Die Griechen im Denken Nietzsches 9783110921939, 9783110183481, 311018348X

Enrico Müller presents here the first overall philosophical account of the significance of the Greeks for Nietzsche’s th

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German Pages 299 [304] Year 2005

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Die Griechen im Denken Nietzsches
 9783110921939, 9783110183481, 311018348X

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Enrico Müller Die Griechen im Denken Nietzsches

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Günter Abel (Berlin) Josef Simon (Bonn) · Werner Stegmaier (Greifswald)

Band 50

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Griechen im Denken Nietzsches von

Enrico Müller

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds der Wissenschaft der VG Wort

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie T U Berlin, Sekr. TEL· 12/1 Ernst-Reuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar Λ der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Prof. Dr. Werner Stcgmaicr Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6 - 7 , D-17487 Greifswald Redaktion Johannes Neininger, Aschaffenburger Str. 20, D-10779 Berlin

© G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-018348-1 ISBN-10: 3-11-018348-X Bibliografische

Information

Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruytcr G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspcicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin

Inhalt 0.

Einleitung

0.1 0.2 0.3 0.4

Exposition des Problemfelds Anlage der Arbeit Stand der Forschung Zum genealogischen Verfahren Nietzsches

1 6 17 28

1.

Von der Philologie zur Philosophie: Nietzsches Neuerschließung des Griechentums

33

„Aesthetische Lust" und „dionysische Weisheit": Nietzsches Deutung der attischen Tragödie

35

1.1 1.2 1.3 1.4

Die Abgrenzung von der aristotelischen Tragödientheorie Der kulturtypologische Ansatz Athen und Dionysos: Die Tragödie als rituelle Praxis Chor und Publikum: Ekstasis und „dionysische Weisheit"

37 42 46 50

2.

Zwischen Kulturgeschichte und Philosophie: Die Fremdheit d e r G r i e c h e n bei J a c o b B u r c k h a r d t und N i e t z s c h e

55

1.

2.1 2.2

1

Burckhardt und Nietzsche: Einleitende Standortbestimmung Von der Historie zur Genealogie: Zum Geschichtsbegriff bei Nietzsche und Burckhardt Burckhardts Kulturgeschichte und die historiographischen Modi Nietzsches Zur Genese der Genealogie: Burckhardts Einflüsse und Grenzen Die Fremdheit der Griechen Agonalität und Individualität Macht und Ohnmacht der Kultur: Der „griechische Pessimismus" Zusammenfassung

60 66 74 77 84 93

3.

„ P o l y p h o n i e " : N i e t z s c h e s S t u d i e n zur f r ü h g r i e c h i s c h e n Philosophie

97

3.1

Diogenes Laertius' Philosophenviten: Nietzsches Zugriff auf die griechische Philosophie

2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4

55 60

103

VI

Inhaltsverzeichnis

3.1.1 Der philologische Zugriff: Nietzsches Destruktion des Autors Diogenes 3.1.2 Das Paradigma Diogenes: Philosophiegeschichte als Doxobiographie 3.2 Die Geburt der Philosophie aus der griechischen Kultur 3.3 „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe": Das philosophische Fragen im Spannungsfeld von Mythos und Wissenschaft 3.4 Nietzsches Freilegung einer problematischen Existenz: Der Philosoph als kulturelle „Grenzfigur" 3.5 Zusammenfassung und Ausblick 4.

103 107 117 123 128 135

N i e t z s c h e s p h i l o s o p h i s c h e Selbstsituierung: Z u r A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit Heraklit und P a r m e n i d e s

139

4.1 4.2 4.3

Heraklit: „nichts als Werden"? Parmenides: „eiskalte Logik"? Zusammenfassung

141 151 158

II.

Zur Genealogie des Logos: Nietzsches Kritik der klassischen griechischen Philosophie

163

Politik, Sophistik und P h i l o s o p h i e im Zeitalter der a t h e n i s c h e n D e m o k r a t i e nach N i e t z s c h e

169

5. 5.1 5.2

Die Polis Athen und die „Entfesselung des politischen Triebes" „jeder Rolle gewachsen"?: Athen zwischen Machtpolitik und Vergegenwärtigungsdruck Situativer und konzeptioneller Logos: Zum Verhältnis von Philosophie und Sophistik

175

6.

N i e t z s c h e s P r o b l e m : Sokrates

188

6.1

Zwischen Symptomatik, Diagnose und Therapie: der Philosoph als Arzt Die sokratische Dialektik als individuelle Macht und überindividuelle Wahrheit Sokrates als Lehrer und Märtyrer: Zur Genese des philosophischen Ernstes Selbsterkenntnis und Selbstüberwindung: Sokrates άτοπος· und das Problem Nietzsches

5.3

6.2 6.3 6.4

169

179

194 201 206 212

7.

N i e t z s c h e s D e n k e n als „ u m g e d r e h t e r P i a t o n i s m u s "

221

7.1

Mimetische Abhängigkeit und semiotische Distanz: Nietzsches Bestimmungen des platonisch-sokratischen Verhältnisses

225

Inhaltsverzeichnis

7.2

III.

VII

„Zarathustra ττλατονίζει.": Piaton, Nietzsche und die schriftstellerischen Formen

234

Schluss

245

Siglenverzeichnis

255

Literaturverzeichnis

257

1. Antike Quellen 2. Sekundärliteratur

257 260

Indices

283

1. Namens- und Personenregister 2. SachWortregister

283 288

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald als Dissertation angenommen. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Werner Stegmaier (Greifswald) für die gleichermaßen wohlwollende und kritische Begleitung der Arbeit. Für die philologische Betreuung derselben und die Übernahme des Korreferats danke ich Herrn Prof. Dr. Martin Hose (München). Für kritische Lektüren, konstruktive Diskussionen, hilfreiche Anregungen und die Mühen der Korrektur bedanke ich mich bei Peter Ban (Kopenhagen), Dr. Joanna Dietzel, Prof. Dr. Egon Flaig (Greifswald), Prof. Dr. Herbert Frey (MexicoStadt), PD Dr. Hartwig Frank (Greifswald), Dr. Dirk Uwe Hansen, Olaf Herpell, Nikolas Kroeger, Dr. Immanuel Musäus (Greifswald), Silvio Pfeuffer, Rüdiger Ratsch-Heitmann, Prof. Dr. Hans Christoph Rauh (Berlin), PD Dr. Urs Sommer (Greifswald) und Prof. Dr. Michael Weißenberger (Greifswald). Bei der internationalen Tagung „Ethik nach Nietzsche" in Naumburg 2002 und der Nietzschewerkstatt zum Thema „Nietzsche und die Griechen" in Schulpforta 2003 hatte ich Gelegenheit, Thesen meiner Arbeit vorzutragen. Dem Land Mecklenburg-Vorpommern danke ich für die Förderung durch ein Landesgraduiertenstipendium. Für die Aufnahme in die Reihe „Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung" sei den Herausgebern Günter Abel (Berlin), Josef Simon (Bonn) und Werner Stegmaier mein Dank ausgesprochen. Für Zuspruch und Unterstützung in der nicht immer leichten Promotionszeit danke ich Ines Mielke sowie nicht zuletzt meiner Mutter Marita Müller-Heine, Michael Heine und meinen Großeltern Margot und Walter Dietrich.

0. Einleitung 0.1 Exposition des Problemfelds Als die Athener im Sommer des Jahres 416 gegen die kleine und bis dahin neutrale Insel Melos ausfuhren, entspann sich vor den Kampfhandlungen ein eigentümliches Gespräch zwischen den athenischen Gesandten und dem melischen Rat. Thukydides hat in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges diese im Gesamtgeschehen des Kriegs eher marginale - Episode zum Anlass genommen, ein einziges Mal in seinem Werk die Dialogform zu wählen.' So asymmetrisch das dem Disput zugrunde liegende Machtverhältnis ist, so eindrucksvoll schildert der Autor das Reflexionsniveau der Athener innerhalb der nicht minder asymmetrischen Kommunikation. Die attischen Gesandten scheinen geradezu philosophisch zu agieren: Obgleich sie als Demokraten von den Meliern nicht vor die Öffentlichkeit des Demos, sondern vor ein aristokratisches Gremium geführt werden, bieten sie statt einer Kriegserklärung ein dialogisches Gespräch an: Argument für Argument soll statt fortlaufender Rede vorgebracht werden, sofortiger Einspruch bei nicht zustimmungsfähigen Positionen ist ausdrücklich erwünscht. 2 Im Folgenden sind auch die besseren Argumente des zuvor methodologisch disziplinierten Diskurses durchweg auf athenischer Seite. Wo die verzweifelten Melier Hoffnungen auf die Götter, Spekulationen über möglichen spartanischen Beistand oder eine glückliche Wendung jenseits der konkreten militärischen Kräfteverhältnisse vorbringen, drängt die athenische Gegenseite im Vertrauen auf die Kraft des Logos immer wieder zur Versachlichung dieser pragmatisch unhaltbaren Positionen: Wer in größter Gefahr - so die Rede der Gesandten - alles auf Hoffnung setzt, deren Wesen Verschwendung sei, wird erst im Sturz ihres Trugs bewusst und trauert vergebenen Alternativen nach. Dem Pathos der Freiheit und des Ehrverlustes begegnen sie mit ruhigem Insistieren auf besonnene Überlegung (ευβουλία). Nicht Schande oder Ehre, Ruhm oder Feigheit stünden zur Beratung, sondern die Existenz der Insel selbst, eine Existenz, die sich bei Annahme der Kapitulation zu ausdrücklich maßvollen Bedingungen von nun an unter der Herrschaft und dem Schutz der athenischen Großmacht vollziehen würde.

1

2

Thucydides: Historiae. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Henricus Stuart Jones. Apparatum criticum correxit et auxit Johannes Enoch Powell. Oxoni 1900/01 (1987/88). V, 84-116. Eine Ubersetzung findet sich in: Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Hg. und übertragen von Peter Landmann. Zürich 1960. Thucydides, a . a . O . , V, 85.

2

Einleitung

Nach einer letzten Beratung lehnt der melische Rat unter Hinweis auf die Jahrhunderte lange Selbständigkeit das athenische Angebot ab und wiederholt die zuvor als argumentativ unangemessen ausgewiesenen Positionen. Die Athener, die noch vor dem Rückzug des Rats letztmals die Irrationalität dieser Denkungsart (άλογία tt|s öia^oias) 3 angemahnt hatten, verlassen den Verhandlungsplatz mit den Worten: „und so tief ihr auf Spartaner, Schicksal und Hoffnungen gläubig vertraut, so tief wird auch euer Sturz." 4 Auch dieses Diktum wird sich bewahrheiten. Lakonisch berichtet Thukydides am Ende der Meliergeschichte von der Einnahme des Orts und der erzwungenen Kapitulation ihrer Bürger. Alle Männer werden getötet, Frauen und Kinder versklavt, der Ort zuletzt von fünfhundert attischen Bürgern neu besiedelt. Im Werk Nietzsches taucht die „entsetzliche Unterredung der Athener mit den Meliern bei Thucydides" in zwei nachgelassenen Fragmenten und einem Aphorismus in Menschliches Allzumenschliches auf. 5 Der griechische Historiker selbst, der durch seine „schreckliche Unbefangenheit" in seiner Zeit „wie ein Wunder dasteht", 6 findet sich im Gesamtwerk des Philosophen bis in die letzten Schriften hinein zahlreich und stets ohne jegliche Abstriche gewürdigt. 7 Er wird überdies gerade im Spätwerk ausdrücklich den philosophischen Ansätzen Piatons entgegengestellt und diesen demonstrativ vorgezogen. 8 In der Tat war Thukydides mehr als „nur" ein Historiker. Als erster Theoretiker des Historischen hat er sich durch starke begriffliche Arbeit und eine ungemein verdichtete Syntax eine eigene Sprache geschaffen, die derjenigen Piatons und des Aristoteles nicht nachsteht. 9 Nietzsche, der hier zunächst als Professor für Klassische Philologie spricht, hält es für „erstaunlich, wie weit ein einzelnes Individuum in jener Zeit mit seiner ganzen Art u. Darstellungsweise bei Seite treten

' 4

5

6

7

8

'

Thucydides, a. a. Ο., V, 111. Thucydides, a. a. Ο., V, 113. Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Griechischen stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, vom Verfasser. Vgl. dazu Nachlass Sommer 1875, KSA 8, 6[32], S. 110 f., Nachlass Frühjahr 1888, KSA 13, 14[147], S. 331 sowie ΜΑ I 92, KSA 2, S. 89. So führt ihn Nietzsches Basler Vorlesung zur Geschichte der griechischen Literatur (GGL), WS 1874-1875; SS 1875, KGW III 5, S. 235 ein. Unter anderem bescheinigt etwa ΜΑ II 144, KSA 2, S. 613, dem antiken Autor den „ S t i l der U n s t e r b l i c h k e i t " . M l 68, KSA 3, S. 150 f., wiederum honoriert dessen „umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse" und noch in GD, Was ich den Alten verdanke 2, KSA 6, S. 155 f., kennt Nietzsche nur „wenige so hintergedankenreiche Denker". - Eine instruktive Gesamtdarstellung des Historikers, seines Werks und der umfangreichen Thukydides-Forschung bietet Luschnat, Otto: Thukydides. In: Pauly's Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Suppl.-Bd. 12. Stuttgart 1970. Sp. 1085-1354. Zunächst bereits in Μ 168, KSA 3, S. 150 f. unter dem Stichwort der „praktischen Gerechtigkeit", dann jedoch vorzugsweise in GD, Was ich den Alten verdanke 2, KSA 6, S. 155 f., im Hinblick auf die Fähigkeit zu einem wertungsfreien „Realismus". Vgl. dazu Allison, June W.: Word and Concept in Thucydides. Atlanta 1997 (American Classical Studies 41).

Einleitung

η

konnte." 10 Diese Darstellungsweise ist in ihrer programmatisch antirhetorischen Ausrichtung und ihrer Fähigkeit zur abstrahierenden Typisierung einerseits ohne Parallele, gehört dabei aber dennoch jener Kultur des Logos an, der auch die politische Praxis, die Philosophie, die Sophistik, die Rhetorik und die sich etablierenden empirischen Wissenschaften des demokratischen Zeitalters Athens zuzuordnen sind. Gleichzeitig - und eben darin scheint der Autor für Nietzsche unvergleichlich zu sein - war Thukydides fähig, auch noch die durch ihn mitrepräsentierte Kultur der Vernunft auf ihre Grenzen und Konsequenzen hin auszulegen. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges zeigt in ihrer theoretisch elaborierten und das moralische Urteil konsequent suspendierenden Gesamtanlage den Gebrauch und die Instrumentalisierung der Vernunft im Feld der Politik auf. Dass die Fähigkeit des Begriffs, in versachlichter Form Phänomene des Lebens zu kategorisieren und zu subordinieren, sich insbesondere in Athen auch als Machtanspruch, als Wille zur Beherrschung und zur Unterwerfung zu erkennen gab, hat Nietzsche mit besonderer Schärfe gesehen und immer wieder herausgearbeitet. Er hat die Geburt des Logos aus dem Geist der Politik häufig thematisiert und den Logos dabei als eine bestimmte Form von Rationalität innerhalb eines bestimmten kulturellen Kontextes in den Blick genommen. Schon in einem frühen Nachlassfragment findet sich die Notiz: „Wissenschaft aus der Redekunst, Redekunst aus dem politischen Trieb."" Im Frühwerk des Philosophen gilt, was nur selten bemerkt wird, für die Griechen zunächst stets eine prinzipielle Bestimmung: Diese seien „schon a priori als die „politischen Menschen an sich" zu construiren" (GS, KS A 1, S. 771). So reflektiert, erscheinen die Bereiche der Kunst, der Wissenschaft und der Philosophie nicht mehr als autonome, überzeitliche Sinnstiftungen, sondern als semantische Korrelate einer vom Primat des Politischen geprägten Lebenswelt. Die folgenreiche aristotelische Bestimmung des Menschen als eines ζωον πολιτικόν, das zugleich ein £ώον λόγοι; €χον sei,12 hat auch Nietzsche akzeptiert - als Bestimmung des griechischen Menschen. Öffentliche Rede war in Griechenland maßgeblich politischer Diskurs. Doch erst die ungeheure Dynamik und Intensität des politischen Lebens Athens im fünften Jahrhundert nötigte in den etablierten Institutionen zur größtmöglichen Versachlichung, zur zugespitzten Artikulation. Das agonale Ethos, das die Griechen im einzelnen trennte und im allgemeinen verband - für Nietzsche bildete es ein zweites Charakteristikum der hellenischen Lebenswelt - , prägte gerade auch die politische Kultur: Die in die Volksversammlung eingebrachten Anträge konkurrierten miteinander und waren der Sache nach auf

" 12

G G L , a. a. O . , S. 2 4 3 f. N a c h l a s s 1 8 7 0 - 7 1 , K S A 7, 7 [ 4 2 ] , S. 148. A r i s t o t e l e s : Politik 1, 1 2 5 3 a .

4

Einleitung

ein „Ja" oder „Nein", ein „Entweder" beziehungsweise „Oder" hin angelegt. So ist es die Logik der politischen Praxis selbst, aus der heraus sich die Rede zum Logos im Sinne der sokratischen Forderung nach λόγον δι,δόναι. entfaltet und in der sie bereits im Augenblick ihrer Entfaltung als Macht auftritt. 13 Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die Etablierung des philosophischen Feldes in jenen Verhältnissen der attischen Demokratie zu situieren, die ihrerseits als Transformation vom nomistischen, auf gleiche Teilhabe am geltenden Nomos orientierten, zum kratistischen, auf die Herrschaft des Demos angelegten, Selbstverständnis beschrieben worden sind. 14 Nietzsche hat dies getan und den auf Versachlichung, Definition, begriffliche Hierarchisierung und die Etablierung binärer Oppositionen abzielenden Gestus der Logos-Philosophie auch aus der „furchtbaren Entfesselung des politischen Triebes" heraus verstanden: „ A b e r erst mit der politischen F o r m der D e m o c r a t i c beginnt die g a n z e e x c e s s i v e S c h ä t z u n g d e r R e d e , s i e ist j e t z t d a s g r ö ß t e M a c h t m i t t e l i n t e r p a r e s g e w o r d e n . " 1 5

In betonter Abgrenzung von der vorsokratischen Ausprägung des Denkens, das er unter dem Stichwort der „Polyphonie" als Vielheit von begrifflich weitgehend unvermittelten Stimmen interpretieren wird, macht er hinsichtlich des in Athen sich formierenden, ungemein folgenreichen Denkens schon früh geltend: „Die Philosophie wird reformatorisch und Imperativisch und aggressiv." 1 6 Nietzsches lebenslange und produktive Auseinandersetzung mit der „klassischen" griechischen Philosophie wird innerhalb dieser Zusammenhänge ausgetragen. Thukydides scheint in dieser Hinsicht die Funktion eines antiken Kronzeugen innezuhaben. Dessen Befähigung findet sich in der Götzen-Dämmerung beschrieben als Wille, „die Vernunft in der R e a l i t ä t zu sehen, - n i c h t in der „Vernunft", noch weniger in der „Moral" . . . " (GD, Was ich den Alten verdanke 2, KSA 6, S. 156). Mit seiner Perspektivierung eines herrschenden Rationalitätskalküls hat auch der antike Autor schon deren Grenzen im Blick - ohne dieselben explizit zu machen: Unmittelbar nach dem Melierdialog beginnt der Historiograph mit der Geschichte der sizilischen Expedition, einer jeglichen politischen und

13

14

15 16

Als Zivilisation, die auf der politischen Rede beruht, entfaltet insbesondere Vidai-Naquet, Pierre: Der schwarze Reiter. D e n k f o r m e n und Gesellschaftsformen in der griechischen Antike. Aus d. Frz. übers, von Andreas Wittenburg. Frankfurt a. M., N e w York 1989 (Or.: Paris 1981). S. 17-29, die hellenische Zivilisation: „Die griechische Kultur steht im Zeichen des Wortes, der politischen Rede. Die griechische Ratio, die gegensätzliche Begriffspaare definiert und in ein Schema einordnet, ist eine politische Ratio" (S. 29). Vgl. dazu Meier, Christian: Entstehung des Begriffs >Demokratie

147

Die Dynamik der choreutischen Bühnenpräsenz lässt sich aus verschiedenen selbstreferentiellen Passagen in den Chorliedern der erhaltenen Dramen rekonstruieren. Einige Beispiele nebst Interpretation gibt Henrichs, Albert: „Warum soll ich denn tanzen?", a. a. O., S. 44 ff. Den Gebrauch und die Funktion synaisthetischer Metaphern beim frühen Nietzsche vor dem Hintergrund der sprachkritischen Reflexionen in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne untersuchte zuletzt Behler, Diana: Synästhesie in Nietzsches Geburt der Tragödie. In: .CentaurenGeburten', a. a. 0 . , S. 131-143.

„Aesthetische Lust" und „dionysische Weisheit": Nietzsches Deutung der Tragödie

53

rausgehend.' 4 8 Es ist überdies weniger unbegrenzt oder grenzenlos - auch der scheinbar nahe liegende Vergleich mit dem Apeiron Anaximanders geht insofern wohl fehl - , 1 4 9 als vielmehr entgrenzend. Vorzugsweise im entgrenzenden Moment des „Dionysischen" werden Struktur und Funktion der Ekstasis deutlich. Nicht die Regression ins Chaos, sondern das Sichtbarwerden der Grenze als Grenze und die damit verbundene Erfahrung der Fragilität und Bedrohbarkeit der Form sind eigentlicher Sinn des diesbezüglichen ästhetischen Verhaltens. So gesehen bestünde die dem „Dionysischen" implizite Weisheit im Verzicht auf die alltäglich praktizierte Schematisierung der Erfahrung nach den jeweils bestehenden Kategorien der apollinischen Formen und Bilderwelt zugunsten ihrer affektiven Überschreitung. Die „dionysische Weisheit" verflüssigt die Form stets nur auf Zeit. Sie verflüssigt diese, ohne sie zu zerstören. Das viel besprochene Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem wird von Nietzsche nicht einseitig dualistisch, sondern als permanente „Duplicität" (GT 1, S. 25) gedacht. Auch auf der attischen Bühne erfährt das multimediale, entfesselnde Spektakel des entfesselten Chors seine Kultivierung durch das eigentliche Drama. Wie auch immer die Protagonisten in das für sie unüberschaubare Konfliktpotential der jeweiligen mythologischen Konstellation eingelassen sind - sie konzeptualisieren es im Rahmen ihrer Möglichkeiten und handeln dementsprechend. Während sich der Mensch im Akt des Handelns, im δράν, erst als Kulturwesen behauptet und bejaht, sind die Merkmale und Folgen dieses Handelns demgegenüber von sekundärer Bedeutung und verweisen lediglich auf das der Inszenierung zugrunde liegende kulturelle Selbstverständnis. Nietzsches erstaunliche Gleichgültigkeit gegenüber den inhaltlichen Aspekten der Tragödie erscheint angesichts einer derartigen Akzentuierung wenn nicht gerechtfertigt, so doch zumindest erklärlich. Symbolisieren Gestik und Mimik, Musik, Tanz und Gebärde des Chors einen Einbruch der Physis, in dem „die Illusion der Cultur von dem Urbilde des Menschen weggewischt" wird und der „Culturmensch zur lügenhaften Caricatur" (GT 8, S. 58) zusammenschrumpft, so leisten deren mediale Korrelate gewissermaßen die Wiedergewinnung der Kultur. Die Musik - ihre Bedeutung für Nietzsche konnte hier nicht eigens ausgeführt werden, ist jedoch nur schwer zu überschätzen 1 5 0 - weicht der stabilisierenden

148

149 130

K a u f m a n n , Walter: Nietzsche. Philosoph - Psychologe - Antichrist. Übers, von J. Salaquarda. Darmstadt 1982, hat im Bemühen, die ausgesprochen sterile Dialektik von GT als bezeichnenden Beleg für die dialektische Natur des nietzscheschen Denkens zu interpretieren, folgerichtig auch das „Dionysische" als „negatives und doch notwendig dialektisches M o m e n t " (S. 151) ausschließlich destruktiv gedeutet. Anders Fink, Eugen: Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 17. Vgl. dazu die Ausführungen von Brüse, Klaus-Detlef: Die griechische Tragödie als „Gesamtkunstwerk" - Anmerkungen zu den musikästhetischen Reflexionen des frühen Nietzsche. In: NietzscheStudien 13 (1984). S. 156-176, und Fietz, Rudolf: A m A n f a n g ist Musik. Zur Musik und Sprachsemiotik des frühen Nietzsche. In: ,Centauren-Geburten', a. a. O., S. 144-166, der das „in den Früh-

54

I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

Rhythmik, der Tanz transformiert sich zur Handlung und das Melos schließlich wird vom Sprechvers gleichsam aufgefangen. Die mythischen Konfigurationen mitsamt ihrer dramatischen Inszenierung und deren sprachlicher Vergegenwärtigung - der Bereich der aristotelischen Poetologie - sind als die konzeptionellen, apollinischen Elemente vornehmlich Instanzen jener Wiedergewinnung. In der angezeigten Doppelbewegung von „dionysischer Weisheit" und apollinischer „Objectivation eines dionysischen Zustandes" (GT 8, S. 62) kristallisiert sich für Nietzsche das tragische Phänomen sui generis. Was sich auf der attischen Bühne durch die Interaktion zwischen Chor und Schauspielern als ein stetiges Ringen um Selbstbehauptung zu erkennen gibt und von einem teilnehmenden Publikum affektiv realisiert wird, verkörpert zuletzt auf exemplarische Weise eben jene spezifische Erfahrungsform der „tragischen" Griechen, die sich als „existentialästhetisch" beschreiben lässt: ihr Vermögen, sich dem Fremden so auszusetzen, dass ihr eigenes Selbstverständnis nicht nur als konstituierende, sondern ebenso als konstituierte Instanz im Blick bleibt und insofern die Konstitution des Eigenen niemals als einmaliger Akt der Abgrenzung, sondern als permanente Praxis von Begrenzung und Entgrenzung anzusehen ist. Mit diesem neu akzentuierten Begriff des „Tragischen" hat Nietzsche über die Kennzeichnung des griechischen Seinsverständnisses hinaus einen Reflexionsbegriff geschaffen, an dem sich für den gesamten Zeitraum seiner geistigen Existenz auch das eigene Denken orientieren sollte. Ein Denken, das sich als „Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos" (EH, G T 3, KSA 6, S. 312) begreift und wiederum eine Philosophie, die sich „das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein" (EH, Vorwort 3, S. 258) auferlegt, haben Nietzsche noch in Ecce homo veranlasst, sich gerade im Anschluss an die Thematik der Geburt der Tragödie „als den ersten tragischen Philosophen zu verstehen" (EH, GT 3, S. 312).

s c h r i t t e n e n t w i c k e l t e P a r a d i g m a einer m u s i k a l i s c h e n S e m i o t i k " als „ v e r b i n d l i c h f ü r Inhalt u n d F o r m " v o n N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e r e n im G a n z e n interpretiert (S. 144).

2. Zwischen Kulturgeschichte und Philosophie: Die Fremdheit der Griechen bei Jacob Burckhardt und Nietzsche 2.1 Burckhardt und Nietzsche: Einleitende Standortbestimmung Sichtet man Briefe und Werk Nietzsches im Hinblick auf die von ihm ausgesprochenen Wertschätzungen gegenüber Zeitgenossen, insbesondere aber im Hinblick auf die Konstanz dieser Wertschätzungen, so ergibt sich ein erstaunlicher Befund: Niemanden wird der Philosoph bis ans Ende seiner geistigen Existenz einer derart ungebrochenen und über die Jahre hinweg anhaltenden Achtung und Sympathie für wert befinden wie den Basler Kulturgeschichtler Jacob Burckhardt. Stellt man in Rechnung, wie stark Nietzsche Zeit seines Lebens Tendenzen des Denkens personalisiert und Personen wiederum als „Vergrösserungsgläser" für Gedanken betrachtet hat, so gewinnt der angeführte Befund nochmals an Bedeutung. Vergegenwärtigt man sich überdies die ganze Gewaltsamkeit, mit der sich der späte Nietzsche zum „Verhängnis" und „Schicksal" stilisiert und auf die unbedingte „Originalität" seiner Erfahrung abhebt, zieht man den zeitgleichen Briefwechsel hinzu, in dem eine Reihe von Freundschaften und langjährigen Beziehungen recht drastisch aufgekündigt werden (Rohde, Malwida von Meysenbug), 1 5 1 so mutet nichts erstaunlicher an als die Pose des verehrenden Schülers und der Gestus kindlicher Liebe, die er gegenüber dem zurückgezogen lebenden, allzeit distanzierten Basler Kulturhistoriker einzunehmen scheint. Wann immer letzterer auf die mit Begleitschreiben versehenen Übersendungen der neu erschienenen Schriften Nietzsches mit einer zwischen entschuldigender Selbstverkleinerung, ironischer Bewunderung sowie gelegentlicher distanzierter Zustimmung changierenden Reserviertheit, j a Teilnahmslosigkeit, antwortet, scheint Nietzsche - wenngleich im Abstand von Monaten oder gar Jahren - den nächsten Brief noch persönlicher, noch erwartungsvoller abzufassen. 1 5 2

151

132

Vgl. dazu die biographisch-psychologische Analyse von Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens., a. a. O., S. 93 ff. und 98 ff. Dass dieser Eindruck zwar nicht falsch, wohl aber vordergründig ist und vor allem nicht auf eine intellektuelle N ä h e oder Abhängigkeit hin interpretiert werden darf, soll sich im Verlauf des Kapitels erweisen. Ausgehend v o m Briefwechsel ist das Verhältnis zwischen Burckhardt und Nietzsche T h e m a zahlreicher Untersuchungen gewesen, die den Verlockungen einer personalisierenden Problematisierung nicht zu widerstehen vermochten. So war etwa der M y t h o s von der „ M ä n n e r f r e u n d schaft" Burckhardt - Nietzsche nur kurzlebig, aber folgenreich. In grotesker Manier von Elisabeth Förster-Nietzsche (In: Förster-Nietzsche, Elisabeth; Wachsmuth, Curt; Gast, Peter (Hg): Friedrich

56

I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

Hier freilich soll keineswegs das persönliche Moment in der „Beziehung" der Denker aufgearbeitet werden. Vielmehr gilt es jene möglichen Strukturparallelen innerhalb der Entwürfe beider in den Blick zu bekommen, aus der sich Nietzsches Hochschätzung überhaupt erst erklären lässt. Ein kurzer Einblick auf die Umstände des Zusammentreffens der Hauptdarsteller ist dafür unerlässlich. Als Nietzsche 1869 vierundzwanzigjährig seine Basler Professur antritt, beginnt der sechsundzwanzig Jahre ältere Burckhardt mit seinen Ausarbeitungen zur Griechischen Kulturgeschichte,153 Bereits im Mai desselben Jahres setzt der junge Professor seine Schwester davon in Kenntnis, dass „Jakob Burckhardt, bekannter Aesthetiker und Kulturhistoriker", sein „näherer Umgang" sei. 154 Aussagekräftiger ist eine am gleichen Tag abgefasste Nachricht an den Freund Erwin Rohde, in welcher Nietzsche seine aufrichtige Freude über den Umgang mit dem „geistvollen Sonderling" Burckhardt bekennt und darüber hinaus im Hinblick auf erste

Förster-Nietzsche (In: Förster-Nietzsche, Elisabeth; Wachsmuth, Curt; Gast, Peter (Hg): Friedrich Nietzsches gesammelte Briefe. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, Leipzig 1905. S. 165-170.) eingeführt und insbesondere durch Salin, Edgar: Jacob Burckhardt und Nietzsche. Basel 1937, kultiviert, wurde er bereits von Zeitgenossen in seinem leeren Pathos durchsichtig gemacht und angesichts zahlreicher unmissverständlicher Zeugnisse auch sachlich relativiert. Vor allem infolge der Arbeiten von Martin, Alfred von: Nietzsche und Burckhardt. Zwei geistige Welten im Dialog. München 1940, und Löwith, Karl: Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte (1936). Stuttgart 1966 (Sämtliche Schriften, Bd. 7), hat sich indessen eine Sichtweise auf diese Beziehung durchgesetzt, die als entmythologisierende Reaktion ihre Berechtigung haben mag, in ihrer Grundtendenz jedoch von einer ebenfalls unverkennbaren Einseitigkeit geprägt ist. Die unübersehbare - im Briefwechsel eindrucksvoll dokumentierte - emotionale Asymmetrie des Verhältnisses haben beide Autoren vorwiegend aus weltanschaulichen Grunddifferenzen motiviert und im Anschluss daran mittels einer wechselseitigen Profilierung intellektuelle Charakteristiken entworfen, die vielleicht Burckhardt, sicherlich aber nicht Nietzsche gerecht werden (wollen?). Burckhardt erscheint dabei vorzugsweise als Souverän, der sich den Werbungen des jungen Nietzsche feinsinnig aber resolut zu entziehen vermag, während Nietzsche in seinen stürmischen Bemühungen Burckhardts Ironie immer nur fälschlich auszulegen scheint oder aber dieselbe ganz verkennt. Unbemerkt bleibt dabei freilich, dass Nietzsche neben den Sympathiebekundungen Burckhardt geradezu systematisch zu Wertungen und Stellungnahmen provozieren will, mit denen dieser sein kulturgeschichtliches Asylum verlassen müsste. Wie stark Burckhardts Ironie dabei nur zu oft re-ironisiert wird, belegt insbesondere der vermeintliche Wahnsinnszettel aus Turin (Nietzsche an Jacob Burckhardt, 6. Januar 1889, K S B 8, S. 577 ff.). Wenn Nietzsche in diesem, mit „Lieber Herr Professor" überschriebenen, Brief Burckhardt mitteilt, auch er wäre zuletzt „sehr viel lieber Basler Professor als Gott", habe es j e d o c h nicht „gewagt", seinen „Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die S c h a f f u n g der Welt zu unterlassen", so wird hier die gesamte Beziehung einer abschließenden Rekapitulation unterzogen und auf eine grundsätzliche Differenz hin zugespitzt: Die Differenz zwischen einem Begriff von Geschichte, von dem ausgehend auch das philosophische Denken radikal historisiert wird und auf den es im M e d i u m der Genealogie nicht minder radikal reagiert, und einem Verständnis, nach dem die Historie letztlich als bloße Instanz zur Bestätigung, Legitimierung und Aktualisierung der privaten, halb pessimistischen, halb ästhetisierenden Weltanschauung in den Dienst genommen wird. 1,3

154

Die Genese von G K findet sich rekonstruiert bei: Bauer, Stefan: Polisbild und Demokratieverständnis in Jacob Burckhardts „Griechischer Kulturgeschichte". Basel, München 2001. S. 60-72. Zitiert wird Burckhardt im Folgenden nach: Jacob Burckhardt: Gesamtausgabe. Basel 1929-34. Darin: Griechische Kulturgeschichte (GK). 4 Bde. (Bd 8-11). Hg. von Felix Stähelin und Samuel Merian. 1930-31. Nietzsche an Elisabeth Nietzsche, 29. Mai 1869, KSB 3, Nr. 5, S. 11.

Burckhardt und Nietzsche zwischen Kulturgeschichte und Philosophie

57

Gespräche mit diesem bereits „eine wunderbare Congruenz unsrer aesthetischen Paradoxien" konstatiert. 155 Zweierlei lässt sich im Hinblick auf die merkwürdig schnell unterstellte „Congruenz" sogleich vermuten: Zum einen verweist sie auf das einander bestätigte Einverständnis über den gemeinsamen philosophischen Bezugspunkt Schopenhauer. Dessen aus der Willensmetaphysik gewonnener Pessimismus war für Burckhardt bis zuletzt denk- und lebensleitende „Weltanschauung", für Nietzsche zumindest in den ersten Basler Jahren noch „verbindlich". Vor allem aber die ästhetische Präferenz im Denken Schopenhauers, die sich im exzeptionellen Status der Kunst innerhalb seines philosophischen Systems niederschlug, wurde von beiden geteilt und bejaht. Rezipiert wurde sie indessen unterschiedlich. Galt Schopenhauer die Kunst vorzugsweise als zeitweilige Erlöserin von den Leiden der rastlosen Willenswelt, so versteht Nietzsche sie demgegenüber in der „aesthetischen Wissenschaft" der Geburt der Tragödie als produktive Anverwandlung beziehungsweise Verwandlung der Leiden der Individuation. Für Schopenhauer beruhigt Kunst als Selbsterkenntnis und Selbstspiegelung des Willens gerade durch Tilgung der Welt, für Nietzsche indessen ist die Welt wesenhaft das - mitunter dissonante - Produkt ästhetischer Erfahrungen und Operationen. Auch die Analogien zwischen Burckhardts kulturgeschichtlicher Neubestimmung des historischen Feldes und Schopenhauers Denken sind nicht zu übersehen. Schon der anthropologische Pessimismus, von dem ausgehend die Geschichte einer morphologisierenden und pathologisierenden Sichtung unterzogen wird, kann seine ideologischen Anleihen bei Schopenhauer nur schwerlich verleugnen. 156 Überdies ähneln die für die Geschichtsauffassung Burckhardts wesentlichen drei Potenzen Staat, Religion und Kultur innerhalb des als ungerichtet vorgestellten geschichtlichen Prozesses strukturell den Objektivationen des Willens innerhalb einer als Ganzes sinnlosen, wenngleich ungemein dynamischen Willenswelt. Schopenhauers emphatisches Kunstverständnis wiederum transformiert sich beim Basler Historiker zu einem nicht minder emphatischen, innovativen und dennoch problematischen Kulturbegriff. Für die Kultur wird in den Vorlesungen über das Studium der Geschichte - die Jahrzehnte später bekanntlich unter dem Verlegenheitstitel „Weltgeschichtliche Betrachtung" ediert werden - beansprucht, sie sei angesichts der beiden „stabilen" Potenzen Staat und Religion „etwas wesentlich anderes." 157 Autonom gegenüber dem als institutionalisierte Gewalt ge-

155

Nietzsche an Erwin Rohde, 29. Mai 1869, KS Β 3, Nr. 6, S. 13. Zutreffend, wenngleich von einem stark ideologiekritischen Impetus getragen White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. (Or.: Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-Century Europe. Baltimore, London 1973) Aus dem Amerik. übers, von Peter Kohlhaas. Frankfurt 1994. S. 311-320. ' " Z i t i e r t wird nach: Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen (WB). Historische Fragmente aus dem Nachlaß. Bd. 7. Hg. Von Albert Oeri und Emil Dürr. Basel 1929 In: Gesamtausgabe. Basel 1929-34. Die einzelnen Abschnitte aus W B werden wie folgt abgekürzt: Einleitung: I (E),

156

58

I. Teil: V o n der P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

fassten Staat, autonom auch gegenüber dem verbindlichen Universalismus der Religion(en) stehe sie für „die Welt des Beweglichen, Freien nicht notwendig Universalen, desjenigen, was keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt." Nicht zuletzt sei Kultur der „Inbegriff alles dessen", was als „Ausdruck des geistigsittlichen Lebens s p o n t a n zustande gekommen ist." 158 Burckhardts Autonomisierung und Ästhetisierung des Kulturellen verdankt sich nicht allein einem altliberalen Affekt gegenüber der staatlichen Gewalt und dem romantischen Gedanken individuellen und freien Schöpfertums, sie steht in direktem Zusammenhang mit Fundierung und Funktion der ästhetischen Präferenz im Denken Schopenhauers. Sowohl die Separierung der drei Potenzen als auch die Privilegierung des kulturellen Bereichs sind wissenschaftlich kaum zu rechtfertigen, zugleich aber sind sie die Basis für die Ermöglichung des kulturgeschichtlichen Ansatzes - über die Postulate der Freiheit, der Spontaneität und der Individualität legitimiert die kulturgeschichtliche Betrachtung gewissermaßen ihre eigene semiwissenschaftliche Praxis. Geschichte im Verständnis Burckhardts ist „die unwissenschaftlichste aller Wissenschaften". Verstanden als eine „Kontemplation" nennt er sie abwechselnd „Recht", „Pflicht", „Bedürfnis" und zuletzt „unsere Freiheit mitten im Bewusstsein der enormen allgemeinen Gebundenheit und des Stromes der Notwendigkeiten" 1 5 9 - und stellt sie damit in höhere Dienste. Wie die Kunst in der Philosophie Schopenhauers als temporäre Erlösung vom Willen das Leben beruhigt, so hat auch die kunstvolle kulturgeschichtliche Sinnbildung des „geistvollen Sonderlings" aus Basel vornehmlich die Funktion, vom bedrohlichen Strom ziellosen Werdens und Vergehens zu erlösen - und damit nicht zuletzt auch die eigene Existenz zu beruhigen. Es könnte bezeichnend sein, dass Burckhardts geschichtstheoretische Selbstreflexionen ungefähr zeitgleich mit den ersten Vorarbeiten zu einer griechischen Kulturgeschichte - und damit vergleichsweise spät - einsetzen. Jahrzehnte nach den anerkannten Meisterwerken Die Zeit Konstantins des Großen (1851), Der Cicerone (1855) sowie Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) scheint erst die anstehende Auseinandersetzung mit den Griechen, das kaum zu überschauende Projekt einer griechischen Kulturgeschichte, die Klärung des eigenen Geschichtsverständnisses zu erzwingen. 1 6 0

158 159

V o n d e n drei P o t e n z e n : II ( V P ) , D i e B e t r a c h t u n g der s e c h s B e d i n g t h e i t e n : III ( B B ) , D i e g e s c h i c h t l i c h e n K r i s e n : IV ( G K ) , D a s I n d i v i d u u m u n d d a s A l l g e m e i n e ( D i e h i s t o r i s c h e G r ö ß e ) : V (IA), Ü b e r G l ü c k u n d U n g l ü c k in d e r W e l t g e s c h i c h t e : VI ( G U W ) . W B II ( V P ) , S. 2 0 . W B I (E), S. 7. V g l . d a z u C h r i s t , Karl, J a c o b B u r c k h a r d t s W e g z u r „ G r i e c h i s c h e n K u l t u r g e s c h i c h t e " . In: H i s t o r i a 4 9 ( 2 0 0 0 ) . S. 1 0 1 - 1 2 5 .

B u r c k h a r d t und N i e t z s c h e z w i s c h e n K u l t u r g e s c h i c h t e u n d P h i l o s o p h i e

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Auch hier sind die Parallelen zu Nietzsche unübersehbar. Dessen Antrittsvorlesung über Homer und die klassische Philologie kulminierte in einem Philologiekonzept, das anstelle einzelwissenschaftlicher Profilierung eine philosophische Fundierung der Philologie forderte.Der Umgang Nietzsches mit Burckhardt erhält seine besondere Bedeutung vor dem dargestellten Hintergrund einer beinahe simultan einsetzenden Hinwendung zur methodologischen Grundlagenreflexion auf die eigenen Arbeiten. Burckhardts geschichtstheoretische Selbstvergewisserung und Nietzsches zukunftsphilologisches Projekt verdanken sich beide einem ästhetisch formulierten Kulturbegriff und sind in Konsequenz dessen polemisch gegen die innerdisziplinären Restriktionen einer als Fachwissenschaft auftretenden Geschichte beziehungsweise Philologie gerichtet. Nur aus dieser Gleichzeitigkeit des Bemühens um methodische Selbstvergewisserung ist die Intensität der Auseinandersetzung Nietzsches mit Burckhardt zu verstehen. Als Ertrag dieser Auseinandersetzung hat zum einen die zweite Unzeitgemäße Betrachtung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben zu gelten. Als philosophische Metareflexion auf das Phänomen Geschichtlichkeit und Typisierung historiographischer Modi soll sie in Kapitel 2.2.1. auf das in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen artikulierte kulturgeschichtliche Selbstverständnis Burckhardts bezogen werden. Dabei werden insbesondere die grundlegenden Differenzen beider Geschichtsauffassungen entfaltet. Das daran anschließende Kapitel 2.2.2. widmet sich den konkreten Interpretationspraktiken Burckhardts, deren Innovationspotential Nietzsche erkannt und sich in großen Teilen zu eigen gemacht hat. Hierbei soll ersichtlich werden, wie die von Nietzsche kultivierte philosophische Praxis der Genealogie zum Teil durch Ansätze Burckhardts inspiriert wurde. Zugleich muss jedoch gerdae in diesem Zusammenhang geltend gemacht werden, dass die Radikalität der Genealogie, ihr philosophisches Potential, erst da ersichtlich wird, wo Standpunkte Burckhardts entgrenzt, aufgegeben oder gar ins Gegenteil verkehrt worden sind. Auf der Basis dieser Analysen führt der zweite Teil des Kapitels zum „eigentlichen" Thema zurück. Ähnlich wie die Welthistorischen Betrachtungen ist auch die Griechische Kulturgeschichte Jacob Burckhardts erst posthum aus dessen Vorlesungsmanuskripten herausgegeben worden. Nietzsche, so darf bereits hier konstatiert werden, steht im Hinblick auf seine historisch ausgerichteten Interpretationsversuche des Griechentums bis zuletzt gänzlich unter dem Eindruck seines Basler Kollegen. Noch in der Götzendämmerung figuriert letzterer hinsichtlich der Griechen als der „tiefste Kenner ihrer Cultur, der heute lebt" (GD, Was ich den Alten verdanke 4, KSA 6, S. 158) - an keiner anderen Stelle seines von strategischen Selbststilisierungen geprägten Spätwerks wird sich der Philosoph so ausdrücklich subordinieren. Bei seinen Vorarbeiten fur die nicht ausgeführte Studie Wir Philologen hatte Nietzsche bereits zehn Jahre zuvor angesichts bisheriger Darstellungen griechischer Geschichte wiederum notiert: „wir besitzen noch keine" - wer für diese Aufgabe prädestiniert war, stand für ihn außer Frage: „Ich sehe

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

nur einen - Burckhardt". 1 6 ' Nietzsches akademische Tätigkeit in Basel lässt sich, ergänzt vom Nachlass der Zeit, als parallel zu Burckhardt verlaufender Versuch einer griechischen Kulturgeschichte interpretieren. Hier wie da stehen vor allem Agonalität, Pessimismus und die ungeheure politische Dynamik als Hauptcharakterisierungen für die Beschreibung der hellenischen Lebenswelt im Mittelpunkt. Beide Ansätze sind darüber hinaus aufgrund ihrer Distanz zum klassizistisch oder humanistisch motiviertem Philhellenismus von einer hohen Aufmerksamkeit für die Schattenseiten der griechischen Kultur gekennzeichnet. Die dunklen Aspekte des Griechentums werden von beiden nicht nur erkannt und erschlossen - sie werden zugleich erstmals in ihrer konstitutiven Bedeutung und ihrem supplementären Charakter deutlich gemacht. Was sich beim Basler Kulturhistoriker indessen lediglich bilanziert findet, wird bei Nietzsche wiederum unmittelbar Anlass für eigene prinzipielle Fragestellungen. Wo Burckhardt sich befremdet zeigt, verbindet sich bei Nietzsche anhand der an den Griechen entdeckten Fremdheit die historische Umwertung mit zahlreichen Versuchen einer philosophischen Problematisierung der neuen Befunde. Angesichts des ungemein vielfältigen, facettenreichen und fragmentarisierten Materials sollen lediglich jene Perspektiven Nietzsches auf die Griechen herausgearbeitet werden, die sich als Ausgangs- oder Mittelpunkte philosophischer Reflexion auch bis ins Spätwerk hinein durchhalten werden.

2.2 Von der Historie zur Genealogie: Zum Geschichtsbegriff bei Nietzsche und Burckhardt 2.2.1 Burckhardts Kulturgeschichte und die historiographischen Modi Nietzsches Als Jacob Burckhardt im November 1870 in Basel drei öffentliche Vorträge über historische Größe und über Glück und Unglück in der Weltgeschichte hielt, fühlte sich Nietzsche als einer der Zuhörer geradezu persönlich angesprochen. Gersdorff gegenüber heißt es, Burckhardts Referate seien „völlig aus unserm Denk- und Gefühlskreise heraus" 1 6 2 gehalten. Zugleich glaubt er, „der Einzige" unter sämtlichen Zuhörern zu sein, der „die tiefen Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift", nachvollzogen habe. Zu selten ist bisher auf die Irritationen aufmerksam gemacht worden, die Nietzsche bereits zum damaligen Zeitpunkt im Hinblick auf die geschichtstheoretischen Standortbestimmungen Burckhardts empfand, ohne sie diesem freilich

lf

" Nachlass 1875, KSA 8, 5[58], S. 56. Nietzsche an Carl von Gersdorff, 7. N o v e m b e r 1870, KSB 3, Nr. 107, S. 155.

162

Burckhardt und Nietzsche zwischen Kulturgeschichte und Philosophie

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direkt anzulasten. So heißt es im gleichen Brief, dass „der höchst eigenartige Mann [...] zwar nicht zu Verfälschungen, aber wohl zu Verschweigungen der Wahrheit geneigt" sei. Das Verschwiegene und von Nietzsche Vermisste wird im Brief freilich (noch) nicht eigens thematisiert. Von welcher „Wahrheit" indessen die Rede sein könnte, dürfte am ehesten in Nietzsches eigener historiographischer Programmschrift aus dem Jahre 1874 ersichtlich werden. Die zweite Unzeitgemäße Betrachtung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (HL) kann - so unsere These 163 - in wesentlichen Teilen als konzeptionelle Antwort auf Burckhardts Vorlesungen Über das Studium der Geschichte gelesen werden, sie ist in ihren Intentionen beinahe durchgängig aus der Auseinandersetzung mit letzteren hervorgegangen. So ist es keineswegs zufällig, dass Burckhardt auf die Übersendung des Werkes mit einer Selbsterklärung antwortet, die - obgleich sie dies explizit bestreitet - durchaus den Charakter einer Rechtfertigung annimmt. In HL, so gilt es gleich voranzustellen, transzendiert Nietzsche Burckhardts Geschichtsauffassung in mehrfacher Hinsicht. In ihrem Zentrum steht zum einen der Mensch als geschichtliches und sich seiner Geschichtlichkeit bewusstes Wesen, dessen Leben sich primär im Spannungsfeld von Erinnerung und Gedächtnis sowie von Vergessen und Verdrängen ereignet. 164 Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung werden als ein nochmals reflektierteres Geschichtsbewusstsein in ihr bereits als Prozesse der Selbstauslegung perspektiviert. 165 Als anthropologisch verstandene Praxis der Sinnstiftung organisieren sie Zeitlichkeit und orientieren durch Herstellung möglichst kohärenter Ereignisketten und durch das Ausschließen von Zufällen. Die provokante Anfangsargumentation, in welcher der

"'3 Auch Bauer, Stefan: Poiisbild und Demokratieverständnis., a. a. O., S. 213-221, geht im Hinblick auf HL zunächst von der These aus, „dass Nietzsche in seinem Essay einen Dialog mit Burckhardt f u h r t " (S. 213), gelangt dabei jedoch zu denkbar verschiedenen und zweifelhaften Resultaten. Danach würde sich Nietzsches Dialog weitgehend auf eine Zitieren, A u f n e h m e n , Repetieren und Ausformulieren von burckhardtschen Glaubensbekenntnissen beschränken. Lediglich an einem P u n k t der möglichen Freiheit gegenüber der Macht der Geschichte - diagnostiziert Bauer eine Divergenz und erklärt: „Der romantisch-wilde Nietzsche fordert einen Neubeginn der Jugend, während der skeptischere Burckhardt historische Kontinuität wahren und die Jugend nur zur „eigenen Aneignung des V e r g a n g e n e n " anleiten möchte" (S. 219 f.). Da Bauer nicht auf einer geschichtstheoretischen Ebene argumentiert, lässt er Nietzsches Geschichtsdenken - dessen Eigenheiten er nirgendwo in den Blick b e k o m m t - nur zu oft gerade da im Ansatz des Basler Kulturhistorikers aufgehen, wo die Unterschiede kaum noch zu übersehen sind. 164 In seiner Untersuchung zum Z u s a m m e n h a n g von „Leben und Geschichte" bei Nietzsche interpretiert Gerhardt, Volker: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1988. S. 133-162, diesen Ansatz als Ausgang von einem „anthropologisch eingegrenzten Begriff des Lebens" (S. 139). Auch Meyer, Katrin: Ästhetik der Historie. Friedrich Nietzsches „ V o m Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Würzburg 1998 (Epistemata: Reihe Philosophie, Bd. 238). S. 1 f., lässt Nietzsches Studie von der Erfahrung ausgehen, „dass das Bewusstsein der eigenen Historizität für die philosophische Selbstvergewisserung unhintergehbar ist" und liest sie infolgedessen zunächst als Beitrag zur „reflexiven Komplexität des modernen Selbstbewusstseins"

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I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

(erwachsene) Mensch gegenüber dem Tier und dem Kind als Mängelwesen erscheint, das unfähig ist, ganz in der Gegenwart aufzugehen, verdeutlicht das Problem und verweist zugleich auf die Unmöglichkeit, es zu lösen: Geschichtlichkeit als vergegenwärtigte Zeitlichkeit ist Grundbedingung des Menschseins und zugleich Ausdruck der Gebundenheit, j a der Unfreiheit. Der zugrunde gelegte Fokus auf den „Nutzen und Nachtheil", mithin den „Werth" der Geschichte für das Leben, ist bereits geschichtstheoretische Metareflexion, da nun die Historiographie ihrerseits nach verschiedenen Modi typisiert wird. Dies geschieht vornehmlich im Hinblick auf die Ausdrücklichkeit und die spezifische Form ihrer Gegenwartsorientierung. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht also nicht der theoretische Zugriff per se beziehungsweise eine Diskussion um die mögliche oder unmögliche Objektivität wissenschaftlicher Modelle der Geschichtsschreibung, sondern vielmehr der mögliche Spielraum, den Geschichtsschreibung dem an seine Geschichte geketteten Menschen verschaffen kann. Der Impetus der von Nietzsche vorgenommenen Typisierung darf als ideologiekritisch beschrieben werden: Er unterscheidet und kritisiert im Hinblick auf die der eigenen Zeit geschuldeten Implikationen und damit im Hinblick auf den impliziten oder expliziten Gegenwartsbezug des jeweiligen Erklärungsmodells. Unverkennbar auf Burckhardts Vorlesung über historische Größe ist Nietzsches Darstellung der monumentalen Geschichtsschreibung bezogen. Sie teilt Ansichten aus dessen Ansatz, gestaltet sie aus und um, bewertet darüber hinaus aber vor allem dessen epistemologische und weltanschauliche Folgen beziehungsweise seine jeweiligen Voraussetzungen. Die Reduktion des historischen Feldes auf Geschichte „machende", große Persönlichkeiten beziehungsweise auf eine Abfolge solcher Persönlichkeiten im „Glauben an die Zusammengehörigkeit und Continuität des Grossen aller Zeiten" (HL 2, KSA 1, S. 261) kann etwa als strategische Provokation einer als kleinmütig, selbstzufrieden und dekadent empfundenen, scheinbar konturlosen Jetztzeit konzipiert sein. Auch die angeführte Vorlesung Burckhardts nimmt bezeichnenderweise ihren Anfang bei „unserm Knirpstum, unserer Zerfahrenheit und Zerstreuung", um dann lakonisch zu konstatieren: „Größe ist, was w i r n i c h t sind." 166 Wenn die historiographische Personalisierungsstrategie des Monumentalischen nach Nietzsche demgegenüber auch umschlagen kann in „mythische Fiction" (HL 2, S. 262) und damit ebenso „zum Fanatismus" wie zum Götzendienst anreizt, so scheint auch Burckhardt deren ideologische Sprengkraft spätestens dort anzunehmen, wo in der Geschichte ein „bisweilen heftiges B e g e h r nach großen M ä n n e r n "l67 aufkommt. Der Basler Historiker indessen scheint ebendieses Begehr seinerseits zu sehr geteilt zu haben, um sich über die unvermeidlichen theoretischen Defizite einer mit der Kategorie „historische Größe" arbeitenden Darstellung vollständig

m

W B V (IA), S. 160. W B V (IA), S. 191.

Burckhardt und Nietzsche zwischen Kulturgeschichte und Philosophie

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bewusst zu werden. Wie zur Rechtfertigung wird mit melancholischer Geste zum Ende des Vortrags geltend gemacht, dass „das Offenhalten des Geistes für jede Größe eine der wenigen sicheren Bedingungen des höheren geistigen Glückes" sei. 168 Gerade an dieser Stelle jedoch gilt es festzuhalten, dass Burckhardt keineswegs nur für historische Größe offen geblieben ist, sondern dieselbe allzu oft zur integralen Kategorie seiner Darstellung gemacht und die „welthistorische Persönlichkeit" so zu einem erstrangigen Movens geschichtlicher Prozesse stilisiert hat. Nietzsche - der das Monumentale selbst zu schätzen wusste und dementsprechend häufig in bestimmten Denkoperationen platzierte - hat demgegenüber in seiner fiinktionalistisch zu nennenden Metareflexion auf die Historiographie das Monumentalische auf eine Weise konzeptualisiert, die es ihm auch erlaubte, deren theoretische Fragwürdigkeiten in den Blick zu bekommen. Personalisierte Geschichte handelt stets, so heißt es unmissverständlich, von „Wirkungen ohne zureichende Ursachen". Historische Größe als Kategorie erklärt nicht, sondern unterstellt, sie ist somit nichts anderes als einer der „geschichtlichen ,Effecte an sich'". Kurz: Monumentalisierende Darstellung beraubt das historische Feld um Wirkungszusammenhänge und „täuscht durch Analogien" (HL 2, S. 262 ff.). Was die Darstellung des antiquarischen Modus der Historiographie betrifft, so sind Parallelen zum Werk Burckhardts unübersehbar und demzufolge auch häufig gezogen worden. 1 6 9 Nicht zufälligerweise erscheint auch der Name des Kulturgeschichtlers in diesem Teil der Abhandlung Nietzsches. Als Kontinuität herstellende oder sichernde pietätvolle Betrachtung der Vergangenheit weiß jener Modus auch „das Kleine, das Beschränkte" zu würdigen und damit geschichtsfähig zu machen. Durch forcierte Rückanbindung an die Tradition verweigert er sich dem unterstellten Innovationswahn der Moderne ebenso wie jeglichem einseitig positivistischen Selbstverständnis. Der antiquarische Historiker ist besonders dort wertvoll, „wo er über bescheidne, rauhe, selbst kümmerliche Zustände" (HL 3, S. 266) hinweg Sinn stiftet und durch Kultivierung des Alten als Ursprung des Gegenwärtigen Identifikationsmöglichkeiten bereitstellt. Genau in diesem Sinn hat Burckhardt wiederum sein eigenes Tun im Gegensatz zur geschichtsphilosophischen Praxis motiviert: „wir

betrachten

T y p i s c h e

das

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W i e d e r h o l e n d e ,

K o n s t a n t e ,

a l s e i n in u n s A n k l i n g e n d e s u n d V e r s t ä n d l i c h e s . " 1 7 0

Einige von Nietzsches Beschreibungen der antiquarischen Geschichtsdarstellung scheinen direkt auf Burckhardt gemünzt und decken sich mit den von jenem formulierten Aufgaben des Historikers. Zugleich jedoch gesellt sich zur Anerken-

1,58 169

WB ν (IA), s. 191.

So zuletzt von Cancik, Hubert: Nietzsches Antike, a. a. O., S. 87, und Meyer, Katrin: Ästhetik der Historie, a. a. O., S. 174 f. I7 " W B I (E), S. 3.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

nung und Bewunderung für die Eigenständigkeit der Studien Burckhardts auch eine Reihe von Anspielungen, die ironisch auf dessen Defizite in der theoretischen Fundierung seiner Arbeiten zu zielen scheinen: Wo in W B von der „Kontinuität des wandelbaren Menschengeistes" die Rede ist, von der jedes historische Ereignis, „in den richtigen Zusammenhang gebracht", Zeugnis ablegt, da gesteht Nietzsche seinem, beinahe zum Objekt einer Fallstudie geratenen Basler Kollegen ein merkwürdig diffuses „Hindurchfühlen und Herausahnen, ein Wittern auf fast verlöschten Spuren" in Bezug auf „verdunkelnde und verwirrende Jahrhunderte" (HL 3, S. 265) zu. Wo Burckhardt hinsichtlich des Quellenstudiums von der „richtigen chemischen Verbindung" zwischen „Geist" und „Originalquelle" handelt, 171 da konstatiert Nietzsche für den antiquarischen Historiker prompt „ein instinctives Richtig-Lesen" zu (HL 3, S. 264). Bei Burckhardts, in teils anthropologische, teils naturwissenschaftliche Begriffe und Metaphern gekleidetem Verständnis der Praxis des Historikers liegen die konzeptionellen Mängel offen - Nietzsches nochmalige Transformation derselben in eine halb mystisch, halb ästhetische beziehungsweise biologische Metaphernwelt macht diese Defizite vollends augenscheinlich und scheint sie bereits zu ironisieren. Auch bei der Schilderung der Gefahren eines antiquarischen Geschichtsbildes ist der Adressat nur schwerlich zu verkennen. Der „Nachtheil" für das Leben ist hier besonders plastisch: Die Zufriedenheit der Kontinuitätssicherung transformiert sich in die Selbstzufriedenheit und Passivität angesichts der historisch erwiesenen Folgerichtigkeit, Rechtmäßigkeit und Unveränderbarkeit der eigenen Existenz oder ideologiekritisch: in lebensrestringierenden reaktionären Konservativismus. 172 In der Tat liegt die Vermutung nahe, dass Nietzsche Burckhardts halb humanistisch, halb pessimistisch motivierte historische „Kontemplation" nicht erst in den achtziger Jahren, sondern von Beginn seiner Bekanntschaft und Auseinandersetzung mit dem „geistvollen Sonderling" an als philosophische Inkonsequenz und intellektuelle Bedenklichkeit eingestuft hat. Es ist durchaus bezeichnend, dass derjenige Modus der Historiographie, den Nietzsche als notwendiges Korrektiv gegen die Tendenzen monumentalischen und antiquarischen Reflektierens konzipiert, die kritische Geschichtsschreibung, sich auf das Werk Burckhardts nur in beschränkter Form anwenden lässt. In dessen

171

172

W B I (E), S. 15. - Flaig, Egon: Angeschaute Geschichte. Zu Jacob Burckhardts „Griechischer Kulturgeschichte". Rheinfelden 1987 (Wissenschaftsgeschichte, Bd. 8). S. 38, vermutet demgegenüber, es „könnte Burckhardts ureigener Beitrag zur Geschichtsschreibung gewesen sein, die Quellen gegen den Strich zu lesen." In der Tat hat Burckhardt die Quellen nicht mehr als realitätsgesättigte M o n u m e n t e erachtet, sondern häufig auf dasjenige hin befragt, was diese nicht sehen durften, sehen wollten oder sehen konnten. Für Kokemohr, Rainer: Z u k u n f t als Bildungsproblem. Die Bildungsreflexion des j u n g e n Nietzsche. Ratingen, Düsseldorf 1973. S. 41 f., sind die negativen Seiten der antiquarischen Historie in HL derart drastisch ausgeführt, dass er von diesem Befund aus auf eine prinzipielle Ablehnung Nietzsches gegenüber diesem historiographischen Modus schließt und zuletzt anführt, Nietzsche habe sie lediglich „um der systematischen Vollständigkeit willen positiv bewertet" (S. 167).

Burckhardt und Nietzsche zwischen Kultlirgeschichte und Philosophie

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geschichtstheoretischer Selbstvergewisserung zählen Termini der Kritik nicht zum Repertoire. Vielmehr zollt man stets den „passiven Tribut" der eigenen Geschichtlichkeit, indem man der Geschichte „ b e s c h a u e n d " " ' gegenübertritt. In einer merkwürdigen Spannung zum Ethos der Kontemplation steht jedoch die Fülle von Wertungen und Urteilen organologischer und pathologischer Provenienz, ohne die Burckhardts kulturgeschichtliche Arbeiten gar nicht zu denken sind. Diese befinden sich offenbar außerhalb des eigenen Gesichtskreises und damit jenseits einer methodologischen Rechtfertigung - sie speisen sich aus dem von Schopenhauer übernommenen Pessimismus, der seinerseits nicht mehr reflektiert wird. Nietzsche, der die Eigenständigkeit der konkreten historischen Urteile Burckhardts zu schätzen wusste und sich darüber hinaus zahlreiche Ansichten des Älteren zu eigen machte, hat zugleich die Subjektivität und den pessimistischen Grundgehalt derselben durchschaut und zu jenen „seltsamen Biegungen und Brechungen" gerechnet, von denen zu Beginn die Rede war. Kein Zweifel: Jene Spätlinge der „ironischen Existenz", die geleitet von der „Ahnung des Untergangs" das historische Feld rekapitulieren, die ihrem subjektiven Geschichtssinn den Lauf lassen und dabei wissen, „dass es vielleicht bald mit aller Lustbarkeit der historischen Erkenntniss vorüber sein werde", die zuletzt lediglich eines hoffen: „Wenn u n s nur die Scholle noch trägt!" (HL 7, S. 302 f.), haben ihren prominentesten Charakter in jenem Jacob Burckhardt, dessen Weltgeschichtliche Betrachtungen in eine apokalyptische Beschreibung der Gegenwart einmünden, dabei für die nähere Zukunft gewaltige Kriege ankündigen, um schließlich in einem Hymnus an das „wunderbare Schauspiel" einer unbeteiligten, überirdischen Erkenntnis auszuklagen. 1 7 4 Der „überhistorische" oder „unhistorische" Standpunkt, den Nietzsche in HL zum Thema macht, ist per se unmöglich und nur als heuristische Fiktion denkbar, von dem aus die theoretischen und ideologischen Modi des Historiographischen überhaupt erst in den Blick kommen. 1 7 5 Die Kunst und Kraft des Vergessens als Fähigkeit, „sich in einem begrenzten Horizont einzuschliessen", ist Deskription des gelungenen ästhetischen Verfahrens, nicht aber als intellektuelle Realisation einzufordern. Sie ist zunächst gleichermaßen gegen den Glauben an eine unpersönliche objektive Geschichtswissenschaft und an die traditionsverarbeitende teleologische Geschichtsphilosophie gerichtet. Sie ist jedoch ebenso an die beschaulich-kontemplative Deutung Burckhardts adressiert, der seine Praxis stets von Vornherein als subjektiv bezeichnete, ohne sich dabei über das wirkliche Ausmaß dieser Subjektivität im Klaren zu sein.

173 174 175

W B I (E), S. 6. W B VI ( G U W ) , S. 2 0 7 f. V o r a l l e m L ö w i t h , Karl: J a c o b B u r c k h a r d t . , a. a. O . , u. a. S. 55, hat N i e t z s c h e s I m p e t u s in zu e i n s e i tiger W e i s e als a u s s c h l i e ß l i c h a n t i h i s t o r i s c h interpretiert u n d d a v o n a u s g e h e n d e i n e g r u n d l e g e n d e D i f f e r e n z zu B u r c k h a r d t e r m i t t e l t . E i n e w i r k l i c h e R e f l e x i o n a u f die G e s c h i c h t l i c h k e i t d e r E x i s t e n z s c h e i n t s e i n e m V e r s t ä n d n i s n a c h erst m i t H e i d e g g e r in die P h i l o s o p h i e e i n g e k e h r t zu sein.

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I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

Wenn Nietzsche die Transformation der Geschichtswissenschaft zur Kunst einfordert, so scheint Burckhardt gleichwohl dieser Forderung mehr zu entsprechen als jeder andere Historiker des neunzehnten Jahrhunderts. 176 Doch das Wissen um die Perspektivität aller Geschichtsschreibung ist keine Lizenz zur geistigen Sonderexistenz. Für Nietzsche hat sich Historiographie auch und gerade durch Anbindung an die Gegenwart und Ausrichtung auf die Zukunft zu legitimieren: „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten [...]" (HL 6, S. 293).

2.2.2 Zur Genese der Genealogie: Burckhardts Einflüsse und Grenzen Mit Antritt seiner Professur hat Nietzsche in wachsendem Maße versucht, die disziplinaren Beschränkungen der philologischen Wissenschaft zu Uberschreiten und die Philologie nunmehr philosophisch zu fundieren. Dieser Versuch vollzieht sich, wie dargestellt, maßgeblich in Auseinandersetzung mit Jacob Burckhardt, der beinahe zeitgleich Grundlagenreflexion betreibt. Nachdem die prinzipiellen Differenzen innerhalb der Geschichtsauffassung beider eingehend thematisiert sind, gilt es nunmehr, jene Momente des kulturgeschichtlichen Ansatzes Burckhardts festzuhalten, die Nietzsche sich zu eigen macht, ausdifferenziert und in einen philosophischen Ansatz verwandelt. Erprobt wird dabei die These, dass die genealogische Praxis als die spezifische Form von Nietzsches Philosophieren in entscheidenden Punkten ihren Anfang bei Positionen Burckhardts nimmt. Die Ablehnung einer teleologischen Geschichtsauffassung stellt zentrale Begriffe der historischen Beschreibung in Frage. Gemeint sind dabei nicht nur das dem Entwicklungsgedanken inhärente emphatische Konzept der Vollendung oder des Zum-Ziel-Gelangens, sondern schlichte, aber folgenreiche Kategorien wie die von Anfang und Ende. Während das Absehen von einem vermeintlichen Ende oder Ziel eines historischen Prozesses vergleichsweise einfach scheint und bereits vor Burckhardt praktiziert worden ist, wird die Skepsis gegen den Erklärungswert eines Anfangs von jenem erstmals formuliert und umgesetzt. Ausgehend von der Erfahrung, dass dasjenige, „was wir als Anfänge glauben nachweisen zu können [...], ohnehin schon ganz späte Stadien" sind, heißt es im Einleitungsteil der Weltgeschichtlichen Betrachtungen: „Überall im Studium mag man mit den Anfängen beginnen, nur bei der Geschichte nicht. Unsere Bilder derselben sind meist doch bloße Konstruktionen, [...], ja bloße Reflexe von uns selbst."177

177

V g l . d a z u J ä h n i g , Dieter: W e l t - G e s c h i c h t e : K u n s t - G e s c h i c h t e . K ö l n 1975. S. 9 0 - 1 1 1 . W B 1 (E), S. 4.

Burckhardt und Nietzsche zwischen Kulturgeschichte und Philosophie

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Während das Ansetzen bei einem Anfang der Überlieferung reine Willkür ist, würde vor allem der Konstruktions- und Selektionsprozess, den jede Setzung von Anfangen und Ursprüngen unweigerlich impliziert, die Struktur der nachfolgenden Geschichtsdarstellung bereits unweigerlich präfigurieren. Anfänge erklären keine geschichtlichen Zusammenhänge, sie manipulieren sie vielmehr und verführen zur Gleichsetzung von Ursprung und Wesen. Bei der Abfassung der Geburt der Tragödie war auch Nietzsche der Verführung dieses Erklärungskonstrukts augenscheinlich noch mehrfach erlegen. Vom dithyrambischen „Ursprung" des tragischen Geschehens schloss er auf deren „Wesen", vom „ursprünglich" als Satyr verkleideten ekstatischen Sänger auf eine Tragödie, die „wesenhaft" Satyrchor ist, von der „ursprünglichen" Beziehung zwischen Satyr und Dionysos wiederum auf die dionysische Substanz aller späteren Bühnengestalten - nur aus der „Geburt" der Tragödie konnte ihr „Geist" verständlich werden. 1 7 8 Dass dieses Argumentationsmuster Mitte der siebziger Jahre aufgegeben wird oder zumindest seine Selbstverständlichkeit verloren hat, ist unter anderem in der unvollendeten Studie zu den frühgriechischen Philosophen ersichtlich. Die „Fragen nach den Anfängen der Philosophie" sind im Hinblick auf ein Verständnis der Eigenheiten des vorsokratischen Denkens für Nietzsche jetzt „ganz gleichgültig, denn überall ist im Anfang das Rohe, Ungeformte, Leere und Hässliche" (PHG 1, KSA 1, S. 806). Ebenso wie die Zurückführung der griechischen Mythologie auf „physikalische Trivialitäten [...] als auf ihre Uranfänge" wenig oder nichts erkläre, ebenso sei auch die Auslegung der ersten griechischen Philosophen am Leitfaden persischer oder altägyptischer Weisheit und Wissenschaft, welche „vielleicht „originaler" und jedenfalls älter sind" (ebd.) keine Erklärung des eigentlichen Phänomens, als vielmehr deren chronologisch legitimierte sachliche Reduktion. Aus der Ablehnung der Teleologie erwächst die Skepsis gegenüber einer bloß diachron verfahrenden Geschichtsschreibung. Burckhardts kulturgeschichtlicher Ansatz ist demgegenüber auf Synchronie ausgerichtet, anstelle von Verlaufsbeschreibungen und der Darstellung von Ereignisfolgen ist eine historische Synopse beziehungsweise ein „Panorama" angestrebt. Die auftretende Diskrepanz zwischen synoptischem Denken und dem diskursiven Voranschreiten jeder Darstellung, ihrer unvermeidlichen Aufeinanderfolge von Sätzen, hat Burckhardt selbst deutlich empfunden und durch eine Reihe von Bild- und Anschauungsmetaphori-

178

Sommer, Andreas: Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur „Waffengenossenschaft" von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Berlin 1997, weist auf die anfängliche Gemeinsamkeit eines emphatischen Ursprungskonzepts in den Ansätzen Overbecks und Nietzsches hin. Im Hinblick auf die Antrittsvorlesungen beider arbeitet Sommer (S. 17-43) die normativen Implikationen des gemeinsam geteilten Ursprungsverständnisses heraus und legt zugleich die zeitund wissenschaftskritischen Potentiale dieser Betrachtungsweise frei.

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I. T e i l : V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

ken zu verdeutlichen und zu mildern versucht. 179 Geschichte wird jetzt als ein durch Wechselwirkung von Grundelementen bestehendes und sich veränderndes Gebilde verstanden. Grundelemente sind die drei Potenzen Staat, Religion und Kultur - in ihrer permanenten Interaktion vollzieht sich die geschichtliche Bewegung. Die Interaktion ist ihrerseits nicht die eines organischen Funktionierens, sondern die einer strukturell gestörten Kommunikation: „Die drei Potenzen sind unter sich höchst heterogen und nicht koordinierbar [...]." 18 ° Die Pathologisierung jener Wechselwirkung unter den Potenzen mag zwar weltanschaulich motiviert und damit fragwürdig erscheinen, sie hat Burckhardt indessen gerade für die Dynamik historischer Prozesse entsprechend sensibel gemacht. Es liegt nahe, dass Nietzsche, der vor dem Hintergrund seines fundamentalästhetischen Ansatzes und seines Kulturkonzeptes Religion, Philosophie und Wissenschaft als einander verwandte künstlerische Sinnstiftungen begriff, für die burckhardtsche Problematisierung der Geschichte aufgeschlossen war. Die Unterscheidung der Komplexe Staat - Politik, Mythos - Religion, Kunst - Wissenschaft - Philosophie hat er sich zunächst gänzlich zu eigen gemacht. Zahlreiche Nachlassfragmente belegen, wie er gerade anfänglich bei seiner Erschließung der griechischen Antike mit dieser grundlegenden Trichotomie arbeitete. 181 Im Gegensatz zu Burckhardt jedoch scheint Nietzsche die geschichtsträchtigen Potenzen nicht als isolierte, sich erst im Nachhinein beeinflussende Größen vorauszusetzen, sondern eher als vorläufige und hypothetische Setzungen zu erachten. Kultur und Staat sind ebenso wenig Gegensätze wie etwa Wissenschaft und Religion. Es sind Bereiche, die einander wechselseitig dynamisieren, Bestandteile eines relationalen Gefiiges, in dem sich ein Teil nur auf dem Hintergrund eines anderen abhebt und eben erst durch dieses Sich-Abheben thematisch wird. Burckhardt versuchte zwar Geschichte gegen das monokausale diachrone Entwicklungsschema als Wechselwirkung zu verstehen, tat dies jedoch auf Kosten einer Isolation und Absolutsetzung der drei Potenzen. Um die historische Bewegung in Gang zu setzen, musste er die absolut gesetzten Bereiche gegeneinander konzipieren. Um die Geschichte in Gang zu halten, musste er schließlich auch innerhalb der Binnendifferenzierung

179

M a i k u m a , Y o s h i h i k o : D e r B e g r i f f d e r K u l t u r bei W a r b u r g , N i e t z s c h e u n d B u r c k h a r d t . K ö n i g s t e i n 1985, r e k o n s t r u i e r t B u r c k h a r d t s K u l t u r v e r s t ä n d n i s v o m L e i t g e d a n k e n „ D i e I d e e d e r h u m a n i s t i s c h e n B i l d u n g u n d die T o t a l i t ä t d e r A n s c h a u u n g " (S. 2 2 1 - 3 3 9 ) a u s u n d p a r a l l e l i s i e r t g e z i e l t B u r c k h a r d t s E t h o s d e r S c h a u , s e i n e P r a x i s d e r K o o r d i n a t i o n u n d s e i n e m a l e n d e R h e t o r i k . Z u l e t z t k o n s t a t i e r t die A u t o r i n f u r d e n B a s l e r H i s t o r i k e r als d e s s e n „ p e r s ö n l i c h s t e A u f g a b e " d i e „ E r h a l t u n g d e r B i l d u n g A l t e u r o p a s " u n d b e s c h r e i b t sein dieser A u f g a b e i m p l i z i t e s S e l b s t v e r s t ä n d n i s h a l b ironisch, h a l b p o e t i s c h m i t den W o r t e n : „ E r b e f i n d e t sich i m m e r i n m i t t e n v o n W e l t u n d M i t m e n s c h e n , w i e ein M i k r o k o s m o s stets m i t d e m M a k r o k o s m o s , d u l d e n d u n d h a n d e l n d , s c h a u e n d u n d k o o r d i n i e r e n d , z u s a m m e n p u l s t " (S. 3 3 9 ) .

180

W B II ( V P ) , S. 2 0 . V g l . d a z u N a c h l a s s 1 8 6 9 - 7 0 , K S A 7, 3 [ 7 3 ] , S. 7 9 f ; 3 [ 8 7 ] , S. 84; N a c h l a s s 1 8 7 0 - 7 1 , 5 [ 9 5 ] , S. 119. N a c h l a s s 1870, 6 [ 1 8 ] , S. 135 f.; 7 [ 8 5 ] , S. 158.

181

Burckhardt und Nietzsche zwischen Kulturgeschichte und Philosophie

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seiner Darstellung die Teleologie - wenngleich in morphologischem Gewand wieder einfuhren. Ungeachtet der theoretischen Inkonsequenzen hat Nietzsche sich ohne Zweifel von Burckhardts Versuch, ein synchron organisiertes Netz von Beziehungen zu stiften, beeindrucken und inspirieren lassen. 182 Während Geschichtsschreibung „bis jetzt vom Standpuncte des Erfolges und zwar mit der Annahme einer Vernunft im Erfolge" 183 aus betrieben worden sei, wurde durch die Betrachtung des historischen Feldes als eines Beziehungsgeflechtes der Raum zu unzähligen Neuperspektivierungen der Vergangenheit eröffnet. Die Potenzenlehre scheint Nietzsche dabei vornehmlich als eine Form - terminologisch unterregulierter - Interdependenztheorie aufgefasst, rezipiert und philosophisch entgrenzt zu haben. Insbesondere in seiner so genannten positivistischen Phase, also der Zeit zwischen Menschliches, Allzumenschliches und der Morgenröthe, hat dieser in einer Weise auf Bedingungen der Kultur, auf kulturelle Konstellationen und deren Konsequenzen reflektiert, die Burckhardts kulturgeschichtliche Praxis ins Philosophische übersetzt und sich dabei als Vorstufe der Genealogie zu erkennen gibt. Während Burckhardt unter Mithilfe seiner Hypostasen Staat, Religion und Kultur Geschichte zwar dynamisch, aber noch immer als Transformation einer historischen Substanz und damit als Kontinuität erfasste, war das voraussetzungslos relationale Denken Nietzsches von einer besonderen Sensibilität gegenüber Brüchen und Diskontinuitäten geprägt. Jede neue Perspektive, das heißt jede Herstellung einer neuen Beziehung oder Korrelation im Hinblick auf die Vergangenheit kommt dabei vornehmlich als Verneinung eines Entwicklungs- oder Kontinuitätsmodells zur Geltung. 1 8 4 In der Fröhlichen Wissenschaft wagt Nietzsche in einem solchen Zusammenhang das Theorem von der „Historia abscondita", einer Geschichte, die „vielleicht immer noch wesenhaft unentdeckt" ist (FW I 34, KSA 3, S. 404). In dieser Formulierung manifestiert sich nun auch eine Absage an Burckhardts spezifische Weise der Vereinnahmung der Historie. Auch diese verflüchtigt für Nietzsche ebenso wie die teleologischen Konstruktionen, gegen die sie antrat, im Endeffekt die Geschichte im Ganzen zu einer kontinuierlichen Bewegung. Ab- und Umbrüche sowie die Umfunktionierung von Institutionen oder sozialen Praktiken vor dem Hintergrund einer veränderten historischen Konstellation werden so zuletzt 182

F l a i g : A n g e s c h a u t e G e s c h i c h t e , a. a. O . , S. 35, r ü c k t B u r c k h a r d t s A n s a t z b e r e i t s „in die N ä h e d e s Strukturalismus", da dessen auf Synchronie ausgerichteter Fokus mit der „Depotenzierung diachron i s c h e r K a u s a l k e t t e n v e r b u n d e n " sei: „ D i e H e r a b m i n d e r u n g d e s E r e i g n i s s e s a u f e i n e n I n d i z i e n s t a t u s e r f o l g t a u s d e r E i n s i c h t , d a s s d a s s t r u k t u r e l l e G a n z e , w e l c h e s erst d a s E r e i g n i s e i n t r e t e n ließ u n d i h m e i n e V e r l a u f s f o r m g a b , eine h ö h e r e s y s t e m a t i s c h e Stelle e i n n i m m t als d a s E r e i g n i s s e l b e r . "

183

N a c h l a s s 1875, K S A 8, 5 [ 5 8 ] , S. 56. B u r c k h a r d t w i r d in d i e s e m F r a g m e n t a u s d r ü c k l i c h als A l t e r n a t i v e zu d i e s e r T e n d e n z b e n a n n t . F ü r d a s G r i e c h e n b i l d N i e t z s c h e s m a c h t Porter: N i e t z s c h e a n d t h e P h i l o l o g y o f t h e F u t u r e , a. a. O . , S. 2 3 0 , in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g a n s t e l l e e i n e s e i n z e l n e n " v i e w a b o u t a n t i q u i t y [ . . . ] a series o f o f ten c o m p e t i n g a c c o u n t s o f a n t i q u i t y " g e l t e n d .

184

70

I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

einem Verständnis geopfert, das primär auf die „Tradition" und den von ihr ausgehenden „ E i n f l u s s " abhebt. Geschichte soll bei N i e t z s c h e d e m g e g e n ü b e r angesichts der Komplexität und Zerrissenheit der G e g e n w a r t nicht durch genetische Konstruktionen und Kontinuitätsmodelle Identitäten bereitstellen und somit bloßes M e d i u m einer zu kurz greif e n d e n Selbstauslegung und Situierung sein. 1 8 5 Gefordert wird vielmehr die Fähigkeit zur „ r ü c k w i r k e n d e n Kraft", durch w e l c h e die vermeintliche Einheit der historischen B e w e g u n g zerstreut wird. Alle denkbaren „ O b j e k t e " der Historiographie - m ö g e n dies Institutionen, Glaubensvorstellungen oder auch philosophische Ansätze sein - werden durch die „ r ü c k w i r k e n d e K r a f t " nicht mehr als Substanzen oder identische Einheiten innerhalb der geschichtlichen B e w e g u n g ausgelegt und auf akzidentelle V e r ä n d e r u n g e n befragt. Sie finden sich d e m g e g e n ü b e r ihres vermeintlichen Objektcharakters, ihres Sich-gleich-Bleibens beraubt und k o m m e n so als konstituierte G r ö ß e n , als Produkte sozialer und historischer Konstellationen in den Blick. D i e Reflexion auf die Zufälligkeit der H e r k u n f t eines O b j e k t e s stellt dasselbe stets auch „ w e s e n h a f t " zur Disposition und damit seine Selbstverständlichkeit in Frage - j e b e d e u t s a m e r das O b j e k t der Analyse war, desto größer wird auch die Irritation im Hinblick auf das Selbstverständnis sein, das der A n a l y s e vorausging. W a s im A p h o r i s m u s 33 der Fröhlichen Wissenschaft in die kryptische M e t a p h e r von der „rückwirkenden K r a f t " gekleidet und als seltene B e f ä h i g u n g a u ß e r g e w ö h n l i c h e r Persönlichkeiten eingeführt wurde, verweist direkt auf das V e r f a h r e n der Genealogie, in der sich die hypothetische historische Rekonstruktion stets mit einer begrifflich-sachlichen Dekonstruktion verbindet. B u r c k h a r d t hat N i e t z s c h e s M e t h o d e der Historisierung philosophischer Themen, j a der Philosophie selbst durchaus in den Blick b e k o m m e n , hat dieselbe j e d o c h lediglich als originelle, k ü h n e Form von Geschichte, als E r ö f f n u n g „erstaunlicher historischer Perspectiven", nicht aber als Philosophie fassen können. In einem A n t w o r t s c h r e i b e n auf die Ü b e r s e n d u n g der Fröhlichen Wissenschaft 186 konstatiert er: „Im G r u n d e wohl lehren Sie i m m e r Geschichte [..,]." A u c h das G e d a n k e n e x p e r i m e n t , N i e t z s c h e „ g a n z ex professo die W e l t g e s c h i c h t e " aus dessen „ B e l e u c h t u n g s w i n k e l n " lehren zu lassen, ist lediglich auf den „ G e g e n s a t z z u m jetzigen C o n s e n s u s p o p u l o r u m " der bestehenden Historikergilde hin ausgerichtet. Dass sich der Basler Kulturhistoriker f ü r den genealogischen Perspektivismus als historiographischem A n s a t z sensibel zeigt, um gleichzeitig dessen philosophi-

185

F o u c a u l t , M i c h e l , N i e t z s c h e , die G e n e a l o g i e , d i e Historie, a. a. O., S. 121, s p r i c h t in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g von einem „Trödelmarkt fehlender Identitäten" und macht für Nietzsches Absichten d a s G e g e n t e i l g e l t e n d : „ D i e g e n e a l o g i s c h a u f g e f a s s t e H i s t o r i e will n i c h t die W u r z e l n u n s e r e r Identität w i e d e r f i n d e n , v i e l m e h r m ö c h t e sie sie in alle W i n d e z e r s t r e u e n [ . . . ] . " - Z u F o u c a u l t s p r o v o k a n ter N i e t z s c h e - L e k t ü r e , ihrer W i r k u n g u n d ihrer i n t e r p r e t a t o r i s c h e n F r e i z ü g i g k e i t v g l . Pfizer, J o h n , T h e U s e a n d A b u s e o f U r s p r u n g . O n F o u c a u l t ' s R e a d i n g o f N i e t z s c h e . In: N i e t z s c h e - S t u d i e n 19 ( 1 9 9 0 ) . S. 4 6 2 - 4 7 8 .

"!f· B u r c k h a r d t an F r i e d r i c h N i e t z s c h e , 13. S e p t e m b e r 1882, N r . 144. K G B III 2, S. 2 8 8 f.

Burckhardt und Nietzsche zwischen Kulturgeschichte und Philosophie

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sehe Relevanz zu verkennen, liegt indessen wiederum im seinem methodischen Selbstverständnis begründet. Jener Abschnitt der Welthistorischen Betrachtungen, der von der wechselseitigen Bedingtheit der Potenzen handelt, setzt mit einer Grundlagenreflexion an, in welcher die Begriffsbildung in der Philosophie und in der Geschichte verglichen und explizit voneinander getrennt werden: „Philosophische und historische B e g r i f f e sind wesentlich verschiedener Art und verschiedenen Ursprungs; j e n e müssen so fest und geschlossen sein als möglich, diese so flüssig und offen als möglich gefasst werden." 1 8 7

Angesichts einer „schwebend und in beständigen Übergängen und Mischungen" existierenden Geschichte charakterisiert Burckhardt die Begriffe des Historikers - so sie angemessen sein sollen - durch Flüssigkeit und Offenheit. Kein Gedanke scheint geeigneter, die Einflusssphäre Burckhardts für das erwachende philosophische Selbstverständnis Nietzsches zu umreißen, als die paradoxe Formulierung vom flüssigen Begriff. Alle bisher gezeigten Strukturparallelen, Anknüpfungspunkte und Inspirationsquellen scheinen sich in ihr zu verdichten. Burckhardt hat den Begriff als das Werkzeug des Philosophen noch in einem durchaus traditionellen Sinn verstanden und in eben diesem Sinn auch für die Philosophie eingefordert. Er verstand ihn als eine durch vorhergehende Definition gleichsam abgesicherte Abstraktionsleistung. Für sein eigenes Anliegen indessen strebte er eine methodische adaeqatio ad rem an - die Bewegung der Geschichte soll durch Begriffe nicht still gestellt, sondern gezeigt und nachvollzogen werden. 188 Zugleich aber hat Burckhardt sein Verfahren als konzeptionell defizitär eingestuft - den eigenen Beitrag innerhalb der Geschichtsschreibung, der ohnehin schon „unwissenschaftlichsten aller Wissenschaften" erachtete er als „systematische Harmlosigkeit". 189 Während Burckhardt für die Konsequenzen seines Ansatzes eigentümlich blind geblieben ist, ist Nietzsches Philosophie durch eine radikale Umwertung an diesem neuralgischen Punkt gekennzeichnet, 190 eine Umwertung freilich, die nach

187

WB III(BB), S. 62. Eine Diskussion und Analyse der stilistischen beziehungsweise rhetorischen Eigenheiten des kulturgeschichtlichen Schreibens Jacob Burckhardts gibt Simonis, Linda: Genetisches Prinzip. Zur Struktur der Kulturgeschichte. Tübingen 1998 (Communicatio, Bd. 18). S. 61-125. 189 WB III (BB), S. 62. "" Die differenzierteste philosophische Rekonstruktion des Nietzscheschen Genealogiekonzepts diese Arbeit verdankt ihr viel - findet sich bei Stegmaier, Werner: Nietzsches „Genealogie der Moral", Darmstadt 1994. S. 70-93. Anhand des 12. Abschnitts der II. Abhandlung - gewissermaßen des Methodenkapitels der Genealogie der Moral - wird demonstriert, wie Nietzsche in Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition ontologisch-erkenntnistheoretische Plausibilitäten physiologisch uminterpretiert, Lebens- und Denkprozesse wiederum als Machtprozesse deutet, um zuletzt auch Machtprozesse nochmals auf ihren Zeichencharakter hin auszulegen. Leitendes Konzept der Untersuchung ist das des „flüssigen Sinns" - mit ihm, so Stegmaier, „exponiert Nietzsche seinen Begriff des Begriffs" (S. 70). 1811

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

unserer Interpretation aber nur als das Ergebnis einer andauernden, an Burckhardts Überlegungen und Interpretationspraktiken ausgerichteten Reflexion auf Geschichtlichkeit und deren Darstellbarkeit zu fassen ist. Ergebnis dieser Reflexion ist die Transformation der Philosophie zur Historie: „ D i e P h i l o s o p h i e , s o w i e ich s i e a l l e i n n o c h g e l t e n l a s s e , a l s d i e a l l g e m e i n s t e F o r m d e r H i s t o r i e , a l s V e r s u c h d a s h e r a k l i t i s c h e W e r d e n i r g e n d w i e zu b e s c h r e i b e n u n d in Z e i c h e n a b z u k ü r z e n [,..]." 1 9 1

Nach diesem Anspruch ist das Bewusstsein kein Ausgangspunkt historischer Reflexion mehr - es hat selbst seinen Ort in der Geschichte. Auch das Denken ist niemals voraussetzungslos, sondern stets durch die Mannigfaltigkeit seiner Entstehungsbedingungen konditioniert. Es muss darum auch lernen, sich selbst neu zu verstehen. 192 Mit Nietzsche wird die philosophische Begrifflichkeit von Zeitlosigkeit auf Zeitlichkeit, vom Urteilen auf ein Wertschätzen und von der Logik des Verstehens auf die Spielräume im Verstehen umgestellt. Sie richtet sich explizit gegen den „Optimismus im Logischen, das Siegesbewußtsein in jedem Schlüsse, das Imperativische im Urtheil, die Unschuld im Glauben an die Begreifbarkeit im Begriff." 1 9 j Durch das Insistieren auf die „Begreifbarkeit im B e g r i f f , das heißt auf den durch Kategorialisierung und Subsumption gewonnen Erkenntnisgewinn, wird die Komplexität des Geschehens atomisiert und gleichzeitig Veränderung ausgeschlossen. Ähnlich wie bei Burckhardt die historischen sind für Nietzsche auch die philosophischen Begriffe „etwas Lebendiges". Metaphorisch wären sie „als Zellen zu bezeichnen", Zellen mit „einem Leibe herum", der seinerseits „nicht fest" sei. 194 Als „lebendige" oder mit Burckhardt „flüssige" Begriffe sind sie zugleich auch „offen". Sie müssen mithin nicht mehr definitorisch, sondern als abkürzende Symbole verstanden werden, als etwas, worin „sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst" (GM II 13, KSA 5, S. 317). Sie sind sowohl in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich konnotiert als auch in sich historischer Natur und insofern in ihrer Semantik immer schon als de-formiert anzusehen: Sie

Nachlass 1885, K S A 11, 36[27], S. 562. Vgl. dazu Stingelin, Martin, Historie als „Versuch das heraklitische Werden [...] in Zeichen abzukürzen". Zeichen und Geschichte in Nietzsches Spätwerk. In: Nietzsche-Studien 22 (1993). S. 28-41, der Nietzsches Genealogie auf ihre rhetorischen Implikationen und semantischen Strategien untersucht. 1.2 Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, a. a. O., S. 1 f., eröffnet seine Abhandlung mit dem „Begriff der Genealogie" und sieht Nietzsches im Hinblick auf Kants Vernunftkritik weitergehende Leistung darin, die Vernunft durch die „Begriffe von Sinn und Wert" radikaler kritisiert zu haben. Sinn, verstanden als bereits in sich differentielle „Wertschätzung" ist dann „kritisches und schaffendes M o m e n t in einem. Die auf ihr Element bezogenen Wertschätzungen bilden keine Werte, vielmehr Seins- und Existenzweisen derer, die urteilen und abschätzen, derart, dass sie den Werten als Prinzip dienen, in bezug auf die j e n e urteilen." 1.3 Nachlass 1885, K S A 11, 40[27], S. 643. " 4 Nachlass 1885, KSA 11, 40 [51], S. 654.

Burckhardt und Nietzsche zwischen Kulturgeschichte und Philosophie

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„ e n t z i e h e n s i c h d e r D e f i n i t i o n ; d e f i n i e r b a r ist n u r D a s , w a s k e i n e G e s c h i c h t e

hat''

(ebd.).

Die Flüssigkeit des Begriffs ermöglicht zwar die gedankliche Bewegung innerhalb einer Kulturgeschichte, in welcher „Bedingen und Bedingtsein so rasch und unmerklich miteinander wechseln und das wesentlich Vorherrschende bisweilen kaum zu ermitteln ist" 195 - sie ist in prinzipieller Hinsicht jedoch noch immer als das Defizitäre am Begriff gedacht. Burckhardt hat die Formulierung als bloße metaphorische Deskription seines Verfahrens verwandt und damit gleichsam zur Selbstermöglichung eingeführt. Er hat das der Formulierung eigentümliche Paradox indessen nicht auf mögliche epistemologische Konsequenzen befragt. Sein Fokus war zuletzt doch „mehr auf die Identitäten und Verwandtschaften" innerhalb einer quasisubstantiellen Geschichte gerichtet. Die beweglichen Begriffe waren ihm das Medium für ein möglichst organisches Nachbilden einer weitgehend von Übergängen und Wiederholungen gekennzeichneten kontinuierlichen Geschichte. Nietzsches Genealogie geht demgegenüber vom Immer-Anders-Werden aus, sie denkt die Objekte ihrer Analyse als bewegliche „Synthesis von ,Sinnen'". Synthesis steht hier nicht mehr für eine Verknüpfung nach allgemeinen Regeln, sondern für ein diskontinuierliches Anlagern und Sich-Überlagern von Bedeutungen unter wechselnden Bedingungen. Die Rekonstruktion ebendieser Bedingungen ist zugleich die Dekonstruktion des von diesen Bedingungen abhängigen Dinges oder Begriffs. Genealogie ist nicht die Geschichte der Evolution, Variation oder Modifikation eines als Synthesis gedachten „Dings" oder „Sinns", sie zeigt auf exemplarische Weise, „ w i e für j e d e n einzelnen Fall die E l e m e n t e der Synthesis ihre W e r t h i g k e i t

verän-

dern u n d sich d e m g e m ä s s u m o r d n e n , so das bald dies, bald j e n e s E l e m e n t auf K o s t e n d e r ü b r i g e n h e r v o r t r i t t u n d d o m i n i e r t , j a u n t e r U m s t ä n d e n E i n E l e m e n t [...] d e n g a n z e n R e s t v o n E l e m e n t e n a u f z u h e b e n s c h e i n t " ( G M II 1 3 , S . 3 1 7 ) . 1 9 6

Gerade die Genealogie der Moral, der das Zitat entstammt, ist exemplarisch für die neu gewonnene Korrespondenz von Geschichte und Philosophie. Unter Mithilfe soziologischer, ethnologischer, anthropologischer und psychologischer Perspektiven de-konstruiert Nietzsche in ihr die abendländische Allgemeinheits-

'' ,5 W B III ( B B ) , S. 62. 156

In: W a s ist S o z i o l o g i e ? M ü n c h e n 1970. S. 142, e r k l ä r t N o r b e r t E l i a s s e i n e n F i g u r a t i o n s b e g r i f f a m B e i s p i e l e i n e s F u ß b a l l s p i e l s w i e f o l g t : „ H i e r w i r d es b e s o n d e r s d e u t l i c h , d a s s z w e i i n t e r d e p e n d e n t e g e g n e r i s c h e G r u p p e n , die e i n a n d e r in e i n e r „ W i r " - u n d - „ S i e " - B e z i e h u n g g e g e n ü b e r s t e h e n , eine e i n z i g e F i g u r a t i o n m i t e i n a n d e r b i l d e n . D i e f l i e ß e n d e G r u p p i e r u n g d e r S p i e l e r d e r e i n e n Seite ist n u r v e r s t ä n d l i c h i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e r f l i e ß e n d e n G r u p p i e r u n g d e r S p i e l e r der a n d e r e n Seite. U m d a s Spiel zu v e r s t e h e n [ . . . ] , m ü s s e n die Z u s c h a u e r in d e r L a g e sein, den w e c h s e l n d e n P o s i t i o n e n d e r S p i e l e r b e i d e r S e i t e n in ihrer B e z o g e n h e i t a u f e i n a n d e r , a l s o e b e n d e r f l ü s s i g e n F i g u r a t i o n , die b e i d e S e i t e n bilden, zu f o l g e n . "

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

moral eben durch ihre Genealogie als Ausdruck gerade des Machtwillens, gegen den sie sich richtet. Sie re-konstruiert dabei jedoch zugleich die Existenz bestimmter Lebensformen und Sinnhorizonte innerhalb der komplexen Struktur einer sich verselbständigenden Moral. Genealogie als Geschichte der Sinnkonstitutionen ist nicht mehr genetisch orientiert. Sie ist die Geschichte differentieller und diskontinuierlicher Sinnverschiebungen, von denen jede angesichts veränderter Lebensbedingungen ein „Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige „Sinn" und „Zweck" nothwendig verdunkelt" (GM II 12, S. 314) wird. Jacob Burckhardt machte die Erfahrung, dass die philosophischen Begriffe der Identität und Kausalität die von ihm unterstellte kontinuierliche Organik der Geschichte nicht adäquat zu fassen vermochten. Lediglich für sein - ausdrücklich von ihm eingegrenztes - kulturgeschichtliches Anliegen suchte er „flüssige" Begriffe, erachtete dieselben aber prinzipiell als metaphorische Derivate. Nietzsches auf die konsequente Verzeitlichung klassischer ontologischer und erkenntnistheoretischer Fragestellungen abzielende Philosophie hat den Gedanken vom „flüssigen" Begriff aufgenommen und von ihm her das Verstehen selbst neu gedacht. Seine Konsequenz lautet schließlich: „Die Form ist flüssig, der „Sinn" ist es aber noch mehr ..." (ebd).

2.3 Die Fremdheit der Griechen Nach dem Verständnis der „aesthetischen Wissenschaft" der Geburt der Tragödie werden die Kunst und die Philosophie, die Wissenschaften und die Religion gleichermaßen als Formen der „Produktion von Schein" gefasst. „Schein" versteht sich dabei nicht mehr als defizitäres Korrelat gegenüber einem „Wesen". Im „Schein" erscheint im Gegensatz zum dualistischen oder dialektischen Denken der Tradition nicht mehr das „Sein". 197 An die Stelle der Repräsentation des Seins tritt die notwendige symbolische Verwandlung der „Leiden der Individuation", mithin eine Existenz, die - so der existentialästhetische Ansatz - den Schein eben als Schein will und braucht, um leben zu können. Nietzsches diesbezüglicher Begriff ist derjenige der „Transfiguration". 1 9 8

197

198

Vgl. dazu Simon, Josef: Der gewollte Schein. Zu Nietzsches Begriff der Interpretation. In: Djuric, Mihailo und Simon, Josef (Hg.): Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche. Wiirzburg 1996 (Nietzsche in der Diskussion). S. 62-75. Umstritten ist, ob und inwieweit das Transfigurationskonzept der Geburt der Tragödie selbst noch auf metaphysischen Voraussetzungen fußt. Zuletzt hat Porter: The Invention of Dionysus, a. a. Ο., in einer Analyse dessen, was Nietzsche seine "Artisten-Metaphysik" nannte, gezeigt, dass Nietzsche sich zur Abfassungszeit von GT bereits weitergehend von Schopenhauer emanzipiert habe, als bisher angenommen wurde. Ausgehend vom Fragment Zu Schopenhauer (KGW I 4, S. 418-427), in welchem Nietzsche das Denken seines vermeintlichen Erziehers als Rückfall hinter das transzendentalphilosophische Reflexionsniveau Kants deutet, konstatiert Porter bereits für die Frühzeit

Die Fremdheit der Griechen bei Burckhardt und Nietzsche

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Der europäischen Kultur ist es nach Nietzsche nicht gelungen, sich als Ausprägung bestimmter Transfigurationen im Blick zu behalten. Wissenschaft, Religion und Philosophie haben sich aus der Perspektive eines der Zeit enthoben gedachten Bewusstseins in zunehmendem Maße selbst absolut gesetzt und dabei ihre aus einer spezifischen Lebenswelt resultierenden Konstitutionsbedingungen aus den Augen verloren. Geprägt von dem Eindruck, dass das an Allgemeinbegriffen ausgerichtete, extramundane Denken der Tradition dem Leben nicht mehr gerecht zu werden vermag, versuchte die „Artisten-Metaphysik" des jungen Nietzsche in umfassenden Maße eine Sensibilität für die eigenen Lebensbedingungen wiederzugewinnen. Ziel der Unternehmung war zum damaligen Zeitpunkt nichts Geringeres als eine Erneuerung der eigenen Kultur. Im Kontext dieser Unternehmung hat Nietzsche - wie im vorhergehenden Kapitel dargestellt - anhand der attischen Tragödie ein Griechenbild entfaltet, das vor allem zeigt, wie konsequent sich eine Kultur die Fragilität ihrer eigenen Grundlagen symbolisch vergegenwärtigte. Die kultivierte Wiederholung „dionysischer" Fremdheitserfahrungen ermöglichte und gewährleistete zuletzt jenes Gespür für die Grenzen der eigenen Identität, die sich in den Meisterwerken griechischer Kunst so eindrucksvoll manifestiert hat. Mit der spekulativen ästhetischen Begrifflichkeit von G T ließe sich sagen, dass den Griechen aus der „Duplicität" von „dionysischer" und „apollinischer" Weltwahrnehmung jene unvergleichliche „plastische Kraft" erwuchs, von der Nietzsche sich nicht minder beeindruckt zeigt als die humanistisch-klassizistische Tradition. Wenn die Perspektive des Philosophen dennoch als antiklassizistisch beschrieben werden kann, dann nicht, insofern sie die exzeptionelle Bedeutung hellenischer Kultur und hellenischer Denkweisen für die abendländische Sinnbildung leugnen oder marginalisieren würde. Sie ist demgegenüber eher als Dekonstruktion der Kategorie „Klassik" zu verstehen, einer Kategorie, die zuletzt aufgrund ihrer weltanschaulichen und normativen Implikationen ihrerseits nur als Produkt einer einseitigen, nämlich „klassizistischen" Rezeption ersichtlich wird. Maßgebliche Etappen dieser Rezeption sind die von Alexandria ausgehende Kanonbildung, die selektive Vermittlung der graecitas durch Rom, die im Zeichen des Humanismus stehende „Wiederentdeckung" der Antike durch die Renaissance und nicht zuletzt der von Winckelmann inspirierte deutsche Klassizismus mit all seinen romantischen, aufklärerischen und idealistischen Facetten. Zahlreiche Nachlassfragmente zwischen 1869-1875 belegen, wie Nietzsche diese Traditionsbildung rekapituliert, sich in ihr zu situieren versucht und dabei doch nicht in ihr wieder finden kann, um sich zuletzt als dasjenige Glied einer Kette zu thematisie-

Nietzsches "a breach with Schopenhauer" (S. 59). Die metaphysikträchtige Grundstruktiirieriing von G T wird von Porter als bloßer Vordergrund interpretiert, den Nietzsche innerhalb der Abhandlung fortwährend durchkreuzt oder sogar ironisiert. Zuletzt gilt: "Limits in Nietzsche's Birth of Tragedy are radically open boundaries" (S. 110).

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

ren, in dem sich eine spezifische Rezeptionsform im Durchlauf ihrer bisherigen Etappen selbst transparent wird. 199 In ihrer Durchsichtigkeit gibt sich die Rezeption schließlich als „Verkennung" zu erkennen, ihre Etappen erscheinen nunmehr als „Stufen dieser Verkennung". 2 0 0 Gegenüber der „traditionellen Verklärung" wird als neuer Anspruch formuliert: „ D a s g r i e c h i s c h e A l t e r t h u m ist a l s G a n z e s n o c h n i c h t t a x i r t [ . , . ] . " 2 0 1

Im Folgenden soll untersucht werden, ob und inwiefern Nietzsche diesen an sich selbst gerichteten Anspruch einlöst. Dabei wird ersichtlich, dass der Philosoph seine Terminologie aus GT schon bald nach deren Veröffentlichung immer mehr zurücknimmt. Die Korrelation „dionysisch" - „apollinisch" bleibt als solche zwar leitende Differenz, wird im Hinblick auf die Griechen jedoch zunehmend mit phänomenaler Konkretion angereichert. Die dementsprechende Ausgangssituation wird einem Fragment von 1871 wie folgt charakterisiert: „ D i e Griechen haben auf uns bis jetzt bloß mit der einen Seite ihres W e s e n s gewirkt".202

Der anderen, fremden Seite der Hellenen, die bis dahin mit der Semiotik „Dionysos" eher angedeutet als expliziert war, gilt bis zum Ende der siebziger Jahre Nietzsches Hauptaugenmerk. Die am Leitfaden der Basler Lehrtätigkeit vorgenommene Erschließung der griechischen Lebenswelt versteht sich wesentlich kulturgeschichtlich - und ist dabei wiederum maßgeblich von den Studien Jacob Burckhardts inspiriert. Nietzsche hat nachweislich Vorlesungen Burckhardts zur griechischen Kulturgeschichte besucht, und ab 1876 vor allem von einer eigens für ihn angefertigten kompletten Vorlesungsmitschrift profitiert. Diese scheint gewissermaßen Handbuchcharakter besessen zu haben, diente zumindest aber als häufiger Leitfaden eigener Reflexionen. So berichtet etwa Malwida von Meysenbug davon, dass Nietzsche anlässlich seines krankheitsbedingten Aufenthaltes in Sorrent im Freundeskreis Abend für Abend über das Griechentum referierte, diese Referate aber ihrerseits in Form mündlicher Kommentare zu ebendieser Vorle-

™ Die Tendenz eines bloß kanonisierenden oder nachahmenden Klassikerbezugs ohne kulturierende W i r k u n g diagnostiziert Nietzsche etwa bei „den alexandrinischen Gelehrten, [...] bei allen den Sophisten des ersten und zweiten Jahrhunderts, bei den Atticisten." Abgehoben davon wird die „Verehrung des klassischen Alterthums, wie sie die Italiäner zeigten", die zwar als „grossartiges Beispiel der Don Quixoterie" angesehen wird, für die aber im Hinblick auf ihren Z u s a m m e n h a n g mit der Kultur der Renaissance gilt: „so etwas ist also Philologie besten Falls." Für die eigene Praxis wird zuletzt die Konsequenz gezogen: „Eine Kultur, welche der griechischen nachläuft, kann nichts erzeugen." Nachlass 1875, KSA 8, 7[1], S. 121. 2 "" Nachlass 1875, KSA 8, 3[15], S. 18 f. 201 Nachlass 1875, KSA 8, 3[14], S. 18. 2,12 Nachlass 1870-71, 7[89], K S A 7, S.158.

Die Fremdheit der Griechen bei Burckhardt und Nietzsche

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sungsmitschrift abgehalten wurden. 2 0 3 Insofern soll die folgende Rekonstruktion der in den siebziger Jahre entstehenden grundlegenden Hinsichten Nietzsches auf die griechische Kultur vor dem Hintergrund der Griechischen Kulturgeschichte vorgenommen werden. Wenn diese Folie selbst dabei nicht mehr eingehender thematisiert wird, dann deshalb, weil keine auf direkte Einflüsse abzielende Forschung im Mittelpunkt steht. Auch hier ist die burckhardtsche Vorlage primär dort ausschlaggebend, wo Nietzsche sie jenseits zahlreicher Parallelen verlässt. 204

2.3.1 Agonalität und Individualität Bei Burckhardt und Nietzsche ist die zentrale Kategorie für die Erschließung der griechischen Welt diejenige der agonalen Verfasstheit. 205 Als Interpretationsschlüssel ist diese Kategorie in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Sie provoziert und verunmöglicht das humanistische Pathos einer zeitgenössischen Weltanschauung, die sich als legitimer Nachfolger, j a als aktualisierte Version des griechischen Menschenbildes zu verstehen bemüht ist. Im Hinblick auf seinen interpretatorischen Gehalt war für Nietzsche „das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes". Im Hinblick auf die jener Interpretation zugrunde liegende Ideologie galt: „reiner gesehen ist es ein Beweis g e g e n den Humanismus [,..]." 2 0 6 Als strukturelle Kategorie wiederum ersetzt sie ein ästhetisch eingeschränktes Antikebild durch eine grundlegende Reflexion auf die gesellschaftliche Dynamik der griechischen Kultur. Anstelle einverleibender Deutungen

203

Meysenbug, Malwida von: Der Lebensabend einer Idealistin (1898), in: Memoiren einer Idealistin, Bd. 2, Berlin 1921, S. 239-245. Weitere Belege dafür finden sich bei Bauer, Stefan: Polisbild und Demokratieverständnis., a .a. Ο., S. 78 (Fußnoten 252 und 253). 21,4 Außer den bereits angeführten Arbeiten ist für eine Auseinandersetzung mit der Griechischen Kulturgeschichte G K zu berücksichtigen: Janssen, Evert Μ.: Jacob Burckhardt und die Griechen. Jacob Burckhardt-Studien. 2. Teil. Assen 1979. Pointiert fasst Flaig, Egon: Angeschaute Geschichte., a. a. O., S. 39, vor seiner ideologiekritisch-dekonstruktiven Lektüre von GK die „Resultate" des Burckhardtschen Griechenbilds zusammen: „Die Griechen haben eine höhere Stufe der Individuation - daher einen weiteren Aktionskreis und einen höheren Grad an Leiden - als die früheren Völker erreicht; sie haben uns ihre Sehweise vererbt und eine Kontinuität der Weltenentwicklung gewissermaßen erzeugt, die von den Gebildeten in Erinnerung zu halten ist." - In ebendieses Konglomerat aus Analyse, Unterstellung und Anspruch soll auch Nietzsche im Folgenden zunächst eingelassen werden. 205 Vogt, Ernst, Nietzsche und der Wettkampf Homers. In: Antike und Abendland 11 (1962). S. 103113, hat schlüssig nachgewiesen, dass Nietzsches Interesse am Agonalen nicht erst von Burckhardt geweckt wurde, sondern bereits in seiner Beschäftigung mit der antiken Schrift zum Wettkampf Homers mit Hesiod angelegt ist, die ihrerseits bis mindestens 1867 zurückreicht. Vogts These lautet: „An dem im Certamen geschilderten Wettkampf Homers und Hesiods hat sich Nietzsches Auffassung von Funktion und Bedeutung des Agonalen innerhalb der Welt des frühen Griechentums entwickelt" (S. 112). 2 '"· Nachlass 1875, KS A 8, 5 [60], S. 58.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

wächst dem Betrachter durch diesen neuen Zugriff eine bis dahin kaum für möglich gehaltene Distanz zu. Das agonale Ethos, das die Griechen im einzelnen trennt und im allgemeinen verbindet, spricht sich in der heroischen Welt der homerischen Epen noch gleichsam undifferenziert aus: Stellvertretend für beide Seiten des trojanischen Krieges bringen der Lykier Glaukos und Achilles ein durch Rekurs auf die Väter untermauertes Selbstverständnis zum Ausdruck, das ganz und gar darauf abzielt a'tev άριστβύειν- και ύπείροχον e p p e v a i άλλων - „allzeit bester zu sein und herauszuragen vor andern". 2 0 7 Burckhardt sieht damit „das allgemeine Motto für das ganze spätere Griechentum gegeben." 2 0 8 Während jener aber im Hinblick auf das angeführte Selbstbild ausführt, dass es „die völlig ungebrochene und naive Selbstsucht der menschlichen Natur" darstelle (ebd.), scheint Nietzsche auf diese Form substantialisierender anthropologischer Rückanbindung verzichtet zu haben. Die homerische Welt ist ihm kein anthropologischer Urzustand, sondern eine von der Allgegenwart des Krieges geprägte Sphäre, in der sich der Agon vornehmlich als heroischer Zweikampf um Leben und Tod, das Machtgefühl des Siegs wiederum als moralisch unreflektierter „Triumph auf dem Leichnam des erlegten Feindes" (Der griechische Staat (GS), KSA 1, S. 771) darstellt. Die befremdliche Liebe zum Detail, die Homer im Hinblick auf Tötungsszenen an den Tag legt, 209 die präzise Darstellung gerade an den Stellen, in welchen sich etwa die Protagonisten Achilles und Odysseus im Drang nach Ehrwahrung zu extremen, jegliches Maß gezielt überschreitenden Handlungen hinreißen lassen, verweist insofern eben nicht auf Akte „naiver Selbstsucht", sondern auf eine Dimension faktischer kultureller Realität, auf eine soziale Praktik, die das Korrelat eines seinerseits nicht mehr reflektierten Kodex ist. 210 Der „Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust", den Nietzsche in Homer's Wettkampf an den Griechen konstatiert, ist von Beginn gegen das philhellenisch inspirierte Humanismuskonzept gerichtet, dem Humanität als das gilt, „was den Menschen von der Natur a b s c h e i d e t und auszeichnet". Die ganze Fragwürdigkeit der Absolutsetzung der Differenz „Natur" - „Kultur" und dem damit einhergehenden Verständnis einer Überwindung der Natur durch Kultur provoziert Nietzsche dazu, den Bereich des Kulturellen zunächst als Modifika-

21,7 208 2m 210

Homer: Ilias VI, 2 0 8 und XI, 784. Griechische Kulturgeschichte (GK). Bd. 4. S. 32. Vgl. dazu GS, KSA 1, S. 771. Vgl. dazu Finley, Moses: Die Welt des Odysseus (Or.: The World of Ulysses. N e w York 1954). Übers, von Anna-Elisabeth Berve-Glauning. Erw. Fassung, Frankfurt a. M. 1992 , S. 118: „Der Heldenkodex war vollständig und eindeutig, so dass weder der Dichter noch seine Gestalten j e Gelegenheit hatten, über ihn zu diskutieren." Insofern ware dann auch Tracy Β. Strongs: Transfiguration, a. a. O., S. 147, für Nietzsche geltend gemachtes Homerbild nicht präzise genug formuliert: " H o m e r ' s achievement consists in founding a society based on the agon, he achieves a magnificent thing." Nietzsche hat nicht in der Person Homer den Erfinder des Agons gesehen, sondern in den homerischen Epen den exemplarischen Ausdruck des agonalen Ethos erblickt.

Die Fremdheit der Griechen bei Burckhardt und Nietzsche

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tion des Natürlichen zu betrachten. Gerade die Griechen sind ihm dafür exemplarisch, dass „die „natürlichen" Eigenschaften und die eigentlich „menschlich" genannten [...] untrennbar verwachsen" sind (HW, KSA 1, S. 783). Angestrebt ist dabei nicht die biologistische Renaturalisierung der Spezies Mensch, sondern deren Rückanbindung an eine vorwiegend als Un-Kultur empfundene oder aber romantisch verklärte Natur. Ziel dieser „physiologischen" Perspektive ist der Gewinn eines Spielraums gegenüber zentralen Modi kultureller Selbstauslegungen, demjenigen einer postulierten Vernunft in der Geschichte, dem einer moralischen Rechtfertigung derselben und demjenigen einer Autonomie des kulturellen Feldes. In diesem ateleologischen und entmoralisierten Spielraum wiederum lassen sich die Bedingungen als auch die Funktionsweise einer Kultur neu rekonstruieren. Der Begriff des Wettkampfs ist ein aus diesem Spielraum resultierender Leitbegriff. Burckhardts denkwürdigem Kapitel zum Menschen des archaischen Zeitalters, überschrieben „Der koloniale und der agonale Mensch", exponiert in eindringlicher Weise einen Typus Mensch, der ganz und gar dem entspricht, was in der Einleitung zu GK emphatisch als „der ewige Grieche" bezeichnet wurde. Gegenüber dem „heroischen" Menschen Homers wirkt das Agonale erst in der Zeit des 7. und 6. Jahrhunderts kulturbildend. Erst durch die - wie auch immer - einsetzende Institutionalisierung eines zuvor noch anthropologisch charakterisierten Verhaltens wird für den Basler Historiker die griechische Kultur als solche generiert. Für die Archaik ist kennzeichnend, dass sie durch „die Verwirklichung des Agonalen einen neuen Begriff für das Hellenentum geschaffen hat". 2 " Nietzsche, der zwar im Gegensatz zu Burckhardt die von Homer reflektierte Lebenswelt ganz dem archaischen Griechentum zuschreibt und seinerseits von der „vorhomerischen Welt" chthonischen Dunkels abzuheben bemüht ist, wertet ansonsten in gleicher Weise um. Erstaun 1 icherweise wird jedoch zunächst Hesiod von Nietzsche als derjenige angeführt, dessen Erislehre das zwischen Vernichtung und Kulturierung changierende Potential des Agons erstaunlich präzise reflektiert. Was Burckhardt als Institutionalisierung des Natürlichen zu fassen versuchte, erscheint bereits bei Hesiod in einer ausgeprägt kulturspezifischen Sichtweise, wenngleich im Medium der moralisierenden Belehrung. 2 1 2 In der recht unvermittelt auf das Prooimium folgenden, sachlichen Eingangssequenz seiner Werke und Tage hebt dieser sogleich darauf ab, dass nicht eine - dies also scheint der common sense gewesen zu sein - , sondern vielmehr zwei Erisgöttinnen auf der Erde leben und das menschliche Zusammenleben regulieren. 213 Die eine, die auf „schlimmen Krieg und Streit"

211 212

211

GK 4, S. 62. Adressiert sind die Werke und Tage an den Bruder Perses, von dem sich Hesiod bei der Aufteilung des väterlichen Erbes übervorteilt sali. Hesiod: Opera et dies. V 11-26. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Abschnitt.

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I. T e i l : V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

(ττόλεμόν Te κακόν και δήριν) aus ist, wird dabei die „grausame, furchtbare" (σχ^τλιη) genannt, „die nicht einer der Sterblichen liebt" - die Differenz zu Homer ist unübersehbar. Zeus, der in den homerischen Epen noch lustvoll dem Krieg der gegnerischen Parteien zusieht, tritt bei Hesiod erst als Geber der anderen, der guten Eris in Erscheinung. Sein Status als höchste olympische und für die Menschen bedeutendste Gottheit erwächst ihm in der hesiodschen Interpretation aus dieser Kultur stiftenden Maßnahme. Die gute und viel bessere (πολλοί ά μ ά ν ω ) der Eriden verlagert den Wettkampf von der Ebene des Krieges in den Bereich des nichtkriegerischen menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens. In eben dieser Ausweitung des Prinzips der Agonalität vom Selbstverständnis einer aristokratischen Elite hin zur Grundstruktur der gesamten griechischen Lebenswelt liegt die Tatsache begründet, dass Nietzsche in seiner mit Homers Wettkampf überschriebenen Studie dennoch Hesiod zum Kronzeugen seiner Argumentation macht. 214 Homers Dichtungen repräsentieren den Gedanken des Agons einseitig, insofern seine Protagonisten im Drang nach Auszeichnung vor anderen auch die extremsten Optionen wahrnehmen. Hesiod ist ausgehend von seiner bäuerlichen Lebenswelt demgegenüber darum bemüht, ein Gerechtigkeitskonzept als Korrektiv gegen die hybriden Tendenzen des ungezügelten άριστεύείν zu errichten. Seine aus konkreter Lebenserfahrung gewonnene moralische Perspektive hat es ihm ermöglicht, die Agonalitätsideologie einer bestimmten sozialen Gruppe in den Gedanken einer agonalen Sozialität als solcher zu verwandeln. 215 Nietzsche befindet diesen Gedanken für wert, „dem Kommenden gleich am Eingangsthore der hellenischen Ethik eingeprägt zu werden" (HW, KSA 1, S. 786). Seine auf dieses Zitat folgende Übersetzung der Verse 11-26 aus den Werken und Tagen bildet gleichermaßen den Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Abhandlung. Ahnlich wie zuvor Der griechische Staat will auch diese Vorrede zu einem ungeschriebenen Buch das Fremdartige der Griechen zum Ausdruck bringen. Hatte erstere noch die Unproduktivität der klassizistischen Kategorie der Humanität im Hinblick auf das befremdliche Selbstverständlichkeit „inhumaner" Prakti-

214

G e r a d e weil u n s d a s A g o n a l e in den a n t i k e n Q u e l l e n a u s s c h l i e ß l i c h als V e r h a l t e n s m o d u s des griec h i s c h e n A d e l s e n t g e g e n t r i t t , s c h e i n t N i e t z s c h e die A n b i n d u n g an H e s i o d g e s u c h t zu h a b e n , u m es als ein ü b e r die s p e z i f i s c h e S t r u k t u r e i n e r Elite h i n a u s g e h e n d e s C h a r a k t e r i s t i k u m z u m M o d e l l allg e m e i n g r i e c h i s c h e r I n d i v i d u a t i o n selbst e r k l ä r e n zu k ö n n e n . - S t e i n - H ö l k e s k a m p , E l k e : A d e l s k u l t u r u n d P o l i s g e s e l l s c h a f t . S t u d i e n z u m g r i e c h i s c h e n A d e l in a r c h a i s c h e r u n d k l a s s i s c h e r Zeit. S t u t t g a r t 1989, z e i g t s c h l ü s s i g , w i e sich d a s k o m p e t i t i v e V e r h a l t e n d e r Eliten z u n ä c h s t a u ß e r h a l b d e s e n t s t e h e n d e n p o l i t i s c h e n R a u m s b e w e g t , w i e die D e s i n t e g r i e r t h e i t des p r e s t i g e o r i e n t i e r t e n A d e l s den p o l i t i s c h e n I n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g s p r o z e s s stört u n d g e r a d e d a d u r c h d y n a m i s i e r t u n d w i e z u l e t z t i n n e r h a l b e i n e r n u n m e h r e t a b l i e r t e n P o l i s g e s e l l s c h a f t die A u s ü b u n g v o n Ä m t e r n u n d K o m p e t e n z e n e i n e A t t raktivität e r r e i c h t hat, d a s s sich d a s a g o n a l e L e b e n d e r A r i s t o k r a t i e v o n d a an w e i t g e h e n d im M e d i u m des P o l i t i s c h e n v o l l z i e h e n w i r d .

215

A u c h S t r o n g : Politics, a. a. Ο., S. 150 f., d e u t e t H e s i o d in der Lesart N i e t z s c h e s als " a g o n i s t i c o p p o n e n t o f H o m e r " (S. 150). G e g e n ü b e r d e r a r i s t o k r a t i s c h k r i e g e r i s c h e n A u s p r ä g u n g d e s A g o n g e d a n k e n s in d e n h o m e r i s c h e n E p e n " r e t a i n s [ H e s i o d ] t h e a g o n i s t i c p r i n c i p l e as the b a s i s o f c u l t u r e " u n d " o p e n s the c o n t e s t u p to p o t e n t i a l l y m u c h richer v a r i a t i o n s " (S. 151).

D i e F r e m d h e i t der G r i e c h e n bei B u r c k h a r d t u n d N i e t z s c h e

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ken im hellenischen Leben herausgestellt, so wird Nietzsches eigene und provokante Deutung griechischer Humanität nunmehr durch die Kategorie des Wettkampfs präzisiert und - was ihre ideologischen Implikationen betrifft - zumindest partiell zivilisiert. Die Abhandlung verweist dabei mit Nachdruck auf die dem Wettkampfgedanken implizite „Färbung einzelner ethischer Begriffe" - angemerkt wird anschließend der bezeichnend moralinfreie Gebrauch der Eigenschaftsworte „Neid", „Groll", „Eifersucht" und „Ehrgeiz". Diese eigentümliche „Färbung" - so Nietzsches Diagnose - „scheidet die griechische Welt so sehr von der unseren" (ebd.). Beide Vorreden verfahren dem Duktus der Argumentation nach programmatisch antiklassizistisch und zielen primär auf das Freilegen einer bisher verdrängten oder vergessenen Alterität der Griechen. Für Nietzsche hatten sie lediglich positionsbildenden und vorläufigen Charakter, eine Veröffentlichung über den Adressatenkreis - der sich auf Cosima und Richard Wagner beschränkte - war nicht intendiert. Nietzsche hat im Zeitraum der gesamten Basler Lehrtätigkeit den Plan eines eigenen das Griechentum betreffenden kulturgeschichtlichen Projekts verfolgt. Inwieweit ihn die zeitgleichen Untersuchungen und Veranstaltungen des auch in Nietzsches Augen für dieses Projekt wohl berufener erscheinenden Jacob Burckhardt nicht nur inspirierten, sondern auch an der Leistungsfähigkeit seiner Standpunkte, theoretischen Mittel und fachwissenschaftlichen Einzelkenntnisse zweifeln ließen, ist nicht mehr rekonstruierbar - unwahrscheinlich ist es nicht. Der umfangreiche Nachlass aus dieser Zeit macht überdies sichtbar, dass Nietzsches Perspektiven trotz aller Breite des Spektrums kulturgeschichtlicher Einzelaspekte zu selten eine über kurze konzeptionelle Skizzen und schlagwortartige Konturierungsversuche hinausgehende Entwicklung finden und sich stattdessen stets mit einem um Aktualisierung bemühten kulturkritischen Gegenwartsinteresse verbinden. 216 Burckhardt konnte mit seiner antiquarischen Befähigung zur exzessiven Auseinandersetzung mit den Originalquellen, seinem - in den Welthistorischen Betrachtungen nicht zu Unrecht für den Historiker eingeforderten - Hang zur „Kontemplation", d.h. zum aktualisierungsfeindlichen, betrachtenden Sich-LeitenLassen von der antiken Überlieferung, jene Zusammenhänge materialreich entwickeln und verdeutlichen, die der Konsequentialismus des Zukunftsphilologen

216

D i e s e r A s p e k t f i n d e t s i c h v o r a l l e m bei Porter, J a m e s 1.: N i e t z s c h e a n d t h e P h i l o l o g y o f t h e F u t u r e . , a. a. O . , i m m e r w i e d e r . S e i n e im H i n b l i c k a u f N i e t z s c h e s p h i l o l o g i s c h e n I m p e t u s f o r m u l i e r t e T h e s e , d i e sich z a h l r e i c h variiert f i n d e t , lautet: " P h i l o l o g y d o e s n o t u n c o v e r t h e past. It d i c o v e r s t h e light t h e p r e s e n t in t h e light o f the p a s t ' s e n d l e s s f u t u r i t y " ( S . 14). O d e r a n d e r s : " N i e t z s c h e ' s p h i l o l o g i c a l w r i t i n g s , w h i l e t h e y g a z e u p o n the past, are in f a c t f a c e d t o w a r d the p r e s e n t and the f u t u r e " (S. 15). D i e - d u r c h a u s p r o d u k t i v e - T e n d e n z , N i e t z s c h e s P h i l o l o g i e als K u l t u r k r i t i k zu i n t e r p r e t i e r e n , w i r d i n d e s s e n s p ä t e s t e n s an d e m P u n k t p r o b l e m a t i s c h , an d e m P o r t e r z u g l e i c h a u c h N i e t z s c h e s p h i l o s o p h i s c h e n I m p e t u s ( s e l b s t d e r S p ä t z e i t ) a u s s c h l i e ß l i c h v o n d e r f r ü h e n p h i l o l o g i s c h e n P r a x i s h e r zu verstehen versucht.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

Nietzsche sogleich auf die Relevanz für das eigene, kulturelle und individuelle Selbstverständnis befragte. Dessen selbst auferlegte Aufgabe, Philologie in Philosophie zu transformieren, impliziert ferner geradezu notwendig Fragestellungen und Frageweisen, die das Vorhaben einer die Griechen betreffenden Gesamtdarstellung transzendieren. Stationen dieser Transformationen sind neben den Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern vor allem die Ausarbeitungen zu zwei ebenfalls unausgeführten Schriften: die als Unzeitgemäße Betrachtung geplante Abhandlung Wir Philologen2^, ein mit „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe, dargestellt an den ältern griechischen Philosophen" 218 überschriebener, umfangreicher Fragmentkomplex und die mit ihm zusammenhängende Studie zur Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Spätestens seit Mitte der siebziger Jahre beginnt Nietzsche aus einem jetzt genuin philosophischen Interesse heraus, die griechische Kultur maßgeblich von den Philosophen, insbesondere den frühgriechischen Denkern her zu verstehen. Der Plan für eine „Gesammtabrechnung des Altertums" besteht noch immer, wird zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mehr in Form einer kulturgeschichtlichen Darstellung vorgestellt, sondern als überhistorische Reflexion: „Es müssen philosophische Köpfe darüber kommen f...]." 219 Was die nachgelassenen Fragmente der Jahre 1871 bis 1875 trotz der vordergründigen Spontaneität und Diversität der Notate eint, ist das Bemühen, alle Phänomene der griechischen Lebenswelt von der Zentralperspektive des Agons, der „Einheit der Griechen in den Normen des Wettkampfes" 220 aufzuschließen. Politische Praktiken und die Bildung von Institutionen werden ebenso vom agonalen Ethos als dem entscheidenden Stimulans im griechischen Leben zusammengehalten wie die künstlerisch-intellektuellen Ausprägungen der somit als einzigartig ausgewiesenen Kultur. 221 Für Nietzsches Verständnis des Wettkampfes gilt es festzuhalten, dass dieser kein Verhalten zwischen Individuen meint, sondern ein soziales Schema bezeichnet, in dem sich die spezifisch griechischen Formen von Individualität überhaupt erst etablieren. Der Agon „entfesselt das Individuum." 222 Als das medium comparationis ist dieser nicht auf ultimative Siege ausgerichtet, sondern auf die Schaffung von Distinktionen und Differenzen. Dem omnipräsenten Hang zur unbeding-

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218 219 220 221

222

Zur philologisch-biographischen Rekonstruktion des Projekts vgl. Cancik, Hubert, „Philologie und B e r u f . Zu Formengeschichte, T h e m a und Tradition der unvollendeten vierten Unzeitgemäßen Friedrich Nietzsches. In: ,Centauren-Geburten', a. a. O., S. 81-96. Nachlass 1875, KSA 8, 6[5]-6[51], S. 98-120. Nachlass 1875, KSA 8, 5[148], S. 79. Nachlass 1872, KSA 7, 16[22], S. 402. Wie sich Nietzsches Blick auf die, ihrerseits aus dem Agon gedeuteten, griechischen Kunstwerke zu einer eigenen agonal orientierten ästhetischen Betrachtungsweise verdichtet, zeigt Sowa, Hubert. Agonale Kunst, Nietzsches Wendung vom künstlerischen zum ästhetischen Urteil. In: „Jedes Wort ist ein Vorurteil", a. a. 0 „ S. 215-226. Nachlass 1872, KSA 7, 16[22], S. 402.

Die Fremdheit der Griechen bei Burckhardt und Nietzsche

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ten Selbstdarstellung und Auszeichnung vor dem Anderen entspricht dennoch ein gemeinsames Ethos der Konkurrenz. Dieses ist nicht an festen Wertzuschreibungen und statisch reglementierten Lebensläufen orientiert, sondern durch die ungerichtete Praxis des ά ρ ί σ τ ε ύ ε ι ν , in der sich die soziale Existenz und der sozialen Status am - stets nur temporalen - Erfolg innerhalb des breiten Spektrums von Konkurrenzsituationen bemisst. Was sich als Kriegszustand zwischen den vereinzelten Poleis, als Stasis zwischen den verfeindeten Parteien innerhalb der Poleis, als sportlicher und musischer Agon, als Rednerduell auf der politischen Bühne und zuletzt noch als dialektisches Gespräch zu erkennen gibt, gehorcht nach Nietzsche stets dem „Gedanken des Wettkampfes". Die im Verhältnis von individueller Profilierungssucht und Anerkennung der gemeinschaftlich agonalen Ausgangssituation angesiedelte permanente Spannung hat, sofern sie in der Balance gehalten werden konnte, zu jenen spezifisch griechischen Leistungen geführt, die auch Nietzsche ebenso wie seine klassizistischen Vorgänger rückhaltlos bewunderte. Zugleich aber war in derselben Spannung stets auch das Risiko asozialer und tyrannischer Regressionen angelegt, mithin das Risiko politischer oder geistiger Tyrannei: „ D a s A g o n a l e ist a u c h d i e G e f a h r bei aller E n t w i c k l u n g ; es ü b e r r e i z t d e n T r i e b z u m S c h a f f e n . - D e r g l ü c k l i c h s t e Fall in d e r E n t w i c k l u n g , w e n n sich m e h r e r e G e n i e s g e g e n s e i t i g in S c h r a n k e n h a l t e n . " 2 2 3

Konsequenzen „funktionierender", mithin ausbalancierter Agonalität sind einerseits eine fortschreitende Partikularisierung und Selbstbezogenheit, zum anderen soziale, politische und intellektuelle Dynamisierungsprozesse außergewöhnlichen Ausmaßes. Nietzsche und Burckhardt haben bekanntlich von dieser Perspektive aus den panhellenischen Polyzentrismus der archaischen Poleis des siebenten und sechsten Jahrhunderts gegenüber den hegemonialen und zentralisierenden Tendenzen einer von Sparta oder Athen ausgehenden Dominanz bevorzugt und in Form einer griechischen „Eigentlichkeit" beschrieben. Den ultimativen Drang zur Eigenständigkeit im griechischen Leben und Selbstverständnis hat schon Aristoteles im Hinblick auf die Polis trefflich als Komplex aus Autarkie, Autonomie und Eleutherie gedeutet und damit die Momente ökonomischer Selbständigkeit, administrativer und. legislativer Eigenständigkeit sowie „außenpolitischer" Souveränität in den Vordergrund gestellt. Das politische „Genie" der Griechen als weitere konstitutive Kennzeichnung Nietzsches ist in exemplarischer Weise Ausdruck des Agonalen und zugleich bändigendes Korrektiv desselben. Einerseits zeigt sich die „furchtbare Entfesselung des politischen Triebes" als „blutige Eifersucht von Stadt auf Stadt, von Partei auf Partei", als „mörderische Gier jener kleinen Kriege" und zuletzt noch als „Tri-

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" Nachlass 1875, KSA 8, 5[146], S.78.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

umph auf dem Leichnam des erlegten Feindes" (GS, S. 771) in unverstellt aggressiver Form. Andererseits jedoch sind die dem archaische Griechentum eigentümlichen Gesetzeskodifikationen und der damit einhergehende und daran anknüpfende Prozess der Ausdifferenzierung von Kompetenzen und der politischen Institutionalisierung bewusste Einschränkungen des Agonalen zugunsten der Lebensfähigkeit der Gemeinschaft. So wie sich erst aus den zahlreichen bürgerkriegähnlichen Staseis und Blutrachefehden „der Begriff des griechischen Rechts entwickelt hat" (HW, S. 785), so scheint auch den griechischen Institutionen nach Nietzsche zunächst weniger ein demokratischer Gedanke innezuwohnen, als vielmehr das Bedürfnis, die Agonalität so zu strukturieren, dass sie tyrannische Konsequenzen verunmöglicht und für die Gemeinschaft fruchtbar wird. 224 In Homers Wettkampf dient der Ostrakismos, das Scherbengericht, als Beispiel für eine den Agon im politischen Leben angesichts veränderter politischer Realitäten regulierende Institution. Während sich dessen Sinn in klassischer Zeit auf die Funktion eines „Ventils" beschränkt, mit dem das Parteihaupt zu eliminieren ist, das sich im politischen Kampf am ehesten „zu zerstörerischen Mitteln und zu bedenklichen Staatsstreichen" gereizt fühlen könnte, erblickt Nietzsche den „ursprünglichen Sinn dieser sonderbaren Einrichtung" in der Funktion eines „Stimulanzmittels". 225 Der „überragende Einzelne" 226 gilt in dieser Interpretation als Gefahr für die erwünschte agonale Ausgangssituation als solche. Seine Ostrakisierung ist nötig, „damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache". Nietzsches idealtypische Vorstellung einer agonalen Situation setzt eine Pluralität von Begabten und Ambitionierten voraus. Erst deren Gegeneinanderagieren erzeugt und variiert die dynamischen Verhältnisse der griechischen Lebenswelt. Der innergriechische Kulturierungsprozess basiert auf der Existenz „ m e h r e r e r Genies [...], die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes

224

Insbesondere vor diesem Hintergrund wird Nietzsches Agonbegriff in der gegenwärtigen amerikanischen Nietzsche-Forschung auch auf seine politische Aktualität beziehungsweise Aktualisierbarkeit hin befragt. So erwägt Hatab, Lawrence J.: A Nietzschean Defense of Democracy An Experiment in Postmodern Politics. Chicago, La Salle 1995, im Kapitel 4 seiner Arbeit - betitelt "Agonistic D e m o c r a c y " - , im Anschluss an Nietzsches Griechendeutung, auch dessen Agonbegriff für ein Demokratieverständnis fruchtbar zu machen, das egalitäre Beschränkungen zu Gunsten eines, kompetitiv strukturierten Anspruchs auf Verschiedenheit überwinden will. - Einen hilfreichen Überblick über die vielfältige amerikanische Diskussion zum T h e m a "Nietzsche and Agonal Democracy" bietet Siemens, Herman, Nietzsche's Political Philosophy: A Review of Recent Literature. In: Nietzsche-Studien 30 (2001). S. 509-526. 225 Dies dürfte zugleich eine der ersten eindeutig genealogisch zu nennenden Argumentationsfiguren Nietzsches sein, legt man die „Theorie" des Funktionswandels aus G M II 12-13 zugrunde. 22r ' Als Beispiel wird in H W der Ephesier Hermodor, der Freund Heraklits, angeführt. Heraklit (DK 22 Β 121) lässt die Ephesier sprechen und stellt ihr Gesagtes massiv zur Disposition. Interessant ist dabei weniger der abfällige Gestus als vielmehr die Art und Weise, in der die vermeintlich törichten Bürger argumentieren. Sie gestehen Hermodor den R a n g des Besten zu, insistieren aber gleichzeitig auf ihre politische Ordnung, in der niemandem dieser Status zugebilligt werden darf.

D i e Fremdheit der Griechen bei Burckhardt und N i e t z s c h e

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halten" (ebd.)· Auch die autonome Polis ist somit vor allem ein Produkt agonaler Selbstdisziplinierung.

2.3.2 Macht und Ohnmacht der Kultur: Der „griechische Pessimismus" Gegenüber optimistischen „Darstellungen" der griechischen Geschichte hat Nietzsche einen Standpunkt einzunehmen versucht, den er selbst als „skeptische Betrachtung" kennzeichnete. Eine Betrachtung, welche die „grössten Erzeugnisse" dieser Kultur anzuerkennen und in oftmals auch traditioneller Weise zu würdigen bemüht ist, dieselben jedoch darüber hinaus in einen unauflöslichen Zusammenhang mit ihrem „schrecklichen und bösen Hintergrund" 2 2 7 zu stellen versucht. In mannigfaltiger Weise wird dieser für sich spekulativ erscheinende Zusammenhang vorzugsweise im Nachlass mit empirischer Konkretion angereichert. Bereits hier finden sich eine Reihe desillusionierender Fakten, die erst im Zuge der - die griechische Alterität mehr und mehr betonenden - modernen, teils sozialwissenschaftlich, teils historisch-anthropologisch, teils strukturalistisch inspirierten Altertumswissenschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind. Auch hier scheinen die von Burckhardt ausgehenden Bilanzierungen häufig gerade dort, wo sie das griechische Leben auf krasse Weise skizzieren, den Ausgangspunkt zu eigenen Erwägungen gebildet haben. 228 Das befremdliche Zugleichsein einander scheinbar widersprechender Züge hatte bereits die Geburt der Tragödie unter dem Stichwort der dionysischapollinischen „Duplicität" thematisiert. Die sozialen Entsprechungen dieser noch primär ästhetisch orientierten Bestimmung finden sich bei Nietzsche oftmals nur konstatiert - in ebenso unverbundener wie schonungsloser Weise. Im Folgenden sollen die prägnantesten dieser Einsichten kurz zur Sprache gebracht werden, um von ihnen ausgehend jenes die Griechen leitende „Lebensgefühl" in den Blick zu bekommen, das Nietzsche über die Basler Zeit hinaus bis in die letzten philosophischen Werke hinein als Grundpfeiler des hellenischen Selbstverständnisses geltend machen wird: den „dionysischen" oder „tragischen" „griechischen Pessimismus". Zahlreiche Formulierungen Nietzsches, wie etwa „der griechische Staat", „der griechische Mensch" et c. scheinen sich aus heutiger Perspektive sachlich zu verbieten und darüber hinaus auch auf - durchaus existente - methodologische Defizite zu verweisen. Dass etwa das politische Modell Sparta denkbar anders funktio-

227 228

N a c h l a s s 1875, K S A 8, 3 [ 1 7 ] , S. 19. S o e t w a im N a c h l a s s 1875, K S A 8, 5[127]: „ , D i e frevelhafte g e g e n s e i t i g e Zernichtung (unvermeidlich, so lange n o c h eine e i n z i g e T T C A L S leben wollte), ihr N e i d g e g e n alles Höhere, ihre Habsucht, die Zerrüttung ihrer Sitte, die Sklavenstellung für die Frau, die G e w i s s e n l o s i g k e i t im Eidschwur, in Mord und T o d s c h l a g . ' B"

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

nierte als dasjenige Athens, dass das Spektrum simultan im panhellenischen Einzugsgebiet existierender Gesellschaftsformen noch im vierten Jahrhundert von stammesartigen Gebilden, institutionell unterregulierten Tyranneis und Oligarchien bis hin zu Aristokratien und der ungemein ausdifferenzierten Demokratie Athens reichte, dass ferner die homerische Elite eine andere Weise des Menschseins repräsentiert als der ephesische Aristokrat oder athenische Vollbürger: dies alles lässt die eingangs angeführten Formulierungen ungemein fragwürdig erscheinen. Eine Kurzsichtigkeit im Hinblick auf diese Verhältnisse wird man Nietzsche indessen nur schwerlich attestieren können. Seine Präferenz für die polyzentrische Vielheit der archaischen Verhältnisse, sein antiteleologischer Fokus auf die Sprunghaftigkeit und Diskontinuität in der griechischen Geschichte, seine Polemik gegen eine auf Reinheit und Autochthonität abzielende Ideologisierung der Hellenen setzen ein klares Bewusstsein davon voraus, dass sich aus den mannigfaltigen Erscheinungsformen und Ausprägungen dieses Kulturkreises kein Griechentum „an sich" destillieren lässt. Jenseits einer Geschichte der Ereignisse arbeitet Nietzsche jene Züge der Griechen heraus, die auch in Ansehung genereller intrahellenischer Diversitäten konstitutiv sind für ein Verstehen ihrer Einzigartigkeit im kulturgeschichtlichen Sinn als auch ihrer prinzipiellen Fremdheit aus dem Blickwinkel des modernen Betrachters. 229 Die philosophische Funktion „der Griechen" scheint für Nietzsche wiederum darin zu bestehen, die anthropologische Fiktion eines sich wesenhaft gleichbleibenden Menschen, dessen relative Verschiedenheit sich aus der Verschiedenheit der historischen Umstände erklären lässt, zu zerstören. Ebenso wie später die Anthropologie scheint auch der philhellenisch klassizistische Humanismus, mit dem sich Nietzsche konfrontiert sieht, bereits zu wissen, was das humanuni, mithin was der Mensch sei. Beide Denkweisen indessen entpuppen sich spätestens dort als Ideologie, wo sie anstelle einer prinzipiellen Infragestellung des menschlichen „Wesens" ein bestimmtes Bild des Menschen als wesenhaft ansetzen und durch entsprechende Interpretationspraktiken sichern und verfestigen. Nietzsches philosophisches Denken ist demgegenüber von Beginn an auf die Eröffnung neuer Perspektiven auf den Menschen gekennzeichnet. Seine provokante Freilegung griechischer Inhumanität bezeichnet eine Weise dieses Denkens. Die wenig später einsetzende Reflexion auf die Freilegung menschlich-allzumenschlicher Züge in der Tradition der französischen Moralistik setzt ebenso auf die Darstellung von Anthropodiversität gegenüber menschlicher Wesensforschung wie die Moralgenealogien des Spätwerks, in dem Menschen vorzugsweise als psychophysische

229

Vgl. dazu die einleitenden Erwägungen Vernants in: Vernant, Jean-Pierre: Der Mensch der griechischen Antike [Or: L ' U o m o Greco, Rom , Bari 1991], Übers, von Linda Gränz und Asa Bettina Wuthenow. Frankfurt a. M. 1996. S. 7-38, insbesondere S. 7-11, der die Formulierung von dem griechischen Menschen im Sinn der Herausarbeitung typischer Eigenheiten eines Menschen versteht, der eben darin, worin er griechisch ist, zugleich auch ein anderer Mensch ist als derjenige der Moderne.

Die Fremdheit der Griechen bei Burckhardt und Nietzsche

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Systeme von Wertschätzungen innerhalb eines durch Moral und Gesellschaftsform konfigurierten Bedingungsgefüges auftreten. In der Frage nach dem Menschen als dem „ n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e n T h i e r " (JGB III 62; KSA 5, S. 81) ist stets auch die fragende Suche Zarathustras nach dem „Übermenschen" eingezeichnet. Die Griechen sind im Sinne Nietzsches sicherlich keine Übermenschen, doch sie haben das Spektrum menschlicher Möglichkeiten nach seinem Verständnis wohl am offensivsten ausgemessen. 230 Dem „Genie" ihrer wissenschaftlichen, politischen und ästhetischen Schöpfungen korrespondierte dabei die „Naivität" ihrer zahlreichen inhumanen Praktiken mitsamt dem dazugehörigen Selbstverständnis. Im Hinblick auf die Gesellschaftsstruktur des ausgeprägten „klassischen" Stadtstaates konstatiert ein Fragment: „Die griechische Cultur ruht auf d e m Herrschafts-Verhältniß einer w e n i g zahlreichen Classe gegen 4-5 mal so viele Unfreie. Der M a s s e nach war Griechenland ein v o n B a r b a r e n b e w o h n t e s Land. W i e kann m a n die Alten nur h u m a n finden!"231

Das Augenmerk Nietzsches ruht dabei nicht allein auf der Tatsache, dass etwa die kulturellen und politischen Schöpfungen Athens ohne die sechzig- bis achtzigtausend Sklaven innerhalb Attikas nicht vorstellbar wären. Es scheint vielmehr die Selbstverständlichkeit zu sein, mit der selbst die intellektuellen Exponenten jener Zeit Sklaverei als natürliche Gegebenheit der sozialen Ordnung begriffen haben, die Nietzsche gleichermaßen interessiert und irritiert. Die Griechen, so heißt es, sind „naiv wie die Natur, wenn sie von den Sklaven sprechen." 232 In der Tat wird selbst in den politischen Theorien Piatons oder des Aristoteles nirgendwo der Status des Sklaven jenseits ökonomischer Zusammenhänge als fragwürdig problematisiert. Der dem Vieh (τετράποδο^) schon durch die Bezeichnung άνδράποδον angeähnelte Sklave findet sich noch in der aristotelischen Politik durch die

" " A n d e r s Ottmann: Philosophie und Politik., a. a. O., S. 51, der im Hinblick auf Nietzsches Freilegung des agonalen Ethos der Griechen konstatiert: „ . Ü b e r m e n s c h ' und Agon gehören zusammen, schon bevor Nietzsche den Begriff des Übermenschen systematisch verwendet." Dagegen spricht freilich, dass der Agon bei den Griechen konfigurierende Wirkung zeitigt und auf dem Wettstreit mindestens zweier Gleichambitionierter beruht, während der Begriff des Übermenschen bei Nietzsche bis zuletzt auf das Pathos der Einsamkeit und Unvergleichlichkeit hin ausgelegt bleibt. - Z u m Verhältnis von Agon und Gleichgewicht als prinzipieller Figur im Denken Nietzsches vgl. Gerhardt, Volker, Das Prinzip des Gleichgewichts. In: Nietzsche-Studien 12 (1983). S. 111-133. 231 232

Nachlass 1875, K S A 8, 5[72], S. 60. Nachlass 1870-71, K S A 7, 7[5], S. 138. In G S und HW scheint sich Nietzsche zumindest partiell in diese „griechische Naivität" einschreiben zu wollen, wann immer er mit dem Gedanken an notwendige Sklaverei und ein orthodoxes Kastensystems zum Zweck einer Erhöhung der Kultur auch für die Gegenwart spekuliert. Die krassen und kurzsichtigen Aktualisierungsversuche schreien geradezu nach einer ideologiekritischen und kulturell kontextualisierenden Lektüre wie sie Reibnitz, Barbara von, Nietzsches „Griechischer Staat" und das deutsche Kaiserreich. In: Der Altsprachliche Unterricht 30,3 (1987). S. 76-89, für GS vornimmt.

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Kategorien des Besitzes (κτήμα) und des beseelten Werkzeuges (οργάνου εμψυχον) definiert. 233 Während seine Seele durch eine eigentümliche Passivität gegenüber dem Logos gekennzeichnet ist, ähnelt seine physische Leistungsfähigkeit derjenigen des Haustiers - eine „Wesensbeschreibung" die in fataler bzw. „naiver" Weise das Verhältnis von Ursache und Wirkung verkehrt. Sowohl Der griechische Staat als auch Homers Wettkampf situieren die griechische Gesellschaft in der Allgegenwart des Krieges. Die um die Akropolis zentrierte architektonische Dimension der Polis, die auf Kriegerkasten abzielenden Verfassungen sowie der Zusammenhang zwischen kriegerischer Potenz, sozialem Status und dem Anspruch auf politische Mitbestimmung verweisen auf eine Gesellschaft, die für den jungen Nietzsche exemplarisch die „schmähliche Geburt" (GS, KSA 1, S. 771) des Staates überhaupt verkörpert. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, wird die Linie gezogen von der mit dem Namen Lykurg verbundenen „Verfassung" Spartas, der auf totale Uniformität einer nach innen und außen aggressiven Elite angelegten Hoplitenpoliteia, bis hin zur philosophischen Utopie der platonisch-sokratischen Politeia. Ist in ersterem die „Grundidee des Staates, der Erzeugung des militärischen Genius" (GS, KSA 1, S. 775) bis in die letzte Konsequenz realisiert, so basiert auch die auf eine besonnene Philosophenherrschaft angelegte Verfassung des Atheners auf einer Kastenordnung, in der die vollkommene Lebensform zuerst und zuletzt vom Stand der Wächter ermöglicht wird. Treibt der Krieg Kasten hervor, so muss auch die aus ihm geborene Gesellschaft in pyramidal strukturierten Kasten angelegt sein. Ebendies sah Piaton nach dem fragwürdigen Verständnis des jungen Nietzsche „durch die schrecklich verwüstete Herme des damaligen Staatslebens hindurch und gewahrte auch jetzt noch etwas Göttliches in ihrem Inneren" (ebd., S. 776). 234 Nicht die ideologische Interpretation einer ideologieträchtigen Utopie soll hier indessen als Theorem kritisiert werden. 235 Vielmehr geht es um die Freilegung eines Selbstverständnisses, das die 233 234

233

Aristoteles: Politik 1254a. Mit Recht legt Ruehl, Martin Α., "Politeia" 1871: Y o u n g Nietzsche and the Greek State. In: Bishop, Paul (Hg.): Nietzsche and Antiquity., a. a. Ο., S. 79-97, die Bejahung des Krieges, den Glauben an die Notwendigkeit der Sklaverei und eine auf Züchtung des Genies abzielende, kastenartige Rangordnung als beklemmende Grundpfeiler der Nietzscheschen Politeia von 1871 frei. Doch was die textimmanente Interpretation anzeigt, ist schon im Kontext des zeitgleichen Nachlasses nicht mehr als ultima ratio haltbar. Das Griechentum, das dort in zahllosen Varianten aus der kolonisatorischen A n v e r w a n d l u n g fremder Kulturleistungen, der alle Lebensbereiche kennzeichnenden agonalen Praxis und der mit dieser einhergehenden Individualisierung und Etablierung immer neuer Differenzen entfaltet wird, ist im Horizont eines neoplatonistischen Kastensystems nicht einmal vorstellbar. Nietzsches wohl schwächster Text überhaupt ist - nicht zufällig Cosima Wagner zugeeignet - ein verkrampfter Überbietungsversuch, der nichts weniger bietet als eine S u m m e seiner die Griechen betreffenden Studien. So plausibel Ruehls Interpretaion des zugrunde gelegten Textes ist, so wenig Uberzeugt doch die abschließende Generalisierung der politischen Ideen von GS zu Leitlinien des philosophischen Spätwerks Nietzsches überhaupt.. Ottmann: Philosophie und Politik., a. a. O., S. 44-48, entschärft Nietzsches frühe Rezeption der Politeia auf einen „ästhetisierenden Piatonismus", in dem an die Stelle des Philosophen-Königs der Künstler tritt. In einer „rückwärtsgewandten Utopie" interpretiere Nietzsche Piaton vorzugsweise

Die Fremdheit der Griechen bei Burckhardt Lind Nietzsche

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militärischen Potenzen als Möglichkeitsbedingung politischer Selbstbestimmung, oder - in abstrakteren Termini - die Freiheit in offensiver Weise mit der Ausübung von Gewalt zusammenschließt. Die agonale Konfiguration der Gesellschaft lässt nach Nietzsche jederzeit auch eine Regression in die Gewalt, in die „mörderische Gier jener kleinen Kriege zu" (GS, KSA 1, S. 771). Die Tatsache, dass beinahe alle griechischen „Großerzählungen" von der Ilias bis zur Anabasis, von den Historien über die Geschichte des Peloponnesischen Krieges bis hin zu Arrians Alexanderzug Geschichte als Kriegsgeschehen thematisieren, dass ferner auch die Entwürfe der antiken politischen Theorie die gesellschaftliche Ordnung von einem mehr oder minder permanenten Kriegszustand aus in den Blick nehmen, hat Nietzsche dazu veranlasst, trotz einer sich im Agon vollziehenden Kulturbildung an den Griechen jenen bereits angeführten - „Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust" (HW, KSA 1, S. 782) nachhaltig herauszustreichen. 236 Die hellenische Lebenswelt ist geprägt von binären Oppositionen wie frei unfrei, Grieche - Barbar, männlich - weiblich, Krieg - Frieden, Muße - Banauserie. 2j7 In diesen bipolaren Strukturen lebten die numerisch unterlegenen Protagonisten der Kultur als eine „höhere Kaste von Nichtthuern Politikern usw.", für die gilt: „Ihre F e i n d s c h a f t e n hielten sie in leiblicher und geistiger Spannung". 238 Was im Begriff der Feindschaft und der Spannung angezeigt ist, verweist auf eine dritte den Griechen geltende Beschreibungsebene Nietzsches. Den existentialästhetischen und den soziokulturellen Deskriptionsversuchen korreliert stets ein psychologisch orientierter Diskurs, der darauf abzielt, zwischen dem ästhetischen Verhalten und den sozialen Praktiken ein gleichsam vermittelndes Lebensgefühl freizulegen. Auch dieses findet sich zunächst aus der konkreten sozialen Lage heraus eingeführt - ohne sich darin zu erschöpfen. Zunächst gilt - wie für Jacob Burckhardt: „ D i e g l ü c k l i c h s t e u n d b e h a g l i c h s t e G e s t a l t u n g d e r p o l i t i s c h - s o c i a l e n L a g e ist a m w e n i g s t e n bei d e n G r i e c h e n zu f i n d e n [,..]."239

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238 235

zur Kultivierung eines politischen Antimodernismus. Die ästhetisierend-tiberpolitische Tendenz seines Kulturideals führe Nietzsche in diesem Zeitraum seines Denkens dann folgerichtig bis zur vorläufigen - Apolitie. Auch Garlan, Yvon, Der Mensch und der Krieg. In: Der Mensch der griechischen Antike., a. a. O., S. 62-97, beginnt seine instruktiven Erörterungen mit dem schlichten Satz: „Kriegsgewohnt, j a kriegslustig, war der griechische Mensch ohne Zweifel; dies lässt sich mühelos auf verschiedene Weise belegen" (S. 62). Paradigmatisch demonstriert wird dies von Cartlegde, Paul: The Greeks. Portrait of Self and Other. Oxford 1993. Nachlass 1875, KSA 8, 5[199], S. 96. Nachlass 1875, KSA 8, 3[65], S. 33.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

Wie schon im Hinblick auf die in der Geburt der Tragödie genutzte apollinisch-dionysische Doppelbewegung insistiert Nietzsche auch im Hinblick auf die sozialen Praktiken darauf, dass diese von den Griechen nicht reflexiv eingeholt, sondern in der Weise eines „sozialen Sinnes" gelebt und durch einen spezifischen psychologischen Habitus lebbar gemacht worden sind. War es - wie am Beispiel der attischen Tragödie dargelegt - die „dionysische Weisheit", mit der sie die Fragilität ihrer zivilisatorischen Fundamente in versinnlichter Form inszenierten, ohne sie ins Medium des diskursiven Sinns zu überfuhren, so bildet der „dionysische Pessimismus" hierfür die weltanschauliche Entsprechung. Den Begriff der „Weltanschauung" hat Nietzsche dem geistigen Klima seiner Zeit entnommen und in vergleichsweise unbefangener Manier rezipiert. Die - nicht minder zeitgemäßen - weltanschaulichen Generaloptionen indessen, diejenigen des Optimismus und des Pessimismus, sind von Nietzsche nicht mehr im einfachen Sinn der ideologisierten Varianten von Hoffnung und Verzweiflung gedeutet worden. Die Ausgangsdifferenz ist von ihm beidseitig durch die Gegensatzpaare der Stärke und Schwäche, der Lust und der Unlust sowie des Überflusses und des Mangels modifiziert worden. Die Geburt der Tragödie hat im Hinblick auf die Griechen den Gedanken eines „Pessimismus der S t ä r k e " erprobt und diesen als die Möglichkeit einer „Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus F ü l l e des Daseins" beschrieben 2 4 0 (GT, Versuch einer Selbstkritik 1, S. 12). Der Blickwinkel ist damit nicht mehr auf die bloße Zuschreibung einer optimistischen oder pessimistischen Weltinterpretation ausgerichtet. In Frage steht vielmehr „das Verhältniss des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität" (ebd., 4., S. 15) angesichts der Erfahrung, dass Leben und Leiden einander ebenso implizieren wie Leben und Handeln. Nietzsches fortwährende Explikation der griechischen Lebenswelt über vermeintlich vage Begriffe wie die des „Reichtums", der „Verschwendung", des „Zuviels an Kraft", der „Kraftvergeudung" ist von ungemein großer Bedeutung. In ihnen wird die Begrifflichkeit der Identifikation, der Berechnung, Bestimmbarkeit und Starre als ein Diskurs der Grenzziehung sichtbar, der dasjenige, worin er sich einschreibt, zugleich ausschließen muss, um sich selbst zu ermöglichen. Das „Dionysische" wird in seiner letzten Transformation im Werk Nietzsches, in Gestalt der „dionysischen Philosophie", als gedankliche Entgrenzung der Ontologie, als „radikale Ablehnung auch selbst des Begriffs ,Sein"' wiederkehren (EH, GT 3, KSA 6, S. 313). Übersetzen wir diese Figur zurück in Nietzsches Deutung des frühgriechischen Lebens: In der institutionell und nomologisch unterregulierten Welt der Archaik wird die das Individuum „entfesselnde" agonale Gespanntheit zugleich als Leiden 240

In Ecce homo hält Nietzsche darum hinsichtlich seines Erstlingswerks die Titelvariante „Griechenthum und Pessimismus" fur den „unzweideutigeren Titel" (EH, GT 1, KSA 6, S. 309).

Die Fremdheit der Griechen bei Burckhardt und Nietzsche

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an den Bedingungen des Agons gedeutet. Erst die Dynamik der Lebensverhältnisse treibt eine Vielzahl von Möglichkeiten der Existenz hervor, Möglichkeiten des politischen Lebens wie auch die künstlerischer und gedanklich-philosophischer Entwürfe. Der Drang zur wechselseitigen Profilierung impliziert eine zunehmende Sensibilität für Distinktionen und dynamisiert damit zugleich die Leidensfahigkeit. Für das Leiden wiederum existierte kein Deutungsmonopol, keine religiöse Zentralperspektive. Orphische Konzeptionen, Göttergenealogien, olympische Ästhetisierungen sowie Mysterien, lokale Kulte und erste Deutungen wissenschaftlicher und philosophischer Provenienz existierten nebeneinander und konkurrierten miteinander, ohne das Spektrum der disparaten Lebensbedingungen zu einem Gesamtsinn zu verdichten. Die Abwesenheit einer prinzipiell fundierenden und verpflichtenden Sinnstiftung lässt die Bandbreite und Eigendynamik der bestehenden Existenzoptionen als einen Überfluss sichtbar werden, der sich identifizierenden Vergegenwärtigungsversuchen nur unzureichend erschließt. In seinem umfangreichsten den Griechen geltenden Fragment des späten Nachlasses scheint Nietzsche insofern folgende Diskrepanz möglich: „ d a ß die M e n s c h e n k e n n t n i ß der G r i e c h e n äußerst z u r ü c k s t e h t g e g e n den thatsächlic h e n R e i c h t h u m an T y p e n und Individuen: d a ß sich ihre „ M e n s c h l i c h k e i t " nur wenig z u m B e w u ß t s e i n g e k o m m e n ist." 2 4 1

Im selben Fragment wird unmittelbar zuvor noch prägnanter konstatiert: „all ihr aesthetisches Urtheilen ist tief unter d e m N i v e a u ihres S c h a f f e n s . "

Diese Vermutungen mögen zustimmungsfähig sein oder nicht, doch in ihnen konzentriert sich Nietzsches Griechenbild. Durch die Kontrastierungen eines individuellen „Reichthums" mit dem Mangel an „Bewusstsein", eines „aesthetischen Urteilens" mit dem „Niveau des Schaffens" wird zuletzt unterschieden zwischen der entgrenzenden Leistung des Schaffens und der begrenzenden Leistung des Begriffs. Der Entwurfscharakter im frühgriechischen Leben und Denken ist „Reichthum", insofern er den „Überfluss" und die „Verschwendung" agonal bedingter Dynamik markiert. Das Leben in diesem Reichtum ist für Nietzsche somit zum einen durch die Kunst der „Transfiguration", mithin die sinnliche Überhöhung und Verschleierung der Existenz gekennzeichnet und gleichzeitig einem latenten Leiden an der Offenheit des noch unbegriffenen Lebens ausgesetzt. Der Agon entfaltet aus sich heraus kulturelle Produktivität bisher ungekannten Ausmaßes und schafft gleichzeitig temporäre Distinktionen, die ihrerseits die Sensibilität und die Leidensfähigkeit der an ihm Beteiligten erzeugen und stetig vertiefen. Auf dem Boden dieses Schmerzes gedeihen sowohl die dunklen Früchte eines latenten Pessimismus als auch die Blüten ästhetischer Transformationen. Dieser

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Nachlass 1883, KSA 10, 8[15], S. 337

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I. Teil: V o n der Philologie zur Philosophie

für Nietzsches Sichtweise konstitutive Zusammenhang von sozialer, ästhetischer und „weltanschaulicher" Sphäre macht auch seine historische Umorientierung von der „Klassik" zur Archaik verständlich. „Klassik" als Kunst der Form und der Grenzziehung im politischen, künstlerischen und literarischen Leben ist J e n e s kunstvolle Gebäude der a p o l l i n i s c h e n C u l t u r " , dass man, um es zu verstehen „gleichsam Stein um Stein abtragen" muss, „bis wir die Fundamente erblicken, auf die es begründet ist" (GT 3, KSA 1, S. 34). Für Nietzsches Verständnis des griechischen Pessimismus bleibt festzuhalten, dass dieser nicht in der Weise einer entfalteten Gedankenwelt präsent ist. Eine Anekdote des aristotelischen Dialogs Eudemos frei wiedergebend, wird er in GT zunächst als „griechische Volksweisheit" eingeführt. 242 Die Volksweisheit findet sich ihrerseits in einen Mythos eingebettet, in dem der weise Silen, der „Begleiter des Dionysos" seinem Jäger Midas unter gellendem Lachen die Frage nach dem für den Menschen Allerbesten wie folgt beantwortet: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu s e i n , n i c h t s zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich - bald zu sterben." (ebd.)

Überblickt man das Spektrum antiker Belege für derartige Reflexionen, so fällt auf, dass sich Nietzsche gerade nicht auf diejenigen Quellen beruft, die ihm aus der eigenen wissenschaftlichen Arbeit am vertrautesten sind: Theognis von Megara sowie das Certamen Homeri et Hesiodi. Auch Herodots Geschichte von Kleobis und Biton 2 4 j und die berühmte Sequenz aus dem vierten Stasimon des Chores im sophokleischen Oidipos auf Kolonos244 finden nicht den Eingang ins Tragödienbuch. Warum? Die Vermutung liegt nahe, dass die einseitige Generalisierung des pessimistischen Diktums gerade jene Momente verstellt, auf die es dem Autor von GT ankommt. Der mythologische Kontext, den Nietzsche demgegenüber für sein Vorhaben wählt, gibt schnell zu erkennen, dass das Wissen um die conditio humana den Göttern und Dämonen vorbehalten bleibt. Bedeutsam ist hier vor allem die Vorgeschichte, mithin die Art und Weise, in der die vom Menschen - hier Midas erzwungene Frage nach dem für Menschen „Allervorzüglichsten" gestellt wird. Die Antwort des Silens, die das Faktum menschlicher Existenz in ihrer Bedeutsamkeit negiert, kann folgerichtig auch nicht mehr vom Menschen eingelöst werden. Der Weg zum einfachen, ideologischen Pessimismus, der bloß abstrakten Sinngebung und gedankliche Verwaltung des Leidens ist damit verstellt. Erst die humane Interpretation des a-humanen, dämonischen Diktums schafft jenen Pessi-

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Vgl. Reibnitz, Barbara von: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Kap. 1-12), a. a. O., S. 127-130. Herodot: Hist. 131. Sophocles: Oed. Col. 1224 ff.

Die Fremdheit der Griechen bei Burckhardt und Nietzsche

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mismus der existenzverschleiernden Selbstbehauptung, den Nietzsche „dionysisch" nennen wird. Die gleichsam standardisierten Aussagen eines Theognis könnten eine solche Deutung nicht mehr nahe legen und suggerieren einen Gestus der Resignation, den die intentio auctoris für das Griechentum gerade hier nicht geltend machen will. 245 Dies bestätigt auch die Wortwahl des Silens. Mit der Explikation des Menschen als eines aus „Zufall" und „Mühsal" bestehenden „Eintagsgeschlechts" wird keinem Leiden an der Welt, als vielmehr der Kontingenzerfahrung des menschlichen In-der-Welt-Seins drastisch Ausdruck verliehen. Nietzsches verstreute Ausführungen zu frühgriechischen Lyrikern wie Archilochos 2 4 6 und Simonides 2 4 7 sowie zu Pindar 248 ergänzen dieses phänomenal konkretere Pessimismuskonzept, das die Sensibilität für die Unverfügbarkeit der eigenen Existenz in den Mittelpunkt rückt, um von ihm ausgehend die schöpferischen Potentiale der Griechen zu deuten. Insbesondere der „leidenschaftliche Kopf des wild durch's Dasein getriebenen kriegerischen Musendieners Archilochus" (GT 5, KSA 1, S. 42) soll als lyrischer Protagonist der Geburt der Tragödie anzeigen, „dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist" (ebd., S. 47). Die latente Präsenz dionysischen Schmerzes wird maßgeblich von jenen künstlerischen Gestaltgebungen aus gedacht, die die pessimistische Seinserfahrung in den „schönen Schein" umgestalten. Die Scheinerzeugung ist damit kein optimistischer Akt. Als Schaffensprozess gründet sie vielmehr im dionysischen Untergrund und bejaht ihn zuletzt in der apollinischen Verwandlung:

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Cartwright, David E., Reversing Silenus' Wisdom. In: Nietzsche-Studien 20 (1991). S. 309-312, interpretiert die Weisheit des Silens aus ihrer Stellung in GT heraus gezielt gegen Schopenhauers Tragödiendeutung. In einem mit „ Ü b e r das A e s t h e t i s c h e : e i n i g e s D e r b e " Uberschriebenen Fragment betont Nietzsche den „Werth des u n r e i n e n D e n k e n s fur die Kunst" und vermutet daraufhin für Archilochos: „Ist wohl der fruchtbarste Zustand der menschlichen Seele!" (Nachlass 1875, KSA 8, 17[1], S. 296.) Im Nachlass 1875, KSA 8, 5 [121], S. 72, wird konstatiert: „Simonides rieth, das Leben wie ein Spiel zu nehmen: der Ernst war ihnen als Schmerz zu bekannt." Vgl. dazu Nachlass 1875, K S A 8, S. 106: „Die tiefe Melancholie bei Pindar: nur wenn ein Strahl von oben kommt, leuchtet das Menschenleben." Angespielt wird auf die berühmten Verse 95 f. der achten pythischen Ode: „Tagwesen. Was ist Einer? Was einer nicht? Schattens Traum / der Mensch. Aber wenn gottgegebener Glanz kommt, / ein strahlend Licht ist bei den Menschen und glückliches Leben." Erst diese Erfahrung ermöglicht eine spezifische ästhetische Praxis: „Das S t e i g e r n des G e g e n w ä r t i g e n ins U n g e h e u r e und E w i g e z. B. bei Pindar" (Nachlass 1875, K S A 8, 5[85], S. 63). Betont das erste Fragment den Pessimismus als Kontingenzerfahrung und insofern die Präzision einer noch nicht schematisierten, mithin „authentischen" Erfahrung als solche, verweist das zweite auf die künstlerische Verwandlung. Im Begriff des Schaffens sind beide M o m e n t e zusammengebunden.

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I. T e i l : V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

„Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen" (GT 3, KSA 1, S. 35).

2.4 Zusammenfassung Das Griechenbild und der kulturgeschichtliche Ansatz Burckhardts sind in ihrer Bedeutung für das Denken Nietzsches nur schwer zu überschätzen. Festzuhalten ist gleichwohl, dass Nietzsche sich an den Interpretationspraktiken seines Basler Kollegen nur soweit orientierte, wie es seinem Unterfangen, die Philologie philosophisch zu entgrenzen, dienlich war. Er teilte dessen Geschichtsbild, insofern es auf eine synchron-synoptische Darstellung angelegt war und die Zusammenhänge zwischen politischer, religiöser und ästhetischer Sphäre zu einem Gewebe sich wechselseitig bedingender Elemente verband. Er emanzipierte sich von diesem Geschichtsbild, indem er Burckhardts an geistesgeschichtlicher Kontinuität orientierte Sinnpflege zu einer an Diskontinuitäten ausgerichteten philosophischen Genealogie radikalisierte. Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung ist das ausgereifte Produkt einer an Burckhardt geschulten Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Geschichtsschreibung. Historie wird dabei auf das anthropologische Phänomen Geschichtlichkeit hin entgrenzt, auf seinen unweigerlichen impliziten Gegenwartsbezug hin befragt und insofern ideologiekritisch thematisiert. Auch wenn der Basler Kulturhistoriker Nietzsches Forderung nach einer auf Objektivität verzichtenden und sich vielmehr als Kunst verstehenden Geschichtsschreibung auf seine Weise eingelöst hat, so sind dessen weltanschaulich bedingte Grenzen und methodische Defizite in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben exemplarisch freigelegt worden. Demgegenüber bleibt Burckhardt im Bewusstsein Nietzsches bis zuletzt der „tiefste Kenner" der griechischen Kultur. Im Hinblick auf die antiklassizistische neue Sicht des Griechentums liegt indessen auch hier keine einseitige Abhängigkeit zu Ungunsten Nietzsches vor. Die Wiedergewinnung der Archaik und deren Emanzipation vom klassischen Zeitalter, j a ihre Privilegierung gegenüber diesem, eint beide Denker. Nicht die mythologisierende Rekonstruktion von Ursprüngen steht dabei im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen, sondern die Ermittlung und Ausmessung dessen, was der „Klassizität" der Griechen stets korrespondierte und diese sachlich wie chronologisch erst ermöglichte. Was die Eigenständigkeit und „plastische Kraft" des hellenischen Kulturkreises anbelangt, so sind diese nicht mehr - wie vom deutschen Humanismus beansprucht - Produkte einer isolierten qualitas occulta wie etwa politischer Genialität, rationaler Befähigung oder eines spezifischen Sinns für Harmonie. Für Burckhardt und Nietzsche sind die Griechen der Archaik demgegenüber zunächst in dreierlei Hinsicht relevant: 1.) Als Kolonisatoren aus Not, die fähig waren, das vorgefundene Fremde eigenen Bedürfnissen anzuverwandeln.

D i e F r e m d h e i t der G r i e c h e n bei B u r c k h a r d t u n d N i e t z s c h e

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2.) Als durch ein kompetitives Ethos gleichermaßen verbundene und getrennte Menschen, die erst unter dem Druck ihrer agonalen Bedingtheit eine spezifische Form der Individualität etablierten und damit auch eine eigene Form der Kulturiertheit erreichten. 3.) Als politische Wesen, die das transgressorische Potential des Agons durch die Institutionalisierung von gemeinschaftlichen Entscheidungsverfahren und die Ausdifferenzierung von Kompetenzen in der so entstehenden Sphäre des Politischen begrenzten und kultivierten. An den angeführten Hinsichten wird deutlich, dass Nietzsche die Eigenart der hellenischen Kultur noch immer über die apollinisch-dionysische Doppelperspektive zu erfassen bemüht ist, dieselbe jedoch kulturgeschichtlich mehr und mehr mit phänomenaler Konkretion anreichert. Jacob Burckhardt hat in seinem großangelegten Gemälde die Gespanntheit der hellenischen Existenz ins Zentrum gerückt, um entgegen philhellenischer Idealisierung die Geschichte der Griechen erstmals auch als eine Geschichte namenlosen Leids zu thematisieren - eines Leids, dass er stehen lässt und nicht mehr gegen den Fortschritt in der historischen Bewegung aufrechnet. Während der dargestellte „griechische Pessimismus" und derjenige seines Autors Burckhardt indessen nahtlos ineinander überzugehen scheinen und sich dabei wechselseitig legitimieren, hat Nietzsche den für die Hellenen geltend gemachten „dionysischen Pessimismus" von der weltanschaulichen Variante schopenhauerscher Tradition zu trennen vermocht. Als Pendant zum aesthetischen Konzept der tragischen Transfiguration und zur Deutung der griechischen Gesellschaft als Produkt agonaler Gespanntheit bezeichnet Pessimismus in einem „psychologischen" Sinn für Nietzsche den vom Wissen um die eigene Fragilität ausgehenden Grad an Reizbarkeit. Als spezifisch griechische Daseinserfahrung ist diese - später „Pessimismus der Stärke" genannte - Disposition eben keine explizite Weltdeutung, sondern produktives leitendes Lebensgefühl, das sich nur gelegentlich in der griechischen Überlieferung niederschlägt. Schmerz als Irritation des Lebendigen durch das Leben ist ein physiologisches Korrelat zum Einbruch des fremden Dionysos, dem sich die Griechen nach Nietzsche auf unvergleichliche Weise auszusetzen und den sie - im Gegensatz zur Deutung Schopenhauers - in lebenssteigernde ästhetische Aktivität zu verwandeln wussten. In Übereinstimmung zu dieser frühen Deutung der Griechen hat Nietzsche später in den neuen Vorreden von 1886 zu den bis dahin veröffentlichten Werken auch seine eigene philosophische Existenz gedeutet. Durch Rückanbindung seines Denkens an ein irreduzibles Pathos erscheint nunmehr auch die eigene Philosophie als „Kunst der Transfiguration", die darin besteht, „seinen Zustand jedes Mal in geistigste Form und Ferne umzusetzen" (FW, Vorrede, 3., KSA 3, S. 349). Der Verschiedenheit von Lebensformen in einer von steter Veränderung gekennzeichneten griechischen Lebenswelt entspricht auch der Philosoph, dessen „Gang durch viele Gesundheiten" auch einen Durchgang durch „ebensoviele Philosophien" impliziert (ebd.). Nietzsche, der seine Denkbewegung keinem linearbiographischen Sinn unterwerfen will, orientiert sich bei der Selbstexplikation an

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

jenen diskontinuierlichen und experimentellen Zügen, für die er Jahre zuvor das Wort „dionysisch" ersann. Dem „dionysischen Pessimismus" tritt jetzt „der Schmerz" als „der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des grossen Verdachtes" zur Seite. Bei seiner Herausarbeitung der dunklen, zerstörerischen Aspekte des griechischen Lebens hatte sich Nietzsche im Nachlass von 1870/71 noch notiert, es gebe „keine schöne Fläche ohne eine schreckliche Tiefe". 249 Was er damit an den Griechen entdeckte, wird im weiteren philosophischen Werk einerseits seine mannigfaltige Ausarbeitung zu Genealogien der Moral aus der Grausamkeit, der Kultur aus der Unkultur, der Vernunft aus der Unvernunft etc. finden. Andererseits bleibt die ästhetisch gewendete Distanz zu den freigelegten Schrecken auch und gerade für Nietzsche lebensnotwendiges Programm. Die autogenealogisch gestaltete Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft klingt so gesehen mit einem bezeichnenden Hymnus aus: „ . . . O h diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu l e b e n : dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich - a u s T i e f e ! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehen haben, die wir von da aus h i n a b g e s e h n haben? Sind wir nicht eben darin - Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum - Künstler ?" (FW; Vorrede, 4., KSA 3, S. 352)

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Nachlass 1870-71, KSA 7, 7[91], S. 159.

3. „Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

Dass von den frühgriechischen Denkern bis heute eine Faszinationskraft ausgeht, die über den engen Kreis philosophischer Fachwissenschaft hinausreicht, ist schwerlich zu bestreiten. Das Faszinosum Vorsokratik lässt sich dabei mindestens von vier Hinsichten aus verständlich machen. Hinsichten, die sowohl die Eigentümlichkeiten der textuellen Überlieferung als auch diejenigen der geistesgeschichtlichen Problematisierung, mithin die Modi der Interpretation betreffen. Dieselben sollen zunächst in pointierter Form umrissen werden, da mit ihnen zugleich ein Rezeptionsrahmen entworfen ist, in dem Nietzsche mitsamt seiner eigenen Deutung vorläufig positioniert werden kann. 1.) Insbesondere die außerakademische Popularität des vorsokratischen Denkens, deren Verebben auch in näherer Zukunft wenig wahrscheinlich ist, lässt sich - so ernüchternd die Feststellung auch anmuten mag - zu einem großen Teil aus der dramatisch schlechten und zugleich hochkomplexen Überlieferungssituation erklären. Bestenfalls in Form eines vereinzelten Zitates späterer antiker Autoren auf uns gekommen, häufig aber zum unkritischen Referat verkürzt, durch philosophische Rezeption und Anverwandlung deformiert, lassen sich ihre Statements nur mühsam aus der - ihrerseits ausgedünnten - doxographischen, philosophischen und patristischen Literatur der Antike extrahieren. Während dieser Steinbruch fragmentarisierter Überlieferungsfetzen zwar ungeahnte Spielräume der Interpretation zulässt, verleiht darüber hinaus jedoch erst die erratische und enigmatische Diktion der vereinzelten Sätze den Vorsokratikern jenen exponierten Status, den sie bis heute genießen. Jenes Doppelgesicht von Fragmentarisiertheit und Monumentalität mit seinem schier unausschöpfbaren Aktualisierungspotential sichert den ersten Philosophen eine Unvergänglichkeit, die ihnen bei besserer Quellenlage nicht notwendig eigen wäre. 2.) Sowohl thematisch als auch methodologisch lässt sich die Vorsokratik als Präfiguration des europäischen Rationalitätskalküls und Initialzündung der abendländischen Geistesgeschichte interpretieren. Unter dem Schlagwort „Vom Mythos zum Logos" 2 5 0 werden dabei gemeinhin der vermeintliche Rationalisierungsschub

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Paradigmatisch für diese Tendenz ist das gleichnamige Werk von Nestle, Walter: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. 4. Aufl. Stuttgart 1956 (1940).

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

gegenüber magischen oder mythologischen Weltauffassungen betont und ein sich Bahn brechender Objektivismus sowie eine mit Hypothesen arbeitende, Empirie überschreitende wissenschaftliche Grundausrichtung gewürdigt. 2 5 ' Vor allem aber wird eingeräumt, dass die von den Vorsokratikern aufgeworfenen Fragen - abgesehen von den uns nicht mehr befriedigenden Antworten - jene Problemkreise exponieren, in denen sich die europäische Wissenschaft und Philosophie bewegen wird. Eine Rekonstruierbarkeit dieses Denkens im Rahmen problemgeschichtlicher oder systematischer Fragestellungen wird somit nicht, zumindest nicht in prinzipieller Hinsicht, in Zweifel gezogen. Die anamnetische Internalisierung frühgriechischer Denkfiguren im Überlieferungsstrom bestätigt und legitimiert auf diese Weise vielmehr die Rechtmäßigkeit bzw. die Alternativlosigkeit der traditionellen Problemorientierung durch den Nachweis ihrer Ursprünglichkeit. 252 3.) Dem positivistischen Vereinnahmungsmodell diametral entgegen steht der philosophisch avanciertere Versuch, die Vorsokratik als den „anderen Anfang" zu deuten. 2 5 j Diesem Ansatz ist wiederum eigentümlich, jenes nicht zu vereinnahmende Denken zu einem von der spezifischen Ausprägung der europäischen Philosophie verschiedenen, aber gleichwohl noch immer möglichen Denken zu stilisieren. Vor allem Martin Heidegger hat mit seiner Vorsokratiker-Rezeption in dieser Beziehung Maßstäbe gesetzt. 254 Die auf fundamentale Andersartigkeit hin orientierte Rückwendung zum Ausgangspunkt philosophischer Reflexion verleiht dem Begriff der „Ursprünglichkeit" dabei mitunter quasireligiöse, heilsgeschichtliche Konnotationen. 2 5 5 Während die verfügende Tendenz des europäischen Den-

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Popper, Karl, Back to the Presocratics. In: Furley, David J., Allen, Reginald E. (Hg.): Studies in Presocratic Philosophie. London 1970. S. 130-153, stilisiert die Vorsokratiker diesbezüglich zu den ersten kritischen Rationalisten. Da der Begriff des kritischen Rationalismus maßgeblich aus den eigenen wissenschaftstheoretischen Arbeiten gewonnen wurde und erst von dort aus den frühgriechischen Denkern zufällt, scheint Poppers programmatische Rückkehr in die vorsokratische Z u k u n f t ebendiese Denker eher zu verfehlen als wiederzugewinnen. Auch Schroedinger, Erwin: Die Natur und die Griechen. Kosmos und Physis (Or.: Nature and the Greeks. Cambridge 1954). Hamburg 1956, insistiert zwar anfänglich auf eine R ü c k w e n d u n g zum Denken der Antike" (S. 7), expliziert dieses Denken jedoch als eine stetig abstraktionsfähiger werdende Naturwissenschaft. 232 Exemplarisch hierfür ist vor allem das monumentale Alterswerk von Gomperz, Theodor: Griechische Denker. 3 Bde. Leipzig 1893-1903. Luzide Kenntnis, ein flüssiger Stil und ein das ganze Werk durchziehendes Bekenntnis zum Denken John Stuart Mills machen dieses Werk zu einem Klassiker positivistischer Philosophiegeschichtsschreibung. Der den Vorsokratikern geltende erste Band steht unter dem bezeichnenden Motto Mills: "Except the blind forces of Nature, nothing moves in this world which is not Greek in its origin." 251 Zur Wiederentdeckung des Archaischen im Geistesleben des ausgehenden neunzehnten Jahrhundert und den und damit verbundenen Fragwürdigkeiten vgl. Most, Glenn W., Zur Archäologie der Archaik, in: Antike und Abendland X X X V (1989). S. 1-24. 254 Vgl. dazu vor allem: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954. Darin: Logos (Heraklit, Fragment 50). S. 207-230; Moira (Parmenides, Fragment VIII, 34-41), S. 231-256, sowie: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959. Darin: Der Spruch des Anaximander. S. 321-373. 2 " So etwa in Heidegger: Logos, a. a. O., S. 229: „Einmal jedoch, im Beginn des abendländischen Denkens, blitzte das Wesen der Sprache im Lichte des Seins auf. Einmal, da Heraklit den Xöyos als Leitwort dachte, um in diesem Wort das Sein des Seienden zu Denken. Aber der Blitz verlosch jäh.

.Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

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kens unter dem Stichwort der „Seinsvergessenheit" thematisiert wird, interpretiert Heidegger gerade die ersten griechischen Philosophen, insbesondere Anaximander, Heraklit und Parmenides als Denker eines unverstellten authentischen Seinsbezugs. Die Andersartigkeit dieser Denker kann nach Heidegger nicht mehr mit den Mitteln herkömmlicher Diskursivität, also denen des systematischproblemgeschichtlichen Zugreifens und der historisch-philologischen Rekonstruktion, erfahren werden. Sie fordert den Rezipienten vielmehr implizit auf, das Denken anhand der Vorsokratiker selbst neu zu lernen. 4.) Nicht zuletzt darin besteht die Bedeutung der Vorsokratik, dass die Beschäftigung mit ihr zugleich immer auch die Frage nach der Herkunft der Philosophie und den Bedingungen dieser Herkunft mit sich bringt. War die Geburt der Philosophie ein Zufallsprodukt im Rahmen ökonomischer, politischer und lebensweltlicher Rationalisierungsprozesse, kulturelles Bedürfnis oder existentielles Erfordernis innerhalb einer sich dramatisch wandelnden Lebenswelt? Konnte sie sich mithin nur auf griechischem Boden vollziehen? In diesem Zusammenhang schließlich ist es das immer neu zu thematisierende Problem vom „Wesen" der Philosophie als solcher, von den Eigentümlichkeiten der philosophischen Reflexion selbst, das durch jede Auseinandersetzung mit dem „anfänglichen Fragen" 256 an Kontur und Verbindlichkeit gewinnt. Nietzsche hat über die gesamte Zeit seines Philosophierens die besondere Rolle der Vorsokratik innerhalb der Philosophie betont und deren exzeptionellen Status für sein eigenes Denken häufig zum Ausdruck gebracht. Noch die in Ecce homo vorgenommene Abgrenzung des eigenen Ansatzes von aller bisherigen Philosophie ist von ihm - um die Singularität und Radikalität desselben angemessen zu verdeutlichen - als eine Abgrenzung auch noch von „den g r o s s e n Griechen der Philosophie, denen der zwei Jahrhunderte v o r Sokrates," (EH, Die Geburt der Tragödie 3, KSA 6, S. 312) expliziert worden. Jenseits derartiger Wertschätzungen und vereinzelter späterer Bezugnahmen beschränkt sich Nietzsches direkte Auseinandersetzung mit den ersten Philoso-

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[...] Wir sehen diesen Blitz erst, wenn wir uns in das Gewitter des Seins stellen." In: Der Spruch des Anaximander, a. a. O., S. 327-327, wiederum exponiert Heidegger zunächst eine „Eschatologie des Seins", sieht sich „am Vorabend der ungeheuersten Veränderungen der ganzen Erde", bestimmt die Gegenwart als die durch „technische Organisation der Weltöffentlichkeit" gekennzeichnete „eigentliche Herrschaftsform des Historismus", um dann „in die Frühe der Frühzeit des Abendlandes" hinüberzuwechseln und im Hinblick auf Anaximander zu fragen: „Wie aber, wenn das Frühe alles Späte, wenn gar das Früheste das späteste noch und am weitesten überholte?" Hölscher, Uvo: Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie. Göttingen 1968. Mit der ausgesprochen gut gewählten Formulierung des Titels ist bereits ein neuer Anspruch artikuliert. Hölscher verschiebt den Fokus von einer vermeintlichen Konzeptualisierung der Welt durch die frühgriechischen Philosophen hin zur denkerischen Problematisierung des Existierens in der Welt. Anstelle des eurozentrischen Blicks für die zuvor angeführte „Selbstentfaltung des griechischen Denkens" vor dem Hintergrund einer unterstellten geistesgeschichtlichen Kontinuität wird hier überdies betont der Anschluss an Rationalitätsmodelle nichtgriechischer Kulturkreise gesucht. Diesem Impetus folgt auch West, Martin L.: Early Greek Philosophy and the Orient. Oxford 1971.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

phen vor allem auf den Zeitraum seines philologischen Wirkens und in diesem wiederum vorzugsweise auf die Jahre der Basler Professur. Die aus der Basler Zeit stammende, unveröffentlichte Studie Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, eine dieser Studie teils vorausgehende, teils parallel zu ihr angefertigte Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen257 sowie ein ungemein aussagekräftiger Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches258 und die thematisch relevanten Nachlassfragmente aus dem entsprechenden Zeitraum sind Zeugnisse und Früchte jener Auseinandersetzung und damit auch die zentralen Texte der folgenden Interpretation. Nietzsches Umgang mit den Vorsokratikern ist gekennzeichnet durch eine originelle Verflechtung der zu Beginn angedeuteten Interpretationshorizonte. Nietzsche, der in vielerlei Hinsicht durchaus noch konventionell interpretiert, gelangt im Verlauf seiner Arbeiten gleichwohl fast überall zu neuartigen und befremdlichen Resultaten. Mit ihm erhält der zunächst nur chronologisch und doxographisch motivierte Begriff der Vorsokratik in der Tat eine gänzlich neue Relevanz. 259 Nach Nietzsche haben die frühgriechischen Denker - soviel sei schon zuvor angedeutet - fur die abendländische Geistesgeschichte konstitutiven Charakter, insofern sie als erste Philosophen „reine Typen" sind. Sie verleihen dem Denken in einer spezifischen kulturellen Konstellation eine neue Gestalt, ohne sich selbst dabei als Philosophen erkenntlich sein zu können und sind gerade darum die „typischen P h i l o s o p h e n k ö p f e " (PHG 1, KSA 1, 807). Insbesondere der Anfänglichkeit und Unfreiwilligkeit ihres Denkens gilt dabei die Aufmerksamkeit. Philosophie in einem vorläufigen Sinn ist zunächst also auch für Nietzsche eine Form der Reflexion, die sich begrifflich und strukturell vom Mythischen emanzipiert, bzw. gegen dieses orientiert ist. Die Praxis der „tragischen Philosophen" beruht jedoch nicht auf bloßen, die Empirie übersteigenden wissenschaftlichen Hypothesen, sondern wird auch gezielt gegen die wissenschaftliche Verfahrensweise konzipiert. Auch sie wird zunächst als ästhetische, eher passive Erfahrung interpretiert, mit von Denker zu Denker als unterschiedlich vorausgesetzten Erfahrungshorizonten entfaltet und zuletzt - das Philosophenbuch ist dem Anspruch nach als Ergänzung und komplementäre „Be-

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Die vorplatonischen Philosophen. [WS 1869-1870; SS 1872; WS 1875-1876; SS 1876], In: K.GW II 4. S. 209-362. ΜΑ I 261, KSA 2, S. 214-218. Der mit „ D i e T y r a n n e n des G e i s t e s " überschriebene Aphorismus basiert in allen wesentlichen Momenten auf den angeführten Vorstufen, zeichnet sich indessen durch eine äußerst prägnante - im Frühwerk so nicht mehr anzutreffende Verschränkung von philosophiegeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven Nietzsches aus. Vgl. dazu die Ausführungen von Borsche, Tilman, Nietzsches Erfindung der Vorsokratiker. In: Simon, Josef (Hg.): Nietzsche und die philosophische Tradition. Band 1. Würzburg 1985 (Nietzsche in der Diskussion). S. 62-88.

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stätigung" 260 der Geburt der Tragödie geschrieben - über das Konzept der Transfiguration gedeutet. Die aristotelische Bezeichnung der ersten Philosophen als φιχπόλογοι aufnehmend und deren intendierten Sinn verschiebend, deutet Nietzsche das vorsokratische Denken als Denken der φύσις·, nicht aber als begriffliche Bestimmungsversuche derselben. Physis als aus sich heraus tätige, alles umgreifende Natur expliziert Nietzsche vornehmlich über die offenen Begriffe des Werdens, des Lebens und der Veränderung und versteht sie jenseits ihrer kosmologischen Bedeutung zugleich auch stets als Komplex von persönlichen und individuellen Lebensbedingungen. Von diesen Bedingungen ausgehend versucht er, die Eigenheiten des vorsokratischen Denkens in den Blick zu bekommen, welches ihm im Unterschied zu späteren Philosophie vom Impetus geprägt war, die „eigne Form zu finden" (PHG 1, KSA 1, S. 807). Leben, verstanden als Lebendigkeit, und Werden, verstanden als permanente Veränderung, entziehen sich sowohl der ontologischen Reduktion als auch der verallgemeinernden Kategorialisierung und der begrifflichen Systematisierung. Als Grenzbestimmungen sind beide Begriffe auch in Nietzsches späterem Denken unübersehbar an die logozentrische, verfügende Tendenz des europäischen Philosophierens adressiert und bilden stets dann den Hintergrund, wenn der Philosoph „physiologische" Perspektiven geltend macht. Die Umdeutung der Vorsokratiker im Horizont der Physis zu Denkern der Prozessualität und der Metamorphose irritiert die am Allgemeinen ausgerichtete Vernunft und enthüllt jene Denker als Fremde. Der Tradition entfremdet markieren dieselben Denker im Verständnis Nietzsches „einen Bruch" (ΜΑ I 261, KSA 2, S. 217) - mit Piaton beginnt etwas „ganz Neues" (PHG 2, KSA 1, S. 809). Dieses Neue aber ist wiederum das Eigene, die von der griechischen Klassik ausgehende europäische Philosophie. Das Eigene kommt aus der neu gewonnenen vorsokratischen Perspektive somit anders in den Blick: Es verliert die Selbstverständlichkeit und soll nun unter Umständen seinerseits befremden. Die Interpretationspraxis Nietzsches spekuliert mit ihrer wechselseitigen Verfremdungstechnik und ihrem suggestiven Pathos implizit auf die Möglichkeit eines strukturell anderen Philosophierens am Leitfaden der Vorsokratiker. Über die Neuauslegung der archaischen Denker vor dem Hintergrund einer fragwürdig gewordenen Tradition verweist Nietzsches eigentümliche Rezeption vor allem auf das eigene erwachende philosophische Selbstverständnis. Mit der - bezeichnenderweise unvollendeten - Vorsokratikerstudie endet die Phase der direkten Auseinandersetzung Nietzsches mit den Griechen. Die angeführten argumentativen Verfremdungstechniken Nietzsches hängen ihrerseits unmittelbar zusammen mit der literarischen Gattung, die sich der Autor 2m

Nachlass 1872-73, KSA 7, 23[24]: „Die Geburt der Tragödie betrachtet von einer andern Seite aus. Die Bestätigung aus der Philosophie ihrer Zeitgenossen."

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von PHG als Medium seiner Schriftstellerei gewählt hat: Der Erzählung. Die programmatische narrative Vereinzelung von Philosophiegeschichte zu Philosophengeschichten verdankt sich - wie zu zeigen sein wird - der grundlegenden Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit einer auf Objektivität angelegten Historiographie.261 Mit dem Versuch, die ersten Philosophen samt ihrer Konzeptionen „nachzuschaffen" (PHG Vorwort, KSA 1, S. 802), entspricht Nietzsche den - teilweise zeitgleich, teilweise später formulierten - Vorgaben seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Wurde dort die Transformation der Geschichtswissenschaft zur Kunst eingefordert, erfolgt hier nun der Versuch, dieser Forderung Rechnung zu tragen. Seine erzählende Kunst entwickelt Nietzsche als Verschlingung doxographischer und biographischer Sequenzen und knüpft damit auf eine spezifische Weise an die antike Philosophiegeschichtsschreibung an. Von größter Bedeutung in diesem Zusammenhang ist die Person des Diogenes Laertius. Dessen Werk, die Leben und Lehren der früheren Philosophen,262 steht in einem spannungsvollen Verhältnis zur intellektuellen und persönlichen Entwicklung des jungen Nietzsche. Als sorglos kompilierte Doxographie war es das zentrale Betätigungsfeld des quellenkritischen Philologen Nietzsche, als Philosophiegeschichte eine unkonventionelle und folgenreiche Einführung in das antike Denken für den der „reinen" Philologie zunehmend überdrüssig werdenden Basler Professor, als Doxobiographie von nicht zu unterschätzender Bedeutung für Nietzsches Idealvorstellung einer philosophischen Existenz und als anekdotische Darstellung schließlich nachhaltiges schriftstellerisches Paradigma. Anhand der schillernden Figur des Diogenes Laertius soll nunmehr zunächst Nietzsches ungewöhnlicher Einstieg in die antike Philosophie in seinen weitreichenden Folgen dargestellt werden (Kap. 3.1). Daran anschließend wird Nietzsches Verständnis der griechischen Kultur, wie es im vorhergehenden Kapitel dargestellt worden ist, auf die frühgriechischen Denker, mithin auf die Genese der Philosophie bezogen (Kap. 3.2). Darauf folgt eine Analyse der Positionierung und Etablierung des entstehenden philosophischen Feldes im Hinblick auf konkurrierende zeitgenössische Strömungen, vornehmlich also im Hinblick auf den Mythos bzw. die Religion sowie die empirische Forschung bzw. Wissenschaft (Kap. 3.3). Den existentiellen Hintergrund für den Aufbruch in ein neues Denken und den für

2,;

Zu Nietzsches mehr oder minder durch Ritsehl empfohlenen Eintritt in die Philologische Gesellschaft und seinem beginnenden Interesse an Diogenes Laertius vgl. dessen Rechenschaftsbericht: „Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre". In: B A W III, S. 291-315 und K G W I 4, S. 506-530. 27,1 Die Z u s a m m e n h ä n g e sind ausführlich dargestellt im Brief Nietzsches an Hermann Mushacke, N o v e m b e r 1866, KS Β 2, S. 182 f. 271 Entspricht K G W II 1, S. 77-167. 272 Entspricht K G W II 1, S. 169-190. 27 ' Es handelt sich um die Dissertationsschrift von Bahnsch, Friedrich: Quaestionum de Diogenis Laertii fontibus initia. Königsberg 1868. 274 Entspricht K G W II 1, S. 191-245. Publiziert wurde die Studie als Gratulationsschrift für seinen Kollegen Gerlach am Pädagogium Basel anlässlich des fünfzigjährigen Dienstjubiläums. 273 Vgl. hierfür etwa Barnes, Jonathan, Nietzsche and Diogenes Laertius, in: Nietzsche-Studien 15, 1986, S. 16-40: "Nietzsches scorn for Diogenes was, to some extant at least, conventional: that is h o w scholars wrote" (S. 21). 276 K G W II 1 , S . 89 f.

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Unerwähnt bleibt dabei freilich, dass es hinsichtlich des Diogenes gerade die „schläfrige Gewohnheit seiner Abschreiberei" ist,277 die dem aufstrebenden Philologen Nietzsche Gelegenheit bieten, sein Können zu demonstrieren. Alle drei Schriften lassen den später propagierten „Philologen der Zukunft" zwar noch völlig vermissen, sind zugleich aber ein charakteristisches Beispiel für die methodologisch und argumentativ elaborierte Quellenphilologie in der Tradition Ritschis. Der Quellenanalyse nebst hypothetischer Rekonstruktion von Abhängigkeiten zwischen Sekundär- und Tertiärquellen, sowie den konjekturalkritischen Reflexionen entspricht eine völlige Zurückhaltung gegenüber der inhaltlichen Dimension des antiken Textes. Konsequenzen für die Interpretationspraxis, mithin eine hermeneutische Fruchtbarkeit der Untersuchungsergebnisse werden an keiner Stelle der drei Arbeiten nahe gelegt, ja nicht einmal als Möglichkeit thematisiert. Die zentralen Thesen derselben, nämlich (1.) die völlige Abhängigkeit des Diogenes von Diocles von Magnesia, (2.) die Zurückführung der in den Leben zitierten Demetrius von Magnesia, Antisthenes und Alexander Polyhistor auf ebenjenen Diocles sowie (3.) die Anführung des Favorinus von Arelate als einer weiteren Hauptquelle, verweigern sich in ihrer disziplinaren Selbstbescheidung einer Auswertung für unser Thema und sollen darum nur erwähnt, nicht aber kommentiert werden. 278 Sieht man von den unzweideutigen Wertschätzungen gegenüber Diogenes und der mikrophilologischen Selbstbescheidung ab, so wird auffällig, dass Nietzsche in seiner letzten Studie zum Thema, den Beiträgen, im Hinblick auf den antiken Autor einen neuen Aspekt in den Vordergrund rückt. Dieser gibt sich in einer Neueinschätzung der literarischen Gesamtproduktion zu erkennen. Die Beiträge erklären den verloren gegangenen πάμμβτρο?, eine Sammlung von Grabepigrammen und Gedichten in unterschiedlichen Metren Uber die Todesarten berühmter Persönlichkeiten, zum Hauptwerk des Diogenes und behaupten damit die Vorrangigkeit seiner dichterischen Ambitionen gegenüber den doxographischen. Denn Diogenes, so wird im Hinblick auf die Passage IV, 15 der Leben und Lehren konstatiert, fühlte sich primär als Dichter. Die doxographische Überlieferung, derer er sich bediente, war demgegenüber zunächst nur eine „Topik für Epigrammstoff'. 2 7 9 Die nach „den überaus ungeschickten und geistverlassenen" 280 Epigrammen erschienene Philosophengeschichte ist dann wiederum als ein Werk 277 278

279 2811

K G W II 1, S. 193. Barnes, Nietzsche and Diogenes Laertius, a. a. O., sowie Gigante, Marcello, Friedrich Nietzsche und Diogenes Laertius. In: ,Centauren-Geburten', a. a. O., S. 3-16, rekonstruieren die Argumentationen vorbildlich, zeigen trotz gelegentlich unterschiedlicher Ansichten jeweils deren Innovativität angesichts einer bis dahin kaum vorhandenen Quellenforschung zu Diogenes ebenso auf wie deren Grenzen angesichts späterer philologischer Erkenntnisse und werten alles in allem sehr gerecht. Folgerungen der Auseinandersetzung mit Diogenes Laertius im Hinblick auf Nietzsches eigene schriftstellerische Ambitionen ziehen Barnes und Gigante dagegen noch nicht. K G W II 1, S. 197. Ebd.. S. 198.

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zu verstehen, dessen eigentlicher Sinn darin bestehe, Teile der eigenen dichterischen Produktion - deren Schicksal Diogenes wohl nur zu deutlich war - in eine schnell zu kompilierende doxographische Studie zu integrieren, deren Überlebenschancen im Überlieferungsstrom offensichtlich höher eingestuft wurden. Ist Nietzsches ausdrücklich an Francesco Patrizzi orientierte Einschätzung richtig, so müssen uns zumindest der schonungslose Realismus gegenüber seinen eigenen Fähigkeiten und die damit einhergehende Voraussicht bereits eine gewisse Sympathie für Diogenes abringen. Nietzsche selbst hat zur Zeit seiner letzten Diogenesstudie längst begonnen, den viel gescholtenen Autor mit anderen Augen zu betrachten. Die Tatsache, dass die Leben und Lehren kein eigenständiges oder ambitioniertes Werk eines bestimmten Autors sind, tritt jetzt zunehmend in den Hintergrund. Sie weicht der bedeutungsvolleren Erkenntnis, dass jenes Werk gerade in seinem Querschnittscharakter eine bestimmte, verlorene Weise der Philosophiegeschichtsschreibung repräsentieren könnte - Philosophiegeschichtsschreibung, die den Basler Professor nun nicht mehr als bloße literarische Gattung neben anderen interessiert, sondern vielmehr als eine exemplarische Manifestation des antiken Philosophieverständnisses.

3.1.2 Das Paradigma Diogenes: Philosophiegeschichte als Doxobiographie Die über zehn Jahre währende Beschäftigung des ambitionierten Studenten und jungen Professors mit Diogenes Laertius und der doxographisch philosophiehistorischen Literatur der Griechen erfolgte zunächst, wie gesehen, ausschließlich nach philologischen Gesichtspunkten und verlief weitgehend auf konventioneller Ebene. Nietzsches erwachendes philosophisches Selbstverständnis und seine in der Geburt der Tragödie vorgetragene Deutung der griechischen Kultur bewirken indessen auch hier eine Neuperspektivierung. Anstelle der komplexen Überlieferungsverhältnisse sind nunmehr die tradierten Inhalte, so schlicht sie auch organisiert sein mögen, als Zeugnisse für die Erhellung einer durch die Klassik verdunkelten Archaik von unüberschätzbarem Wert. War die Entdeckung der „tragischen Kultur" des Griechentums zunächst noch exemplarisch an der attischen Tragödie verdeutlicht worden, galt es nunmehr, das ganze Spektrum der neuerschlossenen Welt in den Blick zu bekommen. Mit Hinsicht auf die vormalige terra incognita heißt es programmatisch: „es gilt das 6te Jahrhundert aus seinem Grabe zu erlösen".281

281

N a c h l a s s 1 8 7 0 - 7 1 , K S A 7, 7 [ 1 9 1 ] , S. 2 1 2 .

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Vor diesem Hintergrund wird sich Nietzsche auch den ersten Philosophen des Abendlandes nähern - die der klassischen hellenischen Trias Sokrates, Piaton, Aristoteles vorausgehenden Denker rücken jetzt endgültig ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Resultat dieser Orientierung ist die unvollendete und unpublizierte Studie Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen,282 welche im Hinblick auf die Geburt der Tragödie ausdrücklich als „Bestätigung aus der Philosophie der Zeitgenossen" konzipiert ist. In der Rückanbindung an die skandalträchtige Erstlingsschrift manifestiert sich der Anspruch, nun auch die Philosophie im „tragischen Zeitalter" zu situieren und aus diesem heraus verständlich zu machen. Der viel geschmähte, subalterne Skribent Diogenes ist für Nietzsches philosophisches Antikeprojekt von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Die nunmehr offenkundige „tiefe Auffassung des philosophischen Lebens", die sich in PHG zeigt, verdankt sich einem neuen Umgang mit Diogenes Laertius. Hinter dessen nur selten verbundener Abfolge von Ereignissen des Lebens, Aussprüchen und schematisierter Lehre wird Nietzsche ein implizites Verständnis von Philosophie entdecken, dem die Verschränkung von Leben und Denken selbstverständlich ist. Ein Verständnis, dass das Denken eines Philosophen nur so lange zu reflektieren vermag, wie es sich durch dessen Leben illustrieren, gleichsam verlebendigen lässt. Abgesehen nämlich vom einzigartigen Informationswert der Leben und Lehren, die angesichts einer durch und durch fragmentarisierten Überlieferung häufig unsere einzige Quelle sind, 28j wird der halb biographische, halb doxographische, mit Anekdoten durchsetzte Duktus dieser Philosophiegeschichtsschreibung für Nietzsche nun auch zum Paradigma für das eigene Vorhaben. Während sich hinter der brieflichen Ankündigung, „diesen Winter in Basel die Geschichte der älteren griechischen Philosophie" zu lesen, „und zwar an der Hand des Laertius Diogenes" 284 noch vergleichsweise äußerliche methodische Orientierung verbergen mag, so weist doch ein späteres Bekenntnis aus der dritten unzeitgemäßen Betrachtung erstmals in eine denkbar andere Richtung: „ I c h w e n i g s t e n s l e s e L a e r t i u s D i o g e n e s l i e b e r a l s Z e l l e r , w e i l in j e n e m w e n i g s t e n s d e r G e i s t d e r a l t e n P h i l o s o p h e n lebt, in d i e s e m a b e r w e d e r d e r n o c h i r g e n d e i n a n d rer G e i s t " ( U B III 8, K S A 1, S. 4 1 7 ) .

Dieser „Geist" kann schwerlich in der konzeptionellen Anlage des Werkes liegen. Es ist vielmehr Geist der doxobiographischen Philosophiegeschichtsschreibung selbst, dem dasselbe trotz aller offenbaren Mängel zutiefst verpflichtet ist,

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Zur Textgenese der 1873 ausformulierten Studie vgl.: Cancik, Hubert: Nietzsches Antike, a. a. O.. S. 68. Dies räumt auch Nietzsche ein, der den Einstieg in die Geschichte der griechischen Philosophie von der Schlüsselübergabe des Wärters Diogenes abhängig macht. In: „Laertius Diogenes und seine Quellen", B A W V, S. 126 (Winter 1868/69). Nietzsche an Curth Wachsmuth, 14. Oktober 1869, KSB 3, Nr. 34, S. 64.

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den Nietzsche hier entdeckt. 285 Der Affront gegen Zellers monumentale, bis heute unverzichtbare Gesamtdarstellung der griechischen Philosophie liegt damit nur vordergründig in einem unbehaglichen Lektüreerlebnis begründet. Er richtet sich vielmehr gegen ein methodisches Postulat, welches das frühgriechische Denken im Hinblick auf das j e zeitgenössische Problembewusstsein hin systematisch rekonstruieren, sachlich aneignen und einer kritischen Bewertung unterziehen will. Zellers Werk ist unbestreitbar ein Meilenstein in der Geschichte der Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, sowohl was die Breite des zugrunde liegenden Materials betrifft als auch in Hinsicht auf die methodische fundierte und philologisch exakte Durchdringung des Stoffes. Im Verständnis Nietzsches aber gehört es einer für die europäische Tradition konstitutiven philosophiegeschichtlichen Tendenz an, die sich als systematische Problemgeschichte versteht und dabei auf eine einseitig sachorientierte, entwicklungsgeschichtliche Verfahrensweise beschränkt. Aristoteles, der die Denker vor ihm vornehmlich im Horizont seiner Ursachenkonzeption rekonstruierte und auf diese Weise nur unvollkommene Vorgänger in ihnen erblicken konnte, wirkt hier bereits paradigmatisch und bildet den Anfang einer langen Kette des anmaßenden Umgangs mit den ersten Philosophen. Nietzsche äußert dazu die provokante Feststellung, Aristoteles „scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht" (ΜΑ I 261, KSA 2, S. 217). Hegel wiederum, der vor dem Hintergrund seiner systematischen Philosophie des Geistes die Philosophiegeschichte als zeitliche Entfaltung dieser Systematik interpretierte, vermochte den Vorsokratikern wohl ein höheres Reflexionsniveau abzugewinnen, thematisierte sie aber dennoch als eine zu überwindende, eine aufzuhebende Gestalt des Geistes. Zeller zuletzt hat sich einerseits im methodologischen Einleitungsteil seiner historiographischen Großunternehmung zwar demonstrativ gegen Hegels „geschichtsphilosophische Konstruktion" am Leitfaden von dessen spekulativer Logik gewandt. Er unterstellte, „das Gebiet der Geschichte" sei „seiner Natur nach von dem der Philosophie verschieden". 2 8 6 Dennoch blieb auch er nolens volens Hegelianer. Für ihn stellt sich die Aufgabe einer „Ausmittlung und Darstellung dessen, was geschehen ist" 287 unter Anerkennung „der Überzeugung von der inneren Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung". 2 8 8 Auch für Zeller lässt

283

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287 288

Auch Barnes, Nietzsche and Diogenes Laertius, a. a. O., S. 21, konstatiert diesbezüglich: "It was surely in the anecdotal aspect of the Lives that Nietzsche found the spirit of the old philosophers, and it was that aspect which made the Lives congenial to him." Die hier angezeigte gewandelte Sichtweise wird j e d o c h von Barnes nicht mehr ausgeführt. Zeller, Eduard: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Bd. 1,1. Hg. von Wilhelm Nestle. 6. Aufl. Leipzig 1919 (1855). S. 11. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13.

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sich diese Entwicklung lediglich auf dem Boden eines fundierten systematischen Vorverständnisses nachzeichnen, kommt dabei jedoch nie zum Abschluss, denn dieses „ist selbst etwas, das sich zeitlich fortbildet". 289 Im Glauben, dass „es die geschichtlichen Überlieferungen selbst sind, aus denen wir den Zusammenhang des Geschehenen schließen", 290 sieht sich Zeller als nicht konstruierenden Rekonstrukteur seiner Zeit. Sein abschließendes methodologisches credo lautet folgerichtig: „ J e d e r Fortschritt der p h i l o s o p h i s c h e n E r k e n n t n i s e r ö f f n e t der g e s c h i c h t l i c h e n Bet r a c h t u n g n e u e G e s i c h t s p u n k t e , erleichtert ihr das V e r s t ä n d n i s der f r ü h e r e n System e , ihres Z u s a m m e n h a n g s u n d ihres V e r h ä l t n i s s e s ; u m g e k e h r t belehrt aber a u c h j e d e neu g e w o n n e n e E i n s i c h t in die Art, w i e die A u f g a b e n der p h i l o s o p h i s c h e n Fors c h u n g von a n d e r n g e f a ß t und gelöst w o r d e n sind [,..]." 2 9 1

Die merkwürdig inkonsequente Verbindung von Teleologie, Historismus und Positivismus musste Nietzsche trotz profunder Gelehrsamkeit suspekt erscheinen, fehlt ihr doch jegliche Überlegung zum „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" in seinem Sinne. Anstelle offensiver Konstruktion anhand des eigenen Zugriffs suggeriert Zellers Philosophiegeschichte eine Souveränität gegenüber ihrem „ S t o f f , deren Produktivität allerdings fraglich scheint. Schon der Einleitungssatz der Basler Vorlesung zu den „vorplatonischen Philosophen" 2 9 2 attackiert die Position des Souveräns, der zu fragen pflegt: „ W i e weit h a b e n , im V e r g l e i c h mit den n e u e r e n Philos. die G r i e c h e n die philos. P r o b l e m e e r k a n n t u. g e f ö r d e r t ( e b d . ) ? "

Neben diesen prinzipiellen Bedenken dürften es auch die umfangreichen Studien zur antiken Doxographie und damit die Einsicht in die hoch fragmentarisierte Überlieferung der frühgriechischen Denker gewesen sein, welche es Nietzsche unmöglich machte, Geschichte innerhalb der Begriffe der Rekonstruktion, der Systematisierbarkeit des „inneren Zusammenhangs" und der „fortschreitenden Entwicklung" denken zu können. So ist PHG folgerichtig von der pragmatischen Einsicht durchdrungen, dass „uns [,..]der großartigste Theil des griechischen Denkens und seines Ausdrucks in Worten verloren gegangen [ist]"(PHG 2, KSA 1, S. 811). Doch mündet diese ernüchternde Bestandsaufnahme nicht in methodi-

28 J

' Ebd.. S. 20. Ebd., S. 18. Ebd., S. 20 f. m VP, KGW II 4, S. 211. - Gigante, Marcello, Nietzsche und die klassische Philologie. In: „Jedes Wort ist ein Vorurteil"., a. a. O., S. 151-189, merkt hinsichtlich dieser Vorlesung parenthetisch an, „dass Nietzsches Ruhm auch in der Anwendung des Terminus Vorplatoniker liegt, der gegenüber dem sicher nicht glücklicheren, wenn auch erfolgreicheren Terminus Vorsokratiker von DielsKranz den Vorrang haben sollte" (S. 153).

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scher Selbstbescheidung oder einem Bekenntnis zur fragmentarisierenden Darstellung, vielmehr heißt es wenig später, „daß uns kein Wort, keine Anekdote, keine Jahreszahl mehr überliefert zu sein brauchte als überliefert ist, [...], um die allgemeine Lehre festzustellen, dass die Griechen die Philosophie rechtfertigten" (ebd., 81 lf.). Gegenüber dem historischen Paradigma der Rekonstruktion von Systemen und der Darstellung des inneren Entwicklungszusammenhangs, das fur die wissenschaftliche Geschichtsschreibung kennzeichnend ist, führt Nietzsche, wie im vorhergehenden Kapitel skizziert, das Programm einer historiographischen und zugleich „überhistorischen" Kunst ins Feld. Diese Kunst impliziert durch ihre Verarbeitung von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Betrachtung durchaus geltende wissenschaftliche Verfahrensweisen, geht jedoch nicht mehr in diesen auf. Jede Form von Teleologie, j a eines Geschichtsprozesses als solchen ebenso bestreitend wie die Rekonstruierbarkeit von „realhistorischen" Data will sie keine Wissenschaft mehr sein, insofern sie ebenjene Betrachtungsmodi „unter die Herrschaft des Lebens" stellt. Mit dem - betont offen gehaltenen - Begriff des Lebens begegnet Nietzsche dem im 19. Jahrhundert grassierenden „historischen Fieber" durch die Eröffnung einer „überhistorischen" Perspektive. Einer Perspektive, welche die souveräne Verortung des historischen Phänomens nach „objektiven" Kriterien ad absurdum führt und demgegenüber die Selbstsituierung innerhalb des Phänomens geradezu erzwingt. Geschichtsschreibung, die den Anspruch auf Objektivität eingebüßt hat, wird dabei konsequenterweise zu einer rhetorisch und künstlerisch organisierten Abfolge von Geschichten, Geschichtswissenschaft zum narrativen Akt, zur Erzählung. Nietzsche bekennt sich zur narratio, unmissverständlich kündigt er in der Einleitung zur PHG an, er „erzähle die Geschichte jener Philosophen", j a er erzähle sie „vereinfacht" (PHG Vorrede, KSA 1, S. 801). PHG ist mithin keine systematische Gesamtdarstellung, sie ist Philosophiehistorie in Gestalt einer erzählten Abfolge von Geschichten. Die Erzählung als Darstellungsform funktioniert ersichtlich anders als die der systematischen Monographie. Da sie nicht notwendig oder zumindest nicht ausschließlich von Argumenten zehrt, folgt sie auch nicht der alleinigen Forderung nach einer logischen Kohärenz diskursiver Einheiten. Die argumentative Widerlegung einer Erzählung würde zumindest befremden, wenn nicht deplaziert erscheinen. Erzählungen leben überwiegend von Momenten der kompositorischen Einheit und der rhetorisch-metaphorischen Gesamtanlage. Die erzählerische Einheit beruht nicht auf dem logisch stringenten Plot, sondern vollzieht sich im „Erzählfluss", der seinerseits einem eher ästhetisch ausgerichteten Kohärenzkriterium, vor allem dem dramaturgischen Anspruch einer auf- und abzubauenden Spannung verpflichtet ist. So wechseln auch innerhalb der Erzählung Nietzsches vergleichsweise nüchterne, objektiv anmutende Darstellungen mit außerordentlich suggesti-

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ven Sequenzen. Scheinbar wertungsfreie historische Exkurse wiederum werden von scharfer, betont subjektiver Zeitkritik abgelöst. Der Erzähler bedient sich innerhalb seiner narratio nur zu oft einer adaequatio ad rem, einer Angleichung des autoritativen Gestus an die zu thematisierende „Sache". Man vergleiche diesbezüglich vor allem die hochpathetische, zum mythischen Ton sich aufschwingende Einleitung in das Leben und Denken des wohl nicht minder pathetischen Heraklit am Anfang des fünften Kapitels. Nietzsche übernimmt es hier nur zu gern, die Rolle des modernen heraklitischen Sprachrohrs zu übernehmen, um gleichzeitig den modernen Leser mit archaischem Pathos zu konfrontieren. In der Rezeption erfordert die Erzählung wiederum eine andere Art von Aufmerksamkeit. Einer Erzählung gegenüber ist man eher rezeptiv als kritisch eingestellt. Man folgt ihr, oder versucht es zumindest, man „hört" ihr zu. Nietzsche hat es auf ebendiese Form des Zuhörens angelegt, als zwischenzeitliche Arbeitsanweisung für PHG notiert er sich: „Es ist eine Traum- und Märchentonart anzustimmen."29j Ein solches Verfahren will beim Leser eine gleichsam voraussetzungslose offene Passivität auslösen. Auch wenn dies nicht immer gelingen mag, es vereinzelt den Rezipienten dennoch stärker, als es eine auf nachvollziehendes Verstehen angelegte Monographie tut. Bedeutungsvolles Pathos, gleichnishafte Rede, Ironie und aphoristisch-gnomischer Stil wirken zunächst, ohne zu begründen, erwecken nach je persönlicher Disposition des Lesers dabei Zustimmung oder Ablehnung, ohne sich epistemologisch fixieren zu lassen. Sie schaffen als stilistischrhetorische Praktiken auch Spielräume der Reflexion. Spielräume, in denen sich dann auch potentielle Neudeutungen erproben können. 294 Nietzsche hat die übereifrige Schulpforta-Rhetorik, das überzogene missionarische Geltungsbedürfnis der Geburt der Tragödie nunmehr abgelegt und bekennt sich als Erzähler zu seinem neuen - jetzt auch bewusst gewählten und inszenierten - rhetorischen Repertoire. Wenn wir uns nunmehr den in der Einleitung angegebenen Kriterien zuwenden, die Nietzsches philosophiegeschichtlichen „Versuch" von „ähnlichen Versuchen" (PHG 2.Vorrede, KSA 1, 803) unterscheiden, wird zunächst vor allem eines ersichtlich: das wirkliche Ausmaß der jahrelangen Beschäftigung mit Diogenes Laertius. Während die herkömmliche Darstellungsart der Rekapitulation und Rekonstruktion „aller möglichen überlieferten Lehrsätze" ihrem Objektivität beanspruchenden Ethos getreu zwangsläufig auch „das völlige Verstummen des Per-

™ Nachlass 1875, KSA 8, 6[7], S. 100. 2 ,J ' Vgl. dazu Werner Stegmaiers Interpretation der Erzählstruktur von Also sprach Zarathustra in: Hauptwerke der Philosophie. Von Kant bis Nietzsche. Von Werner Stegmaier unter Mitarbeit von Hartwig Frank. Stuttgart 1997. S. 402-443, insbesondere S. 407 f.

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sönlichen" (ebd.) mit sich bringt, orientiert sich der Autor der PHG unter betonter Inkaufnahme der „Unvollständigkeit" auf „den Punkt in jedem System, der ein Stück P e r s ö n l i c h k e i t ist und zu jenem Unwiderleglichen Undiskutierbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat" (PHG, 1. Vorrede, KSA 1, S. 801).

Anstelle historisch-kritischer Distanz oder systematisch-aktualisierender Aneignung sucht Nietzsche nach „der persönlichen Stimmung, Farbe" des jeweiligen Denkers. Ziele sind dabei nicht mehr vorrangig die zugreifende Erkenntnis und das kritisches Urteil. Der neue Anspruch besteht vielmehr darin, überhaupt erst ein „Bild des Philosophen zu gewinnen" (ebd.). Für die Umsetzung dieses Ansatzes steht nach unserer Auffassung Diogenes Pate, hier wird ein Grundzug seines Schreibens, ungeachtet der unzulänglichen praktischen Umsetzung, in der Tiefe seiner Bedeutung bedacht und dem eigenen Vorhaben anverwandelt. Was in den Leben und Lehren bereits im Titel angekündigt wird, sich im Werk jedoch auf ein bloßes Nebeneinander von doxographischem und biographischem Material reduziert, wird zum gestalterische Grundprinzip in Nietzsches Erzählung: die unauflösliche Verschränkung von Reflexion und Existenz. Was Diogenes Laertius trotz seiner geringen konzeptionellen und literarischen Begabung zu einer beeindruckenden Rezeption verholfen hat und ihn auch heute noch lesenswert macht, sind vor allem die zahlreichen Anekdoten, die „seinem" Werk ihr eigentümliches Gepräge verleihen. Diogenes (der Philosoph) und seine Tonne, Heraklit und die Wassersucht, Empedokles und sein Sprung in den Vulkan, Krates, der unverschämte Türenöffner oder die nur zu oft Selbstmord verursachenden Reden des Hegesias: all das hat durch Diogenes - der selbst wohl nichts davon ersonnen oder gestaltet hat - Eingang in die abendländische Geistesgeschichte gefunden und ist auf vielfältige Weise von Philosophen und Literaten verarbeitet worden. Für Nietzsche rückt damit neben der Erzählung auch die Anekdote als Form philosophischer Schriftstellerei in den Mittelpunkt des Interesses. 295 Anekdoten bezeichnen im Unterschied zur materialreichen, die Lebensereignisse und Umstände schildernden und dabei zumeist chronologisch voranschreitenden Biographie, dem βίο?, eine besondere Weise des biographischen Schreibens. 296 Sie re-

2,5

2%

Bertram, Ernst: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918. S. 227-237, zeigt sicherlich Sensibilität für den Variantenreichtum anekdotischer Formen im Werk Nietzsches. Sein Versuch, die Eigenarten nietzscheschen Schreibens selbst angesichts so unterschiedlicher Texte wie der Aphorismenbucher, G M und des Zarathustra durch die Verortung des Autors als einer „anekdotischen N a t u r " zu vermitteln, opfert j e d o c h die stilistischen Differenzen zugunsten eines Begriffs der Anekdote, der seinerseits alle Konturen zu verlieren droht. Wehrli, Fritz, Gnome, Anekdote und Biographie. In: M u s e u m Helveticum 30 (1973). S. 193-208, interpretiert die spätantike Anekdotik zu einseitig als bloße „Unterhaltungsliteratur", in der das „In-

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I. T e i l : V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

flektieren das biographische Material von einem bestimmten Standpunkt aus, und formulieren das Ergebnis der Reflexion in kurzer beziehungsweise verkürzter, dafür aber treffender, pointierter Weise. Anekdoten richten den Fokus auf das Exemplarische der Persönlichkeit. Sie sondieren das biographische Material auf jene Ereignisse und Begebenheiten hin, in welchen sich die charakterliche Disposition eines Menschen am unmittelbarsten ausspricht, der Typus zum Vorschein kommt. Die Frage nach der Authentizität des durch die Anekdote „verbürgten" Geschehens ist demgegenüber sekundär. Nicht, dass es so war, ist relevant, sondern, dass es im Hinblick auf diesen oder jenen Menschen hätte so sein können. Aristoteles hat zu Beginn der Nikomachischen Ethik die Möglichkeit einer Anwendung exakter Methoden auf ethische und praktische Fragestellungen verworfen, demgegenüber eine typisierende Betrachtungsart angeraten und damit einen neuen folgenreichen methodologischen Parameter in die Philosophie und in die Wissenschaften eingeführt. 2 9 7 Sein Schüler und Nachfolger innerhalb der Akademie, Theophrast, nimmt diese Methode auf und typisiert nun jedoch nicht mehr nur moralisch wertvolle Haltungen, sondern auch jene menschlich-allzumenschlichen Eigenschaften, die nur selten in Tugendkatalogen Platz zu finden pflegen. 298 Er typisiert sie überdies auch schon in durchaus pointierter, oft witziger Weise und darf mit seinen Charakterskizzen als philosophischer Vorbereiter der im Hellenismus ausbrechenden Anekdotenwut gefasst werden. Wenn also das anekdotendurchsetzte Werk des Diogenes Laertius tatsächlich nicht mehr ist als ein repräsentativer Querschnitt durch die Überlieferungsmasse seiner Zeit, dann signalisiert dieser Befund andererseits zumindest zweierlei: die bildnerische Kraft, Originalität und ästhetische Qualität, zu der das literarische Kleinkunstwerk Anekdote im Lauf der Jahrhunderte gefunden hat, sowie die Bedeutung und Wirksamkeit, die sie als Tradierungsmedium für die Darstellung früherer Philosophen und Philosophien besessen hat. Nietzsche erblickt in der typisierenden Kraft eine der Anekdote eigentümliche Interpretationsleistung. In ihr wird das „Persönliche" als das „Unwiderlegbare" gleichsam konserviert. Die konzeptionell misslungenen Leben und Lehren haben die individuelle und existentielle Signatur des antiken Philosophierens trotz allem

d i v i d u e l l e v o m T y p i s c h e n , j e d e r m a n n G e l ä u f i g e n w i e d e r Uberdeckt w u r d e " (S. 2 0 8 ) . W e n n der A u tor den V e r l u s t der „ g e s c h i c h t l i c h e n u n d e t h o p o e t i s c h e n G l a u b w ü r d i g k e i t " g e r a d e h i n s i c h t l i c h der w i e d e r g e w o n n e n e n A u t o n o m i e der A n e k d o t e g e g e n ü b e r d e m b i o g r a p h i s c h e n P o r t r ä t beklagt, so z e i g t dies nur, d a s s m a n die e x e m p l a r i s c h e K r a f t d e s T y p i s c h e n a u t o m a t i s c h v e r k e n n t , w e n n die Kriterien h i s t o r i s c h e r A u t h e n t i z i t ä t u n d a u f s I n d i v i d u e l l e a b z i e l e n d e r literarischer G e s t a l t u n g ihrerseits u n r e f l e k t i e r t z u g r u n d e g e l e g t w e r d e n . n l 2,8

A r i s t o t e l e s : N i k o m a c h i s c h e E t h i k 1094 a-b. S o b e t o n t Peter S t e i n m e t z in: T h e o p h r a s t : C h a r a k t e r e . Gr. u n d Dt. Übers, u n d hg. v o n Dietrich K l o s e . M i t e i n e m N a c h w . v o n Peter S t e i n m e t z . Stuttgart 1970, d a s s g e r a d e d u r c h „die B e s c h r ä n k u n g a u f d a s f ü r den e i n e n Fehler W e s e n t l i c h e " die k a r i k i e r e n d e D a r s t e l l u n g T h e o p h r a s t s „ a u s Ind i v i d u e n T y p e n " m a c h t (S. 94).

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

115

augenscheinlich gemacht. Von ihnen ausgehend konnte der Autor der PHG im zweiten Vorwort konstatieren: „ A u s drei A n e c d o t e n ist es möglich, das Bild eines M e n s c h e n zu geben [ . . . ] (PHG, 2. Vorrede, K S A 1, 803). 2 9 9

Ausgehend vom programmatischen Charakter dieser Aussage ist mit Recht geltend gemacht worden, dass Nietzsches Philosophenbuch eine Umsetzung des anekdotischen Ansatzes vermissen lasse, dass in ihm bei genauer Betrachtung nicht eine einzige wirkliche Anekdote aufzufinden sei. 300 Doch scheint eine bloße Adaption des anekdotischen Ansatzes auch nicht intendiert zu sein, wenn unmittelbar auf die oben angeführte Passage die noch direktere programmatische Formulierung Nietzsches folgt, er „versuche es, aus jedem Systeme [sie!, Anm. d. Vs.] drei Anecdoten herauszuheben" (ebd.). Nimmt man diese befremdliche Formulierung ernst, so verändert sich auch die Programmatik des Vorwortes deutlich. Wer Anekdoten aus einem System herausheben will, das Anekdotische mithin nicht mehr vom Biographischen ausgehen lässt, muss zuvor einen neuen Begriff der Anekdote zugrunde gelegt haben. Nietzsche hat dies nirgendwo ausdrücklich getan. Doch die rhetorischen und stilistischen Eigenheiten der literarischen Praxis von PHG scheinen dieses alternative Konzept zu bestätigen: Die biographischen, auf die Persönlichkeit der Denker, ausgerichteten Sequenzen von PHG wollen nicht in der Form typisieren wie es die antike Anekdote tat. Es geht in ihnen nicht um das Bezeichnende des philosophischen Typus, das sich in einer bestimmten lebensweltlichen Konstellation kundgibt. Die Anekdote als philosophiegeschichtliches Medium der Antike scheint die philosophischen Lebensformen bereits vorauszusetzen. Von ihnen ausgehend, kann sie in kurzer und drastischer Form etwa das kynische oder stoische Leben durch entsprechendes biographisches Material illustrieren oder konterkarieren. Für die ersten Denker aber sind derartige Typisierungen nicht möglich, da noch keine spezifisch philosophischen Lebensformen existieren. Jenseits charakteristischer philosophischer Lebensstile drängt Nietzsche auf eine spekulative Wiedergewinnung der Individualität der ersten Denker. An ihnen ist der existentielle Antrieb relevant, der Philosophien und die dazugehörigen Lebensformen erst entstehen

2,9

In diesen Worten sieht auch der grundlegende Beitrag von Niehues-Pröbsting, Heinrich, Anekdote als philosophiegeschichtliches Medium. In: Nietzsche-Studien 12 (1983). S. 255-286, „ein Programm formuliert gegen die zeitgenössische Geschichtsschreibung der Philosophie" (S. 255). ""'Niehues-Pröbsting, Anekdote, a. a. O., S. 258, ist durchaus beizupflichten, wenn er „die Rekonstruktion der Urheberpersönlichkeiten durch Übersetzung der Theorie ins Individuell-Gestalthafte und Reduktion auf Anekdoten" lediglich „ansatzweise" durchgeführt sieht. Wenn er indessen eine „Diskrepanz zwischen programmatischer Absicht und Realisierung" konstatiert, liegt dies wohl auch daran, dass hier der Unterschied zwischen der biographischen Anekdote antiker Tradition und der Anekdote Nietzsches, die eben aus dem System herausgehoben werden soll - und dies sagt ja die Programmatik-, noch nicht ausreichend in Rechnung gestellt worden ist.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

ließ, eben jener „Punkt aus jedem System [...], der ein Stück P e r s ö n l i c h k e i t ist". Schon die betont populär gehaltene Bildhaftigkeit des gesamten Textes scheint in die vorbegriffliche Geisteswelt der Archaik einführen zu wollen. Nietzsche verzichtet dabei fast gänzlich auf das ihm vorliegende biographische oder besser: pseudobiographische Material zu den Vorsokratikern. Leben wird weniger als ein ßios1, als Abfolge von Ereignissen thematisiert, sondern als Gestimmtheit und Grundgefühl problematisiert. Das Persönliche erscheint somit im Text hauptsächlich in Form einer angedeuteten charakterlichen Disposition, eines individuellen Pathos, das sich durch die Wahl der Metaphoriken der jeweils dargestellten philosophischen Grundlehre angleicht. 301 Während den berühmten Denkern der Archaik das „fast grenzenlose Heraustreten aus allen Conventionen" (PHG 10, S. 841) gemeinsam ist, sorgt erst die - zweifellos noch recht einseitige psycho-genealogische Rückführung für eine inhaltliche Differenzierung, mithin für das Auseinandertreten von Weltdeutungen. Jene Deutungen werden in PHG folgerichtig nicht mehr diskursiv entwickelt, sondern eher als Abfolge von Einfällen und Intuitionen, bei Parmenides und Heraklit sogar als Offenbarungserlebnisse quasireligiöser Dimension, inszeniert. Das unweigerlich spekulative Aufspüren und Ausgestalten eines persönlichen und stets individuellen Impulses in den Konzeptionen der frühgriechischen Denker kennzeichnet die doxobiographische Praxis von PHG. 3 0 2 Das philosophiehistorische Werk des Diogenes Laertius ließ Nietzsche die lebensweltliche Anbindung und die Individualität des griechischen Denkens erkennen und gab ihm zugleich die literarischen Gestaltungsmittel der Erzählung und

" " So ist es etwa Anaximanders „tragischer Stolz in seinen Gebärden und Lebensgewohnheiten", von dem ausgehend ihm nach Nietzsche die Existenz als „moralisches P h ä n o m e n " in den Blick gerät (PHG 4, S. 820 f.). Thaies wird demgegenüber aus von einem persönlichen „Bedürfniß, das Reich der Vielheit zu simplificiren" (ebd.) erschlossen. Wenn Nietzsche wiederum die Gefahr sieht, den Weltenbrand Heraklits im Sinne Anaximanders und dessen Satzes fehlgehend auszulegen, so wird auch dies als Regression von ästhetischer Intuition in Pessimismus zunächst in charakterologischer Metaphorik expliziert: „Man nehme diesen Gedanken einmal ernst: In seiner Beleuchtung verwandelt sich, vor unseren Blicken, das Gesicht Heraklits, das stolze Leuchten seiner Augen erlischt, ein faltiger Zug schmerzlicher Entsagung, der Ohnmacht prägt sich aus, es scheint daß wir wissen, warum das spätere Alterthum ihn den „weinenden Philosophen" nannte" (PHG 6, S. 829 f.). Erst dann folgt die thematische Gegenargumentation. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. 302

Innerhalb der klassischen Philologie hat sich Deichgräber, Karl: Persönlichkeitsethos und philosophisches Forschertum der vorsokratischen Denker. In: Ders.: Der listensinnige Trug des Gottes. Göttingen 1956. S. 57-82, von Nietzsches doxobiographischem Ansatz zumindest zum Teil inspirieren lassen. Deichgräber will Nietzsches „Blickrichtung aufnehmen", dabei indessen „nicht auf das Biographisch-Persönliche oder gar Private des einzelnen vorsokratischen Denkers" abheben, sondern vielmehr „die Lebenskräfte, die ethischen Mächte, welche jeder dieser alten Denkerpersönlichkeiten ihre besondere Prägung geben", erfassen (S. 57). Neben der, mit Nietzsche geteilten A u f fassung, dass J e d e s fruchtbare Philosophieren [...] voll verwurzelt in der Gesamtwirklichkeit des Lebens" ist, sieht auch er seine Suche nach dem „Persönlichkeitsethos" der frühgriechischen Denker vor allem durch die Anfangssituation gerechtfertigt, in der sich die vorsokratische Philosophie ereignet: „Auch die Art, wie sich die Philosophie selbst erlebt, hat in dieser Zeit etwas unwiederholbar Charakteristisches" (S. 58).

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

117

der Anekdote für das eigene Projekt an die Hand. Das im Titel des spätantiken Werkes artikulierte, aber unerfüllte Versprechen, Leben und Lehren der früheren Denker zusammenzuschauen, hat Nietzsche in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen auf seine Weise einzulösen versucht: die Transformation der Philosophiegeschichte zur doxobiographischen Erzählung.

3.2 Die Geburt der Philosophie

aus der griechischen

Kultur

Als Angelpunkt der Reflexionen des jungen Nietzsches darf der Begriff der Kultur angesehen werden. 303 Derselbe ist nach einer so oder ähnlich im Frühwerk anzutreffenden Formulierung als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes" (UB I, KSA 1, S. 163) bestimmt. Kultur als kultiviertes Leben wird in ihr organologisch gedeutet, mithin als funktionierende, wohlproportionierte Lebendigkeit interpretiert. Mit dem organologischen Kulturbegriff geht ein morphologisches Geschichtsmodell einher. Kulturen werden in ihm unter den Stichworten „Wachstum", „Blüte" und „Verfall" analog zum biologischen Entwicklungsbegriff gesichtet und somit gleichsam renaturalisiert. Beide Betrachtungsformen haben aufgrund ihrer vielfältigen normativen Implikationen gegenwärtig ausgedient, sie sind nicht allein ideologisch fragwürdig, sondern vor allem hermeneutisch unfruchtbar. Auch Nietzsche hat seine sich jenen Betrachtungsformen verdankende jugendliche Hoffnung auf eine bewirkbare „Steigerung" der Kultur vergleichsweise schnell verabschiedet, die Reflexion auf kulturelle Phänomene im Horizont des Lebens jedoch zu einem Grundpfeiler seines Philosophierens werden lassen. Die Kategorie der „Lebensdienlichkeit" hat ihn veranlasst, auch die Philosophie in bis dahin ungewohnter Form auf ihren „Werth" für die Kultur zu befragen/ 0 4 Das nur selten hinterfragte „Kulturgut" Philosophie ist, wie der therapeutische Einstieg von PHG signalisiert, keineswegs ein Gut an sich, denn die „Ärzte des Volkes" - wer auch immer diese sind - „verwerfen die Philosophie" (PHG I, S. 804). Nicht die „erkrankten Köpfe" der Deutschen, heißt es wenig später, und ihr Hang zur krankheitsvertiefenden „Metaphysik" - schon hier gibt Nietzsche sich selbst, wenn nicht als Arzt, so doch als Diagnostiker zu erkennen - sind also auf den Wert der Philosophie zu befragen. Wenn die Einheit des Stils innerhalb

303

31,4

Ulmer, Karl: Nietzsche. Einheit und Sinn seines Werks. Bern, München 1962, hat Nietzsches Philosophie im Ganzen als eine sich vertiefende Reflexionsbewegung im Hinblick auf das Phänomen Kultur gedeutet. Während es dem j u n g e n Nietzsche vornehmlich noch um die Erneuerung oder Steigerung der ihn umgebenden Kultur gegangen sei, treten erst seit M A die Bedingungsgefüge einer Kultur als solcher und die Vielheit der Kulturen ins Zentrum des Denken Nietzsches. Vgl. dazu Stegmaier, Werner, Nietzsches N e u b e s t i m m u n g der Philosophie, in: Djuric, Mihailo (Hg.): Nietzsches Begriff der Philosophie, Würzburg 1990 (Nietzsche in der Diskussion). S. 21-36. S. 21 f.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

der bestehenden Lebensformen den höchsten Begriff von Kultur bezeichnet und die Griechen als die „wahrhaft Gesunden" (PHG 1, S. 805) diesem emphatischen Begriff entsprechen, so kann die Entstehung der Philosophie bei ihnen nicht zufällig sein. 305 Es kann mithin „nur eine Kultur wie die griechische" die Frage nach dem Wert und „der Aufgabe des Philosophen beantworten" (PHG 1, S. 809). Nietzsches Blick auf die griechische Kultur erweist sich, wie bereits ausgeführt wurde, zunächst als demonstrativer Abgesang auf einen klassizistischen Philhellenismus, der seinerseits als Kultur auftrat, ohne dabei einem bloß archaisierenden Antiklassizismus zu verfallen. Ein bisher nur angeklungenes Moment der griechischen und insbesondere der frühgriechischen Lebenswelt ist der Prozess der Kolonienbildung, der in seiner Dynamik und seinem Folgenreichtum die Eigenheiten und Potentiale der Archaik am bezeichnendsten zum Ausdruck bringt. j 0 6 Auch in PHG sind es „die Üppigkeit, das Entdeckerglück, [der] Reichthum und die Sinnlichkeit der griechischen Kolonien", von denen ausgehend Nietzsche sich dem vorsokratischen Denken widmet. j 0 7 Die Erschließung neuen Lebensraums vom Phasis, dem östlichsten Zipfel des Schwarzen Meeres bis zu den Säulen des Herakles zwischen 730 und 580 formiert gewissermaßen die archaische Kultur als solche. Piaton hat die Eigenart der Griechen gegenüber Nichtgriechen eben darin gesehen, dass sie sowohl vereinzelt als auch gemeinsam rings um das Meer angesiedelt sind wie Mäuse und Frösche rings um den Teich. 308 Für Nietzsche besteht das Faszinosum dieses Prozesses darin, dass sich „das Griechische" als Pluralität origineller Lebensentwürfe konstituiert und nicht als nationale, panhellenische Idee. Griechische Identitätsbildung vollzieht sich innerhalb der Kolonisationstätigkeit im permanenten Wechselspiel zwischen dem Export des Eigenen und der Anverwandlung des Fremden. Mit der Polis wird eine

3,15

3116

3117

108

Z u m in P H G eingeführten Begriff von Gesundheit vgl. Strong: Transfiguration, a. a. Ο.. S. 144: "Despite the Darwinian overtones, Nietzsche has something other than purely physiological characteristics in mind. The health of a culture may be measured, in his estimation, by the degree to wich that culture does not set itself insoluble tasks." Ein Standardwerk zum Kolonisationsprozess bietet Boardman, John: The Greek Overseas. Their Early Colonies and Trade. 4. Aufl. London 1999 (1964), der das Ausgreifen der Griechen auf bis dato f r e m d e Lebensräume anhand archäologischer Evidenzen nachzeichnet. Miller. Theresa: Die griechische Kolonisation im Spiegel literarischer Zeugnisse. Tübingen 1997 (Classica Monacensia, Bd. 14) rekonstruiert den Kolonisationsprozess durch eine Auswertung griechischer Quellen und stellt insofern ein philologisches Pendant zu Boardman dar. Ambitionierter ist demgegenüber der Versuch von Dougherty, Carol: The Poetics of Colonization. From City to Text in Archaic Greece. Oxford 1993. In ihrer Interpretation sieht die Autorin von rekonstruktiven Absichten im Hinblick auf den historischen Verlauf des Kolonisationsgeschehens ab und widmet sich stattdessen der konstitutiven Rolle der Kolonisation im Hinblick auf die kulturelle Selbstkonstruktion des Griechentums. Wenngleich in dieser Formulierung neben den relevanten italischen Neugründungen vorzugsweise die älteren Ansiedlungen an der kleinasiatischen Küste im Gefolge der ionischen Wanderung gemeint zu sein scheinen. Vgl. Piaton: Phaidon 109a-b.

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

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Lebensform exportiert, deren Etablierung in der Mutterstadt oftmals noch nicht gesichert ist und die eben durch den kulturellen Transfer das neu geschaffene, noch fragile Eigene stabilisiert. Der Export einer Lebensform ist mittelbar stets auch die Konzeptualisierung derselben und damit zuletzt deren nachhaltige Stabilisierung. Nicht selten werden - wie etwa bei zahlreichen unteritalischen und sizilischen Gründungen - die konzeptionell angelegten Apoikien ihre „natürlich" gewachsenen Mutterstädte kulturell ein- und überholen. In diesem Zusammenhang muss außerdem geltend gemacht werden, dass die Kolonisation nicht als sterile Implementierung, als zivilisatorische Transferleistung zu denken ist. Diese stellt sich vielmehr als eine Anverwandlungsleistung dar, die auch die eigene Kultur nachhaltig verändert und die Rasanz ihrer Fortbildung auslöste: „ E s ist e i n g a n z u n k l a r e r B e g r i f f , v o n G r i e c h e n z u r e d e n , d i e n o c h n i c h t in G r i e c h e n l a n d l e b t e n . D a s E i g e n t h ü m l i c h e - G r i e c h i s c h e ist v i e l w e n i g e r d a s R e s u l t a t d e r A n l a g e als der adaptirten Institutionen [,..]."309

Als Aufbruch ins Fremde - eine Rückkehr der Oikisten war meist ausgeschlossen - ist die Etablierung einer Lebensform, sei es an den italischen, iberischen, thrakischen oder den nordafrikanischen Küstengebieten, auch ein existentieller Interpretationsprozess. Dieser wiederum lässt sich zu gleichen Anteilen auch als Assimilationsprozess beschreiben, der geradezu zu Kreativität, Flexibilität und Konsequenz verdammt. Wie schon zuvor in den ionischen Küstenstädten, so korrespondierte auch in den neuen Gründungen der interpretatio graeca des Vorgefundenen vor allem ein ungemein fruchtbarer Lernprozess. Dass sich das spezifisch „Griechische" in der so genannten Archaik nicht im Stile einer „centralisienden Tendenz", eines panhellenischen Einheitsgedankens etabliert, sondern sich als „Pluralität", mithin als Gemeinschaft bestimmter Lebensformen und sozialer Praktiken innerhalb einer Vielzahl von autonomen, miteinander konkurrierenden Stadtstaaten formiert, ist eine jener Erkenntnisse, die das Fundament von Nietzsches Griechenbild ausmachen. Dieses Fundament gilt es hier festzuhalten, da es sich gerade im Hinblick auf die vorsokratischen Denker als außerordentlich trag- und leistungsfähig erweisen wird. Die Verschiedenheit der griechischen Kolonien bezeichnen die lebensweltliche Dimension jener „Polyphonie der griechischen Natur" (PHG, 1. Vorrede, S. 803), die Nietzsche im Hinblick auf die ersten Philosophen wieder erklingen lassen will. Die Griechen sind aus dieser Perspektive also kein einheitliches Volk im Sinne eines Nationalgedankens - sie sind es erst recht nicht als Rasse. 310 Nietzsche hat

m

Nachlass 1875, KS A 8, 2[6], S. 12. '"' Z u m umstrittenen Verhältnis von „Rasse" und „Züchtung" bei Nietzsche vergleiche die ausgewogenen Darstellugen bei Schänk, Gerd: „Rasse" und „Züchtung" bei Nietzsche. Berlin, N e w York 2000 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 44) und Henning Ottmann: Philoso-

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I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

große Freude daran, das reine Griechentum des Klassizismus als zusammengewürfelte Einheit aller denkbaren Völkerscharen zu imaginieren. Keine Ethnie jener Zeit - Semiten und Mongolen eingeschlossen - , die ihm nicht wert wäre, zur griechischen „Rasse" beigetragen zu haben. Repräsentativ für eine Reihe ähnlicher Fragmente ist eine ethnologische Spekulation aus dem Nachlass des Jahres 1875: „ U r b e v ö l k e r u n g griechischen Bodens: mongolischer Abkunft mit Baum und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt. Hier und da Thrakier. Die Griechen haben alle Bestandtheile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit (in den Odysseusfabeln manches Mongolische). [...] Was sind „Rassegriechen"? Genügt es nicht anzunehmen, daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart G r i e c h e n geworden s i n d ? ' " "

Zahllose, bis in den dritten Humanismus hinein gepflogene Bekenntnisse von der natürlichen, harmonisch durchbildeten griechischen Seele und der einzigartigen Befähigung des hellenischen Geistes - Auffassungen, die mitunter noch heute begegnen - waren von einem latentem Rassismus zumindest begleitet und dabei stets „kulturkonservativ" inspiriert. Für Nietzsche sind die Hellenen demgegenüber zunächst „Entdecker und Reisende und Kolonisatoren", denen eine „ungeheure Aneignungskraft" eigen ist. Für sie gilt darum nur eine Auszeichnung: „Sie verstehen zu l e r n e n .

'" 1 2

Wer lernt, verändert sich. Er verändert sich aber nur, weil er auch fähig ist, sich verändern zu lassen. Der für Nietzsches Griechenbild so bedeutsame Aspekt des Lernens ist betont gegen den Begriff des Wissens, oder besser: gegen ein bestimmtes Verständnis des Begriffs Wissen, abgesetzt. Einem „orthodoxen" Wisssenskonzept im Sinne der sachlicher Auf- und Übernahme, der bloßen Reproduzierbarkeit und der autopoietischen Differenzierung wird zu Beginn von PHG das Deutungspotential und lebensnotwendige Aneignungsbedürfnis der Griechen gegenübergestellt, die, „was sie lernten, sogleich leben wollten" (PHG 1, S. 807). Beinahe wehmütig schließt das angeführte Nachlassfragment mit den

pliie u n d Politik bei N i e t z s c h e . B e r l i n , N e w Y o r k 1 9 8 7 ( M o n o g r a p h i e n u n d T e x t e z u r N i e t z s c h e F o r s c h u n g , B d . 17). A l s „ R a s s e " f o r m i e r t sich das G r i e c h e n t u m b e i m j u n g e n N i e t z s c h e d u r c h „ R e i n i g u n g " nur, i n s o f e r n es e i n e k u l t u r e l l e I d e n t i t ä t g e w i n n t , die ihrerseits d u r c h die A u s p r ä g u n g e i n e r b e s t i m m t e n O r d n u n g s o z i a l e r u n d p o l i t i s c h e r P r a k t i k e n g e k e n n z e i c h n e t ist. Im H i n b l i c k a u f e i n e mögliche N ä h e z u m Rassenverständnis Gobineaus konstatierte zuletzt Martin, Nicholas, Breeding G r e e k s : N i e t z s c h e , G o b i n e a u , and C l a s s i c a l T h e o r i e s o f R a c e . In: B i s h o p , Paul ( H g . ) : N i e t z s c h e a n d A n t i q u i t y . , a. a. Ο . , S. 4 0 - 5 3 , n o c h m a l s : „ U n l i k e G o b i n e a u , N i e t z s c h e u n d e r s t a n d s „ r a c e " to b e t h e p r o d u c t p r i m a r i l y o f social and e n v i r o n m e n t a l , rather than b i o l o g i c a l f a c t o r s (S. 4 3 ) " 311

312

N a c h l a s s 1875, 5 [ 1 9 8 ] , K S A 8, S. 9 6 . C a n c i k , C a n c i k - L i n d e m a i e r : P h i l o l o g u n d K u l t f i g u r , a. a. 0 . , S. 8 7 - 1 0 3 , lassen sich a u c h a n g e s i c h t s s o l c h e r u n d ä h n l i c h e r F r a g m e n t e n i c h t in d e m V e r s u c h beirren, N i e t z s c h e z u m R a s s e n t h e o r e t i k e r zu m a c h e n , b e z i e h u n g s w e i s e N i e t z s c h e s G r i e c h e n b i l d als rassistisch zu „ e n t l a r v e n " . N a c h l a s s 1 8 7 2 - 7 3 , K S A 7, 19[42], S. 4 3 2 .

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

121

Worten: „Bei uns bleibt alles Erkenntnis". Lernen wird in diesen Kontrastierungen als selektive Praxis thematisiert und im Hinblick auf die Griechen der Archaik als filternder Rezeptionsprozess beschrieben. Der Filter aber waren die lebensweltlichen Bedürfnisse, pragmatischen Handlungszwänge und das eigene, stets im Wandel befindliche, fragile Selbstverständnis. 313 Vor dem aufgerissenen kulturellen Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass auch die Philosophie in den griechischen Gründungen, nicht aber im Mutterland entstand, dass der Philosoph „unter den ungeheuren Gefahren und Verführungen der Verweltlichung erscheint" und „mitten in den Reichthum und die Sinnlichkeit der griechischen Kolonien hineinschreitet" (PHG 1, S. 808). Auch das philosophische Denken ist keine griechische creatio ex nihilo, erfunden von einem zur Philosophie begabten Volk, sondern eine der Konsequenzen jener vielfältigen interpretationes graecae des Kolonisationsprozesses und der Auseinandersetzung mit benachbarten Großreichen wie Persien oder Ägypten. Hesiods Theogonie etwa ist ohne die orientalischen Sukzessionsmythen nicht denkbar, seine Werke und Tage leben eminent von den Spruchweisheiten vorderasiatischer und ägyptischer Provenienz. Ähnliche Abhängigkeiten lassen sich, heutzutage mit noch größerer Plausibilität als zu Nietzsches Zeiten, durchaus auch für die Vorsokratiker nachweisen. Nietzsche verweist in solchen Zusammenhängen auf das ganze Spektrum zeitgenössischer Rekonstruktionsversuche möglicher Beziehungen. Zarathustra neben Heraklit, die Inder neben die Eleaten, die Ägypter neben Empedokles zu stellen, Anaxagoras und die Juden, Pythagoras und die Chinesen aufeinander zu beziehen und auf Abhängigkeiten hin zu befragen, war zwar stets ein hochspekulatives, aber dennoch keineswegs ein unmotiviertes Unternehmen. Nietzsche, der sich an dergleichen Spekulationen nur selten beteiligt, sie lediglich erwähnt und als Interpretationsmöglichkeiten durchaus auch akzeptiert, grenzt sich indessen deutlich von der Folgerung ab, „dass die Philosophie somit in Griechenland nur importirt [...] sei" (PHG 1, S. 806). Analog zur Pluralität der Poleis und Gesellschaftsformen im archaischen Griechenland denkt der Autor von PHG die Vorsokratiker als eine „Polyphonie der griechischen Natur". Das Polyphone des Denkens steht in untrennbarem Zusammenhang zur Pluralität der sozialen und politischen Einheiten und bezieht aus ebendiesem Zusammenhang seine Eigentümlichkeit. Das griechische Leben bedurfte vieler Stimmen und verschiedenster Vorstellungs- und Konzeptualisierungsversuche, um seinen mannigfaltigen Ausprägungen immer wieder Rechnung tragen zu können. Die ersten Philosophen repräsentieren in all der Unterschied-

Als spezifisch griechisch darf vor diesem Hintergrund eine schöne Feststellung des Aristoteles angesehen werden. In der Politik, Δ 1, 1289a, hält es der Autor „für ein nicht geringeres Werk, die politische O r d n u n g zu verbessern, als sie von A n f a n g an einzurichten." Begründet wird dies bezeichnenderweise damit, dass es j a auch nicht geringer sei, umzulernen (μεταμαιΛΜι^α') als neu zu lernen (μανθάν€ΐι; έξ άρχηΞ).

122

I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

lichkeit ihrer konzeptionellen Ansätze die unterschiedlichen lebensweltlichen Bedingungen der Archaik. Das Durchbrechen der geographischen und „ethnologischen" Horizonte sowie der Innovationszwang im Kolonisations- und Institutionalisierungsprozess korrespondierten stets mit angemessenen, neuen Formen der Reflexion. So gesehen entzündete sich das vorsokratische Denken nicht allein an jenem von Aristoteles vermuteten θαυμάζειν über die π ρ ο χ ώ ρ α των απόρων, 3 1 4 es resultiert vielmehr aus der existentiellen Gefährdung, die jedem Wandlungsprozess, jeder Horizonterweiterung eigentümlich ist. Es muss demzufolge eher als Versuch thematisiert werden, Distanz zu gewinnen und der Vielheit neu gewonnener empirischer Kenntnisse, wissenschaftlicher Verfahrens vorzugsweise astronomischer und mathematischer Natur, ferner der Vielzahl orientalischer soteriologischer Religionsangebote, Spruchweisheiten und theurgischer Dualismen Raum im Denken zu geben, ohne sich dabei von ihnen assimilieren zu lassen. So hat zunächst von den „alten griechischen Philosophen jeder eine Noth ausgedrückt: dort, in die Lücke hinein stellt er sein System. Er baut seine Welt in diese Lücke hinein.'" 15 Die vordergründige Gewaltsamkeit der Abstraktion und der apodiktische Duktus, die dem philosophischen „Pathos der Wahrheit" von Beginn an inhärent waren, sind zunächst nichts weiter als Symptome dieser Not und des Willens zur eigenständigen Orientierung, zur Behauptung auf neuem Terrain. Gerade die für die Philosophie bahnbrechenden Arche-Spekulationen signalisieren nach Nietzsche den für die Archaik bezeichnenden Fundierungszwang eines neuen Denkens inmitten alternativer, miteinander konkurrierender Weltdeutungen. 3 1 6

314

Aristoteles: Metaphysik A, 982c. •'15 Nachlass 1872-73, KSA 7, 19[23], S. 423. Während Nietzsche die Philosophie als neue Orientierungsmöglichkeit innerhalb der griechischen Frühzeit vorzugsweise v o m individuellen Standpunkt der frühgriechischen Denker aus in den Blick nimmt, haben insbesondere Vernant, Jean-Pierre: Die Entstehung des griechischen Denkens. Aus dem Franz. von E d m u n d Jacoby. Frankfurt a. M. 1982 (Paris 1962), und Detienne, Marcel: Les maitres de verite dans le grece archalque. Paris 1962, sie aus den politischen und sozialen Bedingungen der Archaik verständlich zu machen versucht. Während Vernant im frühgriechischen Denken eine bestimmte Form der Rationalität erkennt, die sich den im Entstehen begriffenen Organisationsstrukturen der Polis verdankt, bindet Detienne in zu kurz greifender Weise ein jeweils zu besetzendes Deutungsmonopol mit der Notwendigkeit von Herrschaftslegitimation zusammen. Die „Herren der Wahrheit" rekrutieren sich dabei zunächst aus - als sozialen Gruppen interpretierten Sehern, Dichtern und Richter-Königen.

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

123

3.3 ,, Wissenschaft und Weisheit im Kampfe ": Das philosophische Fragen im Spannungsfeld von Mythos und Wissenschaft Fasst man die Geburt der Philosophie mit Nietzsche im angeführten Sinne als Orientierungs- und Fundierungsleistung in einer radikalen Umbruchszeit, wird eine Reflexion auf die Sinn stiftenden Konkurrenzunternehmungen jener Zeit, mithin auf die Komplexe Religion - Kult, Mythos - Dichtung sowie empirische Forschung - Wissenschaft erforderlich. Nietzsche leistet diese Reflexion und expliziert dabei die entstehende Philosophie wechselweise durch mythologische, wissenschaftliche, politische und religiöse Semantiken. Wie wenig hilfreich für das Erschließen dieser Zusammenhänge etwa das Stereotyp „Vom Mythos zum Logos" ist, 317 wird angesichts der differenzierteren und kulturspezifischen Überlegungen Nietzsches schnell ersichtlich. In Bezug auf Religion und Mythos gehen diese Überlegungen von dem entscheidenden Faktum aus, dass das Griechentum im Gegensatz zu den umgebenden Großreichen und bestehenden Hochkulturen „ohne normative Theologie" 3 ' 8 lebte. Es gab keine fixierten Gottesworte, keine kanonischen heiligen Schriften, keine Instanzen mit theologischem Deutungsmonopol, keinerlei priesterliches Spezialistentum.'' 19 So waren die Spielräume der Reflexion nicht allein ungewöhnlich groß, sie waren vor allem nicht am ursprünglich religiösen Kriterium der Orthodoxie, der Normativität ausgerichtet. Für „das Göttliche" galt vielmehr der gegenläufige Befund: „ j e d e r hat d a s R e c h t daran zu dichten und er k a n n glauben, w a s er will" (ebd.).

Anschaulich wird dies schon bei Homer und Hesiod, den ersten Repräsentanten der europäischen Geistesgeschichte. Jene beiden, die nach Herodot den Griechen ihre Götter gaben, vertreten in unübersehbarer Weise diametral verschiedene theologische Ansätze. Die homerischen Epen waren vornehmlich an eine ein-

' n Dasselbe wurde freilich erst Jahrzehnte später von Wilhelm Nestle formuliert, ähnelt aber den gängigen positivistischen Erklärungsmodellen, denen sich auch der j u n g e Nietzsche gegenübersah. 318 N a c h l a s s 1872-73, K S A 7, 19[110], S. 455. 319 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, a. a. O., S. 271, differenziert diesen Befund, indem er mit Recht auf den Z u s a m m e n h a n g zwischen Überlieferung und Schriftlichkeit abhebt: „Die Schriftlichkeit, die in Israel zu einer kristallinen Stillstellung und Monolithisierung der Überlieferung führt, führt in Griechenland zur Verflüssigung, zum Strittigwerden und zur Differenzierung der Überlieferung. Beide Prinzipien, der jüdische „Einklang" und der griechische „Widerspruch", stehen der Struktur mündlicher Überlieferung gleichermaßen fern." Nietzsche, der gerade angesichts seiner Studien zur Tragödie, zur Rhetorik und den platonischen Dialogen auf den in einer Kultur der Oralität angelegten Performanzcharakter des Sprechens abgehoben hat, scheint dem Medium Schrift eine Beteiligung am im sechsten Jahrhundert einsetzenden Rationalitätsschub nicht zuzugestehen. - Havelock, Eric Α.: The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences. Princeton 1982. verknüpft den kulturellen Sonderweg Griechenlands und insbesondere die Entstehung der Philosophie mit der spezifischen Leistungsfähigkeit der griechischen Alphabetschrift.

124

I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

grenzbare Oberschicht adressiert, deren Selbstverständnis sie zu bestärken, deren Sozialverhalten mit all seinen ästhetischen Präferenzen sie zu rühmen hatten. Sie sind primär Gesänge für eine oligarchische am Wettkampf orientierte, nach Auszeichnung und Distinktion strebende Aristokratie. Die homerischen Götter sind folgerichtig Potenzierungen des in den Epen vertretenen Ethos. In vergleichsweise wenig rationalisierter und von moralischer Reflexion unberührter Form beeindrucken sie durch ihre physische Präsenz. Ihre Übermenschlichkeit zeigt sich nur zu oft in gesteigerter Vitalität. Während sie auf diese Weise die Leistungsfähigkeit der Sterblichen überbieten, sind ihre Interessen an den Menschen zutiefst persönlich und von uneingeschränkter Parteilichkeit geprägt, als Schutzgottheiten unterstützen sie ihre Günstlinge auch bei Morden, unter Umständen Massenmorden jenseits aller sozialen Angemessenheit. 3 2 0 So ist für Homers Theologie nach Nietzsche auch kennzeichnend, dass zwischen Menschen und Göttern „ein gegenseitiges Interesse" und darüber hinaus „eine Art Symmachie" (ΜΑ 1114, KSA 2, S. 117) bestehe. Dem am aristokratischen Ethos ausgerichteten Gedanken, Götter als Waffengefährten und Mitkämpfer fur die eigene Sache zu entwerfen, steht wiederum Hesiod mit seiner Theologie diametral entgegen. Hesiod, der boiotische Bauer, dessen Vater aus dem aiolischen Kyme stammt, steht offenkundig unter dem Eindruck altorientalischer Sukzessionsmytholgie und Weisheitslehre/ 2 1 Seine Perspektive beleuchtet die griechische Welt gewissermaßen von unten, mit seiner spezifischen sozialen Disposition artikuliert er auch denkbar andere Ansprüche an die Götter. Er versucht, diese, insbesondere Zeus, vor dem Hintergrund sozialer Spannungen und eines zu schützenden Gemeinwesens als objektivitäts- und gerechtigkeitsermöglichende Instanzen im Pantheon zu installieren. An die Stelle homerischer Symmachien treten nunmehr transzendente, objektivere Götter, deren Erhabenheit durch die formalen Mittel der Systematisierung, der Genealogie und der Hierarchie gekennzeichnet wird. An Hesiod wird ersichtlich, wie sehr der Mythos schon vom Logos durchwoben sein kann. Ein auf Systematisierung abzielender Zugriff ist für Nietzsche kein vorsokratisches Spezifikum. Vorzugsweise an Hesiod streicht er heraus, dass gerade „in der griech Götterordnung und Göttergenesis" die „Kraft zu systematisieren sehr gross'" 2 2 sei.

" " Für den Fall des Freiermords in der Odyssee macht dies anhand der von Homer geschilderten Beziehung zwischen Athene und Odysseus Flaig, Egon, Tödliches Freien. Penelopes Ruhm, Telemachs Status und die sozialen Nonnen. In: Historische Anthropologie 3 (1995). S. 364-388, deutlich. Sein Fazit lautet: „Odysseus kennt kein Maß bei der Wiederherstellung seiner Ehre und nimmt dafür einen Bürgerkrieg in seiner Heimat in Kauf. Aber eine unerhörte Tat zu begehen, steigert den Ruhm; und das homerische Epos verherrlicht die transgressorischen Akte, auch wenn sie auf Kosten der lokalen Gemeinschaften erfolgen" (S. 388). 321 Vgl. dazu Burkert, Walter: Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur. Heidelberg 1984 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften). 322 VP, KGW 114, S. 219.

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„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

Auch in den orphischen Theogonien/ 2 '' insbesondere in der „prosaischen Thegonie" des Pherekydes von Syros, sind Mythos und Logos eigenwillig miteinander verwoben. j 2 4 Anhand der spärlichen Fragmente des Letzteren glaubt Nietzsche dessen „grossen Einfluss auf die Physiologen" zu erkennen, denn: „ w i r f i n d e n alle Prinzipien vereinzelt bei ihnen wieder, die f l ü s s i g e U r m a t e r i e bei T h a i e s , d e n t h ä t i g e n H a u c h bei A n a x i m e n e s , d a s a b s o l u t e W e r d e n χ ρ ό ν ο ? bei H e raklit, bei A n a x i m a n d e r V Ii3'5 άπειρον.

das

unbekannte

form- und

qualitätslose

Urwesen

τό

Mag die Feststellung derartiger Abhängigkeiten auch deutlich überzogen sein, so wird dennoch an ihr ersichtlich, wie Nietzsche die entstehende Philosophie nicht zur Alternative des mythischen Bewusstseins stilisiert, sondern als Transformation desselben, als neue Ausdrucksmöglichkeit, beschreiben will. Gerade angesichts einer eigenständigen vorsokratischen Mythopoiese, die bei Empedokles ihren Höhepunkt zu finden scheint, lässt sich das Verhältnis von Mythos und Philosophie prinzipiell nicht als „Fortschritt" perspektivieren, sondern muss eher in Kategorien der Wandlung erfasst werden. In einer in Auseinandersetzung mit den ersten Philosophen gewonnenen Nachlassformulierung wird die Philosophie als „Dichtung außer den Grenzen der Erfahrung" und als „Fortsetzung des m y t h i s c h e n T r i e b e s " charakterisiert/ 2 6 Wenn Nietzsche schließlich innerhalb desselben Fragments in noch provokanterer Weise das philosophische Denken als „Überwindung des Wissens durch m y t h e n b i l d e n d e K r ä f t e " bestimmt, negiert er damit geradezu das positivistische Paradigma. Durch die Konfrontation der archaischen Griechen mit den, übermenschlich anmutenden, astronomischen und mathematischen Kenntnissen Ägyptens und Babyloniens formiert sich mit der Philosophie eine Form alternativer, phänomenal konkreterer Reflexion. Anhand der ersten philosophischen Ansätze, insbesondere derjenigen des ionischen Ursprungsgebietes, wird ersichtlich, wie sich philosophisch-ganzheitliche Spekulation und empirische Forschung qua Wissenschaft, zunächst gegenseitig

j24

325 126

Vgl. dazu zuletzt Biebuyck, Benjamin; Praet, Danny; Vanden Poel, Isabelle, Cults and Migrations. Nietzsche's Meditations on Orphism, Pythagoreanism, and the Greek Mysteries. In: Bishop, Paul (Hg.): Nietzsche and Antiquity., a. a. O., S. 151-169. Generell relevant für diese Z u s a m m e n h ä n g e ist Jäger, Werner: Die Theologie der frühen griechischen Denker. Stuttgart 1953, der das chronologische Nebeneinander von Theologie und Philosophie augenscheinlich gemacht hat. VP, a. a. Ο., S. 223. Nachlass 1872-73, K.SA 7, 19 [62], S. 439. Bezeichnend für Nietzsches Verortung des frühgriechischen Denkens ist auch die abschließende Feststellung dieses Fragments: „Die mathematische Darstellung gehört nicht zum Wesen des Philosophen."

126

I. Teil: V o n der P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

dynamisieren. Thaies von Milet „steht als Mathematiker und Astronom [...] an der Spitze der griechischen Wissenschaft", beziehungsweise - wie Nietzsche in derartigen Fällen nur selten hinzuzufügen unterlässt - an der Spitze der Übernahme wissenschaftlicher Kenntnisse von den „Orientalen". Für Anaximander und Hekataios gilt wiederum, dass sie „den Grund zu einer besseren Erd- und Himmelsbeschreibung legten." Die Denker stehen zunächst immer auch im Dienste konkreter lebensweltlicher Erfordernisse, die an die grundlegenden Situierungszwänge gebunden sind, ohne sich jedoch in diesen zu erschöpfen. Im Verzicht und der programmatischen Negation bestehender Sinnangebote der Tradition, in Ionien wohl namentlich Homers, und in der Verdichtung empirischer Kenntnisse zu vergleichsweise selbstgenügsamen Hypothesen erweist sich Thaies als „unmythischer", wissenschaftlicher „Naturforscher" (PHG 3, S. 813). Entscheidend für die Genese philosophischen Denkens ist nach Nietzsche nun jedoch, dass Thaies nicht „nur eine wissenschaftliche Hypothese" aufstellt, sondern in Form einer Ursprungsspekulation, einer „ungeheuren Verallgemeinerung" zugleich den Bereich der Wissenschaft überschreitet und damit philosophisch begrenzt: „ A b e r er g i e n g über das W i s s e n s c h a f t l i c h e h i n a u s " (ebd.).

Während also die wissenschaftliche Disziplinierung des Denkens den unmittelbaren lebensweltlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen versuchte und sich auf diese Weise von den symbolischen Sinnkonstitutionen des Mythos entfernte, war der philosophischen Reflexion von Beginn an auch eine Distanz gegenüber der wissenschaftlichen Erklärung, ein „Überspringen" der wissenschaftlichen Sphäre eigentümlich. Für Nietzsches Verständnis frühgriechischer Spekulation scheint gerade dieser überwissenschaftliche Grundzug konstitutiven Charakter zu besitzen. Den latenten Konflikt zwischen empirischer Rationalität und philosophischer Spekulation hatte jeder vorsokratische Denker zunächst gewissermaßen mit sich selbst auszutragen. Gerade weil ein autonomes Feld einzelwissenschaftlicher Forschung noch nicht existierte und sich erst im fünften vorchristlichen Jahrhundert herauszubilden begann, gibt sich das vorsokratische Denken, das immer auch wissenschaftliches Denken ist, für Nietzsche erst dann als Philosophie zu erkennen, wenn es die Funktion eines Regulativs gegenüber szientistischer Erklärung übernimmt und als subordinierende Instanz auftritt: „ D i e P h i l o s o p h i e enthält eine B ä n d i g u n g des Erkenntnisstriebes: und darin liegt ihre K u l t u r b e d e u t u n g . "

Die Erfahrung, „dass der ungebändigte Wissenstrieb an sich [...] ebenso barbarisirt als der Wissenshaß" (PHG 1, S. 807), kann als Ausgangserfahrung des philosophischen Denkens geltend gemacht werden. Wie konstitutiv sie zumindest für das Selbstverständnis der ersten Philosophen war, zeigt exemplarisch Heraklit, dessen scheinbar maßlose Verachtungs- und Verdammungsworte auf die ττολυμαθίη an so verschiedene Figuren wie Xenophanes, Pythagoras, Hesiod oder Hektai-

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

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os adressiert s i n d / 2 7 Ob als Kritik berechtigt oder nicht, richten sie sich gegen die deskriptive und autopoietische Struktur eines einseitigen rational-empirischen Weltbezuges, zu der sich die forschende ιστορία ohne begleitende philosophische Fundierung zwangsläufig verhärtet. In einem umfangreichen Nachlasskomplex - dessen bezeichnender Titel „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe, dargestellt an den ältern griechischen Philosophen" lautet 328 — beantwortet Nietzsche die selbst aufgeworfene Frage nach dem Wert der Philosophie für die Kultur im Hinblick auf die ersten griechischen Denker am präzisesten. Diese sind ihm vor allem ein Ausdruck für „die Lebenskraft jener Cultur, die ihre eigenen Corrective erzeugt" 329 So unbezweifelbar die neu gewonnenen astronomischen, mathematischen und geographischen Kenntnisse des siebenten und sechsten Jahrhunderts auch einen neuen Standard des Denkens, einen Rationalitätsschub ermöglichten, ohne welchen die Rasanz der politischen und sozialen Entwicklung in der griechischen Archaik nicht vorzustellen wäre, so unbestreitbar ist auch die Tatsache, dass eben jene Formen der Reflexion dem Menschen- und Götterbild der Tradition nicht mehr entsprachen und insofern Erkenntniszuwachs mit Desorientierung verknüpften. Nietzsche hat die einem aufgebrochenen Horizont inhärente Ambivalenz deutlich erkannt. In seiner Sichtweise wird das Moment betont, dass Rationalitätsschübe keineswegs zwangsläufig mit wachsender Sicherheit, sondern oftmals auch mit existentiellen Gefährdungen einhergehen. Der, bereits angeführte, von Heraklit artikulierte Widerwille gegen eine autark verfahrende empirische Wissenschaft entspringt eben jener Erfahrung der Fragilität bestehender Ordnungen und dem Wissen um die Gefahr eines kulturellen Identitätsverlustes. So gesehen sind die diskursiv schwer zu vermittelnden Einheits- und Ursprungskonzeptionen auch in einem ethischen Sinn als der Versuch einer „Heiligung und Reinigung im Großen" (PHG 2, 810) 3 j 0 zu begreifen. Sie sind Fundierungsleistungen in einer von Deutungsdefiziten und einer damit einhergehenden empfundenen „grenzenlosen

H e r a k l i t , D K 4 0 . Z i t i e r t w e r d e n a u c h alle f o l g e n d e n F r a g m e n t e u n d T e s t i m o n i e n der f r ü h g r i e c h i s c h e n D e n k e r n a c h Diels, H e r m a n n , K r a n z , W a l t e r ( H g . ) : D i e F r a g m e n t e d e r V o r s o k r a t i k e r . G r i e c h . u n d D e u t s c h . 6. A u f l . B e r l i n 1951-52. 328

N a c h l a s s 1875, K S A 8, 6 [ 5 ] - 6 [ 5 1 ] S. 9 8 - 1 2 0 , im F o l g e n d e n m i t W W K b e z e i c h n e t . Z u den A b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s s e n z w i s c h e n den T e x t g r u p p e n W W K , P H G u n d Μ Α I 2 6 1 v g l . C a n c i k . H u b e r t : N i e t z s c h e s A n t i k e , a. a. O . , S. 73 f. 329 W W K 6 [ 1 3 ] , S. 102. " " Die auf Sorge u m die Seele orientierte Moralistik der klassischen und hellenistischen Philosophens c h u l e n d i e n t N i e t z s c h e als G e g e n b i l d z u m k u l t u r s t i f t e n d e n I m p e t u s d e r v o r s o k r a t i s c h e n D e n k e r . D i e i n d i v i d u a l e t h i s c h e n L e h r e n E p i k u r s o d e r d e r S t o a w e r d e n in P H G n o c h als D e k a d e n z p r o d u k t e t h e m a t i s i e r t , die S c h u l e n s e l b s t sind „ S e k t e n " u n d „ i n s g e s a m m t O p p o s i t i o n s a n s t a l t e n g e g e n d i e h e l l e n i s c h e K u l t u r " ( P H G 2, 810). D a s s N i e t z s c h e d i e s e l b e n T e n d e n z e n v o n e i n e m a n d e r e n S t a n d p u n k t w i e d e r u m a n g e m e s s e n e r zu b e u r t e i l e n v e r m a g , z e i g t O t t m a n n , H e n n i n g , N i e t z s c h e s S t e l l u n g z u r a n t i k e n u n d m o d e r n e n A u f k l ä r u n g . In: S i m o n , J o s e f ( H g . ) : N i e t z s c h e u n d die p h i l o s o p h i s c h e T r a d i tion, Bd. II. W ü r z b u r g 1985 ( N i e t z s c h e in d e r D i s k u s s i o n ) . S. 9 - 3 5 .

128

I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

Unsicherheit" der vom Mythos geprägten Welt, für die gilt: „Man sehnt sich nach Sicherem." 331 Sicherheit für das Individuum aber konnte nach Nietzsche nicht von separierten Kenntnissen und auch nicht von obsolet gewordenen Mythologemen bereitgestellt werden. In einer bestimmten kulturellen Konstellation wie der des archaischen Griechenlands brauchte eine bestimmte Art Mensch nicht mehr nur Erkenntnisse, sondern „ l e t z t e E r k e n n t n i s s e , Philosophie. Diese eschatologische Dimension verbindet Religion, Mythos und Philosophie. Trotz mannigfaltiger Differenzen ist das Faktum einer,, innersten Verwandtschaft der Philosophen und der Religionsstifter" 333 ein Schlüssel für Nietzsches Verständnis der Geburt der abendländischen Philosophie.

3.4 Nietzsches

Freilegung einer problematischen Existenz: als kulturelle „Grenzfigur"

Der

Philosoph

Dass uns die größten Güter durch den Wahnsinn zuteil werden, wie der begeisterte Sokrates es lediglich in der Maske des Stesichoros am Anfang seines Seelenmythos im Phaidros auszusprechen und auszuführen wagt/ 3 4 ist ein Diktum, das für Nietzsche in einem besonderen Sinn auch für die Geburt der Philosophie gilt. Während sich der Logos als das Medium der Philosophie innerhalb des platonischen Werkes maßgeblich als die andere Seite des Wahnsinns, des Zaubers und der Unreinheit, der Erregung, Leidenschaft und Gottesfülle konstituiert findet," 5 wird in einem Aphorismus der Morgenröthe konstatiert:

331 552 333 334 333

W W K 6 [ 7 ] , S. 99. Ebd. Nachlass 1872-73, KSA 7, 19[62], S. 439. Piaton: Phaidros 244a. Derrida, Jacques: Disemination (Or.: La dissemination. Paris 1972). Aus dem Frz. übers, von HansDieter Gondek. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1995. Darin: Piatons Pharmazie 69-190, hat die supplementäre Struktur des Logos in seiner Platon-Studie „Pharmakon" (S. 73-191) bisher am eindringlichsten und differenziertesten herausgearbeitet. Ausgehend von der im Wort Pharmakon angelegten, zwischen den Bedeutungen Gift, Droge, Arznei, Heilmittel und Werkzeug changierenden Ambiguität dekonstruiert Derrida das Werk Piatons im Hinblick auf die begriffliche (intentionale) und die metaphorische (nichtintentionale) Präsenz dieses Wortes im Werk. Dabei wird ein strukturelles Paradox ersichtlich: Wann immer Piaton sich pharmazeutischer Termini bedient, scheint er rigorose Abwertungen vorzunehmen. Pharmaka werden wahlweise als Gifte, Zaubereien, Krankheiten und „unnatürliche" Zustände, dysfunktionale Institutionen, Täuschungen und Trugbilder eingeführt, die es auf den Ebenen der Medizin, der Politik, der Naturwissenschaft oder der Ontologie durch das M e d i u m des Logos aufzuheben oder zu beseitigen gilt. Zugleich ist das „Zeichen Pharm a k o n " in j e n e n Stellen des platonischen Werks präsent, in denen konstitutive semantische Fixierungen, Oppositionen und Hierarchisierungen vorgenommen werden. Für Derrida wird sichtbar, dass überall dort, wo Pharmazeutika vonseiten des Logos ausgeschlossen werden, es gleichzeitig das Operieren mit dem Zeichen „Pharmakon" ist, das diesen Ausschluss ermöglicht. Diese Gleichzeitigkeit legt Derrida unter anderem für die Schrift, die Gesetze sowie die Gestalt des Sokrates und

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

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„fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens bricht" (Μ I 14, KSA 3, S. 26). A u c h Piatons Philosophie lebte noch v o m Impuls einer „plötzlichen", nichtdiskursiven E n t g r e n z u n g , ist indessen von der B e m ü h u n g getragen, das Ereignis der E r l e u c h t u n g als eine u n v e r f ü g b a r e B e l o h n u n g unermüdlicher, j a lebenslanger dialektischer Selbstauslegung und Begriffsexplikation zu thematisieren. Eine solche, durchaus legitime V e r s a c h l i c h u n g setzt ihrerseits sowohl eine sozial anerkannte Stellung des Philosophen als auch institutionalisierte Formen der Reflexion voraus. Für die frühgriechischen D e n k e r sind nach N i e t z s c h e beide V o r a u s s e t z u n gen nicht gegeben, j e d e r von ihnen musste zunächst die Verhältnisse um sich und w i e d e r u m sich in den Verhältnissen fundieren. Der „ W a h n s i n n " ihres D e n k e n s tritt ihnen dabei gleichsam ungeschützt entgegen. Fragend legt N i e t z s c h e diese, uns nicht m e h r zugängliche Selbsterfahrung im a n g e f ü h r t e n A p h o r i s m u s auf zwei M e r k m a l e hin aus. So erscheint dasjenige, w a s sich konventionellen B e s t i m m u n gen entzieht, zunächst als: „Etwas, das so sichtbar das Zeichen völliger Unfreiwilligkeit trug, wie die Zuckungen und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien? Etwas, das dem Träger eines neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor sich und nicht mehr Gewissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet und Märtyrer desselben zu werden" (ebd.)? Die M o m e n t e von „Unfreiwilligkeit" und „ E h r f u r c h t und Schauder vor sich selbst" weisen auf die narrative Praxis von P H G zurück, in w e l c h e r die G e d a n k e n der f r ü h g r i e c h i s c h e n Philosophen als Illuminationen quasireligiösen Charakters inszeniert werden. A u c h für Pythagoras und E m p e d o k l e s hatte N i e t z s c h e in Ueber das Pathos der Wahrheit geltend gemacht, sie „behandelten sich selbst mit einer ü b e r m e n s c h l i c h e n Schätzung, j a mit fast religiöser S c h e u " ( K S A 1, S. 758). Der Titel des kleinen V e r s u c h s ist durchaus bezeichnend. Wahrheit wird nicht als neue Erkenntnis, sondern zunächst als ein Pathos erfahren, das eine neue Selbstinterpretation erzwingt. K e n n z e i c h n e n d f ü r j e d e n Vertreter dieser vorsokratischen „ G r e n z f i g u r e n " ist die Fähigkeit, ausgehend von diesem Pathos eine eigene L e b e n s f o r m zu kultivieren. Dass diese L e b e n s f o r m e n zunächst an d e n j e n i g e n v o r h a n d e n e n Rollen orientiert waren, die sich zu dieser Zeit um ein D e u t u n g s m o n o p o l - in einem s c h w a c h e n Sinn des Wortes - b e m ü h t e n , liegt auf der Hand. In diesem

deren jeweiligen Bezug zum Logos in seiner Lektüre frei. Sichtbar wird anstelle einer autonomen, in Oppositionen verfestigten logozentrischen Sinnkonstitution ein Fundierungsverhältnis, das den Piatonismus als „die philosophische und epistemische Ordnung des logos als Antidot, als in die allgemeine und a-logische Ökonomie des Pharmakon eingeschriebene Kraft" (S. 140) interpretiert. Die semantische Indifferenz des Pharmakon ist gleichsam der gestaltlose supplementäre Grund, auf dem der Logos via negationis sich selbst und anderem Bestimmungen verleihen kann.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

Z u s a m m e n h a n g operiert N i e t z s c h e mit d e m T e r m i n u s „ G r e n z f i g u r " , den er zunächst f ü r E m p e d o k l e s geltend macht. Im Hinblick auf diesen führt N i e t z s c h e aus: „Er schwebt zwischen Arzt u. Zauberer, zwischen Dichter u. Rhetor, zwischen Gott u. Mensch, zwischen Wissenschaftsmensch u. Künstler, zwischen Staatsmann u. Priester, [...]: er ist die buntgefärbteste Gestalt der älteren Philosophie: mit ihm scheidet das Zeitalter des Mythus, der Tragödie, des Orgiasmus, aber zugleich erscheint in ihm der neuere Grieche, als demokratischer Staatsmann, Redner Aufklärer Allegoriker, wissenschaftl. Mensch." 336 In der griechischen Archaik hat die Philosophie noch keinen 0 r t . j j 7 A n h a n d einer e t y m o l o g i s c h e n D e u t u n g - deren sprachwissenschaftliche Plausibilität freilich umstritten ist - wird in P H G der Begriff des Philosophen über die Begriffsreihe φιλόσοφοςσοφός - sapiens - „der S c h m e c k e n d e " entwickelt. A n a l o g zum ästhetischen A n s a t z der Geburt der Tragödie wird damit auch die philosophische Praxis primär als ein sinnliches G e s c h e h e n begriffen und expliziert. N i e t z s c h e beschreibt sie als „ein scharfes H e r a u s m e r k e n und -erkennen, ein b e d e u t e n d e s U n t e r s c h e i d e n " ( P H G , S. 816). Die als „Kunst der Philosophie" ausfindig gem a c h t e Distinktionsfähigkeit verdankt sich dabei nicht den S c h e m a t i s i e r u n g s m e c h a n i s m e n bestehender Rationalitätskriterien: „die Reflexion bringt nachher ihre Maßstäbe und Schablonen heran und sucht die Ähnlichkeiten durch Gleichheiten, das Nebeneinander-Geschaute durch Kausalitäten zu ersetzen" (PHG, S. 814). Sie verdankt sich d e m g e g e n ü b e r einem nichtdiskursiven Element, einem kreativem Impuls. Eine „ f r e m d e , unlogische Macht, die Phantasie" überschreitet die Grenzen der Diskursivität - zu denen sie freilich auch stets z u r ü c k z u k e h r e n genötigt bleibt. Sie zeigt sich „im blitzartigen Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten" (ebd.) und zeichnet sich dadurch aus, distinguierend zu sein, ohne die Ähnlichkeiten der Physis auf Identitäten zu reduzieren und damit die Physiologie auf eine O n t o l o g i e hin zu überschreiten.

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VP, K.GW II 4, S. 328. Nietzsches Darstellung des Empedokles innerhalb der Vorlesung zu den vorplatonischen Philosophen ist neben derjenigen Heraklits wohl die eindringlichste Annäherung an den Typus des frühgriechischen Denkers - die fehlende „Umsetzung" in P H G ist ungemein bedauerlich. Den Grad der persönlichen Involvierung in die mit dem Agrigentiner verbundenen Probleme zeigt Nietzsches Planung und konzeptionelle Skizze für ein Empedokles-Drama auf. Vgl. dazu Soring, Jürgen, Nietzsches Empedokles-Plan. In: Nietzsche-Studien 19 (1990). S. 176-211 und Cancik, Nietzsches Antike, a. a. O., S. 71 ff. Deleuze, Gilles: Nietzsche. Ein Lesebuch (Or.: Nietzsche. Paris 1965). Aus dem Frz. Ubers, von Ronald Voullie. Berlin 1979. S. 20, deutet das Denken der Vorsokratiker zunächst über die Metapher der „Kraft" und folgert: „Und es ist das Gesetz von Kräften, dass sie nur in Erscheinung treten können, indem sie sich mit der Maske vorher existierender Kräfte bedecken. [...] Es war durchaus notwendig, dass die philosophische Kraft, als sie in Griechenland geboren wurde, sich verkleidete, um zu überleben. Es war notwendig, dass der Philosoph das Verhalten vorheriger Kräfte übernahm und sich die Maske des Priesters entlieh."

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

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Was im Tragödienbuch als „aesthetische Leistung", als gemeinschaftliche Fähigkeit zur Versinnlichung der umgebenden mythischen Fundamente gefasst worden ist, findet in der Vorsokratiker-Studie nunmehr seine „Bestätigung" im Bereich des philosophischen Denkens. Auch hier geht der Verzicht auf die eingespielten, überlieferten Formen der Erfahrungsbewältigung mit einer versinnlichten Neukonstitution der Welt einher. Während jedoch beim tragischen Agon durch die „dionysische Weisheit" eine Wiedergewinnung des Eigenen, der tragenden Form im Mittelpunkt steht, wendet sich das vorsokratische Denken oft programmatisch von der traditionellen mythischen Symbolwelt ab. In der Abkehr von einer fragwürdig gewordenen mythischen Form und einem damit einhergehenden Willen zur ganzheitlichen Weltauslegung erscheinen die ersten Philosophen innerhalb ihrer Umwelt als desintegriert und repräsentieren damit zugleich einen neuen Typ Mensch, ein „Individuum, welches a u f s i c h s e l b s t stehen will.""" 8 Der unerhörte Anspruch, mit dem das neue Denken verknüpft war, konnte zuletzt nur von einer entsprechend disponierten Persönlichkeit eingelöst werden. Für die ersten Philosophen galt nach Nietzsche folgerichtig: „Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge N o t w e n d i g k e i t " (PHG 1, S. 807). Das frühgriechische Philosophieren hatte keinerlei legitimierende Instanz außer sich, auf die es innerhalb seiner Entwürfe rekurrieren konnte. Es lebte vornehmlich vom existentiellen Engagement seines vereinzelten Trägers und war damit unweigerlich mit dem Ausloten aller bestehenden Lebensformen sowie der Etablierung neuer Lebensentwürfe verknüpft. Wie niemand zuvor insistiert Nietzsche auf die Resistenz des vorsokratischen Impulses gegenüber einer sachorientierten Auslegung und systematisierenden Inanspruchnahme. Die irreduzible, den Systemen inhärente Persönlichkeit dieses Denkens war ihm, wie schon angedeutet, Garant der prinzipiellen Unwiderlegbarkeit jener Entwürfe und zugleich deren Qualitätsmerkmal. Leben und Denken sind in PHG für das Zeitalter der griechischen Archaik als notwendig aufeinander angewiesen vorgestellt. Das Denken jener Philosophen war in seiner bis heute erstaunlich anmutenden Originalität Ausdruck und Explikation einer bestimmten, noch nicht da gewesenen Weise zu leben. Wenn die Philosophie vor dem Hintergrund mannigfaltiger lebensweltlicher Möglichkeiten einerseits als „Polyphonie der griechischen Natur" bestimmt wird, so können die Vorsokratiker im Hinblick auf den Experimentalcharakter und die exstatische Position ihres Denkens andererseits dennoch als „zusammengehörige Gesellschaft" (PHG 2, S. 809) aufgefasst werden. Diese Gemeinschaft ist ihrerseits nicht die einer Sache oder eines bestimmten, gemeinsam geteilten Rationalitätskalküls. Bestimmung findet sie lediglich durch gemeinsame typologische Eigenheiten, in denen sich das Exzentrische ihrer Philosophie manifestiert. Im sechs-

™ W W K , K S A 8, 6[7], S. 99.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

ten vorchristlichen Jahrhundert lebten fur Nietzsche „die typischen Philosophenköpfe": „die ganze Nachwelt hat nichts Wesentliches mehr hinzu erfunden" (PHG, S. 807). Gerade das scheinbare Paradox, das die ersten Philosophen noch keinen Begriff der Philosophie hatten und haben konnten, dass Anaximander, Anaximenes und Heraklit nicht wussten, dass sie Philosophen sind, verleiht ihrem Denken den höchsten Grad an Verbindlichkeit. In diesem Sinne ist in der Geburt der Philosophie zugleich auch deren höchste Möglichkeit angelegt. 339 In der institutionell unterregulierten Welt der Archaik barg der Ausbruch aus vorgegebenen Denkmustern und die damit einhergehende Entfernung vom Nomos also ein doppeltes Risiko. Abgesehen von der sozialen Desintegration und dem Fehlen jeglicher institutionalisierter Denkgemeinschaften - gab es doch keinen „Philosophen- und Gelehrtenstand" (PHG 1, S. 807) - fehlte den Vorsokratikern auch , j e d e Convention" im Denken und damit die Möglichkeit zum Distanzgewinn, j a zum Schutz vor den eigenen, fundamental neuen Gedankenwelten. Die Nichtexistenz von auf Allgemeinheit und Zustimmbarkeit ausgerichteten, diskursiven Vergegenwärtigungsmöglichkeiten zwang sie zu einer „Energie", „durch die sie alle Späteren übertreffen", zwang sie: „ihre eigene Form zu finden und diese bis ins Feinste und Größte durch Metamorphose fortzuspinnen" (ebd.). Philosophie in Form einer Pluralität individueller Philosophien setzt Menschen voraus, deren Selbstbild nicht in einem gemeinschaftlichen kulturellen Selbstverständnis aufgeht, deren Lebensbild „reicher und complicierter'" 4 0 erscheint. Der aristotelischen Bestimmung des philosophischen Urimpulses als θ α υ μ ά £ α ν , die in PHG durchaus positiv aufgenommen wird, verleiht Nietzsche wieder und wieder existentielle Konnotationen, um geläufigen Klischees und harmonisierenden Auslegungen vorzubeugen. Weder der zweckrationale Praxisbezug noch die selbstgenügsame Betrachtung - beide Kennzeichnungen mögen als typologische Charakterisierungen bestimmter philosophischer Richtungen ihre partielle Berechtigung haben - taugen als Erklärungskonzepte, welche die Entstehung der philosophischen Reflexion plausibilisieren können. Die Alternative „nüchterner harmonischer Praktiker" oder „aesthetische in Kunstschwärmereien schwelgende Menschen'" 4 1 setzt eine unproblematischere Existenz voraus und ignoriert damit das eigentliche Stimulans für den „Willen zur Wahrheit." Die im Rahmen von W W K entworfene und dann wieder verworfene Einleitung in das Philosophenbuch inszeniert das philosophische Staunen als tiefes Befremden gegenüber dem Faktum der eigenen Existenz, um dann von dieser Aus-

54,1 541

Ähnlich auch Deleuze: Nietzsche., a. a. O., S. 20: „Dieses Geheimnis der Vorsokratiker war auf eine gewisse Weise bereits im Ursprung verloren." W W K , K S A 8, 6[15], S. 103. VP, K G W I I 4 , S. 211.

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

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g a n g s e r f a h r u n g die B r ü c k e zu den ersten Philosophen zu schlagen, zu Denkern, die sich in besonderer Weise zur Frage geworden sind: „Es kommt wohl für jeden eine Stunde, wo er mit Verwunderung vor sich selbst fragt: Wie lebt man nur? Und man lebt doch! [...] Nun giebt es Lebensläufte, wo die Schwierigkeiten ins Ungeheure gewachsen sind, die der Denker; und hier muss man, wo etwas davon erzählt wird, aufmerksam hinhörn, denn hier vernimmt man etwas von M ö g l i c h k e i t e n des L e b e n s , [....], hier ist alles so erfinderisch, besonnen, verwegen, verzweifelt und voller Hoffnung, wie etwa die Reisen der grössten Weltumsegler und auch in der That etwas von der gleichen Art, Umsegelungen der entlegensten und gefährlichsten Bereiche des Lebens.'" 42 Als B e d i n g u n g f ü r den A u f b r u c h in ein neues D e n k e n postuliert N i e t z s c h e einmal m e h r ein zutiefst existentielles Motiv: den Einbruch der W e l t f r e m d h e i t angesichts der Unfähigkeit, b e s t i m m t e E r f a h r u n g e n mit tradierten D e n k m u s t e r n zu bewältigen. Die vorsokratischen Philosophen begegneten diesem Einbruch des F r e m d e n mit d e m Willen zu „letzten Erkenntnissen". D e m Willen zu „letzten E r k e n n t n i s s e n " korrespondiert nach N i e t z s c h e die verstärkte A u s r i c h t u n g des D e n k e n s auf die eine Wahrheit. Die ersten Philosophen sind „ T y r a n n e n des Geistes" ( Μ Α I 261, K S A 2, S. 2 1 4 ff.). Als der „Strahl des M y t h u s " j e n e n m e r k w ü r d i g e n A u s n a h m e e r s c h e i n u n g e n nicht mehr hell g e n u g leuchtete, w a n d t e n sie sich einer „ h e l l e r e n S o n n e " zu, der Erkenntnis, deren E i g e n w e r t als so tragfähig angesehen wurde, dass in ihr der e m p h a t i s c h e Begriff der Wahrheit selbst geboren wird. Wahrheit tritt in die Philosophie zunächst als selbst verantwortetes Wissen ein, dass sich die Vielheit empirischer Kenntnisse einverleibt und damit eine neue Form von Autorität kultiviert/ 4 ^ In der B e z o g e n h e i t auf die W a h r h e i t g e w a n n das philosophische Denken seine V e r b i n d lichkeit, ü b e r n a h m und transformierte den eschatologischen A n s p r u c h der Religionen, emanzipierte sich dabei aber von den mythischen Ü b e r l i e f e r u n g e n und subordinierte zugleich die f o r s c h e n d e ι σ τ ο ρ ί α . Die v o m Willen zur Wahrheit ausgehende Selbstbezogenheit und Ausschließlichkeit der entstehenden Philosophie fasst N i e t z s c h e als M a c h t a n s p r u c h und situiert sie nun ihrerseits in einer auch „geistig" agonal ausgerichteten Kultur. Im Kontrast zur Flexibilität und W a n d lungsfähigkeit der mythischen Überlieferungen werden die vereinzelt auftretenden Philosophen nun auf die Apodiktizität ihrer Sentenzen ausgelegt. Im A u f - S i c h selbst-Gestelltsein war j e d e r von ihnen n o t w e n d i g „ein streitbarer gewaltthätiger T y r a n n " , er tyrannisierte „ V o r g ä n g e r und N a c h f o l g e r " (ebd.). Das p o l e m o gene Potential des neuen Wahrheitsanspruchs verdankt sich nicht zuletzt d e m

542 343

W W K , K S A 8, 6[48], S. 115. A u c h Deichgräber, Persönlichkeitsethos, a. a. O., S. 59 f., erkennt die individuelle Anbindimg des auf Wahrheit abzielenden neuen „Wissensideals". Die Vorsokratiker „drängen - das ist das Entscheidende - auf die Beantwortung einer Frage, die nur sie selbst in dieser Form gestellt und erkannt haben."

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I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

Umstand, dass Wahrheit, verstanden als die richtige Einsicht in das Weltganze, innerhalb der spezifischen Lebenswelt der Griechen sofort ein Politikum darstellte. Sie weist ihren Träger als herrschaftsfahig aus. Analog zur Tyrannis im vordemokratischen archaischen Griechenland versteht Nietzsche das Tyrannische nicht als autoritären Akt einer gedanklichen Hierarchisierung von Einzelnem unter ein Allgemeines. Es dient ihm als Kategorie lediglich dazu, den neuen Impetus zur unbedingten Eigenständigkeit des philosophischen Entwurfs zu signalisieren: Philosophie ist „Gesetzgebung" und „Gesetzgeber sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums" (ebd.). Gerade im Insistieren auf die alles umgreifende Abgeschlossenheit ihres Denkens erweisen sich die Vorsokratiker als die „reinen Typen". 3 4 4 Paradoxerweise erscheint die Wahrheit in der Philosophie zugleich als die j e Eine unter verschiedenen anderen, als Tyrannei innerhalb einer Polyphonie. Dass der Philosoph als „Herr der Wahrheit" auftritt, um seine Existenz zu verstehen und zu rechtfertigen, dass Wahrheit dabei jedoch nicht als begrifflich vermittelte und insofern allgemeine in die Philosophie hineintritt, sondern stets nur in gleichsam inkarnierter Gestalt erscheint, ist die wohl folgenreichste Entdeckung, die der junge Nietzsche in seiner Beschäftigung mit den Vorsokratikern macht. Sein eigenes Philosophieverständnis wird sich bis zuletzt auch aus dieser Entdeckung speisen. In einer bezeichnenden Formulierung des Aphorismus 261 von Μ Α spricht er den ersten Philosophen einen „Glauben an sich und ihre , Wahrheit'" zu und vermutet, dass niemals auf Erden „das Glück im Glauben an den Besitz der Wahrheit" größer gewesen sei als zu der Zeit, da sie erfunden wurde. Wenn dabei schon die Anführungszeichen Distanz verraten, wenn weiter zur Motivierung der gezeigten Distanz Wahrheit vom Glauben aus perspektiviert ist, und dieser Glauben schließlich am mit ihm verbundenen Glücksgefühl gemessen wird, so bedeutet all dies nicht Kritik am vermeintlich naiven Anfang des vorsokratischen Denkens, sondern verweist nochmals auf die Geburt der Wahrheit aus der Transformation existentieller Erfahrungen zu lebensweltlicher Evidenz. Wahrheit erscheint hier als äußerste Grenze eines zunächst individuellen Denk- und Lebensentwurfs. Nietzsches nur angedeutete Genealogie der Wahrheit signalisiert schon hier kritische Distanz gegenüber jenem „Pathos der Wahrheit", in welchem ein als zeitlos

344

E b e n s o s i e h t a u c h D e i c h g r ä b e r : P e r s ö n l i c h k e i t s e t h o s , a. a. O., S. 60, den Z u s a m m e n h a n g v o n i n d i v i d u e l l e m A u s g a n g s p u n k t u n d u n b e d i n g t e m G e l t u n g s a n s p r u c h . Statt v o n „ T y r a n n i s " s p r i c h t er v o n „ a u s g e p r ä g t e m S e l b s t b e w u s s t s e i n " u n d e i n e m „ S t r e b e n " , in d e m selbst n o c h „ n i c h t s W i l l k ü r l i c h e s , S u b j e k t i v e s " liegt. D i e G r ü n d e f ü r d e n A u s s c h l i e ß l i c h k e i t s a n s p r u c h , mit d e m H e r a k l i t , Parm e n i d e s o d e r E m p e d o k l e s a u f t r e t e n , liegen f ü r ihn d e r U n g e s c h i e d e n h e i t v o n religiöser, e t h i s c h e r u n d w i s s e n s c h a f t l i c h e r S p h ä r e , die f ü r d a s S e l b s t v e r s t ä n d n i s d e r a r c h a i s c h e n D e n k e r k e n n z e i c h n e n d sei: „ W i r s i n d n o c h n i c h t in d e r Z e i t , w o w i s s e n s c h a f t l i c h e E r k e n n t n i s u n d W a h r h e i t s f o r s c h u n g sich von der ethischen Forderung nach Wahrhaftigkeit und überhaupt von der Ethik gelöst haben [...]." Im H i n b l i c k a u f den p o l e m i s c h - a p o k a l y p t i s c h e n T o n u n d d e n e x k l u s i v e n G e s t u s d e r ersten P h i l o s o p h e n z i e h t er d a r a u s die b e m e r k e n s w e r t e F o l g e r u n g : „ D e r G e g e n s a t z z u r W a h r h e i t ist hier i m m e r n o c h der B e t r u g , n i c h t e t w a d a s U n r i c h t i g e u n d F a l s c h e o d e r d e r v e r z e i h l i c h e I r r t u m . "

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

135

und unbedingt ausgewiesenes Denken seine existentiellen Grundlagen und damit seine Genese verleugnet. Wenn es der Autor von PHG überdies fur „missgünstig" hält, die ersten Philosophen als die „Einseitigen" zu bezeichnen, scheint er damit auf die eleatische Kritik im platonischen Sophistes antworten zu wollen. Dort wird die unvermitteltapodiktische Tendenz der Alten, eben ihr „Tyrannisches", als esoterische Willkür beklagt und für ihre mangelnde diskursive Entfaltung an den Pranger gestellt/ 45 Jene Vorgänger, die alle nur das je Ihrige (το σφέτερον) zu Ende bringen, erscheinen unter den Bedingungen des Logos als Repräsentanten eines obsoleten Denkens. Der Eleate im Sophistes kommt sich schließlich vor wie ein Kind, dem jeder von diesen irgendein Märchen (μύθον τίνα) erzählt. Aus einer ähnlichen Erfahrung heraus spricht auch Aristoteles bei seinen Systematisierungsbemühungen des frühgriechischen Denkens davon, zunächst noch keine wirklich sprechende, sondern vielmehr eine „lallende Philosophie" (φιλοσοφία ψελλιζομβνη) vorgefunden zu haben. Unbedacht blieb dabei freilich, dass die Kritik an mangelnder Diskursivität und logisch-begrifflicher Explikation bereits jenes Allgemeine voraussetzt, auf das alle Philosophie der europäischen Tradition seit Piaton mehr oder minder selbstverständlich referiert: den Logos als die verbindende, transparente und konstruktive Vernunft. Die vorsokratische Wahrheit ließ sich nicht logisch explizieren, da sie noch nicht auf dem Boden des Logos philosophierte. Sie ließ sich zunächst nur individuell erfüllen, eben weil sie Suche nach der „eigenen Form" war. Das Diktum „eigene Form" formuliert einen Anspruch, nach dem die Größe des philosophischen Entwurfs zunächst von der exemplarisch gemachten Lebendigkeit des Denkens bestimmt ist. In der frührgriechischen Philosophie konnte dieser Anspruch an das Denken zuletzt nur durch polyphone Individuen verbürgt, verantwortet und eingelöst werden.

3.5 Zusammenfassung

und Ausblick

Nietzsches Verständnis der Vorsokratiker impliziert keine durchgehende Konzeptualisierung der frühgriechischen Denker. 346 Deren Eigenständigkeit gegenüber 145 346

Piaton: Sophistes 242a-243d. Otto, Detlef: (Kon-)Figurationen der Philosophie. Eine metaphorologische Lektüre von Nietzsches Darstellungen der vorplatonischen Philosophen. In: Nietzsche-Studien 27 (1998). S. 119-152, interpretiert P H G vor dem Hintergrund des in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne kulminierenden Rhetorikverständnisses Nietzsches. Für Otto ist die Frage nach der Entstehung in W L „anthropologisch" gestellt, in PHG dagegen „kulturgeschichtlich" gewendet (S. 126). Im Gegensatz zu harmonisierenden Lesarten von P H G streicht auch Otto heraus, dass es Nietzsche nicht gelingt, ein einheitliches Bild des von ihm angestrebten „Typus" des vorsokratischen Denkers zu entwerfen. „Indem Nietzsche den Philosophen im Netz seiner Ähnlichkeiten zu fangen hofft, verschiebt sich die Definition seiner Identität in eine metaphorische Suspension, die nicht aufhört, den

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

der griechischen Klassik verdankt sich nicht einer wiederentdeckten, wesenhaft verschiedenen Reflexion, einem gänzlich „anderen" Philosophieren, sondern vornehmlich seinen exzeptionellen Entstehungsbedingungen. Nietzsches auf spekulative Freilegung spezifischer individueller und kultureller Kontexte orientierte Deutung ist bereits hier einer genealogisch zu nennenden Interpretationspraxis verpflichtet. Gerade mit dem zunächst historisch ausgerichteten Blick auf die Ursprünge thematisiert der Autor von PHG anhand der Janusköpfigkeit des Anfangs, der, um Anfang sein zu können, immer auch die Beendigung oder zumindest das Heraustreten aus Bestehendem einschließt, die ek-statische Grundstruktur des Philosophierens als solche. Wenn die ersten Denker ohne institutionalisierte Sicherung, ja ohne einen Begriff von Philosophie philosophierten, so sind sie als die eigentlichen Inkarnationen der angeführten Grundstruktur anzusehen und auf ihre Lebensbedingungen zu befragen. Jeder von ihnen ist insofern für Nietzsche Vertreter einer „neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten Möglichkeit des p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s " (ΜΑ I 261, S. 217). Ihre „Systeme" sind gegenüber deren kulturellem und individuellem Ursprung sekundär. Diese erfreuen, „seien sie auch ganz irrthümlich", zunächst als „Gewächs dieses Bodens" (PHG, Vorrede, S. 801) und gewinnen erst durch ihre individuelle Anbindung an Verbindlichkeit. Im künstlerischen Versuch, die archaischen Denker „wieder zu gewinnen und nachzuschaffen" (PHG, Vorrede, S. 802), hat Nietzsche sie den geistesgeschichtlichen Nachlassverwaltungen der Philosophiehistorie entzogen und damit auf deren Eigenwert gegenüber einer mit Sokrates anzusetzenden philosophischen Tradition aufmerksam gemacht. Gegenüber der sachorientierten, vereinheitlichenden Archäologie von Metaphysik I und Physik I des Aristoteles macht Nietzsche die Pluralität von Entwürfen geltend, die weder auf eine gemeinsame „Sache" referieren und ebenso wenig am gleichen Logos partizipieren. In der „Polyphonie des griechischen Daseins" zählt nicht die Uniformität der Sprache, sondern die Vielheit der Stimmen. 347 Erst aus der Perspektive eines allgemein geltenden Vernunft-

347

Text das angestrebte Ziel verfehlen zu lassen, ihn im Status einer Ansammlung von Fragmenten zu halten, die sich offenbar nicht in die Form eines Buches bringen ließen" (S. 135). In der Tat könnte Nietzsche in PHG daran gescheitert sein, den selbst auferlegten Anspruch einzulösen, die „zusammengehörige Gesellschaft" der Vorsokratiker gleichwohl auf einzelne „reine Typen" hin auszulegen. Festzuhalten bleibt demgegenüber, dass sich Nietzsches erzählende Vorsokratikerdeutung weniger mit dem spekulativen Problem von Identität und Differenz beschäftigt hat, sondern eher dem Impetus entsprang, „die Polyphonie der griechischen Natur endlich einmal wieder erklingen zu lassen". Riedel, Manfred, Die „wundersame Doppelnatur" der Philosophie. In: Nietzsche-Studien 19 (1990). S. 1-19, interpretiert Nietzsches Studie vor dem Hintergrund von Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne als „Wiederentdeckung der ursprünglich philosophischen ,Kunst des Hörens 1 " (S.2). Die für Nietzsche so bedeutsame Vielstimmigkeit wird dabei jedoch ausgespart, indem - in polemischer Abgrenzung gegen „das heutige Gerede v o m „Logozentrismus" - wiederum ein Begriff für „den Ursprung der griechischen Philosophie" für Nietzsche geltend gemacht wird. Phi-

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

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begriffs nimmt sich eine solche Geschichte der Vorsokratiker aus wie ein „curioser Irrgartengang der Vernunft." 348 In der Tat scheint erst mit der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen das vorsokratische Denken in einem mehr als nur chronologischen Sinn von der Perspektive einer möglichen Verschiedenheit und Selbstständigkeit gegenüber der klassischen griechischen Philosophie aus erschlossen worden zu sein. Nietzsche ist sich dieser Neuperspektivierung bewusst. Er hat sie durch gezieltes Setzen von Zäsuren unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. 349 Die mit Sokrates und Piaton einsetzende Selbstreflexion der Philosophie markiert für ihn einen unhintergehbaren Einschnitt, hier „beginnt etwas ganz Neues" (PHG 2, S. 809). Selbstreflexion setzt Distanz voraus, und zu jener benötigten Distanz verhalfen gerade die älteren, ersten Philosophen. Erst in der nachfolgenden Auseinandersetzung mit der im fünften Jahrhundert zu unerhörter Macht gelangenden Rhetorik, mit der intellektuellen Avantgarde der Sophistik und den sich rasant entwickelnden Wissensbereichen Mathematik, Medizin und Historiographie wurde die Philosophie zur Selbstreflexion genötigt, um nicht assimiliert zu werden. Dem monumentalen Werk Piatons war es vorbehalten, diese Fundierungsleistung zu erbringen und der Philosophie einen Begriff zu verleihen. Seine Werke sind unverkennbar auch Produkte eines Situierungszwangs und Legitimierungsbedürfnisses. Im Gegensatz zu den „reinen Typen" ist Piaton im Verständnis Nietzsches aufgrund der spezifischen Bedingungen seiner Zeit und seiner Existenz „der erste großartige Mischcharakter" (ebd.) und zwar „sowohl in seiner Philosophie als in seiner Persönlichkeit". „Mischcharakter" ist Piaton dabei freilich nicht im Sinne eines undifferenzierten Eklektizismus. Er ist es darum, weil er, im Drang, das philosophische Feld abzustecken, die frühgriechischen Entwürfe nicht mehr auf deren Eigenheiten hin befragt, sondern die Vielheit und Originalität der Konzeptionen von einer gemeinsamen Sache her denkt - der Sache der Philosophie. Piaton ist der Vermittler vorsokratischen Denkens und konstituiert im Akt der Vermittlung dennoch jenes überindividuelle Allgemeine, das die vorsokratische „Polyphonie" verstummen lässt.350 So sind für Nietzsche vorzugsweise in der „Ideenlehre", deren epistemologisch-ontologischer Doppelcharakter die Grundausrichtung der abendländischen Metaphysik präjudiziert, „sokratische, pythagoreische und heraklitische Momente [...] vereinigt" (ebd.). Diese „Vereinigung" hat Nietzsche aber nicht als ein Aufgehobensein im Sinne einer dialektischen Vermittlung verstehen wollen. Mit ihr hat sich die Philosophie nach seinem Ver-

losophie sei demnach wesenhaft immer schon „auf der einen Seite antagonistisch streitender Logos" und „auf der anderen liebendes Einvernehmen" (S. 15). 348 WWK 6[7], KSA 8, S. 100. ,4 '' Vgl. dazu Borsche: Nietzsches Erfindung der Vorsokratiker, a. a. O., S. 67 f. 1511 Die hier lediglich angerissenen, von Nietzsche in PHG nicht ausgeführten Zusammenhänge über die neue Grundlegung der Philosophie von Seiten Sokrates' und Piatons werden in den Kapiteln 6-8 entfaltet.

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I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

ständnis einen zweiten Anfang gesetzt. Ihrem „eigentlichen" Ursprung konnte und wollte sie dabei nicht mehr gerecht werden. Die auf den Begriff gebrachte, methodisch disziplinierte Philosophie ist als institutionalisierte Reflexion nolens volens eine Negativierung des vorsokratischen Impulses. Im fünften Jahrhundert bricht die „Nachwirkung" der frühen Denker dann „plötzlich ab". Zwischen ihnen und Sokrates sowie den Nachsokratikern klafft „eine Lücke, ein Bruch" (ΜΑ I 261, S. 216 f.).

4. Nietzsches philosophische Selbstsituierung: Zur Auseinandersetzung mit Heraklit und Parmenides Während Aristoteles und Hegel vor dem Hintergrund einer eigenen ausgereiften und entwickelten Gesamtkonzeption die Vorsokratiker als unverzichtbare Anfangsgestalt des Denkens würdigen und zugleich philosophisch überwinden, steht das philosophische Projekt Nietzsches erst am Anfang. 351 Dass die Schrift über die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen in jenem Zeitraum anzusiedeln ist, die den Übergang von einem philologischen zu einem philosophischen Selbstverständnis Nietzsches anzeigt, macht ihre besondere Bedeutung für das Gesamtanliegen der hier vorgelegten Arbeit augenscheinlich. Der Rückgriff auf die Anfänge der Philosophie - so unsere Ausgangsthese markiert zugleich den Anfang für das eigene, d. h. eigenständige Philosophieren Nietzsches. Die Fragment gebliebene Studie zu den Vorsokratikern ist darum einer erneuten Lektüre zu unterziehen. Auf der Basis bisheriger Ergebnisse gilt es nunmehr, auf diejenigen philosophischen Grundunterscheidungen von PHG abzuheben, die für das weitere Denken Nietzsches konstitutiv sein werden. Der explizit antisystematische Gestus von PHG, der Philosophiegeschichte als Abfolge - nicht Entwicklung - exemplarischer philosophierender Individuen interpretiert, ist zunächst eingebettet in ein vergleichsweise konventionelles Modell der Hauptströmungen vorsokratischen Denkens. Dieses lebt im Wesentlichen von der Entgegensetzung einer milesischen Philosophie des Werdens und der eleatischen Seinsphilosophie. Parmenides selbst „ z e r t h e i l t [ . . . ] d a s v o r s o k r a t i s c h e D e n k e n in z w e i H ä l f t e n , d e r e n e r s t e d i e A n a x i mandrinische, deren zweite geradezu die Parmenideische genannt werden

mag"

( P H G 9, S. 8 3 6 ) .

Diese Entgegensetzung spitzt sich auch im Philosophenbuch auf die Darstellung der Antipoden Heraklit und Parmenides zu, die mit ihren gegenläufigen Kon-

351

K o f m a n , Nietzsche und die Dunkelheit des Heraklit, a. a. O., entfaltet ihre Deutung der Vorsokratikerstudie Nietzsches ebenfalls im Z u s a m m e n h a n g mit den Rekonstruktionsbemühungen des Aristoteles und Hegels. Ihr Fazit lautet: „Die ersten Philosophen auszugraben heißt für Nietzsche nicht, ihre unbefangene Dunkelheit in eine begriffliche Klarheit aufzuheben, ob eine spekulative oder nicht; vielmehr bedeutet es, ihnen ihre eigentliche Gestalt zurückzugeben [...] " (S. 85). Nietzsches Wiedergabe dieser Gestalt wird von K o f m a n nicht mehr als diejenige einer bestimmten „Wahrheit", sondern die einer „Schönheit" verstanden (S. 86).

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I. Teil: V o n der P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

zeptionen einen Agon initiieren, mithin ein Feld philosophischer Reflexion exponieren, in welchem auch Pythagoras, Anaxagoras, Empedokles und Demokrit ohne Rücksicht auf chronologische Unstimmigkeiten - situiert werden. Als Protagonisten und „reine Typen" zweier prinzipiell verschiedener Denkansätze, eines physiologischen und eines ontologischen, repräsentieren sie für den jungen Nietzsche zunächst eine philosophische Grundunterscheidung an sich - tertium non datur. 352 Doch PHG erschöpft sich nicht in dieser per se wenig originellen Kontrastierung. Nietzsche hat sie nicht als bloß philosophiehistorische Differenz aufgefasst, sondern für sich als einen fundamentalen Agon inszeniert, einen Agon, in dem er auch sich selbst als Philosoph situierte. Insofern stehen die Kapitel zu Parmenides und Heraklit im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil Nietzsche sich in ihnen erstmals auf eine Weise positioniert, die im Hinblick auf sein weiteres Denken als philosophische Weichenstellung anzusehen ist. Ähnlich wie für Piaton, dessen Werk zu weiten Teilen auf die Herausforderung durch das ionische und das eleatische Denken zu verstehen ist, bevor es in einer eigenständigen dialogischen Dialektik mündet, unterzieht auch Nietzsche seine an Kant, Schopenhauer und Friedrich Albert L a n g e j 5 j gewonnene philosophische Sozialisation einer Prüfung durch die radikalen Positionen frühgriechischen Denkens. Wie Piaton wird auch er erst in und nach der Auseinandersetzung mit diesem Denken zu eigenständigen und modifizierten Fragestellungen vordringen. Nietzsches zuspitzende Lesart steht mithin vornehmlich im Dienst der eigenen philosophischen Ambitionen. Der Autor von PHG hat mit seiner existentiellen Deutung die Vorsokratiker dem eigenen Philosophenpathos anverwandelt, als Projektionsfläche benutzt und insofern sicherlich stark stilisiert. Nietzsches Fokus lag nicht auf einer Metareflexion über ein vermeintliches „Wesen" der frühgriechischen Philosophie als solchen, sondern auf einer möglichst plastischen Herausarbeitung der Radikalität und

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N i e t z s c h e v e r s t e h t s e i n e p h i l o s o p h i e h i s t o r i s c h e K o n t r a s t i e r u n g i n d e s s e n k e i n e s w e g s als M a r g i n a l i s i e r u n g d e r a n d e r e n A n s ä t z e f r ü h g r i e c h i s c h e n D e n k e n s . D u r c h die s p e k u l a t i v e lebensvveltliche E i n f ä r b u n g ihrer G e d a n k e n w e l t e n e r f a h r e n a u c h T h a i e s , X e n o p h a n e s , Z e n o n u n d A n a x a g o r a s eine B e h a n d l u n g , in d e r i h n e n j e n s e i t s d e r p h y s i o l o g i s c h - o n t o l o g i s c h e n D i f f e r e n z ein k o n z e p t i o n e l l e r Eigenwert zuerkannt wird. Wie w e n i g verbindlich der angeführte thematisch orientierte S c h e m a t i s m u s f ü r d a s v o r s o k r a t i s c h e P h i l o s o p h i e r e n j e n s e i t s v o n P a r m e n i d e s u n d H e r a k l i t ist, z e i g e n e i n d r u c k s voll d i e z a h l r e i c h e n N a c h l a s s - S k i z z e n , in d e n e n unter m a n n i g f a l t i g e n k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e n , politischen, ästhetischen, religiösen, psychologischen und „eigentlich" philosophischen Aspekten einzelne D e n k e r a n g e f ü h r t u n d illustriert u n d d a r ü b e r h i n a u s a u c h zu j e n a c h H i n s i c h t w e c h s e l n d e n A l l i anzen und Koalitionen verknüpft werden. Die aussagekräftigsten dieser Nachlass-Skizzen finden sich b e r e i t s g e s a m m e l t bei O e h l e r , R i c h a r d : F r i e d r i c h N i e t z s c h e u n d d i e V o r s o k r a t i k e r . L e i p z i g 1904. S. 1 1 2 - 1 1 6 . O e h l e r w e i s t als erster a u f die n a c h h a l t i g e B e d e u t u n g der ersten g r i e c h i s c h e n Philosophen f ü r Nietzsche hin, verbleibt ansonsten j e d o c h noch weitgehend auf der E b e n e unkritischer Doxographie.

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N o c h i m m e r i n s t r u k t i v s i n d die A u s f ü h r u n g e n v o n S a l a q u a r d a , J ö r g , N i e t z s c h e u n d L a n g e . In: N i e t z s c h e - S t u d i e n 7 ( 1 9 7 8 ) . S. 2 3 6 - 2 5 3 . A u s f ü h r l i c h h i e r z u : S t a c k , G e o r g e J.: L a n g e and N i e t z s c h e . B e r l i n 1983 ( M o n o g r a p h i e n u n d T e x t e z u r N i e t z s c h e - F o r s c h u n g , B d . 10).

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Parmenides

141

Unvermittelbarkeit jener Denkansätze. Nur in ihrer irreduziblen Eigenständigkeit entwickeln diese jene polarisierende Kraft, die zur eigenen Stellungnahme auffordert und ein bestimmtes philosophisches Profil erzwingt. Gegenüber der souveränen Integrationsleistung Hegels, der triumphierend konstatiert, jeden heraklitischen Satz in seine Logik aufgenommen zu haben, beharrt Nietzsche auf dem unaufhebbaren Ineinander von Lebensform und Philosophie. Weil Denken und Leben bei den ersten Philosophen wechselseitig expliziert werden und ausschließlich innerhalb jenes Explikationsverhältnisses Wahrheit als Wert und verbindliche Orientierung angenommen wird, könnte Nietzsche gleichsam auf Hegel geantwortet haben: „die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit" (PHG 8, S. 83 5). 354 Die vom Autor Nietzsche proklamierte Kunst der aktualisierenden Deutung erreicht ihren Höhepunkt ohne Zweifel in den Abschnitten zu Heraklit und Parmenides. Die Interpretamente des Eleaten und des Ephesiers finden sich innerhalb von PHG auf ungemein plastische und pathetische Weise als alternative Modi der philosophischen Reflexion dargestellt und bewertet. Die philosophischen Grundunterscheidungen dieser Darstellungen - ihrerseits interpretiert als Nietzsches Eintritt in die Philosophie - werden im Folgenden kritisch herausgearbeitet.

4.1 Heraklit: „ nichts als Werden " ? Wenn Nietzsche in seiner „mit antiker Selbstherrlichkeit" niedergeschriebenen Autogenealogie Ecce homo im Vorwort jeglichen Einfluss früherer Denker auf seine Philosophie leugnet und dabei mit den Vorsokratikern die „ g r o s s e n Griechen der Philosophie" ausdrücklich einschließt, bleibt ihm einzig bei Heraklit ein „Zweifel" zurück. Wenn weiter innerhalb dieser kynischen Selbststilisierung die eigenen Lebens- und Erhaltungsbedingungen auf eine Weise rekapituliert werden, in der sich der eigene exzeptionelle Status in ihnen offenbart, so figuriert der fragmentarisch überlieferte und mythisch anmutende Heraklit dabei als derjenige, „in dessen Nähe" es dem Autor „wärmer, [ ...] wohler zu Muthe wird als irgendwo sonst" (EH, GT 3, KSA 6, S. 312). 355 Zwischen diesem Zeugnis und den

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353

Einen Methodenvergleich zwischen Hegel und Nietzsche unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen Bezugnahmen auf Heraklit bietet Stegmaier, Werner, Hegel, Nietzsche und Heraklit. Zur Methodenreflexion des Hegel-Nietzsche-Problems. In: Djuric, Mihailo und Simon, Josef (Hg.): Nietzsche und Hegel. WUrzburg 1992. S. 110-129. In GD, Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie, 2., K S A 6, S. 75, wiederum wird ebendort „mit hoher Ehrerbietung" der „ N a m e Heraklit's bei Seite" genommen, wo der Vernunftbegriff der philosophischen Tradition kritisiert wird.

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I. Teil: V o n der P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

nun zu behandelnden, emphatischen Heraklit-Kapiteln von PHG liegen jene 14 Jahre, in denen sich Nietzsches philosophisches Leben vollzieht/ 5 6 Es ist unverkennbar, dass Nietzsches Heraklit-Deutung mit ihrer primären Ausrichtung auf das „ewige und alleinige Werden" in einer merkwürdigen Spannung zu den überlieferten Fragmenten des Ephesiers steht. Nach einer anfänglichen Übersicht über dieselben ist man geneigt, mit Uvo Hölscher zu konstatieren: „Begriff und Vokabel des Werdens fehlen bei Heraklit so gut wie ganz [...].'" 5 7 Um die augenscheinlich vorliegende Diskrepanz nicht mit dem Entwicklungsstand der Philologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu entschuldigen^ 58 oder schlichtweg als Ignoranz gegenüber dem Textbestand zu erklären/ 5 9 empfiehlt es sich, in der Zentralperspektive „Werden" nicht ein unreflektiert hineingetragenes Postulat zu erblicken, sondern dieselbe vielmehr als Kristallisationspunkt der Interpretation Nietzsches zu betrachten. Die pathetische Inszenierung der heraklitischen Werdewelt in PHG ist sicherlich, wie oft angemerkt, einer anti-ontologischen Grundorientierung verpflichtet, von der ausgehend der ephesische Denker als Gegenpol zur - ihm freilich unbekannten - Tradition aufgebaut wird. Dass diese Inanspruchnahme gleichwohl sachlich zu rechtfertigen ist und sich keineswegs jenseits der textuellen Überlieferung bewegt, trifft indessen - wie zu zeigen sein wird - ebenso zu. Die nachschaffende Wiedergewinnung Heraklits vollzieht sich anhand der Leitbegriffe „Polarität", „ K a m p f bzw. „Krieg" und „Harmonie". Sie geschieht im Sinne einer sich vertiefenden Reflexion auf das Werden, die sich schließlich in den Begriffen „Spiel", „Recht" und „Feuer" aufs äußerste zuspitzt. Diesen Zusammenhängen soll hier nachgegangen werden. Ein gewichtiger Teil der erhaltenen Fragmente des frühen Philosophen handelt von der weltkonstituierenden Kraft der Gegensätze. Das Denken in Oppositionen

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3,7

338

'yJ

W e n i g ü b e r z e u g e n d ist d e r V e r s u c h v o n H e r s h b e l l , J a c k s o n P., N i m i s , S t e p h e n Α., N i e t z s c h e and H e r a c l i t u s . In: N i e t z s c h e - S t u d i e n 8 ( 1 9 7 9 ) . S. 17-38, b e i d e D e n k e r a u s g e r e c h n e t als P h i l o s o p h e n e i n e s " m o n i s t i c p r i n c i p l e " ( " L i k e H e r a c l i t u s , N i e t z s c h e b e l i e v e d t h a t „all is o n e . " " , S. 2 3 ) z u s a m m e n z u b i n d e n , b e z i e h u n g s w e i s e die „ n a t u r a l i s t i c b a s i s o f their t h o u g h t " (S. 3 8 ) zu b e t o n e n . H ö l s c h e r : A n f ä n g l i c h e s F r a g e n , a. a. Ο . , S. 170. E b e n d a ( F u ß n o t e 1) h e i ß t es p r ä z i s i e r t : „ D a s W o r t γ ί ^ ε σ θ α ι w i r d v o n H e r a k l i t g a n z u n s p e z i f i s c h g e b r a u c h t (frr. 1, 2 0 , 31, 63, 8 0 ) . " H ö l s c h e r , U v o , „ D i e W i e d e r g e w i n n u n g d e s a n t i k e n B o d e n s " . N i e t z s c h e s R ü c k g r i f f a u f H e r a k l i t . In: U . H . : D a s n ä c h s t e F r e m d e . V o n T e x t e n der g r i e c h i s c h e n F r ü h z e i t u n d i h r e m R e f l e x in d e r M o d e r ne. H g . v o n M a n f r e d K r a u s u n d J o a c h i m Latacz. M ü n c h e n 19994. S. 3 5 7 - 3 8 2 , 3 6 6 ff., s i e h t N i e t z s c h e i n s o f e r n „ d e r P h i l o l o g i e s e i n e r Z e i t v e r p f l i c h t e t " , als a u c h er d i e „ p l a t o n i s c h - s o p h i s t i s c h e A u s l e g u n g des H e r a k l i t i s m u s " p r a k t i z i e r e (S. 3 6 6 f.). B r e m e r , Dieter, D i e S p a n n u n g v o n N ä h e u n d F e r n e in N i e t z s c h e s A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit H e r a k l i t u n d P i a t o n , in: R i e d e l ( H g . ) , „ J e d e s W o r t ist ein V o r u r t e i l " , .a. a. 0 . , S. 1 9 1 - 2 0 6 , s c h l i e ß t an die L e s a r t H ö l s c h e r s a n , f o l g e r t d a b e i aber in n o c h m a l s v e r e i n f a c h e n d e r W e i s e s c h l i c h t : „ N i e t z s c h e hat die A u g e n v o r d e r T e x t ü b e r l i e f e r u n g v e r s c h l o s s e n , u m in d e r v o n ihm h ö c h s t g e s c h ä t z t e n f r ü h g r i e c h i s c h e n P h i l o s o p h i e e i n e n G e g e n p o l g e g e n P i a t o n u n d die v o n i h m a u s g e h e n d e m e t a p h y s i s c h e T r a d i t i o n a u f z u b a u e n " (S. 193 f.). - D i f f e r e n z i e r t e r w e r t e t W o h l f a r t , G ü n t h e r : „ A l s o s p r a c h H e r a k l e i t o s " . , a. a. O . , S. 2 1 0 - 2 1 9 .

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Partnenides

143

ist im archaischen Griechenland durchaus präsent.·"50 Präsent jedoch insofern, als die meist auf grundlegende Eigenschaften angewandten Entgegensetzungen wie warm - kalt, gerade - ungerade, männlich - weiblich zunächst einer kategorialisierenden und klassifizierenden Tendenz verhaftet und damit nolens volens bereits in ein ontologisches Kalkül eingelassen waren. Innerhalb der pythagoreischen Zahlenspekulation fungierten Gegensatzpaare ebenso als ontologische Prämissen wie in der naturwissenschaftlich-medizinischen Lehre des Alkmaion von Kroton. Durch die Universalisierung binärer Codes durch Heraklit, der nach Nietzsche den „Hergang jedes Werdens und Vergehens" nicht auf eine begrenzte Anzahl polarer Verhältnisse festlegte, sondern erstmals „unter der Form der Polarität" (PHG 5, S. 825) begriff, wird die Gegensatzlehre radikalisiert und ihres Setzungscharakters beraubt. Sie fungiert nunmehr gewissermaßen als Instrument einer Deontologisierung der Wirklichkeit. Näher charakterisiert über das „Auseinandertreten einer Kraft in zwei [....] Thätigkeiten" (ebd.), formuliert sie als Lehre primär einen Wirkungszusammenhang und interpretiert statische Setzungen in ein dynamisches Verhältnis um. Den entscheidenden Aspekt des Gegensatzverhältnisses, quasi seine Tiefendimension, entwickelt Nietzsche anhand der Begriffe „Streit" und „Krieg" im Hinblick auf die berühmten Fragmente Β 53 und Β 80. 361 Erst „aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden" (ebd.). Die entdinglichten bipolaren Kräfte sind demnach ohne inhärente Bestimmung, sondern erhalten ihre Bestimmtheit erst in Konfrontation mit ihrem Gegensatz, erhalten sie somit stets nur auf Zeit. Bestimmtheiten, denen „Dinge" und „Eigenschaften" entsprechen, sind ihrerseits keine Ergebnisse des Streits, sondern lediglich momentane Konstellationen: „der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort" (ebd.). Im Insistieren auf die dynamische Differenz gegenüber statischer Absolutheit und die Produktivität des Differentiellen anstelle dessen synthetischer Aufhebung sieht Nietzsche den Kern heraklitischen Denkens. Hier erreicht seine Illustration einen Grad an Plastizität, der über Sympathie fur den Ephesier hinaus auch höchstes sachliches Interesse, beziehungsweise uneingeschränkte - wenngleich häufig noch durch Schopenhauer „abgesicherte" - Zustimmung vermuten lässt.

Vl

" Vgl. dazu Frankel, Hermann: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. 4. Aufl. München 1993. S. 388 f., und - für die frühe Wissenschaft - : Hölscher: Anfängliches Fragen., a. a. O., S. 166 ff. 361 Auch Kirk, Geoffrey S., Raven, John E., Schofield Malcolm (KRS): Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentar. Ins Dt. übers, von Karlheinz HUlser. Stuttgart, Weimar 1994 (Cambridge 1957, 1989). S. 212., sehen in Streit oder Krieg „Heraklits bevorzugte Metapher für die Vorherrschaft der Veränderung in der Welt."

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I. T e i l : V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

Dass Heraklit überdies den f ü r die archaische Kultur a u f g e d e c k t e n Z u s a m m e n h a n g von Agonalität und Produktivität kosmologisch übersteigert und als Physis reflektiert, ist für die kulturreformatorischen Absichten des j u n g e n Basler Professors von unüberschätzbarer Bedeutung. G e r a d e Heraklit, dessen Existenz doch von b e w u s s t e r Desintegration aus der sozialen und politischen Sphäre seiner U m w e l t geprägt ist, erweist sich in seinem Wirklichkeitsentwurf als höchster A u s d r u c k seiner Kultur. Einer Kultur, zu der er Distanz einnimmt, um sie als D e n k e r ins Eschatologische zu transformieren und zu bejahen. Jener zu Beginn von P H G artikulierte A n s p r u c h , es gäbe ein „stählerne N o t h w e n d i g k e i t , die den Philosophen an eine w a h r e Kultur fesselt" ( P H G 1, S. 809), wird für N i e t z s c h e exemplarisch durch Heraklit eingelöst. Angesichts der π ό λ ε μ ο ς · - Ρ ^ ι - η 6 η ί ε heißt es: ,, [...] es ist der Wettkampfgedanke des einzelnen Griechen und des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren, aus den künstlerischen Agonen, aus dem Ringen der politischen Parteien und der Städte mit einander, in's Allgemeinste übertragen" (PHG 5, S. 825). 362 Basierend auf der agonalen Metaphorik erfährt die W e r d e w e l t Heraklits eine weitere Zuspitzung. W a s im f o r t w ä h r e n d e n Streit der bipolaren Kräfte als D i n g erscheint, folgt keinen Regeln, wird vielmehr explizit der K o n t i n g e n z ü b e r a n t w o r tet. Dinglichkeit konstituiert sich hier nicht m e h r als Identität in der Zeit, sondern als Suggestion im Z u s a m m e n p r a l l verschiedener Zeithorizonte, das vermeintliche Sein verweist nur „auf das m o m e n t a n e Ü b e r g e w i c h t des einen K ä m p f e r s " (ebd.). Die Jähe des U m s c h l a g s und die Plötzlichkeit der V e r ä n d e r u n g b e z e i c h n e n f ü r N i e t z s c h e den Gipfel der antiontologischen Konzeption H e r a k l i t s / 6 3 Insbesondere F o r m u l i e r u n g e n wie μ ε τ α β ο λ ή und τ τ ε ρ ί π ί τ τ τ α ν , w e l c h e uns bei Heraklit im Z u s a m m e n h a n g mit der Gegensatzlehre begegnen, verweisen sicherlich auf die Einheit des Entgegengesetzten, zielen j e d o c h primär auf j e n e U n v e r f ü g b a r k e i t des Wechsels ab, die philosophisch nicht mehr zu fundieren, deren Ereignishaftigkeit nur noch gezeigt und metaphorisch thematisiert werden kann. Die wortgewaltigen

* i 2 In den V o r l e s u n g s s c h r i f t e n hat N i e t z s c h e , w i e es s c h e i n t , H e r a k l i t selbst n o c h die K o n z e p t u a l i s i e rung des Agonalen zugestanden. Dieser habe ausgehend von den musischen, gymnastischen Wettk ä m p f e n b z w . v o m g r i e c h i s c h e n S t a a t s l e b e n „ d a s T y p i s c h e d i e s e s iröXepos k e n n e n g e l e r n t " ( V P , K G W II 4, S. 2 7 2 ) . Im P h i l o s o p h e n b u c h e r s c h e i n t H e r a k l i t d e m g e g e n ü b e r als k o n s e q u e n t e s t e r A u s d r u c k d e s A g o n a l e n u n d g a r a n t i e r t d a m i t d i e A n b i n d u n g seiner P h i l o s o p h i e an die ihn u m g e b e n d e K u l t u r . D i e E r k e n n t n i s e i n e r sozialen G r u n d s t r u k t u r w ü r d e e i n e D i s t a n z i e r u n g s l e i s t u n g v o r a u s s e t z e n , d i e n a c h N i e t z s c h e erst f ü r den „ t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n " k e n n z e i c h n e n d ist. In d i e s e m S i n n e e r s c h e i n e n i h m die n a c h s o k r a t i s c h e n P h i l o s o p h e n s c h u l e n z u n ä c h s t als „ O p p o s i t i o n s a n s t a l t e n g e g e n die h e l l e n i s c h e K u l t u r u n d d e r e n E i n h e i t des S t i l s " ( P H G 2, S. 810). 163

A u c h f ü r G a d a m e r , H a n s G e o r g : D e r A n f a n g d e s W i s s e n s , S t u t t g a r t 1999, d e r d e n E p h e s i e r in s e i n e n H e r a k l i t - S t u d i e n (S. 3 4 - 1 0 0 ) a n s o n s t e n stark v o n d e r „ s p e k u l a t i v e n E i n h e i t , die im W e c h s e l l i e g t " (S. 6 4 ) h e r interpretiert, w i r d die E i n s i c h t , „ d a s s d a s a n d e r e s c h o n i m m e r m i t d a ist", e b e n g e r a d e d a d u r c h erst a u g e n s c h e i n l i c h , „ d a s s d a s E n t g e g e n g e s e t z t e p l ö t z l i c h u n d u n v e r m i t t e l t h e r v o r tritt" (S. 65).

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Parmenides

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Metaphoriken und immer wiederkehrenden paradoxen Wendungen, die dem Stil des Ephesiers eigentümlich sind, dürfen als Versuche gefasst werden, dem hypostasierenden Grundcharakter der Sprache und der dem grammatischen Schema inhärenten Ontologie so weit als möglich zu entfliehen und dem prozessualen Charakter der Physis Rechnung zu tragen. 364 Nietzsche gleicht die eigene Rhetorik innerhalb seiner Darstellung dem Vorsokratiker kompromisslos an, ohne ihn zu kopieren, oder - was näher liegend wäre - zu zitieren. 365 Diese adaequatio lebt vor allem vom Gestus des einsamen, unverstandenen Propheten jenseits menschlich-allzumenschlicher Vernünftigkeit. Sie variiert, modifiziert dabei die erhaltenen Fragmente und scheint auch vor Verbesserungen des so rudimentär überlieferten Autors nicht zurückzuschrecken, um diesen gemäß dem eigenen Programm zu verlebendigen und „nachzuschaffen". Eine Passage, in der das Changieren zwischen Nacherzählung, Variation und Neuerfindung am gelungensten scheint, verdichtet die bisher angeführten Aspekte des „ewigen Werdens" zu einem Satz. Sie darf in diesem Sinne als die vielleicht der Ausdruck sei verziehen - „herakliteischste" gelten: „Die Dinge selbst, an deren Feststehen und Standhalten der enge Menschen- und Thierkopf glaubt, haben gar keine eigentliche Existenz, sie sind das Erblitzen und der Funkenschlag gezückter Schwerter, sie sind das Aufglänzen des Siegs im Kampf der entgegengesetzten Qualitäten" (PHG 5, S. 826). Im sofortigen Anschluss an diese anti-ontologische Quintessenz folgt allerdings eine recht fragwürdige philosophische Legitimierung derselben. Die Bestätigung Heraklits durch ein ausfuhrliches Zitat aus Schopenhauers Hauptwerk lässt nun auch die Grenzen nietzschescher Interpretationspraxis augenscheinlich werden. Schon die selbständige Neuinszenierung der Werdewelt jenseits einer historisch-philologischen Auseinandersetzung mit den erhaltenen Fragmenten steht in einem merkwürdigen Missverhältnis zur interpretatorischen Unselbständigkeit, welche sich in der stetigen Bezugnahme auf die geradezu kanonischen Texte des philosophischen Erziehers manifestiert. Die Freiheit der Deutung wird nur zu häufig begrenzt von der gleichförmigen Absegnung durch die schopenhauersche Orthodoxie.

364

In ähnlicher Weise macht dies auch Kofman, Nietzsche und die Dunkelheit des Heraklit, a. a. O., als Ausgangserfahrung Nietzsches geltend: „Wenn das Denken des Heraklit in besonderer Weise ein ist, dann deshalb, weil die universelle Bewegung, die es zu bestätigen sucht, diese Form des rätselhaften und widersprüchlichen, in keinem Sinne bestimmbaren und beschreibbaren Diskurses gleichsam fordert - ein Diskurs, der gar die Form des dem Werden innewohnenden Widerstreites, seines Wahnsinns besitzt, und der nichts sagt von einem " (S. 80). 3f 5 ' Bezeichnenderweise lässt Nietzsche in seiner Vorlesung Heraklit noch in mehr als dreißig, häufig im griechischen Urtext zitierten, Fragmenten zu Wort k o m m e n und führt meist auch den entsprechenden Tradenten an - Maßstäbe, an denen das Vorsokratikerbuch sich nicht messen lässt und offenkundig nicht gemessen werden will!

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I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

Ungleich folgenreicher f ü r die Interpretation und die Interpretationsabsichten N i e t z s c h e s ist indessen die sachliche Kontraproduktivität, welche die Zitation aus Die Welt als Wille und Vorstellung zuweilen mit sich bringt. Kein Satz scheint w e n i g e r geeignet, das „alleinige W e r d e n " philosophisch zu untermauern als der im V o r s o k r a t i k e r b u c h angeführte: „Beständig muß die beharrende Materie die Form wechsein [...] ." (PHG 5, S. 826). Die U n t e r s c h e i d u n g „ F o r m " - „ S t o f f ' ist eine der K a r d i n a l d i f f e r e n z e n innerhalb der abendländischen Ontologie, deren leitender G e d a n k e darin besteht, Verä n d e r u n g und W e r d e n als akzidentellen Wechsel g e g e n ü b e r einem substantiellen Sein a u f z u f a s s e n . Aristoteles, der Initiator der klassisch g e w o r d e n e n Ontologie, stellte, u m das Bleibende, dem W e r d e p r o z e s s Entzogene als Substanz d e n k e n zu können, im R a h m e n seiner π ρ ώ τ η φ ι λ ο σ ο φ ί α diesbezüglich bekanntlich die Ref l e x i o n s b e g r i f f e ύττοκείμενον und σ υ μ β ε β η κ ό τ α sowie ϋλη und elSo? bereit. O b gleich die F o r m - S t o f f - D i f f e r e n z in ihren mannigfaltigen A u s p r ä g u n g e n und erkenntnistheoretischen U m d e u t u n g e n bis hin zu Kant und S c h o p e n h a u e r ein Plausibilitätsstandard der philosophischen Tradition war, reagierte ihr „ E r f i n d e r " mit ihr nicht zuletzt a u f die durch Heraklit gestellte H e r a u s f o r d e r u n g . Piaton b e g e g n e te d e m auf die P e r m a n e n z des W a n d e l s a b h e b e n d e n P h y s i s - B e g r i f f des Ephesiers mit der K o n z e p t u a l i s i e r u n g des W e r d e n s als eines „ W e r d e n s z u m S e i n " . j 6 6 Nietzsches I n a n s p r u c h n a h m e S c h o p e n h a u e r s ist als Rezeption des Substantialismus der ontologischen Tradition so gesehen eine unwillkürliche Konterkarikatur der eigenen Absichten. Der zum radikalen Anti-Ontologen stilisierte Heraklit wird durch ein unnötigerweise herein getragenes ontologisches B e g r i f f s p a a r gleichsam entschärft. Heraklits B e g r i f f der δ ί κ η - in den Vorlesungen ist er „nächst dem W e r d e n [...] der zweite H a u p t b e g r i f f ' - 3 6 7 wird durch N i e t z s c h e in A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit A n a x i m a n d e r expliziert und dient zumeist der spekulativen W i e d e r g e w i n n u n g der Persönlichkeit des Ephesiers. Diese wird illustriert im Hinblick auf seine weltanschauliche Grundausrichtung, sein philosophisches Selbstverständnis und seine intuitiv-ästhetische B e g a b u n g . A n a x i m a n d e r s b e r ü h m t e s S p r u c h f r a g m e n t fungiert hierbei als k o s m o l o g i s c h e r A n k n ü p f u n g s p u n k t und m e t a p h y s i s c h e Gegenfolie. Heraklit ist von ihm aus betrachtet g l e i c h e r m a ß e n N a c h f o l g e r und N e u b e g r ü n d e r des ionischen D e n k e n s . Für N i e t z s c h e ist alles W e r d e n bei A n a x i m a n d e r „eine s t r a f w ü r d i g e E m a n c i p a t i o n v o m e w i g e n Sein" ( P H G 4, S. 819), „die Vielheit der entstandenen Dinge eine S u m m e von a b z u b ü ß e n d e n Ungerechtigkeiten" ( P H G , S. 820). U n v e r k e n n b a r ist auch innerhalb dieser D e u t u n g S c h o p e n h a u e r s Philosophie der omnipräsente Hin-

367

Piaton: Philebos 26d. V P , K G W 114, S. 2 7 0 .

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Parmenides

147

tergrund. Der Pessimismus des Meisters ist im milesischen Denker gleichsam präfiguriert. Als der „erste Grieche" habe jener „das Knäuel des tiefsinnigsten ethischen Problems [...] erhascht" (ebd). Die Sichtung der Welt als ein primär „moralisches Phänomen", einer Welt, in der Entstehung Verschuldung und Vergehen Bestrafung bedeutet, ist gleichwohl von philosophischer Ambivalenz. Zum einen manifestiert sich in ihr ein reflektierteres philosophisches Bewusstsein, dem sich die Frage nach der Existenz und dem Wesen des Kosmos nicht als Frage nach einem stofflich gedachten Ursprung und stofflichen Mischungsverhältnissen stellt. Dass Anaximander nicht mehr „rein physikalisch" denkt, wird vor allem in dessen Grundbegriff απβιρον offenbar, den Nietzsche anstelle räumlich, zeitlich oder stofflich orientierter Interpretationen 368 als einen bloßen Reflexionsbegriff auffasst, der folgerichtig als „das Unbestimmte" übersetzt und lediglich via negationis expliziert wird. 369 Dass mit dem Schuld-Strafe-Gedanken andererseits „eine höchst anthropomorphische Metapher" durch „Übertragung" auf den „allgemeinen Charakter des Daseins" angewandt wird, wird in der PHG zwar als „nicht logisch [...], aber jedenfalls recht menschlich" gewürdigt, verweist jedoch auf die Grenzen dieser Art Betrachtung. Vor allem der umstrittene, über die Termini έκκρίνεσθαι oder άττοκριι^σθαι entfaltete Ausdifferenzierunsprozess/ 7 0 der das Problem des Sich-Herauslösens aus dem άπειροι; thematisiert, zeigt für Nietzsche die „theoretische" Grenze der Spekulation des Milesiers an. Zwischen dem schuldfreien „Urwesen" und der von ihm abhängigen schuldhaften Werdewelt wird anhand des Enkrisis-Problems ein Chorismos diagnostiziert, der demjenigen, den Aristoteles zwischen platonischer Ideen- und Lebenswelt in Auseinandersetzung mit dem Methexis-Begriff geltend gemacht hatte, um nichts nachsteht. Die indirekten Fragen, mit denen die Behandlung Anaximanders endet, Fragen danach, „wie überhaupt aus dem Unbestimmten j e das Bestimmte, aus dem Ewigen das Zeitliche, aus dem Gerechten die Ungerechtigkeit, durch Abfall entstehen könne" (PHG 4, S. 822), zementieren nochmals die Deutung Anaximanders als eines Metaphysikers und Pessimisten, dessen ethische Helle in spekulativer „Nacht" endet. Die „mystische Nacht Anaximanders" barg in sich die Gefahr des Ressentiments. Dessen auf dem Dike-Begriff fußende Deutung erblickte im „Weltprozeß" einen „Bestrafungsakt der Hybris". Schon Hesiod hatte durch seine Personifikati-

568

Aristoteles hat große Mühe, das Apeiron im kategorialen Schema seiner Ursachenkonzeption zu erfassen. Seine diesbezüglichen Versuche in Physik A4, 187al2; Γ4, 203al6, 203b7-15, Γ5, 204b22; Γ8, 208a8 oder De Caelo Γ5, 303bl0 reduzieren es durch versuchsweise Zuordnung oder enden in Paradoxien beziehungsweise Widersprüchen. 369 Nietzsches stark aktualisierende Interpretation, dasselbe „dürfte deshalb dem Kantischen „Ding an sich" als ebenbürtig gelten" (PHG 4, S. 819), scheint insofern hauptsächlich durch die Abgrenzung vom aristotelischen Deutungsrahmen motiviert zu sein. " " Z u den Überlieferungsverhältnissen und Deutungsmöglichkeiten vgl. KRS: Die vorsokratischen Philosophen, a. a. O., S. 140 ff.

148

I. T e i l : V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

on der Dike als Tochter des Zeus und der Themis (Satzung) sowie als Schwester der Eunomia (Wohlgeordnetheit) und der Eirene (Frieden) versucht/ 7 1 einen transzendenten und verbindlichen Begriff der Gerechtigkeit gegen die moralische Indifferenz der homerischen Götter zu installieren. Im Eunomia-Fragment Solons, der ersten politischen Theorie des Abendlandes, bezeichnet Dike wiederum die unausweichliche, jedoch aus menschlichem Fehlverhalten hervorgehende und damit selbstverschuldete, Bestrafung jeglicher Hybris. Dike, der kein Fehlverhalten entgeht, weil sie die immanente Konsequenz desselben ist, kommt „in jedem Fall" (πάντως - ) zu strafen" (άποτεισομένη). 3 7 2 Diese, bei Hesiod und Solon noch vor einem j e spezifischen sozialen Hintergrund formulierte Deutung der Dike als Strafgerechtigkeit erfuhr nur wenige Jahrzehnte später durch Anaximander ihre kosmologische Universalisierung. Die Schwere und Konsequenz dieses Urteils stilisiert Nietzsche zur Herausforderung für das nachfolgende Denken. Der hohe Moralismus Anaximanders konnte nicht mehr überboten werden, die Antwort auf ihn musste in der Rehabilitierung des Lebens liegen und von einem Denker ganz anderer Natur ausgesprochen werden. Heraklit als der „aesthetische Mensch" ist dieser andere. Übermenschlicher Stolz, intuitive Begabung, unbedingter Glaube an „seine" Wahrheit und die Ausrichtung des Lebens auf dieselbe stellen ihn in eine Reihe mit den anderen Vorsokratikern. Die Einsamkeit und Selbstbezogenheit Heraklits sind für Nietzsche jedoch ohne Beispiel: „Kein übermächtiges Gefühl mitleidiger Erregungen, kein Begehren, helfen, heilen u n d r e t t e n z u w o l l e n , s t r ö m t v o n i h m a u s : er ist w i e e i n G e s t i r n o h n e

Atmosphäre.

Sein A u g e , lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben u n d eisig, w i e z u m ne nur, n a c h außen. [ ...] Unter M e n s c h e n w a r Heraklit, als M e n s c h ,

Schei-

unglaublich"

( P H G 8, S. 8 3 4 ) . 3 7 3

Die Zeichnung, die auch von Anekdoten aus dem Bios des Diogenes Laertius inspiriert zu sein scheint, betont das vordergründig Inhumane und Asoziale der Biographie Heraklits, um dann jene „Mauer seiner Selbstgenügsamkeit" (PHG 8, S. 833) in den Blick zu bekommen, die es zuletzt möglich gemacht habe, das Werden „ohne jede moralische Zurechnung" (PHG 7, S. 830) zu betrachten. Heraklits Dike-Konzept ist Ausdruck seiner aristokratischen Distanz zu den menschlichen Angelegenheiten, seien sie politischer, kultisch-religiöser, forschender oder

371 372

373

Hesiod: Theogonia, V. 901-902. F r a g m e n t 4, V e r s 16. Z i t i e r t n a c h W e s t , M a r t i n L.: D e l e c t u s e x i a m b i s et e l e g i s G r a e c i s . O x f o r d 1 9 8 0 ( O x f o r d C l a s s i c a l T e x t s ) . V g l . d a z u S t a h l , M i c h a e l , S o l o n F 3 D. D i e G e b u r t s s t u n d e d e s d e m o k r a t i s c h e n G e d a n k e n s . In: G y m n a s i u m 9 9 ( 1 9 9 2 ) . S. 3 8 5 - 4 0 8 . D i e m y t h i s i e r e n d e S t i l i s i e r u n g H e r a k l i t s z u m P h i l o s o p h e n i d e a l f i n d e t in der D a r s t e l l u n g S c h o p e n h a u e r s in U B III e i n e v e r s u c h s w e i s e A n w e n d u n g a u f den i d e a l t y p i s c h e n P h i l o s o p h e n d e r M o d e r n e . U n ü b e r s e h b a r ist d a b e i g l e i c h w o h l , d a s s die e n g a g i e r t u n d z u s t i m m e n d g e z e i c h n e t e n m e n s c h l i c h a l l z u m e n s c h l i c h e n Z ü g e S c h o p e n h a u e r s n u r n o c h als D e r i v a t d e s h e r o i s c h e n U r b i l d s s k i z z i e r t s i n d .

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Parmenides

149

sozialer Natur. Eben j e n e Distanz will Nietzsche nicht mit menschenscheuer Weltflucht verwechselt wissen. Als „seltenste, in einem gewissen Sinne unnatürlichste" ( P H G 8, S. 833) Begabung ist sie vielmehr conditio sine qua non der Philosophie des Ephesiers. Wenn das im frühgriechischen Denken anzutreffende Rechtsverständnis - wie angedeutet - Dike als strafende Gerechtigkeit in Konfliktsituationen installierte und transzendierte, so schließt Heraklit weitab von anthropozentrischen Versuchungen angesichts des ewigen Streits entgegengesetzter Kräfte die Begriffe Streit, Krieg und Recht in bis heute provozierender Weise zusammen. Maßgeblich für diesen Z u s a m m e n h a n g ist das bei Origenes überlieferte Fragment Β 80, das für Nietzsche fraglos eine Antwort auf den so genannten Spruch des A n a x i m a n d e r dargestellt hat: Είδεναι χρή τον ττόλεμον έόντα ξυνόν και δίκην epiv καΐ -γινόμενα πάντα κατ' Ιριν και χρεών. - „Es ist nötig zu sehen (zu wissen), dass der Krieg ein Gemeinsames ist und Streit Recht und alles gemäß dem Streit und der Notwendigkeit (Schuldigkeit) entsteht." 374 Der apodiktische Beginn (χρή ε ί δ έ ν α ι ) verweist auf die prinzipielle Dimension des folgenden und macht Bezugnahmen auf Hesiod und Anaximander, vielleicht auch auf Solon, durchaus wahrscheinlich. In der Parallelisierung der Begriffe π ό λ ε μ ο ν und ξυνόν, δίκην und epiv, sowie epiv und χ ρ ε ώ ν erfahrt Dike als die Streit und Entstehung strafende Gerechtigkeit ihre entscheidende Transformation zur R e c h t f e r t i g e ™ . Nietzsches die anaximandrinische N a c h t erleuchtender Heraklit erleutert mit dementsprechendem Pathos seine Vision: „Nicht die Bestrafung des Gewordenen schaute ich, sondern die Rechtfertigung des Werdens. [...] Wo die Ungerechtigkeit waltet, da ist Willkür, Unordnung, Regellosigkeit, Widerspruch; wo aber das Gesetz und die Tochter des Zeus, die Dike, allein regiert, wie in dieser Welt, wie sollte da die Sphäre der Schuld, der Buße, der Verurtheilung und gleichsam die Richtstätte aller Verdammten sein?" (PHG 5, S. 822). Im Begriff Hybris sieht Nietzsche den eigentlichen „Prüfstein für j e d e n Herakliteer". Das ästhetisch strukturierte, intuitive Denken des Ephesiers entzieht sich als Betrachtung des „alleinigen W e r d e n s " den Setzungen eines kausal verfahrenden Denkens ebenso wie einer moralischen Reflexion auf das Weltgeschehen. Der gegen die Logos-Philosophie der griechischen Klassik gerichtete Intuitionsbegriff wird von Nietzsche zwar für alle Vorsokratiker gleichermaßen in Anspruch g e n o m m e n , spielt ansonsten im Philosophenbuch aber nirgendwo eine ähnliche Rolle wie in den Heraklit-Kapiteln.

174

Auch KRS: Die vorsokratischen Philosophen, a. a. O., S. 211 f., sehen dieses Fragment an Anaximander adressiert.

150

I. Teil: V o n d e r P h i l o l o g i e z u r P h i l o s o p h i e

Auch im Bemühen um eine philosophische Fundierung des „aesthetischen Menschen" Heraklit fällt Nietzsche zuweilen hinter seine in der Geburt der Tragödie entwickelte Ästhetik und das in PHG bereits zuvor artikulierte Verständnis von Intuition zurück, das auf ein „blitzartiges Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten" abhob. Plötzlich wird die „intuitive Vorstellung" wieder transzendentalphilosophisch und damit erneut gänzlich gegen das ansonsten gezeichnete Bild Heraklits begründet, umfasse diese doch „zweierlei: einmal die gegenwärtige, in allen Erfahrungen an uns heran sich drängende [...] Welt, sodann die Bedingungen, durch die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird, Zeit und Raum" (PHG 5, S. 823).

Letztere habe Heraklit „unabhängig von jeder Erfahrung und rein an sich intuitiv percipirt" (ebd.). Auch hier wird zuletzt die Rechtmäßigkeit der Analyse durch ein halbseitiges Zitat aus dem Hauptwerke Schopenhauers bestätigt. Das Blitzartige der Intuition ist keineswegs „reine Perception" von Anschauungsformen, Intuition selbst kein kognitiver Akt - die obige Deutung Nietzsches nimmt sich innerhalb von PHG isoliert aus und sollte als sprachbedingte Reminiszenz an Kant und Schopenhauer vernachlässigt werden. Demgegenüber verweist etwa eine Formulierung wie „in dem Logos [...] leben" (PHG 7, S. 831) nachdrücklich darauf, dass sich das Denken Heraklits als ein Freibleiben für das SichZeigen des Logos verstanden hat und auch von Nietzsche so verstanden worden ist. Ein bei Hippolytos überliefertes Fragment, B22, - τ ά δε π ά ν τ α οίακί^ει. ραυνός·: „Alles Vorliegende steuert der Blitz." - beschreibt die dem Logos Heraklits eigentümliche Grenze der philosophischen Reflexion am eindringlichsten. Für ein angemessenes Verständnis empfiehlt es sich, diese Aussage nicht in den Kontext der Feuerkosmologie zu rücken, sondern den Blitz vor dem hier aufgerissenen Hintergrund als Semiotik zu fassen, die auf den phänomenalen Befund der Blitzhaftigkeit verweist. 375 Im Paradox, den jäh aufzuckenden und verglühenden Blitz als die Instanz denken zu wollen, die „das Steuerruder innehat", die also Regelhafitigkeit und Ordnung verkörpert, wird die Physis ganz auf den Charakter eines spontanen Sich-Zeigens und Entziehens hin ausgelegt. Auch für Nietzsche ist der Logos Heraklits unverfügbar. Für den Menschen - und dieser „nimmt gar nicht eine besonders bevorzugte Stellung in der Natur ein" (PHG 7, S. 831) - gilt dann: „Eine Verpflichtung daß er den Logos erkennen müsse, weil er Mensch sei, existirt nicht" (PHG 7, S. 832). 376

' 7 3 K R S : D i e v o r s o k r a t i s c h e n P h i l o s o p h e n , a. a. O . , S. 2 1 6 f., platzieren d i e s e F r a g m e n t im K o n t e x t d e r k o s m o l o g i s c h e n F e u e r l e h r e , n e h m e n i h m d a m i t die B r i s a n z u n d k o m m e n t i e r e n : „ R e i n e s o d e r ä t h e r i s c h e s F e u e r b e s i t z t e i n e F ä h i g k e i t z u r L e n k u n g . " A u c h M a n s f e l d , J a a p : D i e V o r s o k r a t i k e r . Bd. 1. S t u t t g a r t 1983. S. 2 6 2 ff., g r u p p i e r t es u n t e r „ P h y s i k : A l l g e m e i n e s " . 376

V o n hier ließe sich z u m i n d e s t eine N ä h e zu H e i d e g g e r , M a r t i n : V o r t r ä g e u n d A u f s ä t z e . P f u l l i n g e n 1954. D a r i n : L o g o s ( H e r a k l i t , F r a g m e n t 50), S. 2 0 7 - 2 2 9 , k o n s t r u i e r e n . T e r t i u m c o m p a r a t i o n i s w ä r e d i e E r e i g n i s h a f t i g k e i t d e s L o g o s , d e r in b e i d e n Fällen a u s d e r S p h ä r e d e r S u b j e k t i v i t ä t u n d A u t o -

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Parmenides

4,2 Parmenides: „ eiskalte

151

Logik"?

Während die emphatische und sympathetische Explikation der Werdewelt Heraklits als Anti-Ontologie an die metaphysische Tradition adressiert ist, sind die

Parmenides-Kapitel der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen demgegenüber unverkennbar von Distanz gegenüber dem Eleaten geprägt. Einer Distanz, die ebenfalls im Dienste der allmählichen Profilierung des philosophischen Selbstverständnisses Nietzsches steht. Parmenides, der in konventioneller Weise als „Gegenbild" (PHG 9, S. 836) zu Heraklit eingeführt wird, hat sich innerhalb der Polyphonie des frühgriechischen Denkens zu den folgenreichsten Unterscheidungen durchgerungen. Die rigorose Trennung zwischen Sein und Nichtsein, die konsequente Ausschließung des Nichtseins und zuletzt die folgerichtige Hypostasierung des Seins stellen Umwertungen dar, die für Nietzsche den Abschied von der ästhetischen Orientierung an der Physis einerseits und die Formation einer sich als Ontologie verstehenden Philosophie andererseits markieren: „In der Philosophie des Parmenides präludiert das Thema der Ontologie" (PHG 11, S. 845). Insbesondere die Tatsache, dass die ontologische Wendung des Eleaten mit einem neuen Begriff des Denkens korrespondiert, der für die künftige europäische Philosophie prägend sein sollte, stigmatisiert Parmenides und macht ihn für Nietzsche nicht nur zum thematischen „Gegenbild" Heraklits innerhalb der PHG, sondern auch zum konzeptionellen Gegner des eigenen philosophischen Anspruchs. Die Reduktion des Denkens auf formale Operationen und dessen drastische Ausrichtung auf die Einheit und Unveränderlichkeit des Seins ermöglichten eine neue Form der Sachbezogenheit am Leitfaden des Begriffs und der Logik und machten damit gewissermaßen das Denken im Sinne eines separaten kognitiven Geschehens erst zum Thema. Durch die von ihm somit initiierte „Erkenntnistheorie" habe Parmenides jedoch über die Disziplinierung des Denkens hinaus die Ausgrenzung

nomie in den Bereich einer möglichen passiven Referenz verlagert wird. Während bei Nietzsche j e d o c h der intuitiv befähigte Heraklit im Vordergrund steht, der für die Gestaltungen des Logos offen bleibt, expliziert Heidegger den Logos selbst als Möglichkeit einer gestaltlosen ereignishaften Seinserfahrung: „Ob das Denken endlich lernt, einiges von dem zu ahnen, was es heißt, dass noch Aristoteles das λ έ γ ε ι ν als άττοφαίΐ'εσθαι umgrenzen kann? Der Xoyos bringt das Erscheinende, das ins Vorliegen hervor-Kommende, von ihm selbst her zum Scheinen, zum gelichteten Sichzeigen" (S. 213). - Bremer, Die Spannung von N ä h e und Ferne, a. a. O., S. 197, konstatiert, dass der „Log o s - B e g r i f f (sie!, Anm.d.Verf.) bei Nietzsche „kaum Berücksichtigung" findet und gibt - in Parenthese - auch gleich die Erklärung desselben: „Heraklit hat nach unserem heutigen Verständnis [!] in der Welt als O r d n u n g die Kraft einer verborgenen Harmonie aufgedeckt, die der scheinbar disparaten und vielfältig auseinandergehenden Wirklichkeit Struktur gibt, das Einheitsprinzip ist die Sprach- und Denkform des Xöyos" (S. 197).

152

„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

der Sinnlichkeit aus der Reflexion und damit die fatale Unterscheidung von „rational" und „irrational", von „logisch" und „unlogisch" bewirkt: „Damit vollzog er die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren Folgen verhängnißvolle erste Kritik des Erkenntnißapparats: dadurch daß er die Sinne und die Befähigung Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander riß, als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von „Geist" und „Körper" aufgemuntert, die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt" (PHG 10, S. 843).

War Heraklit gegen die Tradition zu interpretieren und für das sich abzeichnende Philosophieverständnis Nietzsches als Leitbild fruchtbar, figuriert Parmenides demgegenüber als Inkarnation der Metaphysik und wird innerhalb der PHG von Beginn an als Folie zur Abgrenzung instrumentalisiert. 377 Demgemäß bleibt auch die Darstellung des Eleaten innerhalb der PHG-Kapitel häufig befremdlich holzschnittartig und eindimensional. An einer spekulativen Rekonstruktion des Ganzen der parmenideischen Gedankenwelt ist Nietzsche offenkundig nicht gelegen/ 7 8 Eine Auseinandersetzung mit dem berühmten „Prolog" des Hexametergedichts - gerade sie wäre geeignet gewesen, die problematische Selbstauslegung der ersten Denker exemplarisch zu illustrieren - fehlt leider ganz. Die Problematisierung der keineswegs mehr selbstverständlichen literarischen Form, in welcher ausgerechnet die „logische Starrheit" des Parmenides ihren Ausdruck erhielt, findet ebenso wenig statt wie eine Beschäftigung mit Dike, deren Charakterisierung in Abgrenzung zu Anaximander und Heraklit durchaus zweckmäßig für das Vorhaben der PHG gewesen wäre. Es ist demgegenüber vornehmlich die Genese einer neuen Art von Wahrheit, die Nietzsche an Parmenides interessiert, oder anders: die Transformation von einer „in der Intuition erfaßten", physiologischen Wahrheit hin zu „der an der Strickleiter der Logik erkletterten Wahrheit" (PHG 9, S. 835). Die eingangs angeführte Reduktion der Philosophie des Eleaten auf einige wenige - aber grundlegende - Unterscheidungen und formale Operationen dient Nietzsche dazu, den

377

j7s

Reckermann, Alfons, Nietzsche und Parmenides. In: Philosophisches Jahrbuch 89 (198). S. 325346, stellt in seinen Ausführungen die „Gegensätze zwischen den zentralen Aussagen der parmenideischen „Ontologie" und der nietzscheschen Metaphysikkritik" von Vornherein in Rechnung. Reckermanns Absicht besteht darin, zu zeigen, „dass Nietzsches kritische Distanzierung von den Denkgewohnheiten und Rationalitätsansprüchen der metaphysischen Tradition in ihrer argumentativen Struktur auf Kernsätze des parmenideischen Lehrgedichts und auf deren für die Wirkungsgeschichte der Metaphysik folgenreiche Radikalisierung im platonischen „Parmenides" bezogen werden kann (S. 327)." Besonders drastisch Colli, Giorgio in seinem P H G betreffenden Nachwort, für den das ParmenidesKapitel „völlig abzulehnen" ist (KSA 1, S. 917), der jedoch die - kaum verschleierte - Strategie Nietzsches innerhalb dieser sicherlich zu stark stilisierenden Interpretationsweise unterschätzt.

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Parmenides

153

von Parmenides ausgehenden Bruch innerhalb der frühgriechischen Philosophie möglichst drastisch kenntlich zu machen. Zugleich sind die Kapitel 9-13 der PHG eine Genealogie abendländischer philosophischer Grundunterscheidungen im Gewand der Lebensgeschichte eines bestimmten frühgriechischen Denkers. Nietzsche erzählt diese Geschichte gezielt tendenziös, er erzählt sie aus der Perspektive der ionischen Physiologie, namentlich aus der Perspektive Heraklits. Erst in diesem Blickwinkel enthüllen sich die eleatischen Dichotomien in ihrer Befremdlichkeit. Insbesondere die von der europäischen Philosophie beinahe gänzlich internalisierte Privilegierung einer „reinen" Vernunft gegenüber den ebenso plumpen wie täuschbaren Sinnen - noch Kant unterscheidet die „Spontaneität" der Begriffe von der „Rezeptivität" der Sinne, oder besser: dem „rohen Stoff sinnlicher Eindrücke" - wird in der Erzählung Nietzsches auf das existentielle Bedürfnis des Individuums Parmenides zurückgeführt - und eben damit zur Disposition gestellt. Auch der Eleat zählt zum für das frühgriechische Philosophieren herausgestellten „Typus eines Propheten der Wahrheit" (PHG 9, S. 836), auch er ist ein „Tyrann des Geistes". Beide Formulierungen sind durchaus treffend für Parmenides. Durch die am Beginn des Lehrgedichtes dargestellte Kommunikationssituation zwischen ihm und Dike wird der Wahrheitsbezug seines Denkens gezielt personalisiert und damit einem - ohnehin wohl nicht existenten Diskurs - entzogen. Seine Verbindlichkeit erhält dieses Denken wiederum durch die Installation der Dike als religiöser Autorität, der Göttin Dike also, die sich als Wegweiserin offenbart und der Wahrheit des Parmenides quasireligiöse Dimension zukommen lässt/ 7 9 Nietzsche erzählt die „intellektuelle Entwicklung" des Parmenides im Zusammenhang mit drei frühgriechischen Denkern, mit Anaximander, Heraklit und Xenophanes. Nicht die historische Authentizität der Beziehungen steht dabei im Vordergrund, sondern die Darstellung verschiedener, einander anziehender oder abstoßender, Denkerfahrungen. 3 8 0 So habe der Eleate im ersten Teil seines Lebens „ein durchgeführtes philosophisch-physikalisches System, als Antwort auf die Fragen Anaximander's" (PHG 9, S. 836) hervorgebracht, sich also noch im Denkhorizont der ionischen „Physiologen" bewegt. Dieses ausgearbeitete System scheint nach der parmenideischen Kehre verworfen worden zu sein, zugleich aber

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Eine Deutungsalternative zwischen „schamanistischem Ritual" oder „Allegorie der A u f k l ä r u n g " , w i e sie K R S : D i e v o r s o k r a t i s c h e n P h i l o s o p h e n , a. a. O., S. 2 6 7 f., f ü r die H i m m e l f a h r t des P a r m e n i d e s a n b i e t e n , s c h e i n t zu u n s p e z i f i s c h . Sie e r m ö g l i c h t es lediglich, P a r m e n i d e s in m a g i s c h e n W e l t a n s c h a u u n g e n b e f a n g e n zu s e h e n , oder a b e r z u m A u f k l ä r e r und R a t i o n a l i s t e n zu stilisieren.

'8I> S o s c h e i n t N i e t z s c h e f ü r P a r m e n i d e s „ d e s s e n p e r s ö n l i c h e r U m g a n g m i t A n a x i m a n d e r [ . . . ] n i c h t u n g l a u b l i c h " ( P H G 9, S. 8 3 7 ) - e i n e s c h l e c h t e r d i n g s n i c h t zu e r k l ä r e n d e A u s s a g e . A u c h die S c h l ü s s e l b e g e g n u n g m i t d e r G e d a n k e n w e l t H e r a k l i t s ist (vgl. P H G 10, S. 8 4 2 ) - d i e s h a b e n die S t u d i e n v o n R e i n h a r d t , K a r l : P a r m e n i d e s u n d d e r A u s g a n g d e r g r i e c h i s c h e n P h i l o s o p h i e , 2. A u f l . F r a n k f u r t 1959, n a c h d r ü c k l i c h h e r a u s g e a r b e i t e t - w e n i g w a h r s c h e i n l i c h .

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„Polyphonie": Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie

innerhalb des später geschriebenen Lehrgedichtes jenen zweiten Teil auszumachen, der sich der δόξαί βροτων, der „Meinungen der Sterblichen" annimmt. 0 8 1 Mit Heraklit teilt Parmenides die Skepsis gegenüber dem vermeintlichen anaximandrinischen Chorismos einer „doppelten Weltordnung" (PHG 9, S. 837). Angesichts der sie umgebenden Werdewelt „reagieren" beide nach Nietzsche jedoch diametral entgegengesetzt: Heraklit rückt den Transformationscharakter der Physis ins Zentrum seines Denkens und erfährt den Logos als ästhetische Instanz zur Reflexion auf die sich metamorphotisch verändernde Umwelt. Der Ansatz des Eleaten ist davon „ganz verschieden" (ebd.), ihn zeichnet „die Befähigung zur abstrakt-logischen Prozedur" (PHG 9, S. 838) aus. Die durch diesen auf Gegensatzpaare reduzierte Welt wird infolge einer formalen Operation, einer archaischen Art von Metareflexion, nochmals auf die grundlegende Dichotomie „positiv" - „negativ" reduziert, eine Dichotomie, die ihrerseits schließlich interpretiert wird als Unterscheidung „seiend" - nicht seiend". So verfahrend sei Parmenides schließlich zu der Ansicht gelangt, dass „diese unsre Welt selbst etwas Seiendes enthalte: freilich auch etwas Nichtseiendes." 3 8 2 (ebd.) - und konnte mit dieser Ansicht nicht leben. Für Nietzsche war es der „Begriff der negativen Eigenschaft, des Nichtseienden" (PHG 10, S. 841), der Parmenides angesichts der tautologischen Identitätsfeststellung „A=A" (ebd.) unerträglich fragwürdig wurde. Die der Tautologie inhärente Evidenzerfahrung verselbständigte sich in dessen Philosophie zum einzigen Gradmesser im Denken. Jene, den frühgriechischen Denkern eigentümliche „furchtbare Energie des Strebens nach G e w i ß h e i t " (PHG 11, S. 845) gewann bei Parmenides in dieser reflexiven Denkerfahrung Halt. Wie sehr Nietzsche diese folgenreiche Transformation des Wahrheitsbegriffes als persönliche Entscheidung eines Denkers begreift, 3 8 j der seinen spezifischen Existenzbedingungen und Lebensbedürfnissen unterworfen ist, verdeutlicht das folgende Zitat. Auch hier ist der narrative Gestus bedeutsam. Nietzsche, der -

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Tejera, Victorino: Nietzsche and Greek Thought. Dordrecht, Boston, Lancaster 1987 (Martinus Nihhoff Philosophy Library 24), konstatiert dazu: "Nietzsche has noted that there are two aspects to Parmenides' work; but they are not two phases of his development, they visibly correspond to the two main parts of the poem" (S. 50). Nietzsche scheint jedoch genau dies auch in Rechnung zu stellen. Die „Meinungen der Sterblichen" - seien sie einer früheren Phase seines Denkens entsprungen oder nicht - gehören dennoch zum Lehrgedicht, weil sie einen konstitutiven Teil der Existenz des Parmenides und damit nach dessen Verständnis eine faktische Dimension des Menschseins repräsentieren. Die Einsicht, die Nietzsche hier dem „frühen" Parmenides zumutet, erinnert an jene Passage des platonischen Sophistes, in welcher sich Theaitetos und der eleatische Fremde auf eine Korrektur der parmenideischen Ontologie verständigen, nach der Seiendes partiell durch Nichtseiendes beziehungsweise Nichtseiendes durch Seiendes zu explizieren ist. Auch Heitsch, Ernst: Parmenides. Die Fragmente. Griech.-deutsch. Hg., übers, und erläutert. Darmstadt 1995. S. 79, macht in seiner sorgfältigen und instruktiven Kommentierung des Lehrgedichts für Parmenides geltend: „Die Entdeckung, dass es eine Sphäre der Evidenz gibt, ist für ihren Entdecker überwältigend gewesen."

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Parmenides

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jenseits eines A n h a l t s an den überlieferten Fragmenten - zum Sprachrohr des Eleaten wird, kleidet dessen existentiellen Impetus in die F o r m eines Gebets: „Nur eine Gewißheit gewährt mir, ihr Götter, ist das Gebet des Parmenides, und sei sie auf dem Meere des Ungewissen nur ein Brett, breit genug, um darauf zu liegen! Alles Werdende Üppige Bunte Blühende Täuschende Reizende Lebendige, alles dies nehmt nur für euch: und gebt mir nur die einzige arme leere Gewißheit" (PHG 11, S. 845) Jene im D e n k e n g e w o n n e n e Gewissheit, die άλήθβία des Parmenides, war A u s g a n g s p u n k t f ü r die Ontologisierung der Physis. Die f ü r den Eleaten g e g e b e n e U n d e n k b a r k e i t des N i c h t s e i e n d e n war als begriffliche Konzeptualisierung der L e b e n s w e l t zu einem mit sich selbst identischen, a l l u m f a s s e n d e n Sein mit der k o n s e q u e n t e n Exklusion des Veränderlichen, Beweglichen und sinnlich E r f a h r b a ren v e r b u n d e n , denn: „Die Erfahrung bot ihm nirgends ein Sein, wie er es sich dachte, aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß es existiren müsse: ein Schluß, der auf der Voraussetzung beruht, daß wir ein Organ der Erkenntniß haben, das in's Wesen der Dinge reicht und unabhängig von der Erfahrung ist" (ebd.). Nietzsche, der innerhalb der P H G wieder und wieder bestrebt ist, das Einheitskonzept des P a r m e n i d e s als Ergebnis formaler Operationen, „völlig blutloser A b s traktionen", zu entlarven, stellt zu diesem Z w e c k auch eine philosophische Bezieh u n g des Eleaten z u m ersten mit Elea assoziierten D e n k e r X e n o p h a n e s in A b r e d e . D a b e i lassen insbesondere die theologischen Spekulationen des aus K o l o p h o n s t a m m e n d e n , nach d e m Einfall der Perser 546/45 seine H e i m a t a u f g e b e n d e n und von da an u m h e r w a n d e r n d e n Rhapsoden eigener G e s ä n g e eine N ä h e zu P a r m e n i des d u r c h a u s plausibel erscheinen. Monotheistisch a n m u t e n d e und f ü r die griechische Frühzeit durchaus singulare F o r m u l i e r u n g e n v o m „einzigen Gott", 3 8 4 der „ i m m e r a m selben Ort verharrt ohne sich zu b e w e g e n " / 8 5 verweisen für N i e t z s c h e j e d o c h k e i n e s w e g s auf das einzige, u n b e w e g l i c h e Sein des P a r m e n i d e s / 8 6 In ihnen o f f e n b a r e n sich die eher nicht rezipierbaren E r f a h r u n g e n „der Vision einer göttlichen R u h e " ( P H G 10, S. 840) des greisen X e n o p h a n e s , der „mit j e n e r mystischen Einheit recht eigentlich ins sechste J a h r h u n d e r t " ( P H G 10, S. 841) gehöre. Dessen „ V i s i o n " sei das reife E n d p r o d u k t eines eminent bewegten Lebens. Die Über-

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DK Β 23. D K Β 26. Auch Jäger, Werner: Die Theologie der frühen griechischen Denker, a. a. O., S. 64 f.. konstatiert: „Diese Ansicht hat lange Zeit unsere Lehrbücher beherrscht [...].", um sie dann mit zustimmender B e z u g n a h m e auf Karl Reinhardt im Sinne Nietzsches zu verwerfen. Während es Reinhardt jedoch vorwiegend darum ging, die Originalität des parmenideischen Denkens durch die Marginalisierung des Xenophanes abzusichern, richtet Jäger sein Augenmerk darauf, dass dieser trotz der angeführten Fragmente „den Pluralismus der griechischen Gottesvorstellung" (S. 56) bewahrte. Die Idee des einen Gottes stehe insofern maßgeblich im Dienst einer nichtanthropomorphen Theologie.

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I. Teil: Von der Philologie zur Philosophie

schneidungen mit dem Denken des jüngeren, zeitgleich in Elea lebenden Philosophen sind demnsch „rein zufällig", denn „der Ursprung jener Einheitsconception ist bei dem Einen ein ganz andrer, ja entgegengesetzter als bei dem Anderen" (PHG 10, S. 840). Die hohe Wertschätzung, die Xenophanes in den Parmenides-Kapiteln von PHG erfährt, darf vor diesem Hintergrund durchaus nicht überbewertet werden. In Nietzsches späteren Werken und Fragmenten wird dieser niemals mehr eine Rolle spielen. Wenn dem „ethischen Lehrer" aus Kolophon hier also die „kühne Mißbilligung der bestehenden Sitten und Schätzungen" als singular fur die griechische Archaik angerechnet wird und dessen theologischer Anti-Anthropomorphismus seine Würdigung findet, wenn Nietzsche zuletzt gar konstatiert, dass die „Freiheit des Individuums mit ihm auf der Höhe" (PHG 10, S. 841) sei, so folgen die aufgeführten Hochschätzungen zuletzt nur einer gegen Parmenides gerichteten narrativen Strategie: Die erfahrungsgesättigte und lebensweltlich angebundene, theologische Einheitsvision des Xenophanes auszuspielen gegen ein zur bloßen Kopfgeburt stilisiertes Konzept des Parmenides, mithin gegen „die starre Todesruhe, des kältesten Nichts sagenden Begriffs, des Seins" (PHG 11, S. 844). Die scharfe Polemik gegen den Eleaten richtet sich nicht gegen diesen als einzelnen Philosophen, sie ist vielmehr an ein Denken adressiert, das sich wesentlich vom Allgemeinen her versteht/ 8 7 Parmenides ist der ausgezeichnete Repräsentant dieses Denkens. Philosophie ist von ihm an maßgeblich Denken, das sich dem „Sein" stellt und dieses erkennt. Während Heraklit seinen Logos als Physis, mithin als physiologischen Logos zu verstehen bemüht war, ist das Denken des Eleaten an der autonomen Logik des Begriffs orientiert. Das Denken in Begriffen ist von Nietzsche wiederum stets in zweierlei Hinsicht thematisiert worden: einerseits als unvermeidbare, oft auch schöpferische Verallgemeinerungs- und Abkürzungspraxis im Dienste des Lebens, andererseits aber als ein der phänomenalen Vielfalt und Veränderlichkeit des Daseins unangemessenes und damit Leben restringierendes Vereinfachen - ein Denken, dem man nicht entkommt und gegen das man zugleich an-zudenken hat. Die „Tautologie Α = Α" wurde bei Parmenides zum „Princip", zur „Wahrheit über das Sein" (PHG 10, S. 841 f.). Nietzsche verneint demgegenüber in einem Nachlassfragment des Jahres 1880 die selbst gestellte Frage, ob die „Wurzel des Verstandes [...] Α = Α" sei, und konstatiert, dem Satz von der Identität gehe vielmehr das Bedürfnis nach „A = B" als „der Glaube, dass zwei gleiche Dinge da sind", voraus/ 8 8 Etwa zeitgleich zur Arbeit am Philosophenbuch entsteht 1873 der kurze Traktat Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Der Moment der Kon-

,li7

,8S

Nietzsche argumentiert insofern schon hier gleichermaßen ad hominem und ad rem, g e m ä ß dem später artikulierten Anspruch, Personen nur als Ausdruck siegreich, also diskursfällig oder sogar diskursbeherrschend gewordener Anschauungen und darum exemplarisch zu kritisieren. Nietzsche, Nachlass 1880, KS A 9, 6[156], S. 236.

Zur Auseinandersetzung Nietzsches mit Heraklit und Parmenides

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stitution einer allgemeinen Wahrheit, einer Wahrheit, die nur dem Denken, dem „reinen" Denken zugänglich sei, figuriert am Beginn dieser Schrift als Augenblick, in dem „kluge Thiere das Erkennen erfanden" - er sei die „hochmüthigste und verlogenste Minute der .Weltgeschichte'" (WL 1, S. 875). Im Vergleich zur Stilisierung des Parmenides als Erfinder der Logik wird die Genealogie der Wahrheit in diesem teils erkenntnistheoretischen, teils sprachkritischen Versuch in betont depersonalisierter, versachlichter Form durchgeführt. Damit aber dient die Schrift zugleich der Versachlichung der Kritik am Eleaten. Wenn - so das wohl zentrale Argument der Abhandlung - „die Gesetzgebung der Sprache [ ...] auch die ersten Gesetze der Wahrheit" (WL 1, S. 877) vorgibt, dann verdankt sich eine spezifische logische Ausprägung des Denkens nicht der Erfindung eines Einzelnen, sondern dem grammatikalischen Schema der sie fundierenden Sprache. 389 Parmenides hat vor diesem Hintergrund lediglich den für die Genese des Begriffs wesentlichen Prozess des „Gleichsetzens des Nicht-Gleichen" (WL 1, S. 880) forciert, die der Sprache inhärente Tendenz zur ontologisierenden Hypostasierung in ihrer Tragweite verkannt und damit das Pathos der reinen Wahrheit vorangetrieben. In der Tat wird auch im Philosophenbuch gegen den Eleaten geltend gemacht, dass Begriffe lediglich „Symbole für die Relationen von Dingen unter einander" (PHG 11, S. 846) seien und damit zumindest an einer Stelle die Verbindung zur Sprachkritik und Symboltheorie von WL ausdrücklich hergestellt.'' 90 Die „Wand der Relationen" (PHG 11, S. 846) ist nicht zu durchbrechen, sie ist auch nicht am Leitfaden eines sich selbst absolut setzenden Denkens auf ein ausgezeichnetes „Sein" jenseits von ihr zu befragen. Philosophie kann demgegenüber nur als Problematisierung dieses relationalen Gefüges gedacht werden. Sie geht dann von einer anderen Grunderfahrung aus: „zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt g i e b t es k e i n e C a u s a l i t ä t , k e i n e R i c h t i g k e i t , k e i n e n A u s d r u c k , s o n d e r n h ö c h s t e n s

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° Die Arbeiten zur Sprachkritik des jungen Nietzsche im Hinblick auf WL und zu sprachphilosophischen Implikationen der Philosophie Nietzsches überhaupt sind mittlerweile Legion. Hervorzuheben sind für WL: Simon, Josef, Der Name „Wahrheit". Zu Nietzsches früher Schrift „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne". In: Riedel, M. (Hg.): „Jedes Wort ist ein Vorurteil", a. a. O., S. 77-93, und Hödl, Hans Gerald: Nietzsches frühe Sprachkritik. Lektüren zu „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", Wien 1997, sowie für Nietzsche generell: Simon, Josef, Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche. In: Lutz-Bachmann, M. (Hg.): Über Friedrich Nietzsche. Eine Einführung in seine Philosophie. Frankfurt a. M. 1985, S. 63-97, und Behler, Ernst, Nietzsches Sprachtheorie und der Aussagecharakter seiner Schriften. In: Nietzsche-Studien 25 (1996). S. 64-86. Sorgfältige quellenkritische und textgenealogische Arbeiten zur Entstehung des Sprachbegriffs Nietzsche geben wiederum Most, Glenn, Fries, Thomas, Z u k u n f t s p h i l o l o gie!< Sendschreiben eines Philologen an Richard W a g n e r . In: G r ü n d e r , Karlfried (Hg.): Der Streit um Nietzsches > G e b u r t der T r a g ö d i e < S. 65111. Rohde, Erwin: A n z e i g e in der N o r d d e u t s c h e n Allgemeinen Zeitung v o m 26. Mai 1872: > D i e Geburt der Tragödie aus d e m Geiste der M u s i k < von Friedrich Nietzsche. In: Gründer, Karlfried (Hg.): Der Streit um N i e t z s c h e s > G e b u r t der T r a g ö d i e < S. 15-26. Rohde, Erwin: Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. 2. A u f l . 1898.

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Indices I. Namens- und Personenregister Abel, G., 10 f.

Barnes, J, 18 f., 105 f., 109

Achilles, 77 f.

Bauer, S„ 56, 61, 76

A g a m e m m n o n , 49

Behler, D„ 57

Agathon, 238

Behler, E„ 157, 195

Aischylos, 37

Bernays, J., 39 f.

Alkaios (Alcäus), 251

Bertram, E„ 17, 22, 113, 193

Allison, J. W„ 2

Biebuyck, B„ 125

Alexander Polyhistor, 106

Bishop, P., 19, 88, 120, 125, 209, 222

Alkibiades (Alcibiades), 207-210

Biton, 92

Amnion, 229

Bleicken, J„ 170

Anaxagoras, 121, 140, 159

Boardman, J., 118

Anaximander, 53, 98 f., 116, 125 f., 132, 146-150, 152 f, 159

Böhme, G„ 182, 190 Bollinger, Α., 8

Anaximenes, 125, 132

Bornmann, F., 19, 24

Andreas-Salome, L., 103

Borsche, T„ 19, 24, 40, 100, 137

Antigone, 49

Bremer, D „ 18, 142, 151, 221, 224

Antisthenes, 186

Bremer, J. M., 41

Apollon, Apollo, 208

Brobjer, T. HL, 179 f.

Archilochos (Archilochus), 93, 251

Brochard, V., 179 f.

Aristipp, 186

Brüse, K. D„ 53

Aristophanes, 15, 45, 181 f. 189

Buchheim, T., 184

Aristoteles, 2, 3, 37-41, 51, 83, 87,

Burckhardt, J„ 9 f., 55-74, 76 ff., 79 ff.,

108 f., 114, 121 f., 135 f., 139, 146, 165 f., 170, 181, 183, 186, 201,

85, 89, 93 ff., 172, 175, 252 Burkert, W„ 49, 124

214, 222, 250 Arrian, 88 Assmann, J., 46, 123, 232 Athene (Minerva), 41, 124

Cancik, H„ 6, 18, 20 f., 49, 63, 82, 108, 120, 127, 130, 167, 249 Cancik-Lindemaier, H„ 18, 20, 49, 120 Cartledge, P., 90

Babich, B. E„ 18

Cartwright, D. E., 92

Baeumler, Α., 160

Cataldi Madonna, L., 19

Bahnsch, F., 105

Christ, K„ 58

Barkuras, G., 22

Christus, 13, 29, 237

284

Indices

Cicero, 184

Finley, M., 78, 211

Clemens Alexandrinus, 222

Flaig, E., 46, 64, 68, 77, 124, 177

Colli, G„ 152

Förster-Nietzsche, E., 55 f.

Conway, D. W„ 24

Foucault, M., 23, 30 f., 70, 196

Crescenzi, L., 8

Frankel, H„ 142 Friedländer, P., 18

Dannhauser, W., 22, 25

Fuhrmann, M., 39, 41

Deichgräber, Κ., 116, 133 f. Deleuze, G„ 13, 31, 72, 130, 240

Gadamer, H. G., 41, 144, 227

Demetrias (von Magnesia), 106

Garlan, Y„ 89

Demokrit, 140

Gasser, P., 235

Demosthenes, 219

Gast, P., 55

Derrida, J., 16, 31, 128, 197, 206, 210, 225, 227, 231

Geliert, C. F., 37 Gerber, G., 157

Detienne, M., 122

Gerdes, H., 16, 214

Diocles v. Magnesia, 106

Gerhardt, V., 5, 29, 61, 87, 193, 236

Diogenes Laertius, 10, 19, 102, 103-116,

Ghedini, F., 22, 221

148 Dionysos (Dionysus), 12 f., 46-51, 67, 92, 95, 242 f., 253 Djuric, Μ., 13, 35, 74, 117, 141, 236, 251

Gigante, M., 18, 19,51, 106, 110 Gigon, O., 189, 247 Glaukos, 77 Goethe, J. W. von, 37, 39 Goldhill, S„ 50

Dodds, Ε. R„ 180

Gomperz, T„ 98, 104

Dougherty, C., 118

Gorgias, 182, 238

Douglas, T„ 243

Gossman, L., 8

Drost, M. P., 45

Griffin, D. E., 25 Groddeck, W„ 36

Easterling, P., 47

Gründer, K.., 18, 19,39, 40

Eberlein, Ε., 180

Gutman, T., 31

Eder, Α., 171 Elias, Ν., 32, 73

Hadot, P., 16

Emge, C. Α., 22, 223

Hamacher, W., 31

Empedokles, 113, 121, 125, 129 f., 134,

Hatab, L. J., 84

140, 159

Havelock, Ε. Α., 123, 248

Ephialtes, 170 f., 173

Havemann, D., 29

Euripides, 25, 37, 45, 179, 192, 195, 226

Hegel, G. W. F., 10, 13, 36, 41, 109, 139, 141, 194, 213

Favorinus, 106

Hegesias, 113

Ficino, M, 222

Heidegger, M„ 65, 98 f., 150, 151, 159,

Fietz, R., 53

225

Figal, G., 190, 208, 239

Heitsch, E„ 154

Fink, E., 11, 35, 53

Hekataios, 126

285

Indices

Henrichs, Α., 45, 48

Krautz, H. W„ 183

Heraklit, 10, 11, 21, 23, 33, 84, 99, 112, 113, 116,

121, 126 f., 130,

132,

134, 139-162

Lachmann, B., 180 Lampert, L., 227 Landfester, M., 7

Hermodor, 84

Lange, F. Α., 140

Herodot, 92, 123

Latacz, J„ 18, 20, 142

Hershbell, J. P., 141

Latzerus, B., 22

Hesiod, 33, 77, 79 f., 92, 121,

Lesky, Α., 41

123 f., 126, 147 ff., 219

Lessing, 39

Hildebrandt, K., 22, 193

Levy-Strauss, C., 43

Hippias, 182, 183

Lloyd-Jones, H., 19

Hippolytos, 49

Löwith, K., 56, 65

Hirsch, E„ 16, 214

Luschnat, O., 2

Hödl, H. G„ 157

Lykurg v. Sparta, 80

Hölscher, U „ 18, 99, 142

Lykurg v. Thrakien, 47

Homer, 7, 46, 58, 78 ff., 84, 87, 92, 98, 123 f., 126, 167, 170, 2 0 2 , 2 1 9

Maikuma, Y., 67

Horaz, 245, 251 f.

Mann, J. E„ 180

Hose, M., 45

Marsch, C., 16 Marsyas, 208

Jaeger, W„ 18

Martin, A. von, 56

Jähnig, D., 65

Martin, J., 171

Janz, C. P., 8

Martin, N „ 119 f.

Janssen, Ε. M., 77

Maurer, R., 221

Jaspers, K., 17, 46, 55

M c G i n n , R„ 193

Joel, K., 189

M c N e i l l , D. N., 209 Meier, C„ 4, 46, 169, 172 ff, 177

Kallikles, 182, 186 f.

Meuli, K., 49

Kallimachos (Callimachus), 251

Meyer, K „ 61, 63

Kant, I., 72, 74, 142, 146, 150, 153

Meysenbug, M. von, 59, 76

Kaufmann, W., 22, 24, 52, 189, 210, 251

Midas, 92

Kerferd, G. B „ 203

Miller, T„ 118

Kierkegaard, S., 16, 213 f.

Mirandola, P. della, 222

Klages, L„ 198

Mojsisch, B., 222

Kleisthenes, 171 f.

Most, G. W„ 18, 49, 157

Kleobis, 92

Müller, E„ 26

Klose, D., 94

Müller, K. O., 20

Klugman, N., 22 Kobusch, T„ 222

Nehamas, Α., 23, 196, 198

Kofman, S„ 24, 139, 145, 159

Nestle, W„ 22, 98, 109, 123

Konfuzius, 46

Neumann, H., 202

Krates, 113

Niehues-Pröbsting, H., 24, 115

286

Indices

Porter, J. I., 26 f., 36, 51, 69, 74, 81,

Nikias, 205

166, 209

Nimis, S. Α., 141 Nohl, H., 235

Praet, D„ 125

Nonet, P., 180

Prodikos, 182, 183 Properz, 251

Odysseus, 128

Protagoras, 180, 182 f., 186

Oehler, R., 2 1 , 2 3 , 140

Pythagoras, 121, 126, 129, 140

Orest, 49 Origenes, 149, 222

Reckermann, Α., 24, 152, 157

Orsucci, Α., 18, 44, 157

Reibnitz, B. von, 18, 20, 37, 40, 49, 87,

Ottmann, Η., 5, 19, 21, 24, 86, 88, 119, 127, 215

91 Reinhardt, K„ 18, 153, 159

Otto, D„ 135

Renzi, L„ 9

Overbeck, F., 16, 67, 235

Riedel, M„ 19, 35, 51, 136, 142

Overbeck, I., 235, 238

Ries, W., 9, 35

Parmenides, 10, 99, 116, 134,

Rohde, E„ 18, 55 ff.

Ritsehl, F., 7, 19, 105 f. 139 ff., 151-161, 182

Rosen, S., 224 f.

Patrizzi, F., 107

Ruehl, M„ 88

Patzer, Α., 189 Paulus, 29

Salaquarda, J., 140

Peisistratos, 171

Salin, E„ 56

Pentheus, 48

Sallust, 245

Perikles, 5, 174, 177, 185, 208

Santas, G. X., 207

Perses, 79

Schänk, G., 119

Pickard-Cambridge, A. W., 47

Schirnhofer, R. von, 233

Pfizer, J„ 70

Schlegel, A. W„ 45

Phaidros, 218, 238

Schlimgen, E., 161

Pherekydes, 125

Schmidt, H. J., 7, 22, 193

Philetas, 251

Schnädelbach, H„ 188

Philoktet, 49

Scholz, P., 186

Pindar, 9 3 , 2 1 5

Schopenhauer, Α., 9, 11, 28. 36,

Piaton (Plato), 2, 14 ff., 21 f., 24, 29, 32, 87 f., 101, 108, 118, 128 f., 135, 137, 140, 142, 146,

163, 165 f.,

57 f., 65, 76, 92 f., 95, 140, 143 f f , 150, 160 Schroedinger, E., 98

168, 181 ff., 188 ff., 192 ff., 197,

Schwarz, E., 104

201 f., 205 ff., 218 f., 220, 221-244,

Seidensticker, B., 45

245-250

Siemens, H., 84

Plotin, 222

Silk, M „ 20

Pöschl, V., 19

Simon, J„ 16, 74, 100, 127, 141, 157,

Popper, K. R„ 98 Porphyrios, 222

206, 236, 250 Simonides, 93

287

Indices

Simonis, L., 71

Typhon, 218 f.

Sloterdijk, P., 211

Ugolini, G„ 19

Snell, B„ 25, 45

Ulmer, K„ 117

Soering, J., 130

Usener, H„ 19, 104

Sokrates (Socrates), 14 ff., 2 1 f f „ 29, 32, 44 f., 100, 108, 128, 136 ff., 159,

Vanden Poel, I., 125

163,

165 f.,

188-220,

179,

181-187,

Venturelli, Α., 19

226 f f ,

230-243,

Vernant, J. P., 86, 122

168,

224,

245-250

Vidal-Naquet, P., 4

Solon, 148 f., 170 f.

Villwock, P., 242

Sommer, A. U„ 29, 67, 200

Vlastos, G., 191

Sonnabend, H„ 104

Vogt, E„ 77

Sophokles (Sophocles), 37 f., 40 Sotion, 104

Wachsmuth, C„ 55

Sowa, H., 82

Wagner, C„ 81, 88

Stack, G. J„ 140

Wagner, R., 11, 28, 37, 81

Stahl, M „ 148

Weber, M., 45

Stegmaier, W., 13, 16, 30, 71, 112, 141,

West, M. L„ 99, 148

206,215,251

White, H., 57, 102

Stein-Hölkeskamp, E., 80

Whitehead, Α. Ν., 221

Steinmetz, P., 94

Wiehl, R., 224, 231, 243

Stern, J„ 20

Wieland, W„ 16, 204, 206, 225, 249

Stesichoros, 128

Wiesenthal, M„ 21, 180

Stingelin, M., 72

Wilamowitz-Moellendorff, U. von, 18

Strong, Τ. Β., 25, 78, 80, 118

Winkler, J. F., 48

Szondi, P., 37, 40

Wohlfart, G., 23, 142, 159 Woodruff, M. K„ 194, 219

Taureck, Β. Η. F., 184 Teichmüller, G„ 235

Xenophanes, 163, 189, 233

Tejera, V., 23, 153,222, 225,

Xenophon, 140, 153, 155 f.,

227, 249 Thaies, 116, 125 f., 140

Yorck von Wartenburg, P., 39 f.

Themistokles, 169 Theognis, 92 Theokrit, 251

Zarathustra, 16, 86, 122, 215, 234 f f , 238-242

Theophrast, 1 1 4 , 2 1 4

Zeitlin, F. I., 48

Thrasymachos, 180, 184

Zeller, 108 ff.

Thukydides (Thucydides), 1-5, 170, 174,

Zenon v. Elea, 140

176 f., 186, 196, 245, 250

Zeus, 79, 124, 147, 149, 219

Tränkle, H., 212

Zittel, C., 217, 242

Trenkle, F., 8

Zuckert, C„ 227

:288

Indices

II. Begriffs- w Abhängigkeitsverhältnis, kultiviertes, 207-209 ästhetisch, Ästhetik, 9, 11, 16, 25, 35-54,

- Lebensbedingungen, 11, 29 f., 74 f., 90, 101, 136, 197, 203 - situationsbedingt, 16, 32, 224

57, 59, 74, 89, 92, 95, 130, 154,

- wechselseitige, 8, 70-73, 94,

157, 193, 201, 217, 223, 227, 234,

Bedingungsgefuge, - geflecht, 5, 86. 117

250, 252

Begegnung, 233

- existentialästh., 9, 37, 54, 74, 89, 192, 216

begrifflich, Begriff, Begrifflichkeit, 3 f., 10, 13, 31 f., 70-74, 90 f, 129, 134-

affektiv, Affektivität, 52, 54, 200, 242

138, 150-158, 213 f., 219, 223,

agonal, Agon, Agonalität, 3, 8, 10, 15,

239 ff.

33, 38, 44-50, 60, 77-84, 86-94,

- flüssiger Begriff, 71-74

131, 133, 140, 143 f., 160 f., 166 f,

- G e g e n b e g r i f f 13, 200, 254

170, 173, 178, 198, 204, 212, 252

- R e f l e x i o n s b e g r i f f , 59, 146 f.

alexandrinisch, 40 ff., 44, 75, 104

Bewusstsein, 72, 75, 161, 202, 232

Anderer, Andersheit, 9 f., 232 f., 239 f.

biologisch, Biologie, 64, 78, 117, 120,

Anders-Werden, 73

195

Anders-Verstehen-Können, 224, 241 Anekdote, 91, 104, 108, 110-116, 148 anthropologisch, Anthropologie, 6, 42,

choreutisch, Chor, 39, 45, 48, 50-54, 67, 242

44, 46, 61, 64, 73, 78 f., 85 f., 94,

Chorismos, 147, 154, 221

109, 172, 177, 198, 240, 253

christlich, Christentum, 7, 29, 190, 222,

Anverwandlung, 48, 57, 88, 118 f.

240

Aphorismus, 11, 112 f., 194, 227-230 apollinisch, das Apollinische, 9, 24, 32, 48, 52 ff., 76, 9 3 , 2 1 0 , 2 1 6 archaisch, Archaik, 9 f., 42, 79, 83, 85,

decadence, 180 f., 196, 199, 201 Demokratie, 4, 6, 15, 84 f., 169-178 Dialog, Dialogform, 1, 5, 15 f., 39, 123,

90, 94, 107, 1 16, 118-128, 130 ff.,

182, 184, 191, 197, 201, 203-207.

143, 167, 170, 176

219, 221-233, 234-244, 245-250

Arzt, 117, 130, 194-198, 202, 210 f.

Diagnose, 24, 26 f., 117, 194-199, 207

Athen, 3 f., 6, 14, 41, 46 f., 85, 87, 167 f., 169-179, 183, 190, 195 f., 2 0 5 - 2 1 1 , 2 1 8 , 238, 248 Autorität, 133 f., 183, 190, 205 Autorschaft, 216

Dialektik, 15, 26, 52, 140, 187 f., 201205, 213, 227 f., 231, 239, 245, 249 dichten, Dichter, Dichtung, 45, 106 f., 123 ff., 130 f., 216, 2 3 1 , 2 3 4 , 247, Dike, 147 ff., 152 f. dionysisch, das Dionysische, 8, 9, 12 f.,

Bedingtheit, Bedingung - E r h a l t u n g s b e d i n g u n g , 141,213 - Existenzbedingung, 154, 217 - kontextbedingt, 237

20, 24, 26. 47 ff., 50-54, 75, 89 f., 93, 95, 135, 243, 252 diskursiv,

Diskursivität,

67, 99,

132, 135, 165, 206, 234

130,

Indices D i s t a n z , 6, 44, 95, 122, 137, 192, 2 2 0 ,

289 Gesetzgeber,

Gesetzgebung,

134,

157,

162, 171, 2 2 7

2 2 5 , 232 f., 2 3 7 - D i s t a n z g e w i n n , 15, 132

G e s u n d h e i t , 90, 95, 117 f., 199

- D i s t a n z i e r u n g s l e i s t u n g , 29, 144, 2 0 5 ,

Gift, 128 f., 197 f., 2 1 0 f. Glück, 60, 62, 134, 187, 201, 2 1 2 , 2 1 7

223

G r a u s a m k e i t , 6, 12, 50, 78, 89, 95 eidetisch, Eidos, 2 0 4 , 2 0 7 , 2 1 0 , 2 1 6 f. E i n s a m k e i t , 148, 215, 233, 2 3 6 ff.,

Hierarchie,

E n t s c h e i d u n g , 15, 29, 94, 154, 159,

4,

124,

128, 134, 186, 200, 223, 240, 2 4 3

173 ff., 183, 2 4 7

humanistisch, Humanismus,

Ernst, 93, 2 0 5 ff. Erzählung,

Hierarchisierung,

Humanität,

5 f., 20, 27, 31, 50, 60, 64, 75, 77,

10, 12, 102, 111-117,

153,

176, 2 4 9 f.

234 E u n o m i a , 147 f., 172

Idee (platonische), 147, 2 0 6 , 2 0 7 , 213, 221 f., 2 3 3 , 2 4 0 , 2 5 0

Freiheit, 1, 58, 88, 156, 168, 178, 214, 229

Ideenlehre, 137, 221 Identifikation, 90, 160, 171, 189, 2 2 4 ,

F u n d i e r u n g s v e r h ä l t n i s , 129, 228, 2 4 4 F u n k t i o n s w a n d e l , 84

2 3 4 , 241 Identität, 30, 49, 69, 73 ff., 118, 144,

G a b e , 2 3 9 f.

154,

160 f.,

167,

174,

130, 207,

215, 2 3 2

G e d ä c h t n i s , 46, 61

individuell,

Individualität,

Individuum,

Geist, 10, 12, 44, 62, 95, 108 f., 223, 2 4 4

10, 15 f., 58, 77-84,

101, 114 f f ,

- freier Geist, 2 1 4 , 216, 222, 2 2 8

128, 131-135, 139, 156, 165,

G e n e a l o g i e , 2 8 - 3 2 , 6 0 - 7 4 , 86, 95, 116,

174 ff., 188-192,

124, 134, 136, 153, 157 f., 160, 166 ff., 178, 200, 204, 215, 2 3 7 , 239, 244, 2 4 6 ff. 107-117,

160, 168 - g r i e c h i s c h e G e „ 29, 59, 84 f., 94, 166, 169

Individuationsprinzip,

principium

- interindividuell, Interindividualität, 6, 16, 173, 186, 203, 223, 231, 2 4 0 2 0 5 , 2 1 1 , 2 1 6 , 2 2 3 f. Instinkt, 163, 173, 180, 187, 195, 199 ff. Interpretation, 4, 32, 160, 191, 210,

- Ideenge., 9, 37, 4 0 f., 50

2 1 4 f., 2 3 0 f.

- K u l t u r g e . , 8, 29, 47, 55, 57 f f , 60-74, 76, 81, 9 3 ff. Philosophiege.,

-

- ü b e r i n d i v i d u e l l , 13, 15, 137, 176, 2 0 1 -

- Geistesge., 15, 30, 97, 136, 165, 189

-

201-219,

individuationis, 13, 49, 57, 74

G e s c h i c h t e , 10, 23, 2 9 f f , 57 ff., 60-74, 79, 86, 89, 9 3 ff., 102,

195 f.,

2 2 3 , 229 ff., 2 3 8 , 2 4 3 f., 2 4 7 f.

- interpretatio graeca, 119, 121 - interpretatio r o m a n a , 251

10, 102 f f ,

107-117,

136, 139, 195

- S e l b s t i n t e r p r e t a t i o n , 129, 169, 176, 2 1 4 f.

G e s c h i c h t l i c h k e i t , 61, 64, 71, 94

- W e l t i n t e r p r e t a t i o n , 40, 160, 194, 2 1 4

G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , 29, 6 1 - 6 5 , 68, 71,

irrational, Irrationalität, 2, 192, 193, 2 4 4

9 3 ff., 107-117, 245

Ironie, 17, 112, 183, 206, 213 f.

290

Indices

Katharsis, 39 f.

- geschichtlich, 61

klassisch, Klassik, 42, 75, 91, 101, 107,

- g r i e c h i s c h , 3, 78 f., 85 - höher, 235, 238, 240

136, 149, 167, 175, 200, 245 Klassizität, Klassizismus, 6, 9, 25, 27, Kolonisation,

griechische,

10,

- k u l t u r e l l , 53, 231 - p o l i t i s c h , 3, 172, 174, 178, 232

50, 60, 75, 120, 158, 166 118 f.,

121

- Wesen d„ 86, 202, 239, 240 f. metaphorisch,

Metapher,

Metaphorik,

Krankheit, 198 f., 210, 215

3 5 , 4 2 , 44, 64, 72 f f , 111, 116, 144,

Krieg, 65, 77 ff., 82 f., 87 f.,142 f f , 149,

147 f., 158,210, 228, 235 f., 242 Metaphysik, 13, 15, 26, 28 ff., 117, 137,

170, 173 ff., 196

151, 161, 212, 216 f., 221

Kulturbegriff, 24, 57, 59, 117 Kulturkritik, 2 7 , 8 1 , 195, 199

- Artistenmetaphysik, 26, 44, 74 f.

Kulturtypologie, 42-46

mimetisch, Mimesis, 45, 52, 225, 229,

Kulturwissenschaft, 8, 28, 42, 100, 204, 211

235 Musik, 12,39, 51 ff.

Kunst, 9, 35, 43 ff., 57 f., 74, 91, 130, 177 f., 217, 226 f.

Mythos, 12, 42 ff., 97, 123-128,

176,

206

Leben, 3, 9, 35, 44, 61, 90 f., 101, 108,

nötigen, Not (Noth), Nötigung, 3, 32, 96,

111, 116 f., 133, 180, 191 f., 201,

122, 137, 217, 230, 240, 242, 244,

205, 214 ff., 237

248, 252

Lebensform, 9, 24, 48, 73, 88, 95, 115, 117 ff., 129, 141, 179, 184 ff., 207 Lebenswelt, griechische, 3, 9 f., 25, 28, 60, 76, 79-93, 95, 118, 134, 166, 180, 183, 204, 239, 292

Objektivität, 62, 94, 102, U l f ,

200,

218 ontologisch, Ontologie, 11, 35, 71, 74, 90, 101, 120, 130, 137, 140, 143 f.,

Leiden, 48 f., 51 f., 57, 74, 90 ff, 194, 210, 240

145 f., 151, 154, 157 f., 181 f., 206, 212, 215, 221, 236, 243

Leidenschaft, 39, 128, 219, 243 Lernen, 120 f., 233 f.

Pathos, 13, 54, 95, 116, 129, 140, 157 f.,

Logik, 11, 72, 109, 151-161

218, 226, 233, 236, 241-244

Logos, 3 f., 10, 15, 87, 98, 123 f., 128, 135, 150, 165, 178 f., 191,

197,

200, 218 f., 234, 238, 241, 243 f., 250 Logos-Philosophie, 4, 14, 29, 149, 167

- Pathos der Distanz, 189, 231 f., 240 - Pathos der Wahrheit, 122, 139, 161, 211 perspektivisch,

Perspektive,

12,

14 f.,

25, 31, 35, 42, 65, 69, 73, 86, 100, 111, 134, 160 f., 196, 215 ff.

Macht, 4, 5, 10, 11 f., 31, 35, 71, 73, 160, 167, 180, 203, 213, 229, 252 Maske, 7, 49, 128 f., 160, 230 f.

Perspektivismus, 180, 244 Pessimismus, 60, 84-93, 95, 147, 167, 216

Mensch, 31, 186, 202, 239, 240 f.

- griechischer P., 60, 84-93, 95

- Begriff d„ 186, 240 f.

- P. Burckhardts, 57, 64 f.

291

Indices

- P . Schopenhauers, 57, 65, 146

-

philhellenisch, Philhellenismus, 5 f., 25,

26 ff., 42, 46, 51, 58 f., 81, 93, 103-

25,

196, 213 f.,

218, -

60, 78, 95, 1 18 Philologie, Klassische, 2, 7, 11, 18-21,

Selbstkonstitution, Selbstüberwindung,

189,

199. 212-

220, 232, 236 - Selbstvergewisserung, 14, 16, 30, 50, 59, 189, 193 f., 243

107, 162, 245 physiologisch, Physiologie, 71, 78, 95,

Semiotik, 76, 237, 243, 249

101,118, 130, 140, 153, 156, 161,

Sinnlichkeit, 118, 152, 228, 232, 243

199 f., 210, 243 f., 246

Sklaverei, 6, 87 ff.

Physis, 53, 101, 130, 143, 145 f., 150 f., Piatonismus, 15, 88, 129, 194, 221-227, 234, 246, 250

245, 250 f. Stil, 2, 117, 230, 245, 251 f.

- umgedrehter PI., 14, 221, 224, 243 Politik, 3, 8, 15, 29, 47, 68, 169-179,

Subjekt, Subjektivität, 31, 65, 150, 157, 202, 205, 212 ff., 237, 241 supplementär, Supplement, 12, 32, 45,

185 f., 232 Polyphonie, 4, 10, 97, 119, 121, 131, 134 f., 136 f., 151, 160, 167, 223 polyzentrisch, 83, 85 psychologisch,

Sokratismus, 15 f., 24, 45, 194, 197 Sophistik, 3, 14 f., 137, 179-187, 203,

154 f f , 160 f.

Psychologie,

128 f., 241, 243, 250 symbolisch, Symbol, das Symbolische, 13, 22, 42 f f , 52 f., 72, 75, 126,

15, 29 f.,

131, 157, 176, 193, 224, 240

73, 89, 95, 140, 181, 189, 231, 244, 246, 252

Theologie, 7, 40, 123 ff., 155 ff., 176 theoretisch, Theorie, 16, 24, 29, 36,

Rangordnung, 88, 232, 240

44 f f , 62, 159

Rasse, 119 f.

Tod, 12, 49, 190, 210 f., 237

Religion, 35, 57 f., 68 f., 74, 122 f., 128,

tragisch, das Tragische, 9, 11, 24, 32,

133, 176 Ressentiment, 147, 183, 196, 231 Rhetorik, 3, 6, 14 f., 137, 145, 157, 178 f., 234, 249

37-46, 50, 54, 100, 144, 176, 192, 223, 226 Tragödie, 9, 20 ff., 26, 35-55, 67, 75, 89, 92, 101, 107,130, 167, 171, 176, 192, 195, 226, 242

Sache, 5, 112, 131, 136 f., 168, 201, 203, 247 Sachlichkeit, 206, 2 2 5 , 2 3 1 Schein, Erscheinung, 30, 42, 74, 93, 96, 216, 230, 243

Transfiguration, 25, 74, 91, 95,

101,

217, 237, 252 Typus, Typologie, Typisierung, 2 f., 29, 42-46, 61 f., 79, 91, 100, 114 f., 131 ff., 176, 1 9 2 , 2 1 0 , 2 3 2 , 238

Schmerz, 12, 90-95, 215, 217 Seele, 87, 163, 187, 199 f., 210, 212, 232 f., 127 Selbst, 199, 2 0 8 , 2 1 2 - 2 1 8 , 232 - Selbstaufhebung, 25, 199, 222 - Selbsterkenntnis, 57, 212-220, 236

Übermensch, 12, 86, 240 f. Umwertung, 7, 31, 51, 60, 71, 151, 166, 179, 199 f., 211, 218, 247 Umwerthung der Werthe, 12, 30, 158, 189, 194, 196, 199, 215, 247, 253

Indices

292

U r s p r u n g , U r s p r u n g s b e g r i f f , 30, 51, 63,

Weisheit, 16, 67, 82, 92, 123 ff., 183,

67, 70 f., 132, 136, 147, 155, 2 3 4

188, 2 0 9 - d i o n y s i s c h e W „ 36, 5 0 - 5 4 . 89, 131

V e r e i n z e l u n g , 189, 191, 2 1 2 , 2 2 4

Wille, 3, 4, 57 f., 133

V e r s t e h e n , 13, 43, 72, 74. 181, 206, 2 1 5 ,

-

2 3 2 f., 2 4 1 , 2 4 4

W. zur M a c h t , 5, 11 f., 35, 73, 160, 180, 229, 252

v o r n e h m , V o r n e h m h e i t , 231 f.

W i s s e n s c h a f t , 3, 6, 11, 19 f., 31, 35, 4 4 f., 58, 68, 74, 90, 9 8 f.,

W a h n s i n n , 12, 128 f., 145, 219, 2 3 6 Wahrheit,

129 f., 133 f f ,

141,

152 ff.,

156 f., 165, 201, 2 0 6 f., 216, 222,

Z e i c h e n , 31, 42 ff., 72, 128, 2 3 7

224, 250

zivilisatorisch,

W a h r h a f t i g k e i t , 2 0 7 , 213. 2 1 7 f.

111,

122-130, 178, 190, 2 0 3

Zivilisation,

89, 119, 219, 251

4, 48,

50.