in seinem Gefängnis zu beruhigen, und dem mit seinen »Erektionen« (S. 341) und seiner »Gebärmutter« (S. 340) zwitterartige Qualitäten zugesprochen werden. Es ist dies das Symbol eines ambivalenten, quasi mütterlichen Bereiches, in dem das Kind ›feststeckt‹, der sowohl bedroht als auch birgt, schöpft und vernichtet. Aus diesem Bereich, dem Grund des Tintenmeeres, steigt mit Sicherheit die spätere Schöpfungskraft des Protagonisten auf. Seit der Romantik haben Dichter die Quelle der Poesie in diesem doppeldeutigen mütterlichen Bereich gesucht. Oz’ autobiographische Erzählung berichtet aber auch vom Suizid der Mutter des Jugendlichen Amos, der als Katastrophe seine Schatten über den gesamten Text wirft und erst auf den letzten Seiten beschrieben wird. Die ›Hexe‹ im Kleiderwald, »bösartig lauernd, aber auch herzzerreißend unglücklich« (S. 337), verkörpert neben dem todbringenden Europa zur Zeit des Faschismus auch die psychische Erschütterung durch die jahrelangen Depressionen und den Selbstmord der Mutter. Bezeichnenderweise ist es in der Szene im Geschäft eben nicht der eigene, biologische Vater, der in dieser Situation hilft, sondern ein fremder Mann, der aber von dem Kind sofort familiarisiert und vertraut gemacht wird. Es ist der arabische Besitzer des Bekleidungsgeschäfts, der väterliche wie mütterliche Qualitäten in sich vereint. Im Gegensatz zu Amos’ biologischem Vater, einem Intellektuellen und Bibliothekar, dessen herausragende Merkmale seine große Unsicherheit und sein unablässiges, eloquentes Sprechen sind, vertritt dieser arabische Vater die Sicherheit niemals hinterfragter Verwurzelung, das Schweigen und eine nonverbale ›Herzenssprache‹: »Dieser Mann beugte sich über mich und sagte mir etwas auf arabisch, etwas, das ich nicht verstand und doch in meinem Herzen in Worte übersetzte: Hab keine Angst, Junge, du brauchst von nun an keine Angst mehr zu haben.« (S. 341) Zugleich liegt in der körperlichen Berührung eine große Selbstverständlichkeit, der fremde Mann nimmt die Hand des Jungen, wärmt sie, zieht ihn aus dem Schrank heraus, trägt ihn, an seine Brust gedrückt, in das Büro und streichelt ihm zum Abschied die Wange. Die Beschreibung der Stimme deutet wiederum auf eine ›Beheimatung‹ des Mannes hin, die der verzweifelten Ortlosigkeit von Amos’ Eltern kontrastiv entgegengesetzt wird. Die Stimme war, so der Erzähler,
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»tief, staubig und angenehm, eine Stimme, die mich an einen schattigen Weg zwischen zwei Feldern am frühen Abend erinnerte« (S. 342). Die einzigen Worte, die das Kind versteht, sind Worte der Beruhigung, der Beschwörung und des Vertrauens, die »im Hebräisch der Araber« gesprochen werden, »als Frage und Antwort und Abschluss: ›Alles gut? Alles gut. In Ordnung.‹« (S. 342) Heimlich diesen Mann zu seinem anderen Vater erklärend und wohl wissend, welche Kränkung diese Einsetzung für den tatsächlichen Vater bedeutet hätte, phantasiert sich das Kind in eine neue, arabisch-israelische Genealogie und macht sich zum Nachkommen dieses Mannes, der symbolisch für die Verbundenheit und Vertrautheit mit dem Land Israel steht. Die physische Präsenz, das Oszillieren zwischen Mütterund Väterlichkeit sowie die nonverbal vermittelte Zärtlichkeit sind dabei Zeichen einer neuen Männlichkeit, die mit dem neuen zionistischen Ideal der ›eisernen Söhne‹ wenig zu tun hat.16 Der Sohn russischer und mitteleuropäischer Einwanderer ›heilt‹ durch die Knüpfung dieser imaginären Verwandtschaftsbande die Wunde der Verlorenheit und Heimatlosigkeit, die ihm von seinen Eltern als Erbe mitgegeben wurde und gegen die er sich immer wieder auflehnt, und wählt sich gleichzeitig einen Retter aus dem ambivalenten mütterlichen Reich. Die Figur des arabischen Ladenbesitzers ist mit großer Sympathie, ja, mit Liebe gezeichnet. In Oz’ autobiographischem Roman, der in erster Linie die Geschichte der Staatsgründung und die Leidens- und Erfolgsgeschichte der aschkenasischen Elite des Landes erzählt, besetzt diese Figur eine Außenseiterposition und bezeichnet sie einen Weg, der nicht begangen wurde. Der Erzähler weiß und benennt dies. »Wer weiß, wie er hieß?« fragt er sich am Ende der Sequenz. »Und ob er noch am Leben ist? In seinem Haus? Oder in Staub und Armut, in einem der Flüchtlingslager?« (S. 343) Im Kleinen hat das Kind Amos Klausner an dieser Stelle bereits im wahrhaft Freudschen Sinne seinen Familienroman geschrieben. Geht es doch bei Freuds ›Familienroman‹ um ebenjene Einsetzung der kindlichen oder adoleszenten Phantasie von einem anderen, ›besseren‹ Vater, die die 16 | Von Amos Oz’ Onkel, dem zionistischen Philologen und Historiker Joseph Klausner, stammt die Forderung nach Härte an die nachfolgenden Generationen: »Wenn wir eine Nation sein wollen, die Herr ist im eigenen Haus, müssen unsere Söhne aus Eisen sein.« (S. 107) Nationalismus und das neue Männlichkeitsideal des ›Muskeljuden‹ verknüpfen sich in diesem Zitat auf charakteristische Weise.
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Lösung von den Eltern ermöglichen soll. Im Verlauf des autobiographischen Romans wird der Protagonist diese Loslösung im großen Stil vollziehen, sogar den Namen des Vaters ablegen und sich Oz, ›Kraft‹, nennen, was zugleich die Bezeichnung für die zweithöchste Auszeichnung der israelischen Streitkräfte ist.17 In einem Kibbutz wird der 15-Jährige sich neue Eltern suchen und sein Leben nach neuen Idealen ausrichten. Wie weit die ›Entmannung‹ des biologischen Vaters geht, zeigt nicht nur diese spätere Umbenennung, sondern bereits ein kurzer und vernichtender Vergleich der Gerüche der beiden Väter, den das Kind zieht. »[A]nders als Vaters Geruch« sei der Geruch des arabischen Wahlvaters, »viel schärfer und voller, ein Geruch, von dem ich wünschte, mein Vater hätte ihn auch.« (S. 342)
4. D IE EISERNEN S ÖHNE BEI E Y TAN F OX Wenige Jahre vor dem 60. Jahrestag der israelischen Staatsgründung erzählt der Film Walk On Water des israelischen Regisseurs Eytan Fox von der Krise des israelischen Männlichkeitsideals vom ›eisernen Sohn‹, die im Film zugleich eine genealogische Krise ist. Diese Krise und ihre Lösung bilden die Vorgeschichte für die Gründung einer interkulturellen, deutschisraelischen Familie. Dafür müssen die Figuren sich – vor dem Hintergrund der Shoah und den Verstrickungen ihrer Herkunftsfamilien – ihrer eigenen Rolle in den Familienerzählungen von Genealogie und Kontinuität stellen. Auf israelischer wie deutscher Seite muss ein Bruch mit der väterlichen Geschichte herbeigeführt werden. In einem Fall geschieht dies über eine Entscheidung zum Gewaltverzicht und im anderen Fall sogar durch einen Mord. Erst der Bruch mit der Generation der Väter und Großväter und deren jeweiliger Haltung zur Katastrophe der Shoah sowie die sich in mehreren Anagnorisis-Momenten einstellende Erfahrung des Fremden als etwas zutiefst Eigenem ermöglichen die Überwindung der Männlichkeitskrise und die psychische Heilung – und führen schließlich in die Utopie einer interkulturellen Familie im wiedergefundenen Paradies eines Kibbutz’. Fox’ Interpretation des ›eisernen Sohnes‹ ist die Figur des MossadAgenten und Auftragskillers Eyal (Lior Ashkenazi). Seine auf eine ›Tränen17 | Vgl. Miller: I Killed My Grandmother, S. 322: »The Oz decoration is the second highest medal given for heroism in the Israeli army«.
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drüsenfehlfunktion‹ zurückzuführende Unfähigkeit zu weinen sowie die Kaltblütigkeit, mit der er in der Exposition des Films in Istanbul einen Auftragsmord an einem arabischen Terroristen erledigt, machen ihn zu einer überzeichneten israelischen Machofigur. Mit dem Tableau der dreiköpfigen arabischen Familie des Terroristen – Vater, Mutter, kleiner Sohn – auf dem Boot nach Üsküdar im asiatischen Teil Istanbuls hebt der Film an und erhält er seinen Rahmen. Am Anfang steht die Familie, die Eyal durch den Mord an dem Vater zerstört, was durch ein close-up auf das tränenüberströmte Gesicht des kleinen arabischen Jungen ins Bild gesetzt wird, am Ende steht Eyals eigene, wiederum dreiköpfige Familie aus Vater, Mutter und kleinem Sohn, der in den letzten Einstellungen des Films ebenfalls weint, aber von Eyal fürsorglich beruhigt wird. Durch diesen ›Familienrahmen‹ zeichnet der Film sich als Narrativ von der Entstehung von Männlichkeit aus, die eben nicht, wie Walter Erhart in seiner Studie über ›Familienmänner‹ gezeigt hat, durch Aufzählung der »bekannten Stereotypen des ›Männlichen‹ erfassbar«18 ist. Vielmehr muss ›Männlichkeit‹, so Erhart, seit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in einem Dreischritt von der Loslösung vom Ort der Mutter, vom Eintritt in die männlich-väterlich geprägte Welt und von der Fortführung der Familiengeschichte an einem neuen (weiblichen) Ort immer wieder neu ausgehandelt und erzählt werden.19 Es ist dieser letzte Schritt, an dem der Protagonist zunächst scheitert. Eyals Fahrt über den Bosporus von Europa nach Asien, oder wie die Stimme aus dem Schiffslautsprecher ansagt: »between Europe and the Middle East«20, zeichnet ihn von Beginn an als unfreiwilligen Grenzgänger aus, der seine Geschichte in der Bewegung zwischen den beiden Kontinenten und Welten zu bewältigen hat. Erst die gegenläufige Bewegung vom Nahen Osten nach Europa, nach Berlin, und schließlich die Aufrechterhaltung dieser Verbindung bringen die heilende Katharsis. Von seinem Mordauftrag nach Tel Aviv zurückgekehrt, entdeckt Eyal im Schlafzimmer seines Apartments seine Frau tot auf dem Bett. Ein Kameraschwenk auf einen Brief mit seinem Namen darauf, der auf dem Nachttisch liegt, verweist auf ihren Selbstmord. Der Szene der Entdeckung geht 18 | Walter Erhart: Familienmänner. Über den Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001, S. 8. 19 | Vgl. Erhart: Familienmänner, S. 53. 20 | Allen Zitaten aus dem Film liegt die Untertitelfassung der deutschen DVD von Walk on Water zugrunde.
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eine Kamerafahrt durch den Flur der Wohnung aus der Perspektive Eyals voraus. Das Weiß des Flures wird in der Farbe der Bettwäsche, des Nachthemds und der blassen Haut der toten Iris aufgenommen und etabliert Eyals Wohnung als einen Ort des Todes und der Sterilität. Eyal ruft seinen Chef Menachem an, der, wie aus einem Gespräch der beiden später deutlich wird, ein in Deutschland geborener Überlebender der Shoah ist und Eyals Mutter, ebenfalls eine Überlebende, noch aus Berlin kannte. Die Abwesenheit von Familie im Leben Eyals wird in dieser Sequenz deutlich hervorgehoben: Die Figur des älteren Vorgesetzten Menachem tritt als Eyals Wahlvater auf, und die Kollegen vom Geheimdienst bilden seine männlich dominierte Ersatzfamilie. Infolge des Suizids seiner Frau gerät Eyal in eine psychische und berufliche Krise und wird offiziell beurlaubt. Er erhält von seinem Vorgesetzten Menachem jedoch den Auftrag, gegenüber dem Berliner Axel Himmelmann (Knut Berger) einen Touristenführer zu spielen. Der junge Axel hat vor, seine nach Israel ausgewanderte Schwester Pia (Caroline Peters) in einem Kibbutz zu besuchen und das Land zu bereisen. Als Guide getarnt soll Eyal die Geschwister über den Verbleib ihres Großvaters ausspionieren, der Mitglied der SS und maßgeblich in Verbrechen des Holocaust verstrickt war. Es ist bemerkenswert, dass der zunächst widerstrebende Eyal in der Begegnung mit Pia und Axel nicht nur mit deutschem links-liberalen Gedankengut, einer betonten kulturellen Offenheit, Neugierde sowie Akkulturationsbereitschaft und nicht zuletzt auch Axels Homosexualität konfrontiert wird, sondern zunächst einmal mit einem Blick auf sein eigenes Land, den allein die interkulturelle Erfahrung ermöglicht. Nachdem Eyal Axel vom Flughafen abgeholt hat, verschwindet die Tel Aviver Szenerie mit ihren kühlen, weißen und sandfarbigen, spärlich möblierten Interieurs und der silbrigen Skyline. Das erste, was dem Auto des vermeintlichen Guides auf dem Gelände des Kibbutz entgegenkommt, ist eine buntgekleidete Kindergruppe, ein deutlicher Verweis auf die im positiven Sinne kindlich-offen konnotierte Figur des Erziehers Axel. Im Film wird der Kibbutz auf eine erstaunlich positive Art als ein farbiger und vor allem lebendiger Gegenraum zu der mit dem Tod assoziierten Stadt Tel Aviv gesetzt. In Pias KibbutzWohnung dominieren Rottöne, und sie selbst empfängt ihren Bruder und dessen Guide am Ufer des Sees Genezareth enthusiastisch im roten Kopftuch und blauen Ölzeug. Fox etabliert in seinem Film ausgerechnet das Milieu des Kibbutz, der im Israel der Gegenwart als die soziale und politische
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Utopie, die er einmal war, ausgedient hat, als einen Ort der Verwurzelung, der Traditionen, der Familie, Gemeinschaft und der Produktivität im besten Sinne. Eine Szene zeigt einen Tanzabend im großen Speisesaal, die Kibbuzniks tanzen israelische Volkstänze, und die deutschen Geschwister machen begeistert mit. Auch in dieser Szene bleibt Eyal bewusst Außenseiter und Beobachter, markiert als gleichermaßen realistische wie zynische Figur, die in der Tradition nicht beheimatet ist. Die aus dem Überwachungsauftrag entstehende Freundschaft zwischen Eyal und Axel steht im Mittelpunkt des Films, führt Krise und Auflösung der Handlung herbei und ermöglicht die interkulturelle Familienkonstellation, die am Schluss steht. Nachdem Eyal in der ›Kriegerwelt‹ des Geheimdienstes versagt hat, steht sein Selbstbild auf dem Spiel und er reagiert entsprechend abwertend auf den neugierig-naiven, offenherzigen und optimistischen Axel, indem er die eigene Furcht vor ›Unmännlichkeit‹ abwehrt. Nicht zufällig nennt er das Geschwisterpaar in Gegenwart seines Vorgesetzten einmal verächtlich »Hänsel und Gretel«. In den Gesprächen, die Eyal und Axel im ersten Teil des Films vor wechselnden Landschaften und touristischen Attraktionen Israels und im zweiten Teil in der wechselnden Kulisse von Berliner Schwulenbars, Currywurstbuden und S-Bahnen führen, geht es um den Konflikt der Israelis mit den Palästinensern und die Problematik der Selbstmordattentate, um Beschneidung und Geschlechterrollen, um Vaterschaft, Vater-Sohn-Konflikte, um die Frage nach der Schuld der Deutschen und insbesondere nach Axels persönlichem Schuldempfinden und schließlich um die Themen Homosexualität und Körper. Die Figur des homosexuellen Axel wird mit zahlreichen unverhohlenen Christus-Anspielungen ausgestaltet. So trägt er bei seiner Ankunft in Israel ein T-Shirt der Band Miracle Workers, und beim Ausflug an den See Genezareth balanciert er auf einem Ast über dem Wasser, bis Eyal ihm zuruft: »Hey Jesus! They lied to you! It’s impossible to walk on water!« Statt das Unternehmen seines Vaters zu übernehmen, ist Axel Erzieher geworden. Die Figur ist sympathisch und positiv gezeichnet, gleichzeitig deutet der Film aber auch an, dass die Entwicklung einer solchen Persönlichkeit für den Deutschen Axel möglich, für den Israeli Eyal aber unmöglich war. Es ist vielleicht diese Erkenntnis, die Axel motiviert, an Eyals Stelle den Mord an Alfred Himmelmann zu begehen, seinen Großvater somit selber zu töten und als Stellvertreter jene Schuld auf sich zu nehmen, die sonst Eyal hätte tragen müssen.
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Durch das Abhören einiger Gespräche der Geschwister findet Eyal schließlich heraus, dass der Großvater und ehemalige SS-Mann in Lateinamerika noch am Leben ist und von Axels und Pias Eltern finanziell unterstützt wird. Pia erzählt ihrem Bruder, sie habe mit den Eltern gebrochen und sei nach Israel gegangen, als sie davon erfahren habe, da sie nicht akzeptieren könne, dass ihr Vater seinen Vater, den Naziverbrecher, nicht habe ausliefern wollen. Eyal wird unter dem Vorwand, Axel besuchen zu wollen, nach Berlin geschickt, da die Vermutung besteht, der greise Großvater werde zu einem Familienfest erstmals wieder nach Deutschland kommen.
5. A NAGNORISIS Im Gegensatz zu den dramatis personae in Lessings Nathan der Weise, jenem anderen, ungleich älteren und kanonisierten Drama über die Entstehung einer interkulturellen und interreligiösen Familie zwischen ›Deutschland‹ und Jerusalem, erweisen sich die Protagonisten in Walk On Water nicht von einem Moment auf den anderen als blutsverwandt. Dennoch geht es in diesem Film, ebenso wie laut Ortrud Gutjahr in Lessings Aufklärungsdrama, um das »Hinterfragen von Vorurteilen« und um eine Anleitung, sich in einem aufklärerischen wie therapeutischen Sinn »verstehend in Andere hineinzuversetzen«21 . Wie im Nathan sind die Figuren zum Teil traumatisiert, und wie diese erfahren sie in den Anagnorisis-Szenen den plötzlichen Umschlag des Fremden in immer schon Eigenes. In einem Berliner S-Bahn-Schacht begegnen Eyal und Axel zunächst einer Gruppe von gutgelaunten Transvestiten. Immer wieder stellt der Film das schwule Milieu in Berlin, aber auch in Tel Aviv als positive Gegenwelt aus – sei es im Kontrast zur Welt des Geheimdienstes, in der Eyal zuhause ist, oder zum großbürgerlichen Lebensstil der Himmelmanns in ihrer Villa am Wannsee. Allerdings ist diese positive Gegenwelt auch eine ständig bedrohte. Unmittelbar nach einem Gespräch mit den Transvestiten wird die 21 | Ortrud Gutjahr: »Was heißt hier Aufklärung? Gotthold Ephraim Lessings ›Nathan der Weise‹ und die Probe aufs Wort mit Elfriede Jelineks ›Abraumhalde‹ in Nicolas Stemanns Inszenierung«, in: Dies. (Hg.): ›Nathan der Weise‹ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit ›Abraumhalde‹ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg, Würzburg 2010, S. 43-70, hier S. 54.
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Gruppe von Skinheads angegriffen. Die Kampfszene endet erst, als Eyal eine Pistole zieht und in fließendem Deutsch zu einem der Skinheads sagt: »Verpiß dich, du Arschloch, oder ich blas’ dir das Hirn ’raus!« Als Bewährungsprobe für die Freundschaft der beiden Protagonisten hat diese Szene auch eine Anagnorisisfunktion: Axel erfährt, dass Eyal Deutsch spricht, weil seine Mutter in Berlin geboren wurde; Eyal dagegen erlebt den von ihm als »Hänsel« verspotteten Axel als nicht weniger aggressiv als sich selbst. Axels verbaler Ausbruch: »It’s too bad you didn’t kill him, dieses Stück Scheiße. Those people pollute the world, they turn everything into shit!« ist keinen Deut weniger verachtend als Eyals Einschätzung palästinensischer Selbstmordattentäter. Was der Film in Szene setzt, ist die Dekonstruktion einer angenommenen Dichotomie zwischen Deutschen und (jüdischen) Israelis.22 Die beiden einander vermeintlich fremden Männer sind eigentlich bereits Brüder, so wird suggeriert, bevor sich ihre verwandtschaftliche Beziehung durch die Heirat Eyals mit Pia realisiert.
6. F AMILIENFEST ALS O PFERFEST Die mehr an die 1950er als an die 2000er Jahre erinnernde großbürgerliche Kulisse einer Villa am Wannsee mit Kronleuchtern und Kammermusik bildet die Bühne für die Katharsis in Walk on Water. Wie Karin Bruns festgestellt hat, erfüllen Szenen der Festlichkeit und Gastlichkeit im Film nicht selten den Zweck, »deregulierte Bürgerlichkeit und Zivilisiertheit« ebenso wie »das Sichtbarmachen […] von Alterität«23 auszustellen. Das Geburtstagsfest für Axels Vater, den Sohn des Naziverbrechers Alfred Himmel22 | Es handelt sich hierbei um eine Dichotomie, die auch für andere Narrative über deutsch-israelische Beziehungen grundlegend ist, so etwa in Romanen und Erzählungen Maxim Billers. Vgl. Linda E. Feldmann: »Through a Distant Lense: Cultural Displacement, Connection, and Disconnection in the Writing of Maxim Biller«, in: Dies. und Diana Orendi (Hg.): Evolving Jewish Identities in German Culture. Borders and Crossings, Westport und London 2000, S. 131-146, hier S. 139: »[T]he narrator [in einer von Billers Erzählungen, L. E.] advocates the moral necessity of a dichotomy between Germans and Jews, even unto the third generation.« 23 | Karin Bruns: »Ungebetene Gäste. Alterität, Essensritus und Geschlecht in New Hollywood-Filmen und kulinarischen Doku-Soaps«, in: Peter Friedrich und
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mann, steuert wie so viele andere berühmte Familienfeste in Literatur und Film direkt auf die Enthüllung eines Familiengeheimnisses zu und führt in die Zerstörung der familialen Ordnung und zur Absetzung der Väter.24 Noch einmal spielt der Film mit dem Motiv der Travestie. Kaum ist Axel mit Eyal, den er doppeldeutig als »Freund« einführt, im Festsaal angekommen, bittet er auch schon um Aufmerksamkeit; er habe für seinen Vater und dessen Gäste eine kleine Überraschung vorbereitet. Statt eine Rede zu halten, legt er eine israelische CD ein und beginnt, den Gästen einen israelischen Rundtanz beizubringen. Die steife Festgesellschaft tanzt, in Travestie der Tanzszene im Kibbutz, bereitwillig mit, aber Axels Vater erkennt die Provokation seines Sohnes als Versuch, die vorgesehene Ordnung des Festes zu stören und über den fremden Klang dem verschwiegenen Teil der Familiengeschichte im Ablauf des Festes doch noch Gehör zu verschaffen. Auf dem Höhepunkt des Festes endlich erscheint als Überraschungsgast ein gebrechlicher, geisterhafter Greis mit einem Rollator: der lange verschollen geglaubte Großvater. Für Axels Vater ist in dieser Situation erstmalig genealogische Kontinuität wiederhergestellt, und er ist stolz, sie vorzuführen: »Axel, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, dass heute mein Vater und mein Sohn bei mir sind«, verkündet er. Parallel dazu montiert ist die Auseinandersetzung Eyals mit seinem Wahl- und Ersatzvater Menachem, den er kontaktiert, um ihm mitzuteilen, dass er den Naziverbrecher Alfred Himmelmann mit eigenen Augen gesehen habe, und um den Vorgesetzten um weitere Instruktionen für eine Festnahme zu bitten. Menachem gesteht, er habe Eyal diesen Auftrag gegeben, damit er Himmelmann töte. Menachems Position »Ich will ihn kriegen, bevor Gott ihn kriegt!« und Eyals Erwiderung »Bist du verrückt? Wir holen ihn ’raus und bringen ihn nach Israel vor Gericht!« bezeichnen zwei Positionen in der Debatte um den Umgang mit Naziverbrechern, wobei sich Eyals Ablösung von seinem Wahlvater bereits in der Position »Recht, nicht Rache«
Rolf Parr (Hg.): Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation, Heidelberg 2009, S. 335-351, hier S. 348. 24 | Hier denke ich an Beispiele wie Thomas Vinterbergs Dogma-Film Das Fest (Festen [1999]), Tennessee Williams’ Drama Die Katze auf dem heißen Blechdach (Cat on a Hot Tin-Roof [1955]) oder Jonathan Franzens Roman Die Korrekturen (The Corrections [2001]).
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andeutet, eine Formel, die von Simon Wiesenthal stammt25 und somit Eyal mit einer anderen, väterlichen Figur von großer moralischer Ausstrahlung in Verbindung bringt. Infolge dieser Auseinandersetzung und der Lossagung von der Vaterfigur Menachem scheitert Eyal an dem Auftrag, Alfred Himmelmann zu töten. Axel, der inzwischen Eyals wahre Identität herausgefunden hat, überrascht ihn am Bett seines schlafenden Großvaters. Als Eyal das Zimmer unverrichteter Dinge und ohne ein Wort verlassen hat, tötet Axel selbst seinen Großvater, indem er dessen Beatmungsmaschine ausstellt. Fox gestattet sich hier einiges an Pathos, vielleicht, um die stellvertretend für den Freund zum Mörder werdende Figur Axels zu entlasten. So fährt dieser dem Großvater forschend und zärtlich über das Gesicht, bevor er den Schalter umdreht, wartet und schließlich das Zimmer verlässt. Das Streicheln deutet möglicherweise auf einen inneren Konflikt hin, der aber im Weiteren nicht gezeigt oder erkundet wird. Das Gesicht Axels bleibt ausgespart, in Rückenansicht sieht man ihn aus dem Zimmer gehen. Der Rest des Films ist ausschließlich auf Eyals Entwicklung und auf die Lösung seiner Krise fokussiert, und hier liegt, meiner Meinung nach, ein Problem: Die Entscheidung Axels zum Mord wird im moralischen System des Films nicht problematisiert, sondern durch die darauffolgende Familienszene mit Eyal, Pia und ihrem kleinen Sohn als erlösende Handlung ausgestellt. Die Tötung Alfred Himmelmanns durch seinen eigenen Enkel und die Verweigerung des väterlichen Auftrags, die beide Protagonisten leisten, bringt die Katharsis: In der darauffolgenden Szene beichtet Eyal dem Freund den Selbstmord seiner Frau und erzählt, sie habe ihm in ihrem Abschiedsbrief die Rolle eines figurierten Todes zugewiesen, und er wolle und könne nicht mehr töten. Schließlich bricht er in Tränen aus. Das buchstäbliche und körperliche Aufbrechen des ›eisernen Sohnes‹ in Form seines Tränenausbruchs verweist auch auf das Ende der genealogischen Krise. Die Figur des erstmals weinenden Eyal wird in die Nähe der weinenden und bis zur Auflösung weichen Väter, etwa bei Lessing, aber auch in der jiddischen Literatur (zum Beispiel in Scholem Alejchems Tewje der Milchmann) gerückt. Die stillgestellte Lebensgeschichte Eyals als Sohnesfigur kann durch die Stellvertreterfunktion Axels endlich weitergeführt und Eyal selbst ein Vater werden. 25 | Vgl. den Titel von Wiesenthals Autobiographie: Simon Wiesenthal: Recht, nicht Rache, Frankfurt a.M. 1988.
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Das Familienfest schlägt somit im doppelten Sinne in ein Opferfest um – welches stets neue Ordnungen hervorbringt und in diesem Fall die Entstehung einer interkulturellen Familie ermöglicht. Der Täter Alfred Himmelmann wird geopfert, um die Schuld der Familie Himmelmann zu tilgen. Zugleich opfert Axel seine zu Anfang des Films betonten Ideale der Gewaltlosigkeit und übernimmt – und das ist bemerkenswert – als eindeutig mit christologischer Symbolik befrachtete Figur für Eyal die Schuld an dem Mord.
7. D IE › HEILENDE ‹ FAMILIE Der Film endet mit dem Tableau einer neugegründeten, heilig-heilenden Familie aus Vater, Mutter und Sohn. Eyal, mit dickem goldenem Ehering am Finger, hebt ein schreiendes Baby aus einem Kinderbettchen in der vom Anfang des Films bekannten bunten Kibbutz-Wohnung Pias. Aus dem Off hört man Eyals Stimme einen E-Mail-Text an Axel in Berlin sprechen, er finde, »being a father is not that terrible«, und er berichtet, er werde gleich zur Melonenernte gehen. Die interkulturelle Familie mit ihrer dreiköpfigen Struktur und ihrer Verbindung nach Deutschland greift die zu Beginn des Films im Motiv der Stadt Istanbul ins Bild gesetzte, nun, am Ende der Handlung, noch einmal gefestigte Verbindung zwischen Europa und dem Nahen Osten auf, um die es schon Lessing in seinem Nathan zu tun war.26 Der Ort, den Fox für die israelisch-deutsche Familie vorsieht, ist nicht etwa eine Großstadt wie Berlin oder Tel Aviv, sondern der Kibbutz, der mit seiner inselartigen Abgeschiedenheit und seiner gewissen Autarkie, mit seinem Rückzugscharakter und der idealisierten Nähe zu Natur und Landwirtschaft Züge der Utopie, des Nicht-Ortes, trägt. Fox scheut sich nicht, den Kibbutz erneut utopisch aufzuladen und seinen israelischen Protagonisten ausgerechnet dort glücklich werden zu lassen. Als Ort des Wachstums und Gedeihens wie der Bewahrung von Traditionen und zugleich als Ort der Figur Pia, die ihn während der gesamten Filmhandlung kaum verlässt, ist der Kibbutz auch als der weiblich konnotierte Ort zu verstehen, an den in den Erzählungen von der Entstehung von Männlichkeit der Familienmann am Ende zurückkehren muss.27 26 | Vgl. Gutjahr: Was heißt hier Aufklärung?, S. 54. 27 | Vgl. Erhart: Familienmänner, S. 53.
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Aber nicht nur der Ort, auch das Paar und die Familie selbst können als Utopie verstanden werden. Roberto Bigazzi hat darauf hingewiesen, dass nach Zusammenbrüchen politischer Systeme oder Ideologien, so etwa, wenn die Errichtung einer neuen nationalen Identität geleistet werden muss, utopische Szenarien und besonders das Paar als Utopie vermehrt als literarischer und filmischer Topos auftauchen.28 Erst aus der Geschichte des Bruches mit der Vätergeneration, für die die Söhne stellvertretend die Sühne übernehmen, entsteht in Walk On Water mit der interkulturellen Familienkonstellation eine Utopie für die Heilung der ›eisernen Söhne‹.
8. F A ZIT Sowohl Fox’ Film als auch Oz’ autobiographischer Text weisen immer wieder intertextuelle Spuren auf, durch die europäische, auch christliche Motive in die Narrative eingewebt werden und Europa als den Sehnsuchts- und Schreckensort in der israelischen Kultur aufscheinen lassen. Gleichzeitig gelingt es den Protagonisten in der Begegnung mit dem Anderen, erstarrte Männlichkeitsbilder zu überwinden und neue zu entwerfen. Was bei Oz nur halbreal durchgespielt wird, als ein Moment der emotionalen Nähe und Wahlverwandtschaft zwischen der arabischen Vaterfigur und dem Sohn europäisch-russisch-jüdischer Einwanderer, mündet nicht in die Gründung einer neuen Familie, sondern bleibt eine Episode. Aufgezeigt wird dadurch jedoch ein zweiter, möglicher Sehnsuchtsort, der die israelische Identität mitbestimmt: der arabische. Während die Begegnung dem Protagonisten zur Urszene seiner Identität als Israeli und als Dichter wird, verweist er zugleich deutlich auf die fatalen Folgen für den ›Anderen‹, die in dieser Begegnung ebenfalls angelegt sind und mitschwingen. Fox inszeniert ebenfalls eine Geschichte von der Begegnung mit dem Fremden, dem sogar als Feind konnotierten ›Anderen‹, der emotionale Bewegung und Erlösung in eine Situation der genealogischen Stagnation bringt. 28 | Vgl. den Titel von Roberto Bigazzis Seminar Donne e uomini del dopoguerra: utopie di rinnovamento: »Il romanzo italiano del dopoguerra tra gli anni Quaranta e Cinquanta si impegna in una analisi storica e insieme utopica della società con l’obbiettivo di ricostruire una identità nazionale diversa da quella fascista«, in: www.unisi.it/synapsis/paginaintera.htm (letzter Zugriff am 10.03.2011).
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Mithilfe der Kategorien von Verwandtschaft wird in diesen beiden Versuchsanordnungen jeweils das eigentlich Fremde und Bedrohliche in den intimsten Kreis familialer Zuneigung und Geborgenheit eingelassen, wo es seine heilende Wirkung auf Individuen ebenso wie auf scheinbar unverrückbare Konstellationen zwischen Opfern und Tätern entfaltet. Diese ›Heilkraft der Familie‹ aber bleibt eine gebrochene, momenthafte, um einen hohen Preis errungene.
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Die Emanzipation der Subalternen Monica Alis interkultureller Familienroman Brick Lane Jutta Weingarten
1. F AMILIE UND G ENER ATION ALS THEMEN INTERKULTURELLER L ITER ATUR G ROSSBRITANNIENS Obwohl der Familienroman in der britischen wie auch in der amerikanischen Literaturgeschichte eine durchaus lange Tradition besitzt, ist diese Gattung in den letzten Jahren ein wenig aus dem Fokus der anglistischen Literaturwissenschaft geraten. Gattungshybridisierung, Transgressionen von Gattungsgrenzen, Spiele mit generischen Konventionen oder auch die Medialisierung der Erzählliteratur machen den zeitgenössischen britischen Roman zu einem vielfältigen Forschungsgebiet, in dem vergleichsweise traditionellere Erzählformen, wie beispielsweise der Familienroman, an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt werden.1 Im Bereich der englischsprachigen interkulturellen Literatur2 hingegen scheint sich dieser 1 | Dass die Anzahl der Genrebegriffe, die allein zur Bezeichnung von hybriden Ausprägungen des zeitgenössischen Romans erarbeitet wurden, kaum mehr überschaubar ist, diskutieren unter anderem Birgit Neumann und Ansgar Nünning: »Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie und Gattungsgeschichte«, in: Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Trier 2007, S. 1-28, hier S. 7. In diesem Sammelband, der Aspekte wie Gattungshybridität und Gattungsvervielfältigung bespricht und in sehr interessanten Analysen Tendenzen in der Gattungs ent wicklung aufzeigt, fehlen Besprechungen des Familienromans wie auch des verwandten Genres des Genera tionenromans. 2 | Unter dem Begriff ›interkulturelle Literatur‹ sollen hier allgemein Literaturen ethnischer Minoritäten in Großbritannien verstanden werden. Es wird dem-
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Trend nicht zu bestätigen, wie die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema belegt. Arbeiten zum black british Bildungsroman oder auch zu interkultureller Kriminalliteratur können als Zeugnisse eines gegenläufigen Trends auf diesem Gebiet gewertet werden.3 Die Popularität der interkulturellen englischsprachigen Literatur ist jedoch nicht nur unter Literaturwissenschaftlern verbreitet, sondern lässt sich auch mit einem Blick auf den wohl bedeutendsten Literaturpreis Großbritanniens, den Man Booker Prize, verdeutlichen, dessen Erfolg wiederum auf das Lesepublikum zurückwirkt. Die Liste der nominierten und preisgekrönten Werke belegt, dass die interkulturelle Erzählliteratur den britischen Buchmarkt im Sturm erobert hat. Preisträger von V. S. Naipaul, der 1971 für In a Free State ausgezeichnet wurde, bis Aravind Adiga, der 2008 mit seinem Debut The White Tiger den Booker Prize gewann, entwickeln sich oft bereits im Vorfeld der Preisverleihung zu internationalen Bestsellern, die ihren jeweiligen Verlagen lukrative Umsätze bescheren. Somit bedingen sich die Entwicklung der Veröffentlichungen, die zur interkulturellen Literatur gezählt werden können, ihre Popularität bei den Lesern, der Verkaufserfolg und ihre Repräsentation auf den Long- und Shortlists der wichtigen Literaturpreise gegenseitig. Die sich dadurch verändernde Publikationspolitik vieler Verlage kritisiert Graham Huggan als die »globale Kommodifizierung kultureller Differenzen«4 und spielt damit auf die Vermarktungsstrategien postkolonialer Literaturen durch europäinach ein weiter gefasstes, integratives Konzept der Inter kul turalität zugrunde gelegt, wie es Roy Sommer in Fictions of Migration: Ein Beitrag zur Theorie und Gattungs typologie des zeitgenössischen interkulturellen Romans in Großbritannien, Trier 2001, S. 20-56, vorschlägt. Dieses lenkt »den Blick von der ›Zentrum‹/›Peripherie‹-Dynamik auf den Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Identität sowie kultureller Alterität, also auf die Konstitution des Subjekts im diasporischen Kontext«. Sommer: Fictions of Migration, S. 57. 3 | Siehe hierzu u.a. Britta Freitag-Hild: Theorie, Aufgabentypologie und Unterrichtspraxis inter- und transkultureller Literaturdidaktik: British Fictions of Migration im Fremdsprachenunterricht, Trier 2010, Susanne Reichl: Cultures in the Contact Zone: Ethnic Semiosis in Black British Literature, Trier 2002, Mark Stein: Black British Literature: Novels of Transformation, Columbus 2004, und Sommer: Fictions of Migration. 4 | Graham Huggan: The Post-Colonial Exotic: Marketing the Margins, London 2001, S. VII (Übersetzung J. W.).
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sche und US-amerikanische Verlage an. Trotz dieser vermeintlichen Kommerzialisierung kultureller Differenzen, die sich laut Huggan in »exoticist discourses«5 niederschlägt, spiegelt diese Entwicklung jedoch auch in besonderem Maß das Interesse der Leserschaft an Themen und Schreibweisen der interkulturellen Literatur wider, die sich auf verschiedene Arten und Weisen mit der multikulturellen Gesellschaft Großbritanniens auseinandersetzt. Die Themen ›Familie‹ und ›Generation‹, die in diesem Beitrag im Mittelpunkt der Untersuchung des britischen interkulturellen Familienromans stehen, nehmen auch in vielen Werken, die nicht explizit dieser Gattung zugeordnet werden, eine zentrale Rolle ein.6 Während die Repräsentation der Familie in interkultureller Literatur sofort als zentrale, vielseitige Thematik, die etwa Spannungen zwischen familiärer Tradition und liberaler Gesellschaft oder den Verlust der Großfamilie im Zuge der Migration verdeutlichen kann, offensichtlich ist, wird das Konzept ›Generation‹ häufig auf die Zählung der Einwanderergenerationen, sowohl auf der Ebene der Autoren als auch der Figuren, reduziert. Dabei kann durch die Aufschlüsselung des Konzepts ›Generation‹ in die beiden Komponenten ›Genealogie‹, also die Familienforschung, und ›Generationalität‹, die Verortung des Individuums in seiner spezifischen Position innerhalb der Gesellschaft,7 und die möglichen Intersektionen beider theoretischer Annahmen ein weiterer Interpretationsansatz eingeführt werden. Eine Untersuchung der Repräsentation von Generationen in interkultureller Literatur ermöglicht es einerseits, die Familienkonstellationen der Figuren zu analysieren und in einen genealogischen Zusammenhang zu bringen, und andererseits mit Fokus auf einzelne Charaktere die 5 | Huggan: The Post-Colonial Exotic, S. IX. 6 | So könnten beispielsweise auch die folgenden Romane als Familienromane gelesen werden: Meera Syal: Anita and Me, London 1996, Zadie Smith: White Teeth, London 2000, Preethi Nair: 100 Shades of White, London 2003. 7 | Zu Generationen in der Literaturwissenschaft siehe auch Karl Hoppe: »Das Problem der Generation in der Literaturwissenschaft«, in: Zeitschrift für Deutschkunde 44 (1930), S. 726-748, Hans Ulrich Gumbrecht: »Generation«, in: Klaus Weimar u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin und New York 1997, S. 697-699, Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer: Das Konzept der Generation: Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008, und Gerhard Lauer (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung, Göttingen 2010.
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Selbst-, aber auch die Fremdverortung durch andere zu bestimmen. Die sich aus möglichen Verschränkungen der beiden Perspektiven ergebenden Spannungen machen die interkulturelle Literatur zu einem besonders interessanten Untersuchungsgegenstand. In diesem Beitrag wird die Gattung des Familienromans aus einer interkulturellen Perspektive beleuchtet, da in ihr die beiden Konzepte ›Familie‹ und ›Generation‹ in besonderem Maße zum Tragen kommen. Dazu wird exemplarisch der 2003 erschienene und ebenfalls für den Booker Prize nominierte Erstlingsroman der britisch-asiatischen Schriftstellerin Monica Ali, Brick Lane (2003), in der Gattung des Familienromans verortet. Nach einer kurzen Diskussion der generischen Merkmale des angelsächsischen Familienromans wird untersucht, inwiefern Brick Lane als dieser Gattung zugehörig beschrieben werden kann. Dadurch wird gezeigt, wie sich der interkulturelle Familienroman traditioneller Gattungskonventionen bedient, um eine durch die Migrationserfahrung bereicherte Familienkonstellation darzustellen. Der Interpretation liegt die These zu Grunde, dass Monica Ali in Brick Lane die Gattung des Familienromans nutzt, um die Emanzipation der Hauptfigur parallel zur Desintegration der Familie zu inszenieren. Um dies zu belegen, wird die sich wandelnde Familienkonstellation untersucht und eine Verbindung zwischen wachsender Selbstbestimmung der Protagonistin und langsamem Auseinanderbrechen der Familie herausgearbeitet.
2. B RICK L ANE ALS INTERKULTURELLER F AMILIENROMAN Trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner Popularität und der Platzierung auf der Shortlist des Booker Prize wurde Brick Lane in Großbritannien durchaus kontrovers diskutiert. Während Kritiker einerseits die Tiefe, Eleganz und Genauigkeit lobten, mit der Monica Ali ihre Charaktere darstellt – wie etwa Diana Abu-Jaber in einer Rezension8 –, sah sich die Autorin andererseits harscher Kritik für ihr von den Bewohnern der na8 | Diana Abu-Jaber: »London Kills Me«, in: The Nation vom 20.10.2003: »Happily, Brick Lane fulfils that early promise and establishes Ali as a writer of real literary depth and dimension. There is an elegance and a steadfast, patient, careful construction of observed detail to this prose, a meticulous layering of character and social observation that endows Brick Lane with a sophistication and matu-
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mensgebenden Brick Lane als sehr negativ empfundenes Bild bengalischer Einwanderer in London ausgesetzt.9 Der Roman schildert das Leben der Protagonistin Nazneen von ihrer Geburt im ehemaligen Ost-Pakistan 1967 bis zur Trennung von ihrem Ehemann im Jahr 2002. Die auktoriale Narration erfasst dabei die zentralen Stationen ihres Lebens und lässt den Leser dadurch an prägenden Erfahrungen der Figur teilhaben. Die bei ihrer Geburt schwache Nazneen, deren abergläubische Mutter ihre Tochter lieber dem Schicksal überlässt als sie in ein Krankenhaus zu bringen, wird im Alter von 18 Jahren an den 20 Jahre älteren Chanu verheiratet, der seine Braut kurz nach der Hochzeit in seine neue Heimat London nachholt. So reist Nazneen 1985 allein nach Großbritannien, um den Pflichten ihrer arrangierten Ehe nachzukommen. Zunehmend mit seiner Situation unzufrieden, wächst in Chanu der Wunsch, in seine Heimat, das mittlerweile von Pakistan getrennte Bangladesch, zurückzukehren. Da sich Nazneen jedoch in der Zwischenzeit vom naiven und provinziellen Mädchen zu einer selbständigen und selbstbewussten Mutter zweier Töchter entwickelt hat, deren einzige Heimat Großbritannien ist, beschließt sie, allein mit ihren Kindern in London zu bleiben. Unterbrochen wird die streng chronologische Erzählung immer wieder durch den Briefwechsel zwischen Nazneen und ihrer Schwester Hasina, die kurz vor der arrangierten Hochzeit Nazneens mit ihrem Geliebten durchgebrannt war, um eine Liebeshochzeit einzugehen. Die Briefe, die zum einen strukturell die auktoriale Narration des Romans durch Innenansichten Nazneens und ihrer Schwester ergänzen, spiegeln zum anderen die sehr unterschiedlichen Lebensentwürfe der Schwestern, die durch Hasinas Berichte über ihr Leben in Bangladesch in ihren jeweiligen Entwicklungen kontrastiert werden. Ungeachtet der Vielschichtigkeit des Romans – der auch als Bildungsroman,10 als gesellschaftskritische oder schlicht als Migrantenliteratur klassifiziert werden könnte – soll er an dieser Stelle in der Tradition des Familienromans gelesen werden, um in der Folge als interkultureller Farity that might surprise readers who’ve come to expect flash and dash in modern fiction.« 9 | Vgl. Nick Bentley: Contemporary British Fiction, Edinburgh 2008, S. 83f. 10 | Vgl. beispielsweise Michael Perfect: »The Multicultural Bildungsroman: Stereotypes in Monica Ali’s Brick Lane«, in: The Journal of Commonwealth Literature 43 (2008), S. 109-120.
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milienroman mit subversivem Potential gedeutet zu werden. Dabei stellt sich jedoch zunächst das Problem der Definition der Gattung, denn die Meinungen darüber, welche generischen Merkmale den Familienroman auszeichnen, weichen innerhalb der anglophonen Literaturwissenschaft teilweise stark voneinander ab. Eine erste Annäherung an die Gattung bietet Richard Humphrey, der die Begriffe »family chronicle, family saga, chronique de famille, Familiensaga, Generationen- or Stammbaumroman«11 als mögliche Gattungsbezeichnungen synonym verwendet. Diese für Humphrey austauschbare Terminologie verweist zum einen auf die Weitläufigkeit der Gattung, zum anderen zeigt sie jedoch, dass durchaus unterschiedliche Schwerpunktsetzungen innerhalb des Genres möglich sind.12 Insgesamt zählt Humphrey zwölf Merkmale auf, die den Familienroman auszeichnen: Formal soll eine Zeitspanne von mindestens drei Generationen in einer linearen Erzählung umfasst werden, wobei der Handlungsort der Romane auf den Haushalt und die Figurenkonstellation auf die Familie beschränkt sein sollen. Wesentlich sind die verschiedenen Formen der Erinnerung und die aus ihr entstehende Formgebung der Vergangenheit sowie die Themen der Vergessenheit und der Vergesslichkeit. Des Weiteren sei der klassische Familienroman von starker Intertextualität gekennzeichnet, was ihn zu einer Chronik innerhalb der Chronik werden lässt. Bestimmte Memorabilien sind zentral für die Handlung, die oft von Familienfestivitäten bestimmt ist, bei denen politische Diskussionen hinter dem Familienklatsch zurückstehen. Diese Merkmale begreift Humphrey jedoch nicht notwendigerweise als konstitutive Merkmale: »To be a family chronicle is to possess enough of the above family resemblances to 11 | Richard Humphrey: »The Caravan Crossing the Desert: The Family Chronicle as Family Re-Memberer in Modernism and Post-Modernism«, in: Hans Sauer, Sebastian Domsch und Christoph Bode (Hg.): Anglistentag 2003 München: Proceedings of the Conference of the German Association of University Teachers of English, Trier 2004, S. 383-396, hier S. 383 (Hervorhebung im Original). 12 | So legt etwa Yi-ling Ru, die in ihrer Studie The Family Novel: Toward a Generic Definition, New York 1992, zentrale Aspekte des Familienromans erforscht, besonderen Wert auf den Aspekt des Aufstiegs und Falls einer Familiengeschichte, die letztlich im Untergang der patriarchalen Familienstrukturen endet. Für Humphrey hingegen steht die Funktion des Erinnerns im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit der Gattung.
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be sensibly considered a family member.«13 Um den Familienroman von einer stark konkurrierenden Gattung abzugrenzen, nämlich dem historischen Roman, verweist er darauf, dass ersterer immer die Geschichte einer einzelnen Familie über einen längeren Zeitraum hinweg begleite, während historische Romane die Breite der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Ereignisse zu einer bestimmten Zeit darstellen. »The family chronicle offers a longitudinal section from the past right through to the present. The historical novel is thus a latitudinal genre, the family chronicle a longitudinal.«14 An dieser Stelle scheint es sinnvoll, der noch folgenden Verortung von Brick Lane als Familienroman kurz vorzugreifen, da der stark durch die Migrationserfahrung geprägte Roman in der Darstellung der Familiengeschichte nicht auf die Berücksichtigung gesellschaftlicher, sozialer und politischer Ereignisse, welche die multikulturelle britische Gesellschaft kennzeichnen, verzichten kann. Dass dies im Gegensatz zu Humphreys Argumentation eine zentrale Eigenschaft von Familienromanen sein kann, zeigt eine weitere Annäherung an die Gattung, wie sie Astrid Erll vorschlägt.15 Für sie sind vor allem drei Merkmale wichtig, nämlich die Ausprägung der Familien- und Generationsthematik auf der Handlungsebene, die kritische Reflexion der Themen Generationalität und Genealogie sowie die gleichzeitige Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte. Ferner verweist sie auf formale und semantische Merkmale wie zum Beispiel die Tatsache, dass meist keine einzelnen Protagonisten, sondern Kollektive wie Familien im Mittelpunkt der Erzählung stehen, dass komplexe Figurenkonstellationen multiperspektivische Erzählverfahren ermöglichen, und dass sich die Erzählung auf die Darstellung der begrenzten Welt der Familie beschränkt. Diese Beobachtung ergänzt Yi-ling Ru mit der folgenden umfassenden Definition:
13 | Humphrey: The Caravan Crossing the Desert, S. 388. Mit der Annahme, dass die jeweiligen Romane ausreichende Familienähnlichkeit aufzeigen müssen, um als dieser Gattung angehörig klassifiziert werden zu können, rekurriert Humphrey auf Ludwig Wittgensteins Theorie der Familienähnlichkeit. 14 | Humphrey: The Caravan Crossing the Desert, S. 388. 15 | Vgl. Astrid Erll: »Familien- und ›Generationenromane‹: Zadie Smith«, in: Vera Nünning (Hg.): Der zeitgenössische englische Roman: Genres – Entwicklungen – Modellinterpretationen, Trier 2007, S. 117-132.
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The family novel as a whole is best defined in terms of its four most distinguishing characteristics: first, it deals realistically with a family’s evolution through several generations; second, family rites play an important role and are faithfully recreated in both their familial and communal contexts; third, the primary theme of the novel always focuses on the decline of the family; and fourth, such a novel has a peculiar narrative form which is woven vertically along the chronological order through time and horizontally among the family relationships.16
Diese drei Ansätze zeigen, dass in der englischsprachigen Literaturwissenschaft und auch in der Germanistik, wie die Diskussion der Gattungsdefinitionen von Matteo Galli und Simone Costagli zeigt,17 eine Uneinigkeit über die Gattungsmerkmale des Familienromans herrscht, was vor allem die Vielschichtigkeit und Wandlungsfähigkeit dieses Genres belegt. So zeugen die verschiedenen Schwerpunkte der jeweiligen Ansätze von den unterschiedlichen Aspekten, unter denen die Gattung betrachtet werden kann, und öffnen das Genre für die Entwicklung des interkulturellen Familienromans. Darum werden für die anschließende Verortung des exemplarisch gewählten Romans Brick Lane diejenigen Merkmale, die den Definitionsansätzen gemein sind, als Orientierung herangezogen. An dieser 16 | Ru: The Family Novel, S. 2. Das erste der genannten Merkmale macht deutlich, dass sich Ru auf realistische Darstellungen der Familie konzentriert. Damit schließt sie beispielsweise Familiendarstellungen der fantastischen Literatur aus, da sich ›realistisch‹ auf den literarischen Realismus im Sinne einer mimetischen Darstellung der Wirklichkeit bezieht. Des Weiteren geht sie davon aus, dass sich Familienromane mit der Idee des Endes der Familie in der modernen Gesellschaft auseinandersetzen. Dabei muss nicht zwangsweise eine zerbrechende Familie Gegenstand des Romans sein; vielmehr wird von der grundlegenden Annahme ausgegangen, dass die Familie als gemeinsame Lebensform keinen Bestand mehr haben kann. Aus soziologischer Perspektive wird die Annahme einer ›Krise der Familie‹ beispielsweise von Andreas Lange und Frank Lettke: »Schrumpfung, Erweiterung, Diversität: Konzepte zur Analyse von Familie und Generationen«, in: Dies. (Hg.) Generationen und Familien, Frankfurt a.M. 2007, S. 14-43, widerlegt, und auch in Familienromanen wie Jonathan Franzens The Corrections (2001) wird sie letztlich entkräftet. 17 | Vgl. Simone Costagli und Matteo Galli: »Chronotopoi«, in: Dies. (Hg.): Deutsche Familienromane: Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, S. 7-20.
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Stelle wird der Familienroman anhand der chronologischen und realistischen Erzählung, die mehrere Generationen umspannt, der Konzentration auf die Familie in Bezug auf Handlung, Handlungsort und Figurenkonstellation und der Veränderungen innerhalb der dargestellten Familie, welche Ru mit Aufstieg und Fall der Familie beschreibt, definiert. Als interkultureller Familienroman kann Brick Lane gelesen werden, da in Alis Roman die meisten dieser formalen Kriterien erfüllt werden, um sich durch die Einschreibung in die Gattung und ihre Verbindung mit der Migrationsthematik der konfliktbeladenen Emanzipation der Protagonistin annähern zu können. In der linearen, chronologischen Erzählung des Romans, die insgesamt 35 Jahre umfasst, fokussiert die auktoriale Erzählinstanz das Leben Nazneens, was, wie bereits erwähnt, durch die Innenansicht der Figur in den Briefen an ihre Schwester ergänzt wird. Der Haupthandlungsort des Romans ist die Wohnung, in der Nazneen mit ihrer Familie im Stadtteil Tower Hamlets im Osten Londons wohnt. Allein ihre Geburt und der Bericht über ihre arrangierte Hochzeit, die in Bangladesch stattfinden, sowie wenige Besuche der Londoner Innenstadt erweitern den Handlungsort über die Wohnung in einem Hochhauskomplex hinaus. Insgesamt umspannt die Erzählung drei Generationen von Nazneens Familie: beginnend mit ihren Eltern Rupban und Hamid sowie ihrer Tante Mumtaz über ihre Schwester Hasina und ihren Ehemann Chanu bis hin zu ihren Kindern, dem Sohn Raqip, der kurz nach der Geburt stirbt, und den beiden Töchtern Shahana und Bibi. Das Hauptaugenmerk der Familiendarstellung in Brick Lane wird somit eindeutig auf die weibliche Generationenabfolge gelegt, welche zum einen als Ort der Traditionsüberlieferung dient und zum anderen die Rolle der Frau in der patriarchalen Familienstruktur zum Thema des Romans macht. Die Figurenkonstellation wird darüber hinaus nur durch Nazneens Freundin Razia, ihre Nachbarin Mrs. Islam und ihren Geliebten Karim ergänzt, da alle anderen Figuren für den Fortgang des Romans nur eingeschränkt von Bedeutung sind. Daraus ergibt sich auch die Handlung, welche die Lebensgeschichte Nazneens, beginnend mit ihrer Geburt über ihre arrangierte Ehe und die Migration bis zur Trennung von ihrem Ehemann, also den Aufstieg und Fall ihrer Familie, umfasst. Insofern kann festgehalten werden, dass Brick Lane die aus den verschiedenen Definitionen abgeleiteten Kriterien der Gattung des Familienromans erfüllt und Monica Ali ihren Erstlingsroman somit in ein traditionsreiches und vielschichtiges Genre der englischsprachigen Literatur einschreibt. Im Folgenden soll nun dargelegt werden, wie die aufgezeigten
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Merkmale der Gattung den Roman in seiner Darstellung der Entwicklung und Emanzipation der Protagonistin voranbringen und wie der Familienroman in der interkulturellen Situation genutzt wird, um den Zusammenhang von genealogischer Tradition und generationeller Selbstverortung hervorzuheben.
3. E MANZIPATION DURCH D ESINTEGR ATION Durch die Teilhabe an der Gattung des Familienromans nutzt Brick Lane die formalen Voraussetzungen des Genres, um im interkulturellen Kontext den Ausbruch der Protagonistin aus den sie unterdrückenden Familienbeziehungen nachvollziehen zu können. Nazneen, die durch die von ihrem Vater arrangierte Ehe von einer patriarchalen Familie in die nächste verheiratet wird, gelingt die Selbständigkeit nur durch den endgültigen Bruch mit ihren familialen Bindungen, der im Scheitern ihrer Ehe und der Rückkehr ihres Ehemannes nach Bangladesch zum Ende des Romans seinen Ausdruck findet. Obwohl sie bereits im Verlauf der Erzählung mehrere Versuche unternimmt, sich aus den traditionellen patriarchalen Strukturen, die trotz ihrer Migration nach Großbritannien erhalten bleiben, zu befreien, bedarf es zur Emanzipation Nazneens des faktischen Endes der repräsentierten Kernfamilie. Die Kontrastierung ihrer Entwicklung mit der ihrer Schwester Hasina verdeutlicht dabei, inwieweit die Migration Nazneens Verständnis von Familie verändert hat und wie sie sich durch die Migrationserfahrung und ihre Verpflichtung der nächsten Generation gegenüber endgültig befreien kann. Bereits zu Beginn des Romans werden die beiden Schwestern, die zu ungefähr der gleichen Zeit durch ihre Eheschließungen aus der familialen Generationenabfolge ausbrechen – beide müssen durch dieses Ereignis den Kontakt zu ihren Eltern aufgeben –, im Vergleich zueinander dargestellt. »Her sister Hasina […] listened to no one. At the age of sixteen when her beauty was becoming almost unbearable to own or even to look at, she eloped to Khulna with the nephew of the saw-mill owner.«18 Hasina läuft mit ihrem Geliebten von zu Hause weg und ist darum für die Familie ›verloren‹. In ihrem ersten Brief an Nazneen beschreibt Hasina ihr Glück der 18 | Monica Ali: Brick Lane, London 2004, S. 16. Zitate aus dem Roman werden fortan durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
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Liebesheirat und fragt ihre Schwester, ob sie glaube, ihre bereits verstorbene Mutter habe ihr vergeben, was der Vater nicht akzeptieren konnte. Der Verstoß gegen die Tradition der arrangierten Ehe und somit gegen die Regeln des Vaters wird mit Ausgrenzung aus der Familie bestraft. Nazneen, die zu diesem Zeitpunkt noch im Haus ihres Vaters lebt, wird kurz darauf an Chanu verheiratet. »Soon after, when her father asked if she would like to see a photograph of the man she would marry the following month, Nazneen shook her head and replied, ›Abba, it is good that you have chosen my husband. I hope I can be a good wife, like Amma.‹« (S. 16) In dieser Aussage lässt sich Nazneens Wille zu gefallen und dem Wunsch des Familienoberhaupts zu entsprechen daran erkennen, dass sie darauf verzichtet, das Foto ihres zukünftigen Ehemanns zu sehen, um nicht den Anschein zu erwecken, sie wolle die Entscheidung ihres Vaters in Frage stellen. Das blinde Vertrauen, welches sie ihrem Vater entgegenbringt, kann jedoch auch als naive Gutgläubigkeit, die sich später auch in ihrer neuen Umgebung in London zeigt, gedeutet werden.19 Sie glaubt, dass ihr Vater in ihrem Sinne handelt und einen guten Ehemann für sie ausgewählt hat, hinterfragt das Prinzip der arrangierten Ehe nicht und äußert keinerlei Meinung zu dieser Tradition. Stattdessen ergibt sich Nazneen in ihr Schicksal, welches sie nicht ändern zu können glaubt, und akzeptiert die Wahl ihres Vaters ohne jeglichen weiteren Kommentar. Obwohl die unterschiedlichen Ausgangssituationen der beiden Schwestern vermuten lassen, dass Hasina ein selbstbestimmteres Leben als ihre Schwester führt, kehrt sich die Entwicklung im weiteren Handlungsverlauf um. Dabei ist besonders die sich verschlechternde Situation Hasinas, deren Ehe nach kurzer Zeit wegen der Gewalttätigkeit ihres Ehemannes zerbricht, sodass sie aus der Stadt flieht, ein Antrieb für Nazneen, selbständig zu werden. Während sie zu Beginn ihres Aufenthalts in London kaum
19 | »Nazneen stared at the glass showcase stuffed with pottery animals, china figures and plastic fruits. Each one had to be dusted. She wondered how the dust got in and where it came from. All of it belonged to God. She wondered what He wanted with clay tigers, trinkets and dust.« (S. 21) Die gläubige Muslimin nutzt ihre Religion, um sich die neue und noch ungewohnte Umgebung in London zu erklären. Diese vermeintliche Naivität seiner Frau nutzt Chanu, um Nazneen von ihrer Außenwelt so gut es geht abzuschotten, indem er ihr gegenüber London als gefährlich und unsicher darstellt (vgl. S. 45).
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und nur in Begleitung ihres Ehemanns die Wohnung verlässt,20 gibt ihr Hasinas Mitteilung, dass sie ihren Mann verlassen wird, um allein in die Großstadt Dhaka zu gehen, den Mut, zum ersten Mal allein durch London zu laufen: That was the point of being lost. She, like Hasina, could not simply go home. They were both lost in cities that would not pause even to shrug. Poor Hasina. Nazneen wept but as the tears started to come she knew that she was weeping more for her own stupidity than for her sister. What propelled her down all those streets? What hand was at her back? It could not help Hasina for Nazneen to be lost. And it could not give Nazneen any idea what Hasina was suffering. (S. 59)
Obwohl sie erkennen muss, dass sie ihrer Schwester nicht helfen kann, indem sie sich allein auf den Weg durch die Stadt macht, erfährt Nazneen durch das Überschreiten der unsichtbaren Grenze der Brick Lane, die bisher ihren einzigen Bezugspunkt zu London darstellte, jedoch eine spiegelbildliche symbolische Befreiung, die Hasina durch den Ausbruch aus ihrer unglücklichen Ehe vorlebt. Als sie sich auf ihrer ziellosen Wanderung durch London plötzlich im Bankenviertel der Stadt wiederfindet und von Passanten gefragt wird, ob sie Hilfe benötige, kommt Nazneen zum ersten Mal sprachlich in Kontakt mit Engländern. Es gelingt ihr, sich mit dem einzigen Wort, das sie in der fremden Sprache beherrscht – »Sorry« – rudimentär zu verständigen. »She had spoken, in English, to a stranger, and she had been understood and acknowledged. It was very little. But it was something.« (S. 61) Dieses klei20 | Dies ist, wie in Bezug auf ihre Gutgläubigkeit erwähnt, durchaus ein von Chanu gefördertes Verhalten. Ihr Ehemann möchte nicht, dass sie allein die Wohnung verlässt, möchte ihr dies jedoch auch nicht verbieten, um nicht als Patriarch aufzutreten, was seinem modernen und liberalen Selbstbild nicht entsprechen würde. Stattdessen benutzt er die aufmerksame und kommunikative Einwanderergemeinschaft, die sich in der Brick Lane angesiedelt hat, als kontrollierende Instanz: »She did not often go out. ›Why should you go out?‹ said Chanu. ›If you go out, then people will say, ›I saw her walking on the street.‹ And I will look like a fool. Personally, I don’t mind if you go out but these people are so ignorant. What can you do?‹ She never said anything to this. ›Besides, I get everything for you that you need from the shops. Anything you want, you only have to ask.‹« (S. 45)
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ne Erfolgserlebnis bedeutet für Nazneen einen zentralen Schritt zur Loslösung von ihrem Ehemann und ist der Beginn eines Lernprozesses, den Michael Perfect mit der wachsenden Unabhängigkeit der Figur gleichsetzt: »Indeed, the grasp of English which Nazneen develops over the course of the novel occurs simultaneously with – and seems almost synonymous with – her move towards independence and liberation.«21 Ihre finanzielle Unabhängigkeit erreicht Nazneen durch Heimnäharbeiten, indem sie einen minimalen Bruchteil ihres Gehalts für sich behält, anstatt diesen an ihren Mann abzutreten. Mit dem Mittelsmann der Näherei, Karim, beginnt sie nach einiger Zeit eine heimliche Affäre, die sie jedoch beendet, als ihr bewusst wird, dass auch er in ihr nur eine traditionelle bengalische Hausfrau und Mutter sieht. »›Ah, you. You are the real thing.‹ ›I am the real thing?‹ A conversation overheard in the early days of her marriage came to her mind. She stood in her nightdress in the hallway while Chanu was on the telephone. An unspoilt girl. From the village. All things considered, I am satisfied.« (S. 385, Hervorhebung im Original) Ihre Naivität und Unverdorbenheit lassen sie in den Augen ihres viel jüngeren Liebhabers zur authentischen, idealtypischen Ehefrau für einen britischen Muslim werden. »She was his real thing. A Bengali wife. A Bengali mother. An idea of home. An idea of himself that he found in her.« (S. 454) Erst als sie erkennt, dass Karim in ihr nur eine ältere Frau sieht, die ihm als Vorbild für seine eigene, idealerweise unterwürfige, ungebildete Frau aus der bengalischen Provinz dient, beendet Nazneen die Affäre. Somit stellt auch die Trennung von Karim einen weiteren Schritt in Richtung Selbstbestimmung dar, der ihr Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit gibt. Als Chanu kurz nach Nazneens Trennung von Karim seinen lange gehegten Wunsch, nach Bangladesch zurückzukehren, konkretisiert und seine Frau mit Plänen für ihre Heimkehr konfrontiert, entscheidet sich Nazneen zum Wohle ihrer Kinder gegen ihren Ehemann, den sie trotz ihres Betrugs zu lieben gelernt hat. Ihre beiden Töchter, Shahana und Bibi, die lange Zeit ihre einzige Verbindung zur britischen Gesellschaft waren – denn diese konnte bzw. wollte auch Karim ihr nicht bieten –, die beide in London geboren und kulturell in Großbritannien verwurzelt sind, will sie im säkularen England erziehen, um ihnen die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens zu geben.
21 | Perfect: The Multicultural Bildungsroman, S. 112f.
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Die Weiterentwicklung Nazneens, die bisher auf einer formalen und strukturellen Ebene diskutiert wurde, wird zusätzlich auf einer symbolischen Handlungsebene weiter vorangetrieben. Durch eine zu Beginn des Romans von ihrer Mutter Rupban eingeführte mythologische Geschichte mit dem Titel »How You Were Left To Your Fate« (S. 15), durch die Nazneen bis zu ihrer Hochzeit immer wieder in Erinnerung gerufen wird, dass sie ihr Leben allein dem Schicksal zu verdanken hat, wird diese zu einer abergläubischen und fremdbestimmten Figur. Ihre Mutter hatte sich, nachdem Nazneen bei ihrer Geburt sehr schwach gewesen war, dagegen entschieden, ihre Tochter in ein Krankenhaus zu bringen. Stattdessen entschied sie: »We must not stand in the way of Fate. Whatever happens, I accept it. And my child must not waste any energy fighting against Fate. That way, she will be stronger.‹« (S. 14) So wird Nazneen dazu erzogen, ihr Schicksal weder zu hinterfragen noch ändern zu wollen. Als der Ehemann ihrer Freundin Razia bei einem Arbeitsunfall ums Leben kommt, während sie für das Leben ihres Sohnes Raqib betet, glaubt sie, am Tod des Mannes schuld zu sein.22 Als ihr Sohn wenig später verstirbt, sieht sich die junge Frau in ihrem Glauben, das Schicksal eines jeden Menschen sei vorherbestimmt und unausweichlich, bestätigt. Erst viel später, als sie mit dem Gedanken spielt, Chanu zu verlassen, um in England bleiben zu können, und Karim sie davon überzeugen möchte, ihn zu heiraten, erkennt Nazneen, dass sie eine freie Wahl treffen kann: »I will decide what to do. I will say what happens to me. I will be the one.« (S. 405, Hervorhebung im Original) Erst mit dieser Erkenntnis, die nicht nur eine befreiende Wirkung auf Nazneen hat, sondern auch den Zauber der »How You Were Left To Your Fate«-Geschichte bricht, beginnt sie ihr eigenes Leben. Wie tiefgreifend diese Entwicklung für sie ist, wird in dem Roman symbolisch durch die in Träumen wiederkehrende Mutterfigur Rupban, die Nazneen anklagt, ihren Sohn getötet zu haben, verhandelt (vgl. S. 431f.).
22 | »Suddenly the thought came to her that she had killed Razia’s husband. Raqib was meant to die, but she had forced Death away.« (S. 143)
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4. G ENE ALOGISCHE (A UF -)B RÜCHE IM BRITISCH ASIATISCHEN INTERKULTURELLEN F AMILIENROMAN Dieser Entwicklungsprozess der Protagonistin, die im Verlauf des Romans von der naiven jungen Frau, die ihrem unbekannten Ehemann ins fremde England nachreist, zur eigenständigen alleinerziehenden Mutter wird, zeigt, dass in Brick Lane die generationelle Abfolge der Familie unterbrochen werden muss, um diesen Prozess zu vollenden. Die patriarchalen Strukturen, in denen Nazneen aufwächst und die trotz ihrer Migration auch in England weiter bestehen und sie in ihrer Emanzipation hemmen, können letztendlich nur durchbrochen werden, wenn sie sich von der Elterngeneration löst. Gleichzeitig hält sie den Kontakt zu ihrer Schwester aufrecht, die ihrer eigenen Generation angehört und mit der sie nicht nur die Rolle der Tochter, sondern auch eine spezifische Zeiterfahrung, also Sozialisation, teilt.23 Wesentlich für ihre Entscheidung, Chanu nicht bei seiner Remigration zu begleiten, ist der energische Protest ihrer ältesten Tochter Shahana, die gegen die Pläne ihrer Eltern rebelliert.24 Während bisher der Ausbruch aus den familiären Strukturen als zentraler Akt der Emanzipation Nazneens interpretiert wurde, wird durch die Verantwortung, die sie ihren Töchtern gegenüber übernimmt, an dieser Stelle die genealogische Verpflichtung betont. Die Verbindung der weiblichen generationellen Abfolge, die mit Nazneens Heirat abgebrochen war, wird an dieser Stelle erneut aufgenommen. Mit der Trennung von ihrem Ehemann und der Schöpfung einer neuen weiblichen familialen Linie wird einerseits der Entwicklungsprozess im Roman erfolgreich abgeschlossen, andererseits auch eine neue Generationenfolge begründet. Obwohl die Migration als Familienprojekt durch die Trennung des Ehepaares als missglückt angesehen werden kann, ist dieses Scheitern jedoch auch ein Zeichen für die geglückte Integration der folgenden Generation. 23 | Vgl. Ulrike Hagel: »Die Zeitlichkeit (des Erzählens) von Generationen: Ein Blick auf neuere Familienromane«, in: Wirkendes Wort 58 (2008), S. 373-395, hier S. 374. 24 | »She wanted to have her lip pierced. This was the latest thing. Last week she wanted to get a tattoo. She did not bring these demands to her father. She presented them to her mother as proof that she could not be ›taken home‹.« (S. 292)
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Durch das Versagen der patriarchalen Familie in der interkulturellen Situation, welches nach Ru als zentraler Bestandteil des Familienromans die Handlung maßgeblich gestaltet, ist für Chanu die Migration fehlgeschlagen. Desillusioniert und enttäuscht über seine Situation in London, aber auch erschrocken über seine sich wandelnde Rolle als Familienoberhaupt, dessen Entscheidung von den Töchtern nicht akzeptiert und mitgetragen wird, muss Chanu die Familie verlassen, damit auch er unabhängig von Frau und Kindern glücklich werden kann. Für Nazneen und ihre Töchter eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, durch eine nun multilokale Verbundenheit zum Vater und Ehemann als eine neue Form der Familie gemeinsam die Migration doch noch zu einem Erfolg zu machen. Janet Wilson formuliert treffend: »Family life is displaced but not abandoned«25 . So nutzt Monica Ali in Brick Lane die Gattung des Familienromans, um die Emanzipationsprozesse einer im Spivak’schen Sinne subalternen Figur darzustellen.26 Mit der Protagonistin Nazneen und deren Familie im Mittelpunkt der Erzählung gelingt es Ali, neue Familienkonstellationen, in denen die Familie aufgrund unterschiedlicher Erwartungen an die Migration scheitert und das Glück der einzelnen Familienmitglieder über dem Erhalt traditioneller Lebensweisen steht, zu inszenieren. Der Roman wird so zu einem textuellen Raum, in 25 | Janet Wilson: »The Family and Change: Contemporary Second-Generation British-Asian Fiction«, in: Irene Visser und Heidi van den Heuvel-Disler (Hg.): Family Fictions: The Family in Contemporary Postcolonial Literatures in English, S. 109-120, hier S. 113. 26 | Der Begriff ›subaltern‹, der ursprünglich ›von minderem Rang‹ bedeutete, verweist hier symbolisch auf die Wandlung Nazneens durch das Erlernen der englischen Sprache, die sie von einer subalternen zu einer selbstbestimmten Frau werden lässt. Der originär von Antonio Gramsci eingeführte Terminus zur Beschreibung von Gruppen, die der hegemonialen Macht einer herrschenden Klasse ausgesetzt und von gesellschaftlicher Repräsentation ausgeschlossen sind, wird von Gayatri Spivak aufgegriffen und auf die Situation indischer Frauen übertragen, die sowohl in der traditionellen patriarchalen Gesellschaft als auch im kolonialen System Großbritanniens von der Repräsentation ausgeschlossen sind. Darum betont Spivak in ihrem Essay Can the Subaltern Speak?, wie wichtig die eigene Stimme, die Repräsentationsmacht, für die Subalterne ist. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008.
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dem Nazneen, die ehemals Subalterne, eine eigene Sprache entwickelt,27 sodass der Roman als interkultureller Familienroman gelesen und interpretiert werden kann.
27 | Vgl. dazu Bentley: Contemporary British Fiction, S. 85.
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IV. Historische Perspektiven auf interkulturelle Familienkonstellationen in der Literatur
Der fremde Sohn Hybridität und Gesellschaftskritik in J.M.R. Lenz’ interkulturellem ›Familiendrama‹ Der neue Menoza 1 Stefan Hermes
1. E INFÜHRUNG Ohne Zweifel stellt der rapide Zerfall vermeintlich intakter Familien ein besonders wichtiges Sujet der deutschsprachigen Literatur des Aufklärungszeitalters dar. Dies erweist sich vor allem mit Blick auf das bis heute breit rezipierte Genre des bürgerlichen Trauerspiels, in dem dieser Zerfall sowohl aus schädlichen äußeren Einflüssen als auch aus familieninternen Friktionen und den psychischen Dispositionen einzelner Familienmitglieder resultiert: Die bekanntesten Beispiele dafür sind sicherlich Lessings Miss Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772) sowie Schillers Kabale und Liebe (1784). Allerdings wird in einigen Stücken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch der umgekehrte Sachverhalt inszeniert, nämlich die überraschende Restituierung einer durch unglückliche Umstände auseinandergerissenen Familie. Die germanistische Forschung hat diesem Komplementärphänomen bislang keine gesteigerte Aufmerksamkeit entgegengebracht, obwohl sich hier erneut ein populäres Drama Lessings als Exempel anbietet: Am Ende seines Nathan der Weise (1779) liegen die Blutsbande zwischen dem christlichen Ordensritter Curd, seiner jüdisch sozialisierten Schwester Recha und ihrem Onkel, dem muslimischen Sul1 | Einige der folgenden Beobachtungen und Argumente enthält bereits mein Aufsatz »Zivilisierte Barbaren. Figurationen kultureller Differenz in Lenz’ ›Der neue Menoza‹ und Klingers ›Simsone Grisaldo‹«, in: Wirkendes Wort 59.3 (2009), S. 359-382.
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tan Saladin, offen zutage, und mit der finalen Anagnorisis scheinen alle interreligiösen bzw. interkulturellen Konflikte auf einen Schlag gelöst zu sein. Der Jude Nathan freilich, Rechas Ziehvater, verbleibt außerhalb der Genealogie und kann nur mehr eine ideelle – und daher einigermaßen prekäre – Vaterrolle für die junge Frau beanspruchen.2 Indes soll im weiteren Verlauf nicht Lessings ›dramatisches Gedicht‹, sondern ein weniger prominentes Stück der 1770er Jahre untersucht werden, in dem ebenfalls ein Kontrast zwischen der schließlich aufgedeckten Verwandtschaft der Zentralfiguren und jener kulturellen Differenz etabliert wird, die sie sich zuvor attestieren: In den Fokus des Interesses rückt Jakob Michael Reinhold Lenz’ fünf Jahre vor dem Nathan publizierte Sturm-undDrang-Komödie Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774). Deren Plot setzt mit der Ankunft des Protagonisten im sächsischen Naumburg ein; seine Heimat Cumba, ein fiktives ›orientalisches‹ Königreich, hat Tandi fluchtartig verlassen müssen, nachdem er sich den sexuellen Zudringlichkeiten der dortigen Monarchin, seiner Stiefmutter, widersetzt hatte. Unterschlupf findet er im Hause des Hauptmanns von Biederling – nomen est omen – und seiner Gemahlin, in deren Tochter Wilhelmine sich der Exilant Hals über Kopf verliebt. Unbeeindruckt vom zwielichtigen Grafen Camäleon, der, obgleich verheiratet, aggressiv um sie wirbt, erwidert Wilhelmine Tandis Neigung, doch steht die Verbindung der beiden unter einem denkbar schlechten Stern: Da sich der Prinz als einst im fernen Asien verschollener Sprössling der Eheleute Biederling entpuppt, hat es den Anschein, als sei die in Windeseile vollzogene Hochzeit zwischen ihm und Wilhelmine als unverzeihlicher Bruch des Inzesttabus zu werten. Nach einigen Verwicklungen wird jedoch klar, dass Wilhelmine de facto das Kind eines spanischen Adelspaars ist und kurz nach der Geburt gegen die leibliche Tochter der Biederlings vertauscht wurde. Das Ehehindernis ist damit aus dem Weg geräumt; anders als Curd in Lessings Nathan
2 | Die Forschungsliteratur zum Nathan ist längst kaum mehr zu überblicken; vgl. speziell zu Lessings Gestaltung der Familienthematik sowie zu jenen Spannungen, die am Schluss des Dramas keineswegs überwunden sind, Günter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung, Tübingen 1988, S. 216-262.
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unterliegt Tandi nicht dem Zwang, seine geschlechtliche in geschwisterliche Liebe transformieren zu müssen.3 Auffällig ist nun die merkwürdige Doppelposition, die Lenz’ Titelheld in der Figurenkonstellation des Neuen Menoza innehat. Denn einerseits sind kulturbedingte Unterschiede zwischen dem ›Morgenländer‹ Tandi und den weiteren dramatis personae, deren Verhalten er im Stile eines ›teilnehmenden Beobachters‹ mit ›ethnologischem Blick‹ registriert, nicht zu übersehen. Andererseits fallen diese Unterschiede eher moderat aus und gilt Tandi als vollständig in das Naumburger Kleinstadtmilieu integriert, sobald seine Zugehörigkeit zur Familie Biederling offenbar wird (vgl. 2.). Mit diesem Zwischenstatus des ›fremden Sohns‹ korrespondiert der Doppelcharakter jener Gesellschaftskritik, die Lenz seinem ›Exoten‹ in den Mund legt. Denn obwohl dessen Ansichten zunächst in diametralem Gegensatz zur herrschenden Ordnung zu stehen scheinen, erweisen sie sich letztlich als anschlussfähig. Dies ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass es Tandi ebenso wenig wie dem Autor Lenz um die Substitution des aufklärerischen Vernunftprinzips durch einen vorbehaltlosen Irrationalismus zu tun ist. Stattdessen plädiert der Prinz dafür, bestimmte moralische Überzeugungen auch tatsächlich zur Richtschnur des eigenen Handelns zu erheben, sowie für die Ergänzung des aufklärerischen Wertekanons um einen weniger restriktiven Umgang mit der menschlichen Sinnlichkeit (vgl. 3.). Es liegt förmlich auf der Hand, weshalb ein »Familiendrama«4 wie Der neue Menoza für die Artikulation derlei gesellschaftskritischer Tendenzen vorzüglich geeignet ist: Die patriarchalisch organisierte Familie und ihr näheres Umfeld bilden einen bühnenwirksam darstellbaren Mikrokosmos, anhand dessen sich in allegorischer Weise Aufschlüsse über den sozialen Makrokosmos gewinnen lassen.5 Demgemäß behandelt Lenz die von ihm 3 | Vgl. hierzu Ortrud Gutjahr: »Rhetorik des Tabus in Lessings ›Nathan der Weise‹«, in: Wolfram Mauser und Günter Saße (Hg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings, Tübingen 1993, S. 269-278. 4 | Marianne Koneffke: Der ›natürliche‹ Mensch in der Komödie ›Der neue Menoza‹ von Jakob Michael Reinhold Lenz, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 77. 5 | Ohne sich auf das Theater zu beziehen, bestätigt dies Rousseau, in dessen Du contrat social (1762) es heißt: »Die Familie ist […], wenn man will, das erste Modell der politischen Gesellschaften«. Jean-Jacques Rousseau: »Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrecht«, in: Ders.: Kulturkritische und
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entworfene Familie Biederling, die zwar dem niederen Adel angehört, aber einer bürgerlichen Ethik verhaftet ist,6 sowie ihren Naumburger Bekanntenkreis phasenweise als eine Art Versuchsanordnung; das private Milieu fungiert über weite Strecken als ein Gemeinwesen in nuce. Dies ist selbst dann der Fall, wenn Lenz mit der Inzestthematik ein Problem anschneidet, das sich ausschließlich im familialen Kontext ergeben kann (vgl. 4.). Von einiger Relevanz ist last not least die Frage, in welchem Ausmaß Lenz’ Figurenzeichnung und die im Stück vermittelte Kritik an den bestehenden Sozialverhältnissen Entsprechungen auf der Ebene des Dramenbaus finden. Hier wird zu zeigen sein, dass es Lenz nicht darum geht, tabula rasa mit sämtlichen Konventionen der Gattung zu machen, er aber sehr wohl grundlegende poetologische Innovationen vornimmt, durch die der Gehalt seiner Komödie eine formale Beglaubigung erfährt (vgl. 5.).
2. E IN › E XOTISCHES ‹ F AMILIENMITGLIED : Z UR PERSONALEN H YBRIDITÄT VON L ENZ ’ TANDI -F IGUR Als der Protagonist des Neuen Menoza seinen ersten Auftritt hat, charakterisiert ihn der Hauptmann von Biederling hyperbolisch als »Prinz[en] aus einer andern Welt«7. Andernorts wird Tandi als »indianische[r] Prinz[]«
politische Schriften in zwei Bänden, hg. von Martin Fontius, Bd. 1, Berlin 1989, S. 381-505, hier S. 383. 6 | Darin liegt eine signifikante Parallele zu einem bürgerlichen Trauerspiel wie Lessings Emilia Galotti: Denn wenngleich die im Zentrum der Handlung stehenden Galottis dem Landadel entstammen, werden auch dort primär bürgerliche Normen verhandelt. Inwiefern das Adjektiv ›bürgerlich‹ mit Blick auf den Begriff des bürgerlichen Trauerspiels generell nicht nur im sozial-ständischen Sinne zu verstehen ist, erörtert das Standardwerk von Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart und Weimar 2006, S. 11-15. 7 | Jakob Michael Reinhold Lenz: »Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi. Eine Komödie«, in: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Sigrid Damm, Bd. 1, München und Wien 1987, S. 125-190, hier S. 126. Zitate aus dem Stück werden fortan durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
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(S. 132),8 »Prinz aus Arabien« (S. 170) oder »Kalmucke« (S. 149) tituliert und somit neuerlich mit einem Höchstmaß an kultureller Alterität versehen. Allerdings sollen diese Zuschreibungen seine Fremdartigkeit nicht allein exponieren; der Rekurs auf ein geläufiges völkerkundliches Raster zielt zugleich darauf ab, sie diskursiv zu bannen. Dass dieses Vorhaben scheitert, ist jedoch evident: Bereits die Widersprüchlichkeit der Einzelaussagen indiziert die Unfähigkeit der »kluge[n] Europäer« (S. 127), die eigene Irritation mittels stereotyper Kategorisierungen Tandis zu überwinden. Des Weiteren wird deren Unhaltbarkeit dadurch markiert, dass die Konnotationen, die sich mit ihnen verbinden, dem vom Prinzen an den Tag gelegten Verhalten gänzlich unangemessen sind. Ersichtlich wird dies vor allem anhand der Identifizierung Tandis als »Kalmucke«, galten die Kalmücken im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts doch als zutiefst ›barbarischer‹ Menschenschlag. So berichtet der letzte Band von Lavaters Physiognomischen Fragmenten – der freilich erst vier Jahre nach Lenz’ Drama erschien –, dass sie ausnahmslos »geil, diebisch, rachgierig« sowie »Lügner und Schmeichler«9 seien. Auf derlei ›Wissensbestände‹ greift im Neuen Menoza der Wittenberger Baccalaureus Zierau zurück, wenn er Tandi aus der ›Zivilisation‹ zu exkludieren sucht, indem er ihm »alle[] Kultur« (S. 135) abspricht und ihn zum Tollhäusler degradiert. Indes wird im Stück unmissverständlich herausgestellt, dass sich der Prinz meist keineswegs ›wild‹ und ungebührlich, sondern wie »der scharmanteste und artigste Mann von der Welt« (S. 132) gebärdet. Gewiss unterläuft er die Naumburger Gepflogenheiten, wenn er zu den von ihm ausgerichteten Festivitäten neben »ehrliche[n] Bürgersleut[en]« auch »Bettler und Studenten und alte Weiber und Juden« (S. 155) einlädt und damit den liberaleren Sitten seiner Heimat gehorcht. Seine Kontakte zum weiblichen Geschlecht aber, insbesondere zu Wilhelmine, gestaltet Tandi stets 8 | Im Sprachgebrauch der 1770er Jahre bezeichnet ›indianisch‹ noch die indigene Bevölkerung beider Amerikas und diejenige Indiens; vgl. dazu Jürgen Klose: »Der Prinz aus Kumba. Auch zum Europabild bei Jakob Michael Reinhold Lenz und Christoph Hein«, in: Sandra Kersten und Manfred Frank Schenke (Hg.): Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität. Festschrift für Elke Mehnert, Berlin 2005, S. 315-340, hier S. 323. 9 | Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. 4, Zürich 1969 [Reprint der Ausgabe von 1778], S. 312.
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»ehrerbietig« (S. 130, Hervorhebung im Original) – so die Regieanweisung –; hinsichtlich seiner Umgangsformen ist er alles andere als ein »libertinäre[r] Wüstling«10 und ohne weiteres imstande, der kollektiven Vorstellung von einem adäquaten Sozialverhalten zu genügen. Darüber hinaus kolportiert die Figur eines Leipziger Kaffeewirts, dass selbst »der selige Professor Gellert« bezeugt habe, der ›Orientale‹ sei ehedem »der geschickteste Mann unter allen seinen Zuhörern gewesen« (S. 170). Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass Lenz den Fremdheitsgrad der Tandi-Figur nicht etwa dadurch intensiviert, dass er den ›Exoten‹ zum Vertreter einer ›östlichen‹ Religion stilisiert. Als Muslim oder Buddhist wird er gerade nicht gekennzeichnet,11 und insofern mutet es auch nicht abwegig an, dass der Hauptmann von Biederling äußerst gelassen reagiert, als er in dem Fremden plötzlich seinen Stammhalter erblickt. Angesichts der eher gering ausgeprägten Alterität Tandis, der mit den Naumburgern ja auch mühelos in deren Muttersprache kommuniziert, erachtet Biederling es für schlicht selbstverständlich, den »verlorene[n] Sohn« (S. 186) als Mitglied seiner Familie zu akzeptieren. Ingesamt dürften die benannten Aspekte einsichtig machen, wie wenig schlüssig es ist, den Prinzen als reinen ›Naturmenschen‹ zu rubrizieren – und sei es als idealisierten bon sauvage.12 Umso verblüffender gerät es, dass eine solche Einschätzung etlichen Interpretationen des Neuen Menoza zugrunde liegt, in denen Tandi beispielsweise als »exotischer Wilder« 10 | Martin Maurach: »J.M.R. Lenzens ›Guter Wilder‹. Zur Verwandlung eines Topos und zur Kulturdiskussion in den Dialogen des ›Neuen Menoza‹«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft (1996), S. 123-146, hier S. 142. 11 | Stattdessen sticht Tandis energische Verteidigung der »christliche[n] Liebe« (S. 173) ins Auge. 12 | Vgl. zu diesem gut erforschten Komplex insbesondere Urs Bitterli: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976, Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt a.M. und Paris 1983, Hayden White: »Das Thema des edlen Wilden als Fetisch«, in: Ders.: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, S. 216-231, sowie Monika Fludernik, Stefan Kaufmann und Peter Haslinger (Hg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg 2002.
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apostrophiert wird, welcher »der zivilisierten Gesellschaft entgegentritt«13 . Im Kontrast dazu haben schon zeitgenössische Rezipienten des Neuen Menoza festgestellt, dass der Fremde keineswegs als absolutes Gegenbild zur Naumburger Bevölkerung angelegt ist. So wird Lenz in Johann Georg Schlossers Schrift Prinz Tandi an den Verfasser des neuen Menoza (1775) sogar vorgehalten, er habe seinen Protagonisten unter allen Figuren »am wenigsten getroffen«, da er dessen »Vernunft« überbetont, die »Leidenschaften«14 aber zu wenig berücksichtigt, sprich: Tandi nicht als unverbildeten ›Naturmenschen‹ konzipiert habe. Auf die Forschung zum Neuen Menoza hat diese Auffassung verschiedentlich durchgeschlagen; Lenz’ Titelheld wird also zuweilen als Europäer par excellence gedeutet, dessen Sozialkritik als zweitrangig für den Gehalt des Dramas zu bewerten sei.15 Aus dem bereits Gesagten ergibt sich jedoch, dass diese Negierung der kulturellen Alterität Tandis der Komplexität von Lenz’ Figurenzeichnung ebenso wenig gerecht wird wie ihre Verabsolutierung. Vielmehr handelt es 13 | Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie (Commedia dell’arte und Théâtre italien), Stuttgart 1965, S. 334. Der Auffassung Hincks wird unter anderem beigepflichtet von Marita Pastoors-Hagelüken: Die ›übereilte Comödie‹. Möglichkeiten und Problematik einer neuen Dramengattung am Beispiel des ›Neuen Menoza‹ von J.M.R. Lenz, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 84, Volker Demuth: Realität als Geschichte. Biographie, Historie und Dichtung bei J.M.R. Lenz, Würzburg 1994, S. 234, und Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretation, zweite, aktualisierte und ergänzte Auflage, Tübingen und Basel 2006, S. 178f. 14 | Zitiert wird Schlossers Text nach Peter Müller (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte. Texte der Rezeption von Werk und Persönlichkeit, 18.–20. Jahrhundert, Teil I: Einleitung, 18. Jahrhundert, Bern u.a. 1995, S. 143-151, hier S. 149. 15 | Vgl. vor allem Helmut Arntzen: Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von Lessing bis Kleist, München 1968, S. 93, und Dieter Liewerscheidt: »J.M.R. Lenz ›Der neue Menoza‹, eine apokalyptische Farce«, in: Wirkendes Wort 33 (1983), S. 144-152, hier S. 147f. Weitgehend identische Ansichten finden sich bei Klaus Gerth: »›Vergnügen ohne Geschmack‹. J.M.R. Lenz’ ›Menoza‹ als parodistisches ›Püppelspiel‹«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1988), S. 35-56, hier S. 44, und Takeshi Imamura: Jakob Michael Reinhold Lenz. Seine dramatische Technik und Entwicklung, St. Ingbert 1996, S. 266.
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sich beim Protagonisten des Neuen Menoza um eine Figur, die bezüglich der »konventionellen Wertopposition ›Natürlichkeit‹ versus ›Poliziertheit‹ nicht mehr traditionsgemäß festgelegt«16 ist und über eine »paradoxe Identität als falscher Wilder, als Fremder in der Heimat«17 verfügt: Applizieren lässt sich daher der Terminus der »personale[n] Hybridität«18, den Jochen Dubiel in losem Anschluss an Homi Bhabha zur Beschreibung kulturell ambivalenter literarischer Figuren vorschlägt. Indem Lenz bei seinem Entwurf des Prinzen zwar auf gewisse orientalistische Topoi anspielt, diese aber entscheidend variiert, kreiert er ein »neues Modell des Exoten«19, das sich vereindeutigenden Zuordnungen entzieht. Des Weiteren wird Lenz’ Verzicht auf eine essentialisierende Gegenüberstellung von ›östlicher‹ und ›westlicher‹ Sphäre daran erkennbar, dass sein Drama den Mythos vom vermeintlich so aufgeklärten Abendland nachdrücklich unterminiert. Dies geschieht primär dadurch, dass der Autor die Figuren der Europäer mehrfach als zur Affektkontrolle vollkommen unfähig vorführt; nicht selten werden sie von ihren niedersten Instinkten getrieben. Davon kündet etwa die schon erwähnte Szene, in der Zierau den ihm widersprechenden Tandi kurzerhand als geisteskrank diffamiert, um eine Revision seines festgezurrten Weltbilds für unnötig befinden zu können. Sinnfällig wird dort, wie rasch Aufklärung mitunter »in Barbarei umschlägt« und »sich die Aufgeklärten als die wahren Barbaren erweisen«20, und so wendet denn auch der Prinz selbst den Barbaren-Begriff auf die von ihrer kulturellen Superiorität felsenfest überzeugten Europäer an (vgl. S. 173). Dass er dazu einigen Anlass hat, zeigt sich ferner in Anbetracht dessen, was der sinistre Camäleon auf dem Kerbholz hat. Denn Tandis stets »sehr galant« (S. 143) auftretender Konkurrent um die Gunst 16 | Maurach: J.M.R. Lenzens ›Guter Wilder‹, S. 123. 17 | Martin Rector: »Götterblick und menschlicher Standpunkt. J.M.R. Lenz’ Komödie ›Der Neue Menoza‹ als Inszenierung eines Wahrnehmungsproblems«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft (1989), S. 185-209, hier S. 201. 18 | Jochen Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die intrakulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur, Bielefeld 2007, S. 203. 19 | Erich Unglaub: »Ein neuer Menoza? Die Komödie ›Der neue Menoza‹ von Jakob Michael Reinhold Lenz und der ›Menoza‹-Roman von Erik Pontoppidan«, in: Orbis Litterarum 44 (1989), S. 10-47, hier S. 22. 20 | Matthias Luserke: J.M.R. Lenz. Der Hofmeister, Der neue Menoza, Die Soldaten, München 1993, S. 63.
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Wilhelmines, den Lenz in Anlehnung an eine Figur Gottscheds gestaltet hat,21 ist ein heimtückischer »Giftmischer« und »Meuchelmörder« (S. 161), der die vergeblich Umworbene schließlich zu vergewaltigen plant. Obwohl er die höfische Kunst der simulatio und dissimulatio souverän beherrscht – darauf verweist bereits sein sprechender Name –, agiert der Graf insofern wie ein ›Wilder‹, ja wie »ein Raubtier« (S. 137) oder eine »Bestie« (S. 163), als er im Ausleben seines Geschlechtstriebs einen Zweck erblickt, der alle noch so verbrecherischen Mittel heiligt. Mithin transponiert Lenz das Stereotyp von der Verschlagenheit und sexuellen Gewalttätigkeit männlicher ›Orientalen‹22 auf einen hochwohlgebornen Repräsentanten der ›abendländischen Zivilisation‹.
3. L ENZ ’ G ESELLSCHAF TSKRITIK : D IE A UFKL ÄRUNG ALS ERGÄNZUNGSBEDÜRF TIGES P ROJEK T In seiner Selbstrezension des Neuen Menoza, die im Juli 1775 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen erschien, äußert Lenz die Überzeugung, dass das Theater spürbare »Einflüsse auf eine Nation haben kann«23 . Dementsprechend überzieht sein Drama die aristokratische wie auch die sich erst konsolidierende bürgerliche Gesellschaft mit einer scharfen Kritik, deren Gehalt mit der personalen Hybridität des Protagonisten korreliert, der gleichsam eine »Sprachrohrfunktion«24 für seinen Autor übernimmt.25 Erhebliche 21 | Zur Figur des »Herren von Chamaeleon« vgl. Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Eine Moralische Wochenschrift, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1727-1729, Stuttgart 1975, S. 131, sowie erläuternd Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 21. 22 | Vgl. nach wie vor Edward Said: Orientalism, New York und London 1978. 23 | Jakob Michael Reinhold Lenz: »Rezension des Neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt«, in: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Sigrid Damm, Bd. 2, München und Wien 1987, S. 699-704, hier S. 704. 24 | Rector: Götterblick und menschlicher Standpunkt, S. 193; ähnlich schon Ottomar Rudolf: Jakob Michael Reinhold Lenz: Moralist und Aufklärer, Bad Homburg 1970, S. 187. 25 | Rector begründet diese Auffassung damit, dass Tandi die einzige Figur im Neuen Menoza sei, die Lenz nicht als »Karikatur«, sondern als »veritable[n] Charakter« gestaltet habe. Rector: Götterblick und menschlicher Standpunkt, S. 207.
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Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang der Dialog zwischen Tandi und Zierau gegen Ende des ersten Aktes, in dem der bornierte Nachwuchsakademiker bemerkt, der Prinz wolle gewiss »die Sitten der aufgeklärtesten Nationen Europens kennen […] lernen«, um sie hernach in seinen »väterlichen Boden zu verpflanzen« (S. 133). Da Tandi ihm jedoch lapidar entgegnet, dass er diese Sitten zunächst einmal kritisch zu prüfen gedenke, wird unmittelbar ersichtlich, dass er die Prämissen aufklärerischen Denkens weit stärker als Zierau verinnerlicht hat. Bestätigt wird diese Einschätzung dadurch, dass der Baccalaureus alsbald einem pathetischen Progressismus verfällt und ausgiebig von jenem perfekten Menschen schwärmt, den der von ihm vergötterte Wieland in seinen Schriften entworfen habe.26 Tandi aber, dem Lenz das »kalte[] Auge eines Beobachters«27 attestiert, beharrt auf dem Vorrang der anthropologischen Empirie und konstatiert in der Diktion Rousseaus: »[I]ch nehme die Menschen lieber wie sie sind, […] als wie sie aus einem spitzigen Federkiel hervorgehen.« (S. 135)28 Indem sich der naive Zierau als unfähig erweist, das geringste Verständnis dafür aufzubringen, gerät er zum lächerlichen Bildungsphilister, und nicht auf seine aufklärerischen Maximen reagiert Tandi denn auch allergisch, sondern darauf, dass Zierau sie durch sein unverbindliches Bramarbasieren massiv entwertet. Bloße Lippenbekenntnisse machten »die Welt kein Haar besser oder schlimmer« (S. 135), mokiert sich der Prinz, dessen an das gesamte Naumburger Panoptikum gerichteter Kardinalvorwurf die gleiche Stoßrichtung besitzt: »[I]hr wißt erstaunlich viel, aber ihr tut nichts« (S. 141) Allerdings offenbart sich Tandis Bestreben, zu einer Überführung aufklärerischen Denkens in konkrete Handlungen beizutragen, nicht nur im Disput mit dem blasierten Baccalaureus. Beachtung erfordert auch seine Auseinandersetzung mit dem Magister Beza, der zwar eine krasse Gegenposition zu Zieraus unbedarftem Fortschrittsoptimismus vertritt, dessen Weltsicht von derjenigen Tandis jedoch gleichermaßen weit entfernt ist. 26 | Zu Lenz’ Bezugnahmen auf Wieland, vor allem auf dessen Roman Der goldne Spiegel (1772), vgl. John Pizer: »Realism and Utopianism in ›Der neue Menoza‹: J.M.R. Lenz’ Productive Misreading of Wieland«, in: Colloquia Germania 27 (1994), S. 309-319. 27 | Lenz: Rezension des Neuen Menoza, S. 700. 28 | Zu Beginn von Rousseaus Schrift über den Gesellschaftsvertrag versichert der Autor seiner Leserschaft, im Folgenden würden »die Menschen [genommen], wie sie sind«. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 382.
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Dies wird speziell daran ablesbar, dass der Magister die Annehmlichkeiten des Lebens rückhaltlos verdammt und jede »Freigeisterphilosophie« (S. 146) im Zeichen eines barocken Vanitas-Gedankens zu bekämpfen trachtet: »Es ist alles eitel« (S. 146), lautet das Dogma des engstirnigen Apokalyptikers, den Lenz in seiner Selbstrezension als »waisenhäuserische[n] Freudenhässer«29 abkanzelt. Während Zierau ein Wirksamwerden der Aufklärung aufgrund seiner oberflächlichen Verabsolutierung des Verstandes nicht zu befördern vermag, wird der als asketischer Frömmler porträtierte Beza von seinem defätistisch-rückwärtsgewandten Pietismus daran gehindert. Eine tragfähige Alternative zu diesen so unterschiedlichen Verblendungszusammenhängen, die Lenz in satirischer Überzeichnung präsentiert, erkennt sein Protagonist in einer handlungsorientierten Gesellschaftskritik, die trotz ihrer Radikalität – und im Gegensatz zu den kulturpessimistischen Tiraden Bezas – »zu ursprünglichen aufgeklärten Verhaltensstandards zurück[ führt]«30. Dem Prinzen geht es also keineswegs um eine Verabschiedung der Ideen der Aufklärung; vielmehr wendet er sich gegen ihre mangelhafte Umsetzung und die daraus resultierende ubiquitäre Bigotterie. Um hier zu einer Verbesserung zu gelangen, ist es laut Tandi unerlässlich, »Geist und Herz zu erweitern«, das heißt eine Synthese von Verstand und Sinnlichkeit zu etablieren, denn »Vernunft ohne Glauben« hält er für »kurzsichtig und ohnmächtig« (S. 147). Demnach taugt die Vernunft nur dann zum Leitbegriff der Lebensführung, wenn ihr Gebrauch nicht – wie bei Zierau – auf »Geschwätz für Handlung« hinausläuft oder – wie bei Beza – auf den »lallende[n] Tod für Feuer und Leben« (S. 140). Wohl aber hat sie dafür zu sorgen, dass die »Tugend« nicht von »Wollust« und »Lastern« (S. 140) erstickt wird; vernünftiges und tugendhaftes Handeln sind für Tandi prinzipiell eins. Damit besitzen seine Ansichten eine frappierende Nähe zu jenem kategorischen Imperativ, den Lenz’ vormaliger Lehrer Kant gut zehn Jahre nach dem Erscheinen des Neuen Menoza formulieren sollte: »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz wer-
29 | Lenz: Rezension des Neuen Menoza, S. 701. 30 | Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen, Stuttgart 1997, S. 283.
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de.«31 Angesichts dessen wird neuerlich eklatant, dass Lenz’ Protagonist keine ›exotischen‹ Auffassungen vertritt, die von den übrigen Figuren als auf europäische Zusammenhänge schlechterdings inapplikabel abgetan werden könnten. Nicht allein Tandi erweist sich als in diese Zusammenhänge sehr wohl integrierbar, sondern auch das universalistische – und nicht etwa ›orientalische‹ – Wertesystem, das er repräsentiert.
4. D AS ›F AMILIENPROBLEM ‹ IM N EUEN M ENOZA Die vertrackte Angelegenheit, welche die Überzeugungen Tandis sodann auf eine harte Probe stellt, ist in zweifacher Hinsicht ein originäres ›Familienproblem‹: Zum einen wird das Verhalten des Hausvaters Biederling einem Lackmustest unterzogen, zum anderen werden jene Bedingungen, unter denen die Gründung einer neuen Familie möglich bzw. unmöglich ist, zum Gegenstand der Kontroverse. Als nämlich die vermeintliche Blutsverwandtschaft Tandis und Wilhelmines ruchbar wird, entwickelt Beza eine rabulistische religionsgeschichtliche Argumentation, der zufolge die Heirat unter Geschwistern durchaus legitim sein kann, wie sich dies »aus den arabischen Sitten und Gebräuchen klar und deutlich beweisen« (S. 168) lasse.32 Dabei rekurriert er auf die 1755 publizierte Abhandlung von den Ehegesetzen Mosis des Göttinger Theologen Johann David Michaelis,33 31 | Immanuel Kant: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 1, Bd. 4, Berlin 1903, S. 385-463, hier S. 421. (Der durchgängige Sperrdruck der Vorlage ist nicht übernommen worden, S. H.) Vgl. hierzu auch die Arbeit von Bert Kasties: J.M.R. Lenz unter dem Einfluß des frühkritischen Kant. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Sturm und Drang, Berlin und New York 2003, in der Lenz aber doch allzu einseitig als Kantianer klassifiziert und seine Aufklärungskritik marginalisiert wird. 32 | Die recht eindeutig klingende Formulierung aus dem dritten Buch Mose, die Beza implizit zu widerlegen beansprucht, lautet in der Übersetzung Luthers wie folgt: »Du sollst deiner Schwester Blöße […] nicht aufdecken« (3. Mose 18,9). 33 | Vgl. zu Michaelis’ Schrift Gerd Nonnenmacher: Natur und Fatum. Inzest als Motiv und Thema in der französischen und deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 142-160; mit Lenz’ Komödie befasst sich Nonnenmacher auf S. 161-172. Michaelis war ein Kollege Lichtenbergs, ein guter
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deren Inhalt er freilich einigermaßen verzerrt wiedergibt.34 Entscheidend ist indes, dass der Hauptmann die von Beza eröffnete Ausflucht zum Anlass nimmt, Tandi zur Aufrechterhaltung der schon geschlossenen Ehe drängen zu wollen, um seiner Tochter jeglichen Kummer zu ersparen. Insofern versäumt er es, seine väterliche Sorgfaltspflicht zu erfüllen; stattdessen nimmt er die fatale Überschreitung des Inzesttabus und damit die soziale Stigmatisierung – und juristische Sanktionierung35 – Tandis und Wilhelmines billigend in Kauf.36 Demgegenüber beharrt der Prinz ungeachtet seiner innigen Gefühle für Wilhelmine darauf, dass die Hinfälligkeit seiner Eheschließung nicht zur Diskussion steht. Er, der sich in Cumba den Gelüsten seiner Stiefmutter widersetzt hatte, begreift die Heirat leiblicher Geschwister erst recht als eine partout nicht zu tolerierende Verfehlung: »Was macht das Glück der Welt, wenn […] nicht das harmonische, gottgefällige Spiel der Empfindungen, die von der elendsten Kreatur bis zu Gott hinauf in ewigem Verhältnis zu einander stimmen?« (S. 174) Signifikant ist jedoch, dass Tandi die Natur nicht durchweg zum Maßstab für das eigene Handeln erklärt, sondern zusätzlich das Negativbild einer rein tierischen Natur zeichnet, in der das Wirken der Triebe gänzlich unreglementiert bleibt und von der er sich daher vehement abgrenzt: »Wollt ihr den Unterschied aufheben, der zwischen den Namen Vater, Sohn, Schwester, Braut, Mutter, Blutsfreundin Bekannter des jungen Georg Forster sowie Vater der späteren Caroline SchlegelSchelling; er gilt als einer der Begründer der historisch-kritischen Betrachtung des Alten Testaments und zählte zu den Initiatoren jener legendären Forschungsreise nach Arabien, von der einzig Carsten Niebuhr lebend zurückkehrte. Vgl. Klaus-Gunther Wesseling: Art. »Michaelis, Johann David«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hg. von Friedrich-Wilhelm Bautz, fortgeführt von Traugott Bautz, Bd. V, Nordhausen 1993, Sp. 1473-1479. 34 | Vgl. Maurach: J.M.R. Lenzens ›Guter Wilder‹, S. 131-134. 35 | Vgl. hierzu Claudia Jarzebowski: Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert, Köln, Weimar und Wien 2006. 36 | In den Augen seiner Gattin hatte sich der »Rabenvater« (S. 130) Biederling bereits ebenso verantwortungslos gezeigt, als er den gemeinsamen Sohn mit dem Tiroler Edelmann Zopf gen Asien hatte ziehen lassen. Seitdem ist die Beziehung der beiden derart zerrüttet, dass die Familie Biederling beileibe keine ideale ›Gefühlsge meinschaft‹ im Sinne Gellerts abgibt; vgl. dazu Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 95-114.
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obwaltet?« bescheidet er Beza, »so hebt euch denn nicht übers Vieh, das neben euch ohne Unterschied und Ordnung bespringt was ihm zu nahe kommt« (ebd.). Anders als in der Mehrzahl der von Michael Titzmann untersuchten Erzähltexte der Goethezeit wird der (scheinbare) Geschwisterinzest in Lenz’ Stück also nicht uneingeschränkt als ›widernatürlich‹ inszeniert,37 sondern auch in konträr anmutender Weise als ›unzivilisiert‹: Dem Protagonisten des Neuen Menoza zufolge taugt die Natur nur bedingt zum Gradmesser für die ethische Qualität menschlicher Gewissensentscheidungen. Augenfällig ist demnach, dass Tandi abermals die unbedingte Notwendigkeit eines Austarierens von Rationalität und Emotionalität herausstreicht. Um sich über das bloß Kreatürliche zu erheben und der Tugend zu ihrem Recht zu verhelfen, erachtet der Prinz die Sublimierung der eigenen Bedürfnisse für alternativlos, und so ist es einmal mehr der angebliche ›Wilde‹, der sich bei der Bekämpfung der Wollust hervortut: Obwohl er darunter enorm zu leiden hat, tritt Tandi für eine strikt definierte Sexualmoral ein, die mitnichten im Widerspruch zu dem sich konstituierenden bürgerlichen Familienideal steht,38 sondern seiner Absicherung dient, indem sie die »Unterdrückung spontaner Regungen und Triebwünsche«39 einklagt. Die Exogamie als »Grundlage der Kultur«40 will Lenz’ ›Orientale‹
37 | Vgl. Michael Titzmann: »Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche«, in: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, S. 229-281, hier S. 263. 38 | Vgl. dazu aus der Vielzahl der vorliegenden Darstellungen Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1982, S. 251-309, sowie Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer: Geschichte der Familie, mit 34 Abbildungen, 19 Grafiken, 17 Tabellen und 6 Karten, Stuttgart 2003, S. 364-405. 39 | Rosenbaum: Formen der Familie, S. 281. 40 | Maurach: J.M.R. Lenzens ›Guter Wilder‹, S. 133.
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um jeden Preis gewahrt wissen,41 und folglich wird auch im Kontext der für fast alle kulturvergleichenden Betrachtungen aufschlussreichen Hochzeitssitten erkennbar, dass es ausgerechnet der zum ›Naturmenschen‹ gestempelte Fremde ist, der das Fundament der ›Zivilisation‹ gegen innere wie äußere Anfechtungen verteidigt. Erst nach dem Erhalt der Nachricht, dass Wilhelmine nicht seine Schwester ist, sieht sich Tandi dieser Pflicht enthoben. Alles in allem liefert Lenz’ Drama somit einen höchst eigenständigen Beitrag zu jenen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die eine »Emotionalisierung, Intensivierung, Individualisierung der intrafamiliären Relationen« beförderten und eine fundamentale Neujustierung der »Werte und Normen des Komplexes ›Liebe‹/›Ehe‹/›Familie‹«42 herbeiführten. Originell gerät der Text zum einen dadurch, dass die Familie in ihm nicht »als selbständiger privater Raum aus ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt«43 wird; entgegen den Usancen seiner Entstehungszeit erscheinen beide Bereiche als direkt aufeinander bezogen: Schon bei Lenz ist das Private mithin politisch. Zum anderen werden inzestuöse Beziehungen im Neuen Menoza keineswegs als ein Problem verhandelt, das sich allein »durch eine größere Sensibilität […] für die ›Stimme der Natur‹«44 verhüten ließe, ist doch das durch die Hauptfigur vermittelte Bild der Natur ein zutiefst ambivalentes. Bisweilen mag sie zwar eine leidlich verlässliche Orientierung bieten, doch kommt es in vielen Situationen gerade darauf an, den Forderungen der (inneren) Natur zu widerstehen und eben dadurch die eigene moralische Integrität zu wahren.
41 | Zur kulturstiftenden Funktion des Inzesttabus vgl. die längst ›klassischen‹ Ausführungen von Sigmund Freud: »Totem und Tabu«, in Ders.: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u.a., Bd. 9, 5. Auflage, Frankfurt a.M. 1973. Vgl. außerdem die erstmals 1912 publizierte Studie des Freud-Schülers Otto Rank: Das Inzest-Motiv in Sage und Dichtung. Grundzüge einer Psychologie dichterischen Schaffens, zweite, wesentlich vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig und Wien 1926, in welcher der Inzest zwischen Geschwistern beinahe ebenso ausgiebig behandelt wird wie der ödipal strukturierte. 42 | Titzmann: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen, S. 266. 43 | Titzmann: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen, S. 266. 44 | Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart, Köln, Weimar und Wien 2003, S. 96.
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5. Z UR FORMALEN H YBRIDITÄT DES ›F AMILIENDR AMAS ‹ Der personalen Hybridität des Titelhelden und dem Wesen der im Neuen Menoza artikulierten Gesellschaftskritik entspricht in mancherlei Hinsicht der Bau von Lenz’ Drama. Denn auch auf formaler Ebene unterläuft der Autor die Konventionen seiner Zeit, indem er durch »das bewußte Zitieren und Montieren«45 heterogener Elemente diverser National- und Regionalliteraturen eine Poetik der Hybridität inauguriert. Diese vollzieht jene Vermischungsphänomene, die sich auf der Inhaltsebene identifizieren lassen, gleichsam nach, sodass sie implizit eine positive Beurteilung erfahren. Wenngleich die andernorts bereits in extenso analysierte Struktur des Neuen Menoza hier nicht systematisch aufzuarbeiten ist,46 sei wenigstens auf einige neuralgische Punkte aufmerksam gemacht. So markiert schon die dem Drama vorangestellte Angabe »Der Schauplatz ist hie und da« (S. 125) Lenz’ Abkehr von einem an Aristoteles und dem französischen Klassizismus ausgerichteten Regularium zugunsten einer an Shakespeare geschulten Schreibpraxis.47 Insbesondere die »erschröckliche jämmerlichberühmte Bulle von den drei Einheiten«48, mit der er in seinen Anmerkungen übers Theater (1774) abrechnet, entbehrt für Lenz jeder normativen Kraft, und folglich haben diese gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch immer weithin als sakrosankt geltenden Einheiten – und mit ihnen die Ständeklausel – gezielt geschaffenen Unübersichtlichkeiten zu weichen.49 Damit konvergiert, dass Lenz sein Stück zwar als Komödie deklariert hat und es auch als solche gelesen werden kann, die Gattungs45 | Rector: Götterblick und menschlicher Standpunkt, S. 189. 46 | Vgl. etwa Pastoors-Hagelücken: Die ›übereilte Comödie‹. 47 | Vgl. dazu vor allem Eva Maria Inbar: Lenz und Shakespeare, Irvine 1977. 48 | Jakob Michael Reinhold Lenz: »Anmerkungen übers Theater«, in: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Sigrid Damm, Bd. 2, München und Wien 1987, S. 641-671, hier S. 654. 49 | Im Neuen Menoza selbst wird ihre Einhaltung dadurch als obsolet markiert, dass es just der Kunstbanause Zierau ist, der sie in der ersten der beiden appendixhaften Schlussszenen als Kriterium für den Wert eines Dramas anführt (vgl. S. 188f.). Zum poetologischen Gehalt dieser Szenen vgl. ausführlich René Girard: Jakob Michael Reinhold Lenz 1751-1792. Genèse d’une Dramaturgie du Tragi-Comique, Paris 1968, S. 334-338, und Demuth: Realität als Geschichte, S. 247-252.
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zugehörigkeit aber kaum eindeutig zu bestimmen ist. So hat Wieland im Neuen Menoza ein »Mischspiel«50 aus Komödie und Tragödie erkannt und damit eine zutreffende Beobachtung vorgebracht, ungeachtet der spöttischnegativen Wertung, von der sie begleitet wird. Lenz selbst jedenfalls erachtete eine Perforierung der Gattungsgrenzen für dringend geboten: Um den Gesellschaftsbezug des Theaters zu wahren, müssten die »deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zugleich schreiben«, da ja auch »das Volk, für das sie schreiben […], ein solcher Mischmasch von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit ist.«51 Darüber hinaus hat man nachgewiesen, dass sich bereits die komischen Bestandteile des Neuen Menoza aus ganz unterschiedlichen Traditionslinien speisen – hauptsächlich aus der sächsischen Typenkomödie und der Commedia dell’arte52 –, wodurch der »Mischmasch«-Charakter des Dramas noch einmal potenziert wird. Kurzum: In Analogie dazu, dass der Protagonist eine dichotomische Konzeptualisierung von ›östlicher‹ und ›westlicher‹ Kultur wie auch ein einseitig rationalistisches Aufklärungsverständnis als fragwürdig entlarvt, handelt es sich bei Lenz’ Stück um ein formal hybrides Gebilde, das überkommene Gestaltungselemente sehr wohl aufnimmt, sich gängigen Mustern jedoch rigoros verweigert.53 Dazu tragen letztlich auch die intertextuellen Verflechtungen bei, die zwischen dem Neuen Menoza und zahlreichen Werken der europäischen Aufklärungsliteratur bestehen und deren Generierung als eine besonders effiziente Strategie zur Produktion ästhetischer Hybridität54 gelten kann: Zu den »verschiedenen Kulturen entstammen[den]« Texten, die in Lenz’ Komödie »miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen«55 , zählen neben den erwähnten Schriften Rousseaus, Gottscheds und Wielands sowie dem Menoza-Roman des Dänen Erik Pontoppidan (1742) auch Montesquieus Lettres persanes (1721) und Voltaires L’Ingénu (1767).56 Damit bestätigt sich erneut, dass Lenz 50 | Christoph Martin Wieland: »Der neue Menoza […]«, in: Der Teutsche Merkur 8 (1774), S. 241. Zitiert nach Luserke: J.M.R. Lenz, S. 107. 51 | Lenz: Rezension des Neuen Menoza, S. 703f. 52 | Vgl. hierzu Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 328-348. 53 | So bereits Rector: Götterblick und menschlicher Standpunkt, S. 205. 54 | Vgl. Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität, S. 193-198. 55 | Roland Barthes: »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-193, hier S. 192. 56 | Vgl. dazu im Einzelnen Unglaub: Ein neuer Menoza?
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mit seinem ›Familiendrama‹ zu einer anschlussfähigen Kritik der Aufklärung zu gelangen strebt, die deren kanonische Denker nicht übergeht, sondern sich teils an ihnen orientiert, teils entschlossen von ihnen distanziert. Auch die illustre literaturhistorische ›Wahlverwandtschaft‹, in die er sich mit dem Neuen Menoza einschreibt, ist weder kulturell homogen noch frei von Konflikten – und gerade deshalb so reizvoll.
Schiffbruch und Liebestod Literarische Phantasien vom Scheitern interkultureller Beziehungen im frühen 20. Jahrhundert Ulrike Stamm
1. E INLEITUNG : D IE TABUISIERUNG KULTURELLER M ISCHUNGEN Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden kulturelle ebenso wie geschlechtliche Identitäten zunehmend als unveränderliche und tendenziell entgegengesetzte Entitäten gedacht, zwischen denen es keinerlei Vermischungen oder Übergangsbereiche gab und geben durfte.1 Post-koloniale und feministische Studien haben inzwischen auf vielfältige Weise gezeigt, dass dieses essentialistische Denken – vor allem im Zusammenspiel mit einem deutlichen Machtgefälle – zur Entwicklung einer bipolaren Logik führt, bei der der eine Pol notwendig als erster und vorgängiger und der andere als unvollkommene Wiederholung, Spiegelung und dunkle Gegenseite bestimmt wird.2 Dies bedeutet, dass die eine Seite abgewertet und als 1 | Siehe dazu Edward Said: Culture and Imperialism, London 1993, sowie Horst Gründer: »… da und dort ein junges Deutschland gründen«. Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 1999. 2 | Postkoloniale Kritik an binären Konstruktionen, vor allem des Kolonialismus, hat etwa Homi Bhabha formuliert; vgl. dazu seinen Aufsatz »Die Frage des Anderen: Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus«, in: Ders.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 97-125. Vgl. außerdem Ulrike Stamm: Der Orient der Frauen. Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen im frühen 19. Jahrhundert, Köln, Weimar und Wien 2010, S. 24-44. Zur feministischen Kritik siehe die Aufsätze in Sabine Hark (Hg.): Dis/Kontinuitäten: Femi-
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eigenständige Entität negiert wird, während die andere Seite automatisch aufgewertet wird. Mit dem sich verstärkenden Imperialismus verschwand dementsprechend, vor allem wenn es um Verbindungen zwischen europäischen und außereuropäischen Kulturen ging, die Vorstellung, dass eine interkulturell gemischte Familie als emotionale und legale Institution überhaupt möglich ist, auch wenn sich sowohl real als auch in literarischen und visuellen Darstellungen eine Fülle von Hinweisen auf sexuelle Kontakte zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturkreise finden lässt. Die derart hergestellte ethnische, geschlechtliche und kulturelle Hierarchisierung ist aber immer bedroht durch die Möglichkeit von Übergangsbereichen und Zwischenräumen, weswegen solche in zeitgenössischen Sachtexten wie auch in fiktionalen Werken entweder gar nicht vorkommen oder aber als äußerst problematisch gekennzeichnet werden. Dies gilt auch noch für die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, die den in seiner Hochphase befindlichen Kolonialismus – bis auf einige Ausnahmen – auf symbolischer und bildlicher Ebene weitgehend unterstützt. Dementsprechend tauchen in literarischen Texten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur selten interkulturelle familiäre Zusammenhänge auf und wenn, dann sind sie generell notwendig zum Scheitern verurteilt, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass aus solchen Zusammenhängen stammende Kinder meist als nicht lebens- oder überlebensfähig geschildert werden. Ganz im Gegensatz hierzu dient in der Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, wie Susanne Zantop gezeigt hat, das Modell der Ehe dazu, gelungene koloniale Beziehungsmuster zwischen den europäischen Kolonisatoren und der von ihnen unterworfenen Bevölkerung zu imaginieren. Derartige Inszenierungen einer friedlichen Verbindung zwischen Eroberern und Eroberten, die ›rassische‹ und kulturelle Schranken überbrücken sollen, repräsentieren diese als »permanente Bindung auf der Basis gegenseitiger Anziehung, [als] Ehe zwischen Nationen und Kultunistische Theorie, 2. Auflage, Wiesbaden 2007. In Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York und London 1990, hat Judith Butler die Geschlechterbinarität wie auch die zwischen ›sex‹ und ›gender‹ kritisiert; ebenfalls gegen diese Binarität wenden sich Gildemeister und Wetterer, allerdings mit sozialkonstruktivistischen Argumenten. Vgl. Regine Gildemeister und Angelika Wetterer: »Wie Geschlechter gemacht werden«, in: Gudrun-Axeli Knapp und Angelika Wetterer (Hg.): TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg 1992, S. 201-254.
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ren«3 . Prominentes Beispiel für eine solche interkulturelle und scheinbar gelingende Beziehung sind die Figuren Pocahontas und John Smith. In Texten, die die kulturelle Differenz dergestalt gewissermaßen überspringen, dabei aber die Gewalt der kolonialen Unterwerfung verdecken, ist die Geschlechterverteilung notwendig und eindeutig festgelegt: Immer ist es ein weißer Mann, der sich mit einer fremden Frau verbindet. Innerhalb der Imagination kulturübergreifender Beziehungen steht die weibliche Position somit in dieser Konstellation für die fremde Welt, die als naturhaft-verlockende von der symbolisch-väterlichen Ordnung angeeignet und ihr unterworfen wird. Wie Eva Blome feststellt, sind dagegen »Anfang des 20. Jahrhunderts […] positive Szenarien der Rassenmischung […] ganz aus der Kolonialliteratur, aus den politischen Debatten und den rassen- sowie kulturtheoretischen Erörterungen verschwunden.«4 Dies erstaunt umso mehr, als doch zu dieser Zeit Mischehen – oder genauer gesagt Mischbeziehungen – in der Realität des Koloniallebens an der Tagesordnung waren. Diese massive Verschiebung innerhalb der literarischen Thematik hat sicherlich verschiedene Gründe: Zum einen mag die Vorstellung einer glücklichen, eheähnlichen Beziehung zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten angesichts der häufig grausamen Wirklichkeit der Kolonien nicht mehr möglich gewesen sein; zum andern verweist diese Verschiebung aber auf die Wirksamkeit eines Tabus hinsichtlich kultureller und ethnischer Vermischung – und damit umgekehrt auf die Dominanz von Vorstellungen kultureller Geschlossenheit und Reinheit, die sich im Zuge der Durchsetzung rassistischer Denkmuster seit der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten. Damit wurde die Vermischung der ›Rassen‹ zum Bedrohungsszenarium, das die eindeutigen unumkehrbaren Abgrenzungen zwischen ›Rassen‹ und Ethnien, auf denen alle Vorstellungen von westlicher Überlegenheit basierten, gefährdete.5 3 | Susanne Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland 17701870, Berlin 1999, S. 145. 4 | Eva Blome: »Das Eigene, das Andere und ihre Vermischung. Zur Rolle von Sexualität und Reproduktion im Rassendiskurs des 19. Jahrhunderts.« URL: www.perspectivia.net/content/publikationen/discussions/discussions-1-2008/ blome_eigene/#sdfootnote11sym (letzter Zugriff am 13.04.2011). 5 | Siehe dazu Frank Becker (Hg.): Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich, Stuttgart 2004.
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Vor dem Hintergrund dieser diskursiven Zusammenhänge sollen im Folgenden zwei Erzählungen aus dem frühen 20. Jahrhundert diskutiert werden, die insofern eine Ausnahme darstellen, als sie nicht nur eine Verbindung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen vorführen, sondern als es außerdem in beiden Fällen die weiße Frau ist, die einen außereuropäischen Mann heiratet, womit das aus dem 18. Jahrhundert bekannte Muster umgekehrt wird. Die im Folgenden analysierten Erzählungen von Max Dauthendey und Alma Karlin verbindet darüber hinaus, dass die Vermischung der Kulturen jeweils in einem nicht kolonialen und damit nicht direkt hierarchischen Kontext durchgespielt wird. Dabei scheitert zwar die interkulturelle Beziehung und die kulturell-ethnische Vermischung wird negativ bewertet, aber es zeichnen sich in beiden Texten dennoch bemerkenswerte Ambivalenzen ab. Nicht zuletzt unterscheiden sich in beiden Texten schließlich die Gründe für die Ablehnung solcher Mischbeziehungen deutlich.
2. D AS S CHEITERN EINER V ERBINDUNG MIT DEM F REMDEN : M A X D AUTHENDE YS D EN A BENDSCHNEE AM H IRAYAMA SEHEN
Max Dauthendeys Erzählung Den Abendschnee am Hirayama sehen ist Teil der sehr erfolgreichen Sammlung Die acht Gesichter am Biwasee, die eine Reihe japonisierender Geschichten versammelt; der Band ist im Jahr 1911 erschienen und gilt zu Recht als einer der Höhepunkte der deutschen exotistischen Literatur.6 Dauthendey verarbeitet in diesen acht Erzählungen die Erfahrungen seiner Japanreise, wobei er, angeregt unter anderem von Postkarten, die er verschickt hatte, eine farben- und bilderreiche, geheimnisvolle und stellenweise märchenhafte Welt vorführt, in der westliche Rationalität außer Kraft gesetzt zu sein scheint. Während der Band allgemein die Faszination Japans als einer gänzlich fremden und geschlos6 | Zum Exotismus vgl. Wolfgang Reif: »Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts«, in: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 1989, S. 434-462, Christiane C. Günther: Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900, München 1988, Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur 1890-1925, Bern und München 1977.
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senen Welt vorführt, thematisiert die besagte Erzählung als einzige eine interkulturelle Verbindung. Nicht zuletzt deshalb steht der Text am Schluss des Bandes: Er öffnet somit den exotischen Raum für das Experiment einer Annäherung von West und Ost. Geschildert wird in Den Abendschnee am Hirayama sehen die Überfahrt eines frisch verheirateten Japaners und seiner jungen deutschen Frau von Marseille nach Japan. Begleitet werden sie von der achtzigjährigen, weißhaarigen Großmutter der Frau und dem Freund des Japaners. Bemerkenswert für den erörterten Zusammenhang ist dieser Text aus mehreren Gründen: Zum einen weil hier, anders als in den sonstigen Erzählungen des Bandes, Westen und Osten als reale Orte eine Rolle spielen und deren kulturelle Verschiedenheit ausdrücklich thematisiert wird, zum anderen aufgrund der Viererkonstellation, die es dem Autor ermöglicht, nicht nur die Gespräche des Liebespaars wiederzugeben, sondern auch Kommentare von Außenstehenden einzubringen und die Liebenden dadurch in ihren jeweiligen kulturellen Kontext eingebettet zu präsentieren. Nicht zuletzt damit wird die Liebesbeziehung von Anfang an in einen familiären Zusammenhang eingebunden, denn die Großmutter Ilses spielt nicht nur innerhalb des Textes eine wichtige Rolle, sondern auch in Hinsicht auf den Titel des Textes. Schauplatz der Erzählung ist ein »weißer eiserner Orientdampfer mit Hunderten von runden, gelbleuchtenden Kabinen.«7 Schon die Wahl des Schiffes als Handlungsort verdeutlicht, dass einzig fern von kultureller Verortung, d.h. innerhalb des fluiden Bereichs des Meeres und während der Passage zwischen den Weltteilen, eine derartige Liebe zwischen den Kulturen möglich ist. Dementsprechend kennzeichnet der Autor das Schiff als eine Kontaktzone, innerhalb derer in bedrohlicher Weise die Orientierung verloren geht: [U]nd nun nahm der gewaltige Rausch der Seeluft das Schiff in sich auf, und das Ungeheuer, der endlose Himmel, machte die lauten Passagiere still, löste nicht nur die Erde unter den Füßen, sondern nahm auch den Gedanken jede Festigkeit und Sicherheit, machte das Blut argwöhnisch, die Füße schwankend, die Gehirne ohnmächtig. (S. 136) 7 | Max Dauthendey: »Den Abendschnee am Hirayama sehen«, in: Ders.: Die acht Gesichter am Biwasee, München 1958, S. 133-157, hier S. 133. Zitate aus dem Text werden fortan durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
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Es erstaunt daher nicht, dass das Schiff als »riesiger physikalischer Apparat in einem Laboratorium« (S. 136) erscheint. Dauthendey nähert damit die psychische Erfahrung von Deterritorialisierung, gekennzeichnet als Gefühl einer rauschhaften Leere, dem Modus des Experiments an. Nur in der Entfernung von allem Festen und der Erde Verhafteten und in Distanz zu Eindeutigkeit und Sicherheit kann der Versuch einer Vermischung der Kulturen vor sich gehen. Dabei wird die dergestalt evozierte Dimension von Leere zunächst als verlockend gekennzeichnet, dann aber aufgrund der fehlenden Verortung und der daraus folgenden Unsicherheit aller Kategorien negativ konnotiert. Die Schiffsfahrt eröffnet dem jungen Paar schon bald die Einsicht in ihre Verschiedenheit – so bemerkt Ilse, »daß ein Asiate nicht ist: wie fünf und fünf ist zehn, sondern daß bei ihm fünf und fünf einmal tausend und einmal null sein kann. Sie ahnte, daß sie noch nicht den hundertsten Teil von dem Gehirn ihres Mannes kannte« (S. 137). In Übereinstimmung mit dem bekannten Stereotyp des geheimnisvollen Asien erscheint auch der asiatische Mann hier als nicht berechenbar, sondern sprunghaft-irrational. Diese Aspekte sind es aber, so macht der Erzähler klar, die Ilse an ihrem Mann faszinieren: [G]erade, daß sie seiner nicht sicher war, daß sie seine Weltallruhe und sein göttliches Aufgehen im Verstehen des Kleinsten bewundern und dann wieder plötzlich erschrecken musste vor tierischen Kehllauten, die er ausstoßen konnte, und die bestialische Leidenschaftlichkeiten vermuten ließen – das machte Ilses Seele sanft wie das Kaninchen, das man mit einer Klapperschlange zusammengesperrt hat. (S. 137)
Gegenüber einer solch unberechenbaren Präsenz schlüpft Ilse wie selbstverständlich in die Position der unterwürfigen Frau, wobei Dauthendey mit dem Vergleich von Kaninchen und Klapperschlange schon die Differenz zwischen den beiden Liebenden als eine bedrohliche Dimension kennzeichnet. Zugleich aber evoziert er hier ein – auch in Deutschland damals übliches – traditionelles Geschlechterverhältnis, in dem der Mann die überlegene Position einnimmt. Das Verhältnis der beiden Liebenden könnte sich also durchaus nach dem Modell der konventionellen Geschlechterordnung ausrichten. Doch ihre Beziehung ist zu komplex für eine solch einfache Lösung. So scheinen zwar beide zunächst dadurch verbunden, dass sie dem Bereich
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des Animalischen nahe stehen, aber auch auf der metaphorischen Ebene erweist sich ihre Verbindung letztlich als eine äußerst disparate Konstellation. Während der asiatische Mann nämlich »tierische Kehllaute« ausstößt, wird Ilse dagegen eine Art von Fluidität zugesprochen; so ähnelt sie mit ihren Goldglanzhaaren, »goldrot, wie der rote Metallglanz der Goldfische«, und ihrem »smaragdgrünen Kleid« (S. 137) einem Fisch oder einer Eidechse. In dieser ungleichartigen Annäherung an das Animalische scheint Dauthendey einen rassisierenden Diskurs aufzugreifen, der fremden Kulturen eine größere Nähe zum Tierisch-Triebhaften zuspricht als der eigenen Kultur; dementsprechend wird die deutsche Frau mit eher asexuellen und ästhetisch-schönen Tieren verglichen. Allerdings könnte die Charakterisierung des Japaners auch als Ausdruck der weiblichen Perspektive auf den Asiaten verstanden werden und Ilses ambivalente Faszination durch die fremde Kultur ihres Mannes verdeutlichen, womit sie nicht notwendig eine auktoriale Stellungnahme darstellt. Das schon auf der bildlichen Ebene angedeutete unvereinbare Verhältnis der beiden Liebenden äußert sich im Verlauf der Reise auch in ihren Gesprächen, die signifikante Unterschiede hinsichtlich der Auffassung des Geschlechterverhältnisses verraten. So belehrt Okuro seine junge Frau: »Nicht ich bin dein, sondern du bist mein geworden […]. Ich bin ich geblieben und bin nur durch dich mehr geworden. Aber du bist seit dem Tag unserer Hochzeit nach unseren asiatischen Begriffen verschwunden und bist nicht mehr.« (S. 139) Ilse wehrt sich vehement gegen eine solche Zuschreibung, was im Verlauf der Reise zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen den Liebenden führt; in der Folge bauen sich »die Gedankenwelten der beiden Neuvermählten in der Leere des Meeres wie die Ufer von zwei einander gegenüber liegenden Ländern voreinander« (S. 140) auf. Durch diese auffallende geographische Metaphorik wird die kulturelle Differenz als unüberbrückbare räumliche Distanz beschrieben und die Behauptung einer grundsätzlichen Geschiedenheit der Kulturen indirekt, aber umso deutlicher, bestätigt und legitimiert. Die Auseinandersetzung über die Bedeutung der sexuellen Differenz überlagert sich so mit der Verhandlung kultureller Differenz, wobei Dauthendey offen lässt, ob die Entfremdung des Paares mehr mit dem Kampf der Geschlechter oder mit dem Kampf der Kulturen zu tun hat. Ilses Wunsch nach einer Gleichberechtigung der Geschlechter sollte jedenfalls keinesfalls als kulturell bedingt verstanden werden, denn ihre Großmutter tritt dieser Auffassung ebenfalls entgegen; so widerspricht
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sie heftig, als Okuro erklärt, nicht mehr mit Ilse streiten zu wollen, und sagt: »Güte in der Liebe ist unglücklich. Liebe ist nie gütig, Liebe fordert, misshandelt, vergewaltigt. Von zwei Liebenden muß einer der Stärkere werden.« (S. 149) Dauthendeys Text verteilt somit die widersprüchlichen Liebes- und Geschlechterkonzeptionen nicht eindeutig zwischen Europäern und Asiaten, und nicht zuletzt diese Offenheit macht die Qualität des Textes aus. In der Entfremdung zwischen den beiden Liebenden spielen aber nicht nur die unterschiedlichen Auffassungen vom Verhältnis der Geschlechter eine Rolle, sondern auch die, nach Ilses Sichtweise in Ägypten zutage tretende, defiziente Männlichkeit Okuros – und hier tendiert der Text dann doch zu einer Bejahung abwertender Stereotypen. So sieht sich Ilse dort »von schwarzhäutigen Afrikanegern in langen weißen und blauen Leinwandhemdkleidern umgeben«; sie fühlt sich magdhaft, fraulich und sehnte sich schutzsuchend neben ihrer Großmutter nach ihrem Mann. Wenn sie sich dann umsah und hinter ihr Okuro und Kutsuma gingen, fühlte sie keine Sicherheit, keine Ruhe, denn die zierlichen gelbhäutigen Japaner waren hier in Afrika noch weniger zu Hause als in Europa; und Okuros gelbe Gesichtsfarbe erschien ihr lächerlich und leichenhaft neben der schönen Pulverfarbe der Afrikaner. (S. 141)
Es sind damit nicht mehr inhaltliche Differenzen, die das Paar entzweien, sondern »es war der Körper selbst, der dem Herzen abtrünnig zu werden schien.« (S. 141) Dauthendey rekurriert auf das Stereotyp vom effeminierten Asiaten, um – zumindest in der Perspektive der weißen Frau – noch einmal die Unmöglichkeit einer solchen kulturübergreifenden Beziehung zu begründen. Doch letztlich ist es dann die Erfahrung der eigenen Fremdheit, die Ilse dazu bringt, sich nach Europa zurückzusehnen. Als sie nämlich in Singapur, dort, »wo die gelbe Rasse die braune Rasse verdrängt« (S. 150), die vielen Asiaten sieht und ihren Mann folglich nicht mehr als exotische Ausnahme wahrnehmen kann, ändert sich auch ihr eigener Status: Sie realisiert, dass nicht mehr ihr Mann der Fremde ist, sondern dass sie selbst in Japan die Fremde sein wird. Im Zusammenhang mit dieser Vertauschung der Fremdheitspositionen verliert zudem ihr Mann die Attraktion, die er als exotisches Gegenüber für sie noch hatte. Mit dieser doppelten Verschiebung kann die junge Deutsche nicht umgehen und verbringt daher die fol-
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gende Nacht in der Kabine ihrer Großmutter, fern von ihrem Mann. Genau in dieser Nacht aber ereignet sich das Schiffsunglück, bei dem sie ertrinkt, während ihre Großmutter und die beiden Japaner gerettet werden. Bis zu diesem Punkt könnte man die Erzählung zumindest weitgehend als Beschreibung der jeweiligen Figurenperspektive deuten und das wechselseitige Nichtverstehen wie auch die so einsichtig klingende Diagnose, »daß Europa und Asien nebeneinander auf derselben Erde liegen, sie, die weniger zusammengehören als Erde und Mond« (S. 150), als eine Formel für die Problematik kultureller Differenz verstehen. An dieser grundsätzlichen Aussage des Textes ändert auch die Tatsache nichts, dass am Ende der Erzählung wiederum auf der bildlichen Ebene Verbindungslinien zwischen Europa und Asien gezogen werden – so bekommt Okuro bei einer Theateraufführung, bei der er sein eigenes Schicksal darstellt, plötzlich dieselben weißen Haare, wie sie die Großmutter hat, deren Haar schon mehrfach mit dem Schnee des Hirayama verglichen worden war. Ein weiteres Mal spielt hier das Stereotyp einer ›weiblicheren‹ Identität der Asiaten eine Rolle, wenngleich Okuro am Schluss als wahrer Liebender der in ihrer Liebe schwankend gewordenen Ilse überlegen zu sein scheint. Gerade das Ende der Erzählung demonstriert jedoch aufgrund der Handlungsführung noch einmal deutlich, dass der Autor die Auffassung von der Unvereinbarkeit der Kulturen teilt und gewissermaßen propagiert. Wenn nämlich Ilse direkt, nachdem sie sich von ihrem Mann abgewendet hat, ertrinkt, dann verleiht der Autor dem Scheitern dieser Liebesbeziehung den Stempel eines schicksalhaften Geschehens, das die logische Folge einer per se unmöglichen Verbindung darstellt und sich auf einer symbolischen Ebene abspielt (worunter hier eine tiefer liegende Bedeutungsschicht verstanden wird, die den Handlungsgang bestimmt). Zwar gründet die Unvereinbarkeit der Kulturen für Dauthendey nicht auf ›rassischen‹ Differenzen, aber die kulturellen Differenzen werden doch als unüberwindlich dargestellt die Vorstellung kultureller Geschlossenheit bestätigt. Es ist nun allerdings gerade die exotistische Perspektive Dauthendeys, die die Vorstellung von Übergängen und möglichen Schnittmengen zwischen Europa und Asien verhindert; jede Art von Hybridität würde nämlich dem asiatischen Raum zum einen etwas von seiner geheimnisvollen Atmosphäre und zum andern den Status vollkommener Alterität rauben, die jedoch beide Voraussetzung sind für die ästhetische Evokation eines märchenhaften, unverständlichen und vollkommen anderen Asiens. Für
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den Exotismus bleibt die Vermischung der Kulturen unvorstellbar und negativ konnotiert, weil die Faszination durch das gänzlich Andere erhalten bleiben soll.
3. D ER TOD EINES M ISCHLINGSKINDES : A LMA K ARLINS D IE BLAUE E IDECHSE Im Folgenden soll dem Text Dauthendeys Alma Karlins Erzählung Die blaue Eidechse gegenübergestellt werden. Da diese Autorin heute vollkommen unbekannt ist, sei sie zunächst kurz vorgestellt. Alma Karlin, die angeblich mindestens acht Sprachen beherrschte,8 ist eine deutschslowenische Autorin, die als Journalistin und Reiseschriftstellerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Fülle von äußerst erfolgreichen Reisebüchern und Romanen veröffentlichte. Geboren wurde sie am 12. Januar 1889 im slowenischen Celje, das damals noch zu Österreich-Ungarn gehörte, wo sie nach langen Reisen im Jahr 1950 auch starb.9 Berühmt wurde Karlin zunächst durch ihre von 1919 bis 1927 dauernde Weltreise, die sie nach ihrer Rückkehr in den drei Reisebüchern Einsame Weltreise, Erlebte Welt und Im Banne der Südsee beschrieb, die in einer Gesamtauflage von über 100.000 Exemplaren mehrere Nachdrucke erlebten und ins Englische, Finnische und Slowenische übersetzt wurden. Sie trat aber auch als Autorin einer Fülle von literarischen Texten in Erscheinung,
8 | 1914 absolvierte sie an der Londoner Society of Arts die Prüfung in acht Fremdsprachen mit Auszeichnung. Vgl. Gabriele Habinger: »Einsam von einem zum anderen Ende der Welt: Alma Karlin«, in: Irmgard Kirchner und Gerhard Pfeisinger (Hg.): Weltreisende Österreicherinnen in der Fremde, Wien 1996, S. 100-109. 9 | Zum Zeitpunkt ihrer Geburt war sie also noch Österreicherin; sie spricht daher später von ihrem »inneren Deutschtum«. Alma Karlin: Einsame Weltreise. Erlebnisse und Abenteuer einer Frau im Reich der Inkas und im fernen Osten, Minden 1932, S. 76. Diese Zuordnung zu Deutschland verhinderte nach dem Zweiten Weltkrieg in Slowenien die Beschäftigung mit ihrem Werk. Daher gibt es erst seit 1990 eine Auseinandersetzung mit ihren Schriften und auch mit ihrer Arbeit als Ethnologin. So hinterließ Karlin eine umfangreiche Sammlung von Kunstgegenständen, Stoffen, Waffen und Herbarien aus aller Welt.
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in denen sie ebenfalls ihre Reiseeindrücke verarbeitete.10 Ihre Werke besitzen somit einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Vorstellungen, die man sich im Europa der Zwischenkriegszeit von den verschiedensten fremden Kulturen machte. Für den hier untersuchten Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung, dass Alma Karlin, schon bevor sie nach Asien kommt, in dem 1921 erschienenen Roman Mein kleiner Chinese eine Heirat zwischen einer in London lebenden deutschen Sprachlehrerin und ihrem chinesischen Sprachschüler schildert. Möglicherweise beruht diese Erzählung auf eigenen Erfahrungen, denn Karlin lebte selbst eine Zeitlang in London und hatte dort eine Beziehung mit einem Chinesen. Allerdings geht der literarische Text weit über diese Erfahrungsebene hinaus, denn er beschreibt, wie die Ehe des jungen Paares während der Zeit in China an den Anfeindungen der Schwiegermutter und am Tod des gemeinsamen drei Monate alten Kindes scheitert. Schon in dieser Erzählung ist die die Kulturen übergreifende Beziehung somit negativ konnotiert, und die Erzählerin warnt sogar am Schluss alle Europäerinnen vor der Heirat mit einem Asiaten. Vor der Begegnung mit dem fremden Kontinent wird somit die Vorstellung einer interkulturellen Verbindung als zum Scheitern verurteilt dargestellt. Es lässt sich vermuten, dass dieses den fiktiven Text bestimmende vermeintliche ›Vorwissen‹ auch Karlins spätere Erfahrung fremder Kulturen prägt. In der Erzählung Die blaue Eidechse, die 1930 in dem Band Drachen und Geister erschienen ist, wird diese Thematik insofern fortgeführt, als es nun um die Lebensgeschichte eines deutsch-chinesischen Mischlingskindes geht, dessen Mutter Deutsche und dessen Vater ein chinesischer Händler in irgendeiner namenlosen Stadt in China ist.11 Dieses Mädchen
10 | Ihr Buch Windlichter des Todes beeindruckte die schwedische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf derart, dass sie Karlin inoffiziell für den Nobelpreis für Literatur vorschlug. 11 | Karlin selbst hatte in ihrem Reisebericht Einsame Weltreise Japan sehr viel positiver beschrieben als China, in dem sie sich immerhin sechs Monate aufhielt. Es ist insofern ›symptomatisch‹ für ihre Absicht, in dieser Erzählung die asiatische Seite eindeutig negativ kennzeichnen zu wollen, dass sie diese Erzählung in China ansiedelt und nicht in Japan, was ja ebenfalls möglich gewesen wäre, die negative Charakterisierung des Landes aber für sie und auch für die zeitgenössische Leserschaft erschwert hätte.
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wird gleich im ersten Satz als »ein Kind der Passage«12 bezeichnet, womit sowohl die überdachte Passage der Läden gemeint ist, in der sie zuhause ist, als auch sinnbildlich auf die Übergangsposition angespielt wird, in der sie sich befindet. Die Ehe ihrer Eltern ist in der Perspektive der Mutter unglücklich verlaufen; diese hatte »in Deutschland einen Chinesen als Rettung aus aller Geldnot geheiratet und von Neophritbändern, Türkisen und Elfenbein geträumt« (S. 69), lässt aber, seitdem sich ihr Mann mehrere Nebenfrauen genommen hat, das Leben teilnahmslos an sich vorüberziehen und zeigt auch an dem Kind kein weitergehendes Interesse, da sie es der väterlichen chinesischen Welt zurechnet. In diesem Text begegnet man somit einer interkulturellen Familie, die als solche auch in rechtlich verbindlicher Weise konstituiert ist, in der es aber keinerlei emotionale oder kommunikative Beziehung zwischen den drei Familienmitgliedern gibt. Es handelt sich somit um eine äußerst desolate Familie, deren Mitglieder in völliger Unverbundenheit nebeneinander leben. Mit der Figur der Mutter wird die Faszination durch Vorstellungen des prächtigen Orients als Motiv aufgerufen, aber zugleich als Täuschung entlarvt. Es geht der Autorin somit in ihrer Erzählung einerseits um eine Infragestellung der gängigen Bilder vom Orient, die von Texten wie den Märchen aus 1001 Nacht wach gehalten und von der Reiseliteratur häufig negiert werden.13 Doch Protagonistin der Erzählung ist nicht die vom Orient ent12 | Alma Karlin: »Die blaue Eidechse«, in: Dies.: Drachen und Geister. Novellen aus China, Insulinde und der Südsee, Berlin 1930, S. 65-93, hier S. 65. Zitate aus dem Text werden fortan durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. 13 | Zugleich findet die Faszination durch einzelne Aspekte Chinas, die Karlin in ihren Reiseberichten durchaus eingesteht, keinen Eingang in den fiktionalen Text. So zogen sie in China »die geheimnisvollen Tempel, der Schatten des Mystischen, Düster-Grauenhaften, der zauberhafte Aberglaube, der in fremde Welten versetzt, […] wie nur noch in der Südsee an.« Karlin: Einsame Weltreise, S. 306. Wie undenkbar für sie dagegen eine Verbindung zwischen einer weißen Frau und einem Chinesen ist, benennt sie in Einsame Weltreise ebenfalls sehr deutlich: »[M]an muß in China gelebt haben, um zu verstehen, daß eine weiße Frau unmöglich die Herz- und Betteilerin eines Mannes bleiben kann, der sich mit ungewaschenen, vielleicht angesteckten, in jeder Hinsicht auf einer viel tieferen Stufe befindlichen Frauen in engste Gemeinschaft begibt und später von der weißen Gattin fordert, was eine Sklavin allein zu tun bereit sein mag«. Karlin: Einsame Weltreise, S. 323.
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täuschte Mutter, sondern ihre Tochter, die keine eigene eindeutige Identität erlangen kann, was schon an ihren verschiedenen Namen deutlich wird; so heißt sie eigentlich Gertrude, wird aber von allen in der Passage, auch von der Mutter, »blaue Eidechse« gerufen, zum einen, weil sie immer blaue Kleidung trägt, zum andern, weil sie sich so flink wie »Quecksilber« (S. 68) durch die Passage bewegt. Die Autorin macht am Beispiel dieses Mädchens – in einer gegenüber Dauthendey sehr viel stärker ›rassisch‹ argumentierenden Weise – deutlich, dass eine solche Verbindung von europäischem und asiatischem Wesen unheilbringend ist, denn in dem Kind kämpfte das Blut des Vaters gegen das der Mutter, schlummerte Fuchsglauben und Vampirfurcht neben westlicher Mystik der Liebe, hing das Herz an alter Stickerei wie an etwas Lebendem und verachtete der Verstand die niedrige Bestechungskunst. Ihre europäische Empfindlichkeit lehnte sich auf gegen das Gespucke um sie her, das widerliche Nasenputzen der Chinesen, und ihr Stolz bäumte sich auf bei dem Gedanken, einmal einen Chinesen heiraten zu sollen, der zwei, drei Taitais hatte. Sie würde einen Weißen wählen, denn sie war schön. (S. 70f.)
Nicht nur erscheint die europäische Lebensweise hier als überlegen, da sie weder Bestechung, Aberglaube, Gespucke noch Vielweiberei kennt, sondern dem westlichen Denken wird auch die »Mystik der Liebe« zugeschrieben. Alma Karlin reproduziert in ihrer Erzählung ungebrochen die abwertenden Klischees über China, die zur Zeit der Textentstehung den europäischen Diskurs weitgehend beherrschten. Angesichts solch negativer Urteile über China erstaunt es nicht, dass Gertrude nach Europa zurückstrebt und sich bald in einen Weißen verliebt. Dass diese Liebesbeziehung keine Chancen hat, ist von Anfang an klar. So findet sie der Deutsche mit dem kernigen Namen Eberhardt zwar sehr attraktiv und anziehend, er weiß aber, dass sie keine angemessene Partie für ihn darstellt. Als er kurze Zeit später eine mit ihrem Vater in China lebende junge Deutsche trifft, wirbt er schon bald um deren Hand. Gertrude, die die Annäherung der beiden beobachtet, wird vor Liebeskummer krank und stirbt nach einigen Wochen, in ihren Händen die Rosen, die ihr Eberhardt geschickt hat. Mit ihrem Tod wird das Experiment einer Mischung der Ethnien und Kulturen endgültig als gescheitert vorgeführt, wobei der implizite Rassismus des Textes vornehmlich darin liegt, dass für die Autorin die Option, dass Gertrude ihre Position zwischen den Kulturen annehmen und in
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irgendeiner Weise als ein ›Dazwischen‹ gestalten könnte, nicht einmal vorstellbar ist. Daher lässt sie ihre Protagonistin scheinbar selbstverständlich zur Seite der Weißen streben, wo ihr aber jede Anerkennung versagt bleibt. Alma Karlins Absage an eine interkulturelle Existenz wird somit von der Dominanz des Rassegedankens bestimmt; so erscheint die Tatsache, dass Gertrude sich weder als Chinesin noch als Deutsche fühlen kann, als unumgängliche Notwendigkeit, als eine Folge des Blutes. Die Erzählung zeigt damit einerseits deutlich, dass Positionen zwischen verschiedenen Kulturen nicht lebensfähig sind. Andererseits aber, und das macht die Ambivalenz des Textes aus, wird die schmerzhafte Außenseiterposition, in der sich Gertrude befindet, durchaus empathisch nachgezeichnet. Innerhalb dieses Textes überlagern sich somit zwei Diskurse, ein rassisierender, der die Getrenntheit der Kulturen bejaht, und ein eher universal ausgerichteter, der Gertrudes verletzte Gefühle als Teil einer allgemein menschlichen Erfahrung thematisiert. Dieser zweite Diskurs dominiert den letzten Teil der Erzählung, in dem Gertrudes Verzweiflung und ihr Tod beschrieben werden. Wie schmerzhaft ungeklärt für sie selbst ihre Position zwischen den Kulturen ist, zeigt sich noch einmal an ihrer Entscheidung für eine chinesische Beerdigung, die sie aber nicht aus Zugehörigkeitsgefühl, sondern nur wegen des großen Sarges wählt, in dem dann auch die Rosen, das letzte Liebeszeichen Eberhardts, Platz haben; einzig die Liebe gibt ihr somit eine Orientierung hinsichtlich ihrer Identität. Angesichts der einfühlsamen Schilderung von Gertrudes Leiden liegt der Schluss nahe, dass sich die Autorin – entgegen ihren tendenziell rassisierenden Denkmustern – mit der Außenseiterposition Gertrudes identifizierte. Es sind dabei ihre eigenen Erfahrungen als weltreisende Frau – die eben nicht der weißen männlichen herrschenden Schicht angehört –, die sie zu dieser eindrücklichen Darstellung einer Frauenfigur befähigen, welche keinen Platz findet und eine Ausgeschlossene ist. In den Reiseberichten beklagt Karlin dementsprechend vor allem jene Erfahrungen, die sie in schmerzlicher Weise auf ihre Identität als Frau zurückverweisen; so beschreibt sie in Einsame Weltreise, wie ihr schon bald die Entdeckerlust abhanden kommt, weil sie – bei einem Vergewaltigungsversuch – ihre weibliche Identität als grundsätzliches Bedrohtsein erfährt: »Von da ab kannte ich meine Grenzen und hatte überdies das Grauen erlernt. […] Von da an ging ich durch das
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Leben als Weib, nicht als verrücktes Mägdelein«14 . Aber gerade aufgrund ihrer eigenen Gefährdung behauptet sie, ein ungeschminkteres Bild der fremden Länder zeichnen zu können als dies männlichen Autoren möglich ist: »All diese Gefahren sah ich besser als Männer, die davon weniger berührt werden, oder flüchtige Durchreisende, die mit dem Volk in keinerlei Berührung traten«15 . Wie Kerstin Schlieker schreibt, fühlt sich Karlin durch solche Erfahrungen wie auch durch ständigen Geldmangel, der sie ebenfalls zwingt, mit den niederen Klassen der besuchten Länder in direkten Kontakt zu kommen, »um ihre soziale Identität als Vertreterin einer in ihren Augen höherstehenden Kultur betrogen.«16 Ähnlich wie ihre Protagonistin Gertrude erfährt sich die Autorin auf ihren Reisen somit als ausgeschlossen aus den kulturell privilegierten Kreisen und gestaltet diese Erfahrung im Rahmen einer narrativen Konstellation, mit der sie zugleich ethnisch-kulturelle Geschlossenheit propagiert. Wie zwingend das Postulat der ›Rassenreinheit‹ für Karlin ist, zeigt sich daran, dass sie es auch gegen sich selbst wendet; so verliebt sie sich zwei Jahre nach Abfassung dieser Erzählung auf ihrer Reise in Formosa in einen Japaner, trennt sich aber gleich wieder mit der Begründung: Wir weißen Frauen aber dürfen nicht die Rasse verraten. Es geht nicht! Es ist ein Verbrechen an uns und an den anderen. Es führt auch nie, nie zum Glück. […] Und wieder fuhr ich weiter in die unbekannte Welt hinein […], vom Fluch meines Geschlechtes begleitet. Wie unendlich leicht reist dagegen ein Mann!17
Der Zwang zur ›Rassenreinhaltung‹ wird fraglos und ohne weitere Argumente bejaht, wobei der letzte Satz andeutet, dass Männer unbeschwert von solchen Anforderungen reisen, d.h. dass sie sich mit fremden Frauen verbinden können, ohne dabei die ›Rasse‹ zu verraten, was ja der Realität in den Kolonien entsprach. Insofern benennt Karlin hier deutlich die Ungleichheit, die zwischen den Geschlechtern vorherrscht, ohne dass dies aber zu einer Kritik an den Geschlechternormen führen würde. 14 | Karlin: Einsame Weltreise, S. 95. 15 | Karlin: Einsame Weltreise, S. 120. 16 | Kerstin Schlieker: Frauenreisen in den Orient zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Weibliche Strategien der Erfahrung und kulturellen Vermittlung kultureller Fremde, Berlin 2003, S. 112. 17 | Karlin: Einsame Weltreise, S. 367f.
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Vergleicht man die Erzählungen Dauthendeys und Karlins, so zeigt sich, dass sie zwar übereinstimmend kulturelle und ethnische Vermischung als nicht vorstellbar kennzeichnen, dass sich aber zugleich die Motivation für dieses erzählerische Programm unterscheidet. Während es bei Dauthendey vor allem um den Schutz der exotistisch entworfenen Fremde geht und sein Text zudem mit einer Reihe von ambivalenten Brechungen die Eindeutigkeit kultureller Abgrenzungen unterläuft, vertritt Alma Karlin eine rassistisch-essentialisierende Perspektive, die von der Höherwertigkeit der europäischen Kultur ausgeht, was wahrscheinlich nicht zuletzt den Erfolg ihrer Reiseberichte begründet. Sie verdeutlicht schon durch die völlige Sprachlosigkeit zwischen den Eltern und zwischen den Eltern und dem Kind, dass eine interkulturelle Verbindung unmöglich ist – Gertruds Tod belegt darüber hinaus, dass jede Vermischung der Kulturen nur im Unglück enden kann. Einzig die Tatsache, dass die Autorin mit der Figur Gertruds überhaupt eine solche zwischen den Kulturen stehende Existenz zum Thema einer Erzählung macht und dabei weibliche Ausschlusserfahrungen in eindrücklicher Weise vorführt, verleiht ihrem Text einen literarischen Wert.
4. F A ZIT Die untersuchten Erzählungen zeigen einerseits Gemeinsamkeiten, differieren aber gleichwohl in entscheidenden Punkten. In beiden Texten wird die Paar- oder Familienbildung zwischen verschiedenen Kulturen als ein Projekt dargestellt, das zum Misslingen verurteilt ist, sei es auf der symbolischen Ebene, wie durch den Schiffbruch, der bei Dauthendey die Unvereinbarkeit der beiden Liebenden bestätigt, sei es als vollständiges Scheitern der deutsch-chinesischen Familie und des Mischlingskindes Gertrud, das aufgrund seiner Stellung zwischen den Kulturen untergeht. Gleichwohl unterscheiden sich die Texte in verschiedener Hinsicht: So findet sich in Dauthendeys Erzählung kein Hinweis auf die angebliche Überlegenheit der westlichen Kultur oder der weißen ›Rasse‹ wie bei Alma Karlin. Zudem dient die erzählerisch dargelegte Unvereinbarkeit von Asien und Europa in seinem Text dem Schutz des exotischen Anderen, dessen Fremdheit als undurchdringliche Alterität gewahrt bleiben soll. Beide Texte verbindet außerdem, dass sie den Exotismus selbst zum Thema machen, da in beiden Liebesbeziehungen die Faszination durch
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das ganz Andere der fremden Kultur die entscheidende Rolle spielt. Während aber diese Attraktion in Karlins Erzählung als Täuschung entlarvt wird, bleibt die Faszination des Fremden bei Dauthendey erhalten, wenngleich das Projekt einer Familienbildung scheitert. Damit ist aber das fremde Gegenüber als solches in seiner Attraktion unzerstört, nur ist es nicht der Annäherung und der Aneignung zugänglich. Insofern halten sich in Dauthendeys Erzählung zwei Tendenzen die Waage, nämlich die Absage an alle Bemühungen um eine Annäherung an die fremde Kultur und die Aufrechterhaltung der exotistischen Faszination selbst.
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Familien auf der Flucht Residualkonstellationen in Erzählungen von Flucht und Vertreibung seit dem Zweiten Weltkrieg Sigrid Nieberle
1. E INLEITUNG In einem der womöglich meistrezipierten Sachbücher über das Ende des Zweiten Weltkriegs, das in rund 50 Auflagen von 1950 bis 2000 erschienen ist und die Ereignisse an der Ostfront darstellt, ist folgende Episode nachzulesen: Der Pfarrer Karl Seifert beobachtet, wie im Frühjahr 1945 zahlreiche Opfer der Kriegshandlungen in der Elbe treiben. Der Fluss schwemmt »jene Deutsche« aus der Tschechoslowakei an, die vor der Front geflohen sind und dabei den Tod gefunden haben, und Seifert will sie gemeinsam mit Helfern bestatten. So auch am 20. Mai 1945, als die Grausamkeiten ihren symbolischen Höhepunkt erreichen: Auf der Elbe trieb, wie ein Schiff, eine hölzerne Bettstelle, auf der eine ganze deutsche Familie mit ihren Kindern mit Hilfe langer Nägel angenagelt war. Und als die Männer die Nägel aus den Händen der Kinder zogen, da konnte der Pfarrer nicht mehr die Worte denken, die er in den letzten Tagen oft gedacht hatte, wenn er sich mit den Tschechen beschäftigte und wenn Schmerz und Zorn und Empörung ihn übermannen wollten: »Herr, was haben wir getan, daß sie so sündigen müssen.« Dies konnte er nicht mehr. Aber er sagte leise: »Herr, sei ihrer armen Seele gnädig!«1
An dieser drastischen Darstellung, in der zum einen die »ganze deutsche Familie« und zum anderen »d[ie] Tschechen« eine zentrale Rolle spielen, 1 | Jürgen Thorwald: Das Ende an der Elbe, Stuttgart 1950, S. 386f.
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sind jedoch Zweifel anzumelden. Wie lässt sich die nationale und kulturelle Identität dieser toten Menschen feststellen, wenn sie auf diesem Floß des nationalen Martyriums zunächst vorbeitreiben und erst dann herausgezogen werden? Und was mag die »ganze« deutsche Familie hier bedeuten? Ist eine vollständige oder eine vielköpfige Familie gemeint? Die Väter sind zumeist im Krieg oder in der Gefangenschaft, während flüchtende Familien Großeltern, Mütter, Kinder und Versehrte umfassen. Gerade diese implizite Leerstelle des fehlenden Vaters unterstreicht jedoch die allegorische Nähe zur Heiligen Familie, in der nun nicht allein der Sohn das Martyrium der Kreuzigung erfahren muss. Zweifel an der historischen Glaubwürdigkeit dieser Episode, die in Jürgen Thorwalds Geschichtserzählung als nach Empathie heischender Schlusspunkt fungiert, erhärtet die Untersuchung von Davis Oels.2 So kann Oels nachweisen, wie sich die im Lauf der Jahre mehrfach überarbeiteten Auflagen des insgesamt zweibändigen Werks immer stärker von seiner früheren fiktionalisierenden Tendenz distanzieren. Auch die Episode vom Pfarrer Seifert fehlt ab der Auflage von 1995: Quellen für die Episode haben sich […] weder in Thorwalds Material noch in anderen Dokumentationen finden lassen. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine der ›symbolischen Verdichtungen‹ des Ausgangsmaterials handelte, die der 1950 erwünschten, aber 1995 in dieser Form nicht mehr opportunen Emotionalisierung dienten. 3
Auch wenn man annehmen wollte, dass es sich um eine erfundene oder stark bearbeitete Erzählpassage handelt, so wird doch mehr als deutlich, dass damit sowohl die Grausamkeit der Siegernationen herausgestrichen wird als auch der Familie zentrale Bedeutung für eine derart aufwühlende erinnerungspolitische Strategie zukommen sollte. Nicht als historische Quelle, sondern als Dokument einer sich während der Nachkriegsjahrzehnte stetig verändernden Erinnerungsarbeit ist Thorwalds Buch zu werten, wenn darin anfangs noch in unethischer Aufrechnung von Schuld 2 | Vgl. David Oels: »›Dieses Buch ist kein Roman‹. Jürgen Thorwalds ›Die große Flucht‹ zwischen Zeitgeschichte und Erinnerungspolitik«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2009) [13 S.]. URL: www. zeithistorische-forschungen.de/16126041-Oels-3-2009 (letzter Zugriff am 20.02.2011). 3 | Oels: ›Dieses Buch ist kein Roman‹, S. 13.
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gegen Schuld die Judenvernichtung explizit gegen die Rache der Vertreibung gestellt wird.4 Die Erzählungen von Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, wie sie Historiographik, Autobiographik, Roman und Film seit 1945 immer wieder ausformulierten, wurden bisher zumeist unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für das kollektive Gedächtnis untersucht.5 Dass ›Familie‹ in diesen Erzählungen einen überaus bedeutsamen Faktor für kulturelle und nationale Identitätskonstitutionen darstellt – bedenkt man insbesondere die seit dem 19. Jahrhundert fest verankerte metonymische Tradition der Familie als ›Staat im Kleinen‹ –, wurde am Eingangsbeispiel bereits deutlich. An der Zerrüttung familiärer Strukturen sowie den gewaltsamen Trennungen durch die Kriegsfolgen lässt sich der Zerfall des Deutschen Reiches und seiner nationalsozialistischen Ideologie eindringlich personalisiert vor Augen führen. Umso erstaunlicher ist es, dass es für die Forschung bisher kaum eine Rolle spielte, von welchen Familienkonstellationen die älteren Texte erzählen und welche Erzählverfahren sie verwenden. Für eine angemessene Berücksichtigung dieser Fragen sprechen auch Ergebnisse der soziologischen Gedächtnisforschung: Eine auf qualitativen Interviews basierende Studie zum Familiengedächtnis, die das kollektive Erinnern an den Nationalsozialismus erforschte, konnte zeigen, dass »im Prozeß der Tradierung von Vergangenheit die emotionale Dimension der Vermittlung und der bildhaften Vorstellung eine größere Rolle spielt als kognitiv repräsentiertes Wissen«6. Mit anderen Worten: Die Narrationen innerhalb der Familientradition vermitteln nicht primär Fakten und Analysen, sondern passen ihre Erinnerungen in verfügbare Narrative und Sprachbilder ein. Tatsächlich konnten vielfach Filme und Texte identifiziert werden, die in den analysierten Interviews als ›authentisches‹ autobiographisches Erinnern verwendet wurden. Verwandte werden dann zu Protagonisten, wenn eins über das andere geblendet wird. Können Fa4 | Vgl. Oels: ›Dieses Buch ist kein Roman‹, S. 13. 5 | Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006 sowie Eva und Hans-Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn u.a. 2010. 6 | Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002, S. 200.
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milienangehörige und historische Personen nicht mit fiktionalen Figuren identifiziert werden, dann spielten sie vermeintlich keine Rolle im öffentlichen Leben. Vor allem deshalb war »Opa […] kein Nazi«7. Das bisher recherchierte deutschsprachige Textkorpus zu Flucht und Vertreibung8 liefert einen nur selten untersuchten, aber kaum zu überschätzenden Beitrag zur Familienfiktion der westdeutschen Gesellschaft nach 1945. Im Zentrum literatur- und kulturwissenschaftlicher Studien standen bislang vor allem die Diskurse um Heimat und Heimatverlust, Versöhnung, Verzicht, Rückkehr, Traumatisierung.9 Die ethischen und politischen Dimensionen dieser Belletristik bestimmten zumeist auch ihre Rezeption. Als bereits bald nach Kriegsende und Vertreibung die literarische Fiktionalisierung der Ereignisse einsetzte, nahmen zugleich die jahrzehntelangen interessenpolitischen Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über Zwangsmigration und Gebietsverlust ihren Anfang. Jede Aussage im Diskurs von Flucht und Vertreibung wurde insofern politisiert, als es weder in Ost- noch Westdeutschland möglich war, von einer ›neutralen‹ Position aus Historie und eigene Erfahrung zu schildern.10 Dies galt weitgehend auch für literarische Texte und deren Kritik. Dass von Flucht und Vertreibung zu erzählen heute nicht mehr bedeuten muss, einem revanchistischen Begehren nachzugeben und einem konservativen Wertekanon anzuhängen, haben vielleicht erst die Publikationen der so genannten 7 | Welzer, Moller und Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. 8 | Vgl. Axel Dornemann: Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Prosaliteratur und Erlebnisbericht seit 1945. Eine annotierte Bibliographie, Stuttgart 2005. 9 | Vgl. exemplarisch Sascha Feuchert (Hg.): Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 2001, Ulrike Frede: »Unvergessene Heimat« Schlesien: Eine exemplarische Untersuchung des ostdeutschen Heimatbuches als Medium und Quelle spezifischer Erinnerungskultur, Marburg 2004, Louis Ferdinand Helbig: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit, 3. Aufl., Wiesbaden 1996 und Björn Schaal: Jenseits von Oder und Lethe: Flucht, Vertreibung und Heimatverlust in Erzähltexten nach 1945 (Günter Grass, Siegfried Lenz, Christa Wolf), Trier 2006. 10 | Vgl. Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948-1972), Weimar und Wien 2007, S. 264f.
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Enkelgeneration seit etwa 2000 vermitteln können, indem sie den Fokus noch stärker auf die Familie lenkten und die interkulturellen Konflikte entschärften.11 Vor allem seit der politischen Wende 1989 hat die Erinnerungsarbeit an einer gemeinsamen deutschen Vergangenheit vor 1949 an quantitativer und qualitativer Bedeutung gewonnen. Nicht zufällig oder nebensächlich ist jedoch, dass für die interkulturellen und innerfamiliären Konflikte, die aus Kriegshandlungen, Zwangsarbeitersystem und Zwangsmigration entstanden waren, das Melodramatische als populäres Genre der Familienerzählung zur Verfügung stand. Das Melodramatische und seine Regeln bestimmen, wie von Familie und ihrer Zerschlagung in diesen besonderen Situationen auf hoch emotionalisiertem und popularisiertem Niveau erzählt werden kann.
2. E INE F R AU ALLEIN : D AS MELODR AMATISCHE N ARR ATIV 12 Margaret Mitchells Gone with the Wind aus dem Jahr 1936 erzählt die Lebensgeschichte einer jungen Frau, deren Jugend vom Krieg beherrscht wird. Sie wendet sich wechselnden Männern zu, wird zweimal kurz hintereinander Witwe, schlägt sich tapfer durch: stets den Nöten und Zwängen eines von Zerstörung und Verlust geprägten Lebens unterworfen und sich diesen dennoch unbeugsam widersetzend. Scarlett O’Hara ist sowohl in Mitchells Roman als auch in der Verfilmung durch Selznick und Metro-Goldwyn-Mayer (Regie: Victor Fleming, USA 1939) eine Figur, die sich durchgängig im melodramatischen Exzess zu situieren scheint. Un11 | Zum Beispiel: Tanja Dückers: Himmelskörper, Berlin 2003, Julia Franck: Die Mittagsfrau, Frankfurt a.M. 2007, Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten, München und Wien 2003, Olaf Müller: Schlesisches Wetter, Berlin 2003 und Petra Reski: Ein Land so weit. Ostpreußische Erinnerungen, München 2000. Vgl. hierzu auch Laurel Cohen-Pfister: »Kriegstrauma und die deutsche Familie. Identitätssuche im deutschen Gegenwartsroman«, in: Thomas Martinec und Claudia Nitschke (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 2009, S. 243-257. 12 | Lisa Gast, die bereits in den 1930er Jahren Mutter- und Eheromane schrieb, veröffentlichte 1949 unter dem Titel Eine Frau allein. Ein Schicksal aus unseren Tagen ihren Roman über eine Mutter von sechs Kindern, die sich als Kriegswitwe in den Westen durchschlägt.
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kontrollierbare und unabwägbare Gefühle, Zuschreibungen, Ereignisse dominieren den Film und zugleich seine Rezeption. Gone with the Wind gilt der Filmgeschichtsschreibung als Inbegriff des romantischen Hollywood-Melodramas: große Emotionen, beeindruckende Bilder, eine aktive Heldin, personalisierte soziale Differenzen, antipodische Moralpositionen und ausgeprägte Funktionalisierungen der Musik.13 Die Figur Scarlett O’Hara erlebt die Grauen des Sezessionskriegs am eigenen Leib. Als die Front des Bürgerkriegs näher rückt, begibt sie sich mit Schwägerin, Baby und Sklavin auf die Flucht nach Hause. Mit solcher Übernahme symbolischer Mutterfunktionen entsteht interfilmische Nähe zum in den 1920er und 1930er Jahren beliebten Maternal Melodrama, das eine Mutter in Sorge um ihre Kinder und deren Zukunft inszeniert.14 Jene Sequenzen, in denen das Pferdefuhrwerk durch das brennende Inferno des zerstörten Atlanta geleitet werden muss, gelten als die aufwändigsten und spektakulärsten des vierstündigen Filmepos. Einstellungen, die das Pferdefuhrwerk in der vom Krieg gezeichneten Landschaft Georgias zeigen, sind von einer regelrechten Residualästhetik geprägt: Trümmer soweit das Auge reicht.15 Nur die Kolonne geschlagener Soldaten, die verwundet und in Fetzen zurückkehren, schneidet Blickachsen durch das Feld der Verwüstung. Untersichten queren die Totale und fragmentieren wiederum die vollständige filmische Imagination der Zerrüttung. Das Land und seine ehemals paternale Ordnungsstruktur liegen buchstäblich am Boden.16 In der Heimat angekommen, muss die Protagonistin erfahren, dass die 13 | Vgl. Steve Neale: Genre und Hollywood, London und New York 2000, S. 179f. Zum Melodrama als weibliches Genre vgl. Irmela Schneider: »Genre und Gender«, in: Elisabeth Klaus, Jutta Röser und Ulla Wischermann (Hg.): Kommunikationswissenschaft und Gender, Opladen 2001, S. 92-102. 14 | Vgl. Lea Jacobs: »Unsophisticated Lady: The Vicissitudes of the Maternal Melodrama in Hollywood«, in: Modernism/Modernity 16.1 (2009), S. 123-140. Im Roman hat Scarlett eigene Söhne, in der Filmversion nur eine erst nach dem Krieg geborene Tochter. 15 | Zum Forschungskontext vgl. Barbara Thums und Annette Werberger (Hg.): Was übrig bleibt. Von Resten, Residuen und Relikten, Berlin 2009. 16 | Dies verdeutlicht bereits die im Zoom aufgezogene Totale auf den Hospitalvorplatz, der über und über mit Verwundeten übersät ist. Die Vorkriegskultur und ihre Bevölkerung werden nur mehr als verstreute Reste einer geordneten Armee imaginiert.
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topographische Rückkehr an einen Ort nicht die erhoffte Rückkehr zu alten Sicherheiten und Ordnungen bedeuten muss – ganz im Gegenteil. Nichts ist mehr so, wie es vor dem Krieg war: Der Weg nach Hause ist abgeschnitten von den Entwicklungen der Gegenwart (Sklavenbefreiung, Plünderung, Spekulation, Hunger und Armut allenthalben). Scarlett O’Hara zieht wieder in die Stadt, wo sie ein neues Leben unter den Vorzeichen von ökonomischer Selbständigkeit beginnt. Während das in den 1950er Jahren populäre Familienmelodrama die Alltäglichkeit des Alltags negieren wird,17 zeigt das romantisch-historische Melodrama den Einbruch der Katastrophe in ein relativ kurz exponiertes Gesellschafts- und Alltagsleben, das mit Tod, Krankheit, Flucht, Vertreibung, Plünderung, Vergewaltigung ein jähes Ende nimmt. Ein neuer Alltag, eine neue so genannte Normalität, muss von den Figuren wiedererlangt werden, um die erlittenen Traumata fortan in dieses re-konstruierte Leben integrieren zu können. Aus heutiger Perspektive, knapp 150 Jahre nach der fiktionalisierten Historie und etwa 75 Jahre nach Erscheinen des Romans und seiner Verfilmung, würde wohl kaum noch jemand darauf insistieren, dass es sich bei einem Hollywood-Melodrama wie Gone with the Wind vorrangig um historische Erinnerungsarbeit handelt. Müßig scheint es jedenfalls, diesbezüglich über die angemessene und ›richtige‹ Art kollektiver Gedächtniseinspeisung zu diskutieren.18 Längst sind genrespezifische Wahrnehmung und historiographische Bearbeitung getrennte Wege gegangen.19 Das romantische Hollywood-Melodrama formiert sich als melodramatische Imagination in formaler, soziologischer und psychoanaly-
17 | Vgl. Thomas Elsaesser: »Tales of Sound and Fury. Observations on the Family Melodrama«, in: Bill Nichols (Hg.): Movies and Methods: An Anthology, Vol. I, Berkeley und Los Angeles 1985, S. 165-189. 18 | Diese Debatten rekonstruiert zum Teil Molly Haskell: Frankly, my Dear: ›Gone with the Wind‹ revisited, New Haven 2009. 19 | Sogar die mehrfach preisgekrönte fünfteilige Fernsehdokumentation von Ken Burns über den Civil War, die fast ausschließlich auf historisches Bild- und Textmaterial zurückgreift, wird überzeugend im Kontext des melodramatischen Modus diskutiert. Vgl. Margit Peterfy: »Ken Burns’s Civil War: Documentary and the Melodramatic Representation of History«, in: Frank Kelleter, Barbara Krah und Ruth Mayer (Hg.): Melodrama! The Mode of Excess from Early America to Hollywood, Heidelberg 2007, S. 329-351.
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tischer Hinsicht.20 Der Horizont als Begrenzung des filmischen Raums (gleichsam als erste Wand gegenüber der vierten) wird deutlich markiert und figuriert die Relation von Mensch und Welt. Im Zuge der erzählten Destruktion lösen sich Familien, soziale Milieus und Verbände auf, werden Eliten ihrer Privilegien enthoben, Unterdrücker plötzlich selbst entrechtet und vormals Unterdrückte nur vermeintlich ins Recht gesetzt. Es entstehen deutliche Binäroppositionen, etwa befreite Sklaven vs. ehemalige Besitzer, rurale Plantagenbesitzer vs. urbane Kaufleute, Soldaten vs. Zivilbevölkerung, ehrbare Frauen vs. Prostituierte, Eltern vs. Kinder. Dominiert sind die Oppositionen im Fall von Gone with the Wind von der raumsemantischen Achse der Nord- und Südstaaten, denen Niederlage und Sieg zugeordnet sind. Der melodramatische Modus überhöht das auch im Untergang noch stolze, treue und tapfere Opfer, das jedoch in einer nächsten Version bereits Täter oder Täterin sein kann. Dabei geht es vor allem auch darum, den gemeinsamen ethischen Nenner einer Gesellschaft auszuloten. Daraus lässt sich schließen: »[M]elodramas are useful for all kinds of political purposes.«21 Der weibliche Körper dient dabei in psychoanalytischer Hinsicht – folgt man Brooks – als repräsentative Somatisierung jener Emotionen, die von den unabsehbaren traumatisierenden Ereignissen ausgelöst werden und sich gleichsam in den weiblichen Körper einschreiben. Diese Funktionalisierung lässt sich insofern als melodramatisch verstehen, als sie ein Leseverfahren darstellt, das die Erzählungen anbieten. Erst über diese Körperinszenierungen der melodramatischen Heldin wird das Individuum vor der Folie kollektiver Geschichtserfahrung lesbar. Im Mittelpunkt dieses melodramatischen Narrativs steht demzufolge auch das Spannungsverhältnis der Heldin zu ihrer Familie, und in der Figur der Heldin zentriert sich somit die Narration von Familienauflösung und Familienrekonstruktion. Wer an Gone with the Wind denkt, erinnert sich sicherlich an die Schlusssequenzen des ersten und des zweiten Teils. Der erste Teil endet im Grauen des Kriegs, als die Protagonistin bei Gott schwört, niemals mehr hungern 20 | Vgl. Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, 2. Aufl., New Haven und London 1996, S. IXf. 21 | Frank Keller und Ruth Mayer: »The Melodramatic Mode Revisited«, in: Frank Keller, Barbara Krah und Ruth Mayer (Hg.): Melodrama! The Mode of Excess from Early America to Hollywood, Heidelberg 2007, S. 7-18, hier S. 12.
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zu wollen. Von einem Weinkrampf geschüttelt, bricht sie auf dem Feld der Plantage zusammen. Sie steht wieder auf und erhebt die Faust gegen den Himmel, während die Musik pathetisch zu Ende zeichnet, was der Schwur begonnen hat. Das Gefühl Hunger – das legt die Überblendung zur Panoramaeinstellung mit der Heldin vor blutrotem Himmel nahe – ist nicht das einzige Gefühl, das hier im Spiel ist. Sämtliche negativen Grundaffekte wie Furcht, Leid, Scham, Verachtung und Zorn wären in Mimik und Gestik zu erwarten; jedoch speist uns die Fokalisierung mit einer dunklen Silhouette ab, die es nicht erlaubt, im Gesicht der Figur Entsprechendes ›zu lesen‹. Dramaturgisch stoßen hier Verzweiflung und Überlebenswillen, Schuld und Rache, Erfahrenes und Ersehntes, Vergangenheit und Zukunft in diesem einen Moment aufeinander: einem Moment, in dem sich Weltgeschehen und Individualbiographie ostentativ kreuzen. Die Szene hat ihr Pendant im Schluss des zweiten Teils, wenn sich die Heldin erneut weinend mit dem Gesicht zum Boden niederwirft, diesmal jedoch auf die mit rotem Teppich belegte Treppe ihrer Luxusvilla in Atlanta. Nun geraten Familienkrise und gescheitertes Alltagsleben in den Blick der melodramatischen Imagination. Das ›moralisch Okkulte‹ als ethische Kraft, die hinter der faktisch trostlosen Lebenssituation dieser verlassenen Frau zu vermuten ist, wird externalisiert und im Voice-over hörbar. Es sind die Stimmen der wichtigen Männer in ihrem Leben (Vater, Ashley, Rhett), die Scarlett ihre internalisierten Werte, das wirklich Wichtige im Leben, einflüstern: Nur das Land dauere ewig, nur dafür lohne es sich zu leben und zu sterben. Die unaussprechliche Liebe zum Grundbesitz, ihre identitätsstiftende und vitale Kraft, gerinnt im Eigennamen der Plantage: »Tara. Home. I’ll go home.« Das Schlussbild zeigt die Figur noch einmal vor dem Horizont, in dessen Mitte das bereits wieder aufgebaute Haupthaus der Plantage zu erkennen ist, während sich die Musik zur finalen Apotheose steigert. In einer politischen und sozialen Situation, in der sich auf keine gemeinsamen Werte mehr zu einigen ist, die Familie zerstört und auf keine zwischenmenschliche Beziehung mehr Verlass ist, besinnt sich die Heldin auf das Land, auf das sich der erschöpfte Mensch ungehemmt werfen kann. »Frankly, my dear, I don’t give a damn«, sagt Rhett bekanntlich zum Abschied.
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3. A BSCHIED VOM FEUDALEN F AMILIENVERBAND Solche melodramatischen Präfigurationen boten nützliche strukturelle und narrative Optionen, um von Flucht und Vertreibung nach 1944/45 literarisch und filmisch erzählen zu können. Bei entsprechender Modifikation der groben Koordinaten kann das ostelbische Feudalsystem an die Stelle des Plantagensystems rücken: Die ›Leute‹ eines Gutes, um die sich Herr und Herrin auch noch in der Fremde kümmern, nehmen die narrative Systemstelle der befreiten, aber nostalgisch fühlenden Sklaven ein: »So gab es immer etwas zu sorgen, war man doch auf dem Gut und im Dorf eine große Familie«22 . Dementsprechend schildert etwa Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten die regelmäßigen Nachkriegstreffen seiner ehemaligen Gutsarbeiter und ihrer Familien. Sogar die ehemaligen französischen Kriegsgefangenen auf den Gütern Prökelwitz und Schlobitten werden im Laufe der Zeit in diesen erweiterten Familienverband integriert, wobei indes die versöhnlichen Worte und nostalgischen Feste nicht vollkommen überzeugen: »In Schlobitten hätten sie sich nie als Gefangene gefühlt.«23 Die Russen, Polen, Tschechen als gewalttätige Eroberer treten an die Stelle der Yankees, die in den zerstörten Plantagen plündern. Laut den Erinnerungen von Georg von Schwerin stehlen, randalieren, brandstiften und vergewaltigen die durchziehenden und einquartierten Russen wochenlang in Zettemin, und nur die einquartierten Franzosen kommen dem wehrlosen Schlossherrn manchmal zu Hilfe.24 Die vakanten Positionen der gefallenen oder vermissten Liebes- und Ehepartner werden von Kriegsgewinnlern oder Kriegsgefangenen eingenommen. Jede neue Verbindung erfordert die Auseinandersetzung der Protagonistin mit einem ›fremden‹ Antagonisten. Während in Christiane Brückners Nirgendwo ist Poenichen die Heldin nahezu emotionslos das Kind von einem russischen Soldaten empfängt und aufzieht, verliebt sich Lena von Mahlenberg aus Die Flucht in einen französischen Kriegsgefangenen und verlässt dafür ihren Verlobten, einen überzeugt nationalsozialistischen ostpreußischen Junker.25 Die sprachlichen 22 | Georg Graf von Schwerin: Zettemin. Erinnerungen eines mecklenburgischen Gutsherren, München 2000, S. 16. 23 | Alexander zu Dohna-Schlobitten: Erinnerungen eines alten Ostpreußen, Berlin 1989, S. 331f. 24 | Vgl. Schwerin: Zettemin, S. 246-277. 25 | Vgl. dazu den letzten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes.
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und kulturellen Differenzen spielen jedoch eine erstaunlich geringe Rolle in den Erzählungen. Wie sich die melodramatische Imagination explizit in einen Fluchtbericht einschreibt, zeigt sich an folgendem Beispiel: Auch wenn sich die Autobiographie von Maria Frisé, geb. von Loesch, weitgehend um Sachlichkeit bemüht, blitzt doch das Melodramatische als Interpretationsmöglichkeit des eigenen Schicksals auf – ob tatsächlich in der damaligen Situation oder im reflektiven Nachgang, ist freilich nicht zu klären. Nachdem die Erzählerin in den letzten Kriegstagen eine absurd anmutende, jedoch so standesgemäß wie möglich organisierte Hochzeit feierte, machte sie sich mit ihrem Ehemann von Schlesien nach Stettin auf, wo dessen Einheit stationiert war. Unter den Büchern des Mannes, die sich auf dem Fußboden einer der Dachkammern stapelten, fand ich den dicken Schmöker ›Vom Winde verweht‹. Ich las, bis mir die Augen brannten. Der Untergang der O’Haras, einer Familie mit Privilegien, ähnlich jenen, wie auch wir sie genossen hatten, die Zerstörung einer scheinbar so festen Ordnung – es gab viele Parallelen zwischen dem Zusammenbruch der Südstaaten-Gesellschaft und dem Ende unserer schlesischen Gutsherrschaft 26 .
Auf die Unterschiede geht die Erzählerin nicht ein. Dass sich die melodramatische Lektüre ihrerseits in körperlichen Reaktionen bemerkbar macht, wird durch die Erwähnung der brennenden Augen deutlich herausgestrichen.
4. M ELODR AMATIK IM F AMILIENROMAN Aufgrund der vorausgegangen Beobachtungen lässt sich die These formulieren, dass Geschichte bzw. popularisierte Geschichtsschreibung aus melodramatischen Imaginationen heraus erstehen kann. Es lässt sich deshalb auch behaupten, dass die Erzählungen vom Verlust der deutschen Ostgebiete bereits Jahre vor Kriegsende für ein Millionenpublikum erzählt worden waren. So hatte Martin Beheim-Schwarzbach den Roman Gone with the Wind im Jahr 1937 erfolgreich ins Deutsche übersetzt. Im selben Jahr war in der Tradition des deutschen Familienromans Die Barrings von William 26 | Maria Frisé: Meine schlesische Familie und ich. Erinnerungen, Berlin 2006, S. 151.
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von Simpson erschienen. Den Plot dieses Romans bildet der Verlust eines ostpreußischen Gutes in der Nähe von Königsberg, was sich als literarische Reaktion auf den polnischen Korridor und die damit zusammenhängenden Gebietseinbußen verstehen lässt. Der Roman setzt kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein und entwickelt den Heimatverlust aus innerfamiliären und ökonomischen Motiven. Er schließt damit, dass sich der um sein Erbe gebrachte, achtzehnjährige Enkel Archibald Barring auf die Erde wirft und – wie Scarlett in den geschilderten Filmsequenzen – von unkontrollierbaren Emotionen überwältigt wird: Was er mit Wiesenburg verloren, das wußte er. […] Für dreckiges, gemeines Geld hatte er das Höchste hergeben müssen, die Heimat. Die Heimat, die er so geliebt, die ihn so reich gemacht hatte, wo er jeden einzelnen der alten Bäume kannte und liebte, wo die Sonne so hell geschienen, die Vögel so jubelnd gesungen, die Blumen so süß geduftet hatten. Die Heimat mit ihren grünen Wiesen […]. Die Heimat mit dem Fluß […]. Die Heimat war ihm genommen worden, die ihm gehört hatte, wie er ihr gehört hatte. Sie war ihm das Heiligtum seines Herzens gewesen, und nun war dieses Heiligtum verschachert […]. [E]rdrückt von Scham, als ein Geschändeter, mußte er sich wegstehlen, um sich heimatlos in der Welt herumzudrücken. 27
Obgleich es sich um einen männlichen Protagonisten handelt, der in der Romanfortsetzung mit dem Titel Der Enkel schließlich das Gut wiedererlangt,28 wird auch hier der melodramatische Aspekt der weiblich besetzten ›Schändung‹ benutzt und an den Heimatverlust gebunden. Zudem wird »Heimat« insofern als etwas ›Heiliges‹ im Sinne des ›moralisch Okkulten‹ bezeichnet, als sie für den Protagonisten unschätzbare identitätsstiftende Kraft spenden kann.29 Darüber hinaus fällt das durch die rhythmische Enumeratio gestaltete Lamento auf, fungiert doch die rhetorische Aufzählung als Figur für Schätze und Reste gleichermaßen:30 Dem narrativen Text ver27 | William von Simpson: Die Barrings, 279.–297. Tsd., Potsdam 1941, S. 786. 28 | Vgl. William von Simpson: Der Enkel, 99.–115. Tsd., Potsdam 1940. 29 | Vgl. Brooks: The Melodramatic Imagination, S. 202. 30 | Wie ein Nachhall auf die rhythmische Enumeratio am Ende jenes Romans liest sich eine Passage bei Dohna-Schlobitten, der über sein Leben und die Flucht von seinen ostpreußischen Gütern Schlobitten und Prökelwitz schreibt: »Wenn ich auch die allzu nationalistische Einstellung meiner Jugend heute ableh-
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leiht sie die Möglichkeiten exzessiver Signifikation und bringt zudem das Unaussprechliche vage genug zur Sprache. Die zitierte Romanpassage endet damit, dass der von einem Weinkrampf geschüttelte Körper des jungen Mannes unter freiem Himmel zusammenbricht und eine unwillkürliche Pose der Demut und Unterwerfung einnimmt: »Mit dem Gesicht nach unten lag Archi im Grase. Den Kopf hatte er fest in die gekreuzten Arme gedrückt. Sein langer, magerer Körper streckte sich schlaff, wie muskellos. Seine Schultern bebten. Er weinte. Fassungslos weinte er, als könnten die Tränen niemals wieder aufhören zu fließen.«31 Dass sich seine Verzweiflung im ›unmännlichen‹ Weinen äußert, beruht auf der Erinnerung an den Großvater Barring: Der Enkel imaginiert nicht nur die Gestalt des Großvaters, vor allem »hörte er die tiefe, ruhige Stimme leise sagen: ›Vögel im Nebel! So schwinden die Jahre dahin und … unsere Hoffnungen‹.«32 Beide Beispiele, sowohl dieser deutsche Familienroman als auch das Hollywood-Melodrama, zeigen deutlich, dass das Reflexions- und Erinnerungsvermögen für konkrete Narrateme zu Familie und Identität aussetzt. Die von Weinkrämpfen geschüttelten Körper repräsentieren Figuren, die an der Zerrüttung ihrer Familien nahezu zerbrechen. Es wäre jedoch keine melodramatische Imagination, wenn nicht der erneute Aufbruch und das Wiedererstarken Teil einer vagen, jedoch optimistischen Zukunftsvision wären.
5. »TOCHTER UND E HEFR AU VERLOREN IHN AUS DEN A UGEN « 33: I NNERFAMIL ÄRE VS . INTERKULTURELLE A SPEK TE Allerdings sind beide Intertexte ungeachtet ihrer Gemeinsamkeiten auch von entscheidenden Differenzen geprägt: Während die inter- und intrakulturellen Auseinandersetzungen in Gone with the Wind auf der NordSüd-Achse topographiert sind (zum einen feindliche Yankees aus dem inne und für ein vereinigtes Europa eintrete, so ist mir doch der Begriff Vaterland etwas Heiliges geblieben: Land meiner Väter, Land meiner Kultur, Land meiner Sprache«. Dohna-Schlobitten: Erinnerungen eines alten Ostpreußen, S. 333. 31 | Simpson: Die Barrings, S. 787. 32 | Simpson: Die Barrings, S. 787. 33 | Helga Hirsch: Entwurzelt. Vom Verlust der Heimat zwischen Oder und Bug, Hamburg 2007, S. 133.
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dustrialisierten Norden und zum anderen die für den Süden spezifische Sklaverei), so verläuft die Achse in den Romanen William von Simpsons bereits von Ost nach West. Aus dem Ruhrgebiet nämlich kommen die finanziell potenten Fabrikbesitzer, die den drohenden wirtschaftlichen Ruin der Güter im Osten ausnutzen, um sie günstig aufzukaufen. Zudem verläuft die intrakulturelle Konfliktlinie zwischen den am soliden Kaufmannsstand einerseits und am dekadenten Adel orientierten Familienmitgliedern andererseits. In Gone with the Wind dominiert deutlich das pychoanalytische Modell der Elektra, die als exponierte ›Vater-Tochter‹ dessen Besitz und Werte verteidigen und bewahren möchte. In Simpsons Roman ist es offensichtlich die gestörte Beziehung des Sohnes zu seiner egoistischen und materialistisch eingestellten Mutter, was im Gegensatz dazu die ödipale Folie aufspannt, denn der verantwortungslose Umgang der Mutter mit dem ›Erbe der Väter‹ ruft erst die Krise des eigentlichen Erben hervor. Mit der Orientierung des Enkels am Großvater werden die innerfamiliären Konflikte zugunsten einer Rekonstruktion ideeller und materieller Werte, die insbesondere ein ›intaktes‹ und harmonisches Familienleben umfassen, überwunden. Auf zahlreiche Texte aus dem umfangreichen Korpus zu Flucht und Vertreibung trifft die Beobachtung zu, dass Kriegshandlungen und die Bedrohung durch einmarschierende Truppen, auch die Begegnung mit Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, mehr aber noch die Fokussierung auf den letztendlichen Fluchtpunkt, nämlich die Ankunft in einer möglichen neuen Heimat, innerfamiliäre Konflikte in den Hintergrund treten lassen. Die Familien der Hauptfiguren sind als traditionelle christliche Familien dargestellt, denen auch das Prinzip des ›Pater semper incertus‹ oder die uneheliche Geburt eines Kindes nichts anhaben kann. Die heile Welt der Familie hält so lange stand, bis Krieg und Nationalsozialismus sie von außen zerrütten. Texte zu Flucht und Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg kombinieren die aufgezeigten prätextuellen Narrateme wie in einem Modulbaukasten, indem sie die paternale Genealogie auf der interkulturellen Ost-West-Topographie verorten und, wenn nötig, auch die stellvertretende Tochter als Erbin des Vaters oder Großvaters einsetzen. Wie dies Hans-Ulrich Treichel entfaltet, gehört die Kindheit nicht »zum Familienerbe«; auch »die Erinnerung ist kein Familienerbe, obwohl sie bei-
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nahe das einzige ist, was die aus dem Osten vertriebenen Eltern hätten bei sich haben können, als sie sich in Westfalen niederließen«34 . Kindheit und Erinnerung, gerade auch dann, wenn dieses Erbe nicht unversehrt ist, müssen sich von einem Autor oder einer Autorin erschrieben werden. Manche Erzählung eines vormaligen Junkers, die zeitlose genealogische Prinzipien signalisiert, beginnt entsprechend ›im Namen des Vaters‹: etwa mit der Bestimmung der eigenen Taufnamen durch Vater und preußischen Kaiser, mit der Inszenierung des Erzähler-Ichs als väterliche Figur für das gesamte Gut oder mit dem Herausstreichen väterlicher Leistungen für die preußische Geschichte.35 Die Variante des übermächtigen symbolischen Großvaters findet sich wieder in Christiane Brückners Jauche und Levkojen.36 Diese Romantrilogie aus den 1970er Jahren wurde erfolgreich als TV-Vorabendserie verfilmt und bemüht sich sichtlich, melodramatische Codierungen möglichst zu vermeiden.37 Weil sich aber auch darin die Erbin Maximiliane von Quindt durchweg am Wertekatalog des feudalen Großvaters orientiert, der letztlich die Flucht nicht antritt, sondern mit der Großmutter Selbstmord begeht und die Enkelin mit vier Urenkeln und seinen ›Leuten‹ allein trecken lässt, fügen sich Plot und diskursive Verweise in vielerlei Hinsicht doch wieder in das bekannte Modell des maternalen Melodramas. Auch Maria Frisés Erzählung reiht sich von Anfang an in die genealogische Ordnung ein und beginnt mit dem autobiographisch paktierenden Satz: »Die Loeschs, meine väterliche Familie, […] stammen 34 | Hans-Ulrich Treichel: Der Entwurf des Autors. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M. 2000, S. 21f. In Treichels Der Verlorene (Frankfurt a.M. 1998) sorgen der vermisste Sohn und die Suche nach ihm für den Zusammenhalt der fragilen Kleinfamilie, was jedoch die Kindheit des zweiten Sohnes maßgeblich beeinträchtigt. Die Familie zentriert sich um die narrative Leerstelle des aus den Augen verlorenen Sohnes; erst mit dem Wiederauffinden des Kindes könnten sich wieder Identität und das Ideal familiärer Vollständigkeit einstellen. 35 | Vgl. Dohna-Schlobitten: Erinnerungen eines alten Ostpreußen, Schwerin: Zettemin, Hans von Lehndorff: Menschen, Pferde, weites Land. Kindheits- und Jugenderinnerungen, München 1980. 36 | Christiane Brückner: Jauche und Levkojen. Nirgendwo ist Poenichen. Die Quints, München 2003. Dieser Großvater ist z.B. ein symbolischer Übervater, ohne der biologische Großvater der Protagonistin Maximiliane zu sein. 37 | Die interfilmischen und intertextuellen Bezüge werden mit den aktuellen DVD-Neueditionen dieser Serien durchaus fortgeschrieben.
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ursprünglich aus Magdeburg.«38 Marion Gräfin Dönhoffs Erinnerungen an die Kindheit in Ostpreußen setzt mit drei aufeinanderfolgenden Absätzen ein, die bereits im Satzspiegel die paternale Genealogie des grundbesitzenden Adels reproduzieren: Der erste Absatz ist dem »gefallenen Bruder«39 und seinen Kindern gewidmet, der zweite dem Vater und der dritte dem Großvater. Die erzählende Figur der Schwester, Tochter und Enkelin tritt an die Stelle der toten Familienoberhäupter und gibt ihnen buchstäblich eine Stimme. Dieses Erzähl-Ich führt sich als eine Überlebende und zugleich Übriggebliebene ein, als ein anachronistisches Residuum der einst so bedeutenden Familie Dönhoff, wohingegen die männlichen Mitglieder dem Staat gedient haben – der Bruder beim Militär und der Großvater als Diplomat und Außenminister – und darüber gestorben sind.
6. D ER NEUEN F AMILIE ENTGEGEN ? Das womöglich bekannteste Beispiel für eine tochterzentrierte Erzählung von Flucht und Vertreibung ist der Fluchtbericht Marion Gräfin Dönhoffs, zu dem die oben erwähnten Erinnerungen gleichsam nur die Vorgeschichte liefern. Publiziert 1962 in dem Band Namen, die keiner mehr nennt, schildert die Ich-Erzählerin, wie sie im klirrend kalten Winter 1945 wochenlang auf ihrem Pferd von Ostpreußen in den Westen ritt. In der autobiographischen Rückschau finden sich selbstreferentielle Bezüge zwischen dem historischen Ereignis und seiner Narration bereits explizit formuliert, denn die Wahrnehmung residualer Strukturen – von Landschaft, Städten, Geschichte und Familien – wird wie im filmischen und theatralen Dispositiv dargeboten. Ein Kulturraum und seine Bevölkerungsstruktur lösen sich in figurale Ansammlungen auf, die nicht zufällig an die Hospitalsequenz in Gone with the Wind oder an die rhetorische Enumeratio in Die Barrings erinnern: Ganz langsam, im Zeitlupentempo – so als sollten die Bilder sich noch einmal ganz fest einprägen – zog ostpreußische Landschaft wie die Kulisse eines surrealistischen Films an uns vorüber. Elbing, Marienburg, mit dessen Geschichte meine Familie mehrfach verbunden war, und dann Dirschau. Dirschau sah aus 38 | Frisé: Meine schlesische Familie und ich, S. 9. 39 | Marion Gräfin Dönhoff: Kindheit in Ostpreußen, Berlin 1988, S. 7.
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wie eine gigantische Bühne für eine Freilichtaufführung von Wallensteins Lager: Menschen über Menschen in den wunderlichsten Kostümen. Hier und da Feuer, an denen gekocht wurde. 40
Diese auf sich allein gestellte Tochterfigur, die ihren Weg allein nach Westen findet, wird Jahrzehnte später als Vorbild für die Protagonistin in einer melodramatischen Filmproduktion über Die Flucht installiert. Dieses abschließende Beispiel erlaubt es, die bisher entfalteten Aspekte familialer, interkultureller, narrativer und genrespezifischer Perspektiven noch einmal zusammenzuführen. Der Bogen lässt sich zurück zum klassischen Hollywood-Melodrama schlagen, aber auch zu beziehungsreichen deutschsprachigen Texten und Filmen seit den 1950er Jahren. Die zweiteilige TVProduktion Die Flucht folgt einer Textvorlage von Tatjana Dönhoff (einer Nichte Marion Dönhoffs) und Gabriela Sperl und weist zahlreiche Narrateme aus Dönhoffs Texten auf.41 Das Projekt übersetzt deren Erzählungen gleichsam in die melodramatische Codierung und folgt dabei den Regeln des maternalen Melodramas. Es handelt sich um eine konventionelle melodramatische Imagination, wie sie für die Vertriebenenfilme seit den 1950er
40 | Zitiert aus Marion Gräfin Dönhoff: Bilder, die langsam verblassen. Ostpreußische Erinnerungen. Texte aus ›Kindheit in Ostpreußen‹ und ›Namen, die keiner mehr nennt‹, München 2000, S. 167f. 41 | Vgl. Tatjana Gräfin Dönhoff und Gabriela Sperl: Die Flucht, Berlin 2007, sowie den Film Die Flucht. Regie: Kai Wessel, Buch: Gabriela Sperl, Darsteller: Maria Furtwängler, Jean-Yves Berteloot, Jürgen Hentsch, Hanns Zischler, 180 Min., D 2007. Die ARD erhob für die Erstsendung des ersten Teils (2. März 2007) eine Zuschauerzahl von 11,18 Millionen, sodass der Film zu den erfolgreichsten Eigenproduktionen des Senders gehört. Schon 2008 und 2009 folgten die aufwändigen Produktionen Die Gustloff (Regie: Joseph Vilsmeier, Buch: Rainer Berg) und Kinder des Sturms (Regie: Miguel Alexandre, Buch: Gabriela Sperl). Ein neuerer Aufsatz geht aufgrund dieser punktuellen Häufung von einer »Konjunktur des Untergangs« aus, was jedoch angesichts der kontinuierlichen Kino- und TVProduktion seit 1948/49 meines Erachtens nicht verfängt; vgl. Alexandra Tacke und Geesa Tuch: »Frauen auf der Flucht. ›Nacht fiel über Gotenhafen‹ (1959), ›Die Flucht‹ (2007) und ›Die Gustloff‹ (2008) im Vergleich«, in: Elena Agazzi und Erhard Schütz (Hg.): Heimkehr – eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit, Berlin 2010, S. 229-242, hier S. 229.
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Jahren etabliert ist.42 Jedoch werden die Binäroppositionen neu verteilt. Die Deutschen sind holzschnittartig figuriert und lassen sich klar voneinander unterscheiden – recht simpel in gute und schlechte Charaktere, je nachdem, wie sie sich zum Nationalsozialismus positionieren. Wie Lena Gräfin von Mahlenberg können deutsche Frauen nur gute Taten vollbracht haben, während uniformierte Männer negativ gezeichnet sind. Die Opferposition nehmen die französischen Kriegsgefangenen ein, die als ›die Anderen‹ von den Gutsleuten gemeinhin verkannt werden, nur von Lena nicht. Interkulturelle Konflikte zwischen beiden Gruppen, die sprachlich, moralisch, ökonomisch und mentalitätsspezifisch begründet werden und entlang nationaler Stereotype konstruiert sind, münden jedoch in ein aktuelles familienpolitisches Statement, das für die moderne bilinguale und multikulturelle Patchwork-Familie optiert. Obgleich die Exposition einen schweren Familienkonflikt eingeführt hat, werden die innerfamiliären Probleme zum guten Ende gelöst: Denn die adlige Tochter Lena von Mahlenberg hat, als sie 1944 aus Berlin auf das heimatliche Gut zurückkehrt, bereits eine uneheliche Tochter, ohne standesgemäß geheiratet zu haben. Nur unter großen Schwierigkeiten söhnt sie sich mit dem Vater aus und übernimmt letztlich die Verantwortung für den Familienbesitz und die zugehörigen ›Leute‹, auch für die französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. Der Sprecher dieser Gruppe wird später, als sie im Westen angekommen sind, ihr Lebenspartner werden. Als Graf Mahlenberg sich kurz vor dem Eintreffen der russischen Truppen weigert, den Treck zu leiten, und stattdessen den Freitod wählt,43 setzt er seine Tochter als würdige Erbin ein. Dabei spricht er den Satz: »Es ist die Stunde der Frauen« und zitiert damit wörtlich einen Buchtitel von Christian von Krockow, der damit den Frauen seiner hinterpommerschen Familie ein literarisches Denkmal
42 | Vgl. etwa Grün ist die Heide (Regie: Hans Deppe, BRD 1951), Suchkind 312 (Regie: Gustav Machatý, BRD 1955; TV-Remake, Regie: Gabi Kubach, D 2007), Nacht fiel über Gotenhafen (Regie: Frank Wisbar, BRD 1959). Zum Bild der ›Flüchtlinge‹ im bundesdeutschen Film vgl. Peter Stettner: »›Sind Sie denn überhaupt Deutsche?‹ Stereotype, Sehnsüchte und Ängste im Flüchtlingsbild des deutschen Nachkriegsfilms«, in: Rainer Schulze, Reinhard Rohde und Rainer Voss (Hg.): Zwischen Heimat und Zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-)Deutschland 1945-2000, Osnabrück 2001, S. 156-170. 43 | Dieses Narratem wurde bereits für Brückners Jauche und Levkojen erwähnt.
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setzen wollte.44 Lena widerspricht dem Vater zu keiner Gelegenheit, auch nicht, als deutlich wird, dass er das Wort der Familie, das sie gegeben hatte, gegenüber den Zwangsarbeitern gebrochen hat. Lediglich einige stumme Tränen lassen auf Wut, Trauer und/oder Hilflosigkeit schließen, denn gemäß der melodramatischen Codierung erlauben die körperlichen Zeichen keine emotionale Konkretisierung. Lena ist eine gehorsame Tochter und übernimmt – im Unterschied zur zornigen und jammernden Scarlett O’Hara – tapfer, aufrecht und stets klaglos die väterliche Aufgabe, 65 Gutsleute zu Wagen und zu Pferd in den Westen zu führen. Die Flucht nach Hause (Scarlett) und die Flucht von Zuhause (Lena) fügen sich in Bilder, die den horizontalen Schnitt zwischen Himmel und Erde setzen und die melodramatische Heldin auf der horizontalen Achse situieren. Dabei kommt eine allfällige metonymische Verdichtung zwischen Bodenhaftung und Transzendenz, zwischen polar organisierten Wertevorstellungen und der Zentrierung auf den weiblichen Körper zum Einsatz: Am Horizont geht die Sonne unter, aber eben auch wieder auf. Der letzte Satz Scarlett O’Haras lautet bekanntlich in aufsteigender Satzmelodie: »Tomorrow is another day.« In Die Flucht gibt die Kadrierung der Fluchtsequenzen vertikale und horizontale Schnitte zu sehen und fragmentiert den filmischen Bildraum in vergleichbarer Weise, wie dies bereits in Gone with the Wind an der heimkehrenden Soldatenkolonne zu beobachten war. Der schwarze Flüchtlingstreck schreibt sich kontrastreich in die schneebedeckten Weiten Hinterpommerns ein und zieht eine aus menschlichem Elend choreographierte Verbindungslinie zwischen West und Ost. Die Totale auf das eisige Haff, das von den Flüchtenden überquert wird, zeigt ebenfalls die erwähnte Residualästhetik: untergehende Planwagen, sterbende Menschen und Tiere, verlorenes Hab und Gut allenthalben. Es trennen sich auch die Wege der französischen Kriegsgefangenen und der Gutsleute. Dennoch ist für diesen Film von einer signifikanten Überkreuzung der narrativen Raumsemantik auszugehen. Das Narrativ hat sein Ziel nicht im Westen Deutschlands, obwohl der Treck stetig von Ost nach West zieht, sondern es führt die Leute weiter in den Süden, nach Bayern. Die Ost/West-Achse krümmt sich auf die Nord/Süd-Achse und unterläuft somit die politisch grundierte Kulturtopographie der Vertriebenenliteratur. Dort, im Süden, wo die melodramatische Heldin situiert ist, treffen sich Lena und ihr Geliebter 44 | Vgl. Christian von Krockow: Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947, München 2002.
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François wieder. Mit diesem kulturell und national sehr unterschiedlichen Paar eröffnet sich mitten auf der Landstraße, kurz vor einer symbolischen Weggabelung, die wenn auch vage, so doch hoffnungsvolle Perspektive auf die bevorstehende Familiengründung. Mitglieder dieser kleinen neuen Familie sind ein ehemaliger Kriegsgefangener und mittlerweile aktiver Besatzungssoldat der Alliierten, eine Gräfin und ehemalige Gutsbesitzerin sowie deren außereheliche Tochter aus einer früheren Beziehung. Auf diese Weise ist der Treck in der familienpolitischen Gegenwart europäischen Zuschnitts angekommen. Zugleich ist jedoch das traditionelle Bild der heiligen Familie aufgerufen. Eine solche familiäre Neu-Konstitution löst die alten Wünsche ab, vormalige Lebenskontexte wiederzufinden und zu restaurieren. Der Blick zurück ist dabei eher störend und schmerzhaft. In Brückners Jauche und Levkojen gibt es einen lakonischen Dialog zu dem Thema, die Flucht und damit auch Zeit der Zerstörung und Auflösung abschließen zu wollen: »›Sie werden sich noch umgucken!‹ sagte die Stimme. ›Ich gucke mich nicht mehr um.‹«45 Eine solche Haltung hätte nun sogar Orpheus und Eurydike zueinanderbringen können. Welche Familie sie wohl gegründet hätten? Als Fazit lässt sich formulieren, dass die Erzählungen von Flucht und Vertreibung Beiträge zum einem Familiengedächtnis darstellen, das in fiktionalisierter und popularisierter Form für die Allgemeinheit zugänglich gemacht werden soll (oder zumindest diesen Anspruch erhebt). Kaum einmal werden in diesen Texten und Filmen interkulturelle oder innerfamiliäre Konflikte thematisiert. Vielmehr versuchen sie im Rückgriff auf den melodramatischen Modus den Verlust der Heimat und der damit verbundenen Lebensweise zu imaginieren. Damit steht, ganz feudalistisch traditionell, erneut Familiengeschichte für Herrschaftsgeschichte ein. Das Leben vor dem Zweiten Weltkrieg scheint so einfach und gut gewesen zu sein, wie die Familien heil waren. Für die Erzählungen vom katastrophischen Ende des Zweiten Weltkriegs, insbesondere solche von adligen Autorinnen und Autoren, wird das Konzept der Vater-Tochter aus melodramatischen Film- und Roman-Genres aktiviert – eine Tochter, die ihres toten Vaters Werte und Besitz verteidigt (Elektra). Als familiäres ›Bindemittel‹ kann die aufgezwungene und ausweglose Migrationserfahrung von Flucht oder Vertreibung nicht dienen, ganz im Gegenteil: Gewalt und Mangel schweißen nicht zusammen, sondern lösen vormalige Familienbindungen 45 | Brückner: Jauche und Levkojen, S. 332.
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auf. Sie gehen in alternative Bündnisse (Treck) und Ansammlungen (Lager) auf, bis an einen Neuanfang zu denken ist, der soziale, ökonomische und ästhetische Residuen hinter sich lassen möchte. Ein narrativer Neuanfang ist mit den Texten der so genannten Enkelgeneration gemacht, die an anderer Stelle zur Sprache kommen müssen und die es unter dem Aspekt der Familienkonstellation noch einmal neu zu lesen lohnen wird.
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Zusammenfassung und Diskussion
Interkulturelle Familienkonstellationen aus literatur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive Zusammenfassung und Diskussion Weertje Willms
Familie war immer schon ein wichtiges Thema in der Gesellschaft und den künstlerischen Ausdrucksformen, dabei sind indes Phasen zu erkennen, in denen es von besonderem Interesse gewesen ist. Anscheinend befinden wir uns derzeit wieder in einer solchen Phase, lässt sich doch für viele verschiedene diskursive Bereiche – wie die Politik, die Medien, die Pädagogik – sowie für etliche künstlerische Ausdrucksformen – wie die Literatur und den Film – konstatieren, dass das Thema ›Familie‹ in den letzten zehn Jahren verstärkt in den Fokus des Interesses gerückt ist. So ist in Bezug auf die Literatur das Phänomen der Renaissance des Familienromans mehrfach bemerkt worden (vgl. Holdenried)1 . Zugleich gewinnen die akademische Auseinandersetzung mit Fragen der Interkulturalität (vgl. z.B. die Gründung der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik im Jahr 2010) sowie die interkulturelle Literatur seit einigen Jahren immer mehr an Gewicht (vgl. z.B. die Vergabe des Deutschen Buchpreises an Melinda Nadj Abonji, ebenfalls im Jahr 2010). Dass die Bedeutung interkultureller Literatur in der Öffentlichkeit zugenommen hat, gilt schon länger für den britischen Buchmarkt, wo Titel ›interkultureller Autoren‹ regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen (vgl. Weingarten). Umso erstaunlicher ist es, dass, wie in der Einleitung bereits bemerkt wurde, interkulturelle Familienkonstellationen in der Forschung – und dies gilt für die literaturwissenschaftliche wie die 1 | Diese Angabe sowie analoge Verweise im weiteren Text beziehen sich auf den Beitrag der Autorin bzw. des Autors in diesem Band.
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soziologische gleichermaßen – bisher kaum beachtet wurden, zumal sie in unserer Gesellschaft nicht nur weit verbreitet sind, sondern auch, der Einschätzung Heiner Keupps nach, durch Globalisierung, globale Migrationsbewegungen und Pluralisierung strukturell bereits zum Normalfall in der spätmodernen Gesellschaft geworden sind (vgl. Keupp).2 Da wir künstlerische Medien als interdiskursive, mit anderen diskursiven Formationen der Gesellschaft in einem besonderen Wechselverhältnis stehende, betrachten, dürfen die in der Kunst verhandelten Probleme und ›Lösungen‹ nicht isoliert untersucht werden; es gilt vielmehr zu fragen, in welchem Verhältnis diese zu denen anderer gesellschaftlicher Bereiche stehen. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, die in den einzelnen Beiträgen wiederkehrenden Themen, Aspekte und literarischen Formen in Bezug auf die ›interkulturelle Familie‹ herauszukristallisieren und zusammenfassend zu diskutieren. Einige Gesichtspunkte fallen als besonders häufig genannte auf und scheinen erste Antworten auf die Frage zu geben, worin die spezifischen Problemlagen interkultureller Familien zu finden sind und in welchem Verhältnis die Darstellungen in den künstlerischen Medien zu denen der soziologischen und psychologischen Forschungen stehen. Neben den notwendigen Bestimmungen der Begriffe ›Interkulturalität‹ und ›interkulturelle Familie‹ werden folgende Aspekte betrachtet: die Bedeutung und der Stellenwert des ›Inter‹ in der Familie, spezifische Konfliktpotenziale der Migrationsfamilie, besondere narrative Strategien in den interkulturellen Texten und auffällige Veränderungen im historischen Verlauf.
2 | Das heißt allerdings nicht, dass dies bereits allgemein anerkannt wäre, denn kulturelle Differenz macht nach wie vor Angst, weshalb ›reine Identitäten‹ gerne als anthropologische Konstanten und damit als unüberbrückbar gesetzt werden, was Debatten wie die um Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (2010) oder Auftritte des international bekannten Familien- und Lebensberaters Bert Hellinger zeigen.
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1. B EGRIFFE 1.1 ›Familien mit Migrationshintergrund‹ und ›interkulturelle Familien‹ Ein Begriffsfeld, das in den Beiträgen bearbeitet wurde, ist dasjenige der ›interkulturellen Familie‹. Impliziert es in den Literatur- und Kulturwissenschaften vielfältige Arten von Familienkonstellationen, findet es in der Soziologie dagegen kaum Verwendung; stattdessen spricht man hier von ›Migrationsfamilien‹ oder von ›Familien bzw. Personen mit Migrationshintergrund‹ (vgl. Scholz, Helfferich). Erforscht werden in der Soziologie in erster Linie die Migrationsbewegungen nach Deutschland, die durch Arbeits- und Heiratsmigration entstehen. Dadurch werden Familien ganz unterschiedlicher Zusammensetzung und Größe in den Blick genommen: Zum einen handelt es sich um Familien, die im Verband nach Deutschland migrieren (was besonders bei Aussiedlern der Fall ist), oder um einzelne Personen, die in einen größeren Familienverband nach Deutschland einheiraten, zum anderen um Einzelpersonen, die zur besseren Versorgung ihrer Familie nach Deutschland auswandern und im Zuge dieser Migration ihre Familie im Herkunftsland zurücklassen. Stark zugenommen hat in diesem Zusammenhang die Haushaltsmigration, bei der vornehmlich Frauen migrieren (vgl. Helfferich, Scholz). Darüber hinaus gehören zu den Familien mit Migrationshintergrund solche, die auf einer binationalen Ehe gründen. In den literatur- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen des vorliegenden Bandes wird der Begriff der ›interkulturellen Familie‹ für folgende Familienformen verwendet: eine im größeren Verbund migrierende Familie (vgl. Riedel, Willms), die zweite Generation, also die bereits in Deutschland geborenen Kinder einer Migrationsfamilie, z.B. einer Gastarbeiterfamilie (vgl. Blioumi, Holdenried), binationale Ehen mit Kindern (vgl. Stamm, Ekelund), die Migration einer Einzelperson durch eine arrangierte Ehe (vgl. Weingarten) oder aufgrund des Wunsches nach persönlicher Entfaltung (vgl. Blioumi), Adoption (vgl. Hermes), Imagination eines Elternteils mit anderer nationaler Herkunft durch das Kind (vgl. Ekelund). So stehen sich zwei gewichtige Aspekte gegenüber: Zum einen handelt es sich um den der Trennung und damit die Frage, wie die Familie mit dieser zurechtkommt und gegen das Auseinanderfallen ankämpft. Zum anderen geht es um denjenigen des Zusammenhalts, der auch bei physischem Zusammen-
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sein im Migrationsland erschwert ist. Ausgeklammert bleibt in den literaturwissenschaftlichen Beiträgen der Bereich der Arbeitsmigration; genuin literarisch dagegen ist der Bereich des Imaginativen.
1.2 ›Interkulturalität‹ und ›interkulturelle Literatur‹ Nicht nur, wie eben dargestellt, in Bezug auf die Familie, sondern generell wird in der Soziologie (wie auch in der Ethnologie) der Begriff ›Interkulturalität‹ kaum verwendet. Dies erklärt sich aus dem auf die Migrationsbewegung gerichteten Untersuchungsfokus, für den der Terminus ›Transkulturalität‹ gebraucht wird – es geht also um den Transit von einem Land in ein anderes.3 Dies ist in den Literatur- und Kulturwissenschaften grundsätzlich anders. Doch gemäß den zahlreichen Forschungsaspekten und Untersuchungsschwerpunkten stellt sich hier das Problem, dass viele verschiedene Definitionen von ›Interkulturalität‹ vorliegen. So verwendet z.B. Michael Hofmann den Begriff in pragmatischer Weise für Texte von AutorInnen mit Migrationshintergrund, welche die Erfahrung der Fremdheit in ihren Texten umsetzen,4 für Ortrud Gutjahr dagegen »wird mit dem Begriff Interkulturalität eine Grenzüberschreitung in den Blick genommen, bei der weder ein wie auch immer gefasstes Innerhalb oder Außerhalb der Grenze noch die Grenze selbst zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand wird, sondern das Inter selbst«5 . Viele Verwendungsweisen sind durchaus strit3 | Auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften findet der Terminus ›Transkulturalität‹ Verwendung. Er wird sehr unterschiedlich definiert, meint aber in keiner der verschiedenen Definitionen dasselbe wie in der Soziologie und Ethnologie (vgl. z.B. Hendrik Blumentrath u.a.: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film, Münster 2007). Eine neuerer Zugang stammt von Byung-Chul Han, der den Begriff der ›Hyperkulturalität‹ eingeführt hat. Vgl. Byung-Chul Han: Hyperkulturalität: Kultur und Globalisierung. Berlin 2008. 4 | Vgl. Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn 2006, S. 196f. 5 | Ortrud Gutjahr: »Interkulturalität als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaft. Von den Theoriedebatten zur Analyse kultureller Tiefensemantiken«, in: Dieter Heimböckel u.a. (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un-)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften, Paderborn 2010, S. 17-40, hier S. 27.
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tig: Wenn es sich nämlich beispielsweise bei ›interkultureller Literatur‹ um solche handelt, in der Fremdheitserfahrungen zur Darstellung kommen, so kann man argumentieren, dass dies etwas ist, das Literatur immer schon ausgezeichnet hat und das außerdem eines der grundlegenden Themen von Literatur überhaupt ist. Versteht man unter ›interkultureller Literatur‹ dagegen Texte von AutorInnen nicht-deutscher Herkunft und Muttersprache, so läuft man Gefahr, diese Literaturproduktion aus dem allgemeinen literarischen Schaffen einer Gesellschaft auszugrenzen und ihr einen Sonderstatus zuzuweisen. Eine einheitliche Definition der Termini ›Interkulturalität‹ und ›interkulturelle Literatur‹ liegt also nicht vor und ist auch wohl nur schwer erreichbar. Umso auffälliger ist es, dass die sich mit interkulturellen Familienkonstellationen beschäftigenden Beiträge des vorliegenden Bandes den Begriff in recht ähnlicher Weise verwenden bzw. ähnliche Schwerpunkte setzen: Wie gezeigt, werden in allen analysierten Texten Familien dargestellt, die in irgendeiner Weise von der Migration betroffen sind. Auch die AutorInnen der Romane – zumindest der Gegenwart – sind dies sehr häufig, doch ist dafür keine gezielte Auswahl ausschlaggebend, sondern die Tatsache, dass AutorInnen mit Migrationshintergrund diese Erfahrung häufig literarisch verarbeiten. Der Bezug zwischen dem Text und der Herkunft des Autors lässt sich also wohl nicht ganz umgehen;6 wichtig erscheint hier aber, dass dadurch keine Aussonderungsprozesse in Gang gesetzt werden.7 Die in den Texten dargestellten Familien werden durch die Migration mit zwei oder mehr Kulturen konfrontiert, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen, ohne dass dabei eine Kultur als eine abgeschlossene Entität begriffen würde. Und genau in diesem Prozess der Auseinandersetzung und des Aushandelns und dem daraus sich entwickelnden Neuen besteht das Interkulturelle, so wie es von den meisten AutorInnen des vorliegenden Bandes verstanden wird. Dies wird besonders offensichtlich, wenn die untersuchten Texte die VertreterInnen der zweiten Generation, der Kinder, 6 | So verwendet auch Weingarten den Begriff ›interkulturelle Literatur‹ im anglistischen Kontext dezidiert für »Literaturen ethnischer Minoritäten in Großbritannien«. 7 | Vgl. die Debatten um die ›burden of representation‹, bei denen es darum geht, wer wen repräsentieren darf. So existiert durchaus auch die Meinung, dass Nicht-MigrantInnen keine Migrationsprobleme darstellen dürfen, wodurch die hier angerissene Problematik auf die Spitze getrieben wird.
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fokussieren (vgl. Blioumi, Holdenried, Willms), welche in noch stärkerem Maße als die Elterngeneration vor der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Kulturen des Herkunfts- und des Aufnahmelandes stehen. Aber auch die migrierenden Erwachsenen sind mit derartigen Prozessen konfrontiert, die eine Emanzipation von alten Strukturen und das Finden einer neuen Identität herbeiführen können, sofern die Betreffenden dies wünschen (vgl. Weingarten). Der Bereich des ›Inter‹ ist also in vielen Fällen durchaus positiv zu verstehen. Aufgrund der deutlichen Fokussierung dieses Bereichs in zahlreichen Beiträgen soll er im Folgenden eigens dargestellt werden.
2. D AS ›I NTER ‹ IN DER INTERKULTURELLEN F AMILIE Wie gesagt ist der Aspekt des ›Inter‹ ein positiver, denn durch ihn entsteht etwas Neues, das in harten Aushandlungsprozessen erarbeitet werden muss, aber eine zukunftsweisende und lebenszugewandte Form besitzt. So richtet es sich gegen die althergebrachte Verwendung von binären Oppositionen, die einander als sich gegenseitig ausschließende Welten gegenübergestellt werden, und somit gegen eine Vorstellung von kultureller Differenz, die »ontologisch gesetzt und damit als unüberbrückbar behauptet« wird (vgl. Keupp). Aus einer solchen Einstellung resultieren Feindseligkeit und Abschottung, die auch häufig genug in den Texten beschrieben werden, wenn z.B. die migrierten Eltern das Aufnahmeland als tendenziell feindselig betrachten (vgl. Helfferich). Außerdem richtet sich das positiv verstandene ›Inter‹ gegen die im Deutschland der 1980er Jahre kursierende Vorstellung eines ›Dazwischen‹, welches impliziert, dass die Betroffenen sich zwischen zwei Kulturen befänden und nicht wüssten, zu welcher sie gehörten. Dieses Bild rekurriert auf einen Kulturbegriff, der Kulturen als abgeschlossene Entitäten begreift, die keine Vermischung zulassen, und auf eine Gesellschaft, die Einwandererkinder in eine feste Opposition von ›wir‹ vs. ›ihr‹ zwingen will. Dies hat sich – zumindest in den literarischen Texten – gewandelt: Hier werden, neben dem durchaus auch noch existierenden oppositionellen Denken, die Prozesse der Durchdringung stark gemacht, aus denen neue Formen des ›Dazwischen‹ entstehen (vgl. Holdenrieds Titel »Eine Position des Dritten«; auch Keupp spricht von der »Chance zu etwas Drittem«). Diesen Bereich hat Homi K. Bhabha mit seiner Theorie vom ›Dritten Raum‹ zu erfassen versucht, indem er den
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Hybridisierungsprozessen des Zwischenraums einen positiven Sinn zugewiesen hat.8 Indem die VertreterInnen der zweiten Generation eine positiv verstandene dritte Position einnehmen, lösen sie sich aus der Tradition (vgl. Holdenried) oder sie können diese umgekehrt endlich annehmen und ihren Platz in der genealogischen Kette finden, weil sie sich mit den Eltern und Großeltern ausgesöhnt haben (vgl. Willms). Weiterhin kann mit der Position des Dritten die Emanzipation aus archaischen Strukturen zum Wohle der eigenen Nachfahren gemeint sein (vgl. Weingarten). Eine dritte Position zu finden, kann aber auch heißen, sich andere Eltern zu imaginieren und sich so einer anderen Tradition, Geschichte, Genealogie und anderen Genderkonzepten anzuschließen, welche die zweite Generation aus bedrückenden Familienmustern befreien (vgl. Ekelund, auch Holdenried). Diese dritte Position kann oft nur durch heftige innere und äußere Konflikte errungen werden, und manchmal wird sie auch gar nicht erreicht. Dies hängt mit der spezifischen Problemlage der Familie in der Migration zusammen, welche nun dargestellt werden soll.
3. S PE ZIFISCHE A SPEK TE , DIE F AMILIE BE TREFFEND Sowohl in den soziologischen und psychologischen als auch in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen werden zahlreiche Gesichtspunkte besprochen, welche den Mikrokosmos der interkulturellen Familie mit ihren Wünschen, Hoffnungen, Konflikten, Verhandlungen und Konzepten betreffen. Auffällig ist, dass sich hier die meisten und deutlichsten Überschneidungen zwischen den Darstellungen in den literarischen Texten und den psychologischen und soziologischen Untersuchungen finden lassen. Dies mag einerseits dadurch erklärbar sein, dass die AutorInnen der literarischen Texte, wie oben bereits angedeutet, häufig aus eigenen Migrationserfahrungen schöpfen und die Romane eine autobiographische Grundlage besitzen. Andererseits darf nicht vergessen werden, dass es sich auch bei den Interview- und Alltagsschilderungen, auf die sich die soziologischen und psychologischen Forschungen unter anderem stützen, um Narrationen handelt, die von selektiven Wahrnehmungs- und Erinne-
8 | Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen 2000.
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rungsprozessen gesteuert sind (vgl. Riedel, Nieberle) und, wie auch die Literatur, nicht als ›Abbild von Wirklichkeit‹ missverstanden werden dürfen. Familie wurde immer schon ausgehandelt und ist keine »ontologische Matrix« (vgl. Keupp), auch wenn diese Vorstellung weit verbreitet ist. Und die Notwendigkeit, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Eltern- und Kindergeneration, zwischen Individuum und Gesellschaft eine Balance zu finden, gilt für die Migrationsfamilie wie für die nicht von der Migration betroffene Familie gleichermaßen (vgl. Helfferich, Scholz, Willms), was ein überraschender, aber auch ein besonders wichtiger Befund zu sein scheint, da er der Migrationsfamilie ihren Sonderstatus nimmt.9 Viele Konflikte finden sich in Familien mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen, in letzteren erfahren sie jedoch eine andere Einfärbung und Zuspitzung. Wie sehen nun diese Verhandlungen aus? Helfferich definiert Familie in ihrem Beitrag als Verwandtschaftssystem und als Generationenabfolge – und eben dieser letztgenannte Aspekt ist der in allen Beiträgen des Bandes zentrale. Auswanderung – dies ist in den meisten Fällen der Grundstein für die interkulturelle Familie – ist ein Familienprojekt, welches über viele Generationen hinweg prägend für die Familienidentität als ganze und die Identität der einzelnen Familienmitglieder ist. Der häufigste Grund für die Migration besteht darin, für sich und die (potentiellen) Nachkommen ein besseres Leben zu finden. Doch genau hier liegt die Wurzel vieler Konflikte, weil dadurch das Ausbalancieren der Nähe-Distanz-Beziehung schwieriger wird. Die natürliche Identifikation der Kinder mit den Eltern und die häufig empfundene Verpflichtung der Kinder gegenüber ihren Eltern wird prekär: Die Eltern erwarten von ihren Kindern Dankbarkeit und manchmal auch, dass sie Chancen umsetzen, welche den Eltern verwehrt waren. Der häufig zwischen der Eltern- und der Kindergeneration bestehende Konflikt zwischen Festhalten und Loslassen kann in der Migrationsfamilie besonders schwierig werden, je nachdem, wie integriert die Eltern im Migrationsland sind. Fällt diese Bilanz eher negativ aus, so kann aus dem natürlichen Konflikt die Angst vor Verlust und Entfremdung resultieren, obwohl das Solidarpotential der Kinder mit den 9 | Auch die statistischen Erhebungen belegen, dass der Migrationsfamilie kein Sonderstatus zukommt: In Bezug auf die soziale Lage und die privaten Lebensformen unterscheiden sich die Kinder aus Migrationsfamilien nicht wesentlich von den Familien ohne Migrationshintergrund (vgl. Scholz).
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Eltern hoch ist (vgl. Scholz). Die interkulturelle Familie ist immer von Erfahrungen der Trennung und des Verlusts geprägt; daraus resultieren aber häufig genug ein neuer Zusammenhalt und eine Stärkung, während der offene genealogische Bruch nicht dargestellt wird (vgl. Blioumi). Es darf aber nicht ausgeblendet werden, dass es oftmals nicht möglich ist, den Zusammenhalt auch zu leben (vgl. Helfferich). Ein entscheidendes Ereignis für die Stärkung des genealogischen Zusammenhalts besteht darin, dass aus Kindern Eltern werden. Für oder auch durch die eigenen Kinder kann in der genealogischen Kette ein Platz gefunden (vgl. Willms), für die eigenen Kinder kann ein Prozess der gelungenen Emanzipation ausgelöst werden (vgl. Weingarten). Gewissermaßen ein umgekehrter Fall findet sich in der Darstellung einer vom Nationalsozialismus und der Mitschuld an der Shoah geprägten deutschen Familie durch den israelischen Filmemacher Eytan Fox; hier erringt die Familie dadurch ihre Lebensfähigkeit, dass der Enkel den verbrecherischen Großvater tötet (vgl. Ekelund). Der Identitätsprozess von Eltern und Kindern in einer Familie muss nicht nur eine Balance zwischen den beiden Generationen finden, sondern auch eine zwischen Individuum und Gesellschaft. Dass Eltern und Kinder dabei unterschiedliche Wege gehen und andere Lösungen finden, liegt auf der Hand und wird sowohl in den literarischen Darstellungen als auch in den soziologischen Interviews thematisiert. Häufig hat die erste Generation größere Schwierigkeiten, sich zu integrieren, als die zweite. Für den Fall des gelingenden Integrationsprozesses hat Blioumi Termini vorgeschlagen, die sehr präzise zwischen den verschiedenen Identitätskonzepten unterscheiden: Ein gelungener Integrationsprozess in der ersten Generation kann als ›Bikulturalität‹ bezeichnet werden, da das Ich zwei nationale Identitäten harmonisch vereint – die ›alte‹ und die ›neue‹ –, ohne eine davon aufzugeben. In diesem Identitätskonzept existiert auch ein Begriff von Heimat, der sich auf das Ursprungsland bezieht; beide Teile des Ichs sind national gefärbt. Die zweite Generation dagegen findet im Falle der gelungenen Integration eher zu hybriden Konzepten, also zu einer interkulturell gefärbten Identität, wie sie im Vorangegangenen geschildert wurde. Begriffe von Heimat werden nicht thematisiert, stattdessen sind die Kinder Vertreter einer globalen Jugendkultur, die keine nationalen Grenzen mehr kennt. Auch hier gilt es aber, die Identitätsarbeit der Eltern und diejenige der Kinder miteinander in Einklang zu bringen, sodass die Aus-
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handlungsprozesse zwischen Individuum und Gesellschaft und diejenigen zwischen den Generationen untrennbar miteinander verflochten sind. Eine letzte wichtige Beobachtung betrifft den Zusammenhang zwischen der Generationenabfolge, der Tradition und Genderfragen. Obwohl die meisten literarisch dargestellten (und in den soziologischen Untersuchungen befragten) Familien von patriarchalischen Strukturen geprägt sind, werden die Genealogie und die Bindung an das Heimatland vor allem durch die Frauen und Mütter hergestellt (vgl. Blioumi, Riedel, Willms). Vor allem die Familienerinnerung, welche besonders wichtig ist für die Identitätsbildung der Familie sowohl auf synchroner als auch auf diachroner Ebene, ist eine weiblich tradierte. Das Familiengedächtnis spielt eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung zwischen der eigenen Tradition und Geschichte und der Aufnahmegesellschaft (vgl. Riedel). Da dies besonders für die Texte von AutorInnen jüdischer Herkunft gilt, ist es auffällig, dass in dem Film Walk on Water (2005) des israelischen Regisseurs Eytan Fox die »psychische Heilung« der deutschen Familie erst durch den Bruch mit der nationalsozialistisch geprägten Generation der Väter und Großväter hergestellt werden kann (vgl. Ekelund). Somit kommt den künstlerischen Medien eine weitere Aufgabe zu: Sie stellen nicht nur Familienidentitäten dar, sondern sie stellen sie auch her, denn der Prozess des Erzählens selbst, also in metafiktionaler und nicht nur innerfiktionaler Hinsicht, hat diese identitätsbegründende Funktion. Anders als es des Öfteren beschworen wird, können die AutorInnen des vorliegenden Bandes keine Krise der Familie konstatieren: Familie verändert sich, was im Zeichen von Migration, aber auch im Zeichen der Globalisierung eine Zuspitzung erfährt. Diese kann schmerzlich sein, aber auch Chancen eröffnen, und vor allem muss sie nicht notwendig zum Scheitern der Familie führen. Im Gegenteil: Die Aushandlungsprozesse zwischen Individuum und Gesellschaft können zu einer Stärkung des Familienzusammenhalts führen und damit auch zu einer Stärkung des Einzelnen. Während die soziologischen Untersuchungen tendenziell das Repräsentative zu erforschen versuchen, stellten die literarischen Texte eher die Extremlagen dar: das Scheitern und die Katastrophe, aber auch die Utopie.
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4. D IE NARR ATIVE F ORM Viele AutorInnen des Bandes konnten beobachten, dass die Darstellung von Fragen der Interkulturalität in der Familie eine deutliche Entsprechung in der literarischen Form findet. Dies betrifft vor allem solche Darstellungen, in denen es um die Identität der zweiten Generation, also der Kinder der Ausgewanderten, geht. Deren Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kulturen, mit denen sie konfrontiert sind, scheint häufig einer hybriden Erzählweise zu entsprechen. So unterläuft Yadé Kara in ihrem Roman Selam Berlin (2003) die bisher im Familienroman üblichen Erzählmodelle und bedient sich stattdessen verschiedener Traditionslinien, um auch auf der Ebene der Form etwas Neues zu schaffen, das dem ›Inter‹ auf der inhaltlichen Ebene entspricht (vgl. Holdenried). Analog dazu wird die Erzählweise, die disparate Elemente scheinbar unzusammenhängend aneinanderreiht, als Ausdruck für das Zusammenführen von Disparatem in der Beziehung der Familienmitglieder (speziell von Mutter und Tochter) gelesen (vgl. Blioumi). Außerdem kann die auffällig häufig verwendete achronologische Zeitstruktur der Romane als der unausgeglichenen Identität der Erzählfiguren entsprechend sowie als Ausdruck ihrer generationellen Verflechtung gelesen werden (vgl. Willms). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Befund, dass eine solche Entsprechung von hybrider Identität und literarischer Technik durchaus keine Neuerung des 21. Jahrhunderts ist. Neben der Epik betrifft dies auch andere Gattungen: So entspricht bereits bei Lenz der »personalen Hybridität des Titelhelden« eine hybride Dramenstruktur (vgl. Hermes), die mit den dramatischen Konventionen des 18. Jahrhunderts weitgehend bricht. Die deutliche Verbindung von Inhalt und Form vor allem in Bezug auf die Identität der Einwandererkinder zeigt, dass die Literatur mit den ihr eigenen Mitteln Modelle entwerfen kann, die es noch nicht flächendeckend in der Gesellschaft gibt, und sie entwickelt so die Vorstellung einer wahrhaft interkulturellen Identität.
5. H ISTORISCHE V ER ÄNDERUNGEN Interkulturelle Fragestellungen in Bezug auf das Thema ›Familie‹ waren auch vor dem 21. Jahrhundert bereits wichtig für die Literatur, doch wurden hier andere Aspekte betont als heute. Dies ist kein überraschender Befund,
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denn in der Literatur werden ähnliche Diskurse aufgegriffen und diskutiert wie in anderen Sprachmedien (z.B. in politischen, theologischen oder gesellschaftskritischen Schriften). Lediglich zwei wichtige Punkte sollen hier hervorgehoben werden, die sich als wiederkehrende, aber der Veränderung unterliegende Diskurselemente beobachten lassen: der Rassismus und der Exotismus. In älteren Texten fällt auf, dass es zwei Verhandlungsweisen bezüglich dieser Diskurselemente gibt: Zum einen existieren solche Werke, in denen sowohl rassistische als auch exotisierende Darstellungen überwiegen (vgl. Stamm). Kulturen und ›Rassen‹ gelten hier als feste Entitäten, die nicht vermischt werden können und dürfen. Die Texte demonstrieren, dass Paarbeziehungen, die auf einer solchen kultur- und ›rassenübergreifenden‹ Verbindung geschlossen werden, zum Scheitern verurteilt und die aus ihnen hervorgehenden Kinder nicht lebensfähig sind. Dabei geht die rassistisch-essentialisierende Perspektive stets von einer Höherwertigkeit der europäischen Kultur aus. Auch da, wo die Texte Ambivalenzen zulassen und die Faszination an der exotischen Fremde positiv konnotiert ist, bleibt die binäre Opposition zwischen ›dem Eigenen‹ und ›dem Fremden‹ erhalten und eröffnet nicht den Raum für Formen von Hybridität. Zum anderen existieren aber auch Texte, in denen eine solche binäre Opposition in Frage gestellt wird und es zu Hybridisierungen und Transgressionen kultureller Grenzen kommt. Neben Lenz’ Der neue Menoza (1774) (vgl. Hermes) wären hier ergänzend Texte wie Lessings Nathan der Weise (1779) und Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) zu nennen. Diese Werke streichen das Exotische, welches in den zuerst genannten Texten eine furchteinflößende Größe darstellt, nicht heraus, sondern markieren gerade die Absurdität der Vorstellungen von ›exotischen Wilden‹, ›unzivilisierten Barbaren‹ u. ä. Wie die vorangegangenen Darstellungen zeigen konnten, hat sich der Umgang mit exotisierenden und rassistischen Diskursen zumindest in der allgemein anerkannten Gegenwartsliteratur gewandelt, stoßen doch Exotismus und Rassismus bejahende Texte auf keine breite Akzeptanz mehr. Zwar finden sich auch in den Gegenwartstexten exotisierende Diskurse, doch werden diese hier (wie auch schon bei Lenz) als Zuschreibungen an die Protagonisten von außen markiert, während die Helden und Erzähler selbst, wie weiter oben gezeigt, verstärkt Formen eines positiven ›Inter‹ finden. Auch Rassismus wird in den Gegenwartstexten thematisiert, doch auch in diesem Fall handelt es sich nicht um eine dem Text zugrundelie-
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gende Denkweise (wie z.B. bei Karlin, vgl. Stamm), sondern um ein explizit kritisiertes Phänomen der Gesellschaft. So entfaltet die Literatur nicht nur ein utopisches Potential, sondern deutet auch an, dass die interkulturelle Familie – zumindest in der Literatur – eine zukunftsweisende Form gefunden hat. Dieser Sachverhalt soll betont werden, ohne die in Literatur und Gesellschaft gleichermaßen bestehenden Identitäts- und Integrationsprobleme auszublenden. Dennoch lässt sich abschließend eine Brücke zu Heiner Keupps anfänglich genannter Prognose auf sozialpsychologischer Ebene schlagen: Überwindet die spätmoderne Gesellschaft die Vorstellung von ›reinen Identitäten‹ – und zwar unabhängig davon, ob diese sich mit einem Migrationshintergrund auseinandersetzen müssen oder nicht – und erkennt sie stattdessen »ergebnisoffene, bewegliche authentische Identitätskonstruktionen« an, wie sie in der interkulturellen Literatur bereits verbreitet sind, so wird ein positiv verstandenes »Leben mit Differenz« (vgl. Keupp) mit allen Risiken, aber auch mit allen Chancen möglich und zum Normalfall in der Gesellschaft.
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Kurzbiographien der AutorInnen
Aglaia Blioumi, Dr., geb. 1972, ist Lecturer an der Deutschen Abteilung der Universität Athen. Forschungsschwerpunkte: Migrationsliteratur, Interkulturalität in der Literatur und den Kulturwissenschaften, Literaturdidaktik, Minderheitenliteratur. Ausgewählte Publikationen: Interkulturalität als Dynamik. Ein Beitrag zur deutsch-griechischen Migrationsliteratur seit den siebziger Jahren, Tübingen 2001, Transkulturelle Metamorphosen. Deutschsprachige Migrationsliteratur im Ausland am Beispiel Griechenland, Würzburg 2006. E-Mail-Adresse: [email protected] Lena Ekelund, M.A., ist Doktorandin an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Literatur, Inszenierungen von Familie in Literatur und Film, deutsch-jüdische Literatur. Ausgewählte Publikationen: »Väterlichkeit als Maskerade. Der Erzähler und seine Kinder in Thomas Manns ›Mario und der Zauberer‹«, in: Holger Pils und Christina Ulrich (Hg.): Thomas Manns ›Mario und der Zauberer‹, Katalog zur Ausstellung »Thomas Manns ›Mario und der Zauberer‹ und die Schatten des Faschismus« im Buddenbrookhaus, Lübeck, Lübeck 2010, S. 120-135, »›I was born, I have lived, and I have been made over‹. Zu Adoleszenz und Migration in Mary Antins ›The Promised Land‹«, in: Julia Boog u.a. (Hg.): Aufbruch der Töchter. Weibliche Adoleszenz und Migration in Theorie, Literatur und Film, Würzburg [im Druck]. E-Mail-Adresse: Lena.Ekelund@t-online. de Cornelia Helfferich, Prof. Dr., geb. 1951, lehrt Soziologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg und ist Leiterin des Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstituts (SOFFI F.). Helge-Pross-Preis der Universität Siegen für herausragende Leistungen in der Familienforschung 2007. Forschungsschwerpunkte: Familie und Familienplanung, Gewalt im Geschlechterverhältnis, Geschlechterbeziehungen in der Jugend, Lebens-
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laufforschung, Querschnittsthemen Migration und soziale Ungleichheit. Ausgewählte Publikation: frauen leben – Familienplanung und Migration im Lebenslauf. Eine Studie im Auftrag der BZgA, Köln 2011, mit Heike Klindworth und Jan Kruse. Stefan Hermes, Dr., geb. 1980, ist akademischer Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: (Interkulturelle) Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Theorien des Kolonialismus und Postkolonialismus, literarische Inszenierungen von (militärischer) Gewalt. Ausgewählte Publikationen: ›Fahrten nach Südwest‹. Die Kolonialkriege gegen die Herero und Nama in der deutschen Literatur (1904-2004), Würzburg 2009, »›Ein Schlimmrer werd ich sein als dieser Neger!‹ Zur ›Rassenfrage‹ in Christian Dietrich Grabbes ›Herzog Theodor von Gothland‹«, in: Zeitschrift für Germanistik XIX.3 (2009), S. 556-573. E-Mail-Adresse: [email protected] Michaela Holdenried, Prof. Dr., lehrt Neuere deutsche Literatur und Interkulturelle Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und ist seit 2010 Extraordinary Professor an der Stellenbosch University (Südafrika). Forschungsschwerpunkte: Repräsentationen von Alterität, Reiseliteratur, Identität und Erinnerung, Autobiographik. Ausgewählte Publikationen: Autobiographie, Stuttgart 2000, Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, Berlin 2004. E-Mail-Adresse: [email protected] Heiner Keupp, Prof. Dr., geb. 1943, war bis 2008 Professor für Sozial- und Gemeindepsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Derzeit Gastprofessur an der Universität Bozen, Federführung für den 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. Forschungsschwerpunkte: Soziale Netzwerke, gemeindenahe Versorgung, Gesundheitsförderung, Jugendforschung, individuelle und kollektive Identitäten in der Reflexiven Moderne und Bürgerschaftliches Engagement. Ausgewählte Publikationen: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, 4. Auflage, Reinbek 2008, Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt, Bielefeld 2010, hg. mit Helga Dill. E-Mail-Adresse: [email protected]
K URZBIOGRAPHIEN DER A UTOR I NNEN
Sigrid Nieberle, Prof. Dr., lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität von Literatur, Biographik, Autorschaftskonzepte, Gender Studies. Ausgewählte Publikationen: Literarhistorische Filmbiographien. Autorschaft und Literaturgeschichte im Kino, Berlin und New York 2008, »›Wer sich in Familie begibt, kommt darin um.‹ Genealogische Verfilzung und narrativer Ovismus bei Heimito von Doderer«, in: Thomas Martinec und Claudia Nitschke (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 17-34. Monika Riedel (geb. Straňáková), Dr., ist Germanistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Konstantin-Universität in Nitra/Slowakei. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Literatur, Literatur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Österreichische Gegenwartsliteratur. Ausgewählte Publikationen: Literarische Grenzüberschreitungen. Fremdheits- und Europadiskurs in den Werken von Barbara Frischmuth, Dževad Karahasan und Zafer Şenocak, Tübingen 2009, »Literatur als fremde Sprache – fremde Sprache(n) in der Literatur. Anmerkungen zum mehrsprachigen Schreiben von Irena Brežná und Ilma Rakusa«, in: Michaela Bürger-Koftis, Hannes Schwaiger und Sandra Vlasta (Hg.): Polyphonie – Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität, Wien 2010, S. 390-405. E-Mail-Adresse: [email protected] Sylka Scholz, PD Dr., ist Privatdozentin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden und derzeit Co-Projektleiterin im Sonderforschungsbereich »Transzendenz und Gemeinsinn«. Forschungsschwerpunkte: Geschlechter- und Familiensoziologie (vor allem in Ostdeutschland und Osteuropa), Männlichkeitsforschung, Methoden der qualitativen Sozialforschung (insbesondere Bild- und Filmanalyse, Biographieforschung). Wichtige Publikationen: Männlichkeit erzählen. Identitätskonstruktionen ostdeutscher Männer, Münster 2004, Postsozialistische Männlichkeiten in einer globalisierten Welt, Münster 2008, hg. mit Weertje Willms. E-Mail-Adresse: [email protected] Ulrike Stamm, PD Dr., ist zurzeit Gastprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Jahrhundertwende, Fragen der Intermedialität der Künste, postkoloniale Theorie, weibliches Schreiben, Reisebericht. Ausgewählte Publikationen: »Ein Kritiker aus dem Willen der Natur«. Hugo von Hofmannsthal und das Werk Walter
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D IE INTERKULTURELLE F AMILIE
Paters, Würzburg 1997, Der Orient der Frauen. Deutschsprachige Reiseberichte aus dem frühen 19. Jahrhundert, Köln, Weimar und Weimar 2010. E-MailAdresse: [email protected] Jutta Weingarten, M.A., geb. 1982, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössische britische und amerikanische Literatur, schottische Literatur des 18. bis 20. Jahrhundert, Narratologie, Gender Studies, Generationenforschung. Ausgewählte Publikationen: »Traditional Claustrophobia – Intersections of Gender and Religious Identities in Nadeem Aslam’s ›Maps for Lost Lovers‹«, in: eTransfers. A Postgraduate eJournal for Comparative Literature and Cultural Studies 1 (2011), S. 1-18. E-MailAdresse: [email protected] Weertje Willms, PD Dr., geb. 1969, ist Privatdozentin und akademische Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Interkulturalität und Identität, deutschrussische Kulturbeziehungen, Literatur und Psychologie, Genderforschung (insbesondere Männlichkeitsforschung), Diskursanalyse. Ausgewählte Publikationen: Die Suche nach Lösungen, die es nicht gibt. Gesellschaftlicher Diskurs und literarischer Text in Deutschland zwischen 1945 und 1970, Würzburg 2000, Geschlechterrelationen in Erzähltexten der deutschen und russischen Romantik, Hildesheim 2009. E-Mail-Adresse: weertje.willms@germanistik. uni-freiburg.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)
Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011
2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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