Kannten die Griechen die Demokratie? Zwei Studien 3515111395, 9783515111393

Ob die Griechen die Demokratie kannten – daran sollte man zweifeln, weil man sonst so leicht nicht der großen, unsichtba

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INHALT
ZUR NEUEN AUSGABE
VORWORT ZUR VORHERIGEN AUFLAGE
KANNTEN DIE GRIECHENDIE DEMOKRATIE?
BÜRGER-IDENTITÄT UND DEMOKRATIE
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Kannten die Griechen die Demokratie? Zwei Studien
 3515111395, 9783515111393

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CHRISTIAN MEIER PAUL VEYNE

KANNTEN DIE

GRIECHEN DIE

DEMOKRATIE? Franz Steiner Verlag

ZWEI STUDIEN

Christian Meier / Paul Veyne KANNTEN DIE GRIECHEN DIE DEMOKRATIE?

Christian Meier / Paul Veyne

KANNTEN DIE GRIECHEN DIE DEMOKRATIE? Zwei Studien

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. 3., überarbeitete Auflage © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Die ersten beiden Auflagen erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1988/1990. Die französische Originalfassung des Textes von Paul Veyne erschien unter dem Titel »Les Grecs ont-ils connu la démocratie?« in Diogène 123, Juli/September 1983 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11139-3 (Print) ISBN 978-3-515-11137-9 (E-Book)

INHALT

Zur neuen Ausgabe Von Christian Meier 7 Vorwort zur vorherigen Ausgabe von Christian Meier 13 Paul Veyne Kannten die Griechen die Demokratie? 19 Christian Meier Bürger-Identität und Demokratie 61

ZUR NEUEN AUSGABE

D

aß dieses Buch, das 1988/89 in der Kleinen kulturwissenschaftliche Bibliothek des Verlags Klaus Wagenbach in zwei Auflagen herausgekommen ist, hier von neuem erscheinen kann, haben wir dem Steiner Verlag und insbesondere Katharina Stüdemann zu danken, die den Anstoß dazu gegeben hat. Der Text ist unverändert bis auf kleine Korrekturen, zumal von Druckfehlern, und wenige neue Literaturangaben. Das französisch-deutsche Gespräch, das in ihm seinen Niederschlag gefunden hat, ließ sich nicht wieder aufnehmen. Der eine der Autoren hat sich verschiedenen anderen Feldern zugewandt, der andere hat sich zwar weiter mit der Thematik der Griechen, ihrer so sehr eigentümlichen Ausprägung, speziell auch ihrer Demokratie herumgeschlagen – in immer weiteren Zusammenhängen, in die sich der hier vorliegende Aufsatz einfügt und in denen er weiterhin seine Funktion hat. Doch hätte es wenig Sinn gehabt, ihn noch einmal durchzuarbeiten. Siehe vor allem: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Berlin 1993 u. ö., zuletzt München 2012; Griechische Arbeitsauffassungen in archaischer und klassischer Zeit. Praxis. Ideologie. Philosophie. Weiterer Zusammenhang. In: M. Bierwisch (Hsg.), Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen. Berlin 2003. 19–76 sowie: Kultur um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas? München 2009, zuletzt 2012. Indem das letztgenannte Buch über die Anfänge der griechischen Geschichte (bis zum Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr.) 7

christian meier

Freiheit als das zentrale Movens dieser ganzen Kultur im Titel hat und begreift, nimmt es scheinbar eine Gegenposition zu dem ein, was in Paul Veynes Aufsatz über den griechischen militantisme ausgeführt ist. Aber die Sache ist komplizierter. Vielleicht ist es angebracht, der neuen Ausgabe eine kurze begriffsgeschichtliche Betrachtung voranzustellen. Als die Griechen gegen Ende des 7. Jahrhunderts vielerorts darangingen, nach einer großen Krise Ordnungen neu zu begründen, lautete die Devise: Eunomie, grob gesagt: Rechte Ordnung. Man nahm an, es gäbe das, man müsse nur herausfinden, worin es bestehe und wie man es (wieder)herstelle. Als nächstes Ziel auf diesem Feld begegnet Gleichheit. Eunomie wird insoweit modifiziert zur Isonomie, grob gesagt: Gleichheitsordnung. Dahinter steht der Anspruch breiterer Schichten (etwa mittleren Vermögens) auf stärkere, idealerweise also gleiche Teilhabe am Gemeinwesen. Man hatte die Adligen sich gegenüber. Darauf wurden die eigenen Ziele bemessen. So, wie die Poleis von Anfang an aufgebaut waren, wurden sie unmittelbar von den Grundeigentümern ausgemacht. Jeder hatte seinen Teil daran; wie an der Gemeindeweide, am Fleisch der Opfertiere, an Einnahmeüberschüssen der Polis so an Mitsprache, an der Pflicht, das Gemeinwesen zu verteidigen und – was zumal die Adligen betraf – an den Ehren, als welche speziell die öffentlichen Ämter aufgefaßt wurden. Doch hatte sich für viele vieles davon mit der Zeit verloren. Dagegen wurde die Isonomie gestellt. Zu ihr gehörte es dann auch, daß die Angehörigen der mittleren Schichten sich verschiedentlich besondere Räte schufen, mit deren Hilfe sie sich in der Regel der Politik Geltung verschaffen konnten. Sie wollten auch in der Volksversammlung stärkeres Gewicht haben. Der Begriff der Freiheit dagegen ließ auf sich warten. Es bestand so bald kein Anlaß, ihn zu prägen – als Parole etwa, als Zielsetzung. Wenn zum Beispiel Tyrannen, die im 7. und 6. Jahrhundert an verschiedenen Orten die Herrschaft usurpiert hatten, zu stürzen waren, mußte man sich verschwören, aber nicht 8

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zum Aufstand rufen. Soweit wir sehen können, kommt der Begriff Freiheit erst im Gefolge der Perserkriege auf, angesichts der Gefahr, daß die Griechen insgesamt von der Großmacht unterworfen würden. Da wurden sie sich, in der Absetzung von den Persern, ihrer Freiheit bewußt, die es zu verteidigen galt. Erst danach scheint sich der Begriff mit der Demokratie verbunden zu haben, einige Zeit nachdem sie (um 460 v. Chr.) in Athen aufgekommen war. Die Bürger wollten frei sein, leben, wie sie wollten – wie es in Abgrenzung zu vielerlei sittlichen Regulierungen in Oligarchien, nicht zuletzt in Sparta hieß. Man wollte nicht regiert werden, von keinem, wenn dies aber unmöglich war, nur im Wechsel; indem also bald diese, bald jene am Ruder waren. Das war eine andere Freiheit, weniger umfassend als die, die wir heute als Individuen in der Öffentlichkeit sowie in unsern vielen Nischen genießen. Sie schlug sich vor allem nicht in Freiheitsrechten nieder. Denn die Griechen kannten nicht jenes Dritte (neben Adel und Volk), dem sie die hätten abringen müssen, wohlbegründete Herrschaften etwa oder einen durch und durch disziplinierten charismatischen Adel wie in Rom oder überhaupt den Staat. Trotzdem war es eine Freiheit, wie sich dem vergleichenden Blick deutlich zeigt. Kein Recht, aber ein Anspruch aufgrund einer Grundgegebenheit, die in die Welt der Hunderte kleiner Poleis von den Anfängen her eingegangen war. Denn zu diesen Poleis hatten sich eben innerhalb ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Grundeigentümer zusammengeschlossen, um miteinander zu regeln und zu begehen, was nötig war. In aller Eigenständigkeit – und damit Unabhängigkeit und damit Freiheit –, in der sie leben wollten, ohne Herrschaft, ohne viel Delegation von Macht; in voller Körpergröße sozusagen und nicht nur in bestimmten Funktionen sich begegnend, vielmehr das Ganze miteinander ausmachend, das weitgehend aufgehoben bleiben sollte unter den Teilnehmern. Daraus ergab sich, daß diesen Bürgerschaften vieles aufgege9

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ben war, was sonst gern von höheren Instanzen erledigt wird – um den Preis vielfacher Abhängigkeit von ihnen, die im günstigen Falle durch Freiheitsrechte abgemildert wird (zumal seitdem man weiß, daß und wie diese Rechte das Regieren auch erleichtern können). Man mußte vielmehr miteinander, unter breiter Beteiligung, für vieles aufkommen, für Rechtssicherheit, für den Zusammenhalt des Ganzen, dafür, daß man sich vertrug. Kurz gesagt: für die Balance des auf die Vielzahl der Bürger gestellten Gemeinwesens, die Balance auch innerhalb der Einzelnen. Dazu bedurfte es ganz neuer Mittel, die dann auch entwickelt wurden. In Gesetzen, überhaupt dem Vermögen, vieles gesetzlich zu regeln, im Politischen Denken, in der Fähigkeit auch breiter Schichten daran teilzuhaben, in Philosophie und Wissenschaft, ja in Lyrik (und der Geselligkeit etwa des Symposions), in Bildhauer- und Baukunst, nicht zuletzt in den vielen Wettkämpfen. Das ließ eine welthistorisch neue, schließlich unerhört folgenreiche Kultur entstehen. Man mußte sich in diesem Gemeinwesen nicht nur letztlich immer wieder zusammenfinden (was schwer genug war), sondern man mußte sich – eben dazu – stets neu auch engagieren und gegenseitig in Anspruch nehmen. Da die Griechen – so Jacob Burckhardt – nie bürgerliche Gleichheit mit politischer Ungleichheit zu verbinden gewußt haben, mußte »der Arme … zu seinem Schutz gegen Unbill Mitstimmer, Richter und Magistrat sein können«. Betrachtet man es von unserer individuellen Freiheit her, so können dabei sehr wohl die großen Kosten ins Auge stechen, die damit verbunden waren. Burckhardt spricht vom »Druck auf Leib und Seele des Individuums«. Für das Athen des 5. Jahrhunderts erklärt er: »Die Zeit des Perikles in Athen war vollends ein Zustand, dessen Mitleben sich jeder ruhige und besonnene Bürger unserer Tage verbitten würde, in welchem er sich todesunglücklich fühlen müßte, selbst wenn er nicht zu der Mehrzahl, den Sklaven, sondern zu den Freien gehörte«. Da ist der von Paul Veyne beobachtete militantisme voll am Werk gewesen. 10

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Nach Aristoteles darf man aber »der Verfassung gemäß zu leben« nicht für Knechtschaft ansehen, sondern für Selbsterhaltung. Das ist, kritisch bemerkt, gegen extreme Demokratien gerichtet, welche sich ungezügelt der Freiheit hingegeben haben sollten (obwohl die extremste, die wir kennen, die athenische, im ganzen durchaus der Verfassung gemäß lebte; schreckliche Fehlentscheidungen sind dadurch ja nicht schon ausgeschlossen). Aus dem Abstand von mehr als einem Vierteljahrhundert sieht sich manches anders an. Wer hätte in den 1980er Jahren schon Vermutungen über ein »postdemokratisches Zeitalter« gehegt? Manch einer könnte auf den Titel: »Kannten die Griechen die Demokratie?« antworten: Kennen wir sie etwa? noch? Stellt man sich einen Marsmenschen vor, der seinen Landsleuten beschreiben will, in was für politischen Ordnungen wir leben, der aber das aus dem Griechischen stammende Wort nicht kennt, kann man dann annehmen, er sähe sich veranlaßt, es (oder ein ähnliches) zu bilden, so daß seine Schilderung auf irgendwelche Sätze über das Volk, das herrscht, hinausliefe? Noch aber taugt die Überschrift »Demokratie« dazu, jenes Ensemble zu bezeichnen, das uns wichtig ist; Rechtsstaat (auch Sozialstaat), Grundrechte, Verfassung samt bestimmten ihrer Voraussetzungen im allgemeinen Diskurs; das so leicht in andere Weltgegenden nicht zu übertragen ist und das die Griechen nicht kannten, für das eher die Römer, das römiche Recht und die juristische Wissenschaft die Voraussetzungen lieferten. Gleichwohl scheint einiges dabei zu sein, sich zu verschieben – und dann wären die Griechen es heute um so mehr, die nun wirklich die Demokratie kannten; freilich auf ihre Weise. Ch. M.

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VORWORT ZUR VORHERIGEN AUFLAGE

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b die Griechen die Demokratie kannten – daran sollte man zweifeln, weil man sonst so leicht nicht der großen, unsichtbaren Unterschiede gewahr wird, die sie von uns trennen. Sie sind uns ungemein fremd; um so mehr, je weniger wir es bemerken. Was uns an ihnen vertraut zu sein scheint und was ja auch wirklich nicht wie die Hinterlassenschaft eines exotischen Volkes sich ausnimmt, ist nur gleichsam der sichtbare Teil eines Eisbergs. Darin sind sich die Verfasser der beiden Aufsätze, die hier vorgelegt werden, einig. Sie stimmen zugleich insofern überein, als sie überzeugt sind, daß man die Eigenart der Antike nur im expliziten Vergleich respektive in der Absetzung zumal (obwohl nicht nur) gegen die Neuzeit erkennen kann. Schließlich treffen sie sich darin, daß für sie die spezifisch griechische Weise, Bürger zu sein, im Zentrum dieser Eigenart steht. Denn was der eine ihre »Bürger-Identität« nennt, ist im Grunde das gleiche wie das, was der andere als ihre »Militanz« beschreibt. Unterschiedlich sind dagegen die Ziele der beiden: Dem einen geht es um die Entstehung der »Bürger-Identität«, er fragt sich, wie jene seltsame politische Form möglich war, die die Griechen endlich, als sie sie ziemlich weit ausgebaut hatten, Demokratie nannten. Genauer: Wie kam es dazu, daß außerordentlich große Teile griechischer Bürgerschaften sich bereitfanden zu jenem weitgehenden, regelmäßigen politischen Engagement, ohne das die Institutionen schon der Vorformen der Demokra13

christian meier

tie nicht hätten arbeiten können? Es geht ihm dabei mehr als um die Vorgeschichte um Wirkungsweise und Reproduktion dieser Identität. Der andere geht dagegen von der »Militanz« aus, die er als das Werk eines Subjekts namens Polis auffaßt. Diese macht die Bürger zu Werkzeugen, zu Sklaven der Politik. Keine Menschen-, keine Bürgerrechte, keine Freiheiten, kein abgesicherter Privatbereich. Man glaubte, die Polis sei davon abhängig, daß die Bürger eine ganze Reihe ethischer Qualitäten ausbildeten, und sorgte sich, wenn das nicht geschah. So wurde auch der private Bereich politisch wichtig. Man hatte keine Angst vor Systembedrohern, sondern vor sich selbst, vor dem eigenen Versagen, einer vor dem anderen. Daher die ungemeine Bedeutung der Ethik für die Politik, die Ablehnung alles Verweichlichenden. Die Unfähigkeit, auch die Vorteile des Egoismus für das Gemeinwesen wahrzunehmen. Platons Philosophie hat diese, vom Ansatz her zum Teil verschiedenen Auffassungen seiner Gesellschaft in ein System gebracht. Wie vieles daran uns unverständlich ist, ergibt sich, wenn so systematisch wie hier von der Eigenart der Neuzeit her an die Griechen Fragen gestellt werden. Der eine faßt das Thema enger, der andere sehr viel weiter. Der eine ist mehr darauf aus, Unvertrautes, zum Teil auch in den Quellen nicht zutage Liegendes zu verstehen, der andere darauf, Vertrautes unvertraut zu machen; an verschiedenen Stellen gibt er das Verstehen auf, um besonders schroff und desillusionierend seine, unsere Distanz zu den Griechen zu markieren. Mag sein, daß sich da unterschiedliche Wissenschaftstraditionen auswirken, mag sein eher verschiedene Temperamente. Jedenfalls berühren sie sich vielfach und sind sie streckenweise im Gespräch miteinander, einem Gespräch, das fortzusetzen wäre. Es ist das Gespräch über die Anthropologie der Griechen. Es müßte viel stärker noch die Eigenart der Neuzeit einbeziehen, etwa Albert Hirschmans Versuch, die ihr eigene Scheidung von Staat und Gesellschaft in der Freisetzung menschlicher Individualität, in der positiven Wertung sogar der Habsucht, in 14

vorwort zur vorherigen auflage

der Öffnung eines weiten Raumes des Privaten zu verfolgen (Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt 1980). Es müßte, gerade nach den Beobachtungen Paul Veynes, neu gefragt werden, warum so vieles an den fremden Griechen uns so vertraut erscheint. Kommt es vielleicht daher, daß sie – anders als die Angehörigen aller vor- und außerantiken Hochkulturen – als Gesamtheit ungeheuren Handlungs- und Gedankenspielräumen und den Ansprüchen und Ängsten der Verantwortung für das Gemeinwesen ausgesetzt waren? So daß sie dem nur auf eine Weise rational und in vielem abstrahierend begegnen konnten, die im ganzen auch die unsere ist? So daß sie sich ihrer selbst ganz anders vergewissern mußten. Polyklets Speerträger war die Bürger-Antwort auf die Frage, wer der Mensch ist, wie die Tragödie die Bürger-Antwort auf die nach seinem Geschick war. Wie sehr gerade in der Tragödie uns fremde, in vielem archaisch anmutende Züge zutage treten, wird gerade in Frankreich heute vielfach herausgearbeitet. Paul Veyne findet die Fremdheit eher im scheinbar Vertrauten, etwa in der platonischen Philosophie. Von seinem großen, klassischen Buch »Le Pain et le Cirque. Sociologie Historique d’un Pluralisme Politique«. Paris 1976, sind entscheidende, in Deutschland noch kaum aufgenommene Impulse zu neuer Erkenntnis der Antike ausgegangen. Das Gespräch über die Grenzen hinweg ist also geradezu dringend. Das Rätsel der Griechen wird größer, je mehr wir uns selbst eins werden. Paul Veyne zeigt, daß speziell die von den Griechen übernommenen Begriffe unserer Sprache uns den Zugang zu ihnen schwer machen können. Wenn man das freilich berücksichtigt, wird man am Ende vielleicht dazu kommen, daß sie sie doch gekannt haben, die Griechen die Demokratie. Ch. M.

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Paul Veyne

KANNTEN DIE GRIECHEN DIE DEMOKRATIE?

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ie Griechen haben die Wörter Polis, Demokratie, Volk

(Plebs), Oligarchie, Freiheit und Bürger erfunden. Das verleitet dazu anzunehmen, sie hätten die ewige Wahrheit der Politik, einschließlich der unsrigen erfunden. Lediglich die Sklaverei würde eine Ausnahme bilden und den großen Unterschied zwischen ihrer Demokratie und der Demokratie schlechthin ausmachen. So gäbe es eine ewige Politik, über die man philosophieren könnte, anstatt sich darauf zu beschränken, die Geschichte zu schreiben. Durch die Jahrhunderte hindurch ließe sich das gleiche Wesen des Politischen feststellen, denn trotz ihrer Verschiedenartigkeit wären die politischen Systeme durch eine funktionale Analogie untereinander verbunden, die sich auf vielerlei Weisen ausdrücken ließe: Gerechtigkeit schaffen, das friedliche Zusammenleben der Menschen fördern, die Gruppe verteidigen, die Herrschaft der Klasse ausüben, die über die Produktivkräfte verfügt … Nehmen wir einmal an, all dies wäre nur Schein und die Wörter wären trügerisch, nehmen wir an, es wäre das, was man über Epochen hinweg Politik nannte, immer schon an Voraussetzungen geknüpft gewesen, die dem Bewußtsein der Handelnden und ebenfalls der Nachwelt entgangen wären – einer Nachwelt, die zu sehr darauf bedacht war, sich in ihren Ahnen wiederzuerkennen, auch wenn sie dazu deren Gesichtszüge glätten mußte. In diesem Fall wären dieselben Wörter nur vage Analogien und würden uns riesige, unsichtbare Unterschiede verbergen: so daß wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sähen. Wir wollen hier versuchen, einige Stücke vom verborgenen Teil des Eisbergs ins Licht zu rücken. Nennen wir das größte wenngleich nicht das einzige dieser Stücke die Militanz1 des an1 Im Original le militantisme. Mit dieser Militanz ist das politische Enga19

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tiken Staatsbürgers: sie entspricht annähernd dem, was Claude Nicolet in seinem hervorragenden Buch den Beruf des Bürgers genannt hat.2 Denn der antike Bürger besitzt weder Menschennoch Bürgerrechte, keine Freiheiten und nicht einmal Freiheit schlechthin; er hat lediglich Pflichten. Könnten wir uns in das alte Athen begeben, so würden wir dort keineswegs das demokratische Beinahe-Ideal der westlichen Welt, sondern vielmehr das geistige Klima aktivistischer politischer Parteien antreffen. Um die eigentümliche Auffassung der Beziehungen von Staat und Gesellschaft, die dieser staatsbürgerlichen Militanz zugrunde lag, zu erfassen, müssen wir zuerst einen raschen Umweg über uns näherliegende Jahrhunderte machen. Ein wenig politische Ethnologie wird uns den Unterschied deutlicher machen. Schon immer war die Politik um das menschliche Wohl bemüht, aber welcher Mensch war dabei gemeint? Bei uns ist Mensch, wer die Bevölkerung mitbildet, in dem Sinne wie die Statistiker von Mikrobenpopulation oder Baumbeständen sprechen. Innerhalb der nationalen Grenzen lebt also eine menschliche Bevölkerung, die arbeitet, sich fortpflanzt und in Ferien fährt. Lange Zeit bestand die Staatsdoktrin darin, sich nicht einzumischen, im Laisser faire, denn der Liberalismus sollte aus sich heraus der Bevölkerung die besten Lebensbedingungen ergement gemeint, das in der Antike ethischen Charakter hat und als ethische Norm vorausgesetzt wird. Wenn der Autor vom présupposé militant spricht, meint er damit den imperativen Charakter, den dieser politische Eifer als Orientierungsparadigma des griechischen Staatsbürgers besitzt. Die Forderung nach der aktiven politischen Beteiligung des Bürgers entspricht der Erwartung, daß er sich für das Staatswohl einsetzen, und die Polis gegen andere Poleis verteidigen soll, wobei Bestrebungen für das individuelle Interesse in den Hintergrund treten müssen, so daß es keine Trennung zwischen öffentlich und privat gibt. Genausowenig gibt es eine Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, insofern der Bürger sich ganz in den Dienst des Staats stellen soll, worin eben seine politische Identität besteht; vgl. Anm. 5. (Anm. d. Übers.) 2 C. Nicolet, Le métier de citoyen dans la Rome républicaine, Paris 1976 20

kannten die griechen die demokratie ?

möglichen. Heutzutage herrscht die Ansicht vor, daß das Welfare der Bevölkerung besser gewährleistet ist, wenn der Staat eingreift: die staatliche Intervention soll die demographischen, ökonomischen, sozialen und touristischen Ströme kanalisieren. Anders gesagt, was wir heutzutage Politik nennen, ist mit der Aufgabe eines Försters vergleichbar. Zwar läßt der Förster die Natur nicht einfach wild drauflos wuchern, aber er ist auch nicht ihr Eigentümer. Er beutet sie nicht zu seinem eigenen Nutzen aus, wie es ein Landwirt tun würde; ganz im Gegenteil, er strebt das Wohl der Natur als solcher an, und daher achtet er die natürlichen Tendenzen und beschränkt sich darauf, sie zu lenken. Man könnte die Politik auch mit der Tätigkeit des Polizisten vergleichen, der den Straßenverkehr regeln soll. Zwar läßt der Polizist die Autos nicht einfach drauflos fahren, aber er entscheidet auch nicht über das Reiseziel der Autofahrer, sowenig wie er darüber bestimmt, wer die Wagen besitzt. Er organisiert lediglich den natürlichen Verkehr der Autos und Fußgänger, er lenkt den Verkehrsfluß. Noch vor zwei Jahrhunderten sah das anders aus. Damals bestand die Politik darin, das Glück der Untertanen zu befördern, und worin bestand dieses Glück? Darin, einen König zu haben: das wäre, so dachte man, alles, was sie brauchten. Dieser König war eine Art Gentleman-Farmer, ein ritterlicher Edelmann und hegte die Natur nicht wie unser Förster, sondern beutete sie zu seinen Gunsten aus. Seine Untertanen bildeten keine Bevölkerung, sondern eine Herde, deren Schäfer er war. Die ganze Kunst bestand darin, das Vieh zu scheren, ohne ihm das Fell über die Ohren zu ziehen. Tatsächlich herrschte der König über eine Domäne, auf der eine menschliche Fauna lebte, die ihr Leben fristete, wie sie konnte, und sich ausließ, wie sie wollte. Das kümmerte den König nicht, der sich darauf beschränkte, seinen Anteil vom natürlichen Gewinn einzutreiben. Dank dieser Steuer übte er seinen königlichen Beruf aus, der sich völlig in die Beziehungen einordnete, die er mit anderen Königen, seinen Vettern und Rivalen unterhielt. Wie man sieht, 21

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ging der König seinen Tätigkeiten nach und die Untertanen den ihrigen. Die Angelegenheiten des Königs, die die Untertanen nichts angingen, wurden Staatsraison genannt. Der König mischte sich so wenig wie möglich in die Angelegenheiten seiner Untertanen ein, die es sicher lieber sahen, wenn dieser majestätische Schröpfer ihnen nicht zu nahe kam. Je weniger er sich um sie kümmerte, desto mehr liebten sie ihn. Allenfalls ging der König auf Betreiben irgendeines Colbert von der Erntewirtschaft zur Anbauwirtschaft über und richtete sich zu diesem Behuf irgendeinen Winkel seiner Domäne her. Bemerkte er Verkehr auf einer Straße oder einem Fluß, der sich durch sein Gebiet schlängelte, so kümmerte er sich lediglich insoweit um diesen natürlichen Strom, als er ihm eine Steuer auferlegte; diese Steuer wurde tonlieu3 genannt. Kehren wir nun zu den griechischen und römischen Stadtstaaten zurück. Die Gruppensoziologie eines jeden dieser winzigen Staaten gleicht weniger der einer modernen Nation, sei sie nun demokratisch oder nicht, als der einer militanten politischen Partei. Ein antiker Stadtstaat ist nicht zusammengesetzt aus einer Bevölkerung und ihren Herrschern, einer bürgerlichen Gesellschaft, die als vom Staat Unterschiedene regiert worden wäre. Er wird vielmehr von der Bevölkerung selbst ausgemacht, mitsamt seinem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben; jedoch nur insoweit, als von der freien Bevölkerung insgesamt oder teilweise verlangt wird, sich militant in einer Institution einzusetzen, die in ihrer Mitte besteht und die Polis heißt. Die Beherrschten und die Staatsgewalt lassen sich schwer voneinander unterscheiden, da alle an dem Geschäft beteiligt sind. Diese staatsbürgerliche Institution beutet die Bevölkerung nicht aus, wie es der König später tun wird. Sie bringt sie dazu, sich militant einzusetzen. Die Staatsbeamten sind normale Militante, wie alle anderen, die von ihren Kameraden als Verantwortliche gewählt oder gebilligt werden. Wie Christian Meier in seinen ausgezeich3 Tonlieu heißt wörtlich: dein Ort. (Anm. d. Übers.) 22

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neten Untersuchungen schreibt, blieb »die Gesellschaft mit all ihren Ungleichheiten im wesentlichen, wie sie war … [aber] es trat ein Bruch zwischen gesellschaftlicher und politischer Ordnung ein4.« Dieser Bruch war von einer großen Politisierung begleitet: »Einzig bei uns«, sagt ein Athener, »heißt einer, der (an den politischen Dingen) keinen Anteil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter5.« Worin bestand nun das Verhältnis zwischen Polis und Gesellschaft? Es spaltete jeden Bürger in zwei Teile und kam ungefähr dem Verhältnis gleich, das in einer modernen Partei zwischen dem Militanten als solchem und dem Militanten als Privatperson inmitten von ökonomischen Kräften und sozialen Verhältnissen besteht. So verdiente jeder Bürger seinen Lebensunterhalt je nach seinen Möglichkeiten, war reich oder arm, und der Besitz war sakrosankt. Dennoch mußte der Bürger seine Leistungen und Vermögen mit größerem spontanem Eifer als der einfache Steuerpflichtige in den Dienst seiner Mitbürger stellen. So wurden die Festspiele und gewisse Rüstungsausgaben gewöhnlich von den reichsten Bürgern finanziert, die sich moralisch dazu verpflichtet fühlten oder es wurden, denn dieses staatsbürgerliche Mäzenatentum beruhte auf zwei ganz verschiedenen Motivationen: in jener Welt, in der Polis und Gesellschaft ein uneindeutiges oder antagonistisches Paar bildeten, hatten Liturgien und Euergetismus (Wohltätigkeit) einen sozialen Hintergrund. Der Reiche bekundete und legitimierte seinen Reichtum durch Gaben, und diese ostentativen Geschenke waren nicht weniger spontan als eigennützig. Die zweite Motivation hingegen war eine staatsbürgerliche und somit zwingender: zwar war die Wohltätigkeit keine formale Pflicht wie die Steuer, aber sie be4 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980, S. 255. 5 Zit. nach Ch. Meier, ebenda, S. 248 f. Thukydides’ Gefallenenrede, 11, 40, 2. Was Meier »politische Identität« einer Gesellschaft nennt, meint dasselbe, was wir hier Voraussetzungen oder ›Diskurs‹ (im Sinne Foucaults) nennen. Vgl. Ch. Meier, ebenda, zur Politisierung, S. 289–29i. 23

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inhaltete dennoch eine moralische Verpflichtung. Nun hat die Moral für einen Militanten zutiefst bindenden Charakter. Er muß alles tun, was in seiner Macht steht und nicht seinen Beitrag knauserig abwägen, denn er kann den Seinen seine Ergebenheit nicht verweigern. Insgesamt gesehen hat das politische Denken in Griechenland und auch in Rom immer zwischen zwei Schemata geschwankt. Das eine entsprach zumeist der Wirklichkeit, insofern es davon ausging, daß die einen regieren und die andern sich aufs Gehorchen beschränken. Gewiß gehören die Herrschenden keiner anderen Rasse an als die Beherrschten und sind nicht ihre Herren, da sie aus den Reihen der Beherrschten hervorgehen und wieder in sie zurückkehren, aber letztlich bedeutet das Regieren eine Spezialisierung. Hingegen ist nach dem zweiten Schema der Unterschied zwischen Herrschenden und Beherrschten weniger gewichtig als das umfassende Ganze, das sie alle untereinander vereint, nämlich der Staatskörper, der von den Aktivisten gebildet wird. Der Herrschende ist weiter nichts als ein Staatsbürger, der noch tätiger als die andern ist und dem von ihm Ebenbürtigen Verantwortung übertragen worden ist. So sah das Schema aus, nach dem man gern die Wirklichkeit interpretierte bzw. das man gern der Wirklichkeit aufzwang. Auf den letzten sechs Seiten der Rede über den Kranz des Demosthenes wird die schwankende Haltung zwischen den beiden Schemata deutlich. Hier räumt Demosthenes der Menge von Athenern, die an diesem Tage seine Richter sind, folgendes ein: »Es gibt allerdings, es gibt eine rechtliche, eine für den Staat zuträgliche Ruhe, wie sie viele von Euch, Ihr Bürger, ganz unbefangen beobachten6.« Nach diesem Zugeständnis beschreibt der Redner den guten Bürger dennoch als einen Aktivisten, der viele Aufgaben auf sich nimmt und sich nicht darauf beschränkt, die Pflichten zu erfüllen, die die Staatsgewalt vorschreibt. Er berät das Volk in 6 Demosthenes, Rede über den Kranz, 559–566. 24

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der Versammlung, macht sich zum Vermittler und gibt sein Vermögen für Schutzmauern und Kriegsschiffe aus. Von unserm Standpunkt aus gesehen, ist dieser gute Bürger geradezu zum Politiker geboren. Man bemerkt den Unterschied zu anderen Epochen. Ein König des Ancien Regime erwartet von seinen Untertanen nichts weiter als Treue oder Gleichgültigkeit, und daß sie ihre Steuern zahlen. Von einer modernen Bevölkerung wird lediglich gefordert, daß sie die gemeinsamen Lebensmöglichkeiten in einem bestimmten System nicht zunichtemacht. Diese Bevölkerung, die man nun einmal auf dem Hals hat und um die man sich kümmern muß, soll dazu gebracht werden, ein Minimum von staatsbürgerlicher Gesinnung, öffentlicher Ordnung und militärischem Gehorsam aufzubringen. Ein antiker Stadtstaat hingegen beruht in gewissem Sinne auf der Annahme, daß seine Bürger ihn sich ausgesucht haben (so versteht Sokrates die Gesetze Athens im Kriton), und es wird ein berufssoldatischer Eifer von ihnen erwartet. Es gibt also keine Begrenzung dessen, was eine Polis legitimerweise von ihren Mitgliedern erwarten darf. Wenn Xenophon schreibt, daß ein guter Staatsbürger das Gesetz achte7, versteht er darunter nicht etwa, daß es für die Erfüllung der Pflicht genüge, den Kodex nicht zu verletzen. Was man Gesetz nannte, war weit umfassender als unser heutiger Wortgebrauch8 nahelegt: Das Gesetz bestand aus den Gesetzen, aus ungeschriebenen Bräuchen, politischen Entscheidungen, Befehlen der Verantwortlichen und in einem umfassenderen Sinne aus dem kollektiven Willen, der eine Legitimität darstellte, die über den transitorischen Legalitäten stand9. Das Gesetz war der Genius Athens. Im Kriton macht Sokrates den Patriotismus an den Gesetzen und nicht etwa am Erdboden, den Vorfahren oder der 7 Xenophon, Memorabilien, I, 2,41. 8 Zum Gesetz vgl. Victor Ehrenberg, Der Staat der Griechen, Leipzig 1957, Bd. 1, S. 77. 9 Xenophon, Memorabilien, IV, 4,2. 25

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Nation fest. Dem Gesetz gehorchen bedeutete, sich mit Eifer dem Gruppeninteresse hingeben. Gehorchen und nicht fordern: Ein Militant dient seiner Partei nicht etwa, um sein eigenes Los zu bessern, sondern seine politische Tätigkeit tritt zu seinem sozialen Leben hinzu und bleibt davon unterschieden. Wie leicht zu erraten ist, war der Erfolg des Militanzgebots um so eindeutiger und dauerhafter, als es die Interessen der Besitzenden nicht antastete. So bestimmte der militante Eifer neben der Gesellschaft eine politische Arena im engeren Sinne des Wortes10. Daraus folgten eine kollektive Leidenschaft und eine Politisierung des Denkens, die dem alten Athen fälschlicherweise heute noch einen modernen Schein verleihen. Nach H. Rehm zu urteilen, besagt die Tatsache, daß der Bürger Militant war, zugleich, daß er nicht das Objekt der Regierung, sondern ihr Werkzeug11 war, denn man beherrschte ihn nicht, sondern bediente sich seiner, um zu regieren. Dieser Staat war ein sonderbares Schiff ohne Passagiere: außer dem Kapitän (besser gesagt dem sogenannten Steuermann12) waren nur Leute der Mannschaft an Bord. Wenn Platon oder Aristoteles vom Staatsschiff13 sprechen, erwähnen sie lediglich Matrosen14. Von allen Schiffsangehörigen wurde erwartet, daß sie sich aktiv am Unternehmen beteiligten. Erst kürzlich hat ein im übrigen hervorragender Übersetzer15 zu Unrecht von Mannschaft und Passagieren gesprochen: ein Lapsus, 10 Vgl. Ch. Meier, Die Entstehung …, S. 151, S. 216 mit Anmerkung 196, S. 42 ff., S. 86 u. S. 213. 11 Hermann Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft (in: Handbuch des öffentlichen Rechts. Einleitungsband), Freiburg u. Tübingen 1896, S. 78. 12 So war der Gubernator oder Steuermann zugleich der Kapitän des Schiffes, wie Jean Rougé in Studi in onore di Edoardo Volterra, Bd. 3, S. 174, gezeigt hat. 13 Die Metapher vom Politiker als Gubernator hat C. M. Moschetti untersucht, in Gubernare rem publicam. Contributo alla storia del diritto maritimo e del diritto publico romano, Mailand 1966. 14 Vgl. Platon, Staat, 488 a. Aristoteles, Politik, 1276 b 20. 15 Vgl. die Anmerkung von Jules Tricot zu Aristote, Politique, 1276 b 20, 26

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der seine moderne Sichtweite enthüllt … Nichts ist gleichgültig in einem Text, und der Inhalt ist nicht von der Form zu unterscheiden. Die angeblichen Ausdrucksnuancen sind keineswegs beliebige Redensarten, sondern verraten oft Abgründe des Denkens, Mißverständnisse zwischen den Alten und uns16. Übergeht man diese feinen Unterschiede, so banalisiert man den Text und glaubt doch ›ewige‹ Wahrheiten in ihm wiederzuerkennen. Der bürgerliche Liberalismus hat Kreuzfahrten veranstaltet, bei denen sich sämtliche Passagiere durchschlagen mußten, so gut es eben ging, da die Mannschaft lediglich für die allgemeinen Güter und Dienstleistungen sorgte. Dagegen war die griechische Polis ein Schiff, auf dem die Passagiere die Mannschaft bildeten: Individuen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Vermögenslagen, die vor der Notwendigkeit standen, die historische Zeit mit ihren Klippen17 zu durchschiffen. So taten sie sich als Überlebensgruppe zusammen, und jeder gab sein Bestes zum allgemeinen Wohl. Woher stammt diese eigenartige Auffassung, die das Denken und teilweise auch das Tun bestimmt hat? Zwei mögliche Ursprünge bieten sich an: der Krieg und das Gemeinwesen. In der klassischen Epoche bestand das Leben eines Bürgers zur Hälfte aus Krieg18. Max Weber hat die kriegerische Demokratie der Antike der Handelsstadt des Mittelalters gegenübergestellt19. Paris 1962. (In der deutschen Übersetzung von Gigon, S. 140, werden die Worte ›Schiffsgemeinschaft‹ und ›Seeleute‹ gebraucht. (Anm. d. Übers.) 16 Zur Methode vgl. Oswalt Ducrot, Dire et ne pas dire, Paris 1972, 2. Auflage, S. 13: »Durch den ganzen Text hindurch läßt sich der implizite Reflex der Glaubensgewißheiten der Epoche verfolgen. Von daher kann man sagen, daß der Text nur kohärent ist, wenn man ihn durch diese Glaubensgewißheiten vervollständigt. Und das, obwohl wir wissen, daß er nicht ihre Behauptung darstellt.« 17 Platon, Gesetze, 758 a 5: Ein Staat wird regiert, indem man ihn durch den »Wogendrang der anderen Staaten« lenkt. Vgl. auch Polybios, VI, 44. 18 Aristoteles, Politik, 1254 b 30 und 1333 a 30; Xenophon, Memorabilien, II, 1, 6. 19 P. Vidal-Naquet, Le Chasseur Noir, Paris 1981, S. 149; Ch. Meier, Entste27

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Möglicherweise haben der militante Eifer und die Gruppensolidarität ja auch einen stärker politischen Ursprung. Christian Meier hat gezeigt, welcher Art die Reform des Kleisthenes war: sie diente dazu, die Bauernmassen zu mobilisieren, um sie der Clientel der Eupatriden abspenstig zu machen20. Vielleicht stellen die Ursprünge aber auch ein Scheinproblem dar; das Schema der Militanz könnte auf der Grundlage von Gedankenmodellen aus Gebieten, die abseits der politischen und militärischen Tätigkeit lagen, erfunden worden sein. Auch das ist möglich – jedenfalls soweit man an Erfindungen in der Geschichte glaubt. Einer Gesellschaft, die ungleich und zerrissen war wie viele andere, haben die Zufälle in der Geschichte bzw. deren Erfindungsreichtum im Bürgersinn eine Politik der Gleichheit und Solidarität gegenübergestellt. Es muß nicht hinzugefügt werden, daß die Ergebnisse um so komplizierter und ideologischer oder, besser gesagt, aufschlußreicher waren, als das politische Leben sich in hohem Maße von den sozialen Kräften abhängig zeigte. So wurden in Rom die Armen dazu angetrieben, der Staatsliebe den Vorzug gegenüber der gräßlichen Habsucht einzuräumen. Es steht fest, daß die Antike ihre Politik genauso selbstverständlich und zwangsläufig im Sinne der Militanz auffaßte, wie wir sie heutzutage in dem der Demokratie auffassen. Wollen wir die Bedeutung der Muße oder dessen, was man so nannte, erfassen, so müssen wir zuerst das eigentümliche ›demokratische‹ Wesen der griechischen Polis verstehen lernen. Zwar ist die Polis eine Institution, die sich unter Menschen erhebt, doch die Aufnahme in diese Institution ist normalerweise Privilegierten21 vorbehalten, die, weil sie reich sind, selbstverhung …, S. 66; zu Aristoteles Politik, 1297 b 20. 20 ›Kleisthenes und die Institutionalisierung der bürgerlichen Gegenwärtigkeit in Athen‹, in: Ch. Meier, Entstehung …, S. 91–144. 21 Entweder man gehört zur Polis oder man tut es nicht; mancher »bekommt den Eindruck, daß er überhaupt keinen Anteil an der Stadt habe« und leidet darunter. Vgl. Platon, Gesetze, 768 b. 28

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ständlich über Muße verfügen. Hie und da (etwa in Athen) wird der privilegierte Kreis auf das gesamte ›Volk‹ ausgedehnt, dies aber bedeutet entweder ein großes Privileg oder Fahrlässigkeit22. So gelangt Platon zu der gesunden Lehre, wonach alle Mitglieder seiner Modellpolis über ein Vermögen verfügen müssen, das es ihnen erlaubt, sich ausschließlich dem Gemeinschaftsleben zu widmen, wozu ihre Muße sie freistellt. Weder ist Platon um das Glück der Menschen besorgt noch denkt er daran, ihr friedliches Zusammenleben zu fördern oder der menschlichen Gesellschaft einen Souverän zu geben; er macht sich nicht die Hege der menschlichen Fauna zur Aufgabe. Sein Anliegen ist die Errichtung der Polis als einer gutgebauten Institution. So wie bei der Anwerbung von Rekruten für ein Regiment – bzw. in Platons Fall eher für einen kontemplativen Orden – dreht es sich nicht darum, die Menschenmassen zu hegen, sondern darum, ein gutes Regiment aufzustellen, und dazu müssen die Rekruten auserlesen werden. Platon will eine Polis von Müßiggängern rekrutieren, so als würbe er Mönche für ein Kloster an, die reich genug wären, die ganze Zeit Hymnen zu singen, ohne arbeiten zu müssen. Dies ist (wie zu selten bemerkt worden ist) die Grundlage der Gesetze23, welche sich nicht von dem unterscheidet, was der Gedankenwelt und der politischen Praxis der Griechen zugrunde lag. Das soziale Leben stand für die Griechen nicht zur Debatte, 22 Dem Athener Theramenes zufolge war man geradezu auf dem Wege, Bettler und Sklaven zu Verantwortlichen der Polis zu ernennen (Vgl. Xenophon, Hellenika, II, 3,48). Dieser Text verrät nicht das geringste Zögern gegenüber der Sklaverei; ganz im Gegenteil will Theramenes seinem Gegner vor Augen führen, wie lächerlich die extreme Demokratie ist, und er greift zu einer Übertreibung, die sein Gegner selbst übertrieben findet; das ist ja, als wollte man bei uns die unmündigen Kinder abstimmen lassen. Oder den Zugochsen das Bürgerrecht verleihen. Natürlich hat nie jemand daran gedacht, die Sklaven an der Polis teilhaben zu lassen. Nicht einmal die Metöken! 23 Vgl. Paul Veyne, Le Pain et le Cirque, Paris 1976, S. 205 ff. 29

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denn sie verfolgten vor allem die Absicht, eine gutaufgebaute Polis auf die Beine zu stellen statt wie die Barbaren in amorphen Stämmen oder wie die Orientalen in passiven Königreichen zu leben. Wenn Aristoteles schreibt, der Mensch sei ein politisches Tier, stellt er sich damit nicht die Aufgabe, die Menschheit zu organisieren, sondern er will sagen, daß das Ideal, das Telos des vollendeten Menschen darin besteht, eher in einer Polis als woanders zu leben, anders ausgedrückt, daß die Griechen über die Barbaren erhaben sind und das Meisterwerk der Menschheit darstellen24. Wohl gibt es Berührungspunkte zwischen der antiken und modernen Problematik, denn es gab griechische Poleis, die sich auf das ganze Volk ausdehnten, und umgekehrt ist es in der Neuzeit vorgekommen, daß zwischen aktiven und passiven Bürgern unterschieden wurde. Nichtsdestoweniger gehen die beiden Sichtweisen von zwei diametral entgegengesetzten Punkten aus: die der Modernen von einer Bevölkerung, für die der Politiker die Verantwortung übernimmt; ihnen geht es darum, die Menschen zu Bürgern zu organisieren. Die Griechen hingegen fragten sich, wer eigentlich zum Staatsbürger ernannt werden sollte, und ihre Verantwortung bestand darin, eine gutgebaute Polis zu schaffen. Man sieht, wie unsinnig es wäre, von ›der‹ ewigen Demokratie von den Griechen an bis heute zu sprechen. Eine moderne Demokratie mag zwar auf die aktiven Bürger beschränkt gewesen sein, bei den Griechen hingegen war die Bewegung zentrifugal: manche Poleis waren auf den gesamten Demos ausgeweitet worden. Wir schreiten von der Universalität zur Institution, während sie von der Institution ausgingen und, auch wenn sie bis zu ihrer Demokratie gingen, den Universalismus niemals als Ideal oder Gewissenskonflikt empfanden. Darüberhinaus war bei ihnen eine Sache möglich, die bei uns undenkbar wäre. Bei ihnen konnte es vorkommen, daß sie das Rad zurückdrehten und zur Zensuswahl zurückkehrten (wäh24 M. Defourny, Aristote, Etudes sur ›La Politique‹, Paris 1932, S. 383. 30

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rend bei uns der Universalismus ein natürliches Recht ist, dessen vollständige Verwirklichung zwar zunächst Einschränkungen dulden mag; hat es sich aber einmal durchgesetzt, so kann man nicht mehr zurück.) Daher entwarfen die Griechen, wenn sie spekulierten, Verfassungen und Gesetze; selbstverständlich schrieben sie keinen Fürstenspiegel, aber sie schrieben auch keinen Contrat social und keinen Leviathan. Sie setzten sich nicht mit dem Ursprung der Gesellschaft auseinander, sondern ihre Spekulation galt der Verwirklichung einer idealen Polis, und dieses Schema dreht sich um eine Realität: die Gründung der realen Poleis, die eine Gesetzgebung von ihrem Gründer erhielten, welcher zuvor die künftigen Bürger erwählt hatte. Platons Gesetze liefern in diesem Sinne das Schema für die Gründung einer Kolonie25. Weshalb aber und inwiefern war die Polis des Philosophen den Reichen vorbehalten? Und weshalb war Muße erblich? In Platons Polis erhält jeder Bürger ein Vermögen, das in seinem Besitz bleiben wird; er kann sich bereichern und dieses Vermögen bis aufs Vierfache erhöhen. Die Bürger brauchen nicht zu arbeiten; diese Angelegenheit ist für Platon so klar, daß er sie nur beiläufig oder vielmehr als zweite Prämisse seines Syllogismus erwähnt: »Auf welche Weise sollen nun wohl die Leute ihr Leben gestalten, denen das Notwendige im rechten Maße zur Verfügung steht, die alle handwerkliche Arbeit anderen überlassen können und denen die den Sklaven anvertrauten Landgüter einen Ertrag an Bodenfrüchten abwerfen, der für Menschen mit einer bescheidenen Lebensführung gerade hinreicht26?« Der junge Aristoteles, der ebenfalls den Entwurf einer Polis verfaßt hat, äußert sich nicht weniger rigoros: »Die Bürger sollen weder das Leben eines Handwerkers noch das eines Händlers führen 25 Vgl. insbesondere Platon, Gesetze, 704 a-c; 707 e – 708 d; 735 e – 737 b; 744 bc. 26 Platon, Gesetze, 806 de. 31

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(denn ein solches Leben ist unedel und der Qualität zuwider); auch dürfen die angehenden Bürger keine Bauern sein, denn man bedarf der Muße, sowohl um die Qualität zu entwickeln als auch um politisch handeln zu können27«. Es liegt auf der Hand, daß die Muße nicht peinlich genau nach der Zeit bemessen wurde, sondern einen ständigen Lebensstandard, nämlich den des Reichtums bezeichnete, eines Reichtums, der im wahrsten Sinne des Wortes bodenständig war28. Platon stellt in den Gesetzen fest, daß ein Bürger, der dieses Namens würdig ist, nichts tun darf und zwei Seiten wei27 Aristoteles, Politik, 1328 b 35. Das Wort arete läßt sich weitaus besser mit Qualität als mit ›Tugend‹ übersetzen, was die Nuance verfälscht und viele heidnische Texte unverständlich macht. Die ›Tugend‹ stellt einzig den moralischen Wert andern wirklichen oder falschen Vorzügen entgegen, während die ›Qualität‹ genausogut eine Tugend wie den Adelstitel eines ›Ehrenmanns‹ bezeichnet. Reichsein war eine Qualität. 28 Das Problem der Abwertung der ›Arbeit‹ in der Antike ist schwierig, denn diese Abwertung ist von Klasse zu Klasse verschieden, wie De Robertis mühelos nachweisen konnte. Diese Verschiedenheit läßt sich durch drei Variablen erklären: 1) Was der antike Mensch unter Arbeit verstand, d. h. von einem anderen Menschen oder Dingen abhängig sein, ist etwas anderes, als was wir heutzutage darunter verstehen. 2) Die Stellung der Arbeit in der antiken Definition des sozialen Individuums ist nicht dieselbe wie in unserer Epoche: Ein adliger Reeder war edel und kein Reeder (er begnügte sich damit die Schiffe auszustatten), ein nichtadliger Reeder definierte sich hingegen als Reeder, denn nur kleine Leute definierten sich über ihren Beruf. Dies ist der Grund dafür, daß die Arbeit für die Volksschichten achtbar war. 3) Die spezifische Entwertung des Handels und Handwerks stellte eine Sache für sich dar. 4) Wenn ein Adliger sich auch nicht über seine wirtschaftliche Tätigkeit definierte, so war er hingegen stolz auf seine Geschicklichkeit in Handelsgeschäften oder in der Landwirtschaft. Das war ein geachtetes Talent, eine weitere Qualität. Bezüglich des Aberglaubens, der die Landwirtschaft aufwertete, hingegen Handel und Gewerbe entwertete, verweisen wir auf die belustigenden Argumente, mit denen Xenophon versucht, die Aufwertung der Landwirtschaft zu rationalisieren (Xenophons, Oikonomikos IV, 2 und V, 4.) Zur widersprüchlichen Haltung der Griechen und Platons zum Gewerbe und dem Schwanken zwischen zwei Modellen vgl. P. Vidal-Naquet, ›Etude d’une ambiguité, les artisans dans la cité platonici32

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ter bemerkt er: »Es müssen alle [Bürger] in der Nacht [ein paar Stunden] wachbleiben und da einen Großteil ihrer öffentlichen oder häuslichen Arbeiten erledigen, als Behörden in der Stadt oder als Herren und Herrinnen in den eigenen Häusern29.« Die häuslichen Aufgaben des Bürgers bestehen in der Beaufsichtigung der Sklaven, die die Landgüter bebauen. Der antiken Arbeitsauffassung entsprechend ist dieser Reiche nicht insoweit müßig, als er nicht arbeitet, sondern als er von nichts und niemandem abhängig ist. Insofern hat der Mann der Muße keinen Beruf, sondern identifiziert sich mit dem Besitz seines Gutes, und um zu besitzen, braucht man nichts zu tun, sondern einfach dahinzuleben. Zwar muß er darüber hinaus das betreffende Gut verwalten, doch handelt es sich dabei nicht um Arbeit, sondern vielmehr um die Ausübung des Besitzrechts. Daraus folgte nicht unbedingt, daß der Großgrundbesitzer untätig war und sich darauf beschränkte, sich einen ausreichenden Gewinn und damit seinen Rang und Stand zu sichern, denn oft suchte er die Produktivität zu steigern, um seinen Kindern ein vermehrtes Vermögen zu hinterlassen. Es heißt auch nicht, daß seine Wirtschaft autark gewesen wäre, im Gegenteil, er produzierte, um auf nahen oder entfernten Märkten die Waren auszutauschen. Allerdings war der Markt das Mittel zur Bereicherung und nicht etwa der Zweck, der die Rationalität der Wirtschaft bestimmte, denn deren eigentlicher Zweck blieb familiengebunden: es ging darum, seiner Nachkommenschaft ein Vermögen zu vermachen. Zu Recht stellt Alain Guillemin fest, daß es sich »um regelrechte Bodenunternehmer handelt, die Profite erzielen wollen. Sie organisieren ihre Ausbeutung nach rationalen Grundsätzen, um den Markterfordernissen zu entsprechen. Allerdings besteht das grundlegende Prinzip dieser Rationalität nicht wie für den kapitalistischen Unternehmer in der Gewinnmaximierung, sondern enne‹, in Le Chasseur noir, S. 289. »Der politische Bereich trennt, was der technische miteinander verbindet«. 29 Platon, Gesetze, 806 d und 808 b. 33

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in der Verwaltung eines Vermögens, das den Kindern hinterlassen werden soll. Dieses Vermögen wird nicht nach Art der Juristen ›synchron‹ verstanden, sondern mit der Fortdauer des Geschlechts verbunden. Dieser Zweckbestimmtheit stellen die Notabeln gerne die Immoralität des kommerziellen Strebens nach unmittelbarem Gewinn entgegen30.« Wenn Aristoteles in schwierigen oder unklaren Worten zu Beginn der Politik die gute Chrematistik31 von der schlechten, unmoralischen unterscheidet, urteilt er nicht anders. Der Kult der Autarkie bedeutete keineswegs Verweigerung des Austauschs, sondern beinhaltete, daß er lediglich Mittel, jedoch nicht Zweck der patrimonialen Rationalität war. Die tausendjährige Geringschätzung des Handels dauerte solange an, bis sich ein anonymer Kapitalismus einrichtete, in dem das Unternehmen nicht mehr das Erbvermögen einer Dynastie war, die ihre soziale und politische Macht übertragen wollte. Diese Dynastie saß im wahrsten Sinne des Wortes auf ihrem Grundbesitz – aber nicht nur darauf, denn auch ein Handels-, Gewerbe- oder Bankunternehmen läßt sich genauso gut als Erbvermögen verwalten wie als anonyme Maschine, die Profite hecken soll. In diesem Fall soll der Händler oder Handwerker keine Arbeit verrichten, da er mit der müßigen Klasse die dynastischen Zwecke teilt: die Ideologie der Muße ist eine Ideologie der patrimonialen Rationalität. Das römische Recht fand den geeigneten Ausdruck dafür: »wie ein guter Familienvater handeln«. Entweder besaß man einen Grundbesitz, den man verwaltete beziehungsweise verwalten ließ, oder man trieb Handel und Gewerbe, aber man tat dies 30 A. Guillemin, Le Pouvoir et l’innovation: les notables de la Manche et le développement de l’agriculture, 1830–1875, Centre de sociologie rurale, Paris 1980, Bd. 1, S. 251–257. Wie M. Godelier schreibt (ich zitiere ihn aus meinem Gedächtnis): »Die intentionale Rationalität des wirtschaftlichen Verhaltens ist keine absolute Größe, sondern von der Hierarchie der sozialen Verhältnisse abhängig«. 31 Lehre von dem Teil der Erwerbskunst, der sich über die Sicherung des Lebensnotwendigen hinausrichtet. (Anm. d. Übers.) 34

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als Herr, damit man nicht in den Ruf kam, selbst Händler oder Handwerker zu sein32: man blieb, der man war. Denn Arbeit oder Gewerbe waren mit der Vorstellung eines Bedürfnisses, wenn nicht des drohenden Mangels verknüpft. Wenn man reich war und dafür arbeitete, es zu bleiben oder noch reicher zu werden, arbeitete man nicht, denn das Gespenst der Notwendigkeit war weit entfernt. Man ließ die Einkünfte zusammenfließen, aber man schaffte sie nicht mühsam herbei. Die wenigen Tagesoder Nachtstunden, die man darauf verwendete, zählten nicht; sie waren weiter nichts als prosaische Notwendigkeit, gleich der, sich morgens anzukleiden. Ein Sklave hingegen verfügte niemals über Muße33, auch dann nicht, wenn er Freizeit hatte, denn er lebte in Abhängigkeit von seinem Herrn. An diesem Punkt greifen die beiden Mechanismen ein, die unter dem Namen Ideologie zusammengefaßt werden: die Aufwertung und die Voraussetzung. Die Muße wird als bewundernswert aufgewertet, da sie das Privileg der sozial überlegenen Klasse ausmacht; und die politischen Philosophen, die alles mit den Scheuklappen der vorausgesetzten Militanz betrachten, bringen diesen Bürgersinn mit der Muße in Zusammenhang. Dies ist ihre Art, den sozialen Mächten, an denen sie teilhaben oder die sie erleiden, Rechnung zu tragen. Die Reichen führen ein Leben voller Muße und sind politisch einflußreich: diese beiden Tatsachen werden aufgewertet, und die eine wird durch die andere gerechtfertigt. In Platons Gesetzen34 und Aristote32 Dies ereignet sich ebenfalls in Rom, wo die Artes liberales ihren liberalen Charakter nur unter der Voraussetzung bewahren, daß sie von einem freien Mann ausgeübt werden; von einem Sklaven oder Freigelassenen ausgeübt, haben sie nichts Liberales mehr. Wir verweisen hierzu auf die Arbeiten De Robertis und D. Nörrs und des weiteren auf J. Christes, Bildung und Gesellschaft: Die Einschätzung der Bildung und ihrer Vermittler in der Antike, Darmstadt 1975. 33 Bei Aristoteles, Politik, 1334 a 20 heißt es: »Denn nach dem Sprichwort haben Sklaven keine Muße.« 34 Platon, Gesetze, 846 d. Allgemeiner betrachtet bestehen die Gesetze in 35

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les’ Politik kehrt beständig dasselbe Leitmotiv wieder und dies mit einer Eindringlichkeit, die eine gewisse Beunruhigung oder Unaufrichtigkeit verrät: Nur der Reichtum erlaubt die notwendige Muße für die Beschäftigung mit den Staatsgeschäften; der Reichtum wird durch die politische Tätigkeit gerechtfertigt, und diese wiederum in ein Privileg umgewandelt, das ausschließlich den Reichen vorbehalten ist35. All dies geschieht im Namen des politischen Realismus. Aber ist es wirklich wahr, daß die Reichen lediglich die Aufgabe haben, sich um die Staatsgeschäfte zu kümmern, und die Zeit der Armen so knapp bemessen ist, daß sie keine freie Stunde dazu finden? Gehen wir darüber hinweg: wir befinden uns hier im Reich der Fiktionen. Tatsächlich prangern Platon und sogar Aristoteles36 an anderer Stelle die apolitische Haltung der Reichen an, die nur bestrebt sind, Geld zu scheffeln und sich dabei wenig um die Polis scheren. Dennoch ist dies in den Augen der Philosophen nicht durchgehend der Fall, sondern eine Abweichung: die Reichen entsprechen nicht immer ihrem Wesen. Die leichte Beunruhigung unserer athenischen Denker rührt daher, daß ihnen noch ein anderer Satz in den Ohren klingt, der in ihrer Polis oft zu hören war: »Derjenige, welcher für einem Programm, das die Reichen in eine Art kontemplativbürgerliches Leben taucht, welches ihnen keinerlei Muße dazu läßt, sich um ihre Geldgeschäfte zu kümmern. 35 Siehe J. Christes, Bildung … S. 25: »Aus der Vorherrschaft des praktischpolitischen Lebensideals erklärt sich auch die Verachtung aller abhängigen Arbeit. Wer sich […] seinen Lebensunterhalt erwerben mußte, dem fehlte in aller Regel die Muße zu dem einzigen, dem Leben Sinn gebenden ›Beruf‹ des Politen.« Euripides, ›Der Mütter Bittgang‹, in Griechische Tragödien, hrsg. von Wilamowitz-Moellendorff, Berlin 1922, 1. Bd., Neunte Auflage, 419–423, S. 247. Der Herold einer griechischen Polis sagt: »Die Muße, nicht der Drang des Augenblicks erzieht den Staatsmann, und dem armen Bauern, selbst wenn er fähig ist, läßt schon die Arbeit kaum Zeit, an das gemeine Wohl zu denken.« 36 Zu Platon vgl. den Schluß dieses Artikels; zu Aristoteles Politik 1286 b 13. 36

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sein Hauswesen Sorge trägt, nimmt auch das Wohl des Staats in Acht37.« In seiner Politik stellt Aristoteles diesem Satz auf etlichen Seiten eine Argumentation entgegen, deren Unstimmigkeit in die Augen springt: 1) Diejenigen, die arbeiten, haben wenig Zeit, sich der Polis zu widmen, also mischen sie sich wenig in die Politik ein. 2) Diejenigen, die arbeiten, sind nicht würdig, sich um die Polis zu kümmern, denn ein Arbeitender ist kein Mann von Rang. So muß ihnen verboten werden, sich in die Politik einzumischen, und dieses Privileg muß den Männern der Muße vorbehalten werden. 3) Diejenigen, die arbeiten, sind darüber hinaus hauptsächlich darum besorgt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und überlassen freiwillig den Reichen die politischen Geschäfte38: sie schalten sich selbst aus. Die Politik wird notgedrungen den Reichen überlassen, weil sie die Muße dazu haben und weil es eine gute Eigenschaft ist, über Muße zu verfügen – eine »Tugend«, die ein Recht begründet: die Verteilungsgerechtigkeit spricht ungleichen Verdiensten ungleiche Rechte zu39. Unser Anliegen bestand weniger darin, eine antike Ideologie zu brandmarken, als zu zeigen, wie zwei von einander unabhängige Fakten, die Muße und der politische Bürgersinn, in einem System miteinander verbunden worden sind. Dies geschah mittels eines Syllogismus, dessen erste Prämisse etwas voraussetzte, während die zweite etwas aufwertete: in der Politik bestand damals das Gute darin, sich militant einzusetzen, aber gut war auch die Muße, also setzten die Männer der Muße sich militant ein, während die Armen es nicht konnten, durften und wollten. Die Tatsache, daß die Reichen das Sagen in der Politik hatten oder forderten, wurde als solche aufgewertet, denn jede Macht

37 So Perikles bei Thukydides, II, 40, 2. 38 Aristoteles, Politik 1318 b 10 und 1319 a 30; vgl. auch Polybios, IV, 73, 7–8. 39 Über die Verteilungsgerechtigkeit in der Politik, vgl. Platon Gesetze, 744 bc und 757 be; Aristoteles, Politik 1280 a 10, 1282 a 20, 1301 a 25; Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131 a 25; Isokrates, Areopagiticus, 21. 37

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hält sich für das Gute und ist mit sich zufrieden40: darauf läuft die ganze Ideologie der Aufwertung hinaus, und für diesen Zauber der Macht sind diejenigen, die ihr unterliegen, genauso empfänglich wie diejenigen, die sie besitzen41. Wie jeder Sterbliche für die Macht anfällig ist, waren es auch die Philosophen, die in jener Verbindung zwischen Muße und politischer Macht das Gute sahen. Also versuchten sie diesen faktischen Zustand zu rechtfertigen und zu begründen. Sie ›wußten von vornherein‹, daß er begründet war, verschanzten sich in der Überlegenheit dieser Überzeugung, und ihnen war ziemlich gleichgültig, ob ihre Argumentation in allen Einzelheiten stimmig war, denn an der Gewißheit ihres Schlusses gab es sowieso nichts zu rütteln. Dennoch war diese Verbindung in zweifacher Weise kontingent. Nur in den alten Gesellschaften, in denen die sozialen Vorzüge kumulativ42 waren, lag die politische Betätigung in der Hand der sozial herrschenden Klasse, hatten dieselben Individuen Macht, Reichtümer und Kultur inne. Nicht weniger kontingent war es, daß der politische Inhalt als Militanz gelebt und verstanden wurde und nicht als etwas anderes, dem die Produktionsverhältnisse genausogut entsprochen hätten. Es steht hier nicht zur Debatte, ob der Staat das Instrument der herrschenden Klasse ist oder nicht, sondern es geht ausschließlich darum, ob 40 Die Behauptung, die Ideologie diene zur Rechtfertigung vor Dritten, ist eine funktionale, finale Auffassung, die oft durch die Tatsachen widerlegt wird (man kann sein eigenes Loblied aus Dünkel oder zur Herausforderung singen. Man kann seine Stärke beweisen, anstatt sich zu rechtfertigen. Darüberhinaus wird die Ideologie oft nur von ihren eigenen Nutznießern zur Kenntnis genommen. Man kann auch schweigen und sich auf seine Arroganz versteifen usw.). 41 Diejenigen, die sie erleiden, mögen der Macht mit Wut und Ärger begegnen, sie können sie auch ›verarbeiten‹ (sie überkompensieren, indem sie auf die Überlegenheit der Demut und die hohe Würde der kleinen Leute verweisen, die ihre Belohnung erhalten, wenn die Letzten die Ersten sein werden. 42 Siehe Paul Veyne, Le pain et le Cirque, S. 117, wo ich eine Idee von Robert Dahl aufgreife und ausführe. 38

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die Reichen selbst die Politiker waren, oder ob, wie heutigentags, die Rollen geteilt waren. Wenn, wie bereits erwähnt, Platon und Aristoteles gleichermaßen behaupten, daß die Männer der Muße regieren, und daß sie dies allzuoft ablehnen, so verweist das darauf, daß sie der Muße eben so weit Wert beilegen, wie es der Voraussetzung des Bürgersinns ihrer Epoche entspricht. Die Militanz, ein ›Diskurs‹, der aus den Zufällen der Geschichte hervorgegangen ist, gehört zu einer Reihe, die, mit Cournot zu sprechen, von der Ökonomie unabhängig ist, aber dennoch hat dieser Diskurs auf seine Art auf die antike Wertschätzung des Reichtums eingewirkt. Und auch auf reale Kämpfe hat er eingewirkt. Wie der junge Marx schreibt, war der einzige Daseins- und Interessengegenstand der politische Staat als solcher, als politischer. Es gab in Athen eine eigenartige Spaltung zwischen der politischen Arena und den sozialen Mächten. Das Volk forderte die Demokratie, war stolz, sie erreicht zu haben und »sein Pfefferkorn« wenn nicht zu den wirtschaftlichen Interessen43, so doch zu den Staatsgeschäften und internationalen Angelegenheiten44 beitragen zu können. Allerdings blieb seine Achtung vor der sozialen Überlegenheit der Notabeln und der Wertschätzung der Muße davon unberührt. Die athenischen Fleischer und Gerber lehnten sich dagegen nicht auf. Christian Meier schreibt, daß im Unterschied zur Bourgeoisie, die lange Zeit von der politischen Arena ausgeschlossen blieb, der arme Athener keine Wertskala 43 Christian Meier, Entstehung …, S. 259. 44 Über die Freiheit als Recht auf freie Meinungsäußerung vgl. Christian Meier, Entstehung …, S. 294, sowie Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 427 ff. Art. Freiheit. Die Isegoria ist das Recht, seine Meinung über die Politik zu äußern, ohne schweigen zu müssen, um ausschließlich den Mächtigen das Wort zu überlassen. Die Parrhesia ist das Recht, in der Politik freiheraus zu sprechen, oder den Mut dazu aufzubringen, ohne die Mächtigen zu fürchten. 39

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für sich selber aufstellte45. Somit wird verständlich, worin diese Demokratie bestand: in den Augen des Volkes war die eigene Beteiligung an der Politik eine Art Ehrensache, auf diese Weise behauptete es den Mächtigen gegenüber seine Würde. Lediglich in der politischen Arena fand das Volk zu seinem Stolz zurück, so wie es ihn in späteren Jahrhunderten in der Kirche wiederfand, einem Ort, wo es gleichberechtigt neben den Großen saß. Die politische Demokratie war Opium fürs Volk. – In Athen bildete das Volk die Geschworenenbank, und die Ausübung der Justiz war im wahrsten Sinne des Wortes ein Bürgerrecht46. Welche Befriedigung für die Geschworenen, zu sehen, wie die Reichsten sich vor dem Volksgericht beugten47! Mochten diejenigen, die nicht dem Volk angehörten, die Ausdehnung der Polis auf das gesamte Volk zulassen, so wollten sie – auch wenn sie keine überzeugten Oligarchen waren – eigentlich keine Demokratie. Ob sie sich nun ihrem Volke gegenüber loyal oder einfach nur resigniert verhielten, in beiden Fällen betrachteten sie das demokratische Phänomen, das ihr Vaterland auszeichnete, von außen. Die Demokratie war eine Wirklichkeit, deren Nachteile sie allzugut kannten, und kein Ideal, das sie unter Hinnahme seiner Unvollkommenheiten geteilt hätten. Thukydides und Euripides sind halbherzig in ihren Lobliedern auf die Demokratie, die sie Perikles und Theseus in den Mund legen. Diese gebildeten Männer der Muße zeigen einiges Entgegenkommen für die Ideale des geliebten Volkes, mittels dessen sie herrschen können und das sie so hinnehmen müssen, wie es ist48. Aristophanes, der ganz gewiß kein Oligarch ist, macht sich über das Volkssystem lustig, denn ein Satiriker 45 Ebenda, S. 256. 46 Platon, Gesetze, 768 b. 47 Aristophanes, Die Wespen 575. 48 In Euripides’ Ion und in Thukydides’ Buch VIII, wo der Autor im eigenen Namen spricht, wird ein anderer Ton angeschlagen als in Der Mütter Bittgang von Euripides, oder in der Rede des Perikles (Thukydides, Buch II). 40

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ist kein Panegyriker. Dennoch behandelt er es, ohne dagegen zu sein, insgeheim von oben herab. Er gibt vor, sein Volkspublikum stimme mit ihm darin überein, daß die Nachteile der Volksregierung eine klare Tatsache seien, der gegenüber man sich nicht anders als nachsichtig verhalten könne. Doch im Grunde ist das Volk gar nicht so dumm. Es weiß, daß man es betrügt. In seinem Innersten denkt Aristophanes wie die Ritter49, diese edlen, vermögenden Männer, die ihrer Definition nach den politischen Bürgersinn verkörpern. Alles in allem wahrten die Männer der Muße genügend Überlegenheit, um sich ein väterliches Verhalten gegenüber der ihnen fremden Demokratie erlauben zu können. Dies ist ein Symptom dafür, daß neben ihrer sozialen Macht auch ihre politische Macht intakt blieb, und daß das Volk selbst seinen Respekt vor den Mächtigen behielt. Hier ein Beispiel jener für einen modernen Leser peinlichen Redeweise, deren sich ein Demosthenes vor versammeltem Volke gegenüber einem Aischines bedienen darf50: »Ich bin rechtschaffener als Aischines, und ich bin von besserer Geburt als er. Niemand soll denken, ich verhöhnte die Armut, doch muß ich wohl sagen, daß es mir beschieden war, als Kind gute Schulen zu besuchen und vermögend genug zu sein, um nicht durch Not gezwungen zu sein, schandbare Arbeiten zu verrichten. Du hingegen, Aischines, mußtest als Kind den Schulraum kehren, in dem dein Vater unterrichtete … « Es war an jenem Tag, da diese Rede gehalten wurde, nicht angebracht, das Mißfallen des Volks zu erregen, war es doch selbst der Richter. Aber Demosthenes mißfiel nicht, sondern gewann den Prozeß mit großem Triumph. Sein gutes Gewissen als Besitzender läßt sich erklären: der Reichtum brachte alle anderen Vorzüge mit sich, und es gab noch nicht51 jene anderen Wertetafeln oder 49 Aristophanes, Die Ritter, 1111–1150. 50 Demosthenes, Rede über den Kranz, 10 und 256–258. 51 Wenigstens gab es sie kaum. Hingegen gab es wohl die Gesinnung der staatsbürgerlichen Solidarität, die den Geldverleih zwischen den Bürgern 41

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Konkurrenzmächte, die ihm, unserer Epoche entsprechend, mehr Zurückhaltung geboten hätten. Alles in allem war das Volk sich mit dem Adel darin einig, daß die Demokratie keineswegs selbstverständlich war. Wie wir oben erwähnt haben, wurde sie eher als Ausweitung eines Privilegs denn als Verwirklichung eines allgemeinen Rechts begriffen. Diese anfällige politische Errungenschaft widerstand den sozialen Mächten nicht einmal zwei Jahrhunderte lang. Bereits um 300 rissen die Adligen die Macht an sich, um sie fortan nicht mehr loszulassen52. als brüderliches Verhalten darstellte, das die Eigentumsrechte nicht betraf. … Von Isokrates bis Cicero wurde diese Brüderlichkeit beredt gepriesen. Es gab ebenfalls Lobsprüche (vgl. Aristophanes, 3. Bd., Plutos; Isokrates, Areopagiticus 44) auf die Arbeit (Landwirtschaft und Handel): »Diejenigen nämlich, welche in dürftigen Umständen waren, bestimmten sie für den Landbau und den Handel, weil sie wußten, daß der Mangel durch die Untätigkeit entstehe, die schlechten Handlungen aber durch den Mangel«. Statt sich zu fragen, wie in der Antike die Arbeit eingeschätzt wurde, sollte man besser Überlegungen darüber anstellen, als was die Arbeitenden angesehen wurden. Sie wurden verachtet, weil sie eine geringere soziale Stellung einnahmen. Nichtsdestoweniger wurde die Arbeit an sich, wenn nicht für die privilegierte Klasse, so doch zumindest für die kleinen Leute, als gute Sache erachtet. 52 Mit Aristoteles hört die Staatsbürgerschaft auf, eine Funktion zu sein und wird zum Statut; somit gibt es Beherrschte im Gegensatz zu den Herrschenden. Vgl. C. Mossé, ›Citoyens actifs et citoyens ›passifs‹ dans les cités grecques; une approche théorique du problème‹, in Revue des études anciennes, LXXXI, 1979, S. 241. – Sogar während der anderthalb Jahrhunderte seiner Demokratie hat Athen seinen Klan von Oligarchen besessen, der sich am Rande aufhielt und auf jede Geste der Demokratie lauerte. »Was würde ohne uns aus dem Volk werden?« fragen sie wiederholt. (Vgl. Pseudo-Xenophon, Die Staatsverfassung der Athener, IV.) »Mit diesen Leuten wollen wir nichts gemein haben«. (Vgl. Theophrast, Charaktere, Kap. XXVI.) Man spürt das Eigenartige dieser Haltung: die Oligarchen fühlen sich in Athen als Fremde. Das ist verständlich, denn der hellenische Patriotismus baut auf dem Gruppengeist auf und bezieht sich auf eine konkrete Gruppe. Entweder bleibt man bei der demokratischen Gruppe oder man zeigt ihr die kalte Schulter, aber da Polis und Staatskörper dasselbe sind, kann man 42

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Nun mußten die Denker nur noch die Entwicklung mit der Erklärung absegnen, daß eine Polis Bürger benötigte, die ihr Vermögen und Muße53 widmeten. Darüber hinaus mußten sie die Ehre des Denkens retten, indem sie den feinen Unterschied zwischen der Pflicht der Reichen, durch ihr Regieren einen größeren Beitrag für die Polis zu leisten, und ihrem angeblichen Regierungsrecht, das mit ihrem Reichtum begründet wurde, betonten54. Der Reichtum wurde also nicht – wie man von 1789 bis 1848 behauptet hat – als Garantie für die Unabhängigkeit der aktiven Bürger verstanden: er galt als Mittel dazu, sich besser für das Wohl der Polis einsetzen zu können. Freilich hätte man das Argument auch umdrehen können: teilen wir die Vermögen neu auf, und die Polis wird mehr nützliche Bürger aufweisen können. So dachten die berühmtesten Sozialreformer der Antike, die Gracchen: sie hatten die Stärkung der Stadt, nicht aber das Glück der Individuen im Sinn55. Voraussetzung ihrer Politik blieb die Militanz. Die antiken Demokratien waren immer anfällig und bestanden nur so lange wie die kollektive Leidenschaft anhielt. Ist diese nicht von einem Ewigen Athen träumen, das über den Irrwegen der Demokratie steht, etwa so wie die Action Française dem Ewigen Frankreich dient und die Republik haßt oder wie de Gaulle Frankreich den Franzosen vorzieht. Der Weg des Alkiabades bietet ein gutes Beispiel für diesen Patriotismus einer konkreten Gruppe: Athen, das sind die Athener, also die Männer mit denen Alkiabades sich um eine andere Polis streitet, um sich anschließend wieder mit ihnen zu vertragen. Die Dinge geschehen von Mensch zu Mensch. Nach der athenischen Niederlage von 405 lassen die Oligarchen die athenischen Schutzwälle zertrümmern – unter Flötenmusik, als ob es sich um ein Fest handle. Sie fühlen sich nicht von der Niederlage eines Ewigen Athen betroffen, sondern als Sieger über eine Bande von Rivalen. 53 Aristoteles, Politik, 1283 a 14 und passim. 54 Ebenda, 1280 a 25; 1316 b 1; vgl. auch 1328 b 37–1329 a 3. Die Reichen haben die Pflicht, der Polis zu dienen: sie sind ihre Sklaven, sagt Isokrates (Areopagiticus, 26). 55 Appian, Bürgerkriege, 1, 7–9 und 26–37. 43

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Kurzlebigkeit einer Besonderheit der jeweiligen Verfassung zuzuschreiben? Man weiß, daß sie allesamt unmittelbare Demokratien waren, denn die Antike kannte nicht das parlamentarische System. Nun heißt es bei Max Weber: »Jede unmittelbare Demokratie neigt dazu, zur Honoratiorenverwaltung überzugehen56.« Das stimmt zwar, aber es liegt nicht am Verfassungsrecht. Honoratioren können das Erbe der Macht nicht etwa deshalb antreten, weil sie Zeit und Kompetenz zum Regieren haben, sondern weil sie gesellschaftlich mächtig sind. Der Reichtum genießt ein derartiges Ansehen, daß seine Macht sich durchsetzt. Dieses Prestige ist noch entscheidender als der ökonomische Druck, den ein Reicher auf diejenigen, die von ihm abhängig sind, auszuüben vermag. Wenn es in der westlichen Welt seit ein oder zwei Jahrhunderten anders zugeht, so hat dies seinen Grund ausschließlich in der Professionalisierung des politischen Geschäfts: die Bourgeoisie mag herrschen, nicht aber der Bourgeois. Mittelbare oder unmittelbare Demokratie? Diese Alternative läßt sich nicht länger als technisches Moment ansehen, das sich als Technik aus seinem historischen Kontext herauslösen ließe, denn es handelt sich nicht um zwei Varianten derselben Formation, sondern um zwei unvergleichbare Formationen. Die athenische Demokratie konnte nur unmittelbar sein. Und das nicht etwa, weil dieses Regierungssystem technisch möglich ist, wenn die politischen Aufgaben nicht zu kompliziert sind und der betreffende Staat eine kleine Polis ist, deren Bevölkerung sich auf einem öffentlichen Platz versammeln kann, sondern vielmehr, weil die sogenannte unmittelbare Demokratie historisch gesehen einen Versuch darstellt, dem Adel den politischen Teil seines allgemeinen Einflusses abzunehmen, indem man die Bürger zu Aktivisten macht. Demgegenüber ist die mittelbare Demokra56 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1976, 1. Halbband, § 20, S. 170. 44

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tie des modernen Westens ein Mittel, jene Macht zu legitimieren, welche von Berufspolitikern auf eine passive Bevölkerung ausgeübt wird. Zwar werden diese Spezialisten gewählt, aber dann fangen sie an, sich selbst zu wählen (stellen sich selbst als Kandidaten auf oder werden aufgestellt), und das Wahlsystem verfälscht unweigerlich einen allgemeinen Willen, der – nicht von vornherein besteht, sondern von dem System mitgeschaffen wird. Der Zusammenhang zwischen den Wählern und der künftigen Politik der Gewählten ist noch lockerer, soweit er überhaupt möglich ist: die Asymmetrie zwischen Herrschenden und Beherrschten ist ebenso schroff wie zu der Zeit, da die Völker noch Herren hatten. Der Unterschied besteht darin, daß die Volksvertreter sich nicht mehr als Herren der Beherrschten dünken können: die wirkliche Rolle der Volkswahl besteht nicht darin, Stellvertreter zu wählen, sondern zu zeigen, daß diese nicht kraft göttlichem Recht herrschen, da ihre Macht aleatorisch ist. Die Wahlen sind eine Lotterie, die alle darauf hinweist, daß die Macht den Herrschenden nur leihweise übertragen wird, und daß diese nicht mit den Königen vergleichbar sind, welche legitime Besitzer ihres Königreiches waren. Ideologie ist bekanntlich kaum mehr als die Selbstzufriedenheit jeder Macht; sie hält sich selber Lobreden. Aber welche Worte spenden Lob? Diejenigen, die jede Epoche für lobspendend hält. Im Jahrhundert der Freiheiten nannte der Kapitalismus sich Liberalismus, und die reichen Griechen behaupteten, sie dienten der Polis. Platon, der alles glaubte, was seine Gesellschaft sagte, war eben darin Philosoph, daß er sie beim Wort nahm57: die un57 Man könnte darauf kommen, Platons Haltung mit dem Universalismus der Stoiker zu konfrontieren, die den Armen und den Sklaven zum Verantwortlichen ernennen. Es geht aber darum, die Hintergründe dieses Universalismus zu begreifen. Er beruht weniger auf der Berücksichtigung der Armen und Sklaven als solchen, als auf einem Mißtrauen gegenüber den Reichtümern und allen falschen Vorteilen, die weder Sicherheit noch Autarkie gewährleisten. Die Reichen und Mächtigen können sich ruinie45

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stimmigen Behauptungen, die auf verschiedene Kräfte zurückgingen, brachte er in ein System. Nicht einen Augenblick lang zweifelte Platon an der Überlegenheit der Reichen58 und an ihrem Recht zu führen. Allerdings richteten die Reichen ihren Glauben an die eigene Überlegenheit gegen die Armen. Platon hingegen richtete ihn gegen sie selbst, indem er ihnen Pflichten zuschrieb. Die Lehre der Muße besagte, daß ein Reicher selbst dann nicht arbeitete, wenn er einer Tätigkeit nachging, die, von einem Armen ausgeführt, Arbeit genannt worden wäre. Platon forderte, daß die Reichen wirklich aufhörten zu arbeiten, und zu diesem Zweck führte er so viele Feste ein, wie das Jahr Tage hat. Platon nennt die reichen Müßiggänger seiner Zeit Oligarchen, denn er will sie nicht mit der Bezeichnung Aristokraten ehren. Er wirft ihnen vor, sich bereichern zu wollen, statt ihre Muße gut zu verwenden, welche sie aus Geiz lasterhaft vergeuden, indem sie arbeiten. Ihre Liebe zum Reichtum führt dazu, daß »man nie Zeit hat, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, als mit seinem Besitz; an diesen hat sich die ganze Seele des Bürgers so sehr gehängt, daß sie sich kaum um etwas anderes kümmern kann als um den täglichen Gewinn; jedes Wissen und jede Betätigung, die etwas dazu beitragen können, wird sich jedermann freiwillig und mit größter Bereitwilligkeit aneignen und sie ausüben, während er für alles andere nur Gelächter übrig hat59.« Damit muß Schluß gemacht werden, denn ein Bürger, ren oder zu Sklaven werden, sie werden den Schicksalsschlägen nur mit Autarkie begegnen können, wenn sie es lernen, Reichtum und Freiheit zu verachten. Alles in allem sind die wirklichen Adressaten der Stoiker die Privilegierten. 58 Für Platon, Der siebente Brief, 334 bc, beruht die Stärke einer Polis auf fünf Prozent des Staatskörpers, d. h. den älteren Staatsbürgern adliger Herkunft, die ein entsprechendes Vermögen besitzen. 59 Platon, Gesetze, 831 c. Die geizigen, arbeitsamen Müßiggänger werden in Platons Staat als besessene Puritaner dargestellt, die nur Raffen und Sparen im Sinn haben und alles übrige verdrängen. 46

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der dieses Namens würdig ist, »hat schon eine Aufgabe, die ihn genügend beschäftigt und für die es große Übung und zudem zahlreiche Kenntnisse braucht: er muß die allgemeine Ordnung in der Stadt wahren und aufrechterhalten, und das darf er nicht etwa nur als Nebenbeschäftigung betreiben60«. »Man soll kein Geschäft des Gewinnes willen betreiben61.« Ein- und Ausfuhr sollen auf ein Minimum beschränkt werden. Der junge Aristoteles urteilt nicht anders, wenn er sagt, daß in einer Polis kein Platz für Krämergeist sei. Sie brauche keine übertriebenen Gewinne zu erzielen und keinen großen Hafen zu besitzen; ein kleinerer Laden, wenn man so sagen darf, würde ihr reichen62. … Ganz gleich, ob es sich um den einzelnen Bürger oder um die ganze Polis handelt: Feind Nummer eins bleibt die Habgier, das heißt der Reichtum. Handelt es sich hier um eine Angst wie die der Vichyregierung vor einer wirtschaftlichen Entwicklung, welche der herrschenden Klasse bedrohlich würde? Keineswegs, die Vorstellung war weit beunruhigender; sie betraf die Autarkie im antiken Sinne des Wortes. Man mußte wirtschaftlich unabhängig sein oder richtiger, man durfte nicht von der Wirtschaft abhängen, denn mit dem Handel würden Habgier und Luxus kommen, und Luxus bedeutete politische Dekadenz. Diese Auffassung von Autarkie hatte einen sehr ge60 Platon, Gesetze, 846 d. 61 Ebenda, 847 d. 62 Aristoteles, Politik, 1327 a 30. Ein Text, den wir auf unsere Weise neuübersetzt haben, siehe Annales E.S.C., Nr. 70, 1979, S. 230. In diesem Artikel haben wir uns bemüht zu zeigen, daß ein sonderbarer Kontrast zwischen dem Ideal der Autarkie und den realen Tatsachen, die ihm recht wenig entsprachen, bestand. Diesen Kontrast konnten wir nicht erklären, da wir nicht verstanden hatten, welches Ausmaß jener verschlungene Kontinent, den wir recht und schlecht ›vorausgesetzte Militanz‹ oder ›Militanzgebot‹ getauft haben, im antiken Unterbewußtsein angenommen hat. Das Autarkieideal, das theoretische Verbot von Handel und internationalem Handelsverkehr, sind Teil dieses Kontinents. Die eigentliche Wirklichkeit war ganz anders; vgl. etwa L. Gernet, ›L’approvisionnement d’ Athènes en blé au Ve et IVe siècle‹, in: Mélanges d’histoire ancienne, Paris 1909, S. 269–391. 47

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ringen Einfluß auf das Wirtschaftsverhalten der Antike und einen sehr großen auf ihre Vorstellungswelt. So besaß sie ungefähr den gleichen Realitätsgrad wie die staatsbürgerliche Militanz, ja, man könnte sagen, daß es sich um die gleiche Vorstellung handelte: wer am Gewinn interessiert war, vernachlässigte das öffentliche Wohl. Will man also die Bedeutung des Militanzgebots in der antiken Gedankenwelt ermessen, so genügt es, davon auszugehen, daß es genauso wichtig war wie das Thema des Luxus und der Dekadenz, ein Thema, das von Solon63 und Platon bis zu Rousseau ganze Bibliotheken gefüllt hat, dazwischen ein halbes Jahrtausend römischer »Dekadenz« von Cato bis zu Elagabal oder Romulus Augustulus. Gestehen wir, daß dieses Thema uns schleierhaft bleibt: so wären Ungerechtigkeit, Unfrieden und Zuchtlosigkeit Früchte des Reichtums64, welche die Polis ihrem Ruin zutrieben? Denn, so heißt es, die Bereicherung setzt voraus, daß die Bürger eher ihr eigennütziges Interesse als das alleinige öffentliche Wohl im Sinn haben, und bekanntlich65 kann man nicht zwei Dinge gleichzeitig tun. Zudem macht der Reichtum jede Selbstkontrolle zunichte: die Reichen gehorchen nicht länger dem Gesetz, und Ehrgeiz verdirbt ihren Charakter66. Letztlich bewirkt der Reichtum Neid und innere Wirren67. Wie kommt es, daß man gut zwei Jahrtausende lang so denken konnte? Inwiefern waren 63 Solon, Fragmente, 3, Vers 5–10. Zur Gegenstandslosigkeit der Sittendekadenz in Rom gegen Ende der Republik vgl. F. Hampl, »Das Problem des ›Sittenverfalls‹«, in: Historische Zeitschrift, 1959, S. 497. 64 Platon, Gesetze, 678 bc. 65 Siehe Anmerkung 35. 66 Ein Übermaß an Reichtum erschwert die Hingabe an die Vernunft und die Staatsautorität. (Vgl. Aristoteles, Politik, 1295 b 5–20.) Lediglich die Armut gewährleistet Mäßigung, während der Reichtum die Zuchtlosigkeit fördert. (Vgl. Isokrates, Areopagiticus, 2.) Reich zu sein hieß für die Alten, sich einzubilden, alles sei erlaubt (dieser Doppelsinn steckt im lateinischen luxuria). 67 Vgl. Platon, Aristoteles sowie Polybios, VI, 57. 48

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die Vereinigten Staaten eine anfälligere Macht als das arme, tugendhafte Japan von 1941? Sind die armen Länder nicht von sozialen Konflikten betroffen? Weshalb sollte die kollektive Dimension, in der sich das Schicksal der Gesellschaften abspielt, auf der Tugend der Individuen beruhen? Sie besteht aus materiellen Kräften, Automatismen, Aggregatwirkungen, falschem Bewußtsein, und die »Tugend« eines jeden ist eher Konsequenz als Ursache – wofern sie denn überhaupt gesellschaftlich nützlicher als der Egoismus ist. Angesichts der antiken Predigten über die Dekadenz überkommt uns eine gewisse Trägheit; lassen wir die Reden Reden sein und verzichten darauf, in dieser allzu naiven Soziologie einem Sinn nachzuspüren. Wir werden hier nur Sinn finden, wenn wir die zwei oder drei Voraussetzungen herausarbeiten, die ihr zugrundeliegen. Die Gesellschaft gewinnt ihren Fortbestand nicht aus sich selbst heraus, sondern es muß eine Energie geben, die sie ständig neu erschafft, andernfalls kommt es zum Verfall. Diese Energie ist individueller und ethischer Natur, denn die kollektive sowie die materielle Dimension werden ignoriert. Diese Ethik ist eine Moral der Anstrengungen gegen die Versuchungen. Die Dekadenz der Poleis ist so natürlich wie der Alterungsprozeß68: keine beharrende Kraft, keine ›unsichtbare Hand‹, die die Gesellschaften unabhängig von den privaten Bestrebungen aufrechterhält und aus einer Ballung von Egoismen das Soziale schafft. Das Chaos ist natürlicher als die Ordnung, und lediglich durch Anstrengungen bleibt die Polis in gutem Zustand. Die Militanz wird nicht etwa von anonymen Kräften getragen, sondern bekanntlich unterscheidet sie sich von der Gesellschaft, insofern sie ein Handeln ist, welches die Gesellschaft zur Polis macht. Gäbe es kein

68 Vgl. Polybios VI, 9 und 57. Da die Menschheit fortbesteht, beginnt nach jedem Niedergang alles wieder von neuem, und insgesamt betrachtet folgen die Verfassungen zyklischen Entwicklungen. 49

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Gesetz, das die Militanten schult und zum Gehorsam zwingt69, so gäbe es keine Polis. Ohne das Gesetz bräche alles zusammen; das Gesetz begründet die Polis. Und so darf es den Sitten und dem Zustand der Gesellschaft weder zu sehr voraus sein, noch darf es ihnen hinterherhinken, wie es die Gesetze der Modernen vorsichtig tun. Es erschafft diese Gesellschaft, setzt sie instand und prägt die Sitten durch eine Schulung, die sogenannte Erziehung. Es kann in einem großen Abstand zur Gesellschaft stehen, um sie zu reformieren und zu revolutionieren. So gelten Platons Gesetze als utopische Träumereien, wenngleich ihre revolutionäre Kühnheit lediglich den Voluntarismus des antiken Gesetzgebers veranschaulicht. Dieser Voluntarismus galt ebenfalls für die Bürger, die dem Gesetz aktiv gehorchten. Außerhalb der Tugend eines jeden gab es kein Heil. Die antike Gedankenwelt erklärte die gesellschaftlichen Tatsachen auf der Grundlage der damaligen Kenntnisse, sie erklärte sie mittels des Individuums und der Moral, wenn nicht mittels der Götter und des Schicksals. Die Psychologie ist die Triebkraft der Politik. Aber wie sollte man erklären, daß der Mangel an Selbstbeherrschung die Habsucht hervorrief, aus der wiederum Zuchtlosigkeit und Ehrgeiz hervorgingen? Man wußte es nicht genau: von Platon bis Sallust wurden die Einzelheiten des Weges auf viele Arten und Weisen beschrieben, soweit sie nicht im Unklaren oder vielmehr im Selbstverständlichen belassen wurden. Als selbstverständlich galt, daß sich, sollte die ethische Spannung sinken70 , alle möglichen Laster auftun würden; die böse Natur käme zum Zuge. Dagegen gibt es nur eine einzige Vorbeugungsmaßnahme, die darin besteht, die Individuen an dem Gesetz zu schulen, welches die Sitten bestimmt. 69 Vgl. dazu eine der wichtigsten Seiten der Gesetze: 875 a-d. 70 Der Mensch ist zur Mühsal geschaffen; wenn er sich gehen läßt, droht Gefahr (vgl. Platon Gesetze, 779 a); der Mangel an Selbstbeherrschung ist die Quelle jedes Mangels an Disziplin und jedes Exzesses (vgl. ebenda 734 b); einzig die Selbstbeherrschung erlaubt, die Lust zu überwinden (ebenda 840 c). 50

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Waren aber diese Sitten schlecht, und wurde somit das Gesetz nicht mehr befolgt, oder war etwa das Gesetz selber schlecht, so gab es keine Heilung mehr. Die Militanz war eine kontinuierliche ethische Spannung, und dieser Voluntarismus durchtränkte alles, was die griechische und römische Gesellschaft zu sein glaubte und sein wollte. Vom klassischen Athen bis zu Quintilian schulte beispielsweise die Erziehung das Kind darin, sich der guten Ordnung (eutaxia) zu unterstellen und sich vor der Verweichlichung zu hüten. Es gab eine griechisch-römische Zwangsvorstellung von Virilität. – Der Einfluß der militanten Moral machte nicht einmal vor Angst und Bitternis halt. Wenn sie Alpträume vom völligen Zusammenbruch der Polis hatten, träumten die Bürger diese Katastrophe als Dekadenz, als gesellschaftlichen Muskelschwund. Sie träumten nicht etwa vom Einbruch der Schmarotzer, Nestbeschmutzer und Anarchisten, wie es die eher passiven Bürger der Polizei- oder Wohlfahrtstaaten tun. Kurzum, sie fürchteten sich vor sich selbst, und noch die Oppositionellen unter ihnen taten das. So hat es von Platon bis zum hl. Hieronymus Menschen gegeben, die sich in der realen Gesellschaft wie im Exil fühlten, sie für schlecht hielten und sich darüber grämten. So wie André Breton, der sich von der bürgerlichen Gesellschaft lossagte, lebten sie ohne Unterlaß im »Zustand einer gewissen Wut«. Versuchten sie, Beweggründe für ihr Unbehagen zu formulieren, so beanstandeten sie nicht etwa den Abstand zwischen dem Ideal der wirklichen Befreiung und den kümmerlichen bürgerlichen Freiheiten, sondern sie kritisierten den Abstand zwischen der idealen Militanz, (wie sie in der guten alten Zeit bestanden haben sollte) und der sozialen Wirklichkeit. Im Militanzgebot vermischte sich die ethische Anforderung mit dem politischen Konservatismus. Dieses Unglück des militanten Bewußtseins begleitete Platon vom Kriton bis zu den Gesetzen sein ganzes Leben lang. Das Ideal der antiken Demokratie bestand darin, daß die Bürger 51

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ihre Sklaven seien. Ihre Entwicklungsbewegung verlief umgekehrt zur unsrigen. Die modernen Zeiten haben einen Spielraum der Freiheit und des Privatlebens gegen den Staat errungen, während die Athener nur soviel Freiheit besaßen, wie die Polis ihnen ließ. Nur in ausdrücklich bestimmten Fällen greift ein moderner Staat in die Moralität seiner Bürger ein. Hingegen war das Aufsichtsrecht einer Polis über das Privatleben der Bürger unbegrenzt, obwohl es kaum ausgeübt wurde. Als er die Freiheit der Alten mit der der Modernen verglich, bemerkte Benjamin Constant, daß zwar die Polis frei, aber die Bürger ihre Sklaven waren. Jellinek71 hat gezeigt, daß dies übertrieben ist: »Dem Individuum war im antiken Staate, wie im modernen, eine Sphäre freier, vom Staate unabhängiger Betätigung gegeben, aber zum Bewußtsein des rechtlichen Charakters dieser staatsfreien Sphäre ist es im Altertum nicht gekommen«; mit anderen Worten, es sei der Antike nicht gelungen, die Freiheiten formal zu sichern. Könnte es sich da nicht, statt um eine Lücke oder einfache Unkenntnis, vielmehr um das Symptom eines radikalen Unterschieds handeln? Wie Menzel in seiner denkwürdigen Studie über den Prozeß des Sokrates erklärt, »steht doch fest, daß diese Freiheit nur eine faktische, keine rechtliche gewesen ist [und], daß sie mindestens nicht als subjektives Recht gegenüber dem Staat empfunden worden ist72«. Obwohl sie oft verletzt und zunichte gemacht werden, gibt es heutzutage Menschenrechte. In Griechenland hingegen bestand das Kontrollrecht der Polis, und dieses Recht war nichts anderes als das Korrelat des selbstverständlichen Militanzgebots. Der Bürger war kein Schaf in einer Herde von Beherrschten, sondern ein Werkzeug der Polis, welche die private Moralität von ihm erwartete, die unsere Staaten von ihren Verantwortlichen erwarten. Das Kontrollrecht besaß also den gleichen Wirklichkeitsgrad wie 71 Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, Berlin 1922, S. 307. 72 Adolf Menzel, Hellenika, Wien 1938, S. 59. 52

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der militante »Diskurs«: es wurde selten praktisch umgesetzt, wie es etwa im Prozeß des Sokrates geschah. Freiheiten gegen die Polis einführen wäre undenkbar und unmoralisch gewesen. Es war schon zuviel, daß die Polis auf Verbote zurückgreifen und diese im einzelnen spezifizieren mußte. Gute Bürger hätten keine solch genauen Anordnungen gebraucht, denn ihr Gewissen hätte genügt, ihnen in jedem Falle zu befehlen, was zu tun und was zu unterlassen wäre. Darüberhinaus zieht Isokrates den geschriebenen Gesetzen die staatsbürgerliche Moralität vor. Nur Ignoranten »meinen, die Menschen seien dort am besten, wo die Gesetze am genausten bestimmt seien« – als ob sich die Moral per Dekret verordnen ließe! »Doch nicht auf diese Weise schreitet die Tugend voran; sie beruht auf der täglichen Lebensweise; zahlreiche und genau bestimmte Gesetze sind das Zeichen dafür, daß ein Staat schlecht eingerichtet ist, so daß man den Vergehen Schranken setzen muß, und zwar viele; folgt man hingegen dem rechten Weg der Bürgertugend, so füllt man nicht die Hallen mit Gesetzestexten, sondern trägt das Gefühl der Pflicht im Herzen73.« Kurz und gut: Wenn die Bürger sich selbst regieren können und ihr Eifer für das Gesetz ihr Betragen bestimmt, bedarf es keiner Schranken mehr. Wie aber, wenn ihr Eifer nachließe? In diesem Fall bestände die einfachste Lösung darin, daß die Polis mit dem strengen Auge des Herrn direkt in ihr Gewissen blickte, statt sie recht und schlecht mittels Schranken zu leiten. Es liegt auf der Hand: das Militanzideal, das sich gern inquisitorisch zeigte, und die laxeste Wirklichkeit, in der man sich darauf beschränkte, dem Gesetz Achtung zu verschaffen – dies sind mögliche Machtmodalitäten, zwischen denen das griechische Denken schwankte. Die beste Modalität bestände darin, daß die Polis direkten Einfluß auf die Seelen ihrer Werkzeuge gewänne, statt sie von außen mit Befehlen und Verboten regieren zu müssen. Würden die Bürger vollkommen im Sinne der Regel, der eutaxia 73 Isokrates, Areopagiticus, 16. 53

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erzogen, so trüge jeder das Gesetz der Polis in seinem Herzen, und diese wäre nicht gezwungen, eine ganze Bürgerherde in Bausch und Bogen zu regieren und sich darauf zu beschränken, die Abweichungen des Einzelnen rückwirkend zu korrigieren, sondern jeder Bürger folgte dem rechten Wege. Da dieses Ideal jedoch kaum jemals verwirklicht wird, weil die Erziehung niemals tadellos ist (deshalb wird auch soviel von ihr geredet), muß die Polis in Fällen, wo das Gewissen aussetzt, einschreiten: sie überwacht die privaten Sitten aller. Warum jedoch sollte man sie überwachen, statt die Staatsstrenge den Vergehen vorzubehalten, die einem Dritten oder der Gemeinschaft der Bürger schadeten? Was gingen den Staat die privaten Laster an? Für die Griechen war es selbstverständlich, daß das Privatleben die Gemeinschaft nicht kalt lassen konnte. Sollten sie erklären weshalb, so erwiderten sie, vorbeugen sei besser als heilen: bekanntlich erzeugten Luxus und Reichtum zuchtlose Charaktere, und auch der Hang zur Veränderung fußte auf Gewohnheiten im Privatleben. So empfahl es sich, eine Behörde zu schaffen, die Leute im Blick behalten sollte, deren Lebensart die Verfassung gefährdete74, empfahl es sich, die schlechten Lehrer davon abzuhalten, die Jugend zu verderben75. Niemand erhob sich gegen dieses Prinzip. Weder Platon noch Xenophon forderten zugunsten des Sokrates Gesinnungsfreiheit ein, denn im Prinzip galt ihnen der Atheismus76 als Verbre74 Aristoteles, Politik, 1288 b 20. 75 Zur juristischen Grundlage der Anklage gegen Sokrates, den man bezichtigte, die Jugend zu korrumpieren, vgl. Menzel, a. a. O., S. 26. Es ist anzunehmen, daß die Korruption nicht nach ihren tatsächlichen Folgen (d. h. nach den nachgewiesenen Taten der verdorbenen Jugendlichen), sondern nach den Unterrichtsinhalten bemessen wurde; die Korruption war also ein Vergehen, das man heutzutage unter Manipulation fassen würde (aber dieser Ausdruck wäre für die Griechen nichtssagend). 76 »Sokrates hat nicht dieselben Götter wie die Polis.« Zum Theous nomizein vgl. Menzel, a. a. O., S. 17, und Wilhelm Fahr, »Theous nomizein«. Zum Problem der Anfänge des Atheismus bei den Griechen, Hildesheim 1969. Fahr zeigt (S. 156), daß Platon die Bedeutung dieses Ausdrucks ent54

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chen, und daher plädierten sie ausschließlich dahin, daß Sokrates kein wirklicher Atheist wäre. Denn wäre er es gewesen, so hätte Platon als erster ihm den Giftbecher gereicht. In der Polis der Gesetze erwartet die Gottlosen die Todesstrafe. Ihre Bürger leben unter ständiger Aufsicht und umgeben von Denunzianten, die Platon keineswegs Sykophanten nennt. In den realen Poleis wurden ab und an Beamte eingesetzt, die sich mit der privaten Moral zu beschäftigen hatten, so die Ephoren, Gynaikonomoi und Censoren in Rom und der Areopag in Athen. Es ist kaum verwunderlich, daß die Tätigkeit dieser Inquisitoren symbolischer Natur blieb oder sich darauf beschränkte, Exempel zu statuieren. Ein alter Archont wurde aus dem Areopag ausgeschlossen, weil er im Wirtshaus77 gespeist hatte, was einen äußerst lockeren Lebenswandel anzeigte78. Als schlechter Bürger galt auch, wer sein Vermögen zu seinem Vergnügen verschwendete79. Ein Athener, der seine Habe mit Kurtisanen verschleuderte, wagte es, der Zensur des Areopags zu entgegnen,

sprechend seinen eigenen religiösen Anschauungen verändert hat. Für die Griechen bestimmte sich die Religion nicht nach dem Kriterium eines Glaubensbekenntnisses, in dem man bekräftigt, an die Götter zu ›glauben‹, sondern nach dem Kriterium der kultischen Praktiken. Selbstverständlich setzte die Ausübung den Glauben voraus, so wie die Handlung die Absicht voraussetzt. 77 Vgl. Athenaios XIII, 566 f. D. h. Hyperides, The Orations against Athenogenes and Philippides, hrsg. von S. G. Kenyon, London 1893, fr. 138. 78 Isokrates, Areopagiticus, 18. In Rom untersagten die ›guten Kaiser‹, Feinde der Ausschweifung, den Gastwirten den Verkauf von Speisen. 79 Eines der Gesetze Solons belegte die, die ihr Vermögen verschwendeten, mit der Atimie (Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte). (Vgl. Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 1, 55). Die römischen Zensoren bekundeten dieselbe Strenge gegenüber Rittern, die als öffentliche Persönlichkeiten gehalten waren (wie es die griechischen Bürger theoretisch waren), größere Sittenstrenge zu üben (vgl. Quintilian, Die Ausbildung des Redners, VI, 3, 44 und 74). Abdera bestrafte den Philosophen Demokritos, weil er sein Vermögen verschleudert hatte. (Vgl. Athenaios 168 b). 55

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daß er sein Geld verwenden könne, wie es ihm beliebe80. Dieser Verfechter eines Rechts auf Privatleben entbehrte somit faktisch aller Eigenschaften eines Bürgers, und er wurde zum Spion der Könige von Makedonien, deren Protektorat Athen damals war. Wenn Aristoteles zu Recht erklärt, daß der Tyrannis die private Moral gleichgültig sei81, so bezieht er sich darauf, daß ein Tyrann keine Mitbürger, sondern nur Sklaven hat. Konnten hingegen die Athener gegenüber der Unfrömmigkeit eines ihrer Genossen gleichgültig bleiben? Die Irreligiosität eines Sokrates tastete lediglich die Pflichten der individuellen Moral an (denn es gab keine Staatsreligion, die die Dinge anders geregelt hätte). Allerdings war einem Sprichwort zufolge »jeder, der sich für eine Sache einsetzt, ein Mensch der Öffentlichkeit«, und so wurde Sokrates verurteilt. Er hätte flüchten können, doch in seinem Traum legten die Gesetze seines Landes ihm nahe, dies zu unterlassen. »Denn sprich, welche Beschwerden hast du gegen uns [die Gesetze] und die Stadt, daß du suchst, uns zugrunde zu richten?82« Einzig die Gesetze erhalten die Polis aufrecht83. Sokrates starb lieber eines unverdienten Todes, als daß er ein Beispiel für den Ungehorsam gegen die Gesetze abgegeben und somit vernichtet hätte, was in seinen Augen die Stützen seines Vaterlands ausmachte. Man kann ihn mit jenen alten Bolscheviken vergleichen, die nach einem Scheinprozeß lieber aus Parteitreue starben, als daß sie die Organisation, deren Hauptstärke in der Disziplin lag, erschüttert hätten. Das mag

80 Athenaios, IV, 167 e, 168 a und 168 ef. Den Vorwürfen eines Zensors entgegnete ein römischer Ritter ähnliches: »Ich dachte, daß mein Vermögen mir gehöre« (Quintilian). 81 Aristoteles, Politik, 1319 b 30. 82 Platon, Kriton, 50 ab. 83 Aristoteles, Rhetorik, I, 4, 1360 a 19; vgl. auch Politik, 1310 a 35: »Denn im Gehorsam gegen die Verfassung zu leben, dar man nicht als Knechtschaft auffassen, sondern als Rettung der Verfassung« (der Polis und der Bürger); vgl. auch Platon, Gesetze, 715 d. 56

kannten die griechen die demokratie ?

erhaben sein. Und wenn dem nicht so wäre? Dann wäre es aufschlußreich. Und zwar aufschlußreich für das Selbstverständnis der antiken Politik. Wenn man sich fragt, worin das Interesse des Staats an der individuellen Moral besteht, so gab und gibt es tausend falsche Antworten von seiten der politischen Denker: Angst vor dem Skandal und davor, daß das Beispiel Schule machen könnte, Schutzpflicht gegenüber den Individuen, magische Angst vor den Folgen der Unfrömmigkeit für die Gesamtheit, die Vorstellung, daß die persönliche Moral das schwächste Glied der Kette sei, und daß, wenn dieses Glied zerbreche, das Netz der Kollektivität sich auflösen werde … Aber was liegt an diesen schlechten Begründungen: die Rationalisierungen zählen weniger als die Kraft, die an sie glauben macht und sie unablässig neu entstehen läßt. Diese Kraft nannte Bergson gesellschaftliche Pflicht, denn er ordnete die moralische Energie den Zwängen von seiten der anderen, der Gesellschaft zu, und nicht einem kantischen kategorischen Imperativ. Die öffentliche Meinung kann nicht umhin, sich über die privaten Laster zu empören. Wenn sie sich als politisch ausgibt, verleiht sie ihrer moralischen Empörung den Anstrich eines politischen Vernunftsatzes, und wenn sie die weltliche Macht besitzt, verfährt sie selbst dann streng, wenn das Unrecht des Angeklagten in Dingen besteht, die lediglich in seinem Kopf vorgehen. Es gibt keine ursprüngliche Spezifik des Politischen. Die ursprüngliche Nichtunterschiedenheit zeigt sich in Platons Gesetzen, in denen Moral und staatsbürgerliche Pflichten denselben Bereich abdecken. Der Staat diktiert die Privatmoral, solange er nicht von der Gesellschaft und der öffentlichen Meinung unterschieden ist. Fragt sich also nur, in welchem Fall die öffentliche Meinung über die weltliche Macht verfügt. Auch hier treffen wir auf die beiden Modalitäten von Autorität, zwischen denen die Griechen schwankten. Wenn die Macht auf unmittelbarem Wege ausgeübt wird, hat 57

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die öffentliche Meinung das Sagen, und die Polis unterscheidet sich nicht von der Gesamtheit ihrer Mitglieder. Regieren ist kein Spezialberuf mit eigenen Maximen und eigenem Zunftgeist, denn dieselben Individuen regieren über die Polis, das heißt über sich selbst, und bilden zugleich die öffentliche Meinung, Quelle der Pflicht, die allzeit dazu bereit ist, den anderen einzuschränken, und Abweichungen als persönliche Herausforderung zu betrachten. So brandmarkt die Polis den Mitbürger, der einen Skandal verursacht, mit dem gleichen Recht, mit dem sie sich gegen einen feindlichen Staat entzürnt. Nehmen wir hingegen an, daß ein Sonderorgan die Macht ergreift oder man sie ihm überläßt, so wird diese Rollenverteilung die Entstehung eines Sonderbereichs bewirken, desjenigen der Politik, mit dem ein neuer Typ von Autorität auftritt. Für die Regierungsmannschaft sind die Mitbürger keine Ebenbürtigen mehr. Um ihr Privatleben kümmert sich der Nachbarklatsch, und ihre möglichen Verfehlungen sind keine Staatsangelegenheit, da sie das Fortleben der Staatsbürgerherde nicht gefährden. Die Politik kennt nur noch das kollektive Interesse. Es liegt wenig daran, daß die Schäflein sich austoben, es kommt vielmehr darauf an, daß nicht zwei unter ihnen sich schlagen und Unordnung in die Reihen bringen. Nur die öffentliche Ordnung und das öffentliche Wohl sind ausschlaggebend, der Rest gehört zum Privatleben. Zwar geht man nicht so weit, diesem das förmliche Recht auf Freiheit zuzugestehen, aber man geht vielleicht noch weiter, indem man es einfach vergißt. Verständlicherweise wurde bald die eine, bald die andere Form von Autorität bevorzugt, denn ihre jeweilige Wirksamkeit war praktisch die gleiche, und in unserer heutigen Zeit haben wir erlebt, wie diktatorische Systeme zwischen dem Puritanismus und einer angeblich entpolitisierenden Sittenlockerung schwankten, ohne daß sich ihre Macht dadurch verringert oder vergrößert hätte. Hingegen sind die Affekte, die die beiden Modi erzeugen, und die Anstrengungen, die sie kosten, unterschiedlich. Für Berufspolitiker ist die Kontrolle über das Leben 58

kannten die griechen die demokratie ?

jedes einzelnen weiter nichts als unnützer Eifer, auf den sie stillschweigend verzichten, denn die Politik spielt sich auf der Ebene der Masseneffekte ab. Wenn gleichwohl ein offizieller Puritanismus angesagt ist, so dient dieser weniger als Regierungsmethode denn zur Information und Einschüchterung. Man unterbindet lockere Sitten, um anzudeuten, daß man ebenfalls subversive Ideen unterbinden wird und daß jeder Bürger sich als Werkzeug des Staates zu empfinden hat, eines Staates, welcher das Bewußtsein seiner Mitglieder ausmacht. Die Denker hingegen nahmen den Puritanismus ernst; Platon, Isokrates und Aristoteles zogen die Methode der Bewußtseinskontrolle derjenigen der globalen Führung der Herde vor. Sie warfen der athenischen Demokratie vor, die erstere fallengelassen zu haben, um jeden nach seinem eigenen Gutdünken leben zu lassen84, denn es ist menschlich, einem politischen System, das man verabscheut, eine unvermeidliche Entwicklung anzulasten. Die Intellektuellen sind Angsthasen und Proselyten. Da sie weniger Gespür für das Herdenhafte haben als Politiker, regen sie sich über eine vereinzelte Unordnung auf und nehmen sie für symptomatisch. In ihrem ethischen Eifer haben sie Schwierigkeiten, Politik und individuelle Moral zu unterscheiden und halten die letztere für eine politische Notwendigkeit. Die öffentliche Meinung zeigt dieselben Reflexe. Sie setzt die Regierung der staatsbürgerlichen Herde mit der erzieherischen Kontrolle einer Hausgemeinde gleich und fordert eine strenge Autorität85. 84 Aristoteles, Politik, 1310 a 30 und 1317 b 10; Isokrates, Areopagiticus, 37 und 20 (vgl. Aristoteles Politik, 1290 a 25; Platon, Der Staat, 557 b). 85 Die Immoralität ist für die Polis entweder eine unmittelbare Bedrohung oder ein beunruhigendes Symptom. Ohne staatliche Überwachung werden die Sitten korrumpiert. (Vgl. Isokrates, Areopagiticus, 18.) Wenn jeder nur nach seinem eigenen Kopf handelt, so ist dies ein Zeichen dafür, daß die Polis sich auflöst und die Bürger so unabhängig voneinander sind, wie die Poleis unter sich. (Vgl. Aristoteles, Politik, 1280 b 5.) Das ständige Thema der Sittenunordnung in der Antike ist auf eine natürliche Illusion zurückzuführen. Die Politik wird lediglich als ständige Kontrolle verstanden, die 59

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So hat die Antike immer wieder ein Ideal von Militanz auferstehen sehen, das wenig mit ihrer wirklichen Politik zu tun hatte, außer dort, wo Reformer versuchten, dies anspruchsvolle Ideal praktisch umzusetzen, denn in bewegten Zeiten nahm man das staatsbürgerliche Ideal buchstäblich. Sokrates hatte das Pech, in eine dieser Zeiten des Eifers zu geraten. Allerdings war er über das Ideal als solches einer Meinung mit denen, die ihn töteten. Zum Schluß ein Wort von René Char: Die Geschichte der Menschen ist die lange Aufeinanderfolge der Synonyme ein und derselben Vokabel. Ihr zu widersprechen ist eine Pflicht.

entweder von der anerzogenen moralischen Gesinnung eines jeden oder von der Staatsautorität herrührt. Nun läßt sich leider feststellen, daß diese Kontrolle kaum besteht, und daraus wird geschlossen, daß die Leute diesen Zustand sicherlich dazu ausnutzen werden, sich schlecht zu benehmen. In Wirklichkeit verweist das Thema der Dekadenz auf die Irrealität des Ideals. 60

Christian Meier

BÜRGER-IDENTITÄT UND DEMOKRATIE

Man sagt immer der Mensch, aber man vergißt seine Mutationen. Gottfried Benn

Reinhart Koselleck herzlich zum 23 . 4 . 88 gewidmet

W

ie war die griechische Demokratie möglich1? Das ist zunächst eine Frage nach ihrer Vorgeschichte. Und die ist außerordentlich interessant und schwierig zu ergründen, als Abweichung von aller Regel der Kulturbildung2. Doch daneben stellt sich ein anderes Problem, wie nämlich die Griechen, allen voran die Athener, in die Lage kamen, eine solche Ordnung, wenn sie einmal bestand, auch in Gang zu halten. Wie wurde bewirkt, daß sich eine genügend große Zahl von Bürgern regelmäßig bereitfand, die außerordentlich zeit- und kraftraubende politische Tätigkeit immer neu, oft täglich, jedenfalls in sehr kurzen Abständen auf sich zu nehmen? Denn es waren direkte Demokratien; andere hätten damals gar nicht entstehen können. Sie beruhten darauf, daß die Bürgerschaften den Beamten wenig überließen und zugleich darauf 1 Die vorliegende Arbeit ist im Januar/Februar 1988 geschrieben worden. Die These ist im Kern älter (vgl. ›Die politische Identität der Griechen‹, in: Identität [Poetik und Hermeneutik 8], Hsg. O. Marquard / K. Stierle, München 1979. 371–406, ›L’Identité Politique des Athéniens: État ou »polis«?‹, in: Ch. Meier, Introduction à l’Anthropologie Politique de l’Antiquité Classique, Paris 1984. 7–26). Sie ist hier z. T. neu begründet und weiter ausgebaut worden. Besonderen Dank schulde ich der Kritik von Pauline Schmitt-Pantel, die sehr nachdrücklich und überzeugend auf die Rolle des partage bei den Griechen hingewiesen hat. Sie hat mich dazu angeregt, neben den intellektuellen stärker auf die ›vitalen‹ Antriebe zu achten, aus denen die starke Bereitschaft zu einem weitgehenden, regelmäßigen politischen Engagement erwuchs. Vgl. P. Schmitt-Pantel, La Cité au Banquet. Histoire des Repas Publics dans les Cités Grecques. Rom 1992. Auch: ›Les Practiques Collectives et le Politique dans la Cité Grecque‹, in: F. Thelamon (Hsg.), Sociabilité, Pouvoirs et Société, Rouen 1987. 279 ff. 2 Vgl. dazu vorläufig Ch. Meier, ›Die Griechen: die politische Revolution der Weltgeschichte‹. In: Saeculum 33, 1982, 133 ff. Sowie: ›Die Entstehung einer autonomen Intelligenz bei den Griechen‹. In: Ch. Meier, Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers. Berlin 1989. 63

christian meier

achteten, daß der Rat, ohne den es nicht ging, relativ zahlreich und möglichst abwechselnd besetzt wurde. In Athen kam ein Ratsmann auf gut 60 Bürger. Möglichst viele Entscheidungen sollten in der Volksversammlung gefällt werden. Nicht nur die Entstehung und die Institutionen der Demokratie wollen erklärt werden, sondern auch das erstaunliche politische Engagement in den griechischen Städten. Es ist nur zu verstehen als Ausdruck einer besonderen Weise, Mensch zu sein, die sich in den griechischen Bürgerschaften entwickelt haben muß. Aus welchen spezifischen Antriebsstrukturen das Engagement je gegenwärtig erwuchs und welche Veränderungen in der anthropologischen Dimension ihm vorauflagen, ist zu fragen. Diese besondere Ausprägung der griechischen Bürger hatte ihr Zentrum in einer sehr eigenartigen Form kollektiver Identität, der politischen oder anders gesagt: der Bürger-Identität. Sie war am weitestgehenden ausgeprägt in der attischen Demokratie seit etwa 461 v. Chr. Doch läßt sie sich schon für das Athen des Kleisthenes, das letzte Jahrzehnt des sechsten Jahrhunderts erschließen. Man bezeichnet die politische Ordnung, die damals entstand, am besten mit einem Ausdruck der Zeit: Isonomie. Isonomien aber kamen in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts verschiedentlich in Griechenstädten auf3. Da wir von denen aber nicht viel wissen, müssen wir uns auf Athen konzentrieren. Im Begriff Identität läßt sich jene Summe von Faktoren am besten begreifen, die es bedingte, daß die Athener in einem ganz ungewöhnlichen Ausmaß Bürger, also in der Politik ihrer Stadt engagiert waren. Das bedeutet zugleich, daß das Politische unter ihnen damals etwas war, was es sonst nicht zu sein pflegt: nämlich das wichtigste, das verbindende Element des Lebens dieser

3 So etwa in Aigina, Argos, Chios, Korinth, Milet, Ephesos u. a., Belege bei G. Busolt / H. Swoboda, Griechische Staatskunde, München 1926. 64

bürger-identität und demokratie

Bürgerschaft. Unter solchen Umständen kann Politik nicht einfach nur Politik sein, sondern sie ist wesentlich mehr. Das griechische Wort politiká übersetzen wir gewöhnlich mit »politische Angelegenheiten«. Aber es heißt genau genommen »bürgerliche Angelegenheiten«, denn politikós ist das Adjektiv zu polítēs, Bürger4. Nur daß eben Politik damals so sehr Bürger-Sache wie Bürger-Sache Politik war. Was das bedeutet, ist schwer zu begreifen, aber man versteht nichts von der athenischen Demokratie, wenn man es sich nicht klarmacht.

Zwei Zeugnisse

In der Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides lesen wir in Hinsicht auf die politischen Angelegenheiten: »Denn wir sind die einzigen, die jemand, der gar nicht an diesen Dingen Anteil nimmt, nicht für einen ungeschäftigen, sondern für einen unnützen Bürger ansehen5.« Das bedeutete, wie Perikles auch gerade zuvor erklärt hatte, daß sich in Athen dieselben Männer sowohl um die häuslichen wie um die bürgerlichen Angelegenheiten kümmerten. Man hatte also seine Arbeit und nahm zugleich sehr stark an der Politik teil. Anderswo dagegen, zumal in Oligarchien, widmeten sich die einen fast nur dem einen, die andern dem anderen. Perikles fährt fort, während jeder Athener für sich einer andern Tätigkeit nachgehe, seien sie allesamt doch bemüht, die politischen Angelegenheiten in hinlänglicher Weise denkend zu erfassen. Eben das ist für ihn die Konsequenz daraus, daß sie alle in der Politik engagiert sind. Es sei ihre Art, die Aufgaben der 4 Siehe den Artikel ›Politik‹ im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Band 7. 5 Thukydides 2,40,2. Die Stelle ist sehr schwer zu übersetzen, ich habe mich an die Übersetzung von Regenbogen gehalten, nur statt »ruhig«, wie es dort heißt, von Schadewaldt die wörtliche Übersetzung »ungeschäftig« übernommen. 65

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Stadt recht zu beurteilen, mindestens zu bedenken. Deswegen hielten sie auch auf gründliche öffentliche Beratung aller politischen Dinge. Perikles bezeugt mithin speziell und allein für Athen eine starke Erwartung auf Teilnahme an der Politik. Nur dort wird, wer sich ihr entzieht, für unnütz gehalten. Zwar stehen die Aussagen der Gefallenenrede für die moderne Forschung unter dem Verdacht, allzu sehr zu idealisieren6. Wieweit das wirklich berechtigt ist, ist die Frage. Doch spielt dieses Problem in unserm Zusammenhang keine besondere Rolle. Interessanterweise besitzen wir aus der gleichen Zeit eine Äußerung des Demokrit von Abdera, die ganz Ähnliches besagt, sich freilich kaum speziell auf Athen beziehen kann, vielmehr auf die Griechen insgesamt oder wenigstens auf viele ihrer Städte. Der Philosoph stellt dort eine Betrachtung darüber an, wie man sich gegenüber den verschiedenen Anforderungen, denen man ausgesetzt ist, verhalten soll. Es sei nicht gut für die chrēstoí, die eigenen Dinge zu vernachlässigen, um Anderes zu tun; dann pflege es nämlich um die eigenen schlecht zu stehen. »Wenn aber jemand in den öffentlichen Angelegenheiten (ta dēmósia) nachlässig ist, gerät er in schlechten Ruf, auch wenn er weder stiehlt noch Unrecht tut. Besteht doch selbst für den, der weder nachlässig ist noch Unrecht tut, Gefahr, in schlechten Ruf zu geraten und fürwahr auch (etwas) zu (er)leiden7.« Es sei

6 Vgl. etwa die sehr kritische Interpretation von H. Flashar, Der Epitaphios des Perikles. Seine Funktion im Geschichtswerk des Thukydides. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie 1969. Für einen Versuch, selbst recht unwahrscheinlich klingende Aussagen als begründet nachzuweisen (am Beispiel von 2,41,1) Ch. Meier, Politik und Anmut, Berlin 1985. 7 Fragment 253, übersetzt entsprechend dem bei Diels/Kranz gegebenen Text (mit Ergänzung von Meineke). Vgl. J. Burckhardt, Griechische Culturgeschichte 4. München/Basel 2012. 241: »Der unendliche heruntergefressene Ärger und Jammer des ›Bürgers‹ muß Unzählige krank gemacht haben. Und dabei sollte man beständig von sophrosýnē duften«. 66

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unvermeidlich Fehler zu begehen, Verzeihung aber dafür zu erhalten, sei nicht leicht. Die Allerweltsweisheit, auf die diese Erwägungen hinauslaufen – daß man’s nämlich falsch machen könne, wie immer man’s anstelle – mindert den Zeugniswert der Quelle nicht. Im Gegenteil, gerade die Weise, in der die Gelegenheiten, in schlechten Ruf zu geraten, abgestuft werden, um schließlich in eine Selbstverständlichkeit zu münden, macht die Aussage unverdächtig: es bestand nicht nur in Athen eine kräftige Erwartung, daß die Bürger sich um die öffentlichen Angelegenheiten kümmerten. Nicht-Beteiligung an der Politik war auch sonst nicht einfach eine neutrale Feststellung, sondern es lag ein Vorwurf darin. Und er war so schwer, daß daraus ein »Erleiden« erwachsen konnte. Diels und Kranz übersetzen: »in körperliches Leiden kommen«, und das ist wohl richtig. Man sieht jedenfalls nicht leicht, was für ein Leiden sonst gemeint sein kann; denn die Alternative, daß man buchstäblich Gewalt zu erleiden gehabt hätte, ist doch wohl unzutreffend. So konnte die Vernachlässigung der öffentlichen, der allgemeinen Angelegenheiten geradezu psychosomatische Konsequenzen haben. Es bleibt mindestens ein Unterschied zwischen Perikles’ und Demokrits Feststellung. Perikles spricht von allen Bürgern, auch den Armen, Demokrit zunächst nur von den chrēstoi, was im ethischen, aber auch im ständischen Sinne die »Guten« heißt, sich also auf den kleineren Kreis der Wohlhabenden beziehen wird. Da man damals außerhalb Athens für politische Tätigkeit kaum Diäten gezahlt haben wird8, können jedenfalls nur diejenigen gemeint sein, denen ihr Vermögen eine Beteiligung an der Politik erlaubte. Fraglich ist es dagegen, ob Perikles in Hinsicht auf die Städte außerhalb Athens etwas anderes behauptete als Demokrit. Das wäre der Fall, wenn er das Wort »ungeschäftig« (aprágmōn) im positiven Sinne gebraucht hätte (wie das später 8 W. Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980. 56,19. 67

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zumeist geschieht). Aber die Interpretation seiner Äußerung läßt es – vielen Einwänden zum Trotz – als ebensowohl möglich erscheinen, daß er einen leichten Vorwurf auch darin mitschwingen ließ9. Das bedeutete, daß der Tadel des »Unnützen« die Steigerung eines Tadels der »Ungeschäftigkeit« darstellte. Dann wären die beiden Zeugnisse gut vereinbar. Nicht-Beteiligung an der Politik war auch anderswo ein Negativum, nur nicht in solchem Ausmaß wie in Athen. Insgesamt, so scheint sich zu ergeben, herrschte bei den Griechen eine kräftige Erwartung auf Teilnahme an der Politik, freilich unterschiedlich je nach dem Kreis derer, die etwa die vollen politischen Rechte besaßen (in der Oligarchie andere als in der Demokratie), auch nach dem Kreis derer, die praktisch die Politik zu machen pflegten. Im Athen der perikleischen Zeit war dieser Kreis mit Abstand am größten gezogen. Dort waren zugleich die Erwartungen mit Abstand am stärksten. Wenn schon Demokrit von möglichen psychosomatischen Konsequenzen für den Fall spricht, daß man sich den Erwartungen entzog: wieviel bedrohlicher müssen sie dann in Athen gewesen sein! Die beiden Zeugnisse werden durch die Schlüsse bestätigt, die wir aus den Institutionen der griechischen Isonomien und zumal der attischen Demokratie ziehen können.

9 Die Zusammenstellung von Textstellen bei Gomme (Kommentar zur Stelle) zeigt in der Tat, daß der Ausdruck aprágmōn in den meisten Quellen mit positiver Wertung benutzt wird. Allein, das besagt keineswegs, daß dem immer und überall so gewesen sein muß – denn das ist eine Frage der Wertung durch den Einzelnen (vgl. L. B. Carter, The Quiet Athenian. Oxford 1986. 192 u. ö.), eine Frage vermutlich auch der Zeit, in der (oder für die) solch ein Wort gebraucht wird. Es ist also keineswegs entschieden – und ergibt sich auch nicht aus der Interpretation der Stelle –, daß Perikles das Wort im positiven Sinne gebraucht hätte. 68

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Veränderung der »Zugehörigkeitsstruktur« zur Zeit des Kleisthenes

Im Jahre 508/7 v. Chr. hat Kleisthenes10 in Athen einige Reformen eingeführt, die die politische Organisation der attischen Bürgerschaft erheblich veränderten. Es entstand eine Ordnung, die – vom Ausgang betrachtet – als Vorstufe der Demokratie11 erscheint. Sie war es nicht notwendig, denn das Aufkommen der Demokratie war aufs stärkste durch die Ereignisse der Folgezeit – den Perserkrieg und die Rolle Athens in dessen Fortsetzung – bedingt. Immerhin enthielt die kleisthenische Ordnung – wie diejenigen der damaligen Isonomien überhaupt – schon zahlreiche demokratische Elemente. Kleisthenes12 entstammte der großen athenischen Adelsfamilie der Alkmeoniden, die der Stadt einige ihrer bedeutendsten und vor allem auch beweglichsten Politiker gestellt hat. Er war von 10 Hierzu und zum Folgenden: Ch. Meier, ›Kleisthenes und die Institutionalisierung der bürgerlichen Gegenwärtigkeit in Athen‹. In: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980. 1983. 91–146. Übersicht über die Quellen: H. T. Wade-Gery, Essays in Greek History, Oxford 1958. 136 ff. 11 Nach Herodot (6,131,1) führte Kleisthenes die Demokratie ein, doch ist das zu bezweifeln (oder in einem unscharfen Wortsinn zu verstehen): Entstehung des Politischen 281 ff. Sein Erfolg, die Reaktion des Isagoras (Herodot 5,70), die bald danach bezeugte »Isonomie« (Anm. 16) weisen auf die einschneidende politische Bedeutung der Reform. Der Versuch P. Siewerts (Die Trittyen Attikas und die Heeresreform des Kleisthenes, München 1982), Kleisthenes’ Ziele vor allem im Militärischen zu sehen, überzeugt dagegen nicht. Vgl. auch H. Lauter in: Archäologischer Anzeiger 1982, 314 f. 12 M. Ostwald, Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy, Oxford 1969. 137 ff. (dessen Grundthese zum Bedeutungswandel von Nomos mir aber sehr problematisch erscheint. Vgl. Historische Zeitschrift 218, 1974, 372 ff. Weniger entschieden E. Will in: Revue de Philologie 3. Serie 45, 1971, 111 f.). 69

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den Tyrannen, welche Athen seit etwa 560 beherrscht hatten, in die Verbannung geschickt worden – wenn er sich nicht freiwillig dorthin begeben hatte. Dann hatte er sich in Delphi Einfluß verschafft und mit dessen Hilfe die militärische Unterstützung der Spartaner für den Sturz der Tyrannis gewonnen. Ein Einfall, den er zuvor mit einer kleinen Truppe nach Attika unternommen hatte, war gescheitert. Zurückgekommen aber unterlag Kleisthenes in Athen einem adligen Konkurrenten. Daher, so ist überliefert, verband er sich mit »dem Volk13« und schlug seine Reformen vor. Man hatte also zunächst auf herkömmliche Weise miteinander gekämpft. Athen war nun wieder ein aristokratisch bestimmtes Gemeinwesen, so daß die Politik von neuem mit Bündnissen zwischen Adligen und der Aufbietung von Gefolgsleuten betrieben wurde. Jetzt dagegen suchte Kleisthenes die Bedingungen selbst der Auseinandersetzung zu verändern: Er rechnete offenbar mit einem Interesse, das die Angehörigen der breiten Schichten unabhängig von den Bindungen, die sie verschiedenen Adligen gegenüber verpflichteten, gemeinsam hatten: daß sie nämlich aus eigenem Urteil in der Politik mitsprechen wollten. Nicht im Gefolge von Adligen, sondern als Bürger. Als eine eigene politische Größe. Und offenbar hatte er recht. Es gab einen entschiedenen Wunsch nach stärkerer politischer Mitsprache und nach dem Ausbau der institutionellen Voraussetzungen dazu. Dafür spricht zunächst die Tatsache, daß Kleisthenes, der offenbar von einem starken politischen Ehrgeiz getrieben war, Machtgewinn am ehesten aus der Erweiterung der politischen Rechte des attischen Volkes zu beziehen meinte. Die also mußte er bewirken, um es auf seine Seite zu bringen. Er scheint nicht von Anfang an dazu entschlossen gewesen zu sein. Offenbar waren ihm aber Entwürfe zu einer möglichen Reform bekannt. Denn als er plötzlich das Steuer seiner Politik herumwarf, scheint er sein Vorhaben im Kopf schon fertig gehabt zu haben. Wahrscheinlich war 13 Herodot 5,65,2. 70

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Kleisthenes nur auf Macht, nicht auf bestimmte politische Formen aus. Er war beweglich, aufgeschlossen und tatkräftig. Und das paarte sich nun mit jener institutionellen Phantasie, die in seinem Werk zum Ausdruck kommt. Wenn es nicht seine eigene war, so war er klug genug, sich diejenige anderer zunutze zu machen: Es gab, wie wir wissen, ähnliche Pläne außerhalb Athens14, und warum sollen nicht einige Athener sie auf die Verhältnisse ihrer Vaterstadt adaptiert und Kleisthenes vorgetragen haben? Vor allem aber spricht für jenen Wunsch nach stärkerer politischer Mitsprache all das, was wir relativ zuverlässig über das Interesse der attischen Bürgerschaft an Kleisthenes’ Reformen im Bericht unserer wichtigsten Quelle, des Herodot, ausmachen können15. Schließlich wird auch die in der – wenig später bezeugten16 – Parole der Isonomie sich niederschlagende Forderung auf Gleichheit der politischen Rechte schon damals erhoben worden sein. Sie ging vermutlich vor allem von den Angehörigen der Mittelschichten aus, muß aber wohl allgemein formuliert gewesen sein. Kleisthenes’ Reform17 bestand zunächst in einer administrativen Neueinteilung der attischen Bürgerschaft. Deren Grundlage bildeten Demen, kleine Wohnbezirke, Dörfer oder städ14 Herodot 1,170,3. Dazu P. Lévêque / P. Vidal-Naquet, Clisthène l’Athénien, Paris 1964. 66. 15 Entstehung (wie Anm. 10) 113 ff. 16 Erste Bezeugung Skolia Anonyma 10D. Vgl. zum Begriff sowie zur neueren Literatur K. Raaflaub, Die Entdeckung der Freiheit, München 1985. 115 ff. Man sollte stärker mit der Möglichkeit rechnen, daß in der Forderung nach Isonomia zunächst Vorstellungen von einem Gleichgewicht zwischen Volk und Adel enthalten waren (Ch. Meier in Welt der Geschichte (wie Anm. 2) 93 f.). Nur schließt das nicht aus, daß das isos sich von vornherein auf die Gleichheit der Bürger bezog. 17 Dazu den Anm. 10 zitierten Aufsatz. Offenbar ist nicht nur das Verständnis der Reform selbst, sondern auch das der Problematik, die damit aufgeworfen wird, schwierig. (Vgl. M. Finley, Politics in the Ancient World, Cambridge 1983. 44 f. Dazu Gnomon 58, 1986, 507 f.) 71

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tische Quartiere, von denen Kleisthenes wohl ungefähr 170 konstituierte. Sie wurden auf komplizierte Weise zu größeren Einheiten zusammengefügt. Kleisthenes unterteilte nämlich ganz Attika in drei Bezirke, die Stadt samt ihren Häfen, das Binnen- und das Küstenland. In jedem der drei faßte er die Demen in zehn Gruppen (Trittyen) zusammen. Dann bildete er zehn Phylen, jede aus je einer Stadt-, Binnen- und Küsten-Trittys. Ein recht umständliches System, durch dessen Verwirklichung nicht, wie in der Forschung weithin behauptet wird, die alten Adelsgefolgschaften (soweit es sie gab) »zerschlagen«, dafür aber, was wichtiger war, neue Verbindungen, neue Wege der Vertretung und des Zusammenwirkens geschaffen wurden, mit deren Hilfe sich das Gros der Bürgerschaft in der Polis zur Geltung bringen, also politisch präsent machen konnte; im einzelnen und im ganzen. Bis dahin hatten die weniger Wohlhabenden und gar die ärmeren Teile der Bürgerschaft in Athen wie anderswo seit Jahrhunderten offensichtlich in Abhängigkeit von »Adligen« gelebt, die ihnen durch Reichtum, Bildung, Beziehungen weit überlegen waren. Außerdem war Attika für griechische Verhältnisse außerordentlich groß. Während anderswo das Territorium von Poleis zumeist in wenigen Stunden durchmessen werden konnte, gab es hier Entfernungen von bis zu 70 Kilometern nach Athen, und teilweise noch mehr, wenn man von einem Punkt der Peripherie an den andern wollte. Athen zählte mehr als 30 000 männliche erwachsene Bürger, von denen etwa zwei Drittel außerhalb der Stadt lebten. Da mußten die Einzelnen weithin auf die Adligen angewiesen sein. Denn diese stützten sich auf angestammte Zusammenhänge im Lande und hatten zugleich im Zentrum des Gemeinwesens das Sagen18. Die Bürgerschaft war organisiert gewesen in vier alten Phylen samt Unterabteilungen. Deren System ist schwer zu rekonstru18 Zur organisatorischen Schwäche des Volkes Aristoteles, Politik 1297 b 28. (Mit Konjektur von Madvig). Vgl. 1305a 17. 72

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ieren. Aber das wichtigste an ihm ist bekannt: daß nämlich diese Phylen und deren Unterabteilungen, die Phratrien, sowie die kleineren Einheiten der »Geschlechter« und »Thiasoi« Kultgemeinschaften waren, gemeinsame Feste feierten. In den Phratrien wurde zudem über die Aufnahme der Jungen in die Bürgerschaft entschieden, und ihre Mitglieder waren einander zu Hilfe und Unterstützung – nicht zuletzt bei der Verfolgung von Straftaten – verpflichtet. Innerhalb dieser alten Unterabteilungen müssen, wie im Gemeinwesen überhaupt, die Adligen führend gewesen sein. Das mußte unter den damaligen Umständen schon daraus folgen, daß für das Gros der Mitglieder der Weg zu den Zentren des Gemeinwesens, zu Pflichten und Rechten, im Politischen wie im Militärischen, finanziell wie in Hinsicht auf Rechtswahrung üblicherweise über die adligen Häupter der Unterabteilungen lief, welche übrigens auch materiell zu den Kosten von deren Opfern und Festen die größten Beiträge zu leisten pflegten, vielleicht auch die ärmeren Genossen unterstützten19. Das bedeutete nicht, daß die Angehörigen der mittleren und unteren Schichten diesen Adligen besonders zugetan sein mußten. Es gab im Gegenteil viele Spannungen zwischen Hoch und Niedrig, die natürlich auch die Verhältnisse in den kleineren Kreisen vielfach belasteten. Aber wenn die sich auch in Ausnahmefällen in gemeinsamen Willensbekundungen der Volksversammlung gegen den Adel äußern konnten, so blieben die Einzelnen doch in der Regel in ihren eigenen Angelegenheiten auf die üblichen Wege und Zusammenhänge, also auf die Adligen verwiesen. Wenn man daran etwas ändern wollte, so ging es nicht darum, diese Abhängigkeiten zu zerstören; wie sollte das auch gehen, solange sie gebraucht wurden! Es galt vielmehr, neue Weisen des Zugangs zum Gemeinwesen, der Wahrung in19 P. Veyne, Le Pain et le Cirque, Paris 1976. 188. Finley, a. a. O. 24 ff. Es ist aber sehr fraglich, wie weit diese Unterstützungen gingen. Außerdem kann man die Macht der Adligen nicht so stark nur im Materiellen begründet sehen. 73

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dividueller Rechte und Interessen, allgemein gesagt: der Teilhabe an der Stadt zu schaffen. On ne détruit que ce qu’on remplace. Genau das hat Kleisthenes getan. Er hat die alte Ordnung nicht angerührt, vielmehr bestehen lassen. Er hat nur die neue daneben gesetzt und einige Aufgaben von der alten auf sie übertragen. Vor allem aber waren es neue Funktionen, die die neue Ordnung zu erfüllen hatte. Die Reform hatte drei Schwerpunkte: zum einen gab Kleisthenes den Demen eine Selbstverwaltung mit eigenen, gewählten Vorstehern und Versammlungen, auch eigenem Vermögen. In den kleinen Dörfern und Wohnbezirken, denen etwa 100 bis 300 männliche erwachsene Bürger angehörten, ließ sich – bei entsprechender Disposition der Bürger, und die war ja gegeben – eine grass-roots-democracy verwirklichen. Da konnten die einzelnen Bauern und Handwerker auch gegen die Adligen das Wort nehmen, sich durchsetzen und ein gewisses Selbstbewußtsein im öffentlichen Auftreten entwickeln. Das ergab eine andere Relation von Hoch und Niedrig, jedenfalls in vielen Fällen. Von da aus konnte sich eine Bürger-Gleichheit langsam aufbauen; zugleich eine neue Weise, dem Ganzen zuzugehören. Dazu kamen neue Formen der Interessenvertretung durch die gewählten Demenvorsteher, die oft genug nicht dem Adel angehört haben werden. Ein anderes Verhältnis aber auch zu vielen Adligen, sowohl zu denen, die sich auf die neue Lage einzustellen vermochten, wie zu den andern, die nun nicht mehr viel zu melden hatten. Diese Demen-Demokratie konnte aber nur funktionieren, wenn die Stellung der führenden Schicht im ganzen Gemeinwesen schwächer wurde. Eine Reform in den Demen allein hätte nicht viel gebracht, solange die dortigen Adligen nämlich hinter sich gleichsam die versammelte Überlegenheit ihres Standes gehabt hätten. Insofern konnte die Veränderung im Kleinen erst mit der im Großen zusammen ein Ganzes bilden20. 20 Das scheinen etwa J. Martin in Chiron 4, 1974, 14 f. und P. Spahn, Mit74

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Der zweite Schwerpunkt der Reform lag in dem Versuch, vermittels der neuen Phylen die Bürger insgesamt in neue Beziehungen zueinander und zum Ganzen der Polis zu bringen. Wir wissen, daß die Griechen allgemein in ihren Unterabteilungen zu enger Zusammenarbeit, zu Bekanntschaft und Vertrautheit, Aristoteles spricht gar von Freundschaft21, kamen. Und unsere Autoren versichern immer wieder, wie wichtig Bekanntschaft und Vertrautheit der Bürger untereinander für ein Gemeinwesen sind; die Tyrannen legten großen Wert darauf, sie einzuengen oder gar nicht erst entstehen zu lassen22. Offenbar bot die Unterabteilung zumal den weniger prominenten Einzelnen einen Rückhalt in der Politik, einen Zugang zur Allgemeinheit; und das verband sie untereinander. Die Phylen stellten die militärischen Kontingente der Stadt, ihre Angehörigen hatten also gemeinsam zu exerzieren, zu lagern und zu kämpfen; in ihnen wurden Pflichten und Rechte (auch überschießende Einnahmen) verteilt. Sie hatten gemeinsame Feste. So konnten die Phylen – mit Aristoteles23 zu sprechen – synḗtheiai, gewohnte, vertraute Zusammenhänge werden. Freilich mußte dieser Zusammenhang nicht unbedingt stark sein. Im Gegenteil, Kleisthenes’ Reform konnte nur gelingen, wenn die Bindungen in den alten Phylen sich erheblich gelockert hatten. Aber das scheint ja der Fall gewesen zu sein. Der starke Wunsch nach politischer Mitsprache, dem Kleisthenes in der breiten Bürgerschaft begegnete, muß zugleich in einer Solidarität begründet gewesen sein, die das Zusammenleben in den neuen Phylen von vornherein unter ein neues Vorzeichen stellte. Waren die alten größer und von den Adligen dominiert gewesen, so waren die neuen kleiner, überschaubarer24; und sie telschicht und Polisbildung, Frankfurt/Bern/Las Vegas 1977. 164 zu unterschätzen. 21 Nikomachische Ethik 1161 b 13. Vgl. Politik 1280 b 36. 22 Aristoteles, Politik 1313 a 41 ff. Vgl. 1314 a 17 ff. 23 Politik 1319 b 26. 24 Wie wichtig das war, bezeugt Aristoteles 1319 b 23. Vgl. zur Phyle als 75

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müssen schon von ihrer Entstehung her wesentlich durch die Angehörigen der Mittelschichten bestimmt gewesen sein, die doch wohl bei ihrer Konstitution dominierten. Der komplizierte Aufbau bewirkte es, daß die neuen Phylen, die je etwa 3000 Bürger umfaßten, einen Querschnitt durch die verschiedenen Regionen des Landes darstellten. Jede Region war in jeder Phyle vertreten. In keiner konnten besondere lokale Interessen ausschlaggebend werden. Die Phylen selbst waren nichts als Zehntel der Bürgerschaft, ihre Mitglieder hatten nichts gemein außer der Tatsache, daß sie Bürger waren und sich nun als solche in den Phylen begegneten, vielfach erst kennenlernten und auch ein Gutteil ihrer Bürger-Aktivität dort bewähren sollten. Vermutlich sollte sogar ein gewisser Wetteifer zwischen den Phylen angefacht werden25. Vor allem wirkten die Angehörigen der Phyle künftig im Rat der 500 zusammen, der neuen Vertretung der attischen Bürgerschaft in Athen. In seiner Einrichtung lag der dritte Schwerpunkt der Reform. Jede Phyle hatte 50 Mitglieder in den Rat zu entsenden, die Sitze waren wohl auch damals schon proportional auf die Demen verteilt. Die spätere Regel, daß keiner öfter als zweimal im Leben einen Ratssitz innehaben durfte, kann nicht zur Ordnung des späten sechsten Jahrhunderts gehören. Das wäre nur möglich gewesen bei Beteiligung einer weit größeren Zahl von Bürgern als der von Hause aus Abkömmlichen. Auch ob Kleisthenes die Ratsmänner schon durch das Los bestimmen ließ, steht dahin. Aber es ist wahrscheinlich, daß er bereits auf einen starken Wechsel hinwirkte. Er könnte etwa verfügt haben, daß man Öffentlichkeit ebd. 1309 a 11. 25 Schon vor der Reform (509/8) wurde der Wettbewerb der Dithyramben-Chöre eingerichtet (Marmor Parium A 46). Diese Chöre werden in der Folge von den 10 Phylen gestellt, ich nehme an, daß schon Kleisthenes das veranlaßt hat. Vgl. H. Kuch (Hsg.), Die griechische Tragödie in ihrer gesellschaftlichen Funktion. Berlin(-Ost) 1983. 29. Im Militärischen und in andern Beziehungen wird man nicht weniger gewetteifert haben. 76

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nicht in aufeinanderfolgenden Jahren – vielleicht sogar: daß man erst im Abstand mehrerer Jahre26 – im Rat sitzen durfte. Das Gremium wurde jedenfalls jährlich neu bestellt. Es könnte auch sein, daß auf Kleisthenes bereits die neue, zusätzliche Einteilung des attischen Jahres in Zehntel zurückging, die für das fünfte Jahrhundert bezeugt ist. Die 50 Ratsmitglieder einer Phyle hatten für ein Jahreszehntel in der Stadt anwesend zu sein. Auf diese Weise war ein beliebig aus den verschiedenen Landesteilen zusammengesetzter Kreis von Bürgern in der Stadt ständig präsent. Und immer wieder, man weiß nicht wie oft, trat der Rat im ganzen zusammen. Welches seine Funktionen waren, ist nicht genau bekannt27. Jedenfalls oblag ihm die Einberufung der Volksversammlung und die vorbereitende Diskussion der Dinge, die zur Beratung anstanden. Aber darüber hinaus war es wichtig, daß dieses neue Gremium als Gegengewicht gegen den Adelsrat auf dem Areopag und die Beamten in Athen möglichst präsent war, weil nur so, nur in der Regel der Politik, das Interesse der Bürgerschaft an Eindämmung der aristokratischen Willkür wahrgenommen werden konnte. Die eigentliche Führung der Geschäfte blieb gewiß in der Hand von Adligen, der Rat hatte eher die Funktion eines Oppositionsorgans. Aber um so wichtiger war er. Da die Mitgliedschaft im Rat der 500 unvereinbar mit der im Adelsrat auf dem Areopag gewesen sein muß, war es eine ganz andere Auswahl von Männern, die in ihm zusammentrat; weniger erfahren, gebildet, mächtig, vermutlich auch weniger reich. Eine Gruppe von wohl einigen tausend Männern – wenn man es über die Jahre rechnet –, vielleicht jeder zehnte Athener. Gleich-

26 So lautet später eine Bestimmung in Erythrai (J. A. O. Larsen, Representative Government in Greek and Roman History, Berkeley/Los Angeles 1955. 12 f.). 27 Bekannt sind vor 462/1 nur Fälle der Vorberatung von Volksversammlungen (Probouleusis) s. P. J. Rhodes, The Athenian Boule, Oxford 1972. 201,3. Nur besagt das bei unserer Quellenlage nichts. 77

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sam eine Schicht von Honoratioren zweiten Ranges28. Durch die Zusammenarbeit im Rat erhielten sie etwas, was bis dahin nur der Adel besaß – und was zu dessen Überlegenheit wesentlich beigetragen hatte –: ein Netz von Bekanntschaften über das ganze Land. Außerdem wurden sie mit den Funktionen des Gemeinwesens eng vertraut und politisch versiert. So wurde das Personal der Politik in nennenswerter, aber immer noch beschränkter Weise erweitert. Allein, bei der vielfachen persönlichen Unterlegenheit dieser Männer gegenüber den Adligen hätten sie kaum viel ausrichten können, wenn sie nicht Rückhalt in der breiteren Bürgerschaft gehabt hätten, aus der sie immer neu hervorgingen und in die sie zurückkehrten. Sie waren mächtig nicht so sehr im Namen wie als wichtiger Teil der ganzen attischen Bürgerschaft. Anders als in den Jahrzehnten zuvor die Tyrannen konnten sie sich nicht leicht unabhängig von denen machen, denen sie ihre Stellung verdankten. Es mußte folglich ein lebhafter Kreislauf der Willensbildung von den Demen zur Stadt und umgekehrt entstehen. In Kleisthenes’ Reform wird also sehr anschaulich, wie die breiten Schichten der athenischen Bürgerschaft in der Politik zur Geltung gebracht werden sollten. Es wird zugleich deutlich, daß damit ein beachtlicher Aufwand an Zeit, Kraft und Interesse vieler Bürger verbunden war, nicht nur Abkömmlichkeit, sondern auch Verzicht auf Erwerb, den man sonst vielleicht hätte erzielen können29. So wurde für eine größere Zahl von Athenern eine Eigenschaft wichtig, die für sie bis dahin kaum eine große Rolle gespielt haben kann. Nachdem sie vornehmlich als Nachbarn, Bauern, Handwerker, Kultgenossen sich gegeben hatten, dies 28 Zum Begriff Honoratioren: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1972. 170 f. 546 f. Vgl. 785: Mittelstandsdemokratie. Chester Starr spricht von semi-aristocrats: The Economic and Social Growth of Early Greece 800–500 B. C., New York 1977. 121 ff. 29 Weber 546. 78

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also miteinander gewesen waren, wurden sie jetzt in beachtlichem Ausmaß Bürger. Es entstand eine neue Ebene des Verkehrs, des Sprechens, Handelns, Erwartens, also des Zusammenwirkens, ja des Zusammenseins. Familie, Arbeit, die vielfältigen kleinen Feste wurden dadurch nicht gleichgültig. Das Politische muß ja bei NichtSpezialisten notwendig in Denken und Leben, in Kraft und Zeit der Einzelnen mit vielem anderen den Platz teilen. Insofern kann es dort immer nur eine Nebenrolle spielen. Aber diese Nebenrolle muß für relativ sehr viele damals die Hauptrolle außerhalb des Hauses geworden sein. Für viele, und vermutlich gerade für die Anspruchsvollen, Maßgebenden rückte sie ins Zentrum und forderte sie heraus, mit einem wichtigen Teil ihrer Zeit, ihres Denkens, Trachtens und Handelns »politisch« zu sein. Indem die Bürger-Zugehörigkeit so wichtig wurde, änderte sich die gesamte Zugehörigkeitsstruktur in Athen, und zwar auf Dauer. Nach Max Weber könnte man, was damals geschah, als »Verbrüderung« begreifen. Die attischen Bürger mußten, aufs ganze gesehen, etwas qualitativ anderes werden. Sie mußten eine »andere Seele in sich einziehen lassen«30. Wohl kann man sagen, daß auf die kleisthenische Reform schon bald eine ganz neue Verwicklung in die Weltpolitik, die Auseinandersetzung mit Persien folgte. Und die muß schon von der Sache her Politik interessant gemacht haben. Allein, die Veränderung zugunsten einer aktiven Beteiligung breiter Schichten war ja nicht auf Athen beschränkt. Wie also kam es zu diesem erstaunlichen Ergebnis? Zu diesem Ausmaß an politischem Engagement, das uns ganz fremd anmuten muß? Und welche Kraft war es, die dazu führte, daß die ursprünglichen Antriebe sich dann viele Jahrzehnte lang regeneriert haben?

30 Weber 401. Vgl. Ch. Meier, Die okzidentale Stadt nach Max Weber. (Historische Zeitschrift Beiheft 17. 1994. 21 ff.). 79

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Historische Voraussetzungen des starken Bürger-Engagements der Griechen

Unter unsern für diese Zeit äußerst spärlich fließenden Quellen finden sich einige Zeugnisse, die für eine intellektuelle Vorgeschichte des weitgehenden Bürger-Engagements der Griechen in Anspruch genommen werden können. Da ist etwa Solons Lehre vom Anfang des sechsten Jahrhunderts, wonach die Bürger für den Zustand ihrer Stadt verantwortlich sind. Nicht die Götter, die im Gegenteil ihre Hand über die Stadt halten, sondern die Bürger sind schuld an deren Misere, heißt es dort. Und sie können offensichtlich etwas daran ändern. Sie können politische Einsicht gewinnen, eine Kenntnis von Zusammenhängen, die sie etwa davor bewahren kann, sich durch Reden von Politikern täuschen zu lassen. Nur so werden sie fähig, ihre politischen Interessen wahrzunehmen. Noch aber war es nicht so weit: »Einzeln geht jeder von euch auf den Spuren des Fuchses, allen zusammen aber ist euch der Sinn töricht.« Schließlich trägt Solon mit allem Nachdruck die These vor, daß das Schicksal der Einzelnen von dem der Stadt nicht zu trennen sei. Keiner könne sich hinter dem eigenen Hoftor verschanzen. Solon setzt also hohe Erwartungen in die Bürgerschaft31. Wir hören fernerhin von Versuchen, die »Mittleren«, das heißt die an der Politik Unbeteiligten zu mobilisieren32. Mit dem Begriff ist damals über deren Vermögenslage kaum etwas gesagt, es mochten sehr Reiche darunter sein; aber die Angehörigen der Mittelschichten waren in erster Linie gemeint. Damals wurden verschiedene Institutionen eingeführt, die offensichtlich dazu 31 Elegien 3 (dazu W. Jaeger, ›Solons Eunomie‹, Sitzungsbericht Preußische Akademie d. Wiss. 1926. 69 ff.) 8. Spahn (wie Anm. 20) 136 ff. 32 Vgl. Herodot 5,29 mit Phokylides 12 (etwa gleichzeitig). Vgl. Theognis 219 f. 335 f. 80

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bestimmt waren, ihnen ein stärkeres Eingreifen in das öffentliche Leben zu ermöglichen33. Am bekanntesten sind die Ratsgremien, die an verschiedenen Stellen offenbar in Opposition zu den alten Adelsräten geschaffen wurden34. Es mögen aber auch schon Volksgerichte eingerichtet worden sein. Diesen Zeugnissen und Vorgängen korrespondieren verschiedene Stimmen aus dem sechsten Jahrhundert, in denen etwa die Gerechtigkeit zur wichtigsten Tugend erklärt oder gegen alle möglichen individualistischen Adelsideale das Wohlergehen der Stadt zum eigentlichen Maßstab des Handelns genommen wird35. All diese – und ähnliche – Zeugnisse besagen freilich für sich noch nicht viel. Wenn sie Niederschläge oder gar Antriebe eines Prozesses gewesen sein sollten, so ist der aus ihnen nicht zu erschließen. Trotzdem muß er stattgefunden haben. Es ist, allgemein gesagt, der Prozeß der Ausbildung der griechischen Eigenart, näherhin derjenige, in dem nach einer langen, zunächst wohl primär aus wirtschaftlichen und moralischen Gründen entstehenden und dann zunehmend auch gesellschaftlichen und politischen Krise, die Voraussetzungen dafür erwuchsen, daß breite Schichten der Bürgerschaft an vielen Orten zu regelmäßiger Mitsprache im Gemeinwesen gelangten. Vorangegangen war eine Phase, die erfüllt war von Empörungen, vielfältigem Aufbäumen aus großer Not, wovon ein fühlbarer Druck, Zwang, unter Umständen aber auch Bürgerkrieg ausgehen konnte. So wurden verschiedene Konzessionen, Schuldennachlässe, nicht zuletzt die schriftliche Aufzeichnung des Rechts erzwungen. Verschiedentlich gab es keinen anderen Ausweg als den, einzelne besonders qualifizierte Männer mit außerordentlichen Vollmachten zu betrauen, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Sehr häufig machten sich ehrgeizige Adlige 33 Z. B. Solons Rat der 400; die Heliaia, die Popularklage, das Stasisgesetz. (Dazu Spahn, wie Anm. 20. 153). 34 Die Entstehung des Politischen (wie Anm. 10) 137, 117. 35 Phokylides 10 D. Xenophanes 2D. 81

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die Unzufriedenheit zunutze, um Gefolgschaft zur Begründung einer Tyrannis zu suchen. Sie vermochten die wirtschaftlichen Forderungen der mittleren und unteren Schichten und diejenigen auf Rechtssicherheit aufzunehmen. Politisch dagegen ging es nur um ihren eigenen Vorteil, die Herrschaft. Indes, seit der Mitte des sechsten Jahrhunderts änderte sich das. Inzwischen war wohl zumeist – wie in Athen36 – eine gewisse wirtschaftliche Konsolidierung eingetreten. Das war ungemein wichtig, es änderten sich dadurch die Lebensbedingungen breiterer Schichten. Doch kann darin bestenfalls eine Bedingung der Möglichkeit zur Erweiterung der politischen Rechte breiter Bürgerschichten gesehen werden. Daß sich nämlich deren Unzufriedenheit, deren Klagen so deutlich und kräftig ins Politische wandten, daß es seitdem im Mutterland kaum mehr zur Tyrannis kam, daß vielmehr Männer wie Kleisthenes ihren hohen politischen Ehrgeiz dadurch zu befriedigen suchten, daß sie der Bürgerschaft mehr politisches Gewicht verschafften – das muß andere Gründe gehabt haben. Es ist gewiß von längerer Hand vorbereitet gewesen. Die Frage ist, woher diese Wendung ins Politische und damit die Entstehung der Vorformen griechischer Demokratie bedingt war. Man sollte ihr nicht aus dem Wege gehen; sie ist alles andere als gleichgültig; und man sollte sich ihre Lösung auch nicht zu leicht machen, indem man sich etwa mit der Erklärung begnügt, die Eigenart, aufgrund derer die Griechen wie vieles andere so auch ihre besondere politische Form und Lebensweise hervorbrachten, sei von vornherein in ihnen angelegt gewesen. Wohl wird gern auf bestimmte frühe Institutionen hingewiesen, die sich dann »entwickelt« hätten, etwa auf die schon bei Homer bezeugte Volksversammlung. Doch ist diese nicht speziell der griechischen Frühzeit eigen gewesen. Wir treffen sie vielmehr

36 A. E. Raubitschek, Dedications from the Athenian Acropolis, Cambridge 1962. 82

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auch bei verschiedenen andern Völkern37. Nur vollzieht sich deren Kulturbildung in aller Regel von Monarchen aus, und denen fallen die Volksversammlungen dann regelmäßig zum Opfer, wenn sie nicht mehr oder weniger als Formalität blieben. Daß die Griechen sie im Laufe der frühen, entscheidenden Phasen ihrer eigenen Kulturbildung bewahrten, daß sie ihnen gar wichtige Entscheidungen überantworteten, war also die Ausnahme. Entsprechendes gilt für die Struktur des Grundeigentums, die Frömmigkeit und vieles andere. Nichts ist mit dem Hinweis auf solche frühen Institutionen erklärt. Vielmehr ist deren Bewahrung oder anders gesagt: die Tatsache, daß die Griechen ihre Kultur aus der Mitte der Gesellschaft heraus – zunächst vom Adel, dann auch von breiten Schichten her – zu bilden vermochten, das Erstaunliche, das zu erklärende. Vermutlich ist jene für die Bildung höherer Kulturen notwendige Herausforderung, die die anfänglichen Formen überfordert, erschüttert, ganz neue Spielräume erschließt und zu raschen Veränderungen führt, bei den Griechen unter Umständen entstanden, die es sowohl den überkommenen Monarchien wie ehrgeizigen Usurpatoren schwer machte, die neuen Möglichkeiten zu monopolisieren. Und es spielte gewiß eine nicht geringe Rolle, daß die Griechen kommerziell und intellektuell aufs engste mit den orientalischen Hochkulturen in Berührung kamen, ohne daß diese sich für die Ägäis und den westlich davon gelegenen Mittelmeerraum interessiert hätten. Anderes wird hinzugekommen sein, besondere Dispositionen der Griechen, etwa von der Einwanderung, von der Erinnerung an Mykene her, »zufällige« Zusammentreffen – doch kann all dies hier nicht genauer erörtert werden38. 37 So in Mesopotamien, Indien, bei den Persern u. a. Vgl. allgemein M. Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920. 517. 535. Ges. Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1924. 126 (keine »ethnisch gegebenen Unterschiede« in früher Zeit). O. Hintze, Staat und Verfassung. 2. Aufl. Göttingen 1962. 149. 38 Vgl. einstweilen die Anm. 2 genannten Aufsätze. Dazu ›Die Griechen 83

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Jedenfalls war die Machtlagerung in der entscheidenden Zeit, im achten, siebten und sechsten Jahrhundert offenbar schon so breit, daß es Monarchen und Usurpatoren nicht gelang, dauerhafte, legitime, starke Herrschaften aufzubauen, um von dort aus das Ganze zu formen; das heißt unter anderm, um die Religion, den Mythos, die Kunst auf sich auszurichten und einzuschwören und auch – um die Intelligenz in den eigenen Dienst zu nehmen. Was immer Einzelne von ihnen ins Werk setzen mochten: in dichtester Nähe lebten normalerweise andere, anders organisierte Griechenstädte, und die griechische Welt war vielfältig genug, um die Tyrannis stets nur als eine Möglichkeit unter andern zu erweisen. Insbesondere waren die Tyrannen eigenartigerweise zu schwach, um größere Eroberungen, Erweiterungen ihres Machtbereichs vornehmen zu können. In der Regel waren sie wohl schon froh, wenn sie sich in der eigenen Stadt behaupteten39. Zugleich erwies sich, daß der griechische Adel in den bewegteren Städten nicht in der Lage war, wirklich stabile Regimes aufzubauen, wie es etwa in vergleichbarer Situation dem römischen gelungen ist. Offensichtlich waren die überkommenen Selbstverständlichkeiten dazu zu tief erschüttert. Die Adelsherrschaft war vielfach willkürlich, drückend, und das wurde nicht nur empfunden, sondern man kam auch zu der Ansicht, daß es so nicht sein müsse. Not und Unzufriedenheit verschärften die Auseinandersetzungen innerhalb der führenden Schicht, so daß es immer wieder zu Störungen, wenn nicht zum Sturz des Adelsregimes kam. So entstand eine weitgehende Labilität der Machtverhältnisse, ein Mangel an selbstverständlicher, überzeugender politischer Ordnung, ein Vakuum. Vielleicht liegt es nahe, daß in und die Andern‹. In: Die Welt der Geschichte… 34 ff. sowie Entstehung (wie Anm. 10) 51 ff. Insgesamt: Ch. Meier, Kultur um der Freiheit willen. München 2009. 39 H. Berve, Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967. 84

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solchen Fällen die Angehörigen breiterer Schichten sich auf die Dauer veranlaßt sehen, dieses Vakuum zu besetzen, nachdem sie zunächst primär zur Unruhe beigetragen hatten. Es bleibt freilich die Frage, wie sie die intellektuellen, die institutionellen und die mentalen Voraussetzungen dazu erwerben. Das kann, so scheint es jedenfalls auf den ersten Blick, nicht ganz einfach sein. Breite Schichten sind ja, wie schon der Name sagt, zahlenmäßig den Eliten stets überlegen. Und trotzdem werden sie in aller Regel von diesen beherrscht. Wenn sie sich empören, so pflegt das für den Moment zu sein. Auf die Dauer renken sich danach die alten Machtverhältnisse wieder ein, oder es stellt sich in den neuen, die an ihre Stelle treten, die Unterordnung der Vielen unter Wenige oder Einen auf andere Weise wieder her. An dieser Grundgegebenheit läßt sich nur dann etwas ändern, wenn die breiten Schichten durch geeignete Institutionen in die Lage kommen, ihre potentiell stets vorhandene Überlegenheit auf Dauer zu stellen. Damit das aber möglich ist, müssen nicht nur die notwendigen Institutionen erdacht werden, sondern es muß vor allem die Einsicht und der Wille erwachsen, sie zu erreichen und zu praktizieren. Daß das bei den Griechen geschah, war gewiß durch den Ausgangspunkt des Prozesses begünstigt: die Schwäche der Aristokratien und Tyrannen, bei starker Labilität der Verhältnisse, bei großen, wachsenden Möglichkeiten des Handelns. Allein, ganz einfach kann es trotzdem nicht gewesen sein. Jedenfalls ist zu fragen, wie sich dieser Wandel vollzog. Wir haben relativ gute Anhaltspunkte für eine seiner wichtigsten Dimensionen, für einen Prozeß des politischen Denkens nämlich, der zwar in einer intellektuellen Elite konzentriert war, aber offenbar in Wechselwirkung mit zunehmend vielen andern vorangetrieben wurde. Sowohl eine Reihe verstreuter Zeugnisse wie das Ergebnis, die geistige Vorbereitung der Isonomie, lassen darauf schließen.

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Es ist bekannt, daß es im späten siebten und im sechsten Jahrhundert einen Kreis von Weisen Männern40 gab, der nur aus Gründen der Zahlenmagie auf Sieben beziffert wird. Diese Männer haben sich nachweislich zu politischen Problemen geäußert; bewahrt sind davon zumal allgemeine Sentenzen, die auch Späteren etwas sagten. Aber daneben müssen konkrete Auskünfte gestanden haben. Dafür spricht das Ansehen dieser Männer. Es ist ferner bekannt, daß speziell das delphische Orakel viel besucht worden ist, nicht zuletzt von Gesandten aus Städten, die handfeste politische Probleme hatten. Die Stadt – Jacob Burckhardt spricht von den »Männern von Delphi«, denn es geht nicht speziell um das Heiligtum – muß ein Umschlagsplatz für allerlei Fragen, Kenntnisse und Lösungen gewesen sein41. Es ist auch bekannt, daß Delphi mit verschiedenen der Weisen in enger Verbindung stand und Ratsuchende an sie verwies. Wir hören davon, daß diese Männer gereist sind und sich trafen. Bekannt ist schließlich, daß mindestens viele dieser Weisen, – wie Delphi selbst – politisch unabhängig waren. Einige mögen als Ratgeber von Tyrannen in Dienst genommen worden sein, einer hat die Sondervollmachten, die er von seiner Stadt bekommen hatte, um dort die Dinge wieder ins Lot zu bringen, in eine Alleinherrschaft umgemünzt42. Aber in der Regel wurden die Weisen, so ist anzunehmen, ebenso wie das Orakel von sehr verschiedenen Seiten um Rat angegangen. Die Bewährung ihres hohen Ansehens lag in der Güte der Antworten, die sie zu erteilen, der praktischen Hilfe, die sie zu leisten vermochten. Und die mußten sich je nach den Problemen und Verhältnissen richten. Wenn man, wie ich glaube, damit rechnen kann, daß im damaligen Griechenland ein relativ großer Bedarf an intellek40 B. Snell, Leben und Meinungen der Sieben Weisen, München 4. Auflage 1971. 41 Griechische Culturgeschichte 2, 313. Vgl. Ch. Meier, ›Erkenne, daß Du ein Mensch bist‹. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 14. 2. 1987. Die Entstehung des Politischen, (wie Anm. 10) 73 ff. 42 Es war Pittakos von Mytilene. 86

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tuellem Rat und an praktischen Auskünften verschiedener Art herrschte, so begegneten diesen Weisen auf die Dauer lebhafte Erwartungen. Oft führten Patt-Situationen zwischen dem Adel und den notleidenden Schichten dazu, daß man einen von ihnen mit großen Vollmachten betraute, weil sich keine andere Lösung diesseits gewaltsamer Auseinandersetzung zeigte. Insofern stellte dieses politische Denken eine Macht dar. Und indem es zwischen den Städten und den verschiedenen politischen Kräften unabhängig war, geriet es in eine dritte Position. Das bedeutet, daß hier ein primär intellektuelles Interesse in Form einer großen Diskussion sich gleichsam institutionalisierte. Damit sind politische Neigungen und Bindungen der Einzelnen keineswegs ausgeschlossen. Es ist nur gesagt, daß über sie hinweg eine Gemeinsamkeit sich ausbildete, die auf das Begreifen der Probleme und das Ersinnen von Lösungen gerichtet war, vielleicht gar ein gewisser Wettbewerb, jedenfalls eine offene Debatte, die weit über einzelne politische Neigungen hinausging; anders gesagt: die neben allen politischen Neigungen ein anderes Interesse mächtig machte, eben dasjenige an der Entwicklung probater Ratschläge. Anfangs, als es primär um wirtschaftliche und moralische Probleme ging, wiesen diese allgemein in die gleiche Richtung. Die Weisen rieten insoweit kaum anderes, als was die Tyrannen versuchten. Dann aber wurde es zunehmend politisch, und es bildete sich eine Strömung, die die Tyrannis als rechtmäßige Möglichkeit ausschloß. Eine solche Tätigkeit war – in den Spielräumen, die jene Zeit dem Handeln und Denken eröffnete – auf die Dauer kaum möglich, wenn man nicht bestimmte Maßstäbe entwickelt hätte, auf die die jeweils ad hoc zu treffenden Entscheidungen auszurichten waren. Man brauchte sie schon deswegen, damit eine klare Unterscheidung zwischen Rechter Ordnung und Status quo getroffen werden konnte. Bekannt ist die Konzeption, die Solon von Athen vorgetragen hat, seine Eunomie, welche dem Adel die Führung zusprach, aber auch deutlich auf den Rechten des Volkes, speziell der Bauern bestand. Wir wissen nicht, 87

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wieweit sie von Solon selbst entworfen worden ist. Es könnten in ihr sehr wohl weiter verbreitete Gedanken zum Ausdruck gekommen sein. Jedenfalls war sie keine nur für Athen bestimmte Lehre. Dagegen spricht schon die Philosophie des Anaximander von Milet, in der ganz ähnliche Auffassungen wie von Solon für die Ordnung der Stadt in Hinsicht auf den Kosmos vorgetragen wurden. In ihr kehrt vor allem der entscheidende Ansatz Solons wieder: daß es nichts gibt, was über die recht-(oder gesetz-) mäßige Ordnung hinaus ist43. Keine Instanz, die speziell für sie zuständig wäre, wie etwa ein König oder ein Gott. Die Ordnung selbst ist vielmehr das Ganze, alle Mächte haben sich in ihrem Rahmen zu halten, sie können nur zusammen, nur in ihrem besonderen Verhältnis zueinander das Ganze ausmachen. Dadurch war Tyrannis mit rechter Ordnung unvereinbar. Und dafür, daß das zur vorherrschenden Anschauung mindestens im politischen Denken des griechischen Mutterlandes wurde, spricht die Tatsache, daß die Tyrannis auf die Dauer nirgends Bestand hatte: sie konnte auch im Denken der Weisen keine Wurzeln schlagen – außer in Sizilien, aber da hatte es besondere Gründe. Wenn man nun aber eine solche Ordnung wie Solons Eunomie verwirklichen wollte, so mußte man über kurz oder lang darauf kommen, daß das nicht ging, ohne daß die breiten Schichten gewisse institutionelle Möglichkeiten zur politischen Mitsprache erhielten. Sonst wären sie gegen adlige Willkür nicht sicher gewesen. Und dann hätte es immer neu zu Empörungen kommen können. Es war also einfacher Realismus, aus vielfältigen Erfahrungen erwachsen, der zu einer stärkeren Berücksichtigung des Volkes durch das politische Denken führte. Daraus ergab sich mit einiger Zwangsläufigkeit, daß man die breiten Schichten dazu ermunterte, darin bestärkte, eine kräftige 43 J. P. Vernant, Les Origines de la Pensée Grecque, Paris 1969. 119 ff. Mythe et Pensée chez les Grecs, Paris 1971. 1,185 ff. Dazu Entstehung einer autonomen Intelligenz (wie Anm. 2) 116 ff. 88

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Beteiligung an der Politik zu fordern. In diesem Zusammenhang müssen Institutionen wie die Volksräte und Lehren wie die von der Verantwortung der Bürger für die Stadt, überhaupt die Belehrung der Bürger über die Gesetzmäßigkeiten der Politik ihren Sinn gehabt haben. Wie die Gedanken und Initiativen des Politischen Denkens im einzelnen wirkten, wieweit sie Wünsche auf politische Mitsprache überhaupt erst hervorriefen und wieweit ihnen solche Wünsche schon begegneten, ist schwer auszumachen. Das Studium der solonischen Gedichte spricht mindestens für Athen dafür, daß die Bereitschaft in der breiten Bürgerschaft zunächst recht gering war44; doch kann sich das primär auf die Mehrheit beziehen, während kleinere Kreise schon anders gedacht haben mögen. Vielleicht gab es geradezu eine Disposition zugunsten eines stärkeren Engagements. Sie hätte dann das Denken in eine bestimmte Richtung gelenkt. Jedenfalls sind die Lehren der Weisen Männer mit der Zeit auf viel Resonanz gestoßen und daran gewachsen. Das politische Denken wurde mehr und mehr ein sozialgeschichtlicher Prozeß. Wenn er Erfolg hatte, wenn die Sensibilität in den breiten Schichten so weit anwuchs, daß diese über die Konsolidierung ihrer wirtschaftlichen Lage hinaus unzufrieden waren, wenn sie ihre Wünsche nach Rechtssicherheit zu einer handfesten Forderung nach politischen Rechten steigerten, so kann sich das allerdings nicht einfach aus irgendwelchen intellektuellen Faktoren, aus Einsicht und Verantwortungsgefühl ergeben haben. Sonst müßte der Vorgang einigermaßen wunderbar gewesen sein. Wohl muß das politische Denken in diesem Prozeß eine bedeutende Rolle gespielt haben. Denn nach dem Bruch zahlreicher Selbstverständlichkeiten mußten die politische Ordnung und deren Zusammenhänge neu und gründlich durchdacht werden. Und das war besonders schwierig, weil diesem Denken auf die Dauer eine Vorgabe fehlte, die dasjenige in den frühen 44 Spahn, ›Oikos und Polis‹. In: Historische Zeitschrift 213, 1980, 545 ff. 89

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Hochkulturen im wesentlichen auf instrumentelle Funktionen eingrenzte: das herrschende Interesse einer Monarchie, eventuell auch von Priesterschaften. Hier dagegen ging es von einem bestimmten Zeitpunkt an darum, den Grund der Ordnung selbst auszuloten, welchselbe nur im Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilen der Stadt bestehen konnte. Wer eine Stadt wieder ins Lot zu bringen hatte, mußte es so tun, daß sie danach von selbst, also ohne sein weiteres Zutun zu funktionieren vermochte. Vermutlich muß man dazu die Zusammenhänge gründlicher studieren, muß auf tiefere Gesetzmäßigkeiten zu kommen suchen, also die Rationalität besonders weit treiben, bis in den Grund der Dinge. Und es genügt dann nicht, dies nur im Politischen zu tun: solch neue Auffassungen brauchen die Absicherung im Studium des Kosmos, der Natur überhaupt. Denn sie sollen wahr sein; außerdem mußte die Erforschung der Politik schon durch ihre Intensität und Bedeutsamkeit alle andern Fragen in Mitleidenschaft ziehen respektive infizieren. Eben damit geriet sehr vieles in Zweifel. Und da sich dies nicht auf die Denker im engeren Sinne beschränkte, mußte die geistige Bewegung, der ganze Prozeß der rationalen Durchdringung der politischen Welt zugleich in die Breite wirken. So, vermute ich, kam es dazu, daß die Griechen eine so hohe Rationalität entwickelten, nicht auf allen Gebieten, nicht durchweg, aber im Politischen und, da dies so zentral war, von dort nach den verschiedensten Seiten ausgreifend. Der hohe Anteil des Rationalen an ihrer Kultur, die eigenartige Verteilung zwischen Rationalität und Irrationalität bei ihnen hatte ihre guten Gründe. Nicht daß sie von Geburt oder Abstammung her besonders klug gewesen wären! Aber sie hatten besondere Anlässe, die Welt im Großen und im Kleinen auf ihre Zusammenhänge hin zu durchdenken und – soweit sie es konnten – entsprechend zu formen; in der Polis wie in der Plastik, im Tempelbau wie in Tragödie, Historie und Philosophie. Sie brauchten diese Rationalität. Und doch können – um es zu wiederholen – die Forderungen der breiten Schichten nach Mitsprache, kann vor allem die 90

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Bereitwilligkeit, diese regelmäßig auszuüben, aus intellektuellen Faktoren allein kaum erklärt werden. Auch die Ablehnung von aristokratischer Willkür und Rechtsunsicherheit reicht dazu kaum aus. Immerhin handelte es sich um Männer, die aus der Politik keinen Beruf machen, die nur zusammen, nicht als Einzelne politisches Gewicht erlangen konnten. Ihre Forderungen und ihre Bereitwilligkeit mußten also in einer tieferen Schicht verankert sein, in Antrieben, die sich aus kräftigeren Wurzeln speisten. Genauer: Es mußten potentielle Antriebe – Arnold Gehlen spricht von »Instinktresiduen« – da sein, die sich innerhalb der grundsätzlich plastischen Antriebsstruktur der Menschen45 in besonderer Weise freilegen, auszeichnen, bekräftigen ließen; wozu vermutlich ein besonderer Anreiz, eine Herausforderung innerhalb der bestehenden Verhältnisse gehört, auf die hin jene potentiellen Antriebe sich richten und an denen sie sich befestigen mußten; so sehr, daß politisches Engagement zu einem starken, eventuell gar dominanten Bedürfnis werden konnte. Solche Bedürfnisse lassen sich auch namhaft machen. Es waren diejenigen nach einem angemessenen Status, anders gesagt, nach einem unter den damaligen Verhältnissen besonders knappen, wichtigen, begehrenswerten Gut. Sie konnten aufleben, als die wirtschaftlichen Bedingungen der breiten Schichten einigermaßen konsolidiert waren, und sie bewirkten es, daß deren Sensibilität gegenüber den politischen Verhältnissen weiter wuchs, respektive sich erst richtig verschärfte. Daran wird das politische Denken angeknüpft haben.

45 Der Mensch, 10. Auflage, Frankfurt 1974. 329 f. 362. 91

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Anthropologische Dispositionen der Griechen zum politischen Engagement breiter Schichten

Die Standards der Polis-Gesellschaften des siebten und sechsten Jahrhunderts waren aufs stärkste von den Adligen bestimmt. In einer Form von »Statuskongruenz«46 bildeten diese in jeder Weise die Spitze der Bürgerschaft, sie waren letztlich – so sehr sie im einzelnen versagen mochten – den andern in jeder Hinsicht überlegen. Das bedeutete, daß ihre Vorstellungen von dem, was ein Mann zu sein und zu tun hatte, bei aller Kritik daran doch im Geheimen maßgebend waren. Und die breiten Schichten hatten dem im ganzen nichts entgegenzusetzen. Die Bürgerschaften waren agrarisch geprägt. Es bestand in irgendeinem Sinne eine Gleichung zwischen Grundeigentum und Zugehörigkeit. Sie schloß im sechsten Jahrhundert Handwerker und Händler nicht mehr aus. Aber sie bedingte es, daß denen etwas Wichtiges fehlte. Was sie als Einzelne galten, wird von ihren persönlichen Qualitäten abgehangen haben; als Handwerker und Händler aber bedeuteten sie politisch nichts; und um so weniger, je mehr sie ihr Metier mit Sklaven und Nicht-Bürgern teilten (welche übrigens auch vom Recht auf Grundeigentum ausgeschlossen waren). Sie mochten gemeinsame Götter verehren, Hephaistos etwa, mochten sich ihres Könnens bewußt sein. Aber das war nur der Stolz der Minderrangigen, der halbwegs Draußenstehenden, der so frei nur sein konnte, weil er keine politischen Tugenden implizierte. Als Bürger mußten sie froh sein, wenn sie von dieser Eigenschaft keine Nachteile erfuhren. Kein Gedanke daran, daß sie Handwerks- oder Händler-Interessen in der Politik hätten verfechten können. Dagegen sprach schon, 46 Dazu N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972. 170. Zur Sache: W. G. Forrest, Wege zur hellenischen Demokratie, München 1966. 58, sowie Elke Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit. Stuttgart 1989 92

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daß sie sie mit Sklaven und Nicht-Bürgern gemein hatten47. Selbst später, als sie zahlenmäßig in den Volksversammlungen überlegen, als sie mächtig waren, mußten die beruflichen Interessen der Handwerker und Händler außerhalb der Politik bleiben. Da wirkte sich, im Unterschied etwa zur mittelalterlichen Stadt, die Tatsache aus, daß bei den Griechen Stadt und Land nicht geschieden waren, daß die Stadt sich nicht gegen überlegene Mächte auf dem Land abzusetzen und eine spezielle städtische Eigenart auszubilden hatte48. Anders also als im europäischen Mittelalter und in der Neuzeit gab es bei den Griechen keine spezielle »Bürgerwelt«49 mit eigenen Werten, mit spezifisch eigener Intelligenz, großen Erfolgen und einem Selbstbewußtsein, das sich zunächst in den Städten, später auch in den Staaten politisch akzentuieren konnte; das es erlaubte oder sogar gebot, als Bürger politische Forderungen zu erheben; das dann seit der Aufklärung etwa den Dritten Stand so mächtig machte, daß er seine Forderungen als universale Ansprüche, seine Gleichheit als Menschengleichheit deklarieren und zu verwirklichen suchen konnte. Gewiß hing diese Universalisierung der Ansprüche zugleich mit den hohen Standards der Legitimation zusammen, die die Neuzeit aufrichtete. Aber diese bildeten ja ein Ganzes mit der Entstehung des Staats, der Gesellschaft, mit der Ausdifferenzierung von deren verschiedenen Teilbereichen und eben einer Bourgeoisie ganz eigenen Gewichts. So entstand eine Universalität, die der Spezialisierung, letztlich einer Pluralität von Wertschätzungen korrespondierte und den verschiedenen Spezialisten mit der Zeit dann einen Rang zuzuerkennen vermochte, wie es von einem

47 R. H. Randall jr., ›The Erechtheum Workmen‹. In: American Journal of Archeology 57, 1953, 199 ff. 48 Weber, (wie Anm. 28) 771. 49 Vgl. J. Kocka (Hsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987. 93

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auf Nützlichkeit bedachten Monarchen her und eben im Rahmen einer Gesellschaft, die vieles zu schätzen weiß, möglich ist. In der so einseitig agrarisch akzentuierten Bürgerschaft der Griechen dagegen konnte Manneswert zunächst nur nach Maßgabe adliger Ideale bemessen werden. Keine Monarchie war stark genug gewesen, um daran etwas zu ändern, um andere Maßstäbe zur Geltung zu bringen, etwa nach Funktionen zu unterscheiden und Ehren danach zu verteilen, wie Leistungen ihr nützlich erschienen. Die Angehörigen der Schichten, die weiter unten waren, waren nur dies, sie galten nicht auch als andere, mit andern, konkurrierenden Zielen, Idealen, anderm Können, andern Erfolgen, mit einem Selbstbewußtsein eigener Art. So jedenfalls aufs Ganze gesehen. Da gab es nur eine einzige Skala der Wertschätzung. Und sie überdauerte die Differenzierungen, die notwendigerweise mit Kulturbildung verbunden sind. Warum dem so war – es hing offensichtlich aufs engste mit der eigenartigen »Despezialisierung« der Bürgerschaft und ihrer wachsenden Abgrenzung nach außen50 zusammen – ist nun zu fragen. Gesellschaften werden auch dadurch charakterisiert, welche Ebenen des Zusammenlebens, Weisen des Sich-Aufeinander-Beziehens sie konstituieren und wie diese sich zueinander verhalten. Korrespondierend dazu werden die Urteile über Einzelnes, die Maßstäbe der Bewährung, die Standards bestimmt, nach denen man sich typischerweise zu richten hat. Zu den griechischen Bürgerschaften gehörte, daß es als Ebenen des Sich-Aufeinanderbeziehens jenseits des Hauses und der Nachbarschaft sowie gewissen Formen der Geselligkeit, wie sie die Griechen so sehr schätzten51, nur die verschiedenen Bürgerverbände gab: die klei50 Man kann die Stadien dieser Abgrenzung nicht genau erkennen. Immerhin ist es interessant, daß die Aufnahme von auswärtigen Handwerkern ins Bürgerrecht offenbar zunächst nicht schwierig war (Plutarch, Solon 24,4. Aristoteles, Athenaion Politeia 21,4). Als Themistokles fremde Handwerker nach Athen zu locken suchte, konnte er ihnen schon nicht mehr das Bürgerrecht bieten: Diodor 11, 43, 3. 51 Dazu P. Schmitt-Pantel (s. Anm. 1). Ob ihre Ergebnisse zu weitergehen94

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neren oder größeren Unterabteilungen, sowie die Bürgerschaft im ganzen. In ihnen allen hatten die Adligen das Sagen. Die Religion war weitgehend Sache der Polis oder eben ihrer Unterabteilungen. Davon unabhängige kleinere Kulte waren ebenfalls zumeist in der Hand von Adelsfamilien, so daß etwa Tyrannen wie Politiker, denen an Isonomie lag, diese kleinen Kulte abschaffen oder zurücktreten lassen wollten gegenüber denen der Gesamtgemeinde52. Und was dann noch an Kulten übrig blieb, war unbedeutend. Es gab nicht die Eigenwelt der Wirtschaft mit ihren vielfältigen Beziehungen und ihren speziellen Maßstäben zur Bemessung persönlichen Wertes. Nicht die nischenreiche Welt der Freizeit, schließlich auch nicht einen eigenen gesellschaftlichen Bereich, wie er sich in der Neuzeit neben und gegen den Staat bildete. Von vielem andern abgesehen, stand dem schon die weitgehende, außerordentliche Zurückdrängung der Frauen ins Haus53, die so äußerst weit getriebene Abspaltung ihrer Welt von der der Männer, entgegen. Der Überlegenheit des Adels scheint die Abschließung des gemeinsamen Bereichs einer Männergruppe korrespondiert zu haben, die zwar zumal die Adligen umfaßte, aber gegen die übrigen Bürger offen war. Der Rang der Männer war also, sobald sie sich auf ein größeres Publikum als die engste Umgebung beziehen wollten (und soweit es ihnen nicht genug war, etwa durch Handwerkskunst zu glänzen respektive im Handel Gewinne zu machen) identisch mit ihrem Rang unter den Bürgern. Über ihre Geltung, ihr Ansehen, darüber, wer sie waren, wurde in ungewöhnlich weitem Ausmaß in der Polis-Öffentlichkeit sowie in deren Teilbereichen entschieden54.

den Modifizierungen als den im Text vorgenommenen Anlaß geben, muß man sehen. 52 Aristoteles, Politik 1319 b 23. 53 C. Mossé, La Femme dans la Grèce Antique, Paris 1983. 54 Zur Bedeutung des »gesellschaftlichen Ranges« in frühen Kulturen: K. Polányi, The Great Transformation, Frankfurt 1978. 75. 95

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Und das geschah bemerkenswert konkret. Denn ein guter Teil des Bürgerlebens vollzog sich in der Verteilung von Rechten und Pflichten. Verteilung der Pflicht zum Wehrdienst, von Umlagen, aber auch von Beute, von Zugang zum Gemeinbesitz, von öffentlichen Einnahmen, die nicht gebraucht wurden, von Anteilen am Opfer – denn eigenartigerweise wurde das Opfer dort in der Regel von einer Gemeinschaft dargebracht und anschließend zum größten Teil gemeinsam verzehrt55. Vermutlich war auch das ein Überbleibsel aus ursprünglichen Verhältnissen, das überdauert hatte, weil kein Monarch und keine mächtigen Priesterschaften dazwischen gekommen waren. Die Verteilung von Rechten und Pflichten in den einzelnen Verbänden der Bürger56 war jedenfalls ein Zeichen dafür, wie unvermittelt die Polis von ihren Zugehörigen »ausgemacht« wurde (was eben kaum möglich gewesen wäre, wenn politische oder priesterliche Instanzen in irgend nennenswertem Ausmaß Macht auf sich versammelt hätten). Da die Bürgerschaft sich zugleich sehr deutlich von Sklaven, Nicht-Bürgern und Frauen schied, war mindestens ein Ansatz zur Gleichheit in ihr vorhanden, der verstärkt wurde, sobald die Angehörigen der mittleren Schichten als Hopliten einen gleichen Anteil am militärischen Aufgebot der Stadt übernahmen. Sie hatten sich dazu selbst auszurüsten. Trotzdem blieb das Gefälle zwischen Hoch und Niedrig zunächst eindeutig. Auch wenn die Vermögensunterschiede sich vergleichsweise in Gren55 W. Burkert, ›Opfertypen und antike Gesellschaftsstruktur‹. In: G. Stephenson (Hsg.), Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft, Darmstadt 1976. 168 ff. Homo Necans. Berlin/New York 1972. 47 f. Bemerkenswert sind vor allem die Parallelen zum alten Israel. – Zur Verteilung der Einnahmen: K. Latte, ›Kollektivbesitz und Staatsschatz in Griechenland‹. In: Nachrichten der Göttinger Akademie d. Wiss. 1946/7. 65 ff. 56 Für deren Wichtigkeit: Aristoteles, Politik 1264 a 7 ff. Sie war vermutlich nicht nur durch administrative Gründe, sondern auch durch die Notwendigkeit kleinerer Kultgemeinschaften bedingt. 96

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zen hielten, war die Oberschicht auf umfassende Weise zunächst weiterhin überlegen. Es wäre interessant, die griechischen Verhältnisse mit denen in Rom zu vergleichen, wo die Überlegenheit des Adels so groß und so wirksam war respektive wurde, daß sich die Abschließung der Bürgerschaft nach außen wesentlich abschwächte: Die Clienten waren sehr abhängig von ihren Patronen, und die Vermehrung der Clientel um Nicht-Zugehörige, das heißt deren Aufnahme ins Bürgerrecht war, mindestens auf die Dauer, zumeist nicht schwierig57. Die Gemeinsamkeit unter den Bürgern wog mithin sehr viel leichter: so schwanden auch mögliche Ansatzpunkte der Gleichheit in ihrem Innern. Um es zu wiederholen: Die Geltung des Mannes dokumentierte sich bei den Griechen in ungewöhnlich starker Weise in den Anteilen, die er zu leisten hatte und erhielt. Die Bedeutung aber, die dem Status innerhalb der verschiedenen Bürger-Publika für die meisten zukam58, mußte dadurch besonders groß sein, daß in den einfachen, eindimensionalen Verhältnissen jener Zeit vergleichsweise wenig Raum59 für jene Entlastungen gewesen sein kann, die unter andern Umständen die Wichtigkeit der öffentlichen Geltung des Einzelnen ein Stück weit auszugleichen vermögen; etwa für einen Ausbau jener »Innenwelt«, jenes »Privatraums« der Persönlichkeit, die in der Neuzeit indiziert war; in den Spannungen zwischen Kirche und Staat, zwischen christlich bestimmtem Gewissen und von außen kommenden Anforderungen wie zwischen den verschiedenen gegeneinander relativ selbständigen Bereichen, denen wir angehören. Es war wenig Raum auch für jene Hochschätzung des in der Vielfalt Besonderen, die das Persönlichkeits-Ideal der so komplexen 57 Vgl. Weber (wie Anm. 28) 808. 58 Vgl. H. Arendt, Vita Activa, München 1960. 49 ff. 55 ff. 33: Öffentlichkeit als »Bereich der Freiheit«. 59 Die Ausnahmen bestätigen vermutlich die Regel; es sind zumal die frühen Lyriker zu nennen. 97

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Spezialistengesellschaft der Neuzeit mit sich gebracht hat: da jeder Versuch, ein Ganzes zu sein, vielerlei Einseitigkeiten auszubalancieren hat. In der archaischen Zeit der Griechen dagegen mochten die Adelsideale zwar streckenweise auseinanderdriften, der eine sich mehr um den sportlichen Erfolg, der andere mehr um die rednerische Gewandtheit, der dritte mehr um Weisheit und rechte Polisführung mühten. Aber im ganzen waren das nur Variationen innerhalb eines geschlossenen und durchaus erreichbaren umfassenden Ideals von Mannesart, zu dem sich körperliche wie geistige Tugenden, Kraft und eine gewisse Kultiviertheit, auch Anmut der Äußerung mit Reichtum, Macht und entsprechenden Ehren zusammenfügten. Es war das Ideal, das zugleich in der Polis-Öffentlichkeit maßgebend war. Wie also konnte, wer nicht dazugehörte, seinen Wert beweisen? In der Regel blieb ihm gewiß nur, sich zu bescheiden. Wohl mochte der eine oder andere versuchen, seinen Reichtum zu mehren. Aber die Möglichkeiten dazu waren beschränkt, die Wege nicht sehr anerkannt60 (da wirklich größere Gewinne wohl nur durch Handel und Gewerbe zu erzielen waren), für die Mehrzahl der Bürger mittleren Vermögens kam das also nicht in Frage. Jetzt dagegen, zur Zeit der Reformen (wie der des Kleisthenes) eröffnete sich ihnen angesichts der Krise in den Beziehungen zu den Adligen, angesichts von deren Schwäche und Versagen eine andere Möglichkeit: der Aufstieg im Politischen.

60 Weber, Aufsätze zur Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 37) 32 f. Darin mag sich die Verteidigung derer, die den Aufstieg anderer fürchteten, und der Neid derer, die zu einem solchen Aufstieg unfähig waren, getroffen haben. Später kamen die Ansprüche der mittleren Schichten hinzu, daß die Bürger sich in der Politik zu engagieren hatten. Zusammen ergaben offensichtlich schon die beiden ersten Motive genügend Ablehnung, als daß diejenigen, denen der wirtschaftliche Aufstieg gelang, ihre Maßstäbe dagegen hätten durchsetzen können. 98

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Das entsprach genau den Wünschen nach Rechtssicherheit, den Empfehlungen der Weisen Männer, daß die Bürger sich um die Stadt zu kümmern hätten. Einsicht und jenes Randinteresse, das jeder an der öffentlichen Ordnung hat, trafen hier also zusammen mit dem Streben nach »Ehre«, dem Wunsch, sich auszuzeichnen. Diese Motive mußten nur freigesetzt und auf das neue Ziel, das sich auf einmal in Reichweite auftat, ausgerichtet werden. Dann konnten sie sich entfalten; konnte die Angst, hinter den andern zurückzubleiben, in ihrem Sinne das Handeln bestimmen. Dann war es den mittleren Schichten möglich, in der Öffentlichkeit, im privilegierten Bereich der Adligen, in dem sich zu betätigen so ehrenvoll war – charakteristischerweise war »Ehre« auch die Bezeichnung für das Amt61 –, eine mächtige, respektierte Position zu gewinnen. Wohl konnten sie mit den Adligen auf der Ebene der überlokalen Beziehungen, des Sports und in vielem anderen nicht gleichziehen. Aber im Politischen, dort, wo über die Machtverhältnisse entschieden wurde, konnten sie einen wesentlichen Anteil erhalten. Und das bedeutete nicht nur Einfluß, sondern auch Rang, eben die öffentliche Geltung, auf die unter griechischen Verhältnissen so sehr viel ankam. Immer haben die Griechen, in den entscheidenden Jahrhunderten ihrer Geschichte, das Recht zur Teilnahme an der Politik als Privileg empfunden. Immer entsprach der Gleichheit im Politischen eine Ungleichheit gegenüber andern. Paul Veyne62 bemerkt, noch in der radikalen Demokratie sei das Volk mit den Angehörigen der Oberschicht darin einig gewesen, daß die Demokratie sich nicht von selbst verstand. Sie wurde eher als Erweiterung eines Privilegs, denn als Verwirklichung eines universellen Rechts verstanden. Die Gleichheitsparole war zwar stark,

61 G. Gottlieb, Timuchen. Sitzungsbericht der Heidelberger Akademie d. Wiss. 1967. 9 ff. 62 ›Critique d’une Systématisation: Les Lois de Platon et la Réalité‹. In: Annales 37, 1982, 892 ff. O. S. 28 f. 42. 99

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aber sie war auch stets aktuell. Nie war es wirklich unstrittig, wer welchen Anteil an den politischen Rechten haben sollte63. Indem aber die Angehörigen der breiten Schichten im Politischen so stark mitsprechen konnten, wurde dieser Bereich lebhafter, strittiger, wichtiger. Wenn er immer zentral gewesen war, so gewann er jetzt einen wesentlich größeren Radius64. So konnte das Gemeinwesen wirklich, wie ein beliebter Ausdruck der Zeit es will, den Bürgern »in die Mitte« gelegt werden65. Mächtig konnten sie allerdings nur zusammen, nicht als Einzelne werden. Eben darin verwirklichte sich jetzt aber der Anspruch auf Gleichheit der politischen Rechte, der im Begriff Isonomie impliziert ist und in irgendeiner Form schon zur Zeit des Kleisthenes erhoben worden sein muß. Er muß die Behauptung einer qualitativen Gleichheit oder Ähnlichkeit derer, die diese Rechte genießen sollten, eingeschlossen haben66. So erfuhren sie sich aufs stärkste als Bürger, da sie nur in dieser Eigenschaft sich gleich sein konnten. (Übrigens gewannen sie damit nicht auch den gleichen Zugang zu den Ämtern; da galten für einige weiterhin Einschränkungen, zumeist nach Maßgabe des Zensus). Zur Entstehung dieser Gleichheitsbehauptung muß die mannigfache Erfahrung der Schwäche und des Versagens der Adligen beigetragen haben. Daß sie willkürlich statt gerecht, eigennützig statt im Interesse der Stadt handelten und überhaupt hinter den Ansprüchen, die sie erhoben, oft weit genug zurückblieben, war schon länger kritisiert worden67. Ihre Schwäche muß unter den Tyrannen besonders spürbar geworden sein. Jetzt konnte dar63 Aristoteles Politik Buch 3. Entstehung (wie Anm. 10) 299 ff. 64 Daher ging es nicht darum, die Stadt in eine position de commandement zu bringen (so Lévêque/Vidal-Naquet wie Anm. 14. 16 f.). 65 Vgl. M. Detienne, ›Géometrie, Politique et Société‹. In: Annales 20, 1965, 425 ff. 66 Herodot 3,142,3. Vgl. aus späterer Zeit Aristoteles, Politik 1287 a 10. 1295 a 19 u. ö. Vorher kommt schon in Sparta der Anspruch der Bürger auf, homoioi zu sein (Spahn, wie Anm. 20) 98 ff. 67 Raaflaub (wie Anm. 16) 33. 100

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aus die Konsequenz gezogen werden, daß die Adligen keinen größeren Anteil an der Polis haben sollten als die andern Bürger. Man brauchte sie weiterhin als diejenigen, die Politik zu machen verstanden, aber sie sollten es im Sinne der Gesamtheit tun, ohne Willkür, mit Rücksicht auf das Volk; das hieß Isonomie. »Immer sind es die (dem Status nach) Geringeren, die nach Gleichheit und Gerechtigkeit streben«, hat Aristoteles später geschrieben68, und irgendetwas von einem solchen Bewußtsein, von der Überzeugung, für das Ganze mindestens ebenso verantwortlich zu sein wie die Adligen und mitwirken zu müssen, muß in den Mittelschichten der Bürger damals lebendig gewesen sein. Entsprechend müssen sie im Politischen neue Regeln und Kriterien geltend gemacht haben. Die Gleichheit in politicis bedeutete um so mehr, als alle Ungleichheiten des Vermögens, der Bildung, der Erfahrungen, Beziehungen und des Auftretens bestehen blieben. Und daran sollte sich auch nichts ändern. Die Bürger begegneten sich künftig gleichsam auf verschiedenen Ebenen. Im Politischen galten andere Maße als sonst. Wohl ließ sich das eine nicht ganz vom andern trennen, immerhin wurde die Menge der Gleichen zu einer Macht, die nun die Adligen in ihren Dienst nehmen konnte, und das muß sich im großen wie im kleinen ausgewirkt haben. Sobald aber im politischen Bereich und nur dort Gleichheit galt, war er umgekehrt zusätzlich ausgezeichnet (wie später mutatis mutandis die kirchliche Gemeinde)69; schon dadurch, daß sich hier ein Weg zum Aufstieg eröffnete, für die meisten der einzige. So wird das relativ starke Interesse, das mindestens die »Honoratioren zweiten Ranges« für das Engagement als Bürger aufbrachten, erklärlich. Es läßt sich zugleich genauer bestimmen: Es ging ihnen mindestens ebenso sehr um den Anteil am Gemeinwesen wie um die Verwirklichung bestimmter Ziele. Sie wollten dabeisein in der politischen Öffentlichkeit. Das war im 68 Politik 1318 b 4. 69 Veyne (wie Anm. 62) 893. H. Arendt (wie Anm. 58) 35. 101

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übrigen nur konsequent. Unterdrückung, Willkür, Machtlosigkeit – gegen all das konnte nur direkte Beteiligung an der Politik und eben: die Gleichheit, in der sie geübt wurde, etwas ausrichten. Daher auch wurde die Gleichheit so sehr betont, statt daß etwa Freiheit oder Herrschaft die Parolen bestimmt hätten70. Der Gleichheitstrieb war das anthropologische Unterfutter des Bürger-Engagements. Um es mit Jacob Burckhardt zu sagen: »Die Griechen haben nie bürgerliche Gleichheit mit politischer Ungleichheit zu verbinden gewußt. Der Arme mußte, zu seinem Schutz gegen Unbill, Mitstimmer, Richter und Magistrat sein können«71. Gleichheit und eine gewisse Garantie der Gerechtigkeit für mittlere und untere Schichten konnten nur zusammen entstehen, und die enge Verbindung, in der die Begriffe von Gleichheit und Gerechtigkeit in der folgenden Zeit stets begegnen, bestätigt das72. Eben deswegen – und nicht nur, weil die Poleis klein waren und weil sie bestimmte Institutionen wie die Volksversammlung schon hatten – mußte die Isonomie wie anschließend die Demokratie weitgehend direkt sein. Weil es um die Teilhabe selbst ging, konnte man nicht vertreten werden. Man konnte sich höchstens im Turnus ablösen, wie Aristoteles später definiert: Es konnte – und sollte – einen Wechsel zwischen Regierenden und Regierten geben73. Wenn der Rat streckenweise die Volksversammlung ersetzen konnte (und mußte), so blieb er doch ganz auf sie bezogen, und es war vieles vorgesehen, damit er keine besondere Macht und Selbständigkeit ihr gegenüber entwickelte. 70 Entstehung (wie Anm. 10) 283 ff. 293 ff. Zur Freiheit, die erst viel später wichtig wird, Raaflaub (wie Anm. 16). 71 Griechische Culturgeschichte 1, 322. Die Äußerung ist fast wörtlich von Fustel de Coulanges übernommen. 72 Entstehung (wie Anm. 10) 283 f. 73 Politik 1253 a 19 ff. 1317 b 2.13. So schon Euripides, Hiketiden 406 f. Vgl. Phoinissen 542 ff. R. G. Mulgan, ›Aristotle and the Democratic Conception of Freedom‹. In: Auckland Classical Essays pres. to E. M. Blaiklock, Auckland/Oxford 1970. 95 ff. 102

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Vermutlich wirkten im Streben so vieler Bürger nach unmittelbarer Teilhabe an der Politik noch andere vitale Antriebe mit, etwa das alte, wohl ebenfalls nicht gebrochene Bedürfnis nach Autarkie74, danach also, selbst für alles aufzukommen, das sich jetzt auf die gemeinsame Politik erstreckte. Ihm korrespondierte eine vergleichsweise geringe Fähigkeit, sich auf andere zu verlassen; es gab wenig Druck, sie auszubilden, wenig Anlaß aber auch nach den schlechten Erfahrungen, die man mit den Adligen, zumal nach dem Bruch vieler Selbstverständlichkeiten hatte machen können75. Das Bedürfnis nach Autarkie entsprach aber auch dem Zuschnitt des Polis-Lebens, denn dort gab es nicht die Möglichkeit, sich in größeren Zusammenhängen »aufheben« zu lassen. Die Wirklichkeit blieb konkret und überschaubar, so daß es nahe lag, in sie, wenn es ärgerlich war, direkt einzugreifen. Schließlich war die Öffentlichkeit für die Griechen schon rein äußerlich stark ausgezeichnet: Die eigenen Häuser waren eng, der gemeinsame Bereich, in dem man sich traf, um so wichtiger. Man baute ihn aus, und was dabei herauskam, war durchaus eigenartig: jedenfalls fiel es andern auf, daß die Griechen eine Agora hatten76. Sie wurde für sie mit der Zeit immer mehr zum Zentrum des Gemeinwesens. Anders als der moderne Staat, der in einem Palast, in Regierungsgebäuden, allenfalls noch im Parlament versammelt ist, war es die griechische Polis auf freien Plätzen – Agora, später auch Pnyx und Theater. Sie unterschied sich dadurch zugleich von Rom, wo das Forum zwar in der 74 A. Aymard, ›Hiérarchie du Travail et Autarcie Individuelle …‹ In: Revue d’Histoire de la Philosophie N.S. 2, 1943, 124 ff. ›L’Idée de Travail dans la Grèce Archaique‹. In: Journal de Psychologie 41, 1948, 29 ff. Veyne (wie Anm. 62), 895. Für die Macht dieses Strebens spricht wohl auch die Schwierigkeit der frühen Griechen, in Freundschaftsbünden aufzugehen, die Peter Spahn in seiner leider noch unveröffentlichten Habilitationsschrift aufgewiesen hat. Auch die mangelnde Ausbildung von Clientelen. 75 Entstehung (wie Anm. 10) 128. Vgl. Aristoteles, Politik 1305 a 18 ff. 76 Herodot 1,153. Vernant, Origines (wie Anm. 43) 44 ff. Burckhardt (wie Anm. 7) 1, 52 f. 103

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Mitte der Stadt lag, aber das eigentliche Zentrum der res publica eher im sakralen Gebäude des Senats zu suchen war, dem gegenüber etwa die Plätze für Volksversammlungen sichtlich untergeordnet waren. Auf den freien Plätzen aber war die Bürgerschaft an einem sehr reichen öffentlichen Leben beteiligt: nicht nur an der Politik, sondern auch an den Festen, besonders an den Wettbewerben. Nachdem die Tyrannen einen Wettstreit zwischen Tragödien geschaffen hatten, wurde bald nach ihrer Vertreibung ein Wettsingen zwischen Bürger-Chören eingerichtet77. Was immer zu solchen Agonen geführt haben mag, es zeigte sich darin, daß die Bürger auch in der Kunst der Entscheidung darüber, wer der beste sei, beiwohnen wollten. Sie wollten nicht nur die von einer Jury bestimmte beste Tragödie oder den besten Chor vorgesetzt bekommen, sondern der Austrag selbst, die Entscheidung zwischen ihnen sollte vor ihren Augen erfolgen. Sie wollten auch dafür aufkommen. Das brauchte viel Zeit, Gelegenheit zum Dabeisein, zum Zusammensein, zum konkreten Erleben der Gemeinsamkeit. Denn es ist die Bürgerschaft, die sich dabei zum Theater macht78. Sehr Verschiedenes also kam zusammen, um eine bestimmte Disposition für das politische Engagement breiter Bürgerschichten entstehen und immer weiter sich ausbilden zu lassen. Letztlich war die Bewahrung der ursprünglichen, agrarisch fundierten Zugehörigkeitsstruktur durch alle Veränderungen der Kulturbildung hindurch entscheidend; die Tatsache also, daß die griechische Kultur ohne Monarchie, vielmehr aus der Mitte der Bürgerschaft heraus gebildet wurde. So blieb die einfache Wertskala des Adels in Kraft; da die Aristokraten aber vielfach keine stabile Ordnung aufbauen konnten, im Gegenteil eher ungebunden dem Genuß ihrer Möglichkeiten sich hingaben, konnten die Honoratioren zweiten Ranges es mit ihnen politisch 77 Marmor Parium A 43.46. 78 J.-P. Vernant, Mythe et Tragédie 1, Paris 1981. 24. 104

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aufnehmen. So konnte die Öffentlichkeit der Stadt auf neue, sehr viel intensivere Weise wichtig werden. So kam es dazu, daß die »Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen … im Wege äußerer oder innerer (Motiv) Auslese« dem Bürger-Typ, der sich damals herausbildete, »die optimalen Chancen« gab, »zum herrschenden zu werden«79. Verschiedenste Motive verquickten sich, um bürgerliche Verantwortung hervorzubringen und sich an ihr zu stabilisieren. Gewiß war es nicht von vornherein notwendig, daß das geschah. Aber es ist durchaus erklärlich, wie es geschehen konnte. Man muß sich nur auf die sehr besonderen, uns fremd anmutenden Voraussetzungen der damaligen Griechen besinnen. Allerdings ist damit noch nicht deutlich, wie dieses Engagement auf Dauer möglich war, sich also zu regenerieren pflegte. Gab es damals nicht den – von Albert Hirschman80 beobachteten – Wechsel von Engagement und Enttäuschung? Jedenfalls können wir hier nicht einfach nur mit einer Unzahl immer wieder gefaßter Beschlüsse von Einzelnen rechnen, diese müssen sich vielmehr aus einer allgemeineren Kraft ergeben haben, die die Einzelnen dazu brachte, sie stets neu zu fassen.

Die Kraft der Bürger-Identität

Die Veränderung, die sich zur Zeit des Kleisthenes vollzog, läßt sich, wie eingangs schon gesagt, am angemessensten als Wandel der kollektiven Identität begreifen. Was damals geschah, betraf nicht nur die Institutionen und Machtverhältnisse, nicht nur einfach das Bewußtsein oder die Mentalität, sondern eben jenen 79 M. Weber, Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. Aufl. Tübingen 1968. 517 f. Wirtschaft (wie Anm. 28) 20 f. Dazu W. Hennis, Max Webers Fragestellung. Tübingen 1987. 55 ff. 80 A. O. Hirschman, Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt/M. 1984. 105

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Kern dessen, was Menschen sind, den wir Identität nennen. Wie langfristig auch immer das vorbereitet gewesen war, so rasch geschah dieser Wechsel doch, als das neue Bürger-Sein institutionelle Form gewann. Es entstand damals in Athen – wie andernorts – eine starke Bürger-Identität, Die Eigenschaft des Bürgers, die vorher gewiß nicht unwichtig gewesen war, in der die Angehörigen der breiten Schichten sich aber eher passiv als aktiv verhalten hatten, rückte für viele von ihnen ins Zentrum ihrer Zugehörigkeiten. Sie bestimmten sie neu, indem sie sie politisch nahmen. Ich habe deswegen früher von »politischer Identität« gesprochen. Angesichts der Mißverständnisse, zu denen das aufgrund der Geschichte und Bedeutungsvielfalt des Wortes »politisch« führen kann, scheint mir der Begriff Bürger-Identität besser angebracht zu sein. Kollektive Identitäten bestehen, soweit sie wirklich in unsere Ich-Identität eingehen, in Zugehörigkeiten, die uns nicht nur äußerlich, sondern so zentral sind, daß sie uns in irgendeinem Sinn bestimmen; daß wir ohne sie unser Selbst nicht denken können. Es sind Zugehörigkeiten, die sich nicht einfach auswechseln lassen, die wir nicht aufgeben können, ohne das Gefühl zu haben, wir verwandelten uns selbst; vielleicht gar wir würden uns untreu. Solcher Zugehörigkeiten pflegt man mehrere zu haben, von der Familie über Freundeskreise, Berufsgruppen, Konfessionen, Gewerkschaften, Parteien bis hin zu Nationen und eventuell übernationalen Verbänden. Sie können stärker oder schwächer, eher zentral oder eher peripher sein. Und das kann auch variieren. Die Ich-Identität muß keineswegs darunter leiden, daß sie verschiedene bestimmende Zugehörigkeiten auszubalancieren hat. Sie kann daran wachsen. Aber sie kann auch schwierig und eng werden, wenn sie sie alle nur äußerlich, wenn sie nur eine oder gar keine wirklich als Teil von sich selbst nimmt. Es ist wahrscheinlich kein Wunder, daß heute so viel von Identitätsproblemen geredet wird. 106

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Aus diesen Zugehörigkeiten bildet der Einzelne eine bestimmte Struktur. Und die Ausprägung dieser Struktur wird bei aller Individualität stark von der Gesellschaft, also von jenem Ganzen her, das wir alle zusammen ausmachen, bestimmt. Anders gesagt: sie ist gesellschafts- und epochenspezifisch. Bestimmte Zugehörigkeiten sind in bestimmten Zeiten stark, in andern schwach; ja zuweilen sind umfassende Wir-Identitäten nur vage vorhanden, so daß man eher im Privaten, vielleicht in Nischen lebt und dort seine Ich-Identität zu pflegen sucht. Solche gesellschaftlichen Bedingungen sind es ja auch, die zuweilen eher die Ausbildung starker Individualitäten zulassen oder gar anregen, zuweilen dagegen den Spielraum dafür eher einschränken; oder auch – was nicht dasselbe ist – einmal eher weitgehende Besonderheit der Charaktere fördern, ein anderes Mal auf relativ geschlossene, »typische« Ausprägung ihrer Mitglieder hinwirken, ein wieder anderes Mal bemerkenswerte Variabilität, vielleicht den »Mann ohne Eigenschaften« auszubilden nahelegen. Auch die Ausprägung von Typen kann sehr verschieden ausfallen. Es mag zum Beispiel sein, daß der vorherrschende Typus nur in bestimmten Teilen der Gesellschaft erzeugt wird, während andere davon frei bleiben oder sich gerade dagegen absetzen können. Stets bleibt zu fragen, welches Verhältnis zwischen den verschiedenen Zugehörigkeiten (etwa zu Klassen oder Parteien und Nationen) sowie zwischen denen, die an starken Zugehörigkeiten teilhaben, und denen, die sich ihnen entziehen, besteht. Wo etwa die Grenzen der allgemeinen sowie der etablierten partikularen Konformitäten verlaufen, wie groß der Anteil der »Außenseiter« ist und wie man ihnen begegnet. Es ist weiterhin zu unterscheiden zwischen Wir-Identität und bestimmten Beziehungen auf äußere Instanzen, die so intensiv sind, daß sie Teil einer Identität werden können; auf den Staat als solchen etwa (im Unterschied zur Nation), auf eine Sache, welcher Art immer sie sei. Soweit die nicht ihrerseits eingefangen werden in Wir-Identitäten (etwa im Rahmen einer 107

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Armee oder einer Kommunität von Forschern), sind sie wohl auf besondere Eigenständigkeit und eine feste, sehr spezifische Individualität angewiesen. Doch diese sehr allgemeinen, skizzenhaft-beliebigen Erwägungen sollten nur einerseits andeuten, welches Instrumentarium zur genaueren Erfassung von Gesellschaften und deren Veränderung eine Identitätstheorie81 bieten könnte. Es kennzeichnet Gesellschaften, auf welche Weise ihre Mitglieder ihnen selbst und andern Gruppen zugehören und welche Spielräume zur Ausbildung von Individualität sie entwickeln. Andererseits und vor allem aber sollte der Hintergrund skizziert werden, vor dem deutlich werden kann, was die Bürger-Identität der Griechen gewesen ist. Sie war ohne ernsthafte Konkurrenz. Weder im Religiösen noch im Wirtschaftlichen bestanden Zugehörigkeiten, die es irgendwie mit der politischen hätten aufnehmen können. Diese war vielmehr die einzig nennenswerte oberhalb des Hauses und der Nachbarschaft sowie der verschiedenen Kreise von Geselligkeit und sportlichem Wettbewerb, die die politische Zugehörigkeit vermutlich eher ergänzt haben, als daß sie zur Auffächerung der Zugehörigkeitsstruktur hätten beitragen können. So war die Bürger-Identität, sobald sie sich einmal herausgebildet hatte, potentiell außerordentlich kompakt. Sie war zudem besonders wichtig, weil sie sich auf die Zugehörigkeit zu einer privilegierten Gruppe bezog, ja zu einer Gruppe, welche zwar nur ein Teil von denen, die in der Polis lebten, war, trotzdem aber das Ganze der Polis unmittelbar ausmachte. Denn diese war »nichts als ihre Bürger alle zusammen« (P. Veyne)82. Die Bürger-Identität muß bei den Angehörigen der mittleren und unteren Schichten durch eine besondere Solidarität unter81 Vgl. etwa O. Marquard / K. Stierle (Hsg.), Identität, München 1979. 385 ff. 82 P. Veyne (wie Anm. 62) 902. 108

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fangen gewesen sein. Das ergab sich aus ihrer Unterlegenheit gegenüber den Adligen, die sie nur dadurch ausgleichen konnten, daß sie relativ eng zusammenhielten. Daß ihnen dies weithin gelang, scheinen sowohl Herodot wie Aristoteles zu bezeugen, indem sie feststellen, das »Volk« pflege im Unterschied zu den Reichen respektive Adligen nicht in Parteiungen zu zerfallen83. Diese Äußerung läßt zwar offen, daß seine Angehörigen immer wieder verschieden votierten, sie bedeutet aber, daß sie trotzdem offenbar fähig waren, ihr gemeinsames Interesse, sofern es auf dem Spiel stand, gemeinsam wahrzunehmen. Sie waren sich wohl auch in den Grundlinien der Politik zumeist einig. Da die Parteiungen in den Demokratien weithin gegenstandsabhängig gewesen sein müssen, konnte sich das eine mit dem andern durchaus vertragen. Nur ist damit die Solidarität, ist vor allem die starke politische Aktivität, in der sie sich manifestiert haben muß, noch nicht begründet. Was gibt es nicht alles an gemeinsamen Interessen breiter Schichten, und sie werden trotzdem kaum verfochten! Auch das Bewußtsein einer Verantwortung für die Stadt kann, für sich genommen, noch kein regelmäßiges politisches Engagement nach sich ziehen. Die Erklärung muß vielmehr tiefer ansetzen. Letztlich haben wir es hier wohl mit einer ganz neuen Vorstellung vom Bürger, mit deren Befestigung im allgemeinen Zusammenwirken und Verständnis, insgesamt und genau gesagt: mit der Institutionalisierung einer eigenartig neuen oder jedenfalls neu akzentuierten Öffentlichkeit zu tun. Nachdem sich die Öffentlichkeit der Polis, die zunächst die Sphäre des Adels gewesen war, auf die Bürger ausgeweitet hatte, scheint sie um so klarerer Abgrenzungen bedurft zu haben. Die Einzigartigkeit des Phänomens läßt es nicht zu, es insgesamt auf Regeln zurückzuführen. Immerhin wird Einiges daran wohl halbwegs sicher zu rekonstruieren sein. 83 Herodot 3,82,4. Aristoteles, Politik 1302 a 13. Ch. Meier, Introduction à l’Anthropologie Politique de l’Antiquité Classique. Paris 1984. 50 ff. 109

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Es ist sehr merkwürdig, daß die Angehörigen der breiten Bürgerschichten trotz ihrer beherrschenden politischen Stellung, soweit wir sehen können, ihre wirtschaftlichen Interessen, etwa als Bauern, Handwerker oder Kaufleute, nicht in die Politik einbrachten84. Wohl beobachten wir verschiedentlich, freilich zumal im vierten Jahrhundert, Gegensätze zwischen Reichen und Armen85. Aber einerseits konnten die so klar nur herauskommen, weil andere, eher spezifische wirtschaftliche Interessen, welche eventuell geeignet gewesen wären, bestimmte Reiche und bestimmte Arme zu vereinen, nicht politisiert wurden86. Andererseits kamen die Ansprüche der Armen genaugenommen nicht aus dem wirtschaftlichen, sondern aus dem politischen Bereich. Denn es ging ihnen um eine bestimmte Politik, die ihnen als Bürgern, nicht aber etwa als Bauern, Handwerkern, Kaufleuten oder Tagelöhnern zugute kommen sollte. Wir haben nicht den geringsten Anlaß zu der Annahme, daß die Angehörigen der mittleren und unteren Schichten in Griechenland ihre Interessen nicht verfochten hätten. Aber es ist zu fragen, wie sie diese damals genauer bestimmten und als was sie sie hegten. Und es liefe sicher auf eine totale Verkennung der Eigenart der damaligen Gemeinwesen wie der heutigen Gesellschaften hinaus, wenn man die moderne Erfahrung, nach der Bürger politischen Einfluß dazu nutzen, um ihre primär aus der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Sphäre erwachsenen Interessen zu verfolgen, auf die Antike einfach übertrüge87. Wenn 84 Eine Ausnahme, die die Regel bestätigt: Aristoteles, Politik 1330 a 20. Vgl. Platon, Nomoi 745 e. 85 Finley (wie Anm. 17) 1 ff. 12 f. Mit Gnomon 507. H. J. Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jh.s v. Chr., München 1985. 86 Es gab etwa keine gemeinsamen politischen Ziele von am Export oder an bestimmten Gewerben Interessierten! Solche Interessen hätten übrigens auch eine Vertretung durch einen engeren Kreis von Honoratioren zugelassen, wie sie im Mittelalter möglich war. 87 Gnomon (wie Anm. 17) 505 ff. A. Heuß (wie Anm. 123) 275 f. 110

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die attischen Theten, also die unterste Schicht der Bürgerschaft, im weiteren Verlauf des fünften Jahrhunderts eine bestimmte Außenpolitik trugen, die ihnen etwa Beute, Sicherung der Diäten oder sogar Landbesitz in den Kleruchien (welche zugleich militärische Garnisonen zu sein pflegten) versprach, so taten sie dies als Bürger, die zugleich für ihre häusliche Existenz sorgten; nicht als Hausherren, die die Politik zum Instrument ihrer primär wirtschaftlichen Ziele gemacht hätten. So jedenfalls aufs Ganze gesehen. Denn die breiten Schichten wären mit ihrer Politik nicht weit gekommen, hätten diese vielmehr Funktionären überlassen müssen, wenn sie nicht sehr weitgehend und vornehmlich als Bürger tätig gewesen wären, wenn sie sich dort nur nach Maßgabe ihrer häuslichen Interessen hätten beteiligen wollen. Und das ist entscheidend. Denn es geht dabei nicht um den Einzelnen – der die Dinge so oder so handhaben mochte –, sondern um das Typische, um die Gravitationen, die durch viele andere Tendenzen hindurch prävalieren und das Ganze bestimmen. Irgend etwas muß also die griechischen Bürger davon abgehalten haben, Politik nur als Mittel für unpolitische Ziele zu benutzen. Anders gesagt: Es muß ihnen die intensive Teilnahme an der Politik als solcher, das so eigenartig anspruchsvolle BürgerSein dauerhaft wichtig gemacht haben. Es ist keine bloße Einzelheit, daß sich damals ein ungewöhnlich großer Teil der Bürgerschaft in der Politik engagierte, während wir uns heute durch relativ wenige darin vertreten lassen. Keine bloße Einzelheit auch, daß die Polis ziemlich beliebig mit den Einzelnen und mit ihren Vermögen zu schalten vermochte88. Vielmehr ist es Teil einer ganz anderen Lebensform. Wenn wir von uns ausgehen, erscheint es uns etwa, wie wenn sich die Griechen besonders für Politik interessiert hätten. Anders können wir das nicht deuten. Aber diese Deutung ist falsch, denn sie waren nicht, wie wir, von Haus aus unpolitische Bürger, sondern in einem solchen Aus88 Weber, Wirtschaft (wie Anm. 28) 809 f. 111

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maß in Politik involviert, daß diese sie einfach anging, weil es ihre Sache war – weithin unabhängig davon, wieweit die Gegenstände der Politik den Einzelnen in seiner häuslichen Existenz betrafen oder ihn aus ästhetischen oder existentiellen Gründen »interessierten«. Das ergab sich mit der Formierung ihrer Antriebe. Alles »idealistische« Verständnis ist da fehl am Platz. Wir sollten sie im ganzen zu begreifen suchen. Und dabei muß klar sein, daß uns die Griechen im ganzen außerordentlich fremd sind. Wir haben Mühe, sie zu ›verstehen‹. Und wir gehen ganz gewiß in die Irre, wenn wir in ihnen uns selbst – oder ein Idealbild vom Menschen, das wir uns in humanistischem Zusammenhang gemacht haben – suchen. Sie bildeten vielmehr eine ganz eigene Spezies. Die Kluft, die sich bei ihnen zwischen dem »engen Bezirk des Hauses« und dem »Bereich des Politischen« auftat89, bezeugt sich zugleich in ihrer eigenartigen Haltung gegenüber Spezialisten. Denn neben der Hochachtung für deren Können90 stand, wie wir verschiedentlich hören, ihre geringe Schätzung als Bürger. Ihre Ausbildung nämlich wie die Ausübung ihres Metiers entfernten sie, wenn sie wirklich Beachtliches leisten wollten, von der Öffentlichkeit, vom Zusammensein mit andern, von der gehörigen Pflege von Freundschaften; es minderte de facto ihre Teilnahme am Bürger-Leben91. Dadurch fehlte den Spezialisten etwas Entscheidendes. Das Maß des Bürgers war folglich so wichtig, vor allem: soweit eigenständig, daß ein von außerhalb der politischen Sphäre begründeter Rang es nicht beeinflussen konnte. Nur für Nicht-Bürger und Sklaven (und 89 H. Arendt (wie Anm. 58) 35. 90 Vgl. Entstehung (wie Anm. 10) 435 ff. 91 Vgl. Ch. Meier, ›Arbeit, Politik, Identität. Neue Fragen im alten Athen?‹ In: V. Schubert (Hsg.), Der Mensch und seine Arbeit, St. Ottilien 1986. 47 ff. ›Griechische Arbeitsauffassungen in archaischer und klassischer Zeit. Praxis. Ideologie. Philosophie. Weiterer Zusammenhang‹. In: M. Bierwisch, Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen. Berlin 2003. 19 ff. 112

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unter den Frauen für diejenigen, die man speziell für Geselligkeit und Liebe brauchte) war es ein reiner Vorteil, Spezialist zu sein. Sie waren ja nichts anderes. Die Bürger aber wollten möglichst umfassend sein, was alle waren; höchstens im Politischen hervorragen. Auch die körperliche Ausbildung der Bürger hatte kein Spezialistentum (Athletentum) zum Ziel92. Es mag sich in diesen Hinsichten durchaus die Tatsache ausgewirkt haben, daß die Öffentlichkeit der Polis traditionell so sehr von den Adligen bestimmt war. Die Angehörigen der mittleren Bürgerschichten konnten sie dann zwar modifizieren, indem sie das Politische im engeren Sinne besonders akzentuierten. Aber sie mußten dazu wohl auch ihr Privatleben gleichsam zu Hause lassen. Sonst wären sie eben doch nur Bauern oder Handwerker und nicht so sehr Bürger gewesen. Sonst wären sie der Verantwortung für das Ganze, aus der sie ja ihre Ansprüche als Bürger ableiteten, nicht gerecht geworden. Sonst hätten sie kaum prätendieren können, es den Adligen gleichzutun. Letztlich hatten sie – außer im Politischen – keine Alternative gegenüber der Aristokratie. Mithin scheinen sie zunächst gegen den Adel, dann aber wohl auch gegeneinander in der Öffentlichkeit ihre häuslichen Angelegenheiten im Hintergrund gehalten zu haben. Indem diese Männer erstaunlicherweise im Politischen, und nur im Politischen, hochkamen, mußten sie offenbar von sich abspalten, was sie sonst noch waren, eben im Sinne jener Kluft, die für sie künftig das öffentliche vom privaten Dasein trennte. Sie waren deutlich zweierlei, Bürger und Hausherrn93. Beides stand natürlich nicht völlig, aber relativ weitgehend unvermittelt nebeneinander. Und es war letzten Endes nicht trotz, sondern wegen ihrer beherrschenden Stellung – weil sie die anders nicht hätten halten können –, daß sie ihre Interessen als Bauern, Handwerker, Kaufleute außerhalb der Politik hielten. 92 Aristoteles, Politik 1335 b 6. M. I. Finley / H. W. Pleket, Die olympischen Spiele in der Antike. Tübingen 1976. 185. 93 Veyne (wie Anm. 62) 885. 893. 113

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Der öffentliche Bereich wurde damit stärker als zuvor eine Welt für sich, die übrigens in der Konsequenz, in die Perikles die Dinge trieb, erstaunlich weitgehend von allem andern abgetrennt wurde94. In ihr herrschte eine weitreichende, kühne Rationalität sowie jene Gesetzmäßigkeit, die das Verhältnis zwischen den Bürgern als Bürgern regelte95. In ihr waren die Bürger etwas, was sie sonst nicht waren, was sogar im Gegensatz stand zu vielerlei Unterschieden, die herkömmlich maßgebend waren, nämlich »der Natur nach Gleiche«96. Der Ausdruck stammt von Aristoteles, aber die Auffassung der Bürger als hómoioi, also als Gleiche oder Ähnliche, meint im wesentlichen dasselbe, und sie ist älter97. Indem dieser Anspruch dem Augenschein so sehr widersprach, zeigt sich in ihm, wie sehr das Politische eine Ebene für sich bildete, wie sehr mit der Konstituierung der neuen Öffentlichkeit der Bürger die übliche Korrespondenz zwischen politischer und gesellschaftlicher Ordnung durchbrochen worden war. Daher bedurfte die neue Öffentlichkeit einer besonderen Befestigung, daher muß die Auffassung und Selbsterfahrung der Bürger als Bürger wohl einen starken Konformitätsdruck mit sich gebracht haben. Darauf drängte nicht nur das Verhältnis zu den Adligen. Denn die Angehörigen der breiten Bürger-Schichten unterschieden sich von den Nicht-Bürgern und Sklaven und auch von den Frauen nicht so klar, wie es die wohlhabenden, gebildeten, an Beziehungen reichen, rundum überlegenen Adligen gegenüber allen andern taten98. So mußte es wohl notwendig dazu kom94 W. Nippel, ›Die Heimkehr der Argonauten aus der Südsee‹. In: Chiron 12, 1982, 26 ff. 33. 95 Vernant (wie Anm. 43). Gernet. 96 Aristoteles, Politik 1261 a 39. 1284 a 1 ff. 1295 b 25. Vernant, Origines (wie Anm. 43) 56 ff. Mythe 2, 28 f. 97 In Sparta wohl schon im 6. Jh. aufgekommen. V. Ehrenberg, Polis und Imperium, Zürich/Stuttgart 1965. 219. Spahn (wie Anm. 20) 98 ff. Für das 5. Jh. s. v. a. Herodot 3,142,3. 98 Speziell zu den Frauen: Wohl nie in der Weltgeschichte konnte die 114

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men, daß sie das, was sie auszeichnete, besonders stark herauskehrten und -bildeten: ihre Männlichkeit, den Status des Freien und eben den des Bürgers. Sie fügten sich mit andern Eigenarten zur Einheit dessen zusammen, was nun den Bürger ausmachte. Darin wird nurmehr bedingt das Grundeigentum, aber vermutlich noch das alte Streben nach Autarkie in der Form enthalten gewesen sein, daß sie ihre politischen Interessen selbst besorgen und nicht nach dem Willen anderer leben wollten. Autark freilich konnten sie nicht als Einzelne, sondern nur zusammen, im Zusammenwirken sein99. Die so sich herauskristallisierende Vorstellung vom Bürger war dadurch bestimmt, daß sie sehr allgemein und umfassend und noch erfüllbar war. Bürger (und Krieger) zu sein – das war schon das Ganze, und darin war schon fast alles versammelt, was in dieser Welt zählte. Burckhardt spricht von dem »Volk, in welchem, wer irgend konnte, für das Ganze sich ausbildete und lebte und nicht für ein Besonderes«100. Er bemerkt an anderer Stelle, die Griechen wären auch als Individuen weithin Typen gewesen: »Und endlich das vollendete Individuum im Altertum ist dann vor allem polítēs in einem Grade, wovon man jetzt, in der jetzigen Manier des Verbandes zwischen dem Einzelnen und dem Staat, gar keine Ahnung mehr hat.« Da wir uns heute nämlich in einem Zustand befinden, in dem der »jetzige Privatmensch … als Individuum existieren will »Herrschaft« der Männer für ihre Frauen so wenig plausibel sein wie in der attischen Demokratie, wo sich der kleine Mann von seiner Frau intellektuell, durch Erfahrung, Beziehungen, Weltgewandtheit relativ wenig unterschieden haben kann. Ob es sich damit in der Isonomie so viel anders verhielt, ist fraglich. Die Frauen des Adels dagegen waren einer größeren Überlegenheit ihrer Männer konfrontiert; außerdem nahmen sie an deren Privilegien bedingt teil. Man muß unter diesem Gesichtspunkt einige Komödien des Aristophanes, vielleicht auch einige Tragödien neu lesen. 99 Politik und Anmut (wie Anm. 6) 18 f. Zur starken Ausbildung der virilité Veyne (wie Anm. 62) 897. 100 Vorträge, Basel 1919. 163. 115

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und vom Allgemeinen nur möglichste Sicherung für seine Person und Habe verlangt und dafür mit Seufzen seine Steuern bezahlt, auch gerne als ›Beamten‹ sich ans Allgemeine in speziellem Sinn anhängt«101. Diese ›Typen‹ waren dadurch bestimmt, daß sie mit ihresgleichen zusammen das Gemeinwesen ausmachten. Ein Gemeinwesen, dessen Mitglieder sich seit je primär aufeinander bezogen hatten, nicht – oder nur ausnahmsweise – auf höhere Instanzen102. Es ergab sich also kein Typus des Gehorsams, der Einfügung ins Glied, sondern einer des Freien, Selbständigen, Verantwortlichen, freilich auch des mit andern Solidarischen – aber eben mit denen, die nichts über sich hatten außer Göttern, Gesetzen und allgemeinen Normen, Vorstellungen von Gut und Böse, richtig und falsch. Vielleicht muß es so sein, daß diejenigen, die ein Ganzes nicht als Teile eines Uhrwerks, sondern eben mit ihresgleichen ausmachen, unter sich – falls es dazu kommt – neben der Gleichheit der Rechte weitgehend auch die der Art nach anstreben, daß dann in dieser wichtigen, zentralen Eigenschaft eher eine ›Despezialisierung‹ eintritt. Es sollten ja auch die bürgerlichen Fähigkeiten des Zusammenlebens und des politischen Urteils, mindestens dem Anspruch nach, gleich verteilt sein103. Das auf diese Weise entstehende Bürger-Ideal mußte sich notwendig in der konkreten Teilhabe an der Politik manifestieren. Es verband sich also sehr eng mit dem der politischen Aktivität104. Wenn es sich einmal gebildet hatte, mußte in ihm 101 Historische Fragmente, Stuttgart/Berlin 1942. 5. 102 K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin (-Ost) 1974. 375 ff. 103 Platon, Protagoras 322 ff. Thukydides 2,39 f. Vernant, Mythe (wie Anm. 43) 2,28 f. 104 Was für eine kräftige, anspruchsvolle Identität als eine »Weise, sich aufeinander zu beziehen, sich im Dienste gemeinsamer Ziele gegenseitig zu aktivieren und zu stützen« außerordentlich wichtig ist. E. Erikson, Dimensionen einer neuen Identität, Frankfurt 1976. 36. 116

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sehr vieles ineinandergreifen: Weil die Bürger eben in ihrer Eigenschaft als Bürger gleich waren, galt ihnen diese Eigenschaft so viel, und weil sie soviel galt, war diese Gleichheit für sie entscheidend. Weil öffentliche Tätigkeit soviel galt, waren sie stolz auf sie, und weil sie vor allem auf diesem Gebiet Prestige gewinnen konnten, galt öffentliche Tätigkeit so viel. Sie engagierten sich so in der Politik, daß die Politik sie dann ihrerseits engagierte. Es war nicht nur die Politik auf die Bürger bezogen (das wäre auch mit einer weithin unpolitischen Existenz zu verbinden gewesen), sondern die Bürger waren es auch auf die Politik. Entsprechend wird die politische Aktivität ihre eigenen Motive in einer Art »Zirkularstimulation« (Lepsius)105 erzeugt haben. Indem sich mindestens ein Kern innerhalb der breiteren Bürgerschaft ihr hingab, konnten sie untereinander und von andern das Gleiche erwarten; indem sie dabei mehr Erfolg als Enttäuschung hatten (was offenbar der Fall war), bestärkten sie sich in den Erwartungen; man begegnete, nahm und gab, beanspruchte und prämierte sich also als Bürger und legte sich darin fest. Der Wettstreit zwischen den Phylen, aber wohl auch der zwischen den Bürgern und ihren politischen Organen wird das Seine dazu beigetragen haben. Die ganze Bürgerschaft lebte in starker Gegenwärtigkeit, sowohl im Raum, wo man sich so vielfach traf, wie in der Zeit, denn sie war unmittelbar dem Handeln hingegeben106; sie pflegte keine großen Investitionen zugunsten der Zukunft zu machen, und es gab kaum die starke Diversifizierung, die unsere Gesellschaften in zeitlicher Dimension aufweisen; entsprechend war die Bürgerschaft auch in den Einzelnen vergleichsweise sehr stark präsent. So intensivierte sich das öffentliche Leben und damit die Gemeinsamkeit unter seinen Teilhabern. 105 M. R. Lepsius, ›Zum Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie‹. In: H. M. Baumgartner / J. Rüsen (Hsg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Frankfurt 1976. 130. 106 Entstehung (wie Anm. 10), 322 ff. 353 ff. 483 ff. 487. 494 f. 497 f. 117

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Freilich hatten sich die »Honoratioren zweiten Ranges« und viel mehr noch die Angehörigen der unteren Schichten zugleich um ihre Häuser, ihre Wirtschaften, ihre Einkommen zu bekümmern107. Es gab stets viele, die sich eine Beteiligung an der Politik gar nicht leisten konnten. Und wir wissen auch von verschiedenen Familien, die im fünften Jahrhundert reich wurden108, in denen man also doch wohl hart arbeitete und das öffentliche Leben vernachlässigte. Man mag es – später – durch besonders große finanzielle Leistungen für das Gemeinwesen (Ausstattung von Kriegsschiffen, von Tragödien, Fackelläufen u. a.) kompensiert haben. Perikles selbst sagt in der Gefallenenrede, man verachte in Athen keinen seiner Armut wegen, eher schon, wenn er sich nicht anstrenge, ihr zu entgehen109. Und wir wissen insgesamt viel zu wenig, um genauer sagen zu können, wieweit im fünften Jahrhundert Aufmerksamkeit, Zeit und Kraft von andern Lebensbereichen zugunsten des Politischen abgezogen wurde. Nur scheint mir die Wahrscheinlichkeit dafür zu sprechen, daß die Betätigung im öffentlichen, im politischen Bereich soweit ausgezeichnet war, daß sie – relativ – ungewöhnlich viel, und das heißt doch wohl zugleich, daß alles andere demgegenüber vergleichsweise wenig galt. Man konnte sich um sein Besonderes kümmern, ohne sich darüber aber so leicht mit andern zusammenzufinden. Man konnte sich entziehen, aber wenn man keine triftigen Gründe dafür hatte, so riskierte man dadurch, geringgeschätzt zu werden. Darauf weisen die Anziehungskraft des Politischen, die Institutionen, auch der von Demokrit bezeugte Druck auf die Einzelnen. Problematisch ist, wieweit die Bürger-Identität den Adel jeweils einschloß. Da sie in den breiten Schichten konzentriert war (nachdem die Adligen eher in überlokalen Zusammenhän107 Thukydides 2,40,2. 108 F. Schachermeyr, Forschungen und Betrachtungen zur griechischen und römischen Geschichte. Wien 1974. 205 ff. 266 ff. 109 Thukydides 2,40,1. 118

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gen gelebt hatten und zugleich vom Sport bis zum Luxus sich in vielen Facetten zu entfalten pflegten)110 , stand sie in einer gewissen Opposition zum Adel. Freilich gab es viele Adlige, die mit dem Volk zusammenarbeiteten. Es gab das Beispiel Athens, in dem Aischylos zu einer Bürgerfreundschaft aufrief, die alle umfassen sollte; und die Aufgaben, die Herrschaft der Stadt boten gerade auch den Angehörigen höherer Schichten Chancen genug, als daß viele von ihnen hätten beiseite stehen mögen111. Trotzdem zog sich ein Teil des Adels aus dem öffentlichen Leben zurück112. Und jedenfalls hatte der Adel im ganzen, so gut einzelne seiner Mitglieder mit dem Demos arbeiten mochten, wenig Aussicht, spezielle Adelsinteressen – respektive Interessen von Reichen – durchzusetzen, da er zahlenmäßig immer unterlegen war. Auch hier ist ein wesentlicher Unterschied zur nationalen Identität der Neuzeit zu beobachten. Indem für alle Bürger damals die unmittelbare Teilhabe an der Politik so wichtig war, mußte auf die Verteilung der Ehren größtes Gewicht gelegt werden. Die Adligen und Reichen beanspruchten sie für sich, konnten sie aber in den Demokratien nicht oder jedenfalls bei weitem nicht in dem geforderten Ausmaß und Modus erhalten113. So kam es dazu, daß der Bürgerstatus selbst umstritten war. Neben den Demokratien, die mehr oder weniger allen Bürgern gleiche politische Rechte gaben, standen die Oligarchien, die diese Rechte nach Maßgabe des Zensus auf einen engeren Kreis beschränkten. Nur so konnten die Reichen maßgebend werden. So wurde es zum wichtigsten Merkmal der politischen Ordnung, wer die Vollbürger waren. ›Bürgerschaft‹ (politeía) bezeichnete zugleich ›Verfassung‹114. 110 Vgl. Hölkeskamp (wie Anm. 46). 111 Aischylos, Eumeniden 984 ff. Entstehung (wie Anm. 10) 208 ff. 112 H. Schaefer, Probleme der Alten Geschichte. Göttingen 1963. 320 f. 113 Aristoteles, Politik 1266 b 38 ff. 1267 a 1. 39 ff. 1281 a 31. 1302 a 32. b 10. 1306 b 34. 1318 b 27 ff. 1321 a 41. 114 Entstehung (wie Anm. 10) 299 ff. 119

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Aristoteles stellt später die Frage, ob die Polis noch identisch sei, wenn die politeía wechsle. Wohl sei sie äußerlich dieselbe, indem dieselben Leute denselben Ort bewohnten (daß ständig einige von ihnen sterben und andere geboren werden, ändere daran nichts, das sei wie bei den Quellen und Flüssen, die immer anderes Wasser führten). Allein, das lasse sich nicht auf das Politische übertragen. Politisch nämlich werde die Stadt eine andere, obwohl die Leute dieselben blieben. Denn sie sei eine Gemeinschaft der Bürger einer politeía, folglich nicht mehr identisch, wenn diese wechsle115. Darin drückte sich nicht nur aus, daß der Begriff der juristischen Person noch nicht entdeckt war, sondern daß eben die Stadt wirklich nichts war als ihre Bürger alle zusammen, je nachdem, wie man ihren Kreis bestimmte. Wie aber das politische Vollbürgerrecht je ganz verschieden begrenzt sein konnte, entsprechend dem grundlegenden Gegensatz von Reichen und Armen, prägte sich in den Demokratien (und Isonomien) die Bürger-Identität klar nur in den breiten Schichten aus. Wieweit sie die andern einbezog, war von Polis zu Polis und wohl auch von Zeit zu Zeit verschieden. Die Bürger-Identität war ja im Gegensatz zur nationalen nicht abstrakt, sondern konkret, da sie nicht viele Unterschiede überwölbte, sondern jeweils Teile der Bürgerschaft durch und durch bestimmte (und im Demos sogar auf Konformität hinwirkte), da sie nicht primär in Symbolen, sondern im direkten Zusammenleben erfahren wurde. Im Unterschied zu modernen Gesellschaften konnte die Gleichheit respektive ›Chancengleichheit‹ nicht mit Beschlüssen angestrebt, sondern – nachdem die isonome Ordnung einmal da war – nur durch persönliche Teilhabe wahrgenommen werden, im Politischen. Folglich stand das Bürger-Sein selbst weithin im Mittelpunkt des Lebens der isonomen und demokratischen Poleis. Politik war mehr ein Sein als ein Mittel116. Wo die moderne Gesell115 Aristoteles, Politik 1276 a 8 ff. Vgl. Veyne (wie Anm. 62) 888 f. 116 K. Marx, Die Frühschriften, Stuttgart 1964. 51 (… wie in Griechenland 120

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schaft auf den verschiedensten Gebieten alles Mögliche anstrebt und Politik dazu dient, vom Zentrum her ordnend oder auch nur notdürftig kittend einzugreifen, wollten die Griechen primär bestimmte Weisen des Zusammenlebens. Daher ist es nicht übertrieben, wenn man sagt, daß sie sich selbst politisierten, gleichsam eine Ebene des Sich-Aufeinander-Beziehens konstituierten, der gegenüber alles andere relativ gleichgültig wurde. Daher jenes »vehementeste Bürgerthum, wo man nur Bürger ist« (Jacob Burckhardt)117. Da waren nicht einfach Werte im Spiel oder ›Mentalitäten‹, sondern eine Weise des Seins, eben eine Identität – zu der eine bestimmte Mentalität (die sich in der Vorstellung vom Bürgerzusammenschluß zeigt) und eine bestimmte Verankerung in Institutionen gehörten. Folglich scheint mit ›Bürger-Identität‹ genau die Kraft bestimmt zu sein, die im Zentrum dieser Bürgerschaften wirkte – wie ein Brennpunkt, in dem eine Vielzahl von Antrieben gebündelt wurde, um dann weitere hervorzurufen und zu fördern und wieder andere zurückzudämmen. Der Ausdruck ›militantisme‹, mit dem Paul Veyne die Eigenart der griechischen Bürgerschaften zu fassen sucht118, charakterisiert ausgezeichnet deren am meisten hervorstechende Seite – und ihren Unterschied zu den modernen Demokratien. Er hat nur den Nachteil, daß er das Phänomen bloß beschreibt. Als Bürger-Identität dagegen ist, meine ich, das Kraftzentrum die res publica die wirkliche Privatangelegenheit, der wirkliche Inhalt der Bürger, und der Privatmensch ist Sklave; der politische Staat als politischer ist der wahre einzige Inhalt ihres Lebens und Wollens). Vgl. Grundrisse (wie Anm. 102) 380. Kapital 1,341 f. (Aristoteles’ Definition …, daß der Mensch von Natur Stadtbürger. Sie ist für das klassische Altertum ebenso charakteristisch, als Franklins Definition, daß der Mensch von Natur Instrumentenmacher, für das Yankeetum). Gegen Finley, Politics (wie o. Anm. 17) Kapitel 5: Ch. Meier in: Gnomon 58, 1986, 504 ff. 117 Über das Studium der Geschichte (Hsg. P. Ganz). München 1982. 111,4. 118 Annales (wie Anm. 62) 883 ff. 121

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begriffen, das diese Bürgerschaft bestimmte – und ihr politisches Engagement bedingte. Den Griechen war diese Identität zu selbstverständlich, als daß sie sie hätten begreifen können. Aber alle ihre Bestandteile sind bezeugt: die Verantwortung der Bürger, in gemeinsamem Handeln für die Stadt und ihre Ordnung aufzukommen (bei Solon), die Notwendigkeit eines politischen Elementarwissens (ebenfalls bei Solon), der Maßstab des Wohls der Stadt sowie der Gerechtigkeit (bei Xenophanes und Phokylides), der Anspruch auf Gleichheit der politischen Rechte (im Begriff Isonomie), die Notwendigkeit regelmäßigen Engagements (zu erschließen aus Kleisthenes’ Phylenreform und danach vor allem aus den Institutionen der Demokratie, bezeugt in Perikles’ Gefallenenrede und bei Demokrit), die Solidarität und Bürger-Freundschaft (bei Aischylos), schließlich der Anspruch der Volksversammlung, das Ganze der Polis zu sein (erstmals vermutlich in Aischylos’ ›Hiketiden‹119 gegen Ende der 46oer Jahre; vorher war er wohl auch noch nicht bewußt geworden). Von der Bürger-Identität her erschließt sich vieles andere, etwa das Vorwalten des Verfassungsprinzips der Identität120 , die relative Vernachlässigung des Wirtschaftlichen durch das Gros der Bürger, die zeittypischen Persönlichkeitsformen, das Menschenbild der Plastik, auch die Philosophie, ja vielleicht bestimmte Weisen des Wohnens121, gewiß bestimmte Weisen der Hegung der Angst122 und vieles auch an der Tragödie. 119 Ch. Meier, ›Der Umbruch zur Demokratie in Athen (462/1 v. Chr.)‹ In: R. Herzog / R. Koselleck, Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987. 359 ff. 120 C. Schmitt, Verfassungslehre, 3. Auflage Berlin 1957. 204 ff. 121 Hierzu die interessanten, freilich kaum ganz zutreffenden Ergebnisse bei W. Hoepfner / E. L. Schwandner, Haus und Stadt im klassischen Griechenland, München 1986. 122 Vgl. dazu etwa die Beobachtung von Veyne (wie Anm. 62) 897: Wenn die Griechen vom Albtraum eines völligen Zusammenbruchs der Stadt beschlichen wurden, hatten sie keine Angst vor Kommunisten, Gesindel oder 122

bürger-identität und demokratie

Die Bürger-Identität kam zur Vollendung in der perikleischen Demokratie, als auch die untersten Schichten der Bürgerschaft politisch einflußreich wurden; Männer, deren Status sie nach antiker Auffassung nie dazu berechtigt hätte, die aber als Ruderer auf Athens Flotte wesentlich zur Größe der Stadt beitrugen. Was bei den Bauern viele Jahrzehnte gedauert hatte, brauchte bei ihnen keine zwanzig Jahre: daß aus ihrer militärischen Rolle volle politische Konsequenzen gezogen wurden. Zugleich intensivierten sich die Innen- wie die Außenpolitik und Kriegführung der Stadt aufs stärkste. Die Bürger waren damals in einem gegenüber den Isonomien außerordentlich gesteigerten, einzigartigen Maße als Ratsmänner, Beamte, Geschworene, als Ruderer und Hopliten in Anspruch genommen. Der Besuch der Volksversammlung wird erheblich stärker geworden sein. Alfred Heuß schreibt: »Wenn man in der Stadt Athen oder im Piräus spazierenging, dann war es schwierig, unter den vielen einfachen Bürgern jemanden ausfindig zu machen, der nicht gerade einem öffentlichen Geschäft nachging oder dessen Gesichtskreis nicht mit solchen Dingen ausgefüllt gewesen wäre, auch wenn er im Moment nicht damit befaßt war. Daß er sich auf dem Weg zur Volksversammlung befand oder eine öffentliche Ansprache hörte, war beinahe noch das Wenigste. Aber schon die Wahrnehmung des Richtergeschäfts hielt jährlich eine Schar von 6000 Leuten in Gang. Wir sehen sie, wie sie in den ›Wespen‹ des Aristophanes am frühen Morgen, noch in der Dämmerung, sich mit ihren Lämpchen auf den Weg zu ihrem Gerichtslokal machen. Wer nicht zu ihren Scharen gehörte, hatte bestimmt in den unzähligen anderen Ämtern etwas zu tun. Und selbst wenn diese Funktion ausfiel, dann Anarchie (wie die Citoyens plus passifs des État-gendarmes ou des Étatsprovidences), sondern vor sich selbst. Einige vorläufige Betrachtungen zum Thema: Ch. Meier, Die Angst und der Staat. Fragen und Thesen zur Geschichte menschlicher Affekte. In: H. Rössner, Der ganze Mensch, München 1986. 228 ff. 123

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lag für jeden Interessierten der öffentliche Auftrag gewissermaßen auf der Straße. Die öffentlichen Strafverfahren kannten keinen bestallten Staatsanwalt. Die Anklage konnte nicht nur, sondern mußte von irgendwem vertreten werden. Die staatsbürgerliche Moral … gebot die Übernahme dieser Pflicht und damit zugleich die Aufgabe, das Belastungsmaterial zu beschaffen123.« Man muß da wohl einige Abstriche machen, schließlich traf man auch noch Händler und Handwerker aus dem Bürgerstand bei der Arbeit, gingen auch die Athener noch sich besuchen oder saßen sie auf der Straße bei Wein, Klatsch und Spiel. Und gar eine öffentliche Anklage zu übernehmen war keineswegs die Sache von jedermann. Gleichwohl ist es richtig, daß in dieser Bürgerschaft das Politische eine Rolle gespielt hat, wie wohl nirgends sonst in der Weltgeschichte124. Auf diesen Zustand zielt Perikles’ Beschreibung, nach der, wer sich da entzog, als »unnützer Bürger« angesehen wurde. Max Weber spricht von einer In-Anspruch-Nahme durch die Polis »wie sie bei differenzierter Kultur weder vorher noch nachher in der Geschichte erhört ist«125. Man kann gewiß die Frage stellen, wieweit es demgegenüber berechtigt ist, schon für die kleisthenische Isonomie – und verwandte Formen in andern Städten – den Begriff der BürgerIdentität zu verwenden126. Allein, soweit die attische Demokratie des fünften Jahrhunderts sich von allen demokratischen und vordemokratischen Ordnungen des späten sechsten und des fünften Jahrhunderts entfernt hat, und so wichtig es ist, sich über das ungeheure Ausmaß dieser Unterschiede klar zu sein – man wird doch nicht leugnen können, daß sie auf einer Grundlage aufbaute, die bereits von Kleisthenes gelegt war. 123 A. Heuß in: Propyläen Weltgeschichte 3, Berlin 1962. 274. Weber (wie Anm. 28) 810 f. 124 Vgl. auch Nippel (wie Anm. 94) 33. 125 Wie Anm. 28. 810. 126 Darauf laufen die sehr wichtigen Beobachtungen Nippels 25 ff. hinaus. 124

bürger-identität und demokratie

Sie setzte voraus, daß die ›Honoratioren zweiten Ranges‹, Männer, die aus der Politik keinen Beruf machen konnten, die den Adligen als Einzelne unterlegen waren, unter sich jene Bürger-Eigenschaft schon soweit ausgebildet hatten, daß sie dann ihre Identität bestimmte. Sonst wäre die Demokratie des Perikles ja das reine Wunder gewesen. Insofern muß man die Entstehung der Bürger-Identität gewiß schon ins späte sechste Jahrhundert setzen. Die perikleische Demokratie hat sie dann ganz außerordentlich gesteigert – bevor sie sich im vierten Jahrhundert abzuschwächen begann127, so daß Aristoteles feststellen konnte, die Angehörigen der breiten Schichten würden sich gar nicht ungern, wenn sie nur gut regiert würden, auf ihre eigene Arbeit konzentrieren128. Da beginnt dann auch ein ins Private gewandter Utilitarismus auszugreifen129.

127 Das behauptet aber auch schon für das fünfte Jahrhundert, ich meine zu Unrecht, Carter (wie o. Anm. 9.). 128 Aristoteles, Politik 1273 b 18 ff. 1308 b 34. 1318 b 13 ff. 1320 b 7 ff. 129 Sein Vokabular stammt schon aus dem 5. Jahrhundert, dort hatte es sich freilich um einen politischen Utilitarismus gehandelt (P. Spahn, ›Das Aufkommen eines politischen Utilitarismus bei den Griechen‹. In: Saeculum 37, 1986, 8 ff.) 125

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Der Weg zur Ewigkeit führt über Rom Die Frühgeschichte des Papsttums und die Darstellung der neutestamentlichen Heilsgeschichte im Triumphbogenmosaik von Santa Maria Maggiore in Rom Wie konnte der römische Bischof zum Papst werden? Um die Einheit der Gemeinden und der Kirche zu sichern, übernahmen Kirchenschriftsteller schon früh Ordnungsvorstellungen der lateinischen Kultur, insbesondere deren Amtsund Traditionsbegriff. In der Zeit nach Konstantin lehnten sich die römischen Bischöfe an Funktionen, Herrschaftsmittel und Repräsentationsformen des römischen Kaisertums an. Ihren Anspruch, Nachfolger des Petrus zu sein, begründeten sie mit Theorien römischen Erbrechts. Einen monumentalen Ausdruck findet das Selbstverständnis Roms im Triumphbogenmosaik von Santa Maria Maggiore, für das der Autor eine neue Interpretation vorschlägt. Jochen Martin Der Weg zur Ewigkeit führt über Rom 184 Seiten sowie 20 Tafeln mit 6 s/w- und 16 Farbabbildungen. Gebunden. & 978-3-515-09386-6

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Christian Meier

Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar Drei biographische Skizzen Die Geschichte einer Krise, in den Biographien dreier Männer erzählt. Es spiegelt sich darin eine moderne Problematik in römischem Gewande, das Problem eines Übergangs, in dem die überkommenen Erwartungen scheitern, in dem es aufhört, paradox zu sein, daß lauter Paradoxes geschieht, in dem es erst nach langer Zermürbung der gesellschaftlichen Identität gelingt, wieder Macht über die Verhältnisse zu gewinnen. .......................................................................................

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Monika Bernett / Wilfried Nippel / Aloys Winterling (Hg.)

Christian Meier zur Diskussion Autorenkolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld Christian Meier gehört zu den einflußreichsten Althistorikern der Gegenwart. Sein Werk stand im Fokus einer Tagung am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld, auf der die wichtigsten Thesen Meiers von seinen Fachkollegen und Vertretern der Nachbardisziplinen diskutiert und kritisch gewürdigt wurden. Die Studien beleuchten die vier Hauptfelder von Meiers Arbeit – griechische Geschichte, römische Geschichte, deutsche Gegenwartsgeschichte sowie Theorie der Geschichte –, richten den Blick aber auch auf althistorische Themen, die sein Werk bislang nicht behandelt hat. In ausführlichen „Antworten“ geht Christian Meier selbst auf Kritikpunkte ein, klärt Positionen – und regt zum Weiterdenken an. ......................................................................................

Monika Bernett / Wilfried Nippel / Aloys Winterling (Hg.) Christian Meier zur Diskussion VIII, 331 Seiten. Gebunden. & 978-3-515-09148-0 @ 978-3-515-09494-8

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Ob die Griechen die Demokratie kannten – daran sollte man zweifeln, weil man sonst so leicht nicht der großen, unsichtbaren Unterschiede gewahr wird, die sie von uns trennen. Sie sind uns ungemein fremd; um so mehr, je weniger wir es bemerken. Was uns an ihnen vertraut zu sein scheint und was ja auch wirklich nicht wie die Hinterlassenschaft eines exotischen Volkes sich ausnimmt, ist nur gleichsam der sichtbare Teil eines Eisbergs. Manch einer könnte auf den Titel: „Kannten die Griechen die Demokratie?“ antworten: Kennen wir sie etwa? Noch aber taugt die Überschrift „Demokratie“ dazu, jenes Ensemble zu bezeichnen, das uns wichtig ist; Rechtsstaat (auch Sozialstaat), Grundrechte, Verfassung samt bestimmten ihrer Voraussetzungen im allgemeinen Diskurs, das so leicht in andere Weltgegenden nicht zu übertragen ist und das die Griechen nicht kannten. Gleichwohl scheint einiges dabei zu sein, sich zu verschieben – und dann wären die Griechen es heute um so mehr, die nun wirklich die Demokratie kannten; freilich auf ihre Weise.

Franz Steiner Verlag Der in diesem Band abgedruckte wissenschaftliche Dialog zwischen Christian Meier und Paul Veyne aus den 1980er Jahren erscheint in der mittlerweile dritten Auflage.

ISBN 978-3-515-11139-3