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German Pages 303
REINHOLD ARNOLDI
Die Haftung der juristischen Person für ihre Organe nach deutschem und koreanischem Recht
Schriften zum Internationalen Recht Band 88
Die Haftung der juristischen Person für ihre Organe nach deutschem und koreanischem Recht Kritischer Beitrag zu den Problemen der Rezeption von Gesetzen im ostasiatischen Kulturkreis Von
Reinhold Arnoldi
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Arnoldi, Reinhold:
Die Haftung der juristischen Person für ihre Organe nach deutschem und koreanischem Recht: kritischer Beitrag zu den Problemen der Rezeption von Gesetzen im ostasiatischen Kulturkreis I von Reinhold Arnoldi. - Berlin : Duncker & Humblot, 1997 (Schriften zum internationalen Recht; Bd. 88) Zug!.: Mainz, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08890-5
Alle Rechte vorbehalten
© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 3-428-08890-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Vorwort Die Arbeit hat im Sommersemester 1996 dem Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz als Dissertation vorgelegen. Literatur und Rechtsprechung des deutschen Teils habe ich im wesentlichen bis zum Herbst 1995 berücksichtigt. Für den koreanischen Teil der Arbeit sammelte ich das juristische Quellenmaterial in den Jahren 1991/92 während meines fast zweijährigen Aufenthaltes in Seoul. Den Aufenthalt ermöglichte mir ein Austauschstipendium, das auf einer Vereinbarung der Dankook UniversitätJSeoul und der Johannes GutenbergUniversität in Mainz fußt. An dieser Stelle möchte ich mich bei Prof. Dr. Lim bedanken, der den Austausch von koreanischer Seite leitete. In dieser Zeit haben mir meine koreanischen Freunde - insbesondere Dr. Kwon Yong-Ho und Jung Mi-Sun - sehr geholfen. Sie unterstützten mich bei der Materialsuche und brachten mir die koreanische Denkweise nahe. Den Einstieg in die sehr mühevolle Lektüre der koreanischen Quellen verdanke ich dem Einführungskurs in die koreanische Sprache an der FU Berlin durch Dr. Hans-Jürgen Zaborowski, den ich während meiner Referendarzeit besuchte. Vor Ort unterstützte mich meine Ehefrau Christina. Die Endfassung der Arbeit konnte ich erst nach meiner Rückkehr nach Deutschland fertigstelIen. Mein Dank gilt besonders meinem Doktorvater Prof. Dr. Manfred Harder, der mir in umfangreichen und klar gegliederten schriftlichen Stellungnahmen viele wertvolle Anregungen gab, um die unterschiedliche Entwicklung des Bürgerlichen Rechts in Korea und Deutschland angemessen darzustellen. Für die intensive Unterstützung in der redaktionellen Endphase danke ich meinem Vater. Meine Mutter und meine Frau haben in dieser Zeit die Arbeit mit dem Computer bewältigt. Ohne deren Hilfe hätte ich sie kaum fertigstelIen können.
Berlin, den 14.02.1997
Reinhold Amoldi
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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1. Grundlegende Probleme eines deutsch-koreanischen Rechtsvergleichs im Zivilrecht ........................................................................................... 15 2. Einfllhrung in das konkrete Thema ........................... ............................... 17
Erster Teil
Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen in beiden Kulturkreisen, die far die Rechtsentwicklung bestimmend waren A. Die Abhängigkeit von der kulturellen und sozialen Basis ............................... 22 B. Die Entwicklung des Privatrechts in Deutschland.......................... ................ 25 I. Die Situation vor den großen deutschen Kodifikationen ........................... 25 1. Das germanisch-deutsche Recht. ......................................................... 25 2. Das Mittelalter ................................................................................... 25 a) Die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen des Mittelalters ..... 25 b) Die Funktion der Kirche ............................................................... 27 c) Die wirtschaftliche Entwicklung unter der Regie der Städte als Wegbereiter handelsrechtlichen Denkens ...................................... 28 d) Die Sonderrolle der Juden ............................................................ 30 e) Die Rezeption römischen Rechts .................................................. 30 3. Die Neuzeit ........................................................................................ 32 a) Die Aufklärung ............................................................................. 32 b) DasVemunftrecht ........................................................................ 33 c) Die Theoretiker des Vemunftrechts .............................................. 34 n. Die großen territorialen deutschen Kodifikationen ................................... 35 1. Das Allgemeine Landrecht in Preußen ................................................ 35 2. Die Vorstufen des Bürgerlichen Gesetzbuches .................................... 36 3. Die Einfilhrung des Bürgerlichen Gesetzbuches und die weitere privatrechtliche Entwicklung in Deutschland ...................................... 37 C. Die koreanische Rechtsentwicklung ................................................................ 38 I. Die Lehre des Konfuzianismus und seine Auswirkung auf die Gesetzgebung .......................................................................................... 38 n. Das Wertesystem des Konfuzianismus und sein Einfluß auf die Rechtsprechung ....................................................................................... 41 1. Die Harmonie ........................................................................ .. ........... 41
8
Inhaltsverzeiclmis 2. 3. 4. 5.
Auseinandersetzung mit dem Gedanken der Harmonie ........................ 44 Die Hierarchie .................................................................................... 44 Die Verquickung von moralischen Werten mit dem Gesetz ................. 49 Die koreanische Volkswirtschaft vor der japanischen Okkupation ........................................................................................ 51 6. Die KodifIkationen in Korea vor der Einftlhrung des Bürgerlichen Gesetzbuches ..................................................................................... 55 llI. Die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches in Korea ........................ 56 1. Die Rezeption des Bürgerlichen Gesetzbuches in Japan ...................... 56 2. Die zwangsweise Durchsetzung des bürgerlichen Rechts in Korea ...... 58 D. Wirtschaftliche und kulturelle Vorgaben in Korea ......................................... 62 I. Die volkswirtschaftlichen Grundlagen nach der japanischen Besetzung ... 62 II. Die kulturellen Gegebenheiten ................................................................ 67 m. Auswirkungen auf die Rechtspraxis ......................................................... 71
Zweiter Teil
Die Handlungen der Repräsentanten und ihre Auswirkungen auf die juristische Person in beiden Rechtskulturen - zur Vergleichbarkeit der beiden Rechtssysteme 1. Kapitel Die Bedeutung der ultra vires-Lehre für die Handlung der Repräsentanten ................................................................................................. 74 A. Einleitung ..................................................................................................... 74 B. Die englische Version der ultra vires-Lehre................................................... 76 I. Die Bedeutung der ultra vires-Theorie ............................ .... ...... .... .... .. ..... 76 II. Die Entstehungsgeschichte der ultra vires - Lehre .................................... 77 llI. Die Wirkung der ultra vires-Lehre im Falle einer deliktischen Handlung (torts) ...................................................................................... 80 IV. Ultra vires und der rechtswidrige Vertrag (illegal contract) ...................... 82 V. Ultra vires und das öffentliche Interesse (public policy) .................. .. ....... 84 VI. ModifIkationen der englischen ultra vires-Lehre .................... .. .... ... ......... 86 C. Die amerikanische Version der ultra vires-Lehre ........................................... 87 I. Die Wirkung der ultra vires-Lehre im Falle einer deliktischen Handlung (ultra vires torts) ..................................................................... 87 1. Die frühere Literatur und Rechtsprechung .................................... 87 2. Die modeme Rechtsprechung ....................................................... 89 II. ModifIkationen der amerikanischen ultra vires-Theorie im Falle von ultra vires-Rechtsgeschäften (ultra vires contracts) .................................. 89 llI. Die heutige Situation ............................................................................... 91 2. Kapitel Der rechtsgeschäftliche Handlungsrahmen von Organen juristischer Personen und die sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen ............. 93 A. Das deutsche Recht ............................................................... ........................ 93
Inhaltsverzeichnis
9
Einleitung ............................................................................................... 93 Der Umfang der Rechtsfähigkeit juristischer Personen ............................ 94 1. Allgemeines ....................................................................................... 94 2. Juristische Personen des Handelsrechts .............................................. 96 3. Der Verein ......................................................................................... 98 4. Der Sonderfall der Liquidation ......................................................... 101 m. Die Überschreitung der rechtsgeschäftlichen Satzungsbefugnisse und ihre rechtlichen Auswirkungen .............................................................. 103 1. Die juristische Person des Privatrechts .............................. ............... 103 a) Allgemeines ............................................................................... 103 b) Mißbrauch der Vertretungsmacht... ............................................. 105 c) Beschränkungen der Vertretungsmacht.. ..................................... 108 2. Die juristische Person des öffentlichen Rechts .................................. 111 a) Die Besonderheiten der juristischen Person des öffentlichen Rechts ........................................................................................ 111 b) Die Verwendung des ultra vires-Gedankens durch die Rechtsprechung .......................................................................... 113 c) Die Bewertung der Rechtsprechung ............................................ 116 IV. Die Haftung des Organs und der juristischen Person bei fehlender Vollmacht ............................................................................................. 118 B. Das Koreanische Recht ............................................................................... 120 I. Einleitung ............................................................................................. 120 n. Die allgemeine Rechtsfahigkeit der juristischen Person ......................... 121 1. Die positiv-rechtliche Regelung des § 34 KBGB .................... .. .. ....... 121 2. Die ultra vires-Lehre im koreanischen Recht .................................... 123 3. Die Bedeutung des Theorienstreits zwischen Realitäts- und Fiktionstheorie rur die Rechts- und Handlungsfahigkeit im koreanischen Recht .......................................................................... 126 4. Der Satzungszweck im koreanischen Recht... .................................... 128 5. Der Umfang der ultra vires-Lehre im koreanischen Recht.. ............... 132 a) Der "echte" ultra vires-Fall ........................................................ 132 b) Die Besonderheiten der koreanischen ultra vires-Lehre ........ .. ..... 134 aa) Gesetzliche Verbote ............................................................ 135 bb) Zustimmungserfordernisse und öffentlich-rechtliche Genehmigungen .................................................................. 136 6. Gewinnorientierte und nicht-gewinnorientierte juristische Personen im koreanischen Recht. ...................................................... 137 m. Rechtsfolgen aus der Begrenzung der Rechtsfähigkeit nach der ultra vires-Theorie oder § 34 KBGB .............................................................. 139 1. Die Theorien zur Begrenzung der Rechtsfähigkeit ............................ 139 a) Die Ansicht über die Begrenzung der Handlungsfähigkeit.. ......... 139 b) Auffassung zur Begrenzung der Handlungs- und Rechtsfähigkeit. .......................................................................... 140 c) Die Meinung zur Begrenzung des Stellvertretungsrechts ............. 141 2. Vergleichende Untersuchung der Rechtsfolgen ................................. 142 a) Gesetzliche Verbote ................................................................... 146 b) Genehmigungsmängel ................................................................ 148
I.
n.
10
Inhaltsverzeichnis IV. Vertretoogsmacht im koreanischen Recht.. ............................................ 149 V. Einschränkungen der ultra vires-Lehre im koreanischen Recht... ............ 151 1. Widerspruch zwischen der ultra vires-Theorie ood den handelsrechtlichen Normen .............................................................. 151 2. Der Sonderfall der Liquidationsgesellschaft im koreanischen Recht.. 153 3. Beschränkungen durch die Eintragoog im Handelsregister ................ 154 VI. Die Haftoog der juristischen Person bei fehlender Befugnis ................... 156 1. Die Tatbestandsmerkmale des § 126 KBGB ..................................... 156 a) Rechtshandloogen außerhalb seiner Befugnis ............................. 156 b) Das Vertrauen des Geschäftspartners .......................................... 157 aa) Das Kriterium des triftigen Grundes .................................... 157 bb) Beispiele aus der Rechtsprechoog ........................................ 158 c) Die Kausalität ............................................................................ 161 2. Die Beweislastverteiloog .................................................................. 161 3. Ein Fallbeispiel für die Anwendoog des § 126 KBGB ...................... 162 4. Die Abgrenzoog zwischen § 126 und § 129 KBGB ................ .. ......... 164 Vll. § 126 KBGB als Ausfluß des Rechtsscheingedankens ........................... 164 1. Die theoretischen Gfillldlagen ........................................................... 164 2. Die Anwendoog der ultra vires-Lehre auf den § 126 KBGB .............. 167 Vlll. Die Konkurrenz zwischen § 126 KBGB ood § 135 KBGB ................... 169 1. Die Bedeutilllg der ,,Rechtsscheintheorien " für das Verhältnis von § 135 KBGB zu § 126 KBGB ........................................................... 169 2. Bewertung ............................................... .... .......... .............. .... ......... 170 C. Zusammenfassung ....................................................................................... 171
3. Kapitel Die Haftung der Körperschaft für Handlungen des Organs, die eine Schadensersatzpflicht begründen (Organhaftung) ................................ 173 A. § 31 BGB und § 35 KBGB als Gnmdlagen der Organhaftung - eine Einführung in die vergleichende Problematik -............................................ 173 B. Das deutsche Recht ..................................................................................... 175 I.
Rechtsgedanken, die nach dem deutschen Recht der OrganhaftlUlg zUgfilllde liegen ..................................................................................... 1. Einleitilllg ........................................................................................ 2. Der Gedanke des Vorteilsausgleichs ................................................. 3. Der Gedanke der GetahrdoogshaftlUlg .............................................. 4. Die soziologische Komponente ......................................................... 5. Die Angleichoogsfunktion des § 31 BGB .......................................... 6. Der Gedanke des Sondervermögens .................................................. Il. Anwendoogsbereich ood Tatbestandsmerkmale des § 31 BGB ........ .. .... 1. Anwendoogsbereich ......................................................................... 2. Das Organ ood ein "anderer veifassungsmaßig berufener
175 175 176 177 177 178 179 180 180
4. Die persönliche HaftlUlg des Handelnden ......................................... Ill. Die Abgrenzoog des Organs vom bloßen Verrichtilllgsgehilfen .............. 1. Theoretische Grundlagen .................................................................. 2. Die Einteiloog in Verrichtoogsgehilfe ood Organ ............................. 3. Die Entlastoogsklausel .....................................................................
185 186 186 187 188
Vertreter" ........................................................................................ 181 3. ,Jn Ausführung der ihm zustehenden Verrichtung" ........................... 183
Inhal tsverzeichnis
11
. IV. Konkurrenz zwischen rechtsgeschäftlicher Bindung und deliktischer Haftung .............................................................................. 191 I. Problemstellung und Meinungsstand in der Literatur ......... ............... 191 2. Die Rechtsprechung ......................................................................... 193
C. Theorie und Tatbestandsmerkmale der Organhaftung im koreanischen Recht .......................................................................................................... 195 1. Einleitung ............................................................................................. 195 II. Die theoretischen Grundlagen der Organhaftung ......... .................. ......... 196 I. Darstellung der Theorien .................................................................. 196 2. Bewertung ........................................................................................ 197 m. Anwendung der ultra vires-Lehre auf die Organhaftung ......................... 199 IV. Anwendungsbereich des § 35 KBGB ..................................................... 202 V. Der Vorstand oder ein anderer Vertreter.. .............................................. 203 VI.,Jn Ausführung der ihm zustehenden, zum Schadensersatz verpflichtenden Handlung" ................................. ................................... 204 I. Schädigende Handlungen im "rechtsgeschäftlichen Bereich" ............ 205 a) Grundsatz ................................................................................... 205 b) Die ,,Meinung des subjektiven Vertrauensschutzes" .................... 208 2. Handlungen im nicht-rechtsgeschäftlichen Bereich ........................... 209 3. Handlungen ohne Außenwirkung ...................................................... 212 4. Wertung ........................................................................................... 212 VII. Die koreanische Rechtsprechung zur Organhaftung ............... ............... 214 1. Besonderheiten koreanischer Urteilsfindung ..................................... 214 2. Das "Grundsatzurteil" vom 29.12.1964 -KOGE 64, 64c 1321 - ....... 215 3. Überblick über die weiteren Fallgruppen zu § 35 KBGB .................. 218 a) Zustimmungserfordernisse und öffentlich-rechtliche Genehmigungen ......................................................................... 219 b) Gesetzliche Verbote ................................................................... 219 c) Verträge mit vereinigungseigenen Sparkassen ............................ 221 d) Darlehensgeschäfte zu überhöhten Zinsen ................................... 221 e) Einwerbung von Spenden durch Kirchen und Sekten .................. 222 4. Bewertung aus deutscher Sich!.. ....................................................... 223 vm. Das Verhältnis von Organhaftung zur deliktischen Haftung im Sinne von § 756 KBGB ................................................................. 225 1. Die Abgrenzung des Organs vom Verrichtungsgehilfen ..................... 225 2. Die Entlastungsklausel und ihre Bedeutung ...................................... 227 3. Die Verrichtungshandlung im Sinne der §§ 35 und 756 KBGB "Ein Abgrenzungsmerkmal"? -......................................................... 229 IX. Die persönliche Haftung des Handelnden .............................................. 231 X. Satzungsüberschreitende Handlungen (§ 35 Abs. 2 KBGB) ....... ............ 234 XI. Das Verhältnis der Organhaftung zu § 126 KBGB ................................. 235 I. Direkter Vergleich der Tatbestandsmerkmale beider Paragraphen ..... 235 2. Vergleich der Rechtsfolgen ............................................................... 237 3. Die Theorien zum Konkurrenzverhältnis ........................................... 239 a) Die Meinung, die ausschließlich § 126 KBGB anwenden will .... 239 b) Die Meinung, die vorzugsweise § 126 KBGB anwenden will ...... 239
12
Inhaltsverzeichnis c) Die Meinung, die wahlweise § 126 KBGB oder § 35 KBGB anwenden will ............................................................................ 240 4. Rechtsprechung zum Konkurrenzverhältnis zwischen § 126 und § 35 KBGB ......................................................................................... 240 D. Zusammenfassung ............... ......................................................................... 241
Dritter Teil Bewertung des Erfolgs der Gesamtrezeption des deutschen Rechts in der koreanischen Gesellschaft am dargestellten Beispiel -Versuch einer rechts soziologischen Erklärung A. Die aktuelle rechtliche Situation Koreas ......... ............................................. 244 B. Vergleich der gefundenen Ergebnisse mit weiteren rechtssoziologischen Untersuchungen .......................................................................................... 246 1. Die Gesamtrezeption ............ .............. ...... ............................................. 246 I. Die Motive ............................................ ........................................... 247 2. Einschätzung ihres Erfolges .............................................................. 249 a) Grundlagen ..................................... ........................................... 249 b) Die asiatische Verwirklichung .................................................... 250 ll. Das Vier Punkte Programm von Hirsch ................................................. 252 C. Schlußwort....... ........................................................................................... 254
Anhang
255
A. Verwendete koreanische Gesetze ................................................. ................... 255 I. Das koreanische BGB (Ges. Nr 471 vom 22.2.1958) .................................... 255 Il. Das koreanische Handelsgesetzbuch (Gesetz Nr. 100 vom 20.1.1962) ......... 261 1. Die offene Handelsgesellschaft: ............................................................. 262 2. Die Kommanditgesellschaft: .................................................................. 262 3. Die Aktiengesellschaft: ......................................................................... 263 4. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung: ........ ................................... 264 llI. Andere Gesetze............................................................................................ 264 1. Das Privatschulgesetz (Gesetz vom 26.6.1963, Nr. 1362) ...................... 264 2. Gesetz über das Flugwesen (GesetzNr. 591 vom 7.3.1969) ................... 265 3. Schiffsgesetz(GesetzNr. 3641 vom31.12.1982) ................................... 266 4. Bergbaugesetz(GesetzNr. 3357vom29.1.1981) ................................... 266 5. Gesetz für die gegenseitigen Kreditkassen "Volksbanken" (Gesetz Nr. 233 vom 2.8.1972) ................................................................................ 267 6. Gesetz für kleinere und mittlere Industriezusammenschlüsse (Gesetz vom 27.12.1961) ................................................................................... 268
Inhaltsverzeichnis
13
. 7. Landwirtschaftliches Genossenschaftsgesetz (Gesetz Nr. 670 vorn 29.7.1961) ............................................................................................ 268 8. Ärztliches Behand1ungsgesetz (Gesetz Nr. 2533 vorn 16.2.1973) ........... 270 9. Gesetz zur Beschleunigung der Dorfinodernisierung (Gesetz Nr. 2199 vorn 12.1.1970 ) .................................................................................... 270 10. Staatshaftungsgesetz (Gesetz Nr. 1899 vorn 3.3.1967) ....... .................... 271 B. Koreanische Revisionsurteile .......................................................................... 272 I. Präzedenzurteil zur Auslegung der Satzung im Falle einer gewinnorientierten juristischen Person .......................... ......................................... 272 l/. Existenz eines Schadensersatzanspruches durch die rechtswidrige Handlung einer juristischen Person, wenn der Zweigstellenleiter eines landwirtschaftlichen Gemeinschaftsverbandes Geldmittel privat verwendet, die er von einem Privaten zum Zwecke der Abdeckung von Geschäftskosten erhalten hat....................................................................... 274 C. Koreanische Urteile ........................................................................................ 277
Literaturverzeichnis
279
A. Englischsprachige Quellen .... .... .... .. ........... .. ..... .. ..................... .. .. ... .. ...... ....... 279 B. Deutschsprachige Quellen .............................................................................. 280 C. Koreanischsprachige Quellen ......................................................................... 290
Sachwortregister
300
Einleitung 1. Grundlegende Probleme eines deutsch-koreanischen
Rechtsvergleichs im Zivilrecht Erst im Jahre 1960 hat der koreanische Gesetzgeber das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch in Korea in Kraft gesetzt. Vorausgegangen war die Übernahme des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches in der Form, die die Japaner als Besatzungsmacht eingeführt hatten. Die Abweichungen des japanischen Bürgerlichen Gesetzbuches vom deutschen BGB sind deshalb auch in das koreanische Bürgerliche Gesetzbuch eingegangen. 1 Das koreanische Bürgerliche Gesetzbuch hat das deutsche Mutterrecht im Aufbau und im Wortlaut mit der Rezeption in großen Teilen übernommen. Dies gilt in erster Linie für die Kerngebiete des bürgerlichen Vermögensrechts. Aber auch in Rechtsgebieten wie dem Farnilienrecht, in denen voraussehbar war, daß die Rezeption des deutschen Rechts aufgrund der kulturellen Verschiedenheiten nicht umsetzbar sein würde, hat der koreanische Gesetzgeber auf den deutschen Gesetzestext zurückgegriffen. Wegen der vollständig andersartigen Strukturen in beiden Kulturen war zu erwarten, daß das deutsche Recht nicht ohne Reibungsverluste übernommen werden konnte. Vorrangiges Ziel dieser Arbeit ist es zu untersuchen, wie die koreanische Gerichtsbarkeit diese gesetzlichen Bestimmungen in die Praxis umsetzt. Das Thema wurde auch im Hinblick darauf ausgewählt, daß hierzu - wenn auch spärliche - koreanische Rechtsprechung vorliegt. Ein ständiger Austausch zwischen Rechtsprechung und Rechtstheorie ist im Gegensatz zum deutschen Recht in Korea keine Selbstverständlichkeit. Beide stehen in keiner gegenseitigen Wechselwirkung und befruchten sich deshalb nicht. Auf vielen Rechtsgebieten fehlt es überhaupt an Judikatur, da hierfür offensichtlich kein Bedarf besteht.
S. 121.
l.B. § 34 KBGB in Anlehnung an § 43 des japanische Bürgerlichen Gesetzbuches - Siehe
Einleitung
16
Die Zahl der Richter und Rechtsanwälte in Korea ist, gemessen an der Bevölkerungszahl und an europäischen Verhältnissen, sehr niedrig. 2 Dies dürfte auf zwei Ursachen zurückzuführen sein: Einerseits ist der Hang zu streiten in Korea nicht besonders entwickelt. Andererseits wird durch strenge Eingangsprüfungen der Zugang zu juristischen Berufen stark gedrosselt. Diese unterschiedliche Entwicklung von deutschem und koreanischem Recht beruht in erster Linie auf ihren unterschiedlichen Rechtstraditionen. Dies bedeutet nicht, daß die extreme Streitsucht eines Volkes für die hohe Qualität seines Gesetzes spricht. 3 Da jedoch in jeder Bevölkerung zwangsweise Unstimmigkeiten entstehen, ist die umgekehrte Situation eines vollkommenen Vakuums sicherlich ein Beweis dafür, daß das Gesetz von der Bevölkerung nicht angenommen wird. Bis zum Jahre 1894, dem Jahr, in dem die Japaner der koreanischen Regierung das westliche Rechtssystem aufzwangen,4 gab es in Korea kein Zivilrecht. Es fehlte eine Volkswirtschaft mit Geldumsatz, da der Konfuzianismus das Streben nach Geld ablehnte. Es wurden in der Regel nur Güter ausgetauscht. Dem deutschen Zivilrecht liegt demgegenüber eine jahrhundertelange Tradition zugrunde, aus der das Bürgerliche Gesetzbuch in seiner heutigen Form entstand. In Korea fehlt dagegen jede Rechtsentwicklung in diesem Sinne. Das Rechtsleben wickelte sich im wesentlichen nach konfuzianistischen Idealen ab. 5 Rechtsstreitigkeiten entstanden nicht, weil sich die Parteien bei rechtlichen Meinungsverschiedenheiten außergerichtlich einigten; dies ist bis heute die bevorzugte Methode, Konflikte zu lösen. Zum anderen war das deutsche Recht auf abendländische Verhältnisse abgestellt. In seinem Rationalismus wurde es anscheinend zu keinem Zeitpunkt den Bedürfnissen der koreanischen Gesellschaft gerecht. 6
2
Hahm, Korean Jurisprudence, 120,250.
Das deutsche Recht ist mit seiner Flut von theoretischen und praktischen Problemen auch im europäischen Maßstab eine Ausnahme. 4
Hahm, Korean Jurisprudence, 125.
Hyun Soong-Jong, Das traditionelle koreanische und das modeme westlich Recht in: Rehbinder/Ju, 17 (21). 6
In diesem Sinne: HahmlYang, The attitude ofthe Korean people towards law, in: Legal System, 145 (158 f.).
Einleitung
17
Die Themen von koreanischen Dissertationen beschränken sich vielfach darauf, von der Literatur entwickelte Theorien einzelner Rechtsinstitute gegenüberzustellen, ohne daß die gewonnenen Erkenntnisse auf konkrete Sachverhalte angewandt werden. 7 Aus koreanischer Sicht haben diese Arbeiten sicherlich den Wert, praktische Anstöße für eine bessere Rezeption des deutschen Rechts liefern zu können, indem sie Möglichkeiten aufzeigen, Fälle zu lösen, für die sich bisher noch keine koreanische Judikatur entwickelt hat. Aus europäischer Sicht bergen sie allerdings die Gefahr in sich, den Leser über die wahre soziale Funktion des gegenwärtigen Rechts zu täuschen. Mit der einseitigen Erörterung von Theorien in beiden Rechtssystemen bleiben die Rechtsverhältnisse in Korea verborgen. g Der fehlende Praxisbezug soll in dieser Arbeit vermieden werden. Dieses Problem setzt sich fort in den koreanischen Anleitungen für Praktiker. So gibt es beispielsweise Gebiete im koreanischen Recht - wie den Schutz des Minderjährigen -, die lediglich in koreanischen Kommentaren und Lehrbüchern ihren Niederschlag finden. Die dort angeführten Beispiele sind rein theoretischer Natur; sie sind in ihrer Gesamtheit von den in Deutschland promovierten Juristen dem deutschen Recht entnommen. Aus Mangel an gesellschaftlicher Relevanz steht diesen theoretischen Erörterungen kein praxisbezogener Anwendungsbereich gegenüber. Solche Gebiete bieten daher keinerlei sinnvolle Vergleichsmöglichkeiten. Der koreanische Gesetzgeber sollte an diesen Stellen an eine völlige Neugestaltung seines Rechtes denken, die den Bedürfnissen der koreanischen Gesellschaft entspricht.
2. Einführung in das konkrete Thema Das vorliegende Thema ist dem Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Rechtes entnommen. Es soll die Haftung der Organe von juristischen Personen in beiden Rechtssystemen verglichen werden. Die angeführten Beispiele beziehen sich teilweise auf die Haftung koreanischer Im- und Exportfirmen, die einen Handel mit dem Ausland betreiben. In diesen Bereichen ist es notwendig, ein gewisses Maß an Vergleichbarkeit herzustellen. Entstammt der Geschäftspart-
Darüber hinaus stellt man bei einer Durchsicht von Verzeichnissen koreanischer Dissertationen fest, daß sich nur eine beschränkte Anzahl von Themen sehr großer Beliebtheit erfreut. Es ist ein offenes Geheimnis unter koreanischen Doktoranden, daß die praktische Relevanz fehlt, und die Zahl der möglichen Themen äußerst beschränkt ist. g
2 Arnoldi
Rehbinder, Die Rezeption des Rechts in soziologischer Sicht, in: Rehbinder/Ju, 5 (10).
Einleitung
18
ner nämlich einem anderen Rechtssystem, und hat er in mehreren Ländern geschäftliche Kontakte, so ist ihm nicht zumutbar, bei Meinungsverschiedenheiten die nationalen koreanischen Gepflogenheiten zugrunde zu legen. Wenn zum Beispiel Haftungsprobleme sehr stark die Handelsbeziehungen belasten, besteht für den koreanischen Vertragspartner die Gefahr, daß sein Kontrahent seine Geschäftsaktivitäten in Korea beendet. Es liegt daher auch im Interesse des koreanischen Geschäftspartners, daß sich auf solchen Rechtsgebieten vorhersehbare und berechenbare Rechtsauffassungen entwickeln. Hierfür läßt sich auch in Deutschland ein historisches Beispiel heranziehen. So waren schon zu Zeiten des deutschen Zollvereins wirtschaftliche Interessen der Hauptfaktor für eine Rechtsvereinheitlichung, die sich dann auch zunächst auf dem Gebiet des Handels- und Wirtschaftsrechts vollzog. 9 Modemes Beispiel für eine Vereinigung, die eine wirtschaftliche und politische Vereinheitlichung erstrebt, ist die Europäische Union. Sie schuf mit dem am 1.11.1993 in Kraft getretenen Vertrag über die europäische Union (EU-Vertrag) einen einheitlichen institutionellen Rahmen für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der drei europäischen Gemeinschaften: der Europäischen Gemeinschaft (EG), der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM). Sie erfaßt ferner die bisher nicht in den Gemeinschaftsverträgen geregelten Bereiche der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und Justiz und Inneres (Art. C EUV). Die EG entstand 1967 durch die Fusion EWG, EGKS und EURATOM. IO Auch für das Zustandekommen der EG waren letztlich wirtschaftliche Interessen entscheidend. Vorläufer der EG war die EWG, die im Jahre 1957 durch die Römischen Verträge gegründet wurde, um die wirtschaftliche Integration der unterzeichnenden Staaten zu erreichen. ll Die Unterschiede zwischen der deutschen und der koreanischen Rechtsentwicklung sind trotz weitgehend identischer Gesetzestexte erheblich. Um eine sinnvolle Erklärung für dieses Auseinanderklaffen zu finden und mögliche Entwicklungen aufzuzeigen, ist es notwendig, die sozialen und kulturellen
9
Eisenhardt, Rdn. 368.
10
Brockhaus, 6. Bd.: Stichwort ,,Europäische Gemeinschaft', S. 654.
ll
Brockhaus, 6. Bd.: Stichwort ,,Europäische Wirtschaftsgemeinschaft', S. 665.
Einleitung
19
Begebenheiten in beiden Kulturkreisen zu analysieren. Die Abweichungen in der Rechtsentwicklung können nur hier ihre Ursache haben. 12 In einem vorgezogenen ersten Teil werden die Einflüsse von Kultur, Religion und Lebensform in beiden Ländern auf die jeweilige Rechtsentwicklung dargelegt. Sie zeigen die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Ausgangspunkte, die auch bei wortgleichen Gesetzestexten zu einer abweichenden Gesetzesauslegung führen mußten. Dadurch werden die Differenzen in der Gesetzesauslegung verständlich. Die Arbeit wird im wesentlichen zwei rechtliche Schwerpunkte haben. Im ersten Teil wird der rechtsgeschäftliehe Handlungsrahmen von Organen juristischer Personen, im zweiten Teil die Organhaftung untersucht. Der Schwerpunkt der Erörterungen im ersten Teil wird die Frage sein, welche Auswirkungen es hat, wenn das Organ seine durch Satzung eingeräumten Befugnisse überschreitet. Im deutschen Teil kommt dieser Fragestellung keine Bedeutung zu. Da die Vertretungsmacht von Organen juristischer Personen kraft Gesetzes unbeschränkt und unbegrenzt ist, können deren Befugnisse durch Beschlüsse der Aktionäre und Gesellschafter oder der Mitgliederversammlung nach außen nicht eingeengt werden. Deren Auflagen und Beschlüsse sind nur im Innenverhältnis zu beachten. Der Geschäftspartner wird dadurch nicht betroffen, da das deutsche Recht vorrangig auf den Schutz des Gläubigers abstellt. Eine Ausnahme bilden lediglich die Organe des öffentlichen Rechts, bei denen de facto die ultra vires-Lehre auch in Deutschland angewandt wird. 13 Dem asiatischen Rechtsempfinden ist dieser Ansatzpunkt fremd. Offensichtlich ist es der herrschenden Gesellschaftsschicht und den führenden Wirtschaftskreisen in Japan und Korea unerträglich, die Vorstellungen der Kapitaleigner nach außen hin nicht durchschlagen zu lassen. Das koreanische Recht bedient sich daher eines Rechtsinstituts, das es dem anglo-amerikanischen Rechtskreis entlehnt: der ultra vires-Lehre. Diese Theorie ist das Kernstück und letztlich für das Verständnis der gesamten Arbeit von entscheidender Bedeutung. Sie wirkt sich nach koreanischer Ansicht sowohl auf rechts geschäftliche als auch auf deliktische Handlungen von Organen aus.
12
13
2·
Ehrlich, Vorrede zu seinem Buch, 12. Siehe S. 113.
20
Einleitung
Insofern überlagert sie sowohl den ersten als auch den zweiten Teil der Arbeit. Wegen der fundamentalen Bedeutung dieser Lehre für das koreanische Recht ist es erforderlich, ihre ursprüngliche Bedeutung und Fortentwicklung in England und Amerika zu erläutern. Diese Theorie spielt heute im angloamerikanischen Recht keine Rolle mehr. Das koreanische Recht hat dagegen die Theorie nicht fortentwickelt, sondern wendet sie nach wie vor in ihrer ursprünglichen Bedeutung an. Für den Rechtsvergleich werden im zweiten Teil Rechtsfahigkeit der juristischen Person und Umfang der Vertretungsmacht ihrer Organe im deutschen und koreanischen Recht gegenübergestellt. Hierbei ist es notwendig, auf die Rechtsfähigkeit von Gesellschaften bereits im deutschen Teil einzugehen, obwohl sie auf den rechtsgeschäftlichen Handlungsrahrnen der Organe keinen Einfluß hat. Das koreanische Recht schränkt nämlich die Rechtsfahigkeit durch den Satzungszweck ein und verquickt diese Rechtsfolge mit der ultra vires-Lehre. Da nur wenige Urteile ergangen sind und deren Begründung nur spärlich und oft widersprüchlich ist, war es notwendig, Sachverhalt und Entscheidungsgründe in vielen Fällen zu interpretieren. Die Ausdehnung der ultra vires-Lehre auf deliktische Tatbestände bringt es mit sich, daß die Fallgruppen sowohl im rechtsgeschäftlichen Teil als auch in der Organhaftung identisch sind oder sich zumindest überschneiden. Ein unmittelbarer Vergleich der einzelnen Rechtsinstitute ist wegen der unterschiedlichen systematischen Einordnung oftmals nicht möglich. Ein Beispielfall ist der § 126 KBGB, eine Haftungsvorschrift bei fehlender Befugnis des Vertreters. Die Koreaner sehen darin eine Rechtsscheinhaftung, verkennen dabei aber, daß dieses Rechtsinstitut im deutschen Recht eine ganz andere Bedeutung hat, als sie ihm beimessen. So verbleibt für das koreanische Recht häufig nur die Feststellung, daß einzelne systematische Zusammenhänge des deutschen Rechts nicht übernommen wurden. Andererseits tauchen aber auch koreanische Problemstellungen und Normen auf, die das deutsche Recht in diesem Zusammenhang nicht kennt. Der zweite rechtliche Schwerpunkt liegt im unmittelbaren Vergleich der Organhaftung (§ 31 BGB, § 35 KBGB). Da der Gesetzeswortlaut weitgehend identisch ist, lassen sich anband dieser Bestimmungen die stark voneinander abweichenden praktischen Umsetzungen sehr gut erläutern und die Auswirkungen der Unterschiede in der Rechtsgestaltung darstellen.
Einleitung
21
Die einzelnen Tatbestandsmerkmale der gleichlautenden Bestimmungen werden gegenübergestellt. Um die unerwünschten Folgen der Organhaftung zu vermeiden, fügen die Koreaner ungeschriebene Tatbestandsmerkmale ein (Kriterium der äußeren Form und Meinung des subjektiven Vertrauenssehutzes) und legen die Vorschrift sehr restriktiv aus. Diese Rechtsprechung führt dazu, daß die Ansprüche gegen die juristische Person selten durchsetzbar sind. Ziel der koreanischen Rechtsprechung und Literatur ist es, die juristische Person von Schadensersatzansprüchen weitgehend freizustellen. In einem wertenden dritten Teil soll dann der Erfolg der Rezeption deutschen Rechts erörtert werden. Dieser Teil trägt stark soziologische Züge. Er hat nur den Charakter eines erweiterten Schlußwortes. Zur Wertung der gefundenen rechtlichen Ergebnisse aus den verschiedenen koreanischen Rechtsquellen werden soziologische Modelle aus diesem Bereich, die von anderen Autoren erstellt wurden, gegenübergestellt, analysiert und abschließend bewertet. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Verwendung des Gesetzes nur einen Indikator dafür darstellt, inwieweit ein Gesetz den gesellschaftlichen Erfordernissen entspricht.
Erster Teil Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen in beiden Kulturkreisen, die für die Rechtsentwicklung bestimmend waren A. Die Abhängigkeit von der kulturellen und sozialen Basis Beide Länder - Deutschland und Korea - haben entsprechend ihren regionalen Standorten völlig unterschiedliche kulturelle und soziale Strukturen entwickelt. Deutschland wurde bis zur Neuzeit durch die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation geprägt; durch das Leitprinzip einer Hierarchie, die dem Kaiser als ihrem Repräsentanten göttliche Qualität und Vollmacht verlieh. Es bestand das Model des Ständestaates, indem jeder nach seinem Stand eingeordnet war. Das Ende des Ständestaates bewirkten die Ideen der Aufklärung, die sich über den ganzen Kontinent ausbreiteten und Gleichheit des Einzelnen vor dem Gesetz forderten. Sie führten nach der französischen Revolution in Deutschland dazu, daß in der großen KodifIkation des 19. Jahrhunderts jedem Menschen die gleiche Rechtsfähigkeit zuerkannt wurde. In Korea fehlten solche Denkanstöße, die zu einer geistigen Umwälzung hätte fuhren können. Seit Beginn seiner staatlichen Einheit (Silla-Dynastie 668 - 935 n.Chr.) war Korea aufvielfaltige Weise mit der Geschichte und der Kultur Chinas verflochten. Von ihm empfIng es die meisten kulturellen und sozialen Einflüsse. Bis im 15. Jhr. wurden alle bedeutenden Quellen (z.B. die Samgugyugsa) in Chinesisch geschrieben. Erst mit der Entwicklung der Hangul-Schrift machte sich Korea von China insoweit unabhängig.l Von China drangen der Buddhismus, der Taoismus und seit dem 13. Jhr. der Konfuzianismus nach Korea vor. Seit den Königen von Silla haben alle
Hielscher, 35.
A. Die Abhängigkeit von der kulturellen Wld sozialen Basis
23
Monarchen Koreas von China die Legitimierung ihrer Herrschaft ersucht. Seit der KOl)'o-Dynastie (935 bis 1392 n.Chr.) und verstärkt mit der Yi-Herrschaft (1392 bis 1910 n.Chr.) wurde der gesamte öffentliche Bereich und große Teile des privaten Lebens sinifiziert. Die Übernahme des chinesischen "way of life" stärkte die zentrale Regierungsgewalt, schuf einen Beamtenapparat, dessen Zugang einem Prüfungssystem unterworfen war, und ordnete die Militärs den Zivilbeamten nach. Die Amtsträger wurden durch genau geregelte Zuteilung von dem Land entlohnt, dessen Nutzung zunächst auf die Zeit ihrer Amtstätigkeit beschränkt war. Die Gesetzgebung war auf das öffentliche und das Strafrecht begrenzt. Eine Zivilordnung - mit Ausnahme des Familienrechts gab es nicht. 2 Die konfuzianische Gesellschaftsstruktur verhinderte die Gleichheit vor dem Gesetz. Sie wurde erst 1910 mit der Besetzung durch die Japaner abgelöst, die das deutsche Bürgerliche Recht einführten. Auf dieses Gesetzeswerk waren Koreaner weder vorbereitet, noch entsprach es ihren bisherigen Wertvorstellungen. Mit der Übernahme eines fremden kodifizierten Rechtssystems sind weder Kultur, Religionen noch Lebensformen Koreas geändert worden. Sowohl für die Juristen als auch die Laien blieb der soziale Alltag entscheidender als der neu manifestierte Wille des Gesetzgebers. 3 Es war daher nicht zu erwarten, daß das koreanische Rechtsbewußtsein mit dem deutschen übereinstimmt. Nur die sozialen und kulturellen Gegebenheiten eines Landes können daher in einem Falle wie Korea - in dem sich das Rechtssystem nicht organisch entwickeln konnte - wichtige Hinweise für eine abweichende Rechtsanwendung geben. Trotz dieser Unterschiede entschied man sich, die Gesamtrezeption beizubehalten. Ein solcher Schritt wird damit begründet, daß kein Rechtssystem so speziell sein könne, daß es eine Übertragung von einer Kultur in die andere ausschließe. 4 Man müsse hierfür nur das Rechtsgebilde objektivieren und in Rechtssätzen positivieren. Auf diese Weise könne das Recht zwanglos in jeder neuen Kultur fortdauern. Dieser Vorgang, der von Husserl als ,,Entzeitung" bezeichnet wird, führe lediglich dazu, daß die Rechtsideen der überlieferten
2 3
Weggel, 123. Weggel, 117 mit Erörterungen fiir ganz Asien. Wieacker, 43, 125; Mitteis, Vom Lebenswert, 71; Kitagawa, 13.
24
I.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
Form entkleidet würden;5 oder ein Komplex von Rechtsfiguren der Rechtsidee entkleidet würde. 6 Schon in der Formulierung "entkleidet" steckt aber das eigentliche Problem. Inwieweit ist eine Rechtsfigur, die der dahinterstehenden Rechtsidee entkleidet ist, noch tauglich, in dem neuen Rechtssystem sinnvoll zu fungieren? Besteht nicht die Gefahr, daß ein ehemals ausgeklügeltes System, dessen Rechtsfiguren jetzt vielfach ihrer Ideen beraubt sind, durch die entstandenen inneren Widersprüche weitgehend funktionslos wird? Vergleicht man die Anwendung des koreanischen mit der des deutschen Rechts, so ist man überrascht, wie stark sie sich auseinanderentwickelt haben. Das ist um so erstaunlicher, als das deutsche und das koreanische Bürgerliche Gesetzbuch im Wortlaut weitgehend übereinstimmen. Das trifft nicht nur für den einzelnen Paragraphen zu, sondern für den gesamten Aufbau und die systematische Gliederung des Gesetzes. Sinn dieses Abschnittes ist es, die Grundlagen für diese Unterschiede herauszustellen. Sie lassen sich nur durch die abweichenden Entwicklungen von Kultur und Lebensformen erklären. 7 Dabei bietet die Rezeption des römischen in das deutsche Recht einen guten zusätzlichen Vergleichsmaßstab für Schwierigkeiten, die bereits bei einer Rezeption mit gemeinsamer kultureller Basis auftreten können. Dies macht verständlich, um wieviel schwieriger die Rezeption im vorliegenden Falle sein muß. Schwerpunktmäßig sollen daher die wirtschaftsrechtlichen Traditionen der beiden Länder dargestellt werden, soweit sie für das Verständnis der folgenden Kapitel hilfreich sind.
Husserl, 12 f. 6
Kitagawa, 12, Fn. 3.
Kritisch dazu: Cho Kyu Chang, Koreanisches Zivilrecht und deutsches Bürgerliches Recht, in: Rehbinder/Ju, 59 f.
B. Die Entwicklung des Privatrechts in Deutschland
25
B. Die Entwicklung des Privatrechts in Deutschland I. Die Situation vor den großen deutschen Kodijikationen
1. Das gennanisch-deutsche Recht Die Gennanen besaßen bereits sehr früh eine Rechtskultur, die aber mangels schriftlicher Zeugnisse kaum noch nachweisbar ist. Grundlage dieses Rechts war die objektive Wahrheit, die sich aus der "vernünftigen Ordnung" der Dinge ergab und gefunden werden mußte. 1 Wirtschaftlich war zu diesem Zeitpunkt nur das Bodenrecht von Bedeutung. Der Handel, der durch die Berührung mit den Römern bereits damals bestand, war mangels "Geldgesinnung" für ein Handelsrecht in unserem Sinne ohne Bedeutung, da Zinserhebungen oder gar Wucher zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt waren. 2 2. Das Mittelalter a) Die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen des Mittelalters Wirtschaftlich blieb Deutschland während des Mittelalters ein fast reiner Agrarstaat. 3 Grundlage der wirtschaftlichen Tätigkeit bildete die Naturalwirtschaft, wobei die Produktivität sowohl im Agrar- als auch später im gewerblichen Bereich äußerst gering war. 4 Der Besitz an Grund und Boden war ursprünglich der wesentliche Vennögensgegenstand des Mittelalters. Am Grundbesitz orientierte sich auch die Gliederung in die verschiedenen Stände des Adels, der Bürger und Bauern -, die sich nach und nach stärker ausprägte. Grundbesitz war die Voraussetzung, um in höhere Funktionen der Gesellschaft aufzusteigen. Die breiteste Schicht bildete das Bauerntum, dessen Rechtslage wegen der unterschiedlichen Ausgestaltung der Rechte an Grund
Mitteis, Rechtsgeschichte, Kap. 3, 21. Mitteis, Rechtsgeschichte, Kap. 5, 27. Coing, Europ. Privatrecht, 60; Mitteis, Rechtsgeschichte, 203. Coing, Europ. Privatrecht, 60; Coing, Epochen, 11.
26
l.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
und Boden in Deutschland stark differierte. 5 Ein politischer Einfluß kam dieser Schicht jedoch nicht zu. Das Reich - das Römische Reich deutscher Nation - beruhte auf einer strengen, von der himmlischen Verfassung abgeleiteten Hierarchie. Diese wurde symbolisiert durch ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Spitze der Kaiser darstellte. Unter dieser Spitze lagen die verschiedenen Gesellschaftsstufen, die streng voneinander geschieden waren, und deren Umfang nach unten immer breiter wurde. Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann hatten ihre Stellung in dieser Gesellschaftsstruktur und die ihnen zugewiesene Rolle ohne Murren wahrzunehmen. Ursprünglich war die Gliederung in verschiedene Stände noch durchlässig, so daß ein Aufstieg in die adlige Oberschicht auch den niederen Ständen möglich war. Erst mit dem 12. Jahrhundert schottete sich der Adel gegen Aufsteiger ab. Damit begann das Herrschaftsmodell des Ständestaates. Jeder Mensch hatte seinen Stand, der ihn in seinem Status rechtlich wie sozial festlegte. Der Adel stellte die Offiziere und hohen Beamten, der Bauer die Soldaten. Der Gelehrtenstand der Juristen trug die Verwaltung, die Geistlichen erzogen das Volk in rechter Frömmigkeit. Die Bürger der Städte durften Handel und Gewerbe treiben. 6 Ein gesellschaftlicher Aufstieg war ab diesem Zeitpunkt fast nur noch über die Kirche möglich. 7 Rechtlich bedeutete die Gliederung in verschiedene Stände, daß es keine Gleichheit vor dem Recht im heutigen Sinne gab. Eine Ausnahme stellte nur das aufkommende Bürgertum dar. Es schuf sich ab der 2. Hälfte des l2. Jahrhunderts seine eigenen Rechte in den Städten. 8 Im späten Mittelalter erreichte der Ständestaat seinen Höhepunkt. Gleichzeitig befanden sich die Bauern in ihrer schlechtesten Situation. Durch die wirtschaftlich-soziale Machtstellung, die dem Adel der Grundbesitz verlieh, konnte er seine Gutsherrenrechte verfestigen und seine Rechtsposition gegen-
Pohl, Deutsche Verwaltungsgeschichte, in: Jeserich, 254 6
Hattenhauer, Anm. 18
Coing, Europ. Privatrecht, 54; Coing, Epochen, 12; Pohl, Deutsche Verwaltungsgeschichte, in: Jeserich, 245, 250 stellt weitere Ausnahmen dar, wie z. B. die Fugger. 8
Siehe S. 28.
B. Die Entwicklung des Privatrechts in Deutschland
27
über den Bauern ausbauen. 9 Diese Rechtsposition ging soweit, daß es dem Bauern verboten war, gegen den Gutsherm Klage zu erheben, unabhängig von der rechtlichen Lage. Gutsuntertänigen Bauern wurde der Rechtsweg vor den Gerichten abgeschnitten. 10 b) Die Funktion der Kirche Die möglicherweise entscheidendste Prägung erfuhr das deutsche Rechtssystem durch die Kirche. Die Kirche war die einzige Institution, die bereits in der Endphase des römischen Reichs eine Machtposition innehatte, die sie weitgehend unbeschädigt in das Mittelalter hinüberrettete. Als die damals bedeutsamste geistige Macht mit einer straffen öffentlichen Organisation, die vor allem auf dem Gebrauch der Schrift und der Sammlung von Dokumenten beruhte, konnte die Kirche während des gesamten Mittelalters entscheidenden Einfluß auf das deutsche Rechtssystem nehmen. 11 Sie lebte nach dem römischen Recht und verlieh ihm dadurch die Würde der Heiligkeit. 12 Entsprechend der christlichen Rechtsauffassung leitete sich nämlich das Recht während des gesamten Mittelalters aus der Schöpfungsordnung Gottes ab. Gott galt als Urquell jeder natürlichen Ordnung und war letztlich die Legitimation für Gerechtigkeit schlechthin. Göttlicher Wille als Ursprung allen Rechts unterwarf das gesamte europäische Rechtsdenken den moraltheologischen Bindungen. 13 Die Kirche leistete durch "wissenschaftliche Arbeit an der Sammlung, Sicherung und geistigen Erschließung einer vorgefundenen Überlieferung"14 wertvolle Pionierarbeit für die Rezeption römischen Rechts. Zu unterscheiden ist bei der Erörterung des kirchlichen Einflusses auf unsere Rechtsordnung zwischen dem rein kirchlich-kanonistischen Recht und der weltlichen Rechtsordnung. In Bologna, dem Ort der Wiedergeburt römischen 9 10 11
12 13
14
Coing, Epochen, 67; Mitteis, Rechtsgeschichte, Kap. 39, 313. Coing, Epochen, 67. Schlosser, 22; Wieacker, 71. Hattenhauer, 11. Schlosser, 74 Wieacker, 73.
28
1. Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
Rechts, wurde in beiden Disziplinen gleichzeitig geforscht. Eine breite Wechselwirkung war daher selbstverständlich. 15 Auch der hohe Anteil an Klerikern in diesen Schulen sicherte der Kirche auf diesem Gebiet einen maßgeblichen Einfluß. Bei den Wechselwirkungen sind vor allem die Scholastik und die christlichscholastischen Naturrechtslehren zu nennen. Durch die Prinzipien der Logik und Rationalität schaffte die Scholastik das methodische Instrumentarium, auf dem die gesamte heutige Rechtsanwendung beruht. 16 Der Einfluß der Kirche erschöpfte sich aber nicht in diesen Anfangsstadien der deutschen Rechtsentwicklung. Zwar konnte die Kirche unmittelbar aus dem kanonischen Recht nur einen kleinen Teil der Normen im gemeinen Recht durchsetzen. 17 Faktisch basiert vor allem unser Ehe- und Erbrecht in weiten Teilen auf christlichen Lehren und dem zugrundeliegenden Gedankengut. 18 Selbst in der heutigen Zeit, in der der rechtliche Bereich fast vollständig säkularisiert ist, erkennt man an Diskussionen, wie der des § 218 StGB, noch deutlich die Handschrift der Kirche. In der sozialen Frage stimmte sich die Kirche mit den sozialen und rechtlichen Vorstellungen des Mittelalters überein. Trotz des christlichen Ideals der Gleichheit aller Menschen unterstützte sie die ständische Gliederung der Geseilschaft. 19 c) Die wirtschaftliche Entwicklung unter der Regie der Städte als Wegbereiter handelsrechtlichen Denkens Als weiterer prägender Faktor des deutschen Rechts gilt das Bürgertum, das sich seit dem Ende des Hochmittelalters in den Städten entwickelte. Begünstigt wurde ihre Entwicklung durch die Aufspaltung in verschiedene lokale 15
Schlosser, 29; Laufs, 31.
16
Schlosser, 7.
17 Wolter, 12 f.; vor allem in dem ökonomischen Bereich blieb der kirchlichen Wirtschaftsethik der Erfolg versagt. Wolter, 104 f.; Laufs, 51. 18
Laufs, 51; Wieacker, 78.
19
Coing, Epochen, 17.
B. Die Entwicklung des Privatrechts in Deutschland
29
Herrschaftsgebiete im Hochmittelalter. Es entstanden auf dem Gebiet des deutschen Reiches mehrere territoriale Fürstentümer. Aus diesen konnten sich die Städte wegen ihres wirtschaftlichen Aufschwungs im 11. und 12. Jahrhundert herauslösen. Im Zusammenhang damit stand das Aufblühen der Geldwirtschaft und der "Geldgesinnung".2o Die dadurch entstehende Wirtschaftsethik erzeugte ein neues rationales Denken, das die alten Traditionen verdrängte. Preise, Maße und Gewichte wurden von städtischen Maklern auf den städtischen Märkten kontrolliert, die vermittelten und bürgten und damit für eine reibungslose Abwicklung des Handels sorgten. In dieser Zeit entstanden die Ansätze für viele Regelungen unseres Handelsrechtes. 21 Bereits im 16. und 17. Jahrhundert begannen zeitgenössische Bearbeiter dann, sich mit der wissenschaftlichen Bearbeitung auseinanderzusetzen. So entstanden in Deutschland spezielle Darstellungen zu dem Recht der Handelsbücher, Faktoreien, Makler und anderer aktueller Themen. Dieses Sondergebiet war auch später eine Domäne deutschen Rechts. 22 Zwar galt für das Recht der Städte im Gegensatz zum Feudalsystem - eine Gleichheit des Einzelnen vor dem Gesetz. Die Stadtrechte waren aber nur der Ausdruck von Privilegien der Stadtbevölkerung und territorial verschieden. 23 Mit dem Reichtum der Städte entstand auch eine anerkannte gesellschaftliche Stellung der Kaufleute und damit des gesamten Handels. Das aufstrebende Bürgertum hatte sich damit eine unabhängige Machtstellung erkämpft, die auch nicht durch die spätere Verringerung ihrer Macht verschwand. Die Kaufleute standen persönlich unter dem Schutz und Frieden des Königs. Sie unterstanden einem königlichen Wik- oder Hansgrafen, der nach Billigkeit Recht sprach und dabei keine Rücksicht auf Standesunterschiede nahm. 24 Neben den Kaufleuten kamen auch die Handwerker im 14. Jahrhundert durch eine Kapitalbildung immer mehr zu gesellschaftlichem Ansehen. Analog zu den Gilden der Kaufleute organisierten sie sich in Zünften, die zunächst dem Stadtherren unterstanden, später aber zu einer eigenen Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit gelangten. Damit
20 21 22
23 24
Mitteis, Rechtsgeschichte, Kap 29, 203, 206; Kroeschell, Bd. 2, 87. Mitteis, Rechtsgeschichte, Kap. 29, 206. Eisenhardt, Rdn. 222, m.w.N.; Mitteis, Rechtsgeschichte, Kap. 40, 327. Coing, Epochen, 40 f. Mitteis, Rechtsgeschichte, 181.
30
l.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
ergaben sich in den Städten zwei Machtfaktoren, deren Autonomie dem Ständestaat entgegenstand. d) Die Sonderrolle der Juden Bis in die Neuzeit hinein bestand für alle Christen das Verbot des "Zinswuchers". Das bedeutet, daß ihnen jegliche Zinsnahme für den Geldverleih untersagt war. Da die Juden keinen Grund und Boden besitzen durften und ihnen Gewerbe und Handel, wie ihn der in Gilden organisierte Kaufmannsstand ausübte, untersagt war, wurden sie als Außenseiter der Gesellschaft in diese sehr lukrative Lücke gedrängt: Geld gegen Erhebung von Zinsen auszuleihen. 25 Diese "unsauberen Geschäfte" waren so notwendig, daß sie die kanonische Gesetzgebung nicht ausschloß. Auch die Kirche war darauf angewiesen, weil ihre Schützlinge davon abhängig waren. Das ging soweit, daß Kaiser Friedrich II. für Sizilien eine Verordnung erließ, der zufolge die Zinsnahme bei Beschränkung auf ein billiges Maß gestattet sein sollte. 26 e) Die Rezeption römischen Rechts Die Rezeption des römischen Rechts ist ein komplexer kulturgeschichtlicher Vorgang, der nur aus den besonderen ideengeschichtlichen und politischen Vorbedingungen begreifbar ist und sich auf alle Länder Europas erstreckte, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Diesen Vorgang kennzeichnet das Eindringen der Lehre und Methode des römischen Rechts als »ius commune« in die europäische Rechts- und Lebenswirklichkeit. 27 Als Recht der weströmischen Provinzen fand das römische Recht, das Vulgarrecht, Eintritt in das deutsche Recht. Hierunter versteht man das Eindringen von Denk- und Ausdrucksformen juristischer Laien in die geltende Rechtsordnung. ,,Die verfeinerte, zu hoher Vollendung geführte BegrifJswelt des klassischen Rechts wurde in der Substanz sowie in der Methode von diesen laienhaften, 'vulgaren' Rechtsanschauungen verdrängt. ,,28 So wurden die sogenannten Stammesrechte (leges barbarorum) als unentwirrbare Mischung 25
Endemann, 387.
26
Endemann, 388.
27
Schlosser, 3.
28
Schlosser, 4; Kaser, 18; Eisenhardt, Rdn. 63.
B. Die Entwicklung des Privatrechts in Deutschland
31
gennanischer Rechtsmaterie mit vulgarrechtlichen römischen Elementen kodifiziert. Die lateinische Sprache als Medium hinderte die nicht gebildeten Schichten, am Rechtsleben teilzunehmen. Damit war der bis heute andauernde Grundstein für die Distanz der Bevölkerung zum Recht gelegt. Inhaltlich regelten die Kodifikationen - z. B der Codex Euricianus - bereits kaufrechtliche Materien. 29 Zu dieser Zeit tauchten daneben auch die ersten privatrechtlichen Urkunden auf, die sich zumeist auf Grundstücksgeschäfte bezogen. Die Urkundenpraxis ist ein weiteres Zeugnis dafür, wie sich die gennanischen Königreiche antiker Rechtspraktiken bedienten und damit römische Rechtskultur in das gennanische Recht einführten. Hier entstanden entscheidende prozeßrechtliche Grundlagen für unser heutiges Recht. 30 Mit dem Ausgang des Mittelalters im 16. Jahrhundert kam es auf breiter Front zur Rezeption römischen Rechts. Vordergründig hing diese Entwicklung mit der Renaissance und dem Humanismus zusammen, die vom Geist der Antike beeinflußt wurden. Entscheidend war aber, daß sich der deutsche Kaiser als Nachfolger der römischen Kaiser fühlte, und daher das römische Recht nicht als fremdes, sondern als Personalrecht des Kaisers galt. Es wurde daher im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern in Deutschland im ganzen Umfang übernommen. Damit wurde es aber materiell zu fremdem Recht. 31 Es galt zunächst gegenüber den erwiesenen und vernünftigen Rechtsgewohnheiten nur subsidiär, drängte dann aber das heimische Recht immer mehr zurück. Daneben waren die Rechtszersplitterung, die im Reich bestand, und ein ,,Normenhunger" aufgrund der Rückständigkeit der deutschen Gerichtsverfassung entscheidende Faktoren für die Rezeption römischen Rechts. Das römische Recht konnte sich wohl auch deswegen durchsetzen, weil es technisch gegenüber dem gennanischen Recht weiter entwickelt war. Es kam daher der Wirtschaft entgegen und entsprach in jeder Hinsicht den Bedürfnissen des Frühkapitalismus. Dieses an den fürstlichen Hofgerichten - den Oberinstanzen - praktizierte römische Recht stand im Gegensatz zu den Urteilen ländlicher Richter. Dazu
29
Kroeschell, Bd. 1, ein Auszug aus dem Codex Euricianus, 34.
30
Kroeschell, Bd. 1,57.
31
Mitteis, Rechtsgeschichte, Kap. 40, 324.
32
I. Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
kam, daß das neue Recht mit der juristischen Logik einen neuen Denkansatz einführte, der dem Volk unverständlich blieb. In der Folge entstand eine bis heute andauernde Kluft zwischen dem Volk und dem Juristenstand. 32 3. Die Neuzeit a) Die Aufklärung Am Ende des 17. Jahrhunderts änderte sich das geistige Klima in Europa und damit in Deutschland - grundlegend. Bis zu diesem Zeitpunkt dominierte die christliche Religion mit ihrem geistigen Einfluß umfassend die europäische Kultur. 33 Dem trat die Aufklärung entgegen, deren Ziel es war, »den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien« (Kant). Unter Unmündigkeit versteht Kant das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen. Die Aufklärung will den Menschen in die Lage versetzen, sein Leben und die Situation der gesamten Gesellschaft mit seiner eigenen Vernunft zu erfassen und rational-kritisch zu gestalten, ohne durch andere Autoritäten in seiner Entscheidungsfindung gebunden zu sein. 34 Die Aufklärung verzichtet auf eine übernatürliche Erklärung der Welt, wie sie etwa die Kirche mit ihren göttlichen Offenbarungen anbietet. Man kann daher auch von einer Säkularisation des Geisteswesens sprechen. 35 Aufklärung und Rationalismus sind nicht vollständig neue Denkansätze in der Geschichte. Ihre Wurzeln lassen sich bis in den Humanismus und sogar bis in die Antike zurückverfolgen. Die Bedeutung der Aufklärung liegt aber in dem Bestreben, den breiten Massen der Bevölkerung das neue Weltbild nahezubringen. 36 Zu diesem Zweck erschienen populäre Zeitschriften in volkstümlicher Sprache.
32
Mitteis, Rechtsgeschichte, Kap. 40, 326, 331.
33
Coing, Epochen, 69; Hartung, 9.
34
Hartung, 9; Schlosser, 70.
35
Hartung, 173; Schlosser, 87.
36
Hartung, 173
B. Die Entwicklung des Privatrechts in Deutschland
33
Ausgangspunkt der Aufklärung ist das Studium der modemen Naturwissenschaften. Sie gehen von der Beobachtung einzelner Vorgänge aus, die sie durch rationales Denken zu erklären versuchen. Die Lehren der Aufklärung stehen in diametralem Gegensatz zu der Gesellschaft des Mittelalters, die von Geburts- und Berufsständen geprägt war. Dem Ideal einer ständischen Gesellschaftsordnung setzte die Aufklärung die Gesellschaft des freien und mündigen Bürgers entgegen. 37 Der Aberglaube sollte durch freie Vernunft und Knechtschaft durch Freiheit ersetzt werden. Grundannahme der Aufklärung ist die Gleichheit der Menschen untereinander, woraus sie folgerte, daß die Menschen mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet seien. Die Erkenntnis, daß es dennoch Stärkere und Schwächere in jeder Gesellschaft gibt, führte zum Gedanken des sogenannten Gesellschaftsvertrages. Aufgabe jeder Obrigkeit ist es danach, die Freiheit und Rechte ihrer Mitglieder zu sichern. Diese geistigen Strömungen sind gekennzeichnet durch die Abkehr von der religiös-patriarchalischen Denkweise. Im Ergebnis führen diese Strömungen zur Kritik an allen bestehenden Autoritäten. Die Ausgangspunkte der Aufklärung waren in den einzelnen Ländern unterschiedlich: während die Aufklärung in Frankreich antikirchlich und antimonarchisch war, wurde sie in Bayern von der Kirche und in Österreich und Preußen von der Monarchie gefördert. 38 b) Das Vernunftrecht In rechtlicher Hinsicht verbanden sich die Gedanken des Naturrechts mit den Gedanken der Aufklärung zum Vernunftrecht. Unter Naturrecht versteht man ein auf die Eigenart der menschlichen Existenz und Natur bezogenes Recht, das letztlich jedem religiös oder ethisch fundierten und nicht rein positivistischen Recht in irgendeiner Form zugrunde liegt.39 Aus den Berührungen mit den neuen Naturwissenschaften entwickelte das Vernunftrecht einen verfeinerten, logisch-juristischen Argumentationsstil. Das Vernunftrecht löste
37 38 39 3 Arnoldi
Hartung, 174. Hattenhauer, Amn. 43, S. 21. Eisenhardt, Rdn. 171; Schlosser, 70.
34
1. Teil:
Vergleich der rechtlichen, kulturel1en und sozialen Grundlagen
konsequent das rechtliche Denken von den Begriffen der Theologie und Moral. Die Philosophen der Aufklärung - wie John Locke - kritisierten neben der patriarchalisch-religiösen Staatsauffassung auch das übernommene römische Recht. 40 Mit der Behauptung, das römische Recht widerspreche dem Geist der Zeit, versuchten daher die Vernunftrechtler, dem einheimischen Recht wieder mehr Geltung zu verschaffen. Neben den Spitzfindigkeiten des römischen und kanonischen Rechts wurde auch die lateinische Sprache als nachteilig angesehen. Neben seiner Funktion als Kaiserrecht stand das römische Recht - in seiner Handhabung durch den usus modemus - mit seiner Fülle und Methodik dem Aufbau eines neuen naturwissenschaftlich orientierten Rechtes entgegen. 41 Durch die Autorität der Vernunft konnte auch die Rechtslehre die Autorität des römischen Rechts durchbrechen. c) Die Theoretiker des Vernunftrechts Hugo von Grotius, der als Begründer dieser Denkrichtung gilt, hat in seinem Hauptwerk "de jure belli ae paeis" unter dem Naturrecht alle die Regeln erfaßt, die notwendige Bedingung einer vernünftig geordneten Gemeinschaft sind. Darunter fällt auch der bis heute gültige Satz "paeta sunt servanda". Als gläubiger Christ sah er den Ursprung seines Naturrechts weiterhin im göttlichen Willen; Grotius' Bedeutung liegt in der Säkularisation des Rechts durch den vernunftrechtlichen Ansatz. 42 Grotius verwertend folgten Pufendorf und Wolff. Sie prägten den modemen Rechtsbegriff insoweit, als sie - über Grotius hinausgehend - eine Unterscheidung zwischen Ethik und Recht vornahmen und alle Normen der Moraltheologie entnahmen, die nicht durch die bloße Vernunft erkannt werden können. 43 Die Freiheit in Verantwortung - so Wolff - charakterisiere das Wesen
40
41 42
43
Coing, Epochen, 70. Schlosser, 60 ff.; deutlicher noch in seiner 3. A. S. 50. Wieacker, 299; Schlosser, 89. Eisenhardt, Rdn. 182; Welzel, 9 f.
B. Die EntwicklWlg des Privatrechts in Deutschland
35
des Menschen. Er sei nur dort wirklich Mensch, wo er in sittlicher Freiheit und zum Nutzen der Menschheit über sich selbst bestimmen könne. 44 Diese Theoretiker werden heute als die "Gestalter einer neuen Rechts- und Sozialordnung" angesehen, da sie die Gewinnung neuer Rechtssysteme einleiteten, die rational begründet waren und logisch-mathematischen Gesetzlichkeiten folgten. 45 Wolff entwickelte beispielsweise eine Methode, mit der aus einem geschlossenen System von Obersätzen, allgemeinen Begriffen und konkreten Regeln schrittweise die konkrete Entscheidung des Einzelfalles abgeleitet wird (Syllogismus). Sie ist die Grundlage der heutigen Rechtswissenschaft, die außerhalb der Kodifikationen weiterbestand. 46 Seinen Niederschlag fanden diese Theoretiker und ihr Gedankengut in den großen Kodiflkationswerken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die als erste in den deutschen Territorialstaaten entstanden. 11. Die großen territorialen deutschen Kodijikationen
1. Das Allgemeine Landrecht in Preußen Das ,,Allgemeine Landrecht für die Staaten Preußens", ALR, das 1794 zur Regierungszeit Friedrichs 11. entstand, verfolgte den Zweck, die Gesetze zu vereinfachen und dem gemeinen Mann verständlich zu machen. Die lateinische Sprache sowie die Spitzflndigkeiten des römischen Rechts sollten entfallen. In einer Kabinettsorder des Königs heißt es, es sei verfehlt, "daß die Gesetze größtenteils in einer Sprache geschrieben sind, welche diejenigen nicht verstehen, denen sie doch als Richtschnur dienen sollen.,,47 Von den modernen Gesetzen unterscheidet sich das ALR neben den inhaltlichen Unterschieden trotz seines weitschweiflgen und schwerfälligen Stils durch seine gemeinverständliche, volkstümliche Sprache. Durch seine Popularität in allen Gesell-
44
Hattenhauer, Anm. 49.
45
Wieacker, 309, 319.
46 47
Wieacker, 319 , Schlosser, 49. Eisenhardt, Rdn. 196.
36
l.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
schaftsschichten ist es zeitlos geworden. 48 Der Preis dafür war aber der Mangel an rechtlicher Abstraktion. Das gesamte Werk stand unter dem Einfluß des Naturrechts und der Aufklärung. Das Gesetz erhielt durch diese Einflüsse einen systematischen Aufbau mit einer klaren und zweckmäßigen Gestaltung. Es folgte damit dem naturrechtlichen System Pufendorfs und Wolffs. Der Gedanke der Rechtssicherheit scheint hier durch. Dennoch läßt es die ständischen Unterschiede unangetastet. 49 2. Die Vorstufen des Bürgerlichen Gesetzbuches Die politischen Entwicklungen Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts weckten bei vielen Juristen die patriotische Hoffnung auf eine Zivilrechtskodifikation für Gesamtdeutschland. Allen voran versuchte Thibaut deren Notwendigkeit darzulegen. Nicht geeignet sei die römisch-rechtliche Grundlage; statt dessen solle der Abstand zwischen Volk und Zivilrecht beseitigt werden, und das Zivilrecht nicht länger Geheimwissenschaft eines ständisch gebundenen Zirkels von Spezialisten sein. 50 Vorteile könnten vor allem für den Handelsverkehr und die nationale Einheit gezogen werden. Gegen eine Kodifikation wandte sich vor allem Savigny. Entscheidend sei der "organische Charakter des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes". Recht wird demnach durch Sitte und Volksglaube erzeugt und dann erst durch die Jurisprudenz, niemals aber durch die Willkür des Gesetzgebers. 51 Eine das Recht schaffende Kraft durch Juristen und Gesetzgebung sei erst bei "steigender Kultur" möglich. Voraussetzung für Kodifikation sei die Ausbildung eines tüchtigen luristenstandes und eine Rechtswissenschaft, die sich des in Frage kommenden Stoffes bereits bemächtigt habe. Die Nachfolger der Gründer der historischen Schule spalteten sich in eine germanistische und eine romanistische Richtung. Die romanistische Richtung mit ihrem herausragenden Vertreter Puchta, dem Schüler Savignys, arbeitete mit der Pandektenwissenschaft, deren Fundament die historisch-systematische Methode ist. Nach dieser Methode ist die Begriffsjurisprudenz allein durch abstrakte Konstruktionen möglich. Damit wurden die Grundlagen für die Technik von Subsumtion und
48
Schlosser, 99.
49
Schlosser, 100; Laufs, 128.
B. Die Entwicklung des Privatrechts in Deutschland
37
Schlußfolgerung gelegt, die die Germanisten im Gegensatz zu den Romanisten bei einer Kodifikation für positiv hielten. 3. Die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches und die weitere privatrechtliche Entwicklung in Deutschland Bei den Auseinandersetzungen um die Einführung eines einheitlichen Zivilgesetzbuches hatten die beiden nationalliberalen Abgeordneten Johannes Miquel und Eduard Lasker 1873 mit ihren Bestrebungen Erfolg. In der Folgezeit wurde die Reichsverfassung geändert und dem Reich die Gesetzgebungszuständigkeit für das gesamte Zivilrecht übertragen. 1874 berief der Bundesrat eine Kommission ein, deren 11 Mitglieder aus Richtern, Ministerialbeamten und Professoren bestanden. Aufgrund des beherrschenden Einflusses Windscheids wurde dem Gesetzbuch ein pandektistischer Stempel aufgedrückt. In die Kommission zum zweiten Gesetzentwurf wurden weiterhin 13 Mitglieder aus Handel und Landwirtschaft berufen. Am 1.1.1900 trat das Bürgerliche Gesetzbuch in seiner endgültigen Fassung in Kraft. Auf diese hat Planck ganz wesentlichen Einfluß genommen. Die Fassung blieb daher entscheidend vom Geist der Pandektenwissenschaft geprägt, wobei das Gewohnheitsrecht als Rechtsnorm anerkannt werden sollte. Schwierige und noch in der Entwicklung begriffene Rechtsinstitute wurden bewußt nicht kodifiziert - wie die der Anscheins- und Duldungsvollmacht -, ohne damit die betreffende Rechtsfigur abschaffen zu wollen. 52 Dem Einfluß Plancks ist es auch zu danken, daß das Bürgerliche Gesetzbuch möglichst neutral gehalten ist, ohne eine der sozialen Klassen zu bevorzugen. 53
50
Eisenhardt, Rdn. 333.
51
Savigny, Vom Beruf, 79.
52
Planck, AcP 75,404-407.
53
Planck, AcP 75,404-407.
38
l.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
C. Die koreanische Rechtsentwicklung I. Die Lehre des Konfuzianismus und seine Auswirkung auf die Gesetzgebung
Das Rechtsleben des modernen Korea wird nach wie vor von einer Weltanschauung bestimmt, die in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden das Leben in Korea wesentlich beeinflußte und es seit der Yi-Dynastie l sogar beherrschte: den Konfuzianismus. Der Konfuzianismus wird als Tradition menschlicher Weisheit bezeichnet, die Zeremonial- und Ritualnonnen zu einer Gesetzesethik systematisiert hat. 2 Im Gegensatz zum Christentum fehlt es an der "Idee von der satanischen Macht des B6sen" und an einer Erlösungsidee. Das Nonnsystem wird deshalb seinem Geiste nach nicht von den Grundsätzen der Moralität, sondern der Legalität bestimmt. 3 Es gibt keinen "pers6nlichen Gott", sondern einen "ethischen Himmer', der eine ewige Ordnung schützt, die Himmlisches und Irdisches umgreift. 4 Der Konfuzianismus ist eine intellektuelle Tradition, die auf der fortdauernden Interpretation von Schriften beruht, die als ,.,Klassiker" bezeichnet werden. Zu den ersten fünf Klassikern zählen das ,,Buch der Lieder", das ,,Buch der Urkunden", das ,,Buch der Wandlungen", die "Frtihlings- und Herbstannalen" sowie die ,,Aufzeichnungen der Riten". Diese Schriften, die nach dem geltenden Nonnsystem von Konfuzius (551-479 v.Chr.) redigiert worden sind, dürften auf frühere Textsammlungen zurückgehen; aus ihnen ist von Konfuzius und seinen Nachfolgern5 eine philosophische und religiöse Belange umfassende Tradition menschlicher Weisheit entwickelt worden. Nach dem 3. Jahrhundert n. Chr. wurde der Konfuzianismus durch den Taoismus und insbesondere durch den Buddhismus zurückgedrängt; er erlebte im 10. Jahrhundert eine Renaissance in Fonn des Neokonfuzianismus, der buddhistische und taoistische Gedankengänge aufnahm und weitere ältere Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts mußte der Konfuzianismus in der Koryo-Dynastie mit dem Buddhismus konkurrieren; erst mit der Yi-Dynastie (seit 1392 n. Chr.) wurde er zur offiziellen Staatsauffassung erklärt. 2
3 4
Schluchter, Max Webers Konfuzianismusstudie, in: Max Webers Studie, II (32). Schluchter, Max Webers Konfuzianismusstudie, in Max Webers Studie, 11 (32). Schluchter, Max Webers Konfuzianismusstudie, in: Max Webers Studie, 11 (33). Vor allem Mengzi (372-281 v.Chr.) und Xungzi (ca. 310-230 v.Chr.).
C. Die koreanische Rechtsentwicklung
39
Texte zu Klassikern erhob. Dazu wird vor allem die Zitatensammlung ,,Lunju" gerechnet, die als primäre Quelle des Konfuzianismus gilt und offensichtlich eine Zusammenstellung von Worten des Meisters Kong (Konfuzius) durch Schüler späterer Generationen darstellt. 6 Die unter dem Namen Li-ye gesammelten Aufzeichnungen über die Riten sind eine bunte Materialsammlung, die sowohl Verhaltensmuster enthält, die wir nach heutigen Begriffen als Gewohnheitsrecht werten müssen, als auch belehrende Geschichten, Anekdoten, Regeln früherer Herrscher über die Regierungstätigkeit und philosophische Aussprüche aller Art. 8 Scharf zu trennen von den Li-yi (Aufzeichnung der Riten) ist das Recht, das im Chinesischen mit Fa bezeichnet ist. Es betrifft nur die von den Regierenden schriftlich niedergelegten Vorschriften. 9 Im Gegensatz zum europäischen Kulturkreis, der unter Recht die Gesetzgebung, das Gewohnheitsrecht, die gerichtlichen Präzedenzen (den anglo-amerikanischen Rechtskreis prägend) und das in verschiedenen Erscheinungsformen angewandte Naturrecht zusammenfaßt, ist der Begriff des Rechts im ostasiatischen Raum eng auszulegen. Soweit in Korea Gesetze eingeführt wurden, entstammten sie alle der chinesischen Kultur und sind damit durch den Konfuzianismus geprägt. Sie regelten vorwiegend Tatbestände des Straf- und des öffentlichen Rechts. Nur vereinzelt wurden - wie in China - zivilrechtliche Normen geschaffen. Der Einführung des westlichen Rechts gingen drei frühere Rezeptionsperioden voraus. Zuerst führte Korea die Gesetze von Wei, Tsin und Tang in der Zeit der drei Königreiche ein, die Gesetze von Tang, Sung und Yuan in der Koryo-Zeit, und zuletzt den ,,Ming-code" während der Yi-Dynastie. Es bestand aber immer eine Trennung zwischen dem Herrschaftsmittel, das mit Gesetzen regiert (philosophische Lehre der Legisten) und den alten Nor-
6
Roetz, 23-24.
Der Ausdruck Li wird verschieden übersetzt. Häufig mit Riten, Sittlichkeit oder Sitten, Schicklichkeit, Zeremonien oder schlechthin mit Traditionen. Bünger, Entstehen und Wandel des Rechts in China, in: Fikentscher/FrankelKöhler, 439 (449), Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (139). 9
Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (139).
40
l.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
men, die mit der Bezeichnung Li gleichgesetzt werden. Die Li-Schriften waren nicht imstande, positiv gesetztes Recht zu verdrängen. Bei Konflikten zwischen traditionellen, gewohnheitsrechtlichen Normen und Gesetzesvorschriften gingen letztere vor. Die konfuzianische Tradition schloß nur Gesetzeslükken für Bereiche, deren Sachverhalte nicht gesetzlich geregelt waren. Sie schuf dadurch Gesetzesvorschriften. 10 Den Riten fiel ferner die Funktion zu, bei gesetzgeberischen Vorhaben Maßstab und Korrektiv zu sein. Die LiSchriften wurden zum Wertmaßstab für die Rechtsschöpfung oder ein "Naturrecht für historisch Gewordenes".11 Auf die alten Regelungen beriefen sich gern Reformer und deren Gegner, wenn es galt, an bestehenden Gesetzesvorschriften festzuhalten oder sie zu ändern. Im Privatrecht war in Korea - wie in allen ostasiatischen Ländern - die gesetzliche Regelung spärlich. 12 Soweit der Gesetzgeber tätig wurde, übernahm er vielfach die vorstaatliehe Regelung der Riten. So sind die Vorschriften über Ehe - insbesondere über die Ehescheidung - in China und Korea den LiSchriften entnommen worden. 13 Der Familienverband und seine Auflösung (Erbschaft) wurden gesetzlich geregelt. Die Regelung betrifft beispielsweise den Zusammenhalt der Familie und des Familienvermögens sowie den Grundsatz, daß alle Söhne gleiche Anteile am Familienvermögen erhalten. Letzteres hatte erhebliche Auswirkung auf die Verteilung des Grundbesitzes; eine Institution wie das Majorat ist in China und Korea unbekannt. 14 Dagegen blieben Rechtsmaterien wie die vertragliche Regelung des Kaufes, der Miete, der
10 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit., in: Max Webers Studie, 134 (140). 11
Weber, 318; Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (140). 12 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit., in: Max Webers Studie, 134 (153); Choi, Law, 126. 13
(458).
Bünger, Entstehen und Wandel des Rechts in China, in: Fikentscher/Franke/Köhler, 439
14 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (155). Der älteste Sohn bekam allerdings in Korea zusätzlich zu seinem Anteil 20 % des gesamten Erbes, um seiner Aufgabe als Erhalter des Geschlechts gerecht werden zu können. Im vorindustriellen Japan galt dagegen das Erstgeburtsrecht und trug wesentlich zur Vermögenskonzentration bei.: Fukuyama, 163. Die Japaner haben unter ihrer Herrschaft auch in Korea die Erbfolge ihrer Rechtslage angeglichen, mit der Folge, daß der älteste Sohn den größten Anteil, niemals weniger als die Hälfte des Gesamtnachlasses, erbt.: Pak Pyong Ho, Characteristics of Traditional Korean Law, in: Legal System, 13 (21 f).
C. Die koreanische Rechtsentwicklung
41
Pacht, des Darlehens, des Pfandes und der Personenvereinigung weitgehend ungeregelt. Sie blieben der Gesellschaft zur Selbstregelung überlassen. 15 Dieser gesetzesfreie Raum ist sowohl in China als auch in der von ihm beeinflußten koreanischen Sphäre durch die Li-Norm und ihre Interpretation von Gerechtigkeit und guter sozialer Ordnung ausgefüllt worden. 16 Wie in China haben sich offensichtlich durch die Li-Normen Gewohnheitsrecht und soziale Praktiken herausgebildet, um koreanische zivil rechtliche Fälle zu lösen. Führt man sich vor Augen, daß sich die koreanischen Sitten wegen des ungewöhnlich starren Gesellschaftssystems nur unwesentlich über die Jahrhunderte änderten, und Gesetze nur selten zur Anwendung kamen, erschien eine Kodifikation auch nicht notwendig. Genauere Studien wurden auf diesem Sektor bisher noch nicht durchgeführt. Vor allem die Erscheinung einer ,,gesetzesfreien Sphäre", die durch gesellschaftliche Wertungen ausgefüllt ist, hat dazu geführt, daß - anders als in Europa - kein geschlossenes System der Rechtsnormen entstand, das als erschöpfend und autonom gegenüber anderen Prinzipien wie der Moral gilt. 17 11. Das Wertesystem des Konfuzianismus und sein Einfluß auf die Rechtsprechung 1. Die Harmonie
Der Begriff ,,Harmonie" wird in den Gesprächen des Konfuzius (Lunju) als Hauptbestandteil des Li dargestellt. Ihm wird vor allem in Japan, aber auch in Korea, eine Rolle eingeräumt, die ihm allein nach den Lehren des Konfuzius nicht zukommt. 18 Der Gedanke der Harmonie prägt eine Ordnung, in der jeder Einzelne seinen Platz hat, den er im Sinne der Gesamtheit ausfüllen muß. Die menschliche Ordnung ist mit der Natur zu einem harmonischen Universum verwoben. 19 Nur mit Hilfe der Harmonie befinde sich der Mensch in Überein15 Bünger, Entstehen und Wandel des Rechts in China, in: Fikentscher/Franke/Köhler, 439(458). 16 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (156).
17 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (154). 18
Rahn, Recht und Rechtsverständnis in Japan, in: Fikentscher/Franke/Köhler, 473 (483).
19
Rahn, Recht und Rechtsverständnis in Japan, in: Fikentscher/Franke/Köhler, 473 (482).
42
l.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
stimmung mit den Gesetzen der Natur, die letztlich alles Sein beherrschen,z° Daher wird die "Harmonie" in Korea als ein Leitprinzip der Gesellschaft angesehen. Im zwischenmenschlichen Bereich gilt ,,Höflichkeit" als die einzig mögliche Verhaltensweise, um die Harmonie zu erzielen und sie später auch zu erhalten. 21 Gerät die menschliche Ordnung mit der Natur in Konflikt, so droht dies das ganze Universum in Mitleidenschaft zu ziehen; daher sind die Konflikte nicht auszutragen, sondern zu schlichten und durch gegenseitiges Nachgeben beizulegen. Versucht jemand, durch einen Prozeß seine individuellen Interessen durchzusetzen, schafft und vertieft er die Disharmonie; sein Handeln ist deshalb egoistisch und verwerflich. 22 Diese Geisteshaltung hat zur Folge, daß man Streitigkeiten im privaten Kreis regelt, anstatt die Gerichte anzurufen. Man zieht die Schlichtung durch eine vertrauenswürdige Person vor. Diese kann ein älteres Familienmitglied, eine der Honoratioren im Dorf oder eine Persönlichkeit des Berufstandes sein. 23 Damit wird nach Meinung der Koreaner ein Schwarz-Weiß Urteil vermieden, das nur einen Sieger oder einen Besiegten kennt. Die Schlichtung könne besser als ein Urteil das künftige Verhältnis der beiden Parteien einbeziehen und positiv zu einem harmonischen, guten Verhältnis der Zukunft beitragen. 24 Diesen Ausgleich zu schaffen ist, nach Konfuzius vor allem Aufgabe der Gelehrten. "Ein Edler harmonisiert, aber macht sich nicht gleich. Ein Gemeiner macht sich anderen gleich, harmonisiert aber nicht. ,,25 Hier zeigt sich ein vom europäischen und anglo-amerikanischen Recht abweichendes Rechtsbewußtsein. In Europa herrscht seit Vorzeiten die Vorstellung, die sich bis zum heutigen Tag gehalten hat, daß man um sein Recht
20 Choi, Western Law, 177 (199); Hyun Soong-Jong, Das traditionelle koreanische und das moderne westliche Recht, in: Rehbinder/Ju, 17 (20); HaIun, Political Tradition, 1 (16). 21 22 23
(459).
Hyun Soong-Jong, a.a.O. in: Rehbinder/Ju, 17 (20). Rahn, Recht und Rechtsverständnis in Japan, in: Fikentscher/FrankelKöhler, 473 (482). Bünger, Entstehen und Wandel des Rechts in China, in: Fikentscher/FrankelKöhler, 439
24 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (157). 25 Roetz, 85, der aus den Geprächssammlungen des Konfuzius, Lunju 13.23 zitiert. In die gleiche Richtung weist ein anderes Zitat von Konfuzius, zitiert bei Choi, Western Law, 177 (200). ,,Der
überlegene Mann hilft beratend, aber identifiziert sich nicht mit den anderen. Der Unterlegene identifiziert sich mit anderen, gibt dagegen aber keinen Rat."
C. Die koreanische Rechtsentwicklung
43
kämpfen müsse. 26 Der Kampf um das individuelle Recht findet im Gerichtsverfahren einen formalisierten Ablauf. 27 Dagegen ist der ostasiatische Kulturkreis um einen Kompromiß zwischen den Parteien bemüht, sei es in Form einer gütlichen Beilegung, der Schlichtung durch Dritte oder eines außergerichtlichen Vergleichs. 28 Die ostasiatische Auffassung kann nicht als ein Mangel an Rechtsbewußtsein verstanden werden; es liegt nur eine andere Betrachtungsweise vor. 29 Da die Fälle des Privatrechts kaum von Gerichten entschieden wurden, konnte sich keine Rechtsprechung entwickeln, die zu einem geschlossenen Rechtssystem beigetragen hätte. 30 Für die Koreaner stellt ein Gerichtsbeschluß, durch den die Auffassung einer Partei als richtig und die der anderen als falsch ausgewiesen wird, eine erschreckende Vision dar. Eine solche Entscheidung muß zwingend die gesellschaftliche Harmonie auf das empfindlichste stören. Für einen traditionellen Koreaner hat ein Urteil nur die Wirkung, daß sich eine ohnehin gestörte Harmonie nicht so schnell wieder herstellen läßt. 31 Neben ihrer umfassenden gesellschaftlichen Funktion hat die Harmonielehre in diesem Zusammenhang auch eine individuelle Komponente, die eine gewichtige Rolle spielt. Unterliegt eine Partei in einem Prozeß, so geht damit immer ein Gesichtsverlust einher. Diese Verletzung des Gefühls, ,,Kibun", nimmt der Unterliegende dem Obsiegenden übler als die finanzielle Einbuße. Die Entstehung und der Abschluß eines Prozesses wird daher in der Regel zum Abbruch der geschäftlichen Beziehungen führen. Das spiegelt sich in einem koreanischen Sprichwort wider., daß "das beste Urteil schlimmer sei
26 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (157); Bünger, Entstehen und Wandel des Rechts in China, in: FikentscherlFranke/Köhler, 439 (460). 27 Vergl. auch hierzu Jherings ,,Der Kampf ums Recht'. Fotomechanischer Nachdruck der 4.Aufl., 1874.
28
Rahn, Recht und Rechtsverständnis in Japan, in: FikentscherlFranke/Köhler, 473(494).
29 Ob unser Rechtssystem unter dem Blickpunkt der Rechtssicherheit größere Vorteile bietet, muß mit einem Fragezeichen versehen werden. In einem immer unsicher werdenden europäischen Recht vermag kein Anwalt mehr verbindliche Prognosen über den Ausgang eines Prozesses zu stellen. 30 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (155). 31
Hahm, Korean Jurisprudence, 95 (96 Fn. 3) mit weiteren Nachweisen.
44
1. Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
als kein Prozejfm. Aus diesem gesellschaftlichen Zwang heraus wird der traditionelle Koreaner häufig auf ein ihm zustehendes Recht lieber verzichten, als seinen Geschäftspartner zu verklagen. 2. Auseinandersetzung mit dem Gedanken der Harmonie Dem Gedanken der Harmonie widerspricht es, daß der Einzelne ein subjektives Recht gegenüber einem anderen oder gar staatlichen Institutionen hat. So verwundert es nicht, daß das ostasiatische Recht bis zur Einführung des europäischen Rechts den Begriff des subjektiven Rechts nicht kannte. Man dachte in objektiven Ordnungen und in Pflichten; ein Denken in individuellen Rechten war dem System fremd. 33 Zu beachten ist, daß der Begriff des subjektiven Rechts auch in Europa erst im 16. und 17. Jahrhundert entstand und dann seinen Siegeszug begann. Begründet wurde er vor allem durch die Väter des modernen Völkerrechts, die ihn als Gegengewicht zum absoluten und von Gott gegebenen Herrschaftsrecht schufen. In Abkehr vom absoluten Herrschaftsrecht der Fürsten wurden Menschen- und Bürgerrechte begründet, deren Grundlage in dem Naturrecht wurzelt. Diese stark abstrakte "Individualisierung des Rechts", durch die das Individuum vom sozialen Umfeld unabhängig wird, verträgt sich nicht mit der Einbindungen des Menschen in die Gemeinschaft des ostasiatischen Kulturkreises. 34 3. Die Hierarchie Kernstück seiner Gesellschaft sind für den Koreaner persönliche Beziehungen und ethische Verantwortung. Traditionell werden fünf ,,Beziehungen" herausgestellt: die Beziehung des Herrschers zum Beherrschten, des Vaters zum Sohn, des Ehemannes zur Ehefrau, des älteren zum jüngeren Bruder, des Freundes zum Freund. 35 Drei von ihnen sind familiärer Natur, während die 32
Vigano, 86, Fn. 182.
33 Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Max Webers Studie, 134 (158); Bünger, Entstehen und Wandel des Rechts in China, in: Fikentscher/Franke/Köhler, 439(465-468). 34 VergI. Bünger, Entstehen und Wandel des Rechts in China, in: Fikentscher/FrankelKöhler, 439 (466). 35
Ching, 111.
C. Die koreanische Rechtsentwicklung
45
beiden anderen als Familienvorbilder gewertet werden. Die Beziehung des Herrschers zum Beherrschten wird mit der Vater-Sohn-Beziehung verglichen, während die Freundschaft der Brüderlichkeit nahekommt. Aus dem System der fünf Beziehungen wird ein grundlegendes Rangordungsverständnis abgeleitet: der Herrscher ist Vorgesetzter des Untertanen, der Ehemann steht der Ehefrau und der Vater dem Sohn vor. Die Beziehungen setzen nach konfuzianischer Lehre Pflichten und Verantwortung voraus, allerdings haben die höhergestellten Partner immer mehr Rechte, die niedriger Stehenden mehr Pflichten. 36 Der Dienst am Fürsten bedeutet, diesen nicht zu hintergehen, ihn aber offen anzugreifen, wenn es moralisch geboten ist. 37 Im Rahmen späterer Entwicklungsphasen hat sich der Konfuzianismus verstärkt hierarchisch ausgerichtet. In China setzte sich der Konfuzianismus als Staatsdoktrin während der Han-Dynastie (202 v.Chr. bis 220 n.Chr.) durch. Trägerschicht dieses hierarchischen Systems war der ,,Beamten- und Amtsanwärterstancf', der noch während der Han-Dynastie erreichte, daß ihm die hohen Ämter vorbehalten blieben. Er setzte durch, daß nicht die Militär-, sondern die Verwaltungs leistung Pfründe begründete. 38 Dies ist sicherlich ein entscheidender Unterschied zur Entwicklung im europäischen Raum, wo die Stellung des Militärs bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts übermächtig war. Den Blutzoll, den zum Beispiel die Söhne des preußischen Adels in den Kriegen entrichteten, belohnte der Fürst mit Privilegien für diese Schicht. Auch das traditionelle Japan wich insofern von Chinas und Koreas Gesellschaftstruktur ab, als die Kriegerkaste der Samurai an der Spitze der gesellschaftlichen Rangordnung stand. 39 Soldaten und Beamte gehörten im traditionellen China verschiedenen Sozial schichten an. Ein literarisch Gebildeter stand nicht mit dem Offizier auf gleichem Fuß. 40 Die Beamtenämter waren aber nicht erblich und wurden auch 36 37
38 39
Ching, 113. Roetz,61. Schluchter, Max Webers Konfuzianismusstudie, in: Max Webers Studie, 11 (35). Roetz, 68.
40 Schäfer, Die konfuzianischen Literaten und die Grundwerte des Konfuzianismus in: Max Webers Studie, 202 (207); vgl. rur Korea: Hielscher, 102.
46
I.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
nicht nach Willkür des Fürsten vergeben. 41 Es bedurfte aber mehr als eines Jahrtausends seit Beginn der Han-Dynastie, um Lehr- und PrüfungsinhaIte sowie das Verfahren über die Ämterlaufbahn voll auszureifen. 42 Der Literatenstand grenzte sich von dem des nicht privilegierten Volkes stark ab. Die Aufstiegsmöglichkeiten der anderen Bevölkerungschichten waren erheblich eingeschränkt. Die literarische Bildung blieb faktisch ein Monopol der großen Familien. Daneben gab es während der einzelnen Dynastien mit sehr unterschiedlicher Intensität das ,,Protektionsprivileg", das den Söhnen erfolgreicher Amtsträger ohne Ablegung einer Prüfung ein Amt verlieh, und die weit verbreitete Institution des Ämterkaufs, die sich immer dann häufte, wenn sich die Regierung in finanziellen Engpässen befand. 43 Innerhalb der Trägerschicht sorgte das Prüfungswesen fiir eine erhebliche Mobilität. Nur in geringem Umfang waren die reichen und zur Oberschicht gehörenden Familien in der Lage, ihre herausgehobene Position ihren Kindern zu erhalten. Von den erfolgreichen Prüfungskandidaten in der entscheidenden höchsten Prüfung fiir den Grad des Chin-shih stellte der höhere Erbadel in China in den Jahren 1371-1904 weniger als 6%.44 Diese hierarchisch geprägte Struktur des Konfuzianismus wurde von Korea übernommen. Die Trägerschicht, die Mandarine Koreas, sind die "Yangbans". Die Choson-Gesellschaft gliederte sich in 4 Stände: 1. die Yangbans als Oberschicht, die sich in Zivil-(Munban) und Militäradel (Muban) unterteilten,
2. die Chungin - die Leute der Mitte -, ein zahlenmäßig kleiner Mittelstand, der sich aus niederen Beamten und einer Reihe qualifizierter Berufe zusammensetzte, 3. die Sangmin oder Yangin, das gewöhnliche Volk, das die freien Bauern und damit die Mehrheit des Volkes erfaßte, und
41 42
Schluchter, Max Webers Konfuzianismusstudie, in: Max Webers Studie, 11 (35). Brockhaus Bd, Stichwort "China", S. 491.
43 Schäfer, Die konfuzianischen Literaten und die Grundwerte des Konfuzianismus in: Max Webers Studie, 202 (205-207) 44 Schäfer, Die konfuzianischen Literaten und die Grundwerte des Konfuzianismus in: Max Webers Studie, 202 (208); Hahm, Korean Jurisprudence, 3 (35) stellt die Situation in Korea dar.
c. Die koreanische Rechtsentwicklung
47
4. die Chonmin, das niedere Volk, dem Sklaven - sogenannte nobis - und Angehörige diskriminierter Bevölkerungsgruppen wie Gerber, Schlächter, Korbflechter, Wanderschauspieler, Unterhalterinnen und Schamaninnen angehörten. 45 Um zur Führungsschicht zu gehören und ein Staatsamt zu erlangen, war es neben der Herkunft schon seit der Koryo-Dynastie (von 918 bis 1392 n.Chr.) erforderlich, daß der Bewerber seine Bildung durch Staatsprüfungen unter Beweis stellte. 46 Mit der Yi- oder Choson-Dynastie (von 1392 bis 1910), die den buddhistischen Klerus entmachtete und den Neokonfuzianismus zur Staatsreligion erhob, wurde die Entwicklung noch verstärkt. Von nun an entschied die Herkunft über die Zulassung zur Prüfung, das Abschneiden in den Staatsexamen über die berufliche Karriere. Diese Entwicklung setzte sich vor allem fort, als die in China die Macht ergreifenden Mandschu 1627 in Korea eingedrungen waren und das Land zur Anerkennung ihrer Oberhoheit gezwungen hatten. Im Gegensatz zu China und den Lehren des Konfuzius und seiner Schüler, daß jedem freien Bürger die Zulassung zu Staatsprüfungen und damit der Aufstieg in einen anderen Stand ermöglicht werden sollte, schloß das koreanische Bildungssystem eine Mobilität zwischen den Ständen bewunt und konsequent aus. Staatsstellungen waren nur den Yangbans und ihren Abkömmlingen vorbehalten. 47 Eine Ausnahme bildeten nur die militärischen Ränge. Hier war ein Prüfungsverfahren vorgeschrieben, das weniger anspruchsvoll war als das Zivilexamen und auch fähigen Bewerbern aus dem Stand der Chungin und Sangrnin offenstand. 48 Die Zahl der militärischen Führungsstellen betrug allerdings auch das Fünffache der höheren Zivilämter. Auch in Korea setzte sich die Praxis durch, nach verlustreichen und verheerenden Kriegen Amtstitel zu verkaufen, um Einnahmen zu erzielen. Durch diese weitverbreitete Vermark-
45
Hielscher, 98; Hahm, Korean Jurisprudence, 3 (40).
46 Nach formellem Recht konnten während der Koryo-Dynastie auch freie Bauern die Prüfung ablegen; Goethel, 31. 47
48
Fukujama, 165. Hielscher, 102.
48
l.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
tung des Yangban-Status erwarb der Käufer allerdings kein Amt, sondern nur einen Titel. 49 Diese zivile und militärische Führungsschicht besaß eine Monopolstellung, zu der es kein Gegengewicht in der koreanischen Gesellschaft gab. 50 Sie besetzte alle Schlüsselpositionen der koreanischen Gesellschaft, wodurch ihr sowohl politische als auch finanziell unbeschränkte Macht erwuchs. Ihr Einfluß gründete sich darauf, daß sie als Wächter der konfuzianischen Normen auftrat. Die übergeordnete Stellung der Yangbans ließ auch keinen Raum für ein Gesetz, das einem Gleichheitsgedanken nach unserem Verständnis Rechnung trug. Normen bestimmten ihr Leben, die gegenüber dem Recht als vorrangig galten. Sie lebten quasi über dem Recht und waren keinen rechtlichen Angriffen ausgesetzt. 51 Die zahlenmäßig stärkste Gruppe bildeten das Sangmin oder auch Yangmin "das gute Volk" oder Yangin ,freie Leute" genannt, deren Zahl wie in China bis zu 80 % der Gesamtbevölkerung ausmachte. 52 Die konfuzianische Hierarchie bestimmte auch das Leben im internen Familienkreis. Der Mann konnte zwar mehr als eine Frau heiraten, aber nur eine einzige war die vollgültige Ehefrau. Die Hauptfrau konnte sich der Sohn nicht wählen. Sie wurde ihm vom Vater ausgesucht. 53 Der Hauptfrau oblag die Führung des Haushalts, die Beaufsichtigung der· Dienstboten, die Kontrolle der Nebenfrauen und sämtlicher Kinder, die ihr Ehemann zeugte. Der Sohn wohnte mit seiner(n) Frau(en) im Haushalt der Eltern. Teilweise wohnten vier Generationen unter einem Dach. Die Mutter des Sohnes hatte zu ihren Lebzeiten die Frau ihres Sohnes unter ihrer Gewalt. Der Vater blieb bis zu seinem Tode Familienvorstand; in der Praxis übernahm der Sohn die Leitung der Familie, wenn der Vater dazu geistig oder körperlich nicht mehr imstande war. 54
49 50
51
Hielscher, 134. Choi, Law, S. 101. Hahm, Political Tradition, 1(20).
52 Van der Sprengel, Die politische Ordnung Chinas auf lokaler Ebene: Dörfer und Städte in: Max Webers Studie, 91 (108). 53 54
Eberhard, Die institutionelle Analyse des modernen China in: Max Webers. Studie, 55 (65). Eberhard, Die institutionelle Analyse des modernen China in: Max Webers. Studie, 55 (65).
c. Die koreanische Rechtsentwicklung
49
Diese konfuzianische Idee beweist, daß es in der koreanischen Gesellschaft keine gleichen Menschen gab. Die trennenden Faktoren waren entweder das Geschlecht: der Mann stand höher als die Frau, oder das Alter: der jüngere hatte weniger Rechte als der ältere Bruder. Dem ungehorsamen Familienmitglied konnten selbst bei geringfügigen Vergehen gegenüber dem in der Hierarchie höher Stehenden drakonische Strafen auferlegt werden, die bis zur Todesstrafe reichten. 55 Im Konfliktfall gebührte der Familie Vorrang vor dem Staat. 56 Die Familie konnte sich zwar dem Zugriff des Staates entziehen, nicht aber demjenigen der Moral. Dem Willen des Älteren, insbesondere des Vaters, kam der entscheidende Rang zu. 57 4. Die Verquickung von moralischen Werten mit dem Gesetz Ein tiefgreifender Unterschied zu unserem Rechtsverständnis stellt die Verquickung zwischen der konfuzianischen Wertordnung und dem formalen Gesetz dar. Das Recht wurde daher im Konfuzianismus immer noch als die ultima ratio angesehen. Diese Eigenheit wird mit einem Ausspruch von Konfuzius untermauert: "Wenn Du Dein Volk mit Regierungsmaßnahmen führst und es dem Gesetz und einer Bestrafung unterwirfst, so wird es Fehlhandlungen zu vermeiden trachten, aber es wird kein Gefühl von Scham und Ehre entwickeln. Führst Du es mit Tugend und unterwirfst es den Regeln des Anstandes, so wird es ein Schamgefühl entwickeln und sich zwanglos korrekt benehmen. ,,58
In Japan ging die Position des Familienoberhauptes schon mit dem Eintritt des Vaters in den Ruhestand auf den Erstgeborenen über.; Fukuyama, 163. 55
56 57
58
4 Arnoldi
Choi, Law, S. 108. Fukujama, 164. Roetz, 62. Shaw, 15.
50
l.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
Diese Vorrangstellung der Moral und der Ethik gegenüber dem Recht wurzelt auch heute noch tief in jedem Koreaner. 59 Selbst wenn es unvermeidbar wird, Recht anzuwenden, so bleibt dieser Rechtsvollzug immer untrennbar verwoben mit den konfuzianistischen Ge- und Verboten. Das Recht diente in erster Linie dazu, ein Fehlverhalten des Herrschers in der Befolgung der konfuzianistischen Ideale auszugleichen. 60 Für das Zivilrecht bedeutete dies, daß dieses Anwendungsgebiet weitgehend ohne Gesetz auskam. Dieser Bereich des Rechts konnte am ehesten ohne zwingende staatliche Maßnahmen auskommen. Wenn sich zwei gleichgestellte Rechtssubjekte gegenüberstanden, war eine ,,gütliche Regelung" hier einfach und leicht durchzusetzen. Versuchte eine Person dennoch, ohne Not mit Hilfe des Rechts ihren vermeintlichen Anspruch zu verwirklichen, verstieß sie automatisch gegen den konfuzianischen Verhaltenskodex. Dies bedeutet für den Vollzug individueller Rechte: sie konnten nach den traditionellen koreanischen Verhaltensmustern nicht durchgesetzt werden. Setzte sich ein Einzelner dennoch über diese konfuzianistischen Prinzipien hinweg, so wurde ihm dieser Verstoß gegen die Grundsätze besonders stark angekreidet, wenn er später eigene Verfehlungen beging. Er war unter diesem Aspekt geneigt, auf sein Recht zu verzichten und eine Vermögenseinbuße hinzunehmen. Anders konnte er die Rechtslage nur beurteilen, wenn er als gesellschaftlich höher Eingestufter auf einem anderen Weg zu seinem Recht gelangen konnte. 61 Wegen dieser Identifikation des Konfuzianismus mit dem Ständestaat wurden die konfuzianische Moral. speziell der Verhaltenskodex, ein Teil des koreanischen Rechts. 62 Der Erfolg dieser Identifikation beruhte letztlich darauf, daß alle gesellschaftlichen Werte und Ziele so eng mit der Verwirklichung der konfuzianistischen Lehren zusammenhingen, daß sie tief in die koreanische Psychologie eindrangen. Hier war auch die Verwirklichung von Recht und
59 Choi, Western Law, 177; HahmlYang, The Attitude of Korean People towards Law, in: Legal System, 145 (159). 60 61
62
Choi, Law. 88. HahmJYang. a.a.O .• in: Legal System, 163. Choi, Law, 80.
C. Die koreanische Rechtsentwicklung
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Gesetz betroffen. In der Quintessenz ging der Konfuzianismus immer dem Recht vor. 63 In der Verquickung von Moral und Recht liegt denn auch ein wesentlicher Grund der gegenwärtigen politischen und rechtlichen koreanischen Krise begründet. In einer modemen pluralen Gesellschaft ist ein autoritärer Handlungsstil, wie er dem Konfuzianismus zugrunde liegt, nicht mehr möglich. 64 Dies gilt auch für die Wirtschaft. 5. Die koreanische Volkswirtschaft vor der japanischen Okkupation Korea war bis zum Anfang dieses Jahrhunderts eine agrarische Gesellschaft. Dies gilt insbesondere für Südkorea, das noch bis zum Ende des zweiten Weltkrieges vorwiegend agrarisch strukturiert war. Dem Eigentum und vor allem dem wirtschaftlichen Nutzen am landwirtschaftlichen Vermögen durch Belehnung kam daher in den vergangenen Jahrhunderten besondere Bedeutung zu. 05 Die Yi-Dynastie hatte sowohl den Grundbesitz des pro-mongolischen Adels als auch denjenigen der buddhistischen Klöster eingezogen und ihn an mittlere und niedere Adlige verteilt, die von da an ihre gesellschaftliche Stütze \\ urden. Bis zum Ende der 16. Jahrhunderts war der Verkauf von Grund und Boden, der formell dem Staat als Eigentum zustand, streng verboten. Von da an eigneten sich die Yangbans immer stärker die Staatsländereien an und machten die freien Bauern zu ihren Pächtern. Die Bodensteuer vereinnahmte nidu mehr der Staat, sondern in immer stärkerem Maße die Großgrundbesitzer. Dies führte zu einer Schwächung der Zentralgewalt und zu einer immer größeren Abhängigkeit der Bauern von der Adelsschicht, den Yangbans 66 Macht und Einfluß der Adligen fußten auf ihrem Landbesitz. 67 Hatte ein Yangban kein staatliches Amt inne, so zog er sich auf seinen Landsitz zurück. 63 64 65
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Choi, Law, 82. Choi, Law, 83. Zaborowski, Die koreanische Gesellschaft in der Geschichte, in: Machetzki/Pohl. 250 (251 ) Goethel, 62. Hahm, Korean Jurisprudence, 3 (70).
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I.Teil: Vergleich der rechtlichen, kulturellen und sozialen Grundlagen
Er ließ seine Güter vonviegend durch Sklaven (Chomin-Status) bewirtschaften. Die Zahl der Sklaven betrug teilweise bis zu 10% der Gesamtbevölkerung. Sie wurden zum Teil im Haushalt, zum Teil als billige Landarbeiter beschäftigt. Sklaven waren käuflich, ausleih- und vererbbar. Der Lohn für den Sklaven in der Landwirtschaft war wesentlich niedriger als der eines freien Bauern. Zwar hatten auch die in der Regierung und in den Behörden beschäftigten Handwerker nur den Status von Leibeigenen; wirtschaftlich ging es ihnen aber wesentlich besser als den Privatsklaven. Sie waren in Zünften organisiert und einer strengen staatlichen Reglementierung untenvorfen. 68 Ihre Produkte wie toffe aller Art, Erzeugnisse aus Metall, besonders Speisegeschirr, waren sehr begehrt. 1801 ließ König Sunjo die Leibeigenen der Regierung frei und verbrannte die Sklavenregister. Erst im Jahre 1894 wurden auch private Sklaven in die Freiheit entlassen. 69
Der Stand der Sangmin stellte den größten Bevölkerungsteil dar und hatte die wirtschaftliche Last der Yangban-Gesellschaft zu tragen. Er mußte sowohl Fronarbeit als auch Wehrdienst leisten und eine Ertragssteuer für landwirtschaftliche und sonstige Tätigkeiten entrichten sowie eine Tributsteuer in Sachwerten zahlen. Die freien Bauern konnten sich von der Militärpflicht durch Zahlung zusätzlicher Steuer befreien. Ihre Tributsteuern wurden seit dem 15. Jahrhundert nach Bodenqualität und Erntejahr differenziert festgesetzt. 70 Die für die einzelnen Regionen festgesetzten Beträge wurden auf die tributpflichtigen Einwohner umgelegt. 71 Nach dem Imdschin-Krieg mit den Japanern (1591-1598) und dem Einfall der Mandschus (1627-1637) waren viele Teile des Landes verwüstet, große Flächen des Landes lagen brach, und viele Städte und Dörfer waren zerstört. Man kann diese Situation mit derjenigen in Deutschland nach dem Dreißig-
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Goethel, 62. Hielscher, 134. Goethel, 46. Hielscher, 104 u. 105.
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jährigen Krieg vergleichen. Bei Mißernten starben ein viertel bis eine Million Menschen. 72 Nach diesen Kriegen eröffnete die Regierung der Unterschicht (Chomin) die Möglichkeit, durch Ableistung des Wehrdienstes die Stellung freier Bürger zu erlangen. Die Chomingruppe war nämlich im Gegensatz zu den Sangmin nicht würdig, zu den belastenden Militärdiensten herangezogen zu werden. Die Zahl detjenigen, die durch den Wehrdienst aufstiegen, betrug Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts in einem Zeitraum von 25 Jahren 200 000 bei einer Gesamtbevölkerung von rund 5 Mio. Einwohnern. 73 Um der Not, dem Hunger und den Krankheiten nach den Kriegen mit den Japanern und den Mandschu Herr zu werden, versuchte die Regierung, die Halbinsel durch Abschirmung von äußeren Einflüssen zu sichern, und ging zur Politik der verschlossenen Tür über. 74 Kontakte mit der Außenwelt wurden mit dem Tode bestraft, Schiffsbrüchige wurden getötet oder mußten im Land bleiben. Fischfang durfte nur in der Küstennähe betrieben werden. 75 Diese Isolationspolitik hat die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung in erheblichem M