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German Pages 157 [160] Year 1955
WALTER l E N S
HOFMANNSTHAL UND DIE GRIECHEN
19 \ y | v y
55
MAX NIEMEYER VERLAG • T Ü B I N G E N
Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany 1955 Druck: Graphische Betriebe W. Büxenstein G. M. B. H., Berlin
INHALTSVERZEICHNIS Einleitung
5
Ad me ipsum
17
Idylle
25
Alkestis
30
Elektra
44
ödipus und die Sphinx
74
Ariadne auf Naxos
95
Die ägyptische Helena
109
Die theoretischen Schriften
124
Anhang
150
EINLEITUNG „Unser Leben gegen das der Antike gehalten: die Bereitung der Speisen verhüllt, die Arme haben wenig zu tuen, wie Gäste in unseren Gärten, unsern Lauben, schwer mit einem Einzelnen zu reden, so erfüllt seinen Kopf das Ungeheure, zerrt an ihm die Welt mit Flug von vielerlei Vögeln, er hat keinen klaren Gedanken wie ein Betrunkener. Aber dafür ungeheure Synthese: den fernen Meeren nicht wahrhaft fern, eigentlidi von nichts geschieden: die Entfernung Fiktion, das Vorbeigleiten an Weingärten, Landstraßen, ärmlichen Flußufern, Schluchten, Hochtälern, wieder meernahen Ebenen - sdiwer, in dieser Verworrenheit ein reines und leichtes Lied zu hören. N u r das Gold lieben sie noch wie früher stark, von vielen Dingen ist kaum der Name geblieben wie der Name einer fremdartigen Blume^." Diese im Oktober 1894 niedergeschriebenen Sätze charakterisieren des jungen Hugo v. Hofmannsthal Verhältnis zur Antike mit aller erdenklichen Schärfe. Der Enkel, tief vom Bewußtsein durchdrungen: ein Erbe zu sein, sudit die eigene Situation am Beispiel einer vergangenen Epoche zu verdeutlichen; alles, was er empfindet, sein Handeln und sein Tun, sein Träumen und Erinnern, wird gleichsam auf einen Fixpunkt zurückbezogen, an dem sich Norm und Abweichung, Riditung und Variation wie an einem Kompaß ablesen lassen. Die Negationen deuten auf Veränderung - einst sah man der Bereitung der Speisen zu, die Arme hatten zu tun, der Mensch war im eigenen Garten zu Haus, und seine Gedanken waren klar und voll Bewußtsein. Aber dem Wissen um Grenze und Maß und ^ Hugo V. Hofmannsthal: „Aufzeidinungen 1890—1895", Corona 9, 1939—1940, S.681.
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EINLEITUNG
der Beschränkung auf den heimischen Bezirk entsprachen audi Enge und Abgeschiedenheit: eine Reise war ein Wagnis, und ein Sdiritt vom Wege führte leidit ins Verderben. Der moderne Mensch dagegen vertausdite Begrenzung und Weite, und je mehr er an sicherem Wissen und Erfüllung im Kleinsten verlor, desto flüchtig-ungeheurer wurde sein Blick - Getrenntestes erscheint ihm in jähem Wechsel als Einheit; nirgendwo ist Festigkeit und Halt; jeder Augenblick erschafft eine neue Welt; vielerlei Stimmen dringen verwirrend auf ihn ein; die aus festem Eigensinn und Bewährung im eng umzirkten Bereich erwachsene Sidierheit scheint für immer dahin; die Möglichkeit, zugleidi hier und dort, im Gestern und im Heute zu leben, bedingt Taumel und Wirrnis: „schwer, in dieser Verworrenheit ein reines und leichtes Lied zu hören". Abstand und Verbindung ergänzen einander: wenn Hofmannsthal von der Antike spridit, meint er ein Fernes, das dennodi das Leben des Modernen bestimmt; wenn Gegenwärtiges als abweidiende Variation erkennbar ist, muß das Urbild, die einmal gesetzte Norm, immer noch durchschimmern. Gegenwart bedeutet also nicht Abfall: denn der Nachteil der verlorenen Einheit wird durch den Vorteil nie geahnter Zusammenschau zumindest aufgewogen („aber dafür ungeheure Synthese")^. Gegenwart und Vergangenheit, Antike und Moderne sind für Hofmannsthal fest aneinander geklammert; sie verhalten sich wie Typus und Variation, und noch die willkürlidie Handlung bleibt an die einmal gezogene Linie gebunden, ja, es gilt zu fragen, ob nicht gerade die Möglichkeit ungeheurer Synthese, die dem modernen Mensdien gesdienkt ist, eine neue Bindung an das scheinbar längst Vergangene erlaubt: „denn wenn sie etwas ist, diese Gegenwart, so ist sie mythisch - ich weiß keinen anderen Ausdruck für eine Existenz, die sich vor so ungeheuren Horizonten vollzieht - für dieses Umgebensein mit Jahrtausenden, für dies Hereinfluten von Orient und Okzident in unser Idi, für diese ungeheure innere Weite, diese rasenden inneren Span^ Hier liegt der Gegensatz zu der in Stefan Georges Porta-Nigra-Gedidit erkennbaren Auffassung: im Nietzsdiesdien Sinn volle Feindschaft zwischen den Alten und der Moderne zu stiften.
EINLEITUNG
7
nungen, dieses Hier und Anderswo, das die Signatur unseres Lebens ist. Es ist nicht möglidi, dies in bürgerlichen Dialogen aufzufangen. Machen wir mythologische Opern. Es ist die wahrste aller Formen^." Die Aufzeidinung von 1894 und der Helena-Essay von 1929 (die Beschreibung der „ungeheuren Synthese" und der Preis einer „Existenz, die sich vor ungeheuren Horizonten vollzieht") machen deutlidi, daß sich Hofmannthals Verhältnis zur Antike in Kern und Wesen nie verändert hat. Zwar ist ihm Antikes, Landschaft und Plastik, vor allem durch seine Reise nach Griechenland vertrauter und verständlicher geworden, aber die im Jahre 1928 vor den Freunden des Humanistischen Gymnasiums bekannte Erfahrung, die Antike sei „unser Denken selbst", war ihm, dem um historische Zusammenhänge wissenden Kind der Donaumonarchie, seit frühester Jugend vertraut^. Immer wieder - nicht nur auf der Stufe der Griediendramen — reizte ihn der antike Mythos zu wetteifernder Nachahmung; immer wieder fühlte er sich provoziert, das Eigene am unbezweifelten Vorbild zu klären. Die Antike war ihm nie um ihrer selbst willen wichtig®, er wußte um die verschiedenartigsten Interpretationen® und ahnte die Verpflichtung jeder Zeit, mit der verlangten Deutung des Vergangenen zugleich ein Selbstporträt zu entwerfen. ® Hugo
V. Hofmannsthal:
„Die ägyptisdie Helena",
Insel-Almanadi
1929, S. 106 f. * Vergl. „Ad me ipsum", Die neue Rundschau Bd. 65, 1954, S. 371. ® „Die Serenität, in die er (Goethe) mit Windtelmann sein Altertum tauchte, ist uns die Verfassung eines bestimmten Augenblicks der' deutschen Seele, nichts weiter. „Griechenland," in: Die Berührung der Sphären, Berlin 1931, S. 317. ® „Und sind nicht die Antike Goethes, die Antike Shelleys und die Antike Hölderlins drei so seltsam verwandt-gesdiiedene Gebilde, daß es einen traumhaften Reiz hat, sie nebeneinander zu denken, wie die Spiegelbilder
dreier
sehr
seltsamer
Schwestern,
in einem
stillen
Wasser,
am
Abend?" „Gedichte von Stefan George," in: H . v. H . : Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa I, S. Fischer-Verlag 1950, S. 290, und „Die Griechen Goethes. Die Griechen von Nietzsche. Die Griechen von Chenier", C o r o n a 9, a. a. O. S. 670.
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EINLEITUNG
Frühes Griechentum und Spätantike, halb barbarische Frühe und reife Verfallszeit lodcten zuerst, und das Augenmerk des jungen Loris galt den Deutungen des Vergangenen ebenso wie dem Vergangenen selbst''. Aber schon frühzeitig wurde dem Erben bewußt, daß es ihm nicht um eine bestimmte Epodie der Antike, sondern um das in aller Erscheinung unveränderlidie Sein ginge, den Geist der Poesie, den Zauber der Plastik, den verbindlichen Schritt der Geschichte: „wir sind von viefältiger Vergangenheit nidit loszudenken. Aber freilidi ebensowenig in eine bestimmte Vergangenheit hineinzudenken®." Die „Idylle", in der Hofmannsthal zum ersten Mal das ihm seit „Gestern" so entscheidend wichtige Verhältnis von Treue und Untreue, Erfahrung des Tags und haltlos sich auflösender Traumwelt®, Lebensverknüpfung und phantastischer Antizipation^", präexistenter Unverbindlichkeit und Verpflichtung fordernder Existenz darzustellen suchte; die „Alkestis"-Bearbeitung, die die Faktizität des Mythos in das Ungreifbare momentaner Stimmung aufzulösen sdiien; die Rezensionen von Swinburne, Pater und George^': Dichtungen und Theoreme bilden eine erste geschlossene Gruppe, eine Reihe von Skizzen, Essays und ^ Vergl. vor allem die Aufsätze über Walter Pater und Algernon Charles Swinburne in: H . v. H . : Ges. Werke . . . Prosa I, S. 113 ff. und S. 235 ff. ® „Gedidite von Stefan George", a. a. O. S. 290. ® Die Auflösung der Traumwelt, in der die Sdimiedfrau sidi befindet, entspricht dem Tagebuch Amieis: „Amieis Versinken in die Unendlidikeit der Ursachen; verwandt damit das willenlose Hinfluten des modernen Menschen in der Empfindung. Demgegenüber Pflicht sidi zu beschränken, im Sdiaffen und Denken mit dem Fragmentarischen sich zu begnügen, audi das Gefühl zu begrenzen. (Hebbels Tagebücher im Gegensatz zu Amieis Journal.)" Corona 9, a. a. O. S. 663. Amiel, die Frau des Schmieds und Klytaimnestra stehen auf einer Stufe: zerfließendes Dasein. (Vergl. Lili Hagelberg: „Hofmannsthal und die Antike", Zs. f. Ästh. Bd. 17, 1924, S. 19 ff.) Demgegenüber der Schmied und Orest: die in der Beschränkung wohnenden Täter. „Juni. — Meine Jugend: wie wenn einer aus so starken Träumen erwadit, daß sie ihm noch immer in den Sinnen liegen; daher dieser seltsame Mangel an Unmittelbarkeit. Diese unglaubliche Tätigkeit der antizipierenden Phantasie (in der .Idylle' ausgedrückt)." Corona 9, a. a. O. S. 680. "
H . V . H . : Ges. Werke . . . Prosa I, S. 113 ff., S. 235 ff., S. 282 ff.
EINLEITUNG
9
lyrisdien Dramen, in denen Hofmannsthal, den Blick auf das antike Vorbild geriditet, mit dem Problem seiner Vorzeit, dem Übertritt von der Präexistenz in die Welt der Existenz selbst, auch die seit „Gestern" ständig neu gestellte Aufgabe zu lösen versudite, das Verhältnis von Sein und Werden, Haltlosigkeit und Gattentreue, Verwandlung und Beständigkeit in immer neuen Variationen zu analysieren. Die Reise nach Griechenland und ihr literarisches Ergebnis „Die Augenblicke in Griechenland"; „Elektra", „ödipus und die Sphinx" und die „Ödipus"-Übersetzung bezeidinen die zweite, als Zeit des Übergangs markierte Epoche^^, in der H o f mannsthal nach der (im Brief des Lord Chandos beschriebenen) Überwindung seiner Frühzeit den Mythos der Tragödie neu zu gestalten suchte^®. - Art und Weise der Verwandlung ergibt sich aus dem Sdieitern des mystischen Wegs (Chandos als Mystiker ohne Mystik) und dem über „Alkestis" hinausgehenden Versuch, die Möglichkeit des niditmystischen Wegs, die Verwandlung durdi Opfer, Tat und Werk zuerst an den von der Tradition vorgegebenen Archetypen der Leidenschaft und Passion, ödipus, Elektra, Klytaimnestra zu erproben, und damit dem vörma ttputoveCov ob es in der Welt der T\>xn ein Dauerndes, überindividuell Notwendiges gebe, Befriedigung zu verschaffen. Dies: die Projektion eines ureigenen Problems in den antiken Mythos, die kühne Verwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse^® und die rigorose Kommunikation des Vergl. zur Einteilung von Hofmannsthals W e r k in Frühzeit, Übergangszeit und Reife Karl J. Naef: „Hugo v. Hofmannsthals Wesen und W e r k " , Züridi und Leipzig 1938, S. 90 ff. Siehe Anhang. Corona 9, a. a. O. S. 665 ff. vor
allem
die
Benützung
der
Freud-Breuersdien
Untersuchungen
über die Hysterie. „Können Sie mir eventuell nur für einige Tage das Budi von Freud und Breuer über Heilung der Hysterie durch Freimachen einer unterdrückten
Erinnerung leihen ( s c h i d t e n ) ? . . . Ich weiß, daß ich
darin Dinge finden werde, die midi im .Leben ein T r a u m ' sehr fördern müssen." (Briefe 1 9 0 0 — 1 9 0 9 , a. a. O. N r . 110 [an Hermann Bahr]); vergl. auch den Brief N r . 121, in dem Hofmannsthal um die „Maladies de la personnalit^"
von Ribot bittet, und die Auszüge aus den Briefen des
Dichters, die Ernst Hladny in seinem (mir leider nur indirekt bekannten)
10
EINLEITUNG
Christlidi-Orientalisdien mit dem
Abendländisch-Griediisdien^'
m a c h t d a s E i g e n t l i c h e d e r U m b r u c h s z e i t aus. A b e r so g e w i ß es ist, d a ß H o f m a n n s t h a l z e i t seines L e b e n s m i t d e r A n e r k e n n u n g des g e m e i n s a m - a n t i k e n E r b e s die V e r p f l i c h t u n g einer E r w e i t e r u n g des z u n ä c h s t e r f a ß b a r e n L e b e n s r a u m s d u r c h den Orient"
verband
und
damit
die
von
Bachofen^^,
„großen Rohde^®,
N i e t z s c h e u n d Freud'® v o r g e z e i c h n e t e L i n i e f o r t s e t z t e , so w e n i g Aufsatz: „Hugo v. Hofmannsthals Griechenstücke", X I I . — X I V . Jahresberidit des Staatsgymnasiums Leoben, 191Q/12, zitiert: „auf die Charakteristik (der Elektra) hat kein Buch merklichen Einfluß g e h a b t . . . . Dodi habe ich immerhin dermals in zwei ganz verschiedenartigen Werken geblättert, die sich wohl mit der Nachtseite abgeben: das eine die ,Psyche' von Rohde, das andere das merkwürdige Buch über Hysterie von den Doktoren Breuer und Freud." Leider ist der Brief, jedenfalls in der mir zugänglichen Quelle, dem zweiten Band von Hofmannsthals Briefen, S. 383 ff. (Anmerkung zum großen „Elektra-Brief" Nr. 95), nicht datiert. Möglicherweise liegt ein Irrtum Hofmannsthals vor, da er Bahr erst im Jahre 1904, also nach der im September 1903 abgeschlossenen „Elektra", um das ihm bis dahin nur von fernher bekannte Buch von Breuer und Freud bittet. Der — später vor allem durch Harden, Bahr und andere so verhängnisvoll übersdiätzte — direkte Einfluß der psychoanalytischen Schule läßt sich also für die „Elektra" nicht mit Sidierheit nachweisen, wenngleich es natürlidi möglich ist, daß der Brief Nr. 110 sdion früher zu datieren ist. Dagegen bleiben Hysterieuntersuchungen vor allem in „ödipus und die Sphinx" und der „Ägyptischen Helena" jederzeit nachweisbar . . . ohne daß man sie überbewerten sollte. 18 Brief an Hladny a. a. O. S. 384: „Ein Element (bei der ,Elektra') werden Sie nicht übersehen haben: den Ton des alten Testamentes, insbesondere der Propheten und des hohen Liedes. Idh halte den T o n des alten Testamentes für eine der Brücken — vielleidit die stärkste — um dem Stil antiker Sujets beizukommen." Vergl. „Das Vermächtnis der Antike" in: Die Berührung der Sphären, a. a. O. S. 259: „Die dunkeln ältesten Mythen, eingemauert in die Grundfeste des Werkes der Tragiker, haben in dem wunderbaren Schweizer, dem lange verkannten, ihren Deuter gefunden; nodi einmal breitet sich in seinen Werken, wie einst im antiken Lebensbereich, das G a n z e dieser Geisteswelt, vom orphischen Spruch bis zur mythisdien Anekdote, die ein byzantinischer Spätling überliefert." Vergl. den Brief an Hladny, Anmerkung 15. ^^ „Die Griechen von Nietzsche", Corona 9, a. a. O. S. 670. Zum Einfluß Freuds siehe vor allem Hermann Bahr: „Liebe der Lebenden III", Tagebücher 1921—1923, Hildesheim o. J . (1925), S. 210 ff.
EINLEITUNG
11
d a r f a u f d e r a n d e r e n Seite, jenseits a l l e r U m d e u t u n g des k l a s sischen G r i e c h e n - B i l d e s , d a s f ü r H o f m a n n s t h a l B e d e u t s a m e v e r gessen w e r d e n : w i e d e r i m A n s c h a u n d e r K o r e n u n d in d e r B e gegnung
mit
griechischer
Landschaft
erfahrene
„Augenblick
g r o ß e r M a g i e " , in d e m d e r D i c h t e r die E i n h e i t d e r P r ä e x i s t e n z nach d e m H i n d u r d i g a n g d u r d i L e i d e n u n d W e l t a u f Stufe wiedergewinnt,
auch i m
literarisdien
Raum
höherer
durdi
die
T r e u e ( E l e k t r a ) , das O p f e r ( ö d i p u s ) u n d die T a t ( ö d i p u s , i r o nisch E l e k t r a ) e r s t r e b t w i r d . Gewonnen und im Verhältnis von Lösung und Leistung erreicht scheint dieser A u g e n b l i c k
freilich
erst
auf der
dritten
Stufe, w o T r a u m u n d Antizipation, B e w u ß t h e i t u n d Isolierung, M a g i e u n d A b e r g l a u b e einer L i e b e g e w i c h e n sind, die gegenseitige
Verwandlung
und
allomatische
durch
Vereinigung
Ich aus seiner E i n s a m k e i t erlösen u n d die T r e n n u n g
das
zwisdien
Ich u n d W e l t a u f h e b e n k a n n . A m Beispiel d r e i e r F r a u e n - D a n a e s , A r i a d n e s u n d H e l e nas^® - h a t H o f m a n n t s t h a l in d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e m Danaes Verwandlung erhellt ihr Bekenntnis zur Armut am Ende des dritten Akts. „Danae" ist eine Vorstufe der „Ägyptischen Helena" (Verwandlung von der allein auf Reichtum ausgehenden Königstochter = der ungetreuen Helena als einem dämonisdien Wesen — zur wahrhaft Liebenden = der getreuen, um sittliche Verpflichtung wissenden Helena). Beginn der Danae: Ende 1919, also zu der Zeit, als Hofmannsthal bereits bei der Konzeption der „Ägyptischen Helena" war: vergl. die Vorrede von Willi Schuh zu „Danae oder die Vernunftheirat", S. FiscJier Verlag, Frankf./M. 1952, S. 6 ff. Die Verwandlung erfolgt im Zeichen des Gottes: Bacchos' in der „Ariadne", Poseidons (bedingter) in der „Helena", Zeus' in der „Danae": „Midas, wie die Sonne sein Elend bescheint, schlägt vor Scham die Stirn an die Erde. Danae — jetzt ist sie die Starke und Mutige — heißt ihn mit ihr vereint niederknien und dem Zeus danken, der die beiden vereinigte. Sie rollt die Binsenmatte zusammen, die Eselin wird gesattelt, Midas hebt seine Frau hinauf, glüdtlich, als glückliche Bettler ziehen sie singend ab. Akt III ist mir noch nicht so im Detail gegenwärtig. Er spielt am nächsten Morgen, enthält das Liebesglück der beiden, die Rückforderung des Vermögens durch Zeus, Midas' kurze Verzweiflung und Danaes Liebe und Großherzigkeit. Aus dem reichsten König wird ein ganz armer König über ein paar Bergtäler, aus der Vernunftheirat eine Liebesheirat, das Gold ist überwunden." ( „ D a n a e . . . " a. a. O. S. 24.) Vergl. dazu Josef Mühlberger: „Hofmannsthal. Kafka." Zwei Vorträge. Eßlingen 1953, S. 20ff.
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EINLEITUNG
antiken Mythos das Mysterium der Verwandlung exemplifiziert®^: Orient und Okzident, Abendland und Morgenland, sdiließen sich im Zeichen der umspannenden Synthese zu einer großen Einheit zusammen, und die Ankunft des Dionysos, als des Herrn über Leben und Tod, symbolisiert die schon in den Fragmenten „Jupiter und Semele" (1901) und „Pentheus" (1904) angedeutete Erlösung^®. Liebe und Tod verschwistern sich, und im Augenblick des Umsdilags kommt das Getrennte zusammen: die zersprungene Welt wird heil, und der Zerrissene, Zagreus, verwandelt sich in den großen Erlöser Dionysos^®. Zugleich erhält die Antike nadi dem Zusammenbruch der Donaumonarchie mehr denn je die Funktion: ordnende Macht, verpfliditendes Erbe, Trost inmitten des Dunkels und Kosmos im Chaos zu sein. Die so oft übernommene Aufgabe, Antikes um des eigenen Bildes willen auf höherer Ebene neu zu gewinnen, erscheint unter den neuen historischen Aspekten als Aufgabe und Pflicht: allein der Dichter, allvermögend und lebendig®^, ^^ Alle drei erfahren im Zustand äußerster Verarmung — demütig (Danae), reuig (Helena), todesbereit (Ariadne) — den Zugriff der verjüngenden Verwandlung. Todesverlangen und Erlösung gehören zusammen: Alkestis, Semele. „Tragisches Grundmotiv: Weibliches will hin, w o "Weibliches Verniditung findet." („Jupiter und Semele" a. a. O. S. 505.) Zwischen den einzelnen Mythen bestehen reizvolle Variationen: Semele und Alkestis sterben wirklich, werden aber beide befreit: Semele durch den Sohn, der ihr Unsterblichkeit schenkt, Alkestis durch Herakles, den Gastfreund ihres Gatten Admet. Ariadne ersehnt den T o d und gewinnt Leben. Helena stellt sich der Erinnerung und erobert dadurch Menelaos zum zweiten Mal. Danae verwandelt sich, indem sie die Liebe über den Reichtum stellt. Das gleichbleibende Grundmotiv: Verwandlung der Frau im Schatten des Ungeheuren. ^^ Dionysos als großer Löser und Gott. Vergl. „Pentheus", „Dramatische E n t w ü r f e . . . " a . a . O . S. 78: „Schluß: Dionysos, eine gewaltige Stimme erhebend wie eherne Trompete, weist alle zur Ruhe, alle müssen sich legen wie gehorsame Tiere." „Der tragische Grundmythos: die in Individuen zerstückelte Welt sehnt sich nach Einheit, Dionysos Zagreus will wiedergeboren werden." Corona 9, a. a. O. S. 679. ^ -Träppios nennt Hofmannsthal den Dichter: „Alleben". Corona 9, a. a. O. S. 683. Das W o r t ist im Griechischen nicht belegt, also entweder eine Neuschöpfung oder eine Verschreibung für iT&ußias, allvermögend, wie Pindar N. 9, 24.
EINLEITUNG
13
vermag die Gegensätze zu umspannen, den Mensdien zu sidi zu führen (Frühwerk), ihn mit sich selbst zu versöhnen (Übergangszeit) und Zeit und Zeit, Mensch und Mensch, Raum und Raum aneinanderzuknüpfen (Spätwerk). Anders als George, der nach frühen mythologisdien Tastversuchen^® und einer Hofmannsthal ähnlidien Verherrlichung des Archaisdi-Frühen („Hirten- und Preisgedichte") und des in Müdigkeit, Pomp und Grazie verklingenden Späten („Algabal") das Antike als Aufgabe^®, Proklamation^^ und Imperativ^® begriff, war Hofmannsthal, der den Unterschied zwisdien romanisch-lateinischem und germanisch-hellenischem Erbe nicht kannte, das Antike selbstverständlich und vertraut. Er wollte Grete Sdiaeder: „Hugo v. Hofmannsthals Weg zur Tragödie", Deutsche Vierteljahrsschr. f. Literaturwissensdiaft und Geistesgesdiidite 23, 1949, S. 308 deutet Tröcußio? im Sinne von All-Seele, leider ohne Belege. „Die Najade", „Die Sirene" in Stefan George: „Die Fibel", Berlin 1927, S. 14 f. und S. 32. „Eine kleine schar zieht stille bahnen / stolz entfernt vom wirkenden getriebe J Und als losung steht auf ihren fahnen: / Hellas ewig unsre liebe." Stefan George: „Teppidi des Lebens", Berlin 1921, S. 20. „Daß ein Strahl von Hellas auf uns fiel: daß unsre Jugend jetzt das Leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: daß sie im Leiblichen und Geistigen nadi schönen Maßen sudit: daß sie von der Schwärmerei für seichte allgemeine Bildung und Beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter lanzkneditischer Barberei: daß sie die steife Gradheit sowie das geduckte Lastentragende der Umlebenden als häßlich vermeidet und freien Hauptes schön durch das Leben schreiten will: daß sie schließlich audi ihr Volkstum groß und nicht im beschränkten Sinne eines Stammes auffaßt: darin finde man den Umschwung des deutschen Wesens bei der Jahrhundertwende." Die Blätter für die Kunst, 4. Folge, 1897. „Hinter den Erklärungen geschichtlicher, schönheitkundiger und persönlicher Art liegt der Glaube, daß von allen Äußerungen der uns bekannten Jahrtausende der griechische Gedanke: ,der Leib, dies Sinnbild der Vergänglichkeit, D E R LEIB SEI D E R G O T T ' , weitaus der schöpferischste und unausdenkbarste, weitaus der größte, kühnste und menschenwürdigste war, dem an Erhabenheit jeder andere, sogar der christliche, nachstehen muß." (Zitiert nach Friedrich Wolters: „Stefan George und die Blätter für die Kunst", Berlin 1930, S. 368.)
14
EINLEITUNG
weder antik sein nodi war er antik^®, sondern Vergangenes und Modernes, Gestern und Heute, Basis und Bau gingen ihm in der selbstverständlichsten Weise ineinander über; er spürte die verbindende Nähe und wußte, daß das Uranliegen des Menschen, sein Verhältnis zu den Göttern und sein Streben nach Rückkehr in den durdi Schuld und Verfehlung zerstörten Zusammenhang allein in der griechischen Tragödie, statt abstrahiert zu werden, Gestalt und Form gewonnen hatte: deshalb, aus keinem anderen Grunde, strebte er auf der Höhe seines Lebens nach der Erneuerung der gesungenen Tragödie durdi die mythologisdie Oper. Im Untersdiied zu Rilke führte ihn der Weg zur Antike also nicht primär über Plastik und Raum („die Zeit ist Raum")®®, sondern über das Wissen um die Koinzidenz der nur scheinbar getrennten Zeiten, Altertum und Gegenwart. Weder die Verherrlidiung eines großen einmal entworfenen Gesetzes („Die Verleihung des Gottes und die Vergöttlichung des Leibes") noch die Identifizierung von Raum und Zeit, die Erkenntnis vom Anruf des Torsos®' (die Antike als das rein in sich Beschlossene, abgestorbene Tote erscheint Rilke gleichsam als Inkarnation von Torso und Fragment, als Symbol einer rein bewahrten, nicht durch die Metamorphose relativierender Zeitläufte „bedingten" Existenz), sondern allein die entschlossene Konfrontierung des Erben mit seinen Ahnen, die ihn am Beispiel des Mythos zu einer Analyse seiner Grundproblematik, und endlidi zu einer aus dem Wissen um geheime Verwandtschaft geborenen Wiederaufnahme des antiken Erbes (in der mythologischen Oper) Vergl. die Charakteristik Friedrich Gundolfs über George:
„George
ist antik." Friedrich Gundolf: „George", Berlin 1921, S. 38 f. Rainer Maria Rilke: Gesammelte W e r k e 1, Lpz. 1927, S. 377. Vergl. audx Ernst Zinn: „Rilke und die Antike", Antike und Abendland, Band 3, Hamburg 1948, S. 201 ff., vor allem S. 222 fF. Vergl. vor allem H a r r y Mielert: „Rilke und die Antike", Die A n tike 16, 1940, S. 51 ff. Zu Rilkes Auffassung von der Plastik: Ulrich Hausmann: „Die Apollosonette Rilkes und ihre plastischen Urbilder", Berlin 1947 (Kunstwerk und Deutung 2). Außerdem Zinn a. a. O. und Werner Kohlschmidt, „Rilke-Interpretationen", Kapitel „Rilke und die Antike", Lahr 1948.
EINLEITUNG
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führte, läßt Hofmannsthals Verhältnis zu den Griechen, von der „Alkestis" bis zur „Helena", von der George-Rezension bis zum „Vermächtnis der Antike" so ursprünglich und ungezwungen-selbstverständlich erscheinen. Zeiterfahrung und Raumgefühl, Rilkesches Erlebnis der Plastik - die „Du mußt dein Leben ändern" - Erfahrung im Akropolis-Museum zu Athen und das Wissen um die Wirkung lebendiger Tradition verbinden sich bei Hofmannsthal zu einer organisdien Einheit. Es sdieint deshalb begründet und wichtig, im Rahmen der vorliegenden Studie Hofmannsthals Verhältnis zu den Griechen durdi eine Interpretation seiner - im engeren und weiteren Sinne - auf die Antike zurückgehenden Werke zu analysieren, und auf diese Weise nicht nur das Bild des Diditers hier und dort zu ergänzen, sondern zugleich - das ist das eigentliche Ziel des klassisdien Philologen, der sidi nicht ohne Bedenken einer Grenzüberschreitung sdiuldig gemacht hat - einen sichtbaren Beweis für das Fortleben der Antike in unserem Jahrhundert zu erbringen. Eine zusammfassende Darstellung unseres Themas, wie sie für Rilke entworfen®^ und für George begonnen wurde®^, fehlt bis heute. Die Aufsätze Hans Heinrich Schaeders^^ wurden Vergl. außer den genannten Aufsätzen v o n Zinn, Kohlsdimidt und Mielert v o r allem Horst Rüdiger: „Rilkes Begegnung mit der Antike", Das humanistische Gymnasium 47, 1936, S. 87 ff. und Veronika CzapskiErdman: „Die Auseinandersetzung des gotischen Weltgefühls mit dem antiken bei R. M. Rilke." Jenaer germanistische Forschungen. Sonderband: Dankesgabe f ü r Albert Leitzmann, Jena 1927, S. 104 ff. Horst Rüdiger: „Stefan Georges Begegnung mit der Antike", Die A n t i k e 11, 1935, S. 236 ff., und „"Wesen und Wandlung des Humanismus", Hamburg 1937, S. 255 ff., Paul Müller: „Stefan George und die Antike", Das humanistische Gymnasium 48, 1937, S. 9 ff., Herbert M o r w i t z : „Stefan George und die Antike", Würzburger Jahrbücher f ü r Altertumswissensdiaft 1, 1946, S. 226 ff. ^^ Hans Heinrich Schaeder: „In memoriam Hugo v. Hofmannstahl", Die Antike 5, 1929, S. 222 ff. und „Das W e r k Hofmannsthals", Neue Schweizer Rundschau 22, 1929, S. 572 ff. Grete und Hans Heinrich Schaeder: „Hugo v. Hofmannsthal", Bd. 1: „Die Gestalten." Neue Forschung 21, Berlin 1933, und Grete Schaeder: „Hugo V. Hofmannsthals Weg zur Tragödie" a. a. O. S. 306 ff.
16
EINLEITUNG
dankbar benutzt: sie werden durch diese Darstellung, dessen ist sidi der Verfasser bewußt, nicht als überholt gelten können. Daß sdion Gesagtes, um nicht allzu aphoristisch zu werden, hier und dort wiederholt werden mußte und vor allem, auch ohne daß es immer ausgesprochen, ja bewußt wurde, auf die heute wie vor achtzehn Jahren gültige Hofmannthal-Biographie von Karl J . Naef und die wegweisenden Interpretationen Grete Sdiaeders®® zurückgegriffen werden durfte, war selbstverständlich und nötig. Andererseits wäre dieses Budi nicht geschrieben worden, wenn der Verfasser nicht gehofft hätte, das Verhältnis von Antike und Moderne, an einem exemplarischen Fall analysiert, wenigstens in einigen Punkten erhellen zu können. Die vorliegende Arbeit geht auf Vorlesungen im Sommersemester 1951 und im Wintersemester 1954/55 zurüds; sie wurde in Vorträgen erprobt und in vorbereitenden Studien langsam entwidcelt. Daß jahrelanges Bemühen in der Form keine Spuren hinterlassen hat, sondern die Diktion des ersten Entwurfs sich nach mancherlei Fassungen wieder herstellen ließ, wagt der Verfasser zu hoffen.
AD ME IPSUM Ausgangspunkt jeder Interpretation, die sich mit dem Leben und "Werk Hugo von Hofmannsthal beschäftigt, muß heute, nach seiner lang erwarteten Publikation^ (bisher lagen nur Teile, Fragmente und Bruchstücke vor)^, mehr denn je das geheime Bordereau sein, ad me ipsum, das der Diditer vom Jahre 1916 an führte und in dem er selbst eine grundlegende und systematische Analyse seiner Werke vornahm: sachlich, anschaulidi und mit Hilfe von bestimmten Schlüsselworten, die ihm zur Dediiffrierung seiner dichterischen Problematik und zur nachträglichen Erhellung durchlebter Zeitabschnitte dienten. Die Zentralbegriffe des Journals heißen Präexistenz, Verknüpfung und Verschuldung, mystischer und niditmystischer Weg, Verwandlung . . . Worte, für die es vielfältige Varianten und Synonyme gibt und die durch andere Begriffe (Intro-Version, Wiedergeburt, das Allomatische) ergänzt und erweitert werden. Am Anfang steht die Präexistenz® - Hofmannsthal nennt sie glorreichen, aber gefährlichen Zustand" die den geistigen Ort und die Sinnesart desjenigen bestimmt, der für sich, in seiner eigen geschaffenen Welt, nach eigenem Maß und Gesetz lebt, - vollkommen, allein und einsam. Die Stärke des im Stadium der Präexistenz Befindlichen liegt in seiner frühen Weisheit und der Möglichkeit konsequenter Beschränkung: die ^ H u g o V. Hofmannsthal: „ A d me ipsum", Die Neue Rundschau 65, 1954, S. 358 ff. ^ Außer der ersten zusammenfassenden Publikation von "Walther Brecht im Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts, 1930, S. 319 ff. vor allem die Aufzeichnungen in der Corona 10, 1941. ® Vergl. hierzu Grete Schaeder: „Hofmannsthals Weg zur T r a g ö d i e " a. a. O. S. 309 ff. und dieselbe: „Die Gestalten", a. a. O. S. 4. 2 Jens
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Präexistenz kennt weder Variationen noch Metamorphosen, sie ruht in sich, wer in ihr lebt, ist sich selbst genug. Aber der Stärke entspricht in gleicher Weise Verfehlung und Sdiwäche, da der in der Präexistenz Befangene Gefahr läuft, von allem Lebendigen abgeschnitten, der Realität beraubt und endlich von jeder heilsamen Kommunikation mit dem Äußeren getrennt zu werden. Schon Hofmannsthals ganz frühe Gedidite, vor allem die „Ballade des äußeren Lebens", umkreisen die Problematik der Präexistenz und beschreiben Vollkommenheit und Gefahr des vorbewußten Zustandes. Präexistenz bedeutet Magie und magische Allmacht^, aber nur im eng begrenzten Kreis und nur für eine Weile. Hofmannsthal hat die Präexistenz immer nur als Vorhof betraditet, als eine in sidi geschlossene, aber nicht für sich allein gültige Stufe. Von vornherein deutet das Präfix an, daß die Präexistenz nur in bezug auf die Existenz selbst, auf ihre Integration im leidenden Verknüpfen mit dem Leben hin, betrachtet sein will. Der Übertritt von der Präexistenz zur Existenz markiert den entscheidenden Punkt im Leben der Hofmannsthalschen Helden. Eine Wende vollzieht sich, die in dem Augenblick einsetzt, da der in der Präexistenz Befangene, bangend und sehnsuchtsvoll zugleich, die Begrenzung seines Lebensraums als Mangel und Enge empfindet. Auf die Dauer erscheint dem Blick des nach Verknüpfung und Verwebung Drängenden der Zustand isolierter Selbstgenügsamkeit, erscheinen ästhetische Betrachtung und geborgene Anschauung fragwürdig, weil der Raum, in dem das Individuum sittliche Entscheidungen zu fällen hat, von der verpuppten Welt der Präexistenz aus noch nicht einmal anzuschauen, geschweige denn auszumessen ist. Im gleichen Augenblick, da der Mensch aus der Präexistenz in die Existenz hinübertritt, ist schon über ihn entschieden. Kräfte werden wach, von denen er bisher nichts ahnen konnte, Mächte dringen von außen auf ihn ein, die er nicht zu begreifen vermag. Die Welt zeigt sich als „Dunkles, Drohendes, VerDas Gleidinis der Präexistenz ist nicht umsonst homunculus. Vergl. „Ad me ipsum", a. a. O. S. 376 („Der Anfang ist pure Magie: Präexistenz.") und S. 379.
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schlungenes" und zugleich als ein Raum, dessen Betreten Verschuldung bedeutet, denn Schuld ist das Gesetz der Welt. Schon der Jüngling in dem Gedicht „Der Jüngling und die Spinne" erkennt dieses Gesetz und begreift damit, daß die Welt, die er erobern wollte, eigenen, von der Präexistenz aus nicht erkennbaren Bestimmungen folgt. Der Mensdi, an der Grenze zwischen Vorbewußtsein und Bewußtsein, beginnt zu taumeln, er ist weder im Gestern, der Präexistenz, noch im Heute, der Existenz, beheimatet. Unbewußt trägt er die überkommenen Anschauungen seiner Monadenwelt in die neuen Räume hinein und macht sich dadurch schuldig. Halb im Ewigen, halb im Vergänglichen lebend, in jedem Fall absperrend und abgesperrt (Claudio von claudere) zugleich®, lädt er Schuld auf sidi, da seine Treulosigkeit und sein Wankelmut, Spiegel der bindungsund normlosen Welt der Präexistenz, in den Bereichen sittlicher Verpflichtungen zerstörerisch, ja diabolisdi wirken müssen. Das schließt nicht aus, daß der Mensch sein ganzes gewohntes Dasein aufgibt und freiwillig Säulen und Pfeiler einer wohlgegründeten Welt zerbridit, um sich auf ein Wagnis einzulassen, das ihn leicht ins Verderben führen kann. Nur vom Ende her, wenn man postuliert, der Übergang von der Präexistenz zur Existenz bedeute den Übertritt in eine höhere, zur Vollkommenheit notwendige Lebensform, kann man von einer Ablösung der Vorbewußtheit durch klares Bewußtsein sprechen: im Augenblick des Vollzugs dagegen opfert der Betroffene gerade umgekehrt dem vagen Vermuten sein Wissen und dem Unbewußten seine Erkenntnis. Mühsam muß er das einmal Gewußte neu gewinnen („Der tiefe Brunnen weiß es wohl, einst aber wußten alle drum"), um auf höherer Ebene, nach dem Durchgang durch die Welt, ein zweites Mal zu sich selbst zu kommen. Einst, in der Präexistenz, kannte er nur die reine Dauer, das vollkommene parmenideisch-unangreifbare Sein, jetzt ist er dem Wandel und der Verwandlung, der Metamorphose und dem Werden unterworfen und erkennt den Preis, den jene Verknüpfung mit dem Leben bedeutet, die er selbst um ® Vergl.
Walther
Brecht:
„Grundlinien
Euphorien 16, 1923, Ergänzungsheft, S. 170 ff.
in
Hofmannsthals
Werk".
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der Versdiuldung willen erstrebte. Was Traum und Magie dem Inspirierten leicht gewährten, versagt das täglich sich wandelnde Leben nur zu gern. Schon der Jüngling (in „Der Jüngling und die Spinne") muß die Antinomie zwischen passivischer Vorstellung und aktiver Erfahrung schmerzvoll gewahr werden®, und es bedarf langer Zeit, ehe der neuen Gesetzes nodi unkundige Mensch auch in der Welt des Werdens ein Moment der Dauer, inmitten der Verwandlung jene Ewigkeit wiederfindet, „ohne die kein wahrhaftes Leben möglich ist". Erst dann stellt sich auf höherer Stufe, in begnadeten Augenblicken, jene Verbindung zwischen Ich und Über-Idi, zwischen Werden und Sein wieder her, die vor der Erfahrung aller relativierenden Metamorphosen, in der Präexistenz, schon einmal ahnungsvoll geschaut wurde. Keinesfalls kann die endliche Synthese aber durdi den Versuch erreicht werden, die präexistente Bewußtseinslage in die Existenz hinein zu verlängern. Der mystische Weg, vermittels der Intro-Version der Existenz teilhaftig zu werden, führt leicht ins Verderben, da der Mensdi in Gefahr ist, einen Rest von Magie in das Leben hineinzunehmen und damit einen Zustand, in dem ihm das Leben als drohend, fremd und dunkel gegenübertritt, mit einem Stadium zu verwechseln, in dem er selbst, ein souveräner Herrsdier, nach eigenem Belieben über Worte, Bilder und Zeichen verfügen konnte. Zwar ist es möglich, die begnadeten Augenblicke mystisdier Einheitssdiau auch innerhalb des Lebens nadizuvollziehen und damit direkt und ohne Umweg dem Absoluten nahezukommen, aber diese unio mystica ist als ein dauernder Zustand - das ist das Ergebnis des Chandos-Briefes - nidit mehr (wie in der werdelosen Zeit der Präexistenz) darstellbar. Sie bedingt die Aufgabe des Dichtertums: „der Anstand des Schweigens als Resultat. "Hofmannsthal weiß - die „Statuen" aus den „Augenblicken in Griechenland" zeigen das am deutlidbsten - um die Sekunden jäher Er® „Ich werde dies gewinnen: / Schmerzen zu leiden, Schmerzen zuzufügen. / N u n spür ich schaudernd etwas midi umgeben, / es türmt sidi auf bis an die hohen Sterne, / und seinen N a m e n weiß idi nun: das Leben." H . v. H . : Ges. Werke Gedichte und lyrische Dramen, S. 39. Vergl. auch die Situation des gefangenen Schiffskochs, a. a. O. S. 28, dessen Lage den Zustand des aus der Präexistenz Gefallenen symbolisiert.
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hellung; er weiß aber auch, daß Erfahrungen dieser Art erst nadi Durdigang durch die Welt der Dinge gewonnen werden können: Isolation bedeutet auf der Stufe der Existenz Schweigen und Schuld. („»Gestern', ,Tor und Tod': Gefahr der Isoliertheit, des selbstsicheren Erstarrens, der Erhebung.") Wer existiert und innerhalb der von der Existenz gezogenen Grenzen sittlidi und verantwortungsvoll leben will, muß sich an das Gegebene halten, es durchdringen und in der Verwandlung ändern. Wortmagie hingegen wirkt zerstörerisch und täuscht eine nicht mehr vorhandene Omnipotenz des Dichters vor^. Die Verlängerung der präexistenten Verhaltungsweise führt deshalb notwendig zu Schuld und Scheitern: „die Versündigung in ,Kaiser und Hexe' ist das Abschweifen der Phantasie, das Antizipieren, das Nicht-Sich-Halten am engen Gegebenen - das Amalgamieren fremder Erfahrungen. (Die Worte sind Harpyien)." Der Mensch muß sich selbst, seine in der Präexistenz gewonnene Macht opfern, um, wie Alkestis und ödipus, den Weg zum Leben und zu den Menschen zu gewinnen. Indem er sich opfert, gibt er sidi selbst auf, verzichtet auf die Bewußtheit zugunsten des noch Ungewissen und überläßt sidi, von einem zu einem anderen Moment übergehend, der Verwandlung. Das „Opfer ist gleichsam ein Spezialfall der Tat"®, Symbol und Ausdruck reinen Tuns. Tat, Kind und Werk sind drei verschiedene Möglichkeiten, um sich zu verwandeln und in der Verwandlung zum Sozialen und zum höheren Selbst zu gelangen. Im Augenblick der Tat zersprengt der Mensch die Hülle der Präexistenz und findet, indem er sich zu seinem Wege bekennt und „Treue" zeigt, das ihm aufgegebene Schicksal. („Identität von Treue und Schicksal.") Durch die Tat läßt er sich auf das Kräftespiel innerhalb der Welt des Werdens ein und wird selbst, der Verwandelte, zum Verwandler und Beweger der Dinge. Erst indem sich der Mensch durdi Tun, Handeln und Leiden mit dem Leben verknüpft, gewinnt er den verlorenen Bezug zu sich selbst wieder: „der Weg zum Sozialen als Weg zu sidi selbst." Langsam erlernt er die Treue '' Vergl. Walther Brecht: „ G r u n d l i n i e n . . . " a. a. O. S. 175. 8 Vergl. Naef, a. a. O. S. 85.
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und entdeckt so die Konturen des ihm bestimmten Sdiicksals®. Aber nicht nur die Tat, auch die Aufgabe des eigenen Idi zugunsten des Werks und des Kindes führen den Opfernden zu jenem höheren Selbst, das er am greifbarsten in der Verwandlung durch die Liebe erfährt. Ariadne und die Kaiserin in der „Frau ohne Schatten" gewinnen in der Hingabe ihrer selbst an einen anderen jene Verwandlung und Wiedergeburt; ein neues Dasein, das dem nicht zum Opfer bereiten Kreon (in „ödipus und die Spinx"), der die Tat in Gedanken antizipiert, ohne sie jedocli verwirklichen zu können, versagt bleibt. („Kreon hofft Verwandlung: König zu werden.") Nur indem der Mensdi sidi selbst ganz einem anderen hingibt, ihm zum Schicksal wird, um von ihm im Austausch Sdiidcsal zu erfahren, entsteht eine höhere, beide. Ich und Du übergreifende Totalität. Gegenseitig, „allomatisch", enthüllen sich die Liebenden im platonischen Sinne das Mysterium und machen in ihrer Begegnung jene göttliche Mitte siditbar, die sie zueinander geführt hat^®. Vor allem in der Ehe wird das zuerst in dem „Gespräch über Gediclite" vom Jahre 1903 beschriebene Heiligtum doppelsinnigen Opfers sichtbar: der Opfernde ist zugleich der Geopferte; „wer in den Kern allen Lebens dringen will, muß nicht nur sich selbst verwandeln können, sondern audi fähig sein, sich verwandeln, d. i. sich emporläutern zu lassen, im urmenschlichen gegenseitigen Verhältnis der Liebe, FreundscJiaft, Vater- und Mutterschaft"'^ Hofmannsthal ist nicht müde geworden, jene höchste Stufe der Verwandlung, die in der Liebe und der Treue zu den geborenen und ungeborenen Kindern sich abzeichnende allomatische Begegnung, darzustellen. Nidit nur die Werke selbst, „Ariadne", „Die Frau ohne Sdiatten" und „Die ägyptische Helena", sondern audi die nachträglichen Interpretationen, vor allem der * Kompliziert ersdieint das Verhältnis Elektras zur T a t , „ironisch betrachtet",
gleichsam die T a t
der geborenen Hamlet-Natur,
der
Nicht-
Täterin. Vergl. „Ad me ipsum" a. a. O. S. 361 und S. 368, und Corona 6, a. a. O. S. 568, außerdem Grete Schaeder: „Die Gestalten," a. a. O. S. 78. Walther Bredit im Jahrb. d. fr. dtsch. Hodist., a. a. O. S. 342. ^^ Vergl. Walther Brecht: „Grundlinien
" a. a. O. passim.
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„Ariadne-Brief" an Ridiard Strauß und der Aufsatz „Die ägyptische Helena" bezeugen das deutlich. Um den Triumph des Allomatischen darzustellen hat der Dichter immer wieder jene große Verwandlung der Liebe durdi eine Konfrontierung der Liebesfähigen, Treuen und auf höherer Ebene Verwandlungsbereiten (Ariadne, Helena) mit den oberflädilich Verständigten, Starren, des Mysteriums Unteilhaftigen (Zerbinetta, Aithra) beschrieben - die Verbindung von Liebe und Tod, die er in der „Frau ohne Schatten" als ein speculum veritatis zum Gleichnis erhob. J e weiter das Werk fortsdiritt, desto zwingender wurde die zuerst in der „Ariadne" dargestellte Erkenntnis, daß „mit dem Sich-verwandeln zugleich das Verwandeln eines Andern" Hand in Hand geht, wobei freilich nur der zur höchsten Liebe Bereite soldien Mysteriums teilhaftig werden kann („Verstärkendes Gegenmotiv: sein (Bacchus') Nicht-verwandelt-werden durdi Circe, wodurch erst seine Auserwählung ihm selber bewußt wird"). Erst im Augenblick der erreichten Verwandlung kann die Einheit und Totalität des präexistenten Zustandes wiedergewonnen werden: der „Traum von großer Magie" wiederholt sidi im Anschaun der korai, da die Verwandlung von Augenblick zu Augenblick größer wird und der BetrofFene, gleichsam „entselbstet", die Einheitsschau des jungen Chandos wiederholt'^. Damit gewinnt die einst „aus einem dunklen, mythisdien Bereich in unsere Wirklichkeit hineingeratene Seele" den Mythos am Ende zurück: „Das Mytische in höherer Sphäre realisiert in Helena". Der Dichter selbst, nach dem Motto des Journals, einem Zitat aus Gregor von Nyssas Moses-vita, aus der höchsten Welt herausgefallen, strebt danach, das einmal in der unio mystica der Präexistenz Geschaute wiederzufinden. Dazu bedarf er des Weges durch das Leben; aber was er sieht, befriedigt ihn nicht, weil es nur gleichnishaft ist, Verweis auf das Höchste, nicht das Höchste selbst. Deshalb bleibt sein Streben, das einmal Geschaute, ganz im Sinne Piatons, mehr noch Plotins, in seiner letzten RedukWalther Bredit im Jahrb. d. fr. dtsdi. Höchst, a. a. O. S. 338 ff. unterscheidet kosmos ( = Präexistenz), mundus ( = Verknüpfung), kosmos ( = Verwandlung).
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tion, das Urbild, Idee allen Bildes und Abbilds, wiederzufinden. Präexistenz, Verknüpfung und Versdiuldung, mystischer und nidit-mystisdier Weg, Verwandlung: der aufgezeigten Entwicklung entspricht konkret das Leben des Dichters. Während das Frühwerk die Antithetik zwischen der totalen Welt der Präexistenz und dem erst unvollkommen in schuldiger Verstrickung erkannten Reich der Existenz beschreibt, beginnt Hofmannsthal nach dem Brief des Lord Chandos, der den entscheidenden Einschnitt markiert, mit der Interpretation der beiden zur Existenz, zum Ich und zum Sozialen hinführenden W e g e . . . ein Unterfangen, das ihn in den Übergangsjahren (also dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, der Epoche der „Elektra", des „ödipus" und des „geretteten Venedigs")^® beschäftigt, ehe der dritte und letzte Absdinitt mit der „Ariadne" von 1911 beginnt, die das eigentliche, durch das Suchen nach neuer Totalität, Wiedergeburt und Objektivation bestimmte Spätwerk einleitet. Nicht zufällig steht die Auseinandersetzung mit der Antike innerhalb des Gesamtwerkes an charakteristischer Stelle: zunädist 1893 die „Idylle", in der zum erstenmal in dramatischer Form der „ambivalente Zustand zwischen Präexistenz und Verschuldung" dargestellt wird, dann die „Alkestis" vom gleichen Jahr, in der das Motiv des Opfers vorklingt, 1904 die „Elektra", in deren Mittelpunkt das Verhältnis von Treue und Tat steht, 1906, durch ein genaues Abtasten der Vorstellungen Tat - Opfer - Liebe bestimmt, „ödipus und die Sphinx", endlich, 1911, die „Ariadne" und 1928 die „Ägyptische Helena", Werke, in denen sich das Mysterium allomatischer Verbindung im dramatisclien Spiel und Gegenspiel enthüllt. Nimmt man die „Augenblicke in Griechenland", die Übersetzung des sophokleisdien „König ödipus" (1909) und die zahlreichen theoretischen Äußerungen über die Antike, vor allem die Rede „Das Vermächtnis der Antike" von 1928 hinzu, so erkennt man, daß das klassische Altertum für Hofmannsthal auf allen Stufen seiner geistigen Entwicklung von ursprünglicher, sein Werk formender Bedeutung war, und daß gerade für ihn in Zu den Epodien in Hofmannsthals Leben vergl. Naef, a. a. O. S. 90.
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ausgezeichneter Weise zutrifft, was er in der Einleitung zur „Josephslegende" niederschrieb: „Die uralten legendären Stoffe sind in doppeltem Sinne unerschöpflich: nach innen enthalten sie das Menschliche, Gleichbleibende in einer Verdiditung, die den Jahrtausenden widersteht und jedem neuen Geschlecht durch frisdie, unberührte Brudiflächen ergiebig wird, nach außen hin setzen sie die Phantasie der Welt unabhängig in Bewegung." DIE IDYLLE Was in „Gestern" anklang, das Verhältnis von Treue und Verpflichtung, Augenblicksgenuß und zeitüberdauernder Verknüpfung, wird in der „Idylle" zu vollem Akkord. Zum ersten Mal wählt Hofmannsthal einen antiken Vorwurf (den auf einem Vasenbild dargestellten Zentauren, der, am Rande eines Flusses, eine verwundete Frau trägt), um sein Anliegen zu verdeutlichen. Das Antike ist ihm also nidit Selbstzweck, sondern Medium; ihn reizt die vorgeprägte Form, die immer neuer Veränderung bedürftig ist - es sdieint das Geheimnis griechischen Kunstwerks zu sein, daß es trotz der nahezu erreichten Angleichung von Vorwurf und Ausführung, Stoff und Lösung gerade wegen dieser äußersten Annäherung den Nachfahren ständig zu neuen Lösungsversuchen herausfordert. Hofmannsthal hat um diese Ambivalenz gewußt und nicht zufällig den gleidibleibenden Kern der uralten legendären Stoffe von der Phantasie des Nachschaffenden getrennt, der sich immer wieder versucht fühlt, das einmal Gelungene zu wiederholen und mit eigenen künstlerischen Mitteln den seiner Erlebnisfähigkeit zugänglidien Raum in die exemplarische Welt des griechischen Mythos zu übertragen. Es ist deshalb unrichtig, Hofmannsthal vorzuwerfen, er habe die Antike „verfälscht" und nur ihre Mit Redit weist demgegenüber Hans Heinrich Sdiaeder in seinem Aufsatz „In memoriam H u g o v. H o f m a n n s t h a l " , a. a. O. S. 226, darauf hin, daß man gerade bei der „Idylle", in deren Mittelpunkt doch die Treue stünde, nicht von der Darstellung einer vorsittlidien Welt sprechen könne. Vergl. audi Grete Sdiaeder: „Die Gestalten" a. a. O. S. 40 f.
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vorklassische, rüde, mythendunkle Nachtseite gezeigt^. Es ging dem Dichter gar nidit um die Antike als eine in sich selbst vollkommene, so oder so zu deutende Epoche; vielmehr war ihm das Griechentum lediglich die Folie, nicht anders als Renaissance oder spanisdier Barock - ein weißer Hintergrund, vor dem sich die Konturen der vom Dichter gesdiaffenen Gestalten deutlich abheben und ihr Eigenwesen im Kontrast zum Vorbild (denn hinter der Elektra sdiimmert immer noch, Abstand heischend, das sophokleische Vorbild durch, hinter dem Zentauren steht der Umriß des auf dem Vasenbild gezeigten Archetypus) schärfer hervorleuchten lassen können. Hofmannsthal wählt die ihm auf Grund seines habsburgisdien Erbes zur Verfügung stehenden Zeiten, jene drei großen abendländischen Ordnungsepochen Antike, Renaissance und Barock, um die Tragfähigkeit seiner dichterischen Einsicht am Gegenüber vorbildlidier Zeitläufe zu erproben und gerade dadurch den Abstand zwischen dem Gestern und dem Heute, dem Einst und Jetzt, sichtbar und sinnfällig zu machen. Damit gibt der Dichter nidit ein verfälschend subjektives Bild der von ihm ausgewählten Epochen, sondern er objektiviert, gerade umgekehrt, die ihm als Künstler aufgegebenen Probleme am Beispiel der Vergangenheit. Hofmannsthal der „Verfälsdiung" zu zeihen^ hieße, ihn zum Historiker zu madien und den Untersdiied zwischen der für sidi gültigen Historie und der Geschidite als Medium und Folie zu verwisdien. Wie Philip Lord Chandos sah Hofmannsthal in aller Geschichte nur „Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit", Zeichen und Chiffren, die es neu zu entziffern und in die Sprache der eigenen Zeit zu übertragen galt. Die Grenzlinien zwisdien Übertragung, Bearbeitung, Neufassung und Selbst^ Vergl. als Beispiel die sdiarf negativen Äußerungen von Friedridi von der Leyen: „Deutsdie Dichtung in neuerer Zeit," Jena 1927, S. 237 f. zur „Elektra": „ . . . . d i e s e Elektra ist eine pathologische Studie, eine Folge der widrigen Dekadenzen unserer Z e i t . . . kein Hauch des antiken Pathos weht in dieser Tragödie! Der Dichter entblößt alle Unsauberkeiten einer weiblichen gepeinigten, ungeliebten Seele, mit jener häßlichen, zersetzenden Kunst, die auch v o n den Geheimnissen den Schleier reißt, die immer Geheimnisse bleiben sollen."
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sdiöpfung sind dabei schwer zu ziehen; Hofmannsthal hatte das gesunde, zumal der Antike selbstverständliche Empfinden für die Allgemeinverfügbarkeit des Stoffes; statt krankhafter Originalitätssudit zu frönen, ging sein Bestreben, ähnlidi dem der griechischen Meister, stets dahin, mit seinen Vorläufern zu wetteifern. Er kannte nicht die Angst moderner Diditer, der Stoff könne wertlos sein, da ihn schon einmal ein anderer aufgegriffen hätte: im Gegenteil wußte er, daß die Mythen allen gemeinsam gehörten und daß der Stoff an sida belanglos sei, weil erst mit der Transponierung und Anwendung, erst mit Übertragung und Gestaltung die Leistung des Dichters begänne, von deren Vollkommenheitsgrad es abhinge, ob die großen Träume der Menschheit wieder einmal im hic und nunc des Augenblicks gebannt werden könnten oder nicht®. ® Hofmannsthals selbstverständlidi-freier U m g a n g mit den großen Träumen, Mythen und Diditungen der Menschheit, zu seinen Lebzeiten oftmals sdiarf angegriffen (vor allem von der Berliner Zunft der Theaterkritiker, denen das ganz andere Traditionsverhältnis des Österreichers unverständlich bleiben mußte), wurde nach seinem T o d e allgemein als ihm gemäß und seinem Wesen entgegenkommend angesehen. Vergl. Rudolf Alexander Schröder im Gedächtnisheft der Neuen Rundschau, Die Neue Rundschau 40, 1929, S. 577 ff., vor allem S. 582: „Man vergaß es auch, der Frage gründlicher nachzugehen, ob denn wirklich jene Dramen und Quasidramen, deren Titel bescheidentlich eine ,Nachdiditung' verzeichnete, Nadidichtungen im Sinne eines verschleierten und verbrämten Plagiates seien, oder ob sie nicht vielmehr die einem besonderen Dichter und einer besonderen Zeit gemäße Fortführung uralter Gepflogenheit nidit nur unseres, sondern aller großen Schrifttümer darstellten, ohne die wir Deutschen, u m hier nur uns und für uns nur diese drei Beispiele zu nennen, keinen Parzival, keinen Tristan, keine Iphigenie haben würden?" Vergl. auch Heinrich Eduard Jacob im gleichen H e f t der Neuen Rundschau S. 667 ff., vor allem S. 670: „Wenn ein Eklektiker derjenige ist, der fredien Mutes das Gewachsene abschneidet, wo er es findet, und Birnen auf Pflaumen okuliert, gerade dann war Hofmannsthal kein Eklektiker. Die maßgebende Berliner Theaterkritik hat das in mörderisdier Weise verkannt, als sie — und leider gerade in Hofmannsthals fruchtbarstem Jahrzehnt, in der Dramendekade 1900—1910 — bei jedem Erscheinen eines neuen Werkes die spottsüditige Frage stellte: ,Wo hat er das her?' Diese Frage entstammt derselben Wurzel, der vor hundertfünfzig Jahren der Spott Friedrichs des Großen über das ,zusammengelaufene Heer der Maria Theresia' entsprang."
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Das Problem ehelicher Treue und ehelicher Unzufriedenheit wird von Hofmannsthal - sdion das läßt aufmerken - am Beispiel dreier versdiiedener Zeiten, der Antike (in der „Idylle"), der Renaissance (in der „Frau am Fenster") und der Märchenwelt (in der „Frau ohne Sdiatten") dargestellt. Das Verbindende zwischen den Vorwürfen liegt in der Beschreibung der Hauptperson: sowohl die Frau in der „Idylle" als auch Dianora und die Färberin sehnen sidi aus der Enge der Gegenwart in eine freiere und vollkommenere Welt hinaus. Aber während Dianora und die Färbersfrau einer sdion seit geraumer Zeit empfundenen Liebe nadigehen (wirklicher Liebe Dianora, vermeintlicher Zuneigung die Färberin), wird in der „Idylle" der Augenblick der Liebesempfindung selbst dargestellt. Was in der „Frau am Fenster" und, mehr noch, in der „Frau ohne Schatten" in langen Reflexionen und Beschreibungen nadigeholt werden kann, muß, dem Sujet entsprediend, in der „Idylle" durch Handlung ersetzt werden. Anders als in den späteren Versuchen kommt alles darauf an, daß es dem Dichter innerhalb weniger Verse gelingt, die zwischen den drei Polen: Schmied, Frau und Zentaur (entsprechend Dianora - Messer Braccio - Messer Palla und Färberin - Färber - Dämon-Jüngling) hin- und hergehenden Beziehungen zu beschreiben. Dabei wird ersichtlich, daß Hofmannsthal die Frau offenbar als eine jener haltlos Untreuen aufgefaßt haben will, denen der Übergang von der Präexistenz zur Existenz nicht gelungen ist. In der Tat lebt die Schmiedfrau ausschließlidi in ihrer Vorwelt^; zu Tag und Stunde hat sie kein Verhältnis gewonnen. Deshalb liegt ihre Schuld, ähnlich wie bei Claudio, vor allem in ihrer Isolation. Wie Claudio führt sie ein eigenes Leben, das, mit Erinnerungen und Assoziationen beladen, an der eigentlichen Existenz vorbeiführt. Die väterliche Welt der Töpferei, die Gebilde der Kunst und Phantasie, ersetzen ihr Realität und Tätigkeit. Als ^ H . V. G . : Ges. Werke . . . , Gedichte und lyrische Dramen, a. a. O. S. 58. . . daß mir zuweilen war, als hätte ich im Schlaf / die stets verborgenen Mysterien durchirrt / von Lust und Leid, Erkennende mit wachem Aug, / davon, an dieses Sonnenlicht zurückgekehrt, / mir mahnendes Gedenken andern Lebens bleibt ] und eine Fremde, Ausgesdiloßne aus mir macht / in dieser nährenden, lebendigen L u f t der "Welt."
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ein edites Kind der Präexistenz verbringt sie ihre Tage mit Traum, Trance und ästhetischer Betrachtung: Arlettes Schwester, Dianoras frühe Verwandte, die der ersten Versuchung nicht widerstehen kann, da die Grenzenlosigkeit der präexistenten Welt weder sittliche Verpflichtung noch Maß und Treue kennt. Nicht das Beständige, Werk und Ergebnis der Tätigkeit, erfreut sie, sondern allein das Haltlos-Vage, jäh sich Verändernde der Flamme („Die Flammen anzusehen, lockt's midi immer neu, / die wechselnde, mit heißem Hauch berausdiende"). Demgegenüber vertritt der Schmied - ein erster früher Vorfahr des Färbers - die Welt der Tätigkeit und der Beschränkung („des Gatten Handwerk lerne heilig halten du"), des Maßes und des Wissens um die zwischen Gott und den Menschen gezogenen Grenzen. Der Zentaur sdiließlich steht ganz auf der Seite der Frau; was sie träumt und wünscht, verwirklicht sein Leben; was sie ersehnt, ist ihm Natur und Existenz. An der Reaktion auf seine Erzählung wird der Zwiespalt zwischen dem Sdimied und der Frau mit aller Schärfe offenbar: während die Wurzellose, in der Mitte von Präexistenz und Existenz Befindliche in dem Ungebundenen des Zentaurendaseins „unsäglichen Reiz" findet, trennt der auf Begrenzung und Bewahrung des Eigenen bedachte Sdimied sofort zwischen dem Nomadendasein der Waldgeborenen und der Scham und Treue häuslichen Daseins. Trunkenheit und Vagantentum gelten ihm schon deshalb als unheilvoll und verboten, weil er klar und sicher zwischen den verschiedenen Bereichen (göttlichem und menschlidiem, häuslichem und zigeunerhaftem Dasein) zu unterscheiden vermag und die Welt seines Hauses, den eng umgrenzten Bezirk des Wohnbaren stellvertretend für den Kosmos zu nehmen versteht, während die Frau nur auf Fortsetzung ihres Traums bedacht bleibt und deshalb, dem Zentauren verfallen, zugrunde geht. Unbeständigkeit des Herzens und das verbotene, von keiner sittlichen Verpflichtung gehemmte Vagieren der Seele finden im Leben des Zentauren ihre Entsprechung; der Augenblick entscheidet hier wie dort; was war, ist schon in der nächsten Sekunde vergessen („was sorgst du lang, um was du schnell vergessen hast?"): so betrachtet ist die Frau der
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„Idylle" nicht nur die Schwester der Dianora und der Färberin, sondern audi die Gefährtin Claudios und Andreas, während der Sdimied, der Tat verpflichtet und dem Werktag zugetan, als erster, weit voraus, auf die Möglichkeit dauerhafter Verknüpfung im Leben (und damit auf die Existenz des nichtmystischen Wegs) vordeutet®. Dem Inhalt nach bleibt das Vorbild gewahrt: der Zentaur am Rande des Flusses mit der Frau auf den Armen. Die Interpretation des Bildes aber, die Erfindung der Vorgeschichte, die Ausmalung der Szene im Böcklinschen Stil, kurz die Übertragung der eigenen Seelenlandsdiaft in den Rahmen der Amphore, ist des Dichters eigenes Werk, der hier zum erstenmal einen antiken Stoff wählt, um vor der Folie des vom griechischen Meister entworfenen Bildes von sidi selbst zu sprechen und sich durdi die vorgeformte Fabel, die er als Ergebnis und Abschluß seiner Nachzeichnung voraussetzt, zur Darstellung dreifach verschiedenen menschlichen Verhaltens inspirieren zu lassen. ALKESTIS Bestimmte das griechische Vorbild in der „Idylle" nur das Ziel der Fabel, ihre Schlußkonturen, so geht die Entsprechung zwischen Schrift und Abschrift (dies im weitesten Sinn) in der gleichfalls 1893 entstandenen „Alkestis" wesentlidi weiter^. Hofmannsthal selbst spricht von einer freien Übertragung, einer Arbeit also, die, was den Grad der Nachschöpfung angeht, ungefähr in der Mitte von Übertragung und Bearbeitung steht. In Wahrheit ist die Übertragung so frei, daß man oft genug ® Über die „Konfiguration" der „Idylle", das Verhältnis der Personen zueinander, vergl. neuerdings Paul R e q u a d t : „ H u g o v. H o f m a n n s t h a l " in: Deutsche Literatur im zwanzigsten Jahrhundert, Heidelberg 1954, S. 36 ff. ^ H u g o V. H o f m a n n s t h a l : „Alkestis" in: H . v. H., Ges. Werke . . . , Dramen I, a. a. O. S. 7 ff. Bruchstücke zuerst in der Wiener Rundschau v o m 15. 12. 1898 veröffentlicht. (Prolog, T o d der Königin, Auftritt des Herakles.) Gesamtpublikation im Hesperus 1, 1909; in Buchform: im Inselverlag, Leipzig 1911. Bearbeitung für die Opernbühne: Universal-Edition Wien, 1923.
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von einer Neusdiöpfung statt von einer (wenn audi freien) Übertragung sprechen kann^. Schon der Prolog ist gegenüber dem euripideischen Vorbild, der im Jahre 438 v. Chr. aufgeführten „Alkestis", in charakteristisdier Weise verändert worden. Ähnlich wie in der „Elektra" und im „ödipus und die Sphinx" fürchtet sich Hofmannsthal, unverzüglich zu den res mediae überzugehen, weil ihm das allzu Direkte, Unvorbereitete und Konturenlose reiner Faktizität widerstrebt. Deshalb beginnt er nidit mit dem Auftritt des Gottes selbst (nidit mit dem Erscheinen Elektras und ö d i pus' in den späteren Dramen), sondern mit dem vorbereitenden, Stimmung und Atmosphäre bezeichnenden Prolog, der Stimme auf der Gartenmauer. Ehe gesprochen wird, soll der Ton des Ganzen, der Grundakkord in einer Weise, die halb Lied und halb Gebet ist, angeschlagen werden. Das Haus, das im Folgenden zum Stimmungsträger des Geschehens wird, ist kein gewöhnliches Haus: ein Gott hat hier gewohnt, Wunder und Geheimnis zogen in seinem, des Sängers, Namen ein: „da kamen die Lüdise und weideten mit, I da folgten die Löwen dem Klang und dem Schritt / in feuerfarbenem Rudel, / gebunden von süßer Gewalt«." Während Apollon bei Euripides, aus der Mitteltür des Palastes heraustretend, das Haus seiner Kneditschaft, Admets ^ Vergl. zur Bearbeitung des Alkestis-Stoffes die Dissertation (Masch. Sehr.) von H. Steinwender: „Alkestis — v o m Altertum bis zur Gegenwart", Wien 1951, die die Alkestisfassungen von Preditl, Rilke, LernetHolenia und Hofmannsthal miteinander vergleidit. Vergl. auch E. M. Butler: „Alkestis in modern dress", Journal of the Warburg Institute, Volume 1, London 1937, S. 46 ff. und Ernst Zinn: „Rilke und die Antike" a. a. O. S. 201 ff., der Rilkes Alkestis-Gedicht ausführlich interpretiert und S. 245 (Anmerkung zu S. 208, Z. 4) weitere Literatur angibt. Eine neue ausführliche Darstellung der Alkestis-Bearbeitungen im 20. Jahrhundert, die vor allem auch die „Alkestis" von E. W. Eschmann einbeziehen sollte, käme — was bisher leider unterlassen wurde — u m eine genaue Interpretation des Borchardtschen Alkestis-Aufsatzes von 1910 nicht herum. Es steht zu hoffen, daß Ernst Zinn seine a. a. O. S. 244 ausgesprochene Hoffnung, sich später einmal mit dem Thema beschäftigen zu können, bald wahrmachen wird. 2 Der Prolog der Stimme umfaßt inhaltlidi das Chorlied V. 569 ff.
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W o h n s i t z z u P h e r a i , u n g e r u f e n u n d aus e i g e n e m A n t r i e b
be-
t r i t t , f ü h l t er sich in H o f m a n n s t h a l s V a r i a t i o n d u r c h d e n G e sang d e r S t i m m e h e r b e i g e r u f e n ^ u n d sich w e h m u t s v o l l a n die Z e i t seines D i e n s t e s bei d e m Sterblichen e r i n n e r t . D i e lung v o n A d m e t s Geschick ist d e s h a l b v i e l als bei E u r i p i d e s :
der G o t t
Erzäh-
persönlich-inniger
h a t den Menschen
liebgewonnen
u n d ihn nicht n u r , w i e i m griechisdien D r a m a , als einen f r o m men M a n n
empfunden.
sidi m i t d e m
Hofmannsthals
Apollon
Schicksal seines einstigen H e r r n
identifiziert
viel enger
als
d e r euripideisdie G o t t ; er k e n n t die S o r g e n u n d N ö t e des M e n schen sehr g e n a u u n d w e i ß sie z u d e u t e n : „ u n d w e i l sie so a m L e b e n h ä n g e n , diese S t e r b l i c h e n . " F r e i l i c h ist auch A d m e t
ein
a n d e r e r als bei d e m griediisdien T r a g i k e r . H o f m a n n s t h a l
hat
sehr w o h l
empfunden,
wie
schwer
es sein müsse,
für
einen
M a n n S y m p a t h i e n zu gewinnen, der andere hingibt, nur,
um
selbst w e i t e r l e b e n z u k ö n n e n - einen S t e r b l i d i e n , d e r sidi nicht * Charakteristisch für die Aufnahme der „Alkestis" unter dem Motto: „Die Griechen haben es besser gemacht" — ein Echo, das sich nach der „Elektra" und „ödipus und die Sphinx" verstärkte — ist die Rezension von Edgar Steiger im Literarischen Edio 18, 1915/16, Sp. 998 ff., die sich vor allem auf die Variation des Prologs bezieht. „Was er (sc. Hofmannsthal) sonst aus Eigenem zugibt, ist meist vpn Übel. So wenn er gleich zu Anfang den Apollo durch eine Stimme aus dem Palaste, die zu ihm betet, herbeirufen läßt. Wobei dann der Gott dem verehrten Publikum erklärt, daß er sdion vor Jahren einmal dagewesen sei und in diesem Palaste als Knecht gedient habe. Wozu aber ist nun dieser Gott diesmal gekommen? Lediglich, um mit dem Thanatos, der eben ins Haus will, einige unnütze Worte zu wechseln und dann die Ankunft des Herakles zu prophezeien! Wieviel natürlicher geht es da bei Euripides zu! Der den Prolog sprechende Apoll verläßt vor dem Tod der Alkestis den Palast, wo er bis jetzt Kuhhirtendienste getan hat, um — ein edit griechischer Gedanke — sich durch den Anblick eines Toten nidit zu verunreinigen, und hier auf der Schwelle des Hauses trifft der Gott, der drin sein Hirtengewand abgelegt hat, zum erstenmal wieder in göttlicher Schönheit erscheinend, mit dem auf das Haus zueilenden Thanatos zusammen. Dabei ergibt sich dann Rede und Gegenrede, bis zu der Drohung mit Herakles, die ihn zugleich vor dem griechischen Publikum als Gott der Weissagung beglaubigt, ganz von selbst. Man sieht also, die rufende Stimme, mit der Hofmannsthal das Ersdieinen Apollons motivieren wollte, hat den einfachen Vorgang des antiken Dichters nur verwirrt."
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scheut, die eigene Frau in den Tod gehen zu lassen. Er hat deshalb alles Schroffe, Hochfahrend-Herrische im Bilde des Admet getilgt und ihn zum reuig Trauernden gemadit. Dem euripideischen Admet ist es selbstverständlich, nach einem anderen zu suchen, der statt seiner zu sterben bereit wäre: planmäßig, als ginge es um die alltäglichste Sache der Welt, prüft er seine Freunde und geht die Reihen seiner Verwandten durch, um den Rediten zu finden. Hofmannsthals Admet dagegen „bebt zwischen Scham und Todesangst", und kaum, daß er die Frage gestellt hat (wer für ihn zu sterben bereit sei), reut sie ihn, „und er wäre lieber tot". Euripides weiß von keinem Seelenkampf. Admets Gebaren ist ihm, dem Griedien, das Allernatürlichste. Auch die Opferbereitschaft der Frau erwähnt er nur mit einem kurzen Satz: „die, für ihn sterbend, nicht mehr das Lidit sehen wollte." Ganz anders Hofmannsthal. Auf Grund seiner, zehn Jahre vor dem „Gespräch über Gedichte" hier zum erstenmal greifbaren Vorstellungen vom Mysterium des Opfers®, fügt er neun Verse hinzu, die sich bei Euripides nicht finden, und ersetzt den selbstverständlichen Vollzug durch die freiwillige Todesbereitschaft, ja Todessehnsudit der Alkestis („Ich sterbe gern für didi"), die in einem wirksamen Kontrast zu der sidi unmittelbar darauf vollziehenden Erfüllung des Wunsches steht. Die lieblichen Worte verstummen, als die Todesgötter Alkestis berühren und dem Wunsch, kaum daß er ausgesprochen ist, Erfüllung schenken® . . . Erfüllung, die im Augenblick der Rede des Gottes Wirklichkeit wird. Apollons Bitten sind umsonst, der Todesgott fordert sein Recht und überwindet Apoll: bei Euripides in einer streng gebauten Stichomythie, bei Hofmannsthal in einem freien Dialog, der sich in Form und Inhalt der gehobenen Umgangssprache angleicht. Nun ist das Schicksal beschlossen, aber noch nicht erkannt, denn das Volk bleibt unwissend und in bangem Zweifel. Nur ® Siehe Anhang. ® „ D a w a r s e r f ü l l t , u n d die T o d e s g ö t t e r , auf
stummen
Flügeln
/ mit Todesaugen
die / u n s i d i t b a r ,
hingen
in d e r
grauenvoll
Luft, /
hörtens
u n d w e h t e n ihren J u n g e n L e i b / m i t l e i s e m S c h a u e r an, u n d als er w i l d / in A n g s t die A r m e u m sie k l a m m e r t e I u m s d i l a n g er eine s c h o n . " „ A l k e s t i s " a. a. O . S. 10. 3 Jens
Todgeweihte
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die Stille vor dem Hause läßt Unheilvolles ahnen. Der euripideisdie, sich nach der Notiz der codices und Scholien in Halbchöre aufteilende Chor beschreibt die unheimliche Ruhe im Kontrast zu dem erwarteten Unhell: „das nodi nicht, aber gleich", das Empfinden von der letzten stillen Sekunde vor dem jähen Klageschrei, gibt den Worten und Wünschen des Chors die Richtung. Für Hofmannsthal dagegen ist die Stille um ihrer selbst willen bedeutsam; die Unheimlidikeit des ruhigen Schweigens, der lautlose Friede des Grabes sdiafFt Atmosphäre. Das Schweigen an sich wird Handlungsträger; während es still ist, verändert sidi die Welt, und mitten in der Stille „ist die Luft voll Stöhnen und Geräusch von Händen, die sich regen«. Erst der Auftritt der Dienerin zerschneidet die Stille, und die Erwartung wird, in der Rede der Sklavin, durch Wissen ersetzt. Aber welch ein Unterschied zwischen den Dichtern! Euripides läßt die Dienerin nur Tatsächliches berichten: nüchtern wird Faktum an Faktum gereiht, und aus der Summe der Teile entsteht das Mosaik des letzten Lebenstages der Alkestis: wie sie sich badete, worum sie bat, wie sie opferte, im Ehegemach in Klagen ausbrach und endlich von den Kindern und vom Gesinde Abschied nahm. Auch Hofmannsthal läßt keinen dieser Züge aus, aber wichtiger als die Aufzählung äußerer Fakten ist ihm die Interpretation der Seelenlage. Die seltsame Veränderung der Stimme scheint bedeutsamer als Handlung und Gebärde, denn die Stimme bezeugt die Nähe des Todes. Sie hat den gewohnten Klang verloren, ist fremd und herb und zeigt, daß Alkestis schon auf dem Wege ist, dem Hades entgegen zu gehen. J e genauer die Dienerin Alkestis' Abschiedsschmerz beschreibt, desto unglückseliger muß das Los dessen ersdieinen, der bei Euripides nur mit allgemeinen Worten als ein Trauernder beschrieben wird: Admet. Anders als dem griechischen Dichter kommt es Hofmannsthal darauf an, die Paradoxie zu beschreiben, daß Admet gerade durch seine Flucht vor dem Tode eine leichte Beute des Hades wird: „er floh den Tod, der aber warf dem Fliehnden in den Rücken einen Dolch: die Wunde schwärt ihm fort, solang er lebt!"
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Die Edlen von Pherai, deren Gespräche die Bitten des euripideisdien Chors variieren, sind sich uneins über Admets Geschick, und ihr Gespräch kommt nicht zu Ende, da Alkestis, auf Admet gelehnt, aus dem Hause tritt. Wieder braucht Hofmannsthal weit mehr Verse als Euripides, um das langsame Näherschreiten der Todgeweihten zu beschreiben, und es zeigt sich abermals, wie sehr der Dichter alles Direkte, Unvorbereitete scheut. Erst müssen Dunstkreis und Atmosphäre umrissen sein, ehe die das Geschehen tragenden Menschen zu reden vermögen. Dem Bezug zwischen Stimmung und Rede, Mensch und Atmosphäre, der Darstellung jener zwischen Ich und Du hin und her gehenden Bezüge gilt Hofmannsthals erstes Augenmerk'', und nicht zufällig setzt deshalb audi Alkestis ihr eigenes Erleiden in eine geheimnisvolle Relation zur Natur. Während sie sich bei Euripides, griechischer Tradition entsprechend, mit einem Anruf der Sonne, des Tageslichts und der am Himmel dahinwirbelnden Wolken begnügt, ergänzt sie bei Hofmannsthal diesen Anruf, indem sie die Naturphänomene auf ihre, im Augenblick der Ansprache erkannte Situation bezieht: „Die Sonne, schau. Sie streichelt meine Hände. Und die Wolken! wie sie gleiten, gleiten! weh! Die kommen auch nicht wieder." Euripides geht es also um den Anruf an sich, die Tatsache der Benennung. Hofmannsthal hingegen genügt diese Beziehung zwischen Rufendem und Berufenem nidit; er muß sie ausführen und expressis verbis interpretieren, so daß die Kräfte der Natur sdiließlich zum Spiegel und Gleichnis menschlichen Erduldens werden. Auch im folgenden begnügt sich Euripides mit dem Anruf der Erde, des Hauses und des heimatlichen Brautbetts, weil die Zitierung hinreidit, um den Bezug zwischen Ich und Welt sichtbar zu machen. Hofmannsthals Alkestis dagegen schweift ab, Vergl. Josef Nadler: „Hugo v. Hofmannsthal", Corona 2, 1931, S. 2 1 4 : »Die lebendige Gestalt des Todes, das Du und Du junger Ehegatten standen seinen ersten Spielen nachbarlich nahe. Der antike Mythos brachte, was im Dichter stockte und um Ausdruck rang, in bewegten Fluß." Vergl. audi Wilhelm T r a p p m a n n : „Das Ich-Du-Problem in seiner Existenzbedeutung im dramatischen Jugendwerk H u g o v. Hofmannsthals", (Diss. E r langen 1935). 3*
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das Dadi vor dem Hintergrund des Himmelsblaus löst Assoziationen in ihr aus, die sie an das Brautbett im Hause ihrer Eltern erinnern. Was bei Euripides, im Anrufungsstil, zeitlich nebeneinander steht, wird bei Hofmannsthal in die rechte chronologische Folge zerlegt; und um zugleich vom Brautbett im elterlichen Hause und vom Hause Admets sprechen zu können, bedarf es der Erinnerungen, mit deren Hilfe allein die Kluft zwischen dem gegenwärtig Vorhandenen und dem vergangen Fernen überwunden werden kann. Immer wieder erweist es sich, daß Hofmannsthal, um Atmosphäre und Sinnfälligkeit zu schaffen, viel detaillierter als Euripides beschreiben muß. Er beschränkt sich nicht auf Andeutungen, die den Seelenzustand seiner Helden von fernher umschreiben, sondern spricht aus, was sie im Innersten empfinden. Deshalb übernimmt er audi Alkestis' Angst vor dem Totenboot mit dem Fährmann am Steuer beinahe wörtlich von Euripides, um dann doch, stets auf Verdeutlichung bedacht, hinzuzufügen, was Alkestis fühlt: „ich habe Angst, Admet." Gerade die nackte Beschreibung aber, die wortwörtlich analysierte Seelenlage der Alkestis, scheut Euripides, der sich sorgfältig davor hütet, den Seelenschmerz der Todgeweihten maßlos werden zu lassen. Beherrscht und ruhig, im klaren Wissen um ihren Opfertod, spricht Alkestis ihre Abschiedsrede; in allem Schmerz gefaßt und seiner selbst bewußt antwortet Admet. Hier freilich, in der Rede des Admet, zeigt sich (nach weitgehender Übereinstimmung in der Alkestisrede) wiederum der Untersdiied zwischen den Dichtern mit aller Deutlichkeit. Euripides' Admet verliert sich nie in seiner Trauer; er weiß um sein düsteres Los und die Tage ohne Festgesang und Freude, die ihm bevorstehen - aber er findet sich mit seinem Schicksal ab. Ein Abbild der Alkestis, von einem Bildhauer entworfen, wird an seiner Seite ruhen, manchmal wird er glauben können, sie selbst, seine Frau, sei noch am Leben; und audi im Tod wird er mit ihr, im gleidien Grab bestattet, vereint sein. Ganz anders der moderne Dichter. Was Admet bei Euripides als Trost und Zuspruch empfindet, wird ihm bei Hofmannsthal zur Höllenqual. Was nützen alle Träume und Erinnerungen? . . . das Erwachen danach wird um
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so schlimmer sein. Hofmannsthals Admet kennt keinen Trost, sein Bett wird leer bleiben, nur die Trauer seine Gefährtin®, nur das leere Haus, ein Sarg der Lust, sein Begleiter sein. Das Ausweichen in Bilder und Kopien, nachzeichnende Symbole und Gleichnisse, ist ihm versagt; einzig der Traum wird ihm manchmal, selten genug, eine kurze Atempause gewähren; doch was soll das ihm bedeuten? . . . ihm, der nicht einmal bei der Vorstellung des gemeinsamen Grabes Zuversicht empfinden kann? Als Alkestis stirbt, spricht Admet nur aus, was er schon vorher wußte: „wir sind sehr elend, Kinder, arm ist euer Vater." Trauernd stehen die verwaisten Kinder und die Edlen des Landes vor der Bahre, aber wie verschieden die Reaktion der Betroffenen bei dem griechischen und bei dem deutschen Dichter! Während Eumelos, der kleine Sohn, bei Euripides Worte der Weisheit und des Tiefsinns spricht und mit dem Schicksal der Toten und der Hinterbliebenen zugleich das menschliche Schicksal an sidi, losgelöst von der konkreten Situation, beschreibt, verhält sidi Hofmannsthals Eumelos als ein echtes Kind, das unverständig und ahnungslos vor dem Mysterium des Todes steht. Die Schilderung seiner Reaktion ist, im Gegensatz zu Euripides, psychologisch genau und aus der Perspektive des Kindes heraus zu verstehen: „Vater, die Mutter madit so große Augen, sie hat so starre Finger. Mutter, hör d o c h ! . . . Kann sie denn nicht mehr gehn, hat sies verlernt? Was ziehn sie ihr die schönsten Kleider an? Was geben sie ihr goldne Spangen um? Ist doch kein Fest?" Auch Admets Reaktion wird von beiden Dichtern grundsätzlich anders aufgefaßt. Der euripideische Held geht nach einem kurzen „es kam mir nicht unerwartet" sogleich zur Tagesordnung über und veranlaßt die Einzelheiten der Bestattung. H o f mannsthal dagegen, der viel größeren Wert auf Erinnerungen und Stimmungen, Assoziationen und Gefühle legt, läßt Admet bei der Besdireibung des Erwarteten verweilen, um so zunächst die bange Angst vor dem Beschlossenen, die unabweisbare *
„ S o l a n g ich leb, ist T r a u e r m e i n e H e r r i n , / setzt sich m i t m i r
zu
Tisch, geht hinter m i r / u n d steht des N a c h t s an m e i n e m leeren B e t t e / und sieht mich an m i t eisernen A u g e n , s t u m m . " „ A l k e s t i s " a. a. O . S. 22.
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Furcht vor dem Unvermeidlichen zu beschreiben: „und manchmal in der Nacht beugt ich mich über sie in solcher Angst, als müßt ich plötzlich, wie die Kerze lischt, ihr Leben mir im Arm auslöschen sehn. So grauenvoll ist, wenn man es bedenkt, das Leben." Der Nachgesang des Chors und die Klage der Frauen beschließt bei beiden Dichtern die Szene: zum Schicksal der Verblichenen gewandt, das Leben und den Ruhm der Alkestis trauervoll beschreibend, die Männer des euripideischen Chors - Alkestis' Schicksal als Symbol menschlicher Nichtigkeit, menschlicher Größe, menschlichen Scheiterns verkündend, die Alten und Jungen, Freien und Sklaven in der modernen Variation. Unmittelbar danach tritt Herakles auf: und wieder, ein drittes Mal, zeigt sich Hofmannsthals Furcht vor dem unvermittelt Direkten; wieder läßt er erst durch die Stimmen der Männer die Atmosphäre bezeichnen und Herakles' Größe an seinen Insignien, der Keule und dem Fell, ablesen, ehe der Held selbst auftreten und sich in einem vorbereitenden Gespräch mit den Männern von Pherai über seine Absichten unterhalten darf; und auch die folgende Unterredung mit Admet hat Hofmannsthal gegenüber dem euripideischen Vorbild weitgehend verändert. Die streng gebaute Stichomythie, in deren Verlauf der König, in die Enge getrieben, sich mehr und mehr der Wahrheit nähert, ist durch ein kurzes Vorgespräch und eine lange Rede des Admet ersetzt worden. Während Euripides den größten Teil der Stichomythie für die Befragung des Admet verwendet und erst ganz am Ende Herakles' Entschluß, das Haus zu meiden, vorbringt, verlagert Hofmannsthal die Schwerpunkte in der Weise, daß er den Gast gleich am Anfang, als er noch gar nichts Näheres weiß, zur Umkehr entschlossen sein läßt. Dadurch erhält er Gelegenheit, Admets Überwindung, die Größe seines Opfers und den Großmut seiner Gesinnung viel deutlicher als Euripides herauszuarbeiten. Das Schwergewicht der Szene hat sich also verschoben: nicht Herakles' Inquisition, sondern Admets drängendes Bitten, nicht die Frage „wer war die Frau, die starb?", sondern die Behauptung „wer es auch war, du bist mein Gast" („Gleichviel. Tot sind die
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Toten. Geht, schließt auf die Fremdenhallen"), stehen im Mittelpunkt der Szene. Durch diese Verlagerung spart sich H o f mannsthal Admets nachträgliche Begründung gegenüber dem Chorführer® und kann unverzüglich zur großen Rede übergehen, die an der Stelle des Chorliedes in ganz eigener Weise das Mysterium der Verwandlung verkündet: aus dem in die Erde gesenkten Leib der Königin soll neues, wunderbares Leben entstehen . . . . Leben, das den Tod triumphierend überwindet und den Sieg jener opferbereiten Liebe bezeugt, die in der Verwandlung®^ die Vergänglichkeit besiegt. Aber die Vorstellung dauert nicht lange, denn was Admet erahnte, tritt nun ein. Das Ende von Traum, Trance und visionärer Zukunftsphantasie stößt den Erwachenden um so unerbittlicher in die Realität seines Leidens zurück: Spielleute, Fackelträger, Sklavinnen geleiten den Sarg aus dem Haus, und kaum ist Admet wieder allein, da besucht ihn, um das Maß voll zu machen, Pheres, sein Vater^®, der sich geweigert hatte, f ü r ihn zu sterben. Aber Admet beherrscht sich; wieder zeigt sich, wie H o f mannsthal gerade in den entscheidenden Szenen den Charakter des Königs verändert. Während bei Euripides, entsprechend dem traditionellen Aufbau des Agons, nach den Einleitungsworten des Vaters zwei große Rheseis durch eine ergänzende Streitstichomythie abgeschlossen werden*', wobei sich Vater und " Anders als bei Euripides trifft Admet von Seiten des Volks kein Vorwurf wegen seines Verhaltens gegenüber Herakles. Er selbst, der König, nimmt alle Bedenken vorweg und zerstreut sie zunächst in einem einzigen Satz: „wer mich hier nicht versteht, wer fragen will, / wie dieses Tun zu solcher Trauer stimmt, / wem alles dies unziemlidi scheint und hart, / der sdiweige und bedenk: der König tats." „Alkestis" a. a. O. S. 30. »a Vergl. zum Motiv der Verwandlung Grete Schaeder: „Die Gestalten", a. a. O. S. 15. Zum Verhältnis zwischen Admet und seinem Vater vergl. die Dissertation von Steinwender a. a. O. S. 179 ff. ^^ Ein Topos der griechischen Tragödie: die Rheseis klären die antithetischen Standpunkte, die Stidiomythie setzt die Position in ein dialektisches Verhältnis zueinander. Vergl. dazu Walter Jens: „Die Stidiomythie in der frühen griechisdien Tragödie", München 1955 (Zetemata, Heft 11), passim.
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Sohn sowohl in den Reden als auch im Dialog in der schärfsten und rücksichtslosesten Weise bekämpfen, reduziert Hofmannsthal die Rheseis auf ganz wenige Verse, beschränkt die Besdiimpfungen auf ihren Kern („Du starbst nicht für mich, alter Mann" — „Du warst ja selbst zu feige, ließest Deine Frau sich opfern") und hebt die Beherrschung und Rücksidit 'des Sohnes hervor, die Admet auch dann noch wahrt, als der Vater ihn offen herausfordert („Es ist der Vater, denk, es ist der Vater!"). Das „Geh fort. Idi habe dich nicht eingeladen und kann dich nicht brauchen" steht bei Euripides ganz am Anfang: dort ist Admet von vornherein sdiroif und verletzend. Bei Hofmannsthal dagegen steht die Abweisung am Ende und bezeichnet die äußerste Verzweiflung desjenigen, der sich nicht mehr länger beherrschen kann. Der jähe Umschlag nach der Pheres-Szene ist bei beiden Dichtern gleich, ja, Hofmannsthal hat ihn hier sogar, im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit, vorzubereiten und behutsam einzuleiten, nodi dadurch verstärkt, daß er Herakles sein weinfrohes Lied singen läßt, bevor der alte Sklave mit dem Bericht über das ungebührliche Benehmen des fremden Gastes auftritt. Dadurch hat er den Gegensatz zwisdien dem Diener, der unwillig darüber ist, daß er als einziger seine Herrin nicht begleiten darf, und dem Sohn des Gottes noch verschärft. Allerdings ist auch Herakles selbst nidit nur der weinfrohe euripideische Zecher, der den Tod über der Liebe und dem Trank vergessen kann und den Diener auffordert, ein Gleiches zu tun, sondern ein tiefsinniger Myste, der über die Beziehung zwischen Tod und Liebe, Rausch und Vergänglichkeit nachsinnt und in allem das gleiche große Gesetz wiederfindet: „göttliche Art der Trunkenheit vielleicht ist, was wir tot sein heißen." Weit über das griechische Vorbild hinausgehend, identifiziert Hofmannsthal das Geschick der Alkestis mit den Worten des trunkenen Gottessohns und läßt damit den, der bei Euripides außerhalb des Geschehens steht - ein Wanderer, der einkehrt und weiterzieht - zum göttlichen Mittler zwischen den getrennten Gatten werden. Auch er, der Berausdite, ist wie der liebende Admet und die gestorbene Alkestis ein Mensch, der, wenn er zurück-
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kehrt ins „Alltäglich-Grelle", die Augen nodi voll von Wundern hat, die er im Dunkel schauen durfte^^. Nidit nur aus Dankbarkeit, wie bei Euripides, macht sich Herakles auf den Weg in die Unterwelt, sondern weil er die Größe von Admets Opfer durch ein gleiches Gastgeschenk aufwiegen will. Abermals zeigt sich die seltsame Beziehung zwischen den drei das Drama tragenden Figuren - alle sind Opfernde: Alkestis opfert sich, damit Admet leben darf, Admet opfert sidi für Herakles, Herakles für A d m e t . . . und jeder weiß vom anderen, daß in der Welt, „wüchse solche Sitte in den Menschenköpfen", wie sie sie, jeder für sich, ausüben, vieles anders wäre. Wie Herakles um Admets Größe weiß, so erkennt Admet, allein gelassen, auch den tiefsten Sinn von Alkestis' Opfertat: „wie Vater nicht und Mutter nicht hast du an mir getan." Während der euripideische König im Wechselgesang mit dem Chor noch einmal sein Leben, das frühe Glüdi, die Trauer des Augenbhcks und die Verzweiflung der Zukunft an sich vorbeiziehen läßt, um in dieser Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umspannenden Überschau der Unsinnigkeit seines Loses (und des sinnvollen Schicksals der toten Frau) innezuwerden, verwirren sich dem Hofmannsthalschen Admet im Angesidit des leeren Hauses und der feindlichen Natur Leben und Tod, Wirkliches und Geträumtes, Traum und Erwachen zu einem unentwirrbaren Knäuel, bis am Ende nur die eine Gewißheit bleibt, daß er allein, seine Frau gestorben und die Brücke zwischen Ich und Welt, die einst in den Tagen der Kindheit so fest und dauerhaft erschien, zerbrochen ist. Erst die Wiederbegegnung mit der zu neuem Leben Erweckten, aber noch nicht Erkannten läßt eine erste, von Schmerz und Verzweiflung umflorte Ahnung von der Einheit der getrennten Welten in ihm erstehen: im gleichen Augenblick, da er, von einem Adler in die Luft gehoben, sich am weitesten ^^ „ W e i n t r u n k n e u n d Verliebte, die Berauschten / der K y p r i s , schaun m i t solchen s o n d e r b a r e n / A u g e n auf einen, als o b sie, aus D ä m m r u n g / voll
Wundern,
zwinkernd
ins Alltäglich-Grelle
/ einträten
—:
kämen
aber T o t e wieder, / sie hätten noch viel w u n d e r v o l l r e A u g e n , / so vollgesogen innerlich m i t W u n d e r n . " „ A l k e s t i s " a. a. O . S. 37.
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von allem Irdischen getrennt sieht, empfindet er den Schauder, der ihn zurückführt, und hinter der verschleierten Alkestis ersdiaut er das „Herz aller Dinge", aus dem sie herausgetreten ist. Freilich wird es auch nach der Erkenntnis noch dauern, ehe das Mysterium ganz offenkundig ist: noch bleibt Alkestis stumm, aber über ein Kleines wird sie Admet gehören . . . „so eng wie er kaum sich selber gehörte". Vom Ende her wird Gemeinsames und Trennendes in aller Schärfe offenbar: auf der einen Seite, bei Euripides, die dramatische Enthüllung eines vorgegebenen Tatbestandes und die Beschränkung auf die reine Faktizität. Demgegenüber bei Hofmannsthal die Darstellung einer seelischen Landschaft und die Interpretation der außerhalb des Faktischen befindlichen, in der tradierten Handlung nidit greifbaren Verbindungen zwischen den drei Hauptpersonen und der sie umgebenden Natur. Bei Euripides die klare, weder durch Vorbereitungen noch durch Ausklänge ergänzte Analyse des Geschehens. Bei Hofmannsthal Einführungen, stimmungsschaffende Vorklänge und Atmosphäre bezeichnende Hinweise, die durchaus den Charakter der Exposition haben. Bei Euripides ein feststehendes, nidit näher zu erläuterndes, keiner Interpretation bedürftiges Verhältnis zwischen Ich und Welt. Bei Hofmannsthal ständige Rücksicht auf den Bezug zwischen Innen und Außen, Mensch und Mensch, Ding und Figur. Bei Euripides Darstellung von Vorgängen. Bei Hofmannsthal Analyse dieser Vorgänge hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die betroffenen Personen. Bei Euripides keine psychologische Begründung. Bei Hofmannsthal eine bis ins Detail hinein gehende charakterologische Darstellung, die sidi vor allem an der Umdeutung des Admet zeigt. Bei Euripides Naturbeschreibung als Teil des Geschehens. Bei Hofmannsthal Darstellung der Atmosphäre als Selbstzweck. Bei Euripides Projektion menschlicher Empfindungen in Handlung und Aktion. Bei Hofmannsthal Beschreibung der Empfindungen selbst und folgerichtig eine weit größere Bedeutung von Trance und Traum, Erinnerung und Assoziation^® als bei dem Griechen. Vergl. Lili Hagelberg: „Hofmannsthal und die Antike", Zs. f. Aesth. 17, 1924, S. 18 £f.
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Bei Euripides das Verhältnis zweier Liebender zueinander dazwischen, als dritter, der Gott, der den Knoten löst, aber, außerhalb des Geschehens stehend, im Letzten deus ex machina bleibt. Bei Hofmannsthal alle drei Hauptfiguren unter dem Gesichtspunkt Opfer und Verwandlung aufeinander bezogen. Gerade die Zusätze und Veränderungen bezeugen die Bedeutung des Mysteriums: Herakles' Worte über die Beziehungen von Tod, Liebe und Wein und seine Rede über die Scham, die Bedeutung von Alkestis' Verstummen^^, das bei Euripides ganz am Rande steht, vor allem aber Admets Rede über das Herz aller Dinge und die Wiederaufnahme dieser Worte durch Herakles' letzte Rede, in der der Dichter den Sinngehalt des Ganzen ausspricht: So f ü h r e sie hinein und nenn sie dein; ausschöpfen kannst du nie den Sinn davon: des Lebens Früchte geben sich nicht uns, sie lassen allenfalls sich nehmen: diese gab sich dir hin und gibt sich dir aufs neu so ganz, wie kaum du selber dir gehörst. Sei stets den Fremden hold, du weißt doch nie, wer dir, ein Heiland, wandeln übern Weg und aus dem Herzen aller Dinge kommen und wiederbringen kann was sich verlor.
In diesen Worten zeigen sich Sinn und Ziel der Hofmannsthalschen Variation: achtzehn Jahre vor der „Ariadne", zehn Jahre vor dem „Gespräch über Gedichte" deutet sich in der „Alkestis" zum erstenmal das Mysterium der Verwandlung an, die sich im Opfer der Liebenden vollzieht. Alkestis ist Ariadnes frühe Verwandte; Herakles, der um die geheimnisvolle Beziehung von Rausch und Tod weiß und die Tote befreit, ein Ahn des göttlichen Kindes Bacchus. Indem Hofmannsthal den Sinn der Fabel verschiebt, die Mensdien aufeinander bezieht und, statt sie unmittelbar anzuBei Euripides, dem es auf die (in sich sinnvolle) Faktizität des Geschehens ankommt, fragt A d m e t zuerst nach dem Ausgang des Kampfes mit Hades (auf den sich Herakles auch viel ausführlicher als bei H o f mannsthal, dem es hier wiederum zunächst u m psychologische Entsprechungen geht, vorbereitet), während dem Grunde v o n Alkestis' Verstummen erst die zweite, beiläufigere Frage gilt.
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sprechen, den Raum zwischen ihnen und ihren Empfindungen besdireibt, verändert er das euripideische Vorbild derart, daß die Bearbeitung am Ende zu einer Neuschöpfung wird und das Geschehen der Fabel sich in die Stimmung eines Mysteriums verwandelt^®. Hofmannsthal selbst hat darum gewußt. Unter dem 4. J a nuar 1894 finden wir in seinen Aufzeichnungen die Notiz: „Grundstimmung der Alkestis: das unsäglich Wundervolle des Lebensie.« ELEKTRA Als Hofmannsthal dem griechischen Mythos zum dritten Mal begegnete, 1903 in der „Elektra''^, zehn Jahre nach der „Alkestis" In der Interpretation des dreifachen Opfers (Alkestis für
Admet,
Admet für Herakles, Herakles für Admet) und der Darstellung der geschwisterlichen Nähe von Liebe und T o d liegen die Ansatzpunkte für die Umdeutung des Mythos, an dessen Beispiel Hofmannsthal ein ureigenes Problem — die Bedeutung der T r e u e und Verwandlung — klärt. Alle Versuche, Euripides als unübertretbare N o r m
zu proklamieren,
führen
deshalb ebenso am Wesen der Hofmannsthalsdien Bearbeitung vorbei wie jene V o r w ü r f e , die es Hofmannsthal
anmerken, daß er nicht frei und
selbständig genug verfahren sei. Vergl. Edgar Steiger im Literarisdien Echo a . a . O . Sp. 1001: „Für mich ist diese Hofmannsthalsdie Alkestis nur ein neuer Beweis dafür, daß das Winckelmann-Goethesche Ideal des klassischen Altertums immer noch in gewissen Diditerköpfen spukt." „Grundstimmung Lebens
der
,Alkestis':
das
unsäglich
TÖ HEV öaund^eiv TrpÄTOv KAI neyiaTov tlvöci
Wundervolle (alter
des
Philosoph)
Verwunderung der G r u n d a k k o r d erwachender Epochen." C o r o n a 9, a. a. O . S. 679. ^ „ E l e k t r a " , im September 1901 zum ersten Mal konzipiert (Aufzeidinung v o m 17. 7. 1904, C o r o n a 6, a. a. O . S. 568), im Sommer
1902 ge-
nauer umrissen (Brief an T h e o d o r Gomperz, Briefe 1 9 0 0 — 1 9 0 9 a. a. O . N r . 55) wurde zwischen dem J u n i und September 1903 niedergeschrieben: vergl. Briefe 1 9 0 0 — 1 9 0 9 , a. a. O. N r . 95, 96, 100 und Aufzeidinungen v o m 17. 7. 1904 a. a. O . D i e Premiere fand am 30. O k t o b e r 1903 im „Kleinen T h e a t e r " in Berlin unter der Regie von M a x Reinhardt statt. Erste Publik a t i o n : 1904 bei S. Fischer, Berlin. Textbuch der Oper bei Fürstner, Berlin 1908. Die Veränderungen der Oper gegenüber dem Schauspiel sind heute in den Ges. W e r k e n . . . . Dramen
II, a . a . O .
Entstehungsgeschichte aller Hofmannsthalschen
S. 531 ff. einzusehen.
Zur
W e r k e vergl. die Biblio-
ELEKTRA
45
und der „Idylle"^ war er gerade dabei, sich - anfangs noch tastend und zögernd — in der neuen Lebensform einzurichten. Loris war tot, das Frühwerk abgetan; der Mythos von der schönsten Dächtergestalt der Weltliteratur® für immer dahin. Der Brief des Lord Chandos vom Jahre 1901 bezeugt den Wandel der Zeiten^. Hofmannsthal erkannte, daß die Formeln und Mythen seiner Spradie nicht hinreichten, um in den Kern der Dinge zu dringen - das Geheimnis blieb unentschlüsselt und entzog sich dem Zugriff rhetorischer Allmacht. Im gleichen Augenblick, da der Satz „Die Worte zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze" niedergeschrieben wurde, ging ein Zeitalter zu Ende, und ein neues hob an, das, obgleich es seinen Dichtern, den jungen Expressionisten®, erst zehn Jahre später die Zunge löste, bereits mit dem Vorspiel des Chandos-Briefes begann. Im klaren Bewußtsein, einen neuen, zu höherer Verpflichtung graphie von Karl Jacoby, zweite erweiterte Auflage in den „Hamburger Beiträgen zur Bücherkunde", Band V, 1936. (Zur „Elektra" S. 19 f.) ® Gerade die antiken W e r k e zeigen, dogmatischer Weise zwischen Früh- und darf. Die Bedeutung von Opfer, Treue ist hier wie dort gleich groß: Alkestis — themis.
daß bei Hofmannsthal nicht in Spätwerk unterschieden werden und verständiger Beschränkung Elektra; der Schmied — Chryso-
® Zu Hofmannsthals Ausspruch, er hätte nach dem „Abenteurer und die Sängerin" sterben sollen, dann hätte er wenigstens eine runde Biographie gehabt, vergl. Naef a. a. O. S. 375, Adolf v. Grolman in: Die schöne Literatur 10, 1929, S. 454 ff. und Grete Schaeder: Hofmannsthals Weg zur Tragödie", a. a. O. S. 306: „als sein Leben 1929, mit 55 Jahren, ein Ende nahm, hatte er den Höhepunkt seines Ruhmes fast u m ein Menschenalter überlebt." Vergl. auch Paul R e q u a d t : „Hofmannsthal", a . a . O . S. 52, Richard A l e w y n : „Hofmannsthals Wandlung", Wissenschaft und Gegenwart 18, Frankfurt o. J. (1949), S. 21 ff., Max Meli, Nachwort zu „Loris", a. a. O. S. 274, Rudolf Borchardt, Neue Schweizer Rundschau 22, 1929, S. 567 ff. und Thomas M a n n : „Hugo v. Hofmannsthal", Altes und Neues, Frankfurt/M. 1953, S. 193 ff. * Den Brudi des Jahres 1901 nicht zu übertreiben fordert mit Recht Paul Requadt, a. a. O. S. 53. Dennoch ist der Einschnitt nicht zu verkennen. Die Hinwendung zum Dramatischen und die Abkehr von der L y r i k bezeichnen die Wende. Vergl. auch Hermann Broch: „Hofmannsthals erzählerisches W e r k " , Die neue Rundsdiau 62, 1951, Heft 2, S. 1 ff.
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führenden Weg zu gehen und die magischen Bezirke zu verlassen, in denen frühreife Jünglinge, halb wachend, halb träumend, dahindämmern, suchte Hofmannsthal nach Bundesgenossen: Leitbildern, vor deren schwarzen Tafeln sich das Geschehen deutlicher abhöbe. Wie der griechische Mensch, in der Begegnung mit dem Ungeheuren, gleichsam einen Schritt zurückgeht, um das Unbegreifliche momentanen Geschehens im Gleichnis des Mythos begreifbar zu machen und damit das „ J e t z t " in der Dimension des „Schon immer" zerfließen zu lassen®, so griff auch Hofmannsthal nach festgefügter und bewährter Tradition^. Im gleichen Moment, da er das monologische Szenarium zugunsten dialogischer Dramatik aufgab und sich damit entschloß, die lyrische Proklamation durdi Reaktionen heischende, von Spiel und Gegenspiel bestimmte Reden zu ersetzen, brauchte er die in der griechischen Tragödie W o r t gewordenen Konflikte, ® Hierbei ist zu berücksichtigen, daß, wie vor allem das Beispiel Stadlers zeigt, gerade die bedeutendsten Expressionisten
im Zeichen des frühen
Hofmannsthals begannen, um sich später entschieden von ihm abzuwenden. Stellvertretend für diese Entwicklung steht Stadlers W e g von den „Praeludien" zum „Aufbruch" und den Rezensionen von 1911, vor allem der Besprechung von Georg Heyms „Der ewige T a g " . Siehe Ernst Stadler: „Dichtungen", eingeleitet, textkritisch durchgesehen und erläutert von Karl Ludwig Schneider, Band 2, H a m b u r g o. J . (1954) S. 11 flf. — Z u m
Ver-
hältnis des Chandos-Briefes zum Expressionismus vergl. Inge J e n s : „Studien zur Entwicklung der expressionistischen N o v e l l e " , Diss. (Masch. Sehr.) Tübingen 1953, S. 31 ff. ® Man denke vor allem an die frühgriechische L y r i k , in erster Linie an Sappho, wo sich zeigt, wie der Mensdi versucht, sein eigenes
Erleiden
am Beispiel des Mythos zu klären. (Vergl. Sappho fr. 27 a D.) Die Dichterin erinnert sich, um die Übergewalt eigener Liebe als des G r ö ß t e n im menschlichen Leben begreifbar zu madien, an Helena. '' Vergl. Grete Schaeder: „Hofmannsthals Weg zur T r a g ö d i e " , a. a. O . S. 3 1 7 :
„Für
Hofmannsthal
bedeutete
die Neuschöpfung
der
Tragödie
mehr als die Bewältigung einer Kunstform. I h m war der Aufbau der dramatischen W e l t , die Ergründung des letzten Geheimnisses
menschlichen
Handelns ein V o r s t o ß ins Metaphysische, die vom Dichter zu leistende , T a t ' geistiger Weltdurchdringung."
Vergl. auch M a x Meli:
„Hofmanns-
thals W e r k " , Gedächtnisheft der Neuen Rundschau, Die neue Rundschau 40, 1929, S. 634 ff., vor allem S. 6 3 9 f . : „Aber wenn er selbst nicht ohne
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an denen sich gleichsam die Ardietypen menschlichen Verhaltens demonstrieren lassen®. Dabei scheint es nidit zufällig, daß auch die griediische Tragödie, um handelnde und reagierende Individuen aufeinander beziehen zu können, der Voraussetzung der Lyrik bedurfte: erst mußte das Individuum selbst erobert und der Außenwelt gegenüber abgehoben werden, ehe der Versuch gewagt werden durfte, den seiner selbst bewußten Menschen einem anderen entgegenzustellen, gleichgewichtige Werte zu schaffen und den Kampf vor dem gemeinsamen Hintergrund göttlicher Allmacht beginnen zu lassen®. Mit dem ihm eigenen sicheren Blick für das Organische hat Hofmannsthal - wie im Thema, so auch in der Anerkennung natürlicher GesetzmäiSigkeiten ein gelehriger Schüler der Griechen — mit dem Drama erst dann begonnen, als er die äußersten Grenzen monologischer Selbstaussprache abgesteckt hatte: um das lyrisdie Oratorium durch die Antithetik des Dramas zu Bitterkeit aussprach, er hätte doch n a A dem ,Abenteurer und der Sängerin' sterben sollen, so hätte er doch seine runde Biographie gehabt: so hat ihm Freundeswort unwillig entgegengehalten und ihm als Kraft und R u h m angerechnet, daß er ja aus einem Tode, dem des jugendlichen Dichters, neu auferstanden wäre, an diesem Abschnitt seines Lebens, an einem späteren wieder, und jedesmal verjüngt und ein anderer, von ihm aus sich selbst gehoben. Die Werke dieses anderen nun, in der jenem Abschluß folgenden Zeit, die Hofmannsthal die mühseligste und dunkelste seines Lebens nannte, in diesen Werken beginnt allerdings ein anderes, etwas nur Manneskräften Leistbares, ein Kampf: und es ist, altes deutsches Erbe, der Kampf um die Tragödie. Denn um nichts anderes handelt es sich in diesen Dichtungen, als an die'Tragödie heran —, in sie hineinzukommen, wenn der Dichter jetzt gleichsam sein Zelt in den Räumen alter Tragödien aufschlägt, in .Elektra' und dem ,Geretteten Venedig', vielmehr sein Haus darin hat und uns daraus ansieht; und dann, als gälte es sich noch zu überbieten — und in der Tat, das gilt es auch —, sich in das Schicksal des ö d i p u s hineingewagt wie in eine verrufene Höhle." ® Vergl. hierzu Hans Heinrich Schaeder: „In memoriam Hugo v. H o f mannsthal", a. a. O. S. 227 f. ® Vergl. Rudolf Pfeiffer: „Gottheit und Individuum in der frühgriechischenLyrik", Philologus 84, 1929, S. 137 ff. und Bruno Snell: „Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik", Die Antike 17, 1941, S. 5 ff. Neuester Abdruck in „Die Entdeckung des Geistes", Hanlburg 1955=», S. 83 ff.
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überwinden^®, bedurfte es der Erkenntnis des Philip Lord Chandos, daß die Verbindung zwischen Ich und Welt, jene im Selbstgespräch der Präexistenz umspannte Einheit der Gegensätze, für immer dahin sei. Natürlich bedeutet das nicht, daß zwischen Früh- und Spätwerk, monologischer und dialogischer Gruppe, keine Beziehungen bestünden - Hofmannsthal selbst hat in einer Notiz" mit allem Nachdruck die Einheit seiner antiken Dramen betont und sie durch eine Interpretation gestützt, die uns mitten ins Zentrum der „Elektra" hineinführt. „Meine antiken Stücke haben es alle drei mit der Auflösung des Individualbegriffes zu tun. In der Elektra wird das Individuum in der empirischen Weise aufgelöst, indem eben der Inhalt seines Lebens es von innen her zersprengt, wie das sich zu Eis umbildende Wasser einen irdenen Krug. Elektra ist nicht mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich weihte. Das Individuum kann nur schemenhaft dort bestehen bleiben, wo ein Kompromiß zwischen dem Gemeinen und dem Individuellen geschlossen wird." Mit diesen Worten wird das genaue Gegenteil jener A u f Vergl. hierzu Hofmannsthals — in der Forschung bisher zu wenig berücksichtigten — Brief an Hermann Bahr vom 11. September 1904: „Ihre Entwicklung der beiden Hauptcharaktere des ,Geretteten Venedig' konnte ich mir ohne Widerstreben zu eigen machen und damit auch die Schwäche des Stückes, vom eigentlich dramatischen Standpunkt, einsehen. Sie müssen das Stück als das Resultat einer notwendigen, aber nun schon überwundenen Entwicklung aufnehmen. Ich hatte damals das leidenschaftlidie Verlangen, m i d i der dramatisdien — nidit mehr dramatisch-lyrischen — Form extensiv zu bemächtigen, und meine Phantasie entzündete sidi an dieser theatralisch gruppierten Anekdote, ohne daß sich mir der Stoff innerlich aus den Figuren heraus erschlossen hätte. Was so entstand, w a r ein Besitz, der mich doch in gewissem Sinn über meine eigenen inneren Möglichkeiten orientierte, ohne mich zu sehr zu befriedigen und zu beruhigen — dazwischen entstand dann die .Elektra'. Sie müssen diese beiden Versuche immer nebeneinander halten." (Briefe 1900—1909, a. a. O. Nr. 127.) Im gleichen Augenblick, da Hofmannsthal die Ohnmacht des Wortes und die Bedeutungslosigkeit momentaner Verbalmagie durchschaute, reizten ihn die im Drama beschriebenen Handlungen und Taten. Was die Lyrik nicht darstellen konnte w a r in der griechischen Tragödie
ELEKTRA
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fassung vom Menschen beschrieben, die der griechischen Tragödie zugrunde liegt. Der sophokleische Held, durch Überhebung und schuldhafte Isolation von göttlicher Strafe betroffen, wird im Verlauf der Tragödie durdi Leiden zu Klarheit und Einsicht geführt; indem er leidet, erkennt er seine Situation, wie sie in Wirklidikeit ist, und überwindet Krankheit und Tragik. Tragik ist für den Griechen kein notwendiger Bestandteil der Welt, sondern Ausdruck einer Krankheit, die der durdi Leiden gedemütigte Mensch überwindet, so daß der Augenblick des Todes und der Vernichtung zur Sekunde seines Sieges wird^^. Triumph und Trauer halten sich die Wage, da der Verniditete zugleich ganz seiner selbst bewußt, seiner Grenzen inne und seiner wahren Möglidikeiten gegenwärtig geworden ist. Während die Nähe des Todes ihn hellsichtig macht, erkennt er, sdion im Schatten, zum ersten Mal sein wahres Selbst: der blinde ödipus wird wissend, die trotzig-herrische Antigone demutsvoll und fromm^®. Unangreifbar in sich selbst ruhend verfällt der Mensch der Tragödie nur allzu leicht der Hybris, nimmt sein Anderssein für selbstverständlich und gibt erst im vorgebildet: antithetisches Spiel, Handeln voll Verpflichtung und Konsequenz, Leiden und Tun, Verstrickung und Erkenntnis im Tod. Vergl. auch die für die Zeit sehr charakteristische Äußerung von Alfred V. Berger im Literarischen Echo v o m 1. 10. 1905, die beweist, wie wenig viele Zeitgenossen Hofmannsthals Wandlung begriffen. „Daß er (sc. H o f mannsthal), um seinem Blut den ihm fehlenden dramatischen Eisengehalt einzuflößen, eine althellenisdie und eine altenglische Tragödie seinen Dichtungen zum dramatischen Gerüst gegeben hat, läßt vermuten, daß der gewöhnlidie Jammer poetischer Subjektivisten, die Stoffnot, auch Hofmannsthal viel zu schaffen m a c h t . . . . Hofmannsthal hat das alte Drama nur mit seiner Lyrik umsponnen, wie jene ceylonsche Schmarotzerpflanze den Urwaldbaum." Corona 4, a. a. O. S. 707. Vergl. Wolfgang Schadewaldt: „Sophokles und das Leid", Potsdam 1944, S . 2 5 f r . Vergl. Hans Diller: „Göttlidies und menschlidies Wissen bei Sophokles", Kieler Universitätsreden H e f t 1, S. 13 ff. und Walter Jens: „Antigone-Interpretationen", Satura, Festschrift für O t t o Weinreich, Tübingen 1952, S. 4 3 f f . 4 Jens
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Tode zurück, was er nicht besitzen durfte. Erst dann erkennt er, daß es seine Sdiuld war, über dem Streben nadi Selbstverwirklichung die ihm aufgetragene Weltverwirklichungi^, die Erhellung göttlicher Ordnung, vergessen und statt des Kosmos dem Chaos den Weg geebnet zu haben. Den modernen Helden dagegen, Hofmannsthals Menschen, geht es zunächst um die Verwirklidiung ihres eigenen Ich. Das objektive Korrelat ist hinfällig geworden, und einzig der Grad der Selbstintegration bestimmt das Schicksal der Menschen, deren oberstes Ziel: ganz sie selbst zu sein, ist ein Ziel, an dem sie auch dann noch festhalten, wenn sie, ihrer selbst überdrüssig, nadi Erlösung und Aufgabe der Individualität streben^®. Wichtig ist in jedem Fall nur die Gewinnung persönlicher Substanz, einer Lebensmäditigkeit also, über die der Held der griechischen Tragödie in der selbstverständlidisten Weise verfügt, während sie dem modernen Menschen abhanden gekommen ist. S e i n e Individualität löst sich auf^®, und deshalb strebt er danach, sie in der Begegnung mit andern, genau so Bedrohten wiederzugewinnen - das bedeutet, daß die Akzente des modernen Dramas nicht so sehr auf der festgefügten, in sich selbst ruhenden Einzelpersönlichkeit als dem spannungsgeladenen, von allen Beteiligten beanspruchten Raum des „Zwischen" liegen. „Das Maß des Abstands" zwischen Mensdi und Mensch ist dahin; der einzelne, ohne bestimmendes Gesetz, erscheint labil und durdh den Zugriff eines anderen in seiner Substanz verwundbar. Während der antike Mensch auch dann noch, wenn er seine eigene Position zugunsten des Gegners aufgibt (wie Neoptolemos im sophokleischen „Philoktet"), kein Gran seines Eigenseins verliert, vermögen sich die Hofmannsthalschen Helden die Ansichten Dieses Gesetz — Isolation bedeutet Schuld — , das, von Anaximander (fr. 1) auch auf Kosmos und Dingwelt bezogen, zuerst von H o m e r am Beispiel Achills, der seinen Freund Patroklos verliert, dargestellt w o r den ist, erfuhr durdi Walter Nestle eine tiefgreifende Deutung („OdysseeInterpretationen", Hermes 77, 1942, S. 113 ff.) Vergl. Lili Hagelberg, a. a. O. S. 32. 18 Vergl. Lili Hagelberg, a. a. O. S. 32, und Grete Sdiaeder: „Hofmannsthals W e g zur Tragödie", a. a. O. S. 321, die Klytaimnestras
Persönlich-
keitsverfall mit Basilius' Selbstauflösung im „ T u r m " vergleicht.
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ihrer Partner in einem derartigen Maße zu eigen zu machen, daß allein der Augenblick und die Empfänglichkeit der Stunde über Fortführung oder Abbrudi des zuvor für wahr und recht Gehaltenen entscheiden. Ein Vergleich zwischen der antiken Darstellung des Atriden-Mythos und Hofmannsthals später Variation bestätigt diese These und zeigt zugleich, wie sich das Handlungsschwergewicht des vorgegebenen Stoffes von Aischylos bis Hofmannsthal immer mehr von Orest fort und zu Elektra hin verlagert hat^^. Orest, nicht Elektra, steht im Mittelpunkt der aischyleischen „Choephoren". Er istTäter und Planer zugleich: mit seinem Auftritt beginnt das Drama, mit seinem Abgang endet es; Entschluß des Mörders und verübte Tat sind Eckpfeiler des Stücks, und alles, was dazwischen liegt, hat nur die Funktion, die Unausweichlichkeit des Geschehens siditbar zu madien und die Inszenierung des Mords zu verdeutlichen. Schon im Prolog ist Orest - soweit wir das aus dem Fragment des Eingangs entnehmen können - fest zu seiner Tat entschlossen: es bedarf nidit äußeren Anstoßes. Wenige "Worte, angedeutet mehr als gesprochen, genügen, um die Sdiicksale des Geschwisterpaares zu erhellen. Beide leben im Elend, beide blicken zurück auf den Mord, beider Gedanken vereinigen sich in der Liebe zum Vater. Aber während Orest sicher und zielgeriditet erscheint, bleibt Elektra hilflos und schwankend. Der Chor muß sie beraten und ihr vorschreiben, was sie zu tun hat, denn allein hat sie weder Kraft noch Mut, die Zeit von sich aus zu ändern und inmitten einer vom Geld bestimmten Welt die alten ehrfurchtgebietenden Gesetze wieder als weithin sichtVergl. hierzu die Interpretation v o n Heinrich Meyer-Benfey: „Die Elektra des Sophokles und ihre Erneuerung durdi Hofmannsthal", Neue Jahrbücher 23, 1920, S. 165: „Hofmannsthal sdiließt sich an Sophokles an, aber er geht weiter als dieser: Sophokles hat Elektra zur Hauptgestalt gemacht und die Oresthandlung zurückgeschoben. Das ist hier in noch höherem Grade der Fall. V o n Anfang bis zu Ende ist Elektra auf der Bühne und beherrsdit das Ganze." Vergl. auch Hermann Ubell: „Die griechische Tragödie", Die Literatur, herausg. v o n Georg Brandes, Berlin, o. J. (1905), S. 16 ff. (Die Verwandtschaft v o n Sophokles und Hofmannsthal gegenüber Aischylos in der Schlußzusammenfassung S. 23 f.)
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bare Tafeln aufzupflanzen. Gebet und Zuversicht sind ihre Stützen - ein fester Glaube, der aus reiner Gesinnung erwächst und sich durdi die geheimnisvollen Zeidien am väterlidien Grabe bestätigt sieht. Alles, was Elektra tut und denkt, führt zu Orest, dem Bruder hin: ihr Gebet, das Finden der Locke, endlich die Entdedkung der Fußspuren - das sdiließt den Abwesenden so sehr ein, daß es bei Orests zweitem Auftritt scheint, als sei er niemals fortgewesen. Sdinell, beinahe ohne Bedenken, erkennt Elektra ihren Bruder wieder, der nun noch einmal, in langer Begründung, seine Entsdüossenheit zur Tat bekundet und im Kommos gemeinsam mit der Schwester zum Vater betet^s, er möge ihm hilfreich und freundlich sein. Erst dann wird das Traumgesidit der Klytaimnestra enthüllt, und Orest übernimmt die Vollstreckung des schreckhaft Geahnten. Eins ergibt sidi folgeriditig aus dem andern: dem Auftritt der Geschwister folgt das Wiedererkennen, dem dvayvcopianös die Vorbereitung der Tat, der Planung die Inszenierung durch List und Trug, der Inszenierung endlich die Tat selbst. Glied reiht sich an Glied, und am Ende ist die Kette lückenlos. Wie anders Sophokles! Orest tritt zurück, Elektra wird Heldin des Dramas. Gerade die Ähnlichkeit des Prologs enthüllt die verschiedenen Absichten der Dichter. Bei Aisdiylos steht Orest, Planer und Täter, allein im Mittelpunkt, Pylades greift nur ein einziges Mal ein - da freilich an der entscheidenden Stelle des Dramas, unmittelbar vor dem Muttermord - , der Pädagoge dagegen ist Lehrmeister und Berater. Er ist es, der den Jüngling nadi Hause führt; er weist ihm Mittel und Wege, um sein Ziel zu erreichen, und nimmt damit die gleiche Stellung ein, die bei Aischylos der Chor gegenüber Elektra hatte^®. Zum A u f b a u der Szene vergl. Walter Jens: „Die Stichomythie in der frühen griechischen Tragödie", a. a. O. S. 22 ff. Interessant ist ein Vergleich mit Gerhart Hauptmanns „Agamemnons Tod", dem zweiten Mittelstück der „Atriden-Tetralogie": dort ist Pylades, noch stärker als der Pädagoge bei Sophokles, der eigentliche Träger der Handlung, der Orest antreibt und ihm die Skrupel und Bedenken v o r der Tat nimmt. (Vergl. dazu die Dissertation von Heinz Fuhrmann: „Der Atridenmythos a. a. O. S. 93.)
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Und ein weiterer, sehr charakteristisdier Unterschied: während Orest sich bei Aischylos nur versteckt, nadidem er die Stimme der Schwester gehört hat, um sidi gleich darauf zu erkennen zu geben, geht er bei Sophokles wirklich fort - und von nun an beherrscht Elektra allein das Feld. Was der ältere Tragiker flüditig und beinahe beiläufig andeutete, Elektras Leiden, führt Sophokles breit und bis ins Detail hinein aus. Sie ist wirklich „das Kind des Schmerzes", wie der Chor sie nennt, jammervoll und außgestoßen, aber zu gleidier Zeit maßlos in ihrem H a ß und unnachgiebig in Zorn und Verachtung. Kalt und bestimmt durchschaut sie ihr Los, das elende Geschick der gattenlosen Frau, und zögert nicht, selbst den dafür verantwortlich zu machen, der ihre einzige Hoffnung ist: Orest. Der Chor, eigentümlich abgeschirmt, in der Haltung der Chrysothemis, weist sie vorsichtig zurück: „nicht gut ist es, Kind, mit den Mächtigen zu hadern", und Elektra selbst, ihrer ganz und gar bewußt wie kaum eine Frau der Tragödie, weiß um die Maßlosigkeit ihres Jammers und die Unangemessenheit ihres Tuns, die sie doch nicht ändern kann, und die um so schroffer erscheint, je deutlicher die Schwester, Chrysothemis, an Gestalt gewinnt. Wie in der Antigone steht Maß gegen Unmaß, vorsichtige Verhaltenheit gegen ungeschirmten Zorn, Unterwerfung gegen Unnacäigiebigkeit. Ein Anflug äußerer Übereinstimmung (Chrysothemis erklärt sich nach der Erzählung von Klytaimnestras Doppeltraum zum Lockenopfer bereit) das ist alles, was an Gemeinsamkeit b l e i b t . . . . ein Haudi, der schon vergessen ist, als Klytaimnestra die Bühne betritt und das große Streitgespräch zwischen Mutter und Tochter beginnt, jene sdareckliche Szene des Riditens und Rechtens, die Aisdiylos umgangen hat. Ohne Verzug geht Klytaimnestra zum Angriff über und begründet ihr Tun: war sie nicht im Recht, den Mörder Iphigenies zu töten? Aber kaum, daß sie geendet, beginnt Elektra mit ihrer Entgegnung, - Argument für Argument wird widerlegt, und am Ende bleibt nichts als die Aufzählung der Schuld. Doch zwischen Geste und Gesinnung, Pathos und Charakter klafft ein Riß. Elektra, auch hier bis ins Letzte bewußt, weiß, daß ihre Worte weder mit ihrer Anlage noch mit ihrer
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Gesinnung übereinstimmen^". Aber wie soll sie sich dieser Mutter gegenüber verhalten, die keine Mutter ist, und die, nadi einer Sekunde des Bedenkens, jubelt, als sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes empfängt? Wie soll sie sich der Schwester gegenüber zeigen, die ihr die Nadiricht von der Ankunft des gleichen Orest hinterbringt, dessen Todesgesdiichte sie mit eigenen Ohren anhören mußte? Wieder erweist sich, wie fern sich die Geschwister sind. Was nützt es, daß Elektra vom Leben spricht, das beiden Schwestern nach der Tat beschieden sei? Chrysothemis ist keine Täterin, sie sieht audi die Seite des Gegners, weiß um Macht und Ohnmacht und kennt wie ifire ältere Schwester Ismene die der Frau gesetzten Grenzen, wenn es zum Streit mit den Männern kommt. Was ihr als Weisheit und Besonnenheit erscheint, muß Elektra feig und mutlos heißen, was sie für Klugheit ausgibt, nennt die Schwester jammervoll und töricht. Am Ende aber weiß Elektra, daß sie ganz allein ist, und daß ihr nichts anderes übrig bleibt als - unerhört für Aischylos! - die Tat selbst zu verüben. Später, als Orest sich zu erkennen gibt und die Freude die Geschwister vereint, ist Elektras Jubel nicht weniger maßlos als der Ausbruch ihres Sdimerzes. Wieder und wieder müssen Orest und der Pfleger sie ermahnen, bedachtsam zu sein und nicht durch vorlaute Freude alles zu verderben. Aber Elektra hört nicht: vom Rausdi und endlich von der Freude der Vergeltung überwältigt („triff nodi einmal, wenn du kannst!" „Dulde nicht, daß er weiter spricht und schwätzt!") feiert sie die Stunde des Mords, die endlich die Leiden der Vergangenheit auslöscht. Bedenkt man die Vielfalt der Veränderung, der Sophokles die aischyleische Fabel unterwirft, so ersciieint demgegenüber Hofmannsthals Erweiterung der sophokleisdien Tragödie, jedenfalls im Stofflichen, zunächst beinahe gering. Elektras Leiden, die Maßlosigkeit ihrer Gesinnung, ihr Trotz, der Versuch, die Tat selbst zu tun, das späte Wiedersehen mit dem Bruder, die Haßausbrüche und der ungeheure Jubel, als die Tat ins 20 Soph. El. V. 616 ff.
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Werk gesetzt wird: all das ist sophokleisch^^. Dennoch wird eine genauere Interpretation die Eigenart des modernen Dramas klar benennen können. Bezeichnend scheint es schon zu sein, daß der Prolog ganz fortgefallen ist. Während bei Aischylos, im Sinne der Orestbezogenen Handlung, der Auftritt des Protagonisten schon auf die unmittelbar folgende Wiedersehensszene hinzielt; während Sophokles nach der kurzen Andeutung des Geschehens den großen Elektra-Mittelteil folgen läßt, um die Fäden erst ganz am Schluß, nach vielerlei Umschwüngen und Verwechslungen, wieder zusammenzuführen, verzichtet Hofmannsthal überhaupt auf jede Vordeutung und läßt die Tat, ohne den Zuschauer vorher über die Ankunft Orests zu unterrichten, ausschließlich in Elektras Herzen groß werden, so daß es scheint, als habe der Bruder nur hilfreich zur Seite gestanden, während sie die Tat gebar^^... ihre Tat, die sie dann doch nicht tun konnte. Sie allein, Elektra, steht von der ersten Zeile an im Mittelpunkt, anwesend-abwesend wie Orest in der kurzen Szene der aischyleiscJien „Choephoren", als Elektra mit dem Chor am Grabe steht. Langsam, Strich für Strich, gewinnt sie an Profil - der Klatsch der Mädchen schon enthüllt das Eigentliche. Wieder, wie in seiner Frühzeit, sdieut sich Hofmannsthal vor allzu unvermit^^ Kluge Interpreten der Hofmannsthalsdien „Elektra", vor allem Meyer-Benfey und Max Meli, haben mit Recht betont, daß das von den meisten Erklärern so überstark in den Vordergrund gezogene dionysische Element, die „archaisdie Wildheit" und der „hysterisdie Rausch" durchaus in der antiken Tradition begründet liegen. Vergl. Heinrich Meyer-Benfey, a. a. O. S. 168 und Max Meli, a. a. O. S. 640 f. ^^ Ubell, a. a. O. S. 18, macht es Sophokles zum Vorwurf, daß er die Spannung durch das Auftreten Orests und des Pflegers zerstöre: „Das Drama des Sophokles beginnt mit einem technischen Fehler . . u n d preist demgegenüber die durch Hofmannsthal erreichte Intensivierung der Handlung. Aber „Spannung" ist keine Kategorie, mit der man an die griechische Tragödie herangehen kann. Der Mythos war allen bekannt; andernfalls wurde er erklärt. Die Betrachtung der Literatur über die „Elektra" und ihre antiken Vorbilder zeigt immer wieder, wie gefährlich es ist, eins wertend am anderen zu messen, Maßstäbe des religiösen Kunstwerks in die Moderne zu projizieren und die Antike mit den Augen von Gustav Freytags „Technik des Dramas" zu betrachten.
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teltem Beginn, wieder gibt er Ton und Atmosphäre an, umreißt die Konturen der Heldin, ehe er sie selbst auftreten läßt. D i e Eingangssituation ist ähnlich wie in der „Alkestis": die Stunde der Entscheidung, der Augenblick der Verwandlung ist da. Die Mägde haben sich versammelt und warten auf die Königstochter. Sekundenlang taucht sie auf, um sofort wie ein Tier zurückzuspringen... ein Dämon? ein Gespenst? oder die einzig Reine in einer Welt des Unflats und E k e l s . . . . sie, die Ausgestoßene, in Dreck und Schande und Entehrung Lebende: die einzig Reine? Die Mägde können sich nidit einig werden; es bleibt nichts Festes, außer daß Elektra anders - Dämon oder Huldin? - ist als sie. Die Regiebemerkung „Die Tür fällt z u " bezeichnet den Trennungsstrich zwischen der Königstoditer und den Mädchen. Anfangs, als die Mägde noch auf dem H o f arbeiteten, war Elektra zurückgewichen, jetzt, wo sie allein ist, kommt sie heraus, beginnt zu sprechen und trifft schon mit dem ersten Wort den Grundzug ihrer Existenz: „allein! Weh, ganz allein." Von Anfang an ist Elektra in einem M a ß vereinsamt, das der griechischen Tragödie fremd ist. Selbst der Leidvollste, ödipus, ist in seiner tiefsten Erniedrigung nicht so einsam wie die Elektra des modernen Dichters, ödipus hat sich schuldig gemadit und büßt, seine Erkenntnis verniditet ihn zwar, aber sie zerschlägt dodi auch die Doppelwelt des Scheins und läßt ihn zum erstenmal wissen, wer er wirklich ist. Empörung und Hybris können den Helden der griechisdien Tragödie nicht von seinen Göttern trennen - im Untergang bezeugt er noch die Allmacht ihrer Gegenwart. Hofmannsthals Elektra aber hat nicht die Gewißheit ihrer sophokleisdien Sdiwester, daß die Götter um des Redits willen den Mord verlangen, und daß der Mord gut ist, weil das Göttliche selbst bedroht wird, wenn Unrecht U n redit bleibt. Sie ist allein mit ihrem Vater, dem toten Agamemnon, der sich ihr nicht zeigen will. Die eine Stunde des Tages, da der Tote und die Lebende sich zu einem gespenstischen Rendezvous begegnen, ist für Elektra der einzige Lichtpunkt inmitten der Dunkelheit ihres Schattendaseins - und selbst dieser Punkt
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gibt nur Gelegenheit zu einem Gespräch, das in Wahrheit ein Monolog ist; denn indem Elektra mit dem Vater spricht, unterhält sie sidi selbst und vergißt für einen Augenblick die Zeit, die sie in „Gestern" und in „Morgen" zerteilt hat. Elektra kennt keine G e g e n w a r t . . . alles, was geschieht, bezieht sich auf die geschehene T a t zurück; alles, was sich ereignet, weist auf die kommende Rache voraus. Zwischen dem Gestern und dem Morgen gibt es nur die flüchtigen Sekunden einer sdieinbaren K o m munikation, wenn der Geist des Toten erscheint. Aber selbst diese Sekunden sind nur Abbild des Vergangenen, denn immer, wenn Agamemnons Sdiatten kommt, wiederholt er, wie ein Priester seiner selbst, die Todesstunde, da man ihn erschlug. Von dieser Todesstunde des „Gestern" sdinellt Elektras Gedanke, ohne Anhalt im Heute, bis zum Triumph des „Morgen" vor, jenem großen Tag, da die Zeit von den Sternen herabstürzt, da wieder Gegenwart sein wird und Orest und seine Schwestern um das Grab des Vaters tanzen, den Mord der Mörder festlich zu begehen. In der Welt ihrer Erinnerungen versunken, den Träumen und Erwartungen hingegeben, vergißt Elektra den Tag. Alles, was ihr begegnet, ist nur Symbol und Zeichen. Selbst die Gebärde der zurechtgewiesenen Schwester, die Elektras großen Monolog beendet, wird zum Zeugnis von Agamemnons Präsenz: „was hebst du die Hände? So hob der Vater seine beiden Hände, da fuhr das Beil hinab und spaltete sein Fleisch." Was geschieht, gesdiieht im Zeichen des Mordes, nichts darf sich verändern, die Konturen müssen rein und unverwischbar bis zum Tag der Rache sein. Während Elektra nur das eine Bestreben hat, die Vergangenheit rein zu bewahren und das Gesdiehene nicht durch die Metamorphosen zeitlidier Entwicklung zu verwandeln, sondern es, als ein unumstößliches Faktum, der richtenden Zukunft zu opfern, möchte Chrysothemis mit dem Augenblick paktieren und das starre Einerlei, das hoffnungslose, rein erinnerungsbezogene Gleichsein der Tage durch neues Erleben verändern. Chrysothemis möchte die starre Abfolge der Zeiten vertauschen, sich entwickeln, Kinder bekommen und altern. Sie stellt sich auf die Realität ein, vergleicht ihr Los mit dem
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Sdiidcsal anderer Frauen, die sdiwanger werden, säugen dürfen, ihre Kinder groß werden sehen - „und immer sitzen wir hier auf der Stange wie angehängte Vögel, wenden links und rechts den Kopf und niemand kommt". Chrysothemis fühlt, daß sie alt wird, ohne den Schritt des Tages zu spüren; könnte sie doch die Erinnerung ausschalten, vergessen! Aber das gerade will Elektra nicht: „ich bin kein Vieh, ich kann nicht vergessen." An ihrem Verhältnis zur Zeit entscheidet sich das Los der Schwestern. Ganz realistisch, dem Strom der Entwicklung, kreatürlicher Entfaltung hingegeben, spricht Chrysothemis; unmenschlich, starr, auf einen einzigen, in ferner Zukunft vielleidit aufzulösenden Punkt bezogen Elektra. Anders als Sophokles hat Hofmannsthal nicht Partei ergriffen, sondern die heroische und die menschliche Stimme auf gleicher Ebene miteinander kontrastiert. Chrysothemis ist weder Zerbinetta noch die vorsichtig und oberflächlich verständigt sich abschirmende Elektra-Schwester des Sophokles. Sie ist nicht nur Folie (wie es Chrysothemis, stärker als Ismene, bei Sophokles weitgehend ist), nicht nur Hintergrund, vor dem sich die Ausbrüche der Schwester deutlidier abheben, sondern sie hat durchaus ein eigenes Schicksal, um das sie zu kämpfen und das sie zu verteidigen versteht. Sie lebt im hic et nunc des Tages, während Elektra die Zukunft ständig antizipiert („Diesmal bin idi stark. Ich werfe midi auf sie, ich reiß das Beil aus ihrer Hand, idi schwing es über ihr") und sie gerade dadurch, ähnlich wie Kreon in „ödipus und die Sphinx", verspielt. Die Diskrepanz zwischen Wollen und Können, Vermeinen und Möglidhkeit zeigt sich an dieser Stelle zum ersten Mal mit aller Deutlidhkeit: blind und zeitfremd, nur im Gestern und im Morgen heimisch, wird Elektra dann versagen, wenn die Sekunde der Entsdieidung die Entschlossenheit und gesammelte Kraft der Täterin verlangt. Überblickt man das große Gespräch zwischen den Schwestern, so wird deutlich, in welcher Weise Hofmannsthal die von Aischylos zu Sophokles führende Entwicklungslinie fortgesetzt hat: Bei Aischylos steht die Faktizität selbst, eindeutig und un-
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bezweifelbar, im Mittelpunkt des Dramas (der Plan, die Entdeckung der Locke, die Wiederbegegnung, die Inszenierung des Mords — alles fügt sich lückenlos ineinander); bei Sophokles geht es in erster Linie um die Interpretation menschlicher Reaktionen auf bestimmte vordergründig berichtete Ereignisse; bei Hofmannsthal schließlich treten die Fakten beinahe ganz zurück, es bleiben nur Argumente und Selbstaussprachen, die weitgehend vom auslösenden Anlaß abgetrennt sind. J e mehr die Entwicklung fortschreitet, desto unwichtiger werden äußerliche Momente, desto deutHcher entwickelt sich das Spiel der Charaktere. So betraditet steht Sophokles genau in der Mitte zwischen dem älteren Tragiker und dem modernen Diditer: das Ereignis ist ihm noch wichtig, aber nicht um seiner selbst willen, sondern allein als Anhaltspunkt für die sich dialektisch entwickelnden Argumente der jeweiligen Gegenspieler. Aischylos kommt es zunächst auf die zielgerichtete, vorwärts drängende Handlung an; Sophokles dagegen belastet die Spanne zwischen Plan und Tat so lange mit Umschwüngen, Intrigen und Doppelbödigkeiten, bis die Reaktionen der Handlungsteilnehmer auf den verschiedensten Ebenen, im Schein so gut wie im Lichte der Wahrheit, durchgespielt sind. Das bedeutet für den Handlungsablauf, daß die aischyleische Frage: „wird der Mordplan gelingen?" bei Sophokles zur Erwägung „kann Elektra durch die Hilfe ihres Bruders aus der Tiefe ihres Leidens befreit werden können?", bei Hofmannsthal endlich zum Problem „Elektra" schlechthin wird. Die andeutende Vorbereitung des Endes ist fortgefallen, Orest beinahe völlig zurückgetreten: nur noch ein Gegenspieler und nicht einmal der wichtigste, denn sowohl Chrysothemis als auch Klytaimnestra haben für die Entwicklung der Elektra größere Bedeutung als der Bruder. Erst Klytaimnestra, die Mutter, zwingt ihre Tochter, wirklidi zu bekennen und die geheimsten Ziele zu enthüllen. In der Begegnung von Mutter und Tochter wiederholt sich das Spiel der Schwestern; auch Klytaimnestra ist, wenn auch in ganz anderem Sinne als Chrysothemis, Elektras Gegenspielerin; auch sie möchte, wie Chrysothemis, vergessen; auch sie hat ein eigentümlidies Verhältnis zur Zeit und bleibt, wie
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Ihre jüngere Toditer, im Bannkreis der älteren. Erneut schredst Hofmannsthal nicht vor schroffer Veränderung der Fabel zurück, um die eigentümliche Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die Begegnung der einander so Ähnlichen, in seinem Sinne auszudeuten. Während bei Sophokles in keiner Sekunde auch nur der Anflug einer Scheingemeinschaft zwischen Klytaimnestra und Elektra erkennbar ist, madit Hofmannsthal, um den folgenden Umsdiwung stärker herausarbeiten zu können, die Mutter zunädist zum "Werkzeug der Tochter. Jetzt steht nicht mehr Argument gegen Argument, These gegen These, sondern aus Haß und Fremdheit entwickelt sich eine makabre Verbindung, die am Ende, als Elektra Farbe bekennt und die Mutter sich hintergangen sieht, erneut in bitterste Feindschaft umschlägt. Aus dem antiken Agon - Rede-Gegenrede-Stichomythie - ist ein langes Gespräch geworden, in dem Klytaimnestra immer mehr in die Enge getrieben wird, bis Elektra endlich in unerhörtem Triumph abbricht - alles, was sie wollte, ist erreicht, ihr "Wort: „Ida habe eine Lust, mit meiner Mutter zu reden wie nodi nie!" scheinbar bestätigt. Beide, Mutter und Toditer, sind (Orest wird später davon sprechen) wie mit Ketten aneinander gefesselt: Elektra, die ihrer Mutter durch ihr bloßes Dasein Mark und Kraft raubt, und Klytaimnestra, die ihre Tochter anbindet, wie es ihr gefällt: „ich weiß nicht, wie idi jemals sterben sollte als daran, daß du stürbest." Beide fühlen den großen Sdiatten des Feindes, verhalten sich abwartend und lauernd, aber doch immer bereit, eine Blöße im Verhalten des Gegners zu entdecken, um sie unbarmherzig auszunützen. Die Tochter kennt den schwächsten Punkt ihrer Mutter genau; sie weiß um die Träume und den blinden Taumel, dem Klytaimnestra durch eigene Schuld verfiel, als sie sich auf Talismane, Aberglauben, Zauberei und mancherlei Gerüchte verließ. „Du bist nicht mehr du selber", sagt Elektra und trifft damit einen Tatbestand, den Klytaimnestra wohl durchschaut, aber nicht ändern will. Ihr einziges Bestreben ist, sidi den Sensationen des Augenblicks und den Reizen des Momentanen um jeden Preis hinzugeben, da allein die ständige Veränderung sie
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vergessen machen kann: „die Stunden haben alles in der Hand. Ein jedes Ding kann ein erträgliches Gesicht uns zeigen nach dem gräßlichen." Im gleidien Maße, wie Elektra alle Kräfte anspannt, um ganz sie selbst zu sein, strebt Klytaimnestra danach, sich hinzugeben und im Schauer eines reizend-überraschenden Augenblidss wenigstens sekundenlange Erlösung zu finden. Um dieses Strebens willen ist sie geneigt, auch das Unglaubwürdigste anzunehmen und sogar an eine Versöhnung mit der Tochter zu glauben. Ein scheinbar einlenkendes Wort genügt, um ungeahnte Hoffnungen zu erwecken. Allein das Angenehme der Stimmung, das freundliche Fächeln einer sanften Luft, ist von Bedeutung, wenn es sich hinzugeben und die dunklen Träume zu verjagen gilt. Klytaimnestra weiß um die Allmadit magischer Bräuche und begreift die Notwendigkeit rediter Erfüllung, doch sie besitzt das Rezept nidit, das ihr helfen könnte. Elektra aber kennt das Geheimnis, „sie hat "Worte" und ist stark und ganz in sich selbst ruhend, nidit zerfallend und hinund hergezerrt wie Klytaimnestra; sie weiß um den Fixpunkt und die notwendige Ausrichtung auf ein festumrissenes Ziel deshalb muß sie raten und Beistand leisten, und je länger sie spricht, je mehr sie andeutend enthüllt, desto begieriger wird Klytaimnestra, das Ganze, die Wahrheit, zu erfahren. Aber um diese Wahrheit zu sehen bedarf es der Anerkennung des Mordes, den Klytaimnestra um jeden Preis vergessen will. Sie, die dem Augenblick und dem Wechselspiel der Sekunde Verfallene, ist längst nicht mehr die gleiche, die die Tat verübte, („bin ich denn nodi, die es getan?") Löst sich nicht auch der Augenblick selbst immer wieder in ein „Davor" und ein „Danach" auf und bleibt, rein für sich, ganz unbegreiflich?^® Seltsam, wie sich Mutter und Tochter in diesem Punkte berühren: beide ver„Da stand er, von dem / du immer redest, da stand er und da / stand ich und dort Ägisth, und aus den Augen / die Blicke trafen sich: da war es doch / noch nicht geschehn! und dann veränderte I sidi deines Vaters Blick im Sterben so / langsam und gräßlidi, aber immer noch / in meinem hängend — und da wars geschehn: / dazwischen ist kein Raum! Erst wars vorher, / dann wars vorbei — dazwischen hab ich nichts / getan." H. v. H.: Ges. "Werke . . . Dramen II, a. a. O. S. 35.
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gessen das Heute, beide, die im Augenblici lebende Mutter und die in der Vergangenheit wohnende Tochter, scheitern an jener zeitHchen Dimension, um die allein Chrysothemis weiß: der organisch sich entwickelnden, kontinuierlich und stetig sich häufenden Summe der gelebten Tage. Die eine, Elektra, vergißt über der Tat der Mutter ihre eigenen Aufgaben, die andere, Klytaimnestra, ist dem Augenblick so sehr verfallen, daß sie die Sekunde nicht mehr greifen kann, und am Ende nur nodi ein vager Eindrudt von Ausgangspunkt und Ziel, nicht aber vom Gesdiehnis selbst zurückbleibt. Unter solchen Zeichen löst sich Klytaimnestra immer mehr auf, und der Wunsch nach Halt und Festigkeit, nach Brauch®^ und fest gefügter Sitte^® wird ^ Mit Recht erwähnt M a x Meli, a. a. O. S. 641 f., die orientalischen Züge der Klytaimnestra, die sich „einer Ägypterin gleidi" aufführt. Immer wieder hat Hofmannsthal das Antike durch Orientalisches ergänzt und erweitert. (Vergl. seine Ausführungen im Brief an Ernst H l a d n y , Briefe 1900—1909, a. a. O. S. 383 f.) U m keinen Preis sollte, nadi seinem Wunsch, irgendein Gefühl von Klassizismus, falschem Antikisieren und „verteufelt humaner" Atmosphäre aufkommen. Das beweisen vor allem seine „Szenischen Vorschriften zur Elektra". H. v. H . : Ges. W e r k e . . . Prosa II, a. a. O. S. 81 ff. „Klytämnestra trägt ein prachtvolles grellrotes Gewand. Es sieht aus, als wäre alles Blut ihres fahlen Gesichtes in dem Gewand. Sie hat den Hals, den Nacken, die A r m e bedeckt mit Schmuck. Sie ist behängt mit Talismanen und Edelsteinen. Ihr H a a r hat natürliche Farbe. Sie trägt einen mit Edelsteinen besetzten Stab. Ihre Schleppträgerin hat ein hellgelbes Gewand. Sie hat ein bräunliches Gesicht, das schwarze H a a r straff zurückgenommen wie die Ägypterinnen, sie ist sehr groß und hat die biegsamen Bewegungen einer aufgerichteten Sdilange. Die Vertraute, auf die sich Klytämnestra stützt, hat ein violettes oder dunkelgrünes Gewand und gefärbtes Haar mit Goldbändern durchflochten und ein geschminktes Gesicht. Es k o m m t sehr darauf an, daß der Maler diese drei Gestalten als Gruppe sieht und den furchtbaren Gegensatz zu der zerlumpten Elektra. Orest und der Greis, sein Pfleger, sind als wandernde Kaufleute gekleidet. Daß sie einem fremden Volke angehören, als Fremde wirken, muß deutlich sein. Ihr Kostüm muß sich, ohne zu sehr zu befremden, von den konventionellen, pseudo-antiken entfernen und darf an die Stimmung orientalischer Märchen anklingen, aber in finsteren, wenn auch keineswegs toten Farben." (a. a. O. S. 84.) Die Beziehungen zwischen dem Aberglauben der Klytaimnestra und dem von Freud über Aberglauben und Fetischismus entworfenen Bild — einerlei ob sie Hofmannsthal bewußt waren oder nicht — ergeben sich
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zum Ausdruds derjenigen, die, jeglicher Norm beraubt, auf der Flucht ihr ganzes Selbst opferte, nur um sich nicht erinnern zu müssen. Aber je schneller sie zu fliehen strebt, desto mehr gibt sie sich selbst auf, und je entschlossener sie sich zu sammeln sucht, desto grausamer wird sie auf die Tat verwiesen. Die Antinomie ist ohne Ausweg; es gibt keinen Rückzug: „willst du nach rechts, da steht das Bett! nach links, da schäumt das Bad wie Blut! das Dunkel und die Fackeln werfen schwarzrote Todesnetze über dich." Allein der Tod - das ist Elektras letzter triumphierender Gedanke vor dem jähen Umschlag — wird Klytaimnestra von ihren Träumen befreien; allein der Tod kann die Ketten zerschlagen, mit denen Mutter und Tochter aneinander gekettet sind. In einer riesigen, maßlosen Antizipation des Kommenden malt Elektra Klytaimnestras letzte Stunde aus, die Einsamkeit, die N o t des Sterbens, als Letztes den Vorwurf aus dem Gesidit der Toditer, das aus des Vaters und der Mutter Zügen gemischt ist - ein Vorwurf für die Mörderin und ein stilles lauerndes Warten, bis das Beil sidi löst. Auf dem Höhepunkt der Vorwegnahme bricht die Handlung um, Orests Tod wird gemeldet, Triumph verwandelt sich in Haß und Trauer, Angst und Entsetzen in Jubelschrei und wilde Freude, und von ganz unten her, aus der Perspektive der Diener und Knechte, wird das Geschehen in der Weise des Anfangs beleuchtet. Alles, was für Sophokles bedeutsam ist, scheint für Hofmannsthal wertlos; das Auftreten des Pädagogen, der lange Bericht über den Unfall Orests bei den pythischen Spielen, die Reaktion der Klytaimnestra, die „Täuschung" der Chrysothevon selbst. Die von Freud exakt begründeten und wissenschaftlich unterbauten Theorien mögen im ersten Dezennium unseres Jahrhunderts Gemeingut der gebildeten Wiener Kreise gewesen sein: die Publikationen Hermann Bahrs, Hofmannsthals engem Freund, vor allem der „Dialog v o m Tragischen" beweisen das deutlich. (Vergl. dazu die — grotesk übertriebene — Stellungnahme von Maximilian Harden in der „ Z u k u n f t " 48, 1904, S. 349 ff.) Im einzelnen vergl. man Sigmund Freud: „Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum)", Kapitel X I I , erste Auflage in der Monatsschrift für Psydiatrie und Neurologie, Band X , 1901.
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mis. . . das alles wird durch kurze Andeutungen aus Dienermund ersetzt; genug, daß Orest tot ist und Elektra handeln muß. Die näheren Umstände sind belanglos; das Intrigenspiel darf nicht (durch Chrysothemis' Entdeckung am Grabe) auf die Spitze getrieben werden. Wie in der sophokleischen „Antigone" hat sidi das Verhältnis zwischen den Sdiwestern umgekehrt: war anfangs Chrysothemis die Bittende, Elektra die schroff sidi Verweigernde, so wird jetzt Elektra, die ältere Schwester, zur bittend Flehenden, Chrysothemis zur heftig Umworbenen. Chrysothemis, nicht Elektra, ist nun die Starke, ihrer selbst Gewisse, Elektra die Dienende, immer wieder um die Gunst der Schwester Werbende: abermals antizipiert sie und beschreibt die Zeit, da sie Chrysothemis zur Hochzeit geleiten wird, abermals steigert sie ihre Visionen bis ins kleinste D e t a i l . . . und abermals erleidet sie Schiffbruch: Chrysothemis entzieht sich („laß mich" - „ich kann nicht"), und Elektra ist nach der visionären Aufgabe ihres Ich, die sie beinahe, zum ersten Mal, sich selbst vergessen und ganz Chrysothemis werden ließ, mehr denn je auf ihr eigenes Idi zurückgeworfen... so einsam, daß sie nur nodi gegenüber dem auftretenden Orest, sagen kann, was sie n i c h t ist: Ich bin nicht Mutter, habe keine Mutter, bin kein Gesdiwister, habe kein Geschwister, lieg vor der T ü r und bin doch nicht der Wachhund, ich red und stehe doch nicht Rede, lebe und lebe nicht, hab langes H a a r und fühle doch nichts von dem, was Weiber, heißt es, fühlen: kurz, bitte, geh und laß mich! laß mich! laß mich!
Hier, in dieser Rede, ist jener Punkt der Selbstauflösung erreicht, den Hofmannsthals Interpretation mit dem Satz „Elektra ist nicht mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich weihte", bezeichnet. In dem A u g e n b l ü , wo sie sich entschloß, nichts anderes als sie selbst zu sein, verlor sie die Beziehung zu ihrer Umwelt, mit der Beziehung die Möglichkeit fruchtbarer Kommunikation, mit dieser Möglichkeit die Gabe, sidi im hic et nunc täglicher Bewährung zu behaupten. Nicht zufällig (in tieferem Sinne wahrhaftig als bei Sophokles)
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erkennt der Bruder sie nicht: denn die Elektra, die er findet, ist nidit Elektra^®. Sie selbst weiß, daß das Opfer, das sie dem eifersüchtigen Toten bringen mußte, zu schwer für sie war. Gegen ihren eigenen Willen hat sie den Haß wie einen Gemahl empfangen und sich mit ihm verbündet, aber die Maske war zu schwer für sie, der Haß unerträglidi, die Liebe unerträglicher; furchtbar die Gebote des Toten, die sie der Mutter immer ähnlicher werden ließen. Als Rettung bleibt am Ende nur die Tat, die Überwindung des Selbst, die große Kommunikation des Handelns: eine andere Form des Vergessens, eine Variation von Flucht in Brauchtum und Magie, und auch das nur eine Maske, die Elektra nicht zu tragen versteht. Während die Tat geschieht, bleibt sie Statistin, zu vergeßlich selbst, um dem Bruder das Beil geben zu können, unfähig, sidi zu erheben und den tausendfach vorweggenommenen Tanz der Freude mitzutanzen. Mitten im Jubelreigen bricht sie tot zusammen. Was sie ersehnte, ist eingetroffen; aber sie selbst bleibt außerhalb des Geschehens - die Antizipationen in Wort und Traum haben die Möglichkeit der Anteilnahme verhindert. Das ersehnte Morgen konnte nur in der Dimension der Zukunft, nicht als handlungsheisdiende Gegenwart verstanden werden. Elektras Versuch, ganz sie selbst zu sein, ist gescheitert. Mitten im Erwarteten, nach Orests Wiederkehr und dem Sühnetag des Mords, geschieht das Paradox, daß die eigentliche Täterin stirbt. Um ganz sie selbst zu sein, hatte sie ihr eigenes Dasein, die Hoffnungen ihrer Kindheit und die Träume des jungen Mädchens einem einzigen Ziel geopfert. Um des Toten willen war sie zur Heroine, um des Vaters willen zur Hassenden geworden. Aber Haß und Jähzorn waren Auch Gerhart Hauptmann hat die sophokleischen Andeutungen über Elektras Elendsdasein aufgegriffen und verstärkt. Auch seine Elektra ist alt, zerlumpt und ihrem früheren Bilde unähnlidi — audi sie hat nur einen einzigen Gedanken: „Ich brenne und ich schreie: Rache! Rache!" (Gerhart
Hauptmann:
„Die
Atriden - Tetralogie",
Frankfurt/M.
1948,
S. 175.) Freilich ist Hauptmann, vor allem in der Zeichnung des Pylades und des Bettlers Agamemnon, wesentlich weiter v o m antiken Vorbild abgewichen als Hofmannsthal. 5 Jens
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nicht stark genug, um sie über den Augenblick der Tat hinüberzutragen und den Schritt von der Erwartung zum Eintreffen gangbar zu machen. Das einzige, was ihr hätte helfen können: das Ersehnte selbst auszuführen und die reine große Tat zu verüben®^, blieb ihr versagt. Bei Sophokles ist am Ende alles geordnet und voll Sinn. Die Mörder sind tot, die Geschwister vereint, die rechtmäßige Ordnung wiederhergestellt. Bei Hofmannsthal dagegen steht am Sdiluß die Dissonanz, denn mit den Mördern stirbt audi die Heldin, und nur die Verständigten, Orest, der Täter, und Chrysothemis, die, ähnlich wie Ismene in der „Antigone", am Schluß vergessen ist: so leichtgewichtig - unbedeutend ist ihr Sdiicksal - der Handelnde und die Frau, die immer auf der Höhe der Situation ist und sich vertrauensvoll der Stunde überläßt, leben weiter. Doch sie leben nur, weil die Tat gesdiehen ist und Elektra sidi so wie sie war, jenem Wesen geopfert hat, das sie um des Vaters willen sein wollte und doch nidit sein konnte, jener zielbewußten Täterin, als die sie sidi, nur aus der Ferne, im Gleichnis des Abstands, betrachten durfte. Elektra ist Hamlet^®, und ihr Verhältnis zur Tat scheint vom Diditer nicht zuletzt deshalb ironisch aufgefaßt worden zu sein, weil es ihm darauf ankam, die Antizipation und die Tat selbst mit aller Sdiärfe zu konfrontieren. Anders als Ariadne kann Elektra nicht die Starrheit ihrer zeitlichen Einsicht zugunsten des Entschlusses opfern, sich - wie Chrysothemis - durch die VariaElektras Schuld und Sdiicksal liegt darin, daß sie, die Frau, die ihr gesetzten Grenzen übersdireitet. Weibliche Bestimmung (Alkestis, Semele, Leda, Ariadne, Helena, Jokaste) ist Opfer und Erleiden, nicht Handeln und Tun. Elektra verkennt den „aktiven Ursinn des Er-lebens" („Buch der Freunde", a. a. O. S. 8) und sucht Aktion dort, wo sie ihr nicht zuk o m m t und ihr Wesen zersprengen muß: in der männlichen T a t . Vergl. „ A d me ipsum", a. a. O. S. 361, den Brief an Hladny, Briefe 1900—1909, a. a. O. S. 383 f. und Corona 6, a. a. O. S. 568. Zum Problem Elektra—Hamlet vergl. Gilbert Murray: „Hamlet and Orestes, a study in tradional types", T h e British Academy. T h e Annual Shakespeare Lecture 1914. Z u m Verhältnis von antiker Tragödie und Shakespeare, unter dem Gesichtspunkt des Handelns, vergl. ferner: Gerhart H a u p t m a n n : Das ges. "Werk, Berlin 1942, Bd. XIII, S. 531 ff., S. 537 und S. 588 ff.
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tionen des Werdens verändern zu lassen^®. Tun ist, nach Hofmannsthals Worten: sich aufgeben®®. Gerade das aber versteht Elektra nidit. Weil sie sich nicht aufgeben kann und nur sie selbst sein will: eben darum muß sie sterben. Ariadne wird wiedergeboren, Elektra scheitert, aber indem sie durch ihr Opfer®®® scheitert und sich um jeden Preis treu bleibt, nimmt sie ihr reines Sein mit in den Tod, bleibt unangreifbar und unberührt von aller Metamorphose für immer bewahrt - über den Tod hinaus treu und im Einklang mit ihrem Schicksal. („Identität von Treue und Schicksal®^.") Der Tod ist für Elektra der Augenblick, in dem ihre Treue®^ belohnt wird. Bei Sophokles wird die Heldin durch den Bruder und die vollzogene Rache erlöst, bei Hofmannsthal - hier liegt die entscheidende Variation - erscheint sie in jenem Augenblick vollkommen, da sie als Scheiternde, mitten im Siegesrausch verlassen, in der Verniditung ihrer selbst erfahren muß, daß es ihr Schicksal war, sich nicht verwandeln zu dürfen: deshalb bleibt sie sich treu, als sie im Augenblick: der Verwandlung abseits steht und stirbt. Weil die Treue ihr Schicksal war und ihre Bestimmung ein Verharren im reinen Sein, besteht ihr Opfer darin, daß sie stirbt, als die Zeit sich wandelt und die Zukunft zur Gegenwart wird. Während Sophokles' Heldin durch die Hilfe des Bruders erlöst wird, kommt Hofmannsthals Elektra im Tode ganz zu sich selbst. Bei Sophokles sind, trotz der Verschiebung gegenüber Aischylos, Orest und Elektra gleichberechtigt: zuerst ist Orest allein, dann Elektra, am Ende sind die Geschwister vereint. Bei Hofmannsthal dagegen geht es nur um ein einziges Problem: Elektra. Sophokles beschreibt Fakten wegen der Reaktionen der Beteiligten, Hofmannsthal schildert Reaktionen zur Erhellung der psychologischen Kon„Die Unbegreiflichkeit der Zeit: eigentliche Antinomie von Sein und Werden. Elektra — Chrysothemis. Variation: Ariadne — Zerbinetta". ( „ A d me ipsum", a. a. O. S. 361. Vergl. auch „ A d me ipsum", a. a. O. S. 368.) „ A d me ipsum", a. a. O. S. 361 und 364. 30a Vergl. zu Elektras Opfer vor allem Grete Schaeder: „Die Gestalten", a. a. O. S. 76 f. „ A d me ipsum", a. a. O. S. 364. ^^ Vergl. „Ad me ipsum", a. a. O. S. 364 und S. 367.
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stellationen seiner Charaktere. Er hat die Antike weder, wie so oft behauptet worden ist, orientalisiert, noch aus der Elektra eine Sexualstudie gemadit. Er hat lediglich die mit Aischylos beginnende Entwicklung zu Ende geführt und Elektra statt der Aufgabe, die bedrohte Welt wiederherzustellen, das Grundthema unterlegt: zu sich selbst zu finden. Diese neue Themastellung bedingte notwendig, Elektra zu verabsolutieren und die Mitspieler in einerWeise aufeinander zu beziehen, die dem antiken Dramatiker fremd ist. Hofmannsthal geht es nidit um das Recht der Geschmähten, die Wiederherstellung göttlicher Ordnung und die Sühnung der Schuld, sondern um die Selbstintegration seiner Heldin, um ein erstes Erproben des nichtmystisdien Weges, ein frühes, nodi ironisdies Fragen, ob eine Verwandlung im Opfer und eine Selbstaufgabe im Tun möglich sei. Elektra scheitert, da sie sich nicht aufgeben kann und so sehr sie selbst bleiben will, daß sie ihr Eigensein zu verlieren droht. Bei Sophokles ist die große Wende im Atridenhaus Erlösung und Segen. Bei Hofmannsthal fordert die Wandlung den Tod der Heldin. Bei Sophokles ist Elektra, unbeschadet ihrer (gegenüber Aischylos stärkeren) Eigenart ein Glied des AtreusGesdilechts. Bei Hofmannsthal ist sie weder von den Göttern noch von hilfreichen Menschen umgeben. Ihre einzige Aufgabe heißt: Elektra zu sein. Diese Aufgabe ist ihr Schicksal; ihr bleibt sie treu; die große Wende bedeutet, daß ihre Aufgabe erfüllt ist. Weiterleben würde heißen: sidi einzustellen, dem Wandel unterworfen zu sein und Kompromisse mit dem Gemeinen zu machen. Das aber kann sie nicht^^. Stürbe sie nicht, sie wäre nicht mehr Elektra, und ihr Schicksal, den Tod in sich zu tragen „wie der Apfel den Gröps", bliebe unerfüllt und ohne Stärker herausgearbeitet ist die Besinnung der Elektra als Hingabe an den neuen Zustand, der Versuch, mitzumachen und sich einzustellen in dem f ü r Richard Strauß redigierten Opernbuch v o n 1908: vergl. H. V. H.: Ges. W e r k e . . . Dramen II, a. a. O. S. 531 ff. Auch in der ersten Fassung erfährt Elektra, wie der Ariadne-Brief zeigt, kurz v o r ihrem Ende eine erste Ahnung, daß sidi die verschlossenen Tiefen ihrer innersten Natur öffnen k ö n n t e n . . . . aber es bleibt bei der Ahnung; zur W a n d lung k o m m t es nicht, da auch im größten Jubel Bewußtheit und Klarsinn nicht enden.
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Bedeutung. Wie der Krug das Wasser umschließt, das ihn sprengt, wie die Drohne den Stachel besitzt, dessen hochzeitlicher Stich sie tötet: so enthält Elektra den Tod und muß sterben, wenn ihre Stunde gekommen ist. „17. VII. ,Elektra'. Der erste Einfall kam mir anfangs September 1901. Idi las damals, um für die ,Pompilia' gewisses zu lernen, den ,Richard III.' und die ,Elektra' von Sophokles. Sogleich verwandelte sich die Gestalt dieser Elektra in eine andere. Auch das Ende stand sogleich da: daß sie nicht mehr weiterleben kann, daß, wenn der Streich gefallen ist, ihr Leben und ihr Eingeweide ihr entStürzen muß, wie der Drohne, wenn sie die Königin befruchtet hat, mit dem befruchtenden Stachel zugleich Eingeweide und Leben entstürzen. Die Verwandtschaft und der Gegensatz zu Hamlet waren mir auffallend. Als Stil schwebte mir vor, etwas Gegensätzliches zu ,Iphigenie' zu machen, etwas worauf das Wort nicht passe: ,dieses graecisierende Produkt erschien mir beim erneuten Lesen verteufelt human.' (Goethe an Schiller)®^." Die Aufzeichnung vom Juli 1904 enthüllt den Ansatzpunkt der Hofmannsthalschen Bearbeitung - einer freien, sehr freien Bearbeitung^® - mit aller Deutlichkeit. Die sophokleisdie Interpretation war nichts als Folie: „sogleich verwandelte sich die Gestalt dieser Elektra In eine andere", und einzig Ausgangspunkt und Ende, Erfüllung und Entelechie, Charakter und Vollzug, schienen dort von Bedeutung, wo es galt, die Frau zu zeigen, der eine Tat aufgetragen war, die sie, als Hamlets Schwester, niemals zu leisten vermochte; wo es darauf ankam, eine Elektra zu erfinden, die sich um so weiter von sidi selber entfernte, je mehr sie auf sich zuzukommen glaubte; wo vor allem ein Charakter entworfen werden mußte, dem Haß, Maßlosigkeit und Rausch als einzig verpflichtendes Gesetz erschien: eine Gegen-Iphigenie®® von ungeheurer Dimension, eine Frau, Corona 6, a . a . O . S. 568. „Ich habe Oktober bis Jänner ein fünfaktiges Trauerspiel nach T h o m a s Otway, vielmehr nacii einem Stoff von T h o m a s Otway vollendet, und jetzt ist es eine freie, sehr freie Bearbeitung der ,Elektra' des Sophokles." (An Rudolf Alexander Schröder, Briefe 1900—1909, a. a. O. N r . 96.) 36 Vergl. Luise Wagener: „Hofmannsthal und das Barock", Diss. Bonn 1931, S. 35 ff.
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der weder ein Gott noch ein Mensch zu helfen vermochte alles, was ihr begegnete, durfte nichts als Echo und Widerhall ihrer eigenen N o t sein: selbst der Bruder mußte zum wesenlosen Werkzeug, ja beinahe zum nichtigen Medium werden. Die Frage der Kritik, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Orest die Bühne überhaupt nidit betreten hätte®^, hat H o f mannsthal rückhaltlos bejaht^®: ihm ging es allein um Elektra; ihr Tod, nicht der Untergang der Königsmörder, sollte den Abschluß markieren und den zwischen Erwartung und Erfüllung, Auftritt und Abgesang gespannten Kreis besdiließen. Freilich, so plante es der Diditer, sollte der korybantische Tanz®' am Ende des Dramas nicht Ziel und Höhepunkt des Ganzen sein. Das in düsteren Sommerwochen des Jahres 1903, in sehr unzuverlässiger Stimmung und unter mancherlei Verzweiflung*® niedergeschriebene Stück war nur Fragment, ein Torso, Maximilian Harden, Die Zukunft 48, 1904, S. 355 ff. „Über Harden urteilst Du, glaub' ich, ein bißchen sdiarf. Ich weiß nicht recht, an wem Du ihn mißt. Er bringt freilich immer alles etwas prunkend vor, aber welcher Publizist hat zu einem Thema so viel vorzubringen wie er? Über die ,Elektra' hat er tatsächlich das einzige sehr Treffende gesagt, das ich irgend gelesen hätte: nämlich daß sie ein schöneres Stück und ein reineres Kunstwerk wäre, wenn der Orest nicJit vorkäme. Und das hat er nicht von mir — obwohl es mein Gedanke auch ist —, sondern aus seinem Kopf." (An Eberhard Freiherrn von Bodenhausen Degener, Briefe 1900—1909, a. a. O. Nr. 132, neuerdings in „Hugo V. Hofmannsthal — Eberhard von Bodenhausen: Briefe der Freundschaft", Eugen Diederidis Verlag o. O. 1953, S. 51.) Interessant ist ein Vergleich des Elektra-Tanzes mit dem Dialog „Furdit", H . V. H.: Ges. Werke . . . Prosa II, a . a . O . S. 358 ff. „ . . . schrieb also die ,Elektra', ohne bestimmt zu wissen, ob ich sie fertig bringen oder weglegen würde: deshalb auch konnte icJi Ihnen so wie niemandem während des Schreibens darüber Mitteilung machen, sondern erst jetzt, nachdem ich das Fertigwerden einer sehr unverläßlichen Stimmung abgezwungen habe." (An O t t o Brahm, Briefe 1900—1909, a. a. O. N r . 95.) „Sobald ich etwas in Ruhe komme, mache ich jetzt die Umarbeitung des ,Geretteten Venedig', das ich tausendmal lieber habe als diese der ödesten Stimmungslosigkeit abgerungene ,Elektra'." (An Hans Schlesinger, Briefe 1900—1909, a. a. O. N r . 100.) „Ich dachte f ü r die ,Elektra' an die Sandrock. Anfang Mai 1903 sah ich die Eysoldt im .Nachtasyl' und dann bei einem Frühstück. Ich versprach gleich bei diesem Früh-
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der nach lichterer Ergänzung der Konturen verlangte. Von Anfang an war ein Orest-Drama als Fortsetzung geplant, und schon die ersten Entwürfe beweisen, daß der Bluttanz „auf der Beil-Saite"^' nur eine Caesur, nicht einen Abschluß bilden sollte: „Daneben hat, fast gegen meinen Willen, eine seltsame ,Orestie' in zwei Teilen, in je einem einaktigen, einstündigen Drama, sich meiner Phantasie in gewissen Stunden fast fieberhaft bemächtigt: der erste Teil Orest-Elektra, mit dem Muttermord, der zweite Orest in Delphi, mit dem Verhältnis OrestHesione^ä,"
Der Lichtlosigkeit sollten Helle und Glanz, der dumpfen Enge freier Raum, der bitteren Schicksalserfüllung Versöhnung und Liebe entsprechen: „Mir wäre das Stück selbst in seiner fast krampfhaften Eingeschlossenheit, seiner gräßlichen Lichtlosigkeit ganz unerträglich, wenn ich nicht daneben immer als innerlich untrennbaren zweiten Teil den ,Orest in Delphi' im Geist sehen würde, eine mir sehr liebe Konzeption, die auf einem ziemlich apokryphen Ausgang des Mythos beruht und von keinem antiken Tragiker vorgearbeitet ist^®." Was Aischylos vereinte und Sophokles trennte, suchte H o f mannsthal auf höherer Ebene neu zusammensdiließen. Daß es beim Plan blieb und nidit zur Ausführung kam, so daß das stück Reinhardt, ihm eine .Elektra' für sein Theater und für die Eysoldt zu madien. — In Cortina (Juni) und Grundlsee (Anfang Juli) versuchte ich ernstlidi anzufangen. Es kam aber fast nidits zustande. Erst in Rodaun, Ende Juli bis gegen
18. August, entstand das meiste. Es war aber ein
Arbeiten mit unsicherer, fast immer matter Stimmung. Ende August fuhr ich nadi Weimar, las dort Keßler einiges daraus vor. Im halben September wurde dann das Ganze notdürftig fertig, Teile des Schlusses und der Klytämnestra-Szene
noch unterm
Absdireiben hineingeflickt."
(Co-
rona 6, a. a. O. S. 568 f.) «
Alfred K e r r : „Die Welt im D r a m a " Bd. 1, Berlin 1917, S. 158 und 161.
^^ Briefe 1900—1909, a. a. O. N r . 55 (an Theodor Gomperz). «
Briefe
1900—1909,
a. a. O. N r .
100 (an Hans Schlesinger).
Vergl.
audi Corona 6, a. a. O. S. 5 7 1 : „,Orest in Delphi'. Den Stil des Ganzen mehr gesehen. Wald und Höhle: erhabene Stämme, dichte Finsternis bildend, draußen, unten, die Welt. Die Gruppe der Amphiktyonen,
die
Jungfrau zur Qual der Weissagung zwingend, Klage erhebend über den Frevler."
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ELEKTRA
Fragment heute für das Ganze sprechen muß, steht der E r kenntnis nidit im Wege, in wie souveräner Weise der Dichter auf Grund genauester Kenntnis der antiken Vorlagen den griechischen Mythos weiterdichtete. Indem er ihn veränderte und die Selbstintegration des Helden an die Stelle aufgegebener Weltverwirklichung setzte; indem er ihn - in organischer Fortentwicklung der mit Winckelmann beginnenden und bei Freud endenden Tradition - mit den Mitteln seiner Zeit und den ihm kraft seines Erbes zugänglichen Vorstellungen ausformte; indem er am Beispiel des Vorbilds seine eigenen Probleme, vor allem die Antithetik von lebensferner Ausgeschlossenheit und liebesnaher Verbindung^^ in dem ihm gemäßen Stil, mit dem lyrischen Vokabular seiner Sprache zu beschreiben suchte; indem er, den Blick auf die antike Form geriditet, den Standpunkt seiner Frühzeit überwand und durch die kühne U m wandlung des vorgegebenen Stoffes zum Dramatiker wurde, bezeugte er die Gegenwart des griediischen Mythos^®. Die Frage, ob die „Elektra" überhaupt antik oder nicht vielmehr ^^ Vergl. Hans H e i n r i d i Sdiaeder: „Das W e r k Hofmannsthals", Schweizer Rundschau 22, 1929, S. 572 ff., insbes. S. 5 8 0 :
Neue
„Das A l t e r t u m
hat Hofmannsthal aufgesucht, um aus dem griechisdien Mythos zu schöpfen und in seiner
Gestaltenwelt
die menschlichen
Grundideen
der
eigenen
D r a m a t i k sinnenfällig werden zu lassen: die unfruchtbare N o t des v o m tätigen
Leben
Abgeschnittenen
in
Elektra
und
Kreon,
die
geheiligte
Lebenssicherheit in Chrysothemis und Jokaste, die H ö h e des amor fati in ö d i p u s und Orest. Man schneidet sich das Verständnis seiner Griechendramen ab, wenn man in ihnen eine .Modernisierung des antiken
Dra-
mas', den Versuch einer Erfassung des vorklassischen, archaischen
Grie-
chentums und seiner Deutung, etwa im Gefolge der durch Burckhardt und Nietzsche in Gang gebrachten ,Hysterisierung' der Griechen, finden will. Die Anschauung des antiken Dramas wirkte sidi unmittelbar im Schaffen des Dichters aus, dem sie den unerschöpflichen Gehalt des Mythos vermittelte, an dem alle Zeiten weiterdichten; der antike Mythos stand für ihn neben den ewigen Gehalten des Spiels v o m Sterben des reidien Mannes und des Calderonschen Welttheaters, die er so erneuerte wie jenen." Vergl. Grete Sdiaeder: „Hofmannsthals Weg zur T r a g ö d i e " , a. a. O . S. 3 2 4 : „Dem griechisdien Mythos kamen Hofmannsthals Gestalten
ent-
gegen, deren ganzes Wesen nichts anderes ist als ein K o m m e n aus unerschöpflichen T i e f e n . "
ELEKTRA
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orientalisch^®, ob Klassizität durch primitive Barbarei^^ und maßvolle Plastizität durch hysterische Exzesse^® ersetzt sei, geht deshalb am Wesen der Hofmannsthalschen Intentionen vorbei. So gewiß es erscheint, daß die „Elektra" ohne Badiofen und Nietzsdie, ohne Hermann Bahr und die Wiener psychoanalytische Schule, ohne das Wissen um die Sagenwelt des alten Testaments und die Märchen des Orients in dieser Form nicht geschrieben worden wäre^®, so sehr ist auf der anderen Seite anzumerken, daß Präsenz und Intensität des griechischen Vorbildes nicht durch epigonale Wiederholung, sondern allein durch Neuschöpfungen bezeugt werden, die das einmal Gesdiaffene mit den Mitteln ihrer Zeit in einer derartigen Weise verwandeln, daß Griediisches zum selbstverständlichen Besitz der Gegenwart wird. So betrachtet, sind Goethes „Iphigenie" und Hofmannsthals „Elektra" gleich vollkommene Umschreibungen Naef, a . a . O .
S. I I I :
„Seine Elektra,
als Gestalt, hätte
ebensogut
einem mexikanischen wie dem hellenischen Mythus entstammen können." S. 122: „Ist das Griechenland? Ist es nicht eher Asien? kann m i t Recht hier
gefragt
werden."
—
Maximilian
Harden,
Die
Zukunft
48,
1904,
S. 3 5 8 : „ W i r sind im Purpurzelt eines Hordenkhans." Demgegenüber Max Meli, Die neue Rundschau 40, 1929, S. 6 4 2 :
„Gewiß aus Lust an dem
Zusammenschauen dieser Welten, das Ewige des Griedientums, das Ewige des Orients, das Ewige von Byzanz im Fluß einer naturgegebenen ewigen Durdidringung zu sehen, stammen diese Vorstellungen, nodi mehr aber aus einem Lebensgefühl: denn dieser Ansdiauung ist ein durchdringender Blick für Verknüpfung eigen, weil ihr ein unendlicher Sinn für das Leben eigen ist." Siehe Anhang. Siehe Anhang. Vergl. Hofmannsthals Brief an die „öffentliche Theatergesellschaft in T o k i o " , Briefe 1 9 0 0 — 1 9 0 9 , a . a . O .
S. 3 8 4 f . :
„Auch im Spiel wird
von
selbst ganz das Richtige getroffen werden, wenn Sie mehr das A l t e r t ü m liche als das Okzidentalische suchen; denn der Dichter hat darin ein allgemein Altertümliches, Menschliches und Orientalisches, v o m Westen aus, darzustellen gesucht.", und den Brief an Hladny, Briefe 1 9 0 0 — 1 9 0 9 , a. a. O. S. 3 8 4 :
„Ein Element werden Sie nicht übersehen haben: den T o n
Alten Testamentes, insbesondere der Propheten und des H o h e n
des
Liedes.
Ich halte den T o n des Alten Testamentes für eine der Brücken — vielleicht die stärkste — um dem Stil antiker Sujets beizukommen."
Vergl.
auch Alfred K e r r : „Die W e l t im D r a m a " , I, a. a. O . S. 159: „ . . . statt hellenisch zu sein, fällt sie in den Stil des Alten Testaments."
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Ö D I P U S U N D DIE S P H I N X
des vorentworfenen Bildes, und die bis zum Überdruß gestellte Frage: „Was hat die psydioanalytische Deutung einer Bachofenschen Vorwelt mit den Griechen zu tun?"®" wird durdi die einzig legitime Antwort ersetzt, daß Hofmannsthal den antiken Mythos braudite, um etwas anders nicht mehr Sagbares im Gleichnis dramatischen Spiels zu erklären, und daß er das sophokleische Vorbild bewahrte, indem er es zerbrach und aus den Splittern und Scherben ein neues Mosaik bildete - ein Bild dionysischer Düsterkeit, bei dessen Vollendung der verniditete Zagreus wieder auflebte.
ÖDIPUS UND DIE S P H I N X Nicht zufällig hat Hofmannsthal in „ad me ipsum" immer wieder die Zusammengehörigkeit von Elektra und ödipus betont^. Tatsächlich scheint das Problem das gleiche zu sein: der isolierte, aus seinen Bindungen zur Vorwelt gelöste Held sucht im Verlaufe des Dramas durdi Opfer und Tat ganz seiner selbst inne zu werden. Allerdings geht ödipus dabei noch einen Schritt weiter als Elektra: was ihr, der Starren, nicht Verwandlungsfähigen mißlingt, sdieint er, wenigstens zeitweilig, zu erreidien - Metamorphose von einem Augenblick zum anderen, Erlösung durch die Tat, Besinnung im Opfer. Während Elektra ihr Eigensein so sehr bewahrt, daß sie in Gefahr ist, nidit mehr Elektra zu sein, gibt ödipus sich freiwillig auf, um ein anderer (d. h. er selbst auf höherer Stufe) zu werden. Indem er handelt, opfert er sich - wie Alkestis^ - auf; indem er sich opfert, verwandelt ®® Vergl. audi Hermann Bahr: „1917. Tagebuch", Innsbruck, München, Wien 1918, S. 4 6 f . : „Das liebe Zimmer in Rodaun bei Hofmannsthal, der mir die Elektra vorliest; dann der spöttisdi saftige Mund Otto Brahms, der mich fragt: .Was will der Hugo mit der neuen Elektra? W o z u ? Die alte w a r noch ganz gut!'" ^ „Ad me ipsum", a. a. O. S. 360, 361, 364, 365, 367. ^ Vergl. Josef Nadler: „Hugo v. Hofmannsthal", Corona 2, 1931, S. 2 1 4 : „Die Tragödie. . . k n ü p f t unmittelbar an die ,Alkestis' an. Denn wie dort, so stellt auch hier der Vater sein eigenes Leben dem des Sohnes voran, und er löst damit die tragisdie Handlung aus."
ÖDIPUS UND DIE S P H I N X
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er sich; indem er sich verwandelt, findet er - eine Stufe höher als Elektra - das auf ihn wartende Schicksal. Beide, Elektra und ödipus, warten auf die Offenbarung des Höchsten®; aber Elektra rührt sich nicht von der Stelle. Das Schicksal findet sie am Ausgangspunkt, dort, wo sie sich mit den Füßen in die Erde gescharrt hat, um H a l t zu gewinnen, ödipus dagegen macht sich auf den Weg, und was er träumt, wird sich bewahrheiten^. Weil er sich zu verändern versteht und die Tat höher als die Treue, das Werden über das Sein und die Verwandlung über das Beharren stellt, sind seine Träume nicht Antizipationen, sondern Ahnungen reifen Geschehens, erstes Wissen eines furchtbaren Gesdiicks, das ihn eines Tages treffen wird. Kreon dagegen ist wie Elektra; ein Träumer, der, als die Stunde der Erfüllung da ist und er König werden soll, mit leerem Gesicht am Rande der Szene steht. Beide, Täter und Träumer®, gehören zusammen®; so nah wie die Frau und die Heroine, Chrysothemis und Elektra^, so nah wie Mutter und Tochter. Erst das Wissen um die Bezogenheit der gegensätzlichen Stand® „Ad me ipsum", a. a. O. S. 365. Freilich ohne daß er um das Verhältnis von Traum und Wahrheit weiß. Auch er entdeckt nidit die volle 'Wirklidikeit, bleibt ein Kind der Welt der Sö^ot, erweist sidi gerade im Augenblick des Gesdiehens, trotz seiner Tatenlust, als Träumer. Vergl. Maximilian Harden, Die Zukunft 54, 1906, S. 346 ff.: „Der Dionysier ist zum Träumer geworden." (S. 350.) ® ödipus ist der Täter, der im Tun blind bleibt. Handelnder und Illusionist zugleidi, Kreon der antizipierende Träumer. Über ihre Beziehungen vergl. Naef, a. a. O. S. 133, und Harden, a. a. O. S. 352, die freilich die Gemeinsamkeiten zwischen Kreon und ödipus übersdiätzen, da sie auch Ödipus als T y p des Träumers auf Kreons Seite stellen: aber der Täter in der Welt der Sö^cc und der traumverfangene Zauderer sind zweierlei! ® „Jede Trennung ist schon Allegorie. Audi das Gegeneinanderstellen von Oedipus und Kreon ist Allegorie. Der Tod ist mitten im Leben." Corona 6, a. a. O. S. 63. '' „Auch dort wo Kontraste dargestellt sind, in der mittleren Periode, wie die heroische Elektra und die nur weibliche Chrysothemis, . . . kam es mir immer darauf an, daß sie mitsammen eine Einheit bildeten, recht eigentlich eins waren." „Ad me ipsum", a. a. O. S. 373.
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ÖPIDUS U N D DIE SPHINX
punkte und die Zusammengehörigkeit der Antithesen® schenkt dem Betrachter jenes „Gefühl der Einheit", von dem Hofmannsthal nach seinen eigenen Worten auch bei der Darstellung des scheinbar IsoHerten nie abgelassen hat®. Der Weg zu sidi selbst durch die Treue; der Weg zu sich selbst durch das Opfer; der Weg zum Sozialen als Weg zu sidi selbst — immer geht es um die Integration der Persönlichkeit im Ablauf des dramatischen Spiels. Immer ist die Gewinnung der eigenen Existenz das letzte und geheimste Ziel des Dichters, denn auch der Weg zum Sozialen ist ein Schritt zur Selbstverwirklidiung. In der griechischen Tragödie dagegen ist der Weg zu sich selbst von vornherein ein Irrweg. Isolation bedeutet, von Homer an, Schuld". Jeder, der sich abwendet und über dem Ziel: er selbst zu sein, das ihm aufgetragene Gebot, die göttlichen Kräfte zu verehren und ihre Gegenwart durch sein Tun zu erhellen, vergißt, erleidet Verniditung und Strafe. Weil Achill sidi absondert, muß Patroklos sterben, weil Ajas nur an sich selbst denkt, geht er zugrunde, weil Prometheus abtrünnig wird, muß Zeus ihn strafen. Erst im Leiden erfährt der griechische Mensdi die Kräfte der Ordnung, die er vergaß; erst im Untergang überschaut er den ganzen Kosmos und stellt die Welt durch sein Opfer wieder her. Weder die Gewinnung eines vollkommenen Ich noch die Auflösung des Individualbegriffes, sondern einzig und allein die Rückkehr des Menschen in die ® Vergl. Grete Schaeder: „Hofmannsthals Weg zur Tragödie", a. a. O. S. 315: „In allen drei Fällen (Klytaimnestra — Elektra; Pierre — Jaffier; Basilius — Sigismund) ging es Hofmannsthal nicht um den einzelnen Charakter und seine Entwicklung, sondern um das Geheimnis der Konfiguration, um die geheime Magie, die hier wie dort zwei Mensdien in einen gemeinsamen Untergang treibt." ® „Als junger Mensdi sah idi die Einheit der Welt, das Religiöse, in ihrer Schönheit; die vielfältige Schönheit aller Wesen ergriff mich, die Kontraste, und daß alle doch aufeinander Bezug hatten. Später war es das Einzelne und die hinter der schönen Einheit wirkenden Kräfte, das ich darzustellen mich gedrungen fühlte, aber von dem Gefühl der Einheit ließ ich nie ab." „ A d me ipsum", a. a. O. S. 373. Vergl. Anmerkung 14 zur „Elektra".
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gottgewollte sinnvolle Ordnung ist das Ziel der alten Tragödie. Die Gemeinschaft, nicht das Ich, steht im Zentrum des Spiels. Kräfte, die, isoliert, zerstörerisdi wirken, werden im Raum der Polis segensreich und gut^^ - Indem der Mensch handelt, weckt er Gegenkräfte, die die alte Ordnung wiederherstellen und den göttlichen Sinn des Bestehenden erhellen. Am Anfang der Tragödie ruhen die Sdialen im Gleidigewidit, mensdiliches Handeln senkt die eine Schale, göttliche Gegenwirkung hebt sie wieder: aus These und Antithese wird Synthese, aus menschlicher Verfehlung und göttlicher Strafe, aus Zug und Gegenzug, wird die alte Ordnung, nun sichtbar für alle, geboren^^. Auch das moderne Drama weiß von diesem Kräftespiel; aber es nimmt ihm sowohl seine religiöse Orientierung wie seinen kultischen Sinn, wenn es die Wechselwirkung zwischen Mensch und Gott allein in das Individuum projiziert und die Frage „wie wird die bedrohte Ordnung wiederhergestellt?" durch die Erwägung „wie kommt der Mensch zu sidi selbst?" ersetzt. Hofmannsthals ödipus vermag sich zwar zu verändern und sich durch Tat und Opfer auf immer anderer Stufe neu zu gewinnen, aber das Fehlen einer objektiven Gegenmacht läßt alle Metamorphosen immer nur zeitlidi begrenzt und auf das Vorhandensein bestimmter situationsschaffender Elemente bezogen sein. Eine Palingenese, die den sich Ändernden zum Verwandelten macht und statt immer neuer Masken das Gesicht selbst zum Vorschein kommen läßt,ist im „ödipus" undenkbar. Gerade am Ende, als der von leidenschaftlicher Liebe zu seiner Mutter ergriffene Held in der vollkommenen Hingabe seiner selbst erlöst zu sein scheint, zeigt der (immer als Hintergrund mit zu betrachtende) griechische Mythos, wie sehr audi das „Endgültige" nur momentanen Charakter hat^®, wie entscheidend AufVergl. Walter Nestles Einleitung zu „Aisdiylos. Die Tragödien und Fragmente", Stuttgart, Kröner-Verlag, 1939, S. X L V I I fF. ^^ Vergl. Karl Reinhardt: „Sophokles", Frankfurt/M., 1948®, passim. ^^ Immer wieder erweist ein Vergleich zwischen antiker und moderner Tragik den Unterschied zwischen der Faktizität von Situation und Charakter bei den Griechen und der stimmungsbedingten Labilität von Ereignis und Person bei den Modernen. Je mehr die Figuren an Detailschilderung
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lösung und Neugewinnung des Individuums an eine bestimmte Situation, ödipus' Nichtwissen, gebunden sind. Es scheint sicher, daß Hofmannsthal nach der Niederschrift der Griediendramen den Weg zum Sozialen in dieser Form nicht mehr für gangbar hielt. Weder das reine Sein noch die unaufhörliche Verwandlung schaffen Erlösung, sondern es bedarf eines Anstoßes von außen, eines großen von fernher treffenden Schattens, um das Selbstgespräch in den Dialog münden zu lassen. Erst in der „Ariadne" wird Verwandlung zur Wiedergeburt und Monolog zu allomatischer Vereinigung, erst die Lustspiele verwirklidien das in den Griediendramen Erstrebte. („Das erreichte Soziale: die Komödien.") Wie „Alkestis" und „Elektra" beginnt auch der „ödipus" mit einem „Vorspiel", das Tenor und Stimmung angibt. Wie in der „Elektra" die Mägde auf die Königstochter, so warten im „ödipus" die Knechte unter Anführung des alten Phönix auf den Sohn des Herrn^^, und genau wie Elektra springt ödipus zurüdk, als er die Wartenden erblickt. Zwisdien der Menge der Verständigten und dem Einzelnen, der sich zur Begewinnen, desto stärker verschwimmt ihr Gesamtbild, und ihr „Handeln" wird am Ende zum Ausdruck von Reizen, Stimmungen und unwägbaren Schwingungen des „Zwischen". Damit wird das „Ich" zum Spielball der Sekunden, alles Feste löst sich, wie das Beispiel Klytaimnestras erhellt, auf und verliert an Schärfe und Kontur. Ein Hauch, eine Reaktion, eine Assoziation: der Feind wird zum Freund, der Freund zum Feind. Der Ort der Begegnung wird genau m a r k i e r t : „Waldige Gegend im Gebirge. Felsen und Bäume. Platanen, Ahorn. Quer über die Bühne führt eine Straße, von rechts herauf nach links wieder hinab. In der Mitte mündet in diese ein Hohlweg, steil herabführend." Die Szenenangabe deutet die griechische Landschaft an, ohne sie in naturalistischer Weise zu zitieren. Vergl. auch die „Szenischen Vorschriften zur Elektra" von 1903 und die „Südfranzösischen Eindrücke" von 1892: „Im Innern aber ist die provenzalische Landschaft eintönig, wie die griechische. Graugelb, mit graugrünen Olivenhainen. Dann und wann auf der staubigen alten königlichen Straße eine Schafherde, die lautlos weitertrippelt. Dann ein ausgetrocknetes Flußbett. Dann, in schweigender Einsamkeit, R u i n e n ; ein verfallener Aquädukt, ein Triumphbogen. Dann weite, schattenlose Haine der mageren Oliven. So hat es rings u m den Engpaß ausgesehen, w o ö d i p u s dem Vater begegnete. So u m den Hügel, w o Antigene den Leichnam des Bruders besuchte." H . v. H . : Ges. W e r k e . . . Prosa 1. a. a. O. S. 92.
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gegnung mit dem Ungeheueren aufmacht, gibt es keine Verbindung. Wieder, wie in der „Alkestis" und der „Elektra", steht die Verwandlung am Anfang. Wie seine weiblichen Gefährten weiß auch ödipus, daß die Stunde der Entscheidung gekommen ist. (Nah ist der Tod in der „Alkestis", nah die Stunde der Vergeltung in der „Elektra", nah der Aufbruch in die Einsamkeit im „ödipus"). Wie in der „Alkestis" liegt der Augenblick der Verwandlung schon in der Vergangenheit, die Diener haben es nur noch nicht begrifFen: „doch von Stund an, da wir in dieser heiigen Stadt herbergten, wo das Orakel thront, da wurde hart dein Mund, und deine Rede flackerte wie Feuer im Wind." Der Aufenthalt in Delphi bezeichnet den Wendepunkt in ödipus' Dasein. Sein Leben zerfällt von nun an in ein „Zuvor" und ein „Danadi", ein Andeuten und ein Bestätigen. In Delphi wurde er zum Wissenden; sein Schicksal wird in Zukunft nur Erfüllung seiner Ahnung sein. Der Spruch der Priesterin reißt ihn aus den Fesseln der Präexistenz und weist ihm den Weg, der mit Hilfe der Tat zur Verknüpfung mit dem Leben führt. Dieser Weg ist schwer und mühevolP®, und am Anfang liegt die Umkehr verlockend nahe. Auch ödipus, von dem Gebet des Phönix berührt, ist nahe daran, sidi umzuwenden und zurückzukehren. Erst das Wort „nun bist dus wieder" zeigt ihm die Größe des Abstands und läßt ihn weiterwandern: „nicht suchen den, der war. Versteh mich doch." Der Weg von der Präexistenz zum Leben ist der Weg von der Geborgenheit des Gestern zur Ungewißheit des Morgen, ödipus weiß darum und zögert, weil er die vielfältige Verstrickung fühlt, die vor ihm liegt, und zu ahnen beginnt, worauf er sich eingelassen hat^®. Die Verbindung zum Morgen ist noch flüchtig und kaum lebendig erfahren. Allein das Verlassene gewinnt, schon halb verloren, im Augenblick des Abschieds noch einmal die vertraute Kontur („ambivalenter Zustand zwischen Prä-existenz und Verschuldung"). Was sich schon lange ankündigte, durch vielerlei Zeichen und Begebenheiten - die Worte des Trunke15 Vergl. Naef, a. a. O. S. 126. " Vergl. „Ad me ipsum", a. a. O. S. 359.
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ÖPIDUS U N D DIE SPHINX
nen, die Beschwörungen der Eltern, die Verbindung mit der Mutter, ödipus' plötzlichen Zorn - , und den Ahnungsvollen zwang, sich langsam aus der ihn umgebenden Welt zu lösen und sich auf den Weg nach Delphi zu machen, sdieint nun, da ödipus von den Dienern Abschied nimmt, vollzogen zu sein. Die Nabelschnur ist zerrissen, und kein Gott führt den Neugeborenen in die Dunkelheit seiner Vorwelt zurück. Das zeitlose Dasein der Präexistenz endet im gleichen Augenblick, da der Held sich auf seine Zukunft einstellt und damit zum ersten Mal ganz seiner Vergangenheit inne wird. Er hört auf, ein Einzelner in einer nur ihm selbst ergebenen Welt zu sein und wird ein Mensdi, der sidi mit jedem Schritt, den er tut, seiner Bindungen und Verkettungen stärker bewußt wird: „Mit meinen Vätern hauste meine schlaflose Seele . . . sie entsannen sich des Enkels und durchzogen mich, und es war mehr als Lust und mehr als maßlose Begier, es war die Lust und Qual von R i e s e n . . . der Strom des Bluts, das war die schwere, dunkle Flut, in der die Seele taucht und findet keinen Grund. Das war in mir. Nein, das war ich!" Wie Elektra ist auch ödipus durch das Blut wie mit Ketten an seine Ahnen angeschmiedet: wie Elektra lastet ihm das Schicksal der Ahnen alptraumgleich auf der Brust. Aber es wäre falsch, in der Erkenntnis der blutsmäßigen Bedingtheit eigenen Schicksals nur einen düsteren Determinismus sehen zu wollen, denn was niederdrückt und Angst und Qual und Entsetzen verbreitet, stellt den Menschen zugleich in den größeren Zusammenhang des Geschlechts, läßt Verbindungen, Bezüge und Symbiosen erahnen, an denen der Held im Vortraum der Präexistenz wie ein Blinder vorüberging. „Der Flußgott des Blutes" ist nicht nur der gewaltige Verniditer, er schafft audi im Erben das Wissen um eine große unio mystica, eine geheimnisvolle Verbindung mit Vorzeit und Alter, durch deren Hilfe der Mensch nicht nur Opfer, sondern auch Täter, nicht nur Empfangender, sondern auch Spender wird: „Ich war ein wilder König, der erbarmungslos ein Weib umschlingt in einer Stadt, die brennt, und war auch der Verbrennende im Turm - ich war der Priester, der das Messer schwingt, und ich zugleich war auch das Opfertier." Ein ein-
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ziger Traum enthüllt Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit; was gestern war, wird sich morgen wiederholen, und was morgen geschieht, ist längst sdion bestimmt. Die Zeiten vertauschen sidb, und der Traum wird zur Wirklichkeit. Delphi: das ist die Sekunde, da die Schnur zerrissen wird, der Moment, in dem Elektra das gebrochene Auge des Vaters erkennt. Von nun an ist keine Umkehr mehr möglich, die Form ist zerschlagen, und die Verknüpfung mit dem Leben, der Weg zur Tat und zum Opfer, das Wissen um Treue und Verpflichtung, bedingt eine unabmeßbare Kette der Leiden und Qualen. Das Vorgeahnte wird jetzt zu klarer Bewußtheit; das Bewußtsein, seiner selbst überdrüssig, trachtet nach Taten; Taten aber - erdacht und vorbereitet (Elektra) oder ausgeübt (ödipus) - führen zu Schuld und Verdammnis: der circulus vitiosus, dem das mit dem Übertritt in die Existenz zum Handel verpflichtete Individuum verfällt, scheint unlöslich, ein Einbruch in das Geheimnis der Welt vergeblidi: „Die Welt besitzt sich selber, ha, ich lerne." Die Belehrung der Priester fordert jähen Entsdiluß, sie heischt die Einsamkeit dessen, der eben nodi in frühem Traum geborgen war, und stellt ihn, wie im platonisdien Höhlengleichnis, mitten ins Licht, wo er der Ahnen gegenwärtig wird, die sich, kaum daß er das Dunkel verlassen hat, über ihn stürzen und als ihren Sohn erkennen: „Die wir tote Könige sind, wir thronen im Wind - die wir gewaltig waren, uns sdileift der Sturm an den Haaren, und dieser ist unser Sohn"^^. Ein paar Schritte n u r . . . schon ist die Tat getan und der Zoll entrichtet, den der Eintritt in die Existenz verlangt. Aber die erste Tat ist nur ein Anfang, weitere müssen folgen. Taten werden das Haus des einsamen ödipus sein, und dennoch wird er, wie das Vorbild der Sage bestimmt, nie in ihnen wohnen dürfen. Nicht die Tat, sondern das Ineinander von Tun und Erleiden^®, die Ambivalenz von Opfer und Opfertier, schafft Erlösung - doch aucii Vergl. zur Auffassung des Blutes und der sdirecklidien Herrschaft der Ahnen die bis ins einzelne ähnliche Auffassung Rilkes in der dritten Duineser Elegie, wo es, wie bei Hofmannsthal, um die jäh erkannte, alles veränderte Vorherbestimmung durch den „Fluß-Gott des Bluts" geht. Vergl. Aisdi. Ag. V 176 ff. 6 Jens
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diese Befreiung wird ödipus nur im Traum zuteil. Weder Kreon nodi die geliebte Mutter werden das Opfer vollenden können. Die Realisierung des großen Lebenstraums bleibt auf den Kernsprudi des Orakels beschränkt, aber daß es überhaupt zu einer Verwirklichung der Träume kommt, untersdieidet ödipus von Kreon, dem der Anfang des zweiten Akts in gleicher Weise gehört wie ödipus der erste Auftritt. Wieder gibt ein Vorspiel der Diener die Stimmung an, ehe der Herr selbst mit dem Magier auftritt. Von Anfang an ist Kreon ein Bruder der Klystaimnestra. Audi er glaubt an Wunder und geheime Beschwörung und fühlt, daß etwas gegen ihn ist, das er nicht fassen kann. Deshalb sucht er Zuflucht bei Magie und Wunderzeichen. Der leblose Träumer bedarf des Mysteriums, um den Tag ertragen zu können. Kunstmittel und Drogen müssen ihm helfen, Vitalität zu ersetzen und seinem Schatten, der Niditigkeit seines Lemurendaseins, Kraft und Nahrung zu geben: „wo du bist, dort bist du nicht. Der Tag, den du betrittst, ist doch nicht völlig Tag, die Nadit nidit völlig Nadit, und gleicht von fern nur frühren Nächten und Tagen, stets schweifst du, wie auf einem fremden Stern, und Fremdes schweift durch dich." Wie Klytaimnestra ist auch Kreon durch die vollzogene Tat seiner Seelenkraft beraubt worden, nur daß sein Vergehen lächerlich gering im Vergleich zu Klytaimnestras Untat ist: als Knabe hat er einst Laios in der Hochzeitsnadit die Botschaft des Orakels überbracht, daß der König, sollte Jokaste einen Sohn gebären, durch dessen eigene Hand fallen würde. „Was einmal war, das lebt auch ewig fort" - die Botschaft bedingte den H a ß der Jokaste, der Haß wiederum Kreons Ohnmacht: „Versöhne mir die Schwester, daß sie mir die Seele freigibt und mich König werden läßt! Sie hat mich einst geliebt, nun haßt sie mich, die Schwester, hörst du mich? Sie ist der Dämon, der mir die Seele aus dem Leibe saugt: denn ich hab fürchterlich an ihr getan, so tut sie fürchterlich an mir und zahlt." Wie Elektra ist Kreon ein Träumer. Sogar die Taten verwandeln sich in Träume. Taten so gut wie Träume sind
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Mittel, sich selbst zu entrinnen; aber es ist das Los des Träumers, niemals vergessen zu dürfen. Zwischen Ausführung und Entschluß liegt das "Wissen, und der Weg vom Wunsch zur Erfüllung erscheint deshalb so weit, weil auch der Wunsch schon von tausend Bedenken zerfressen wird. Kreon ist ein später Claudio^®: alles, was er sieht, verwandelt sich in Ekel und Leere; was er anpackt, hat er so oft in Gedanken vorweggenommen, daß er, kaum daß seine Finger Widerstand spüren, die Hände angewidert zurückzieht. Klarheit und Bewußtsein haben das Leben zerstört. Kreon spürt es, als er die Nachricht von Laios' Tod erhält. Jetzt zum ersten Mal wäre Handeln sinnvoll: „nun müssen meine Kräfte schwellen zum Reißen, Mensdi, nun muß ich greifen können nach Krön und Schwert, die Träume muß ich abtun: ein König träumt nicht, eines Königs Träume gehen aus ihm hervor und werden Taten und thronen in der Welt. Nun muß ich blühn, sonst faule ich!" Wie für Klytaimnestra gibt es für Kreon nur eine Rettung: zu opfern. Aber was soll er opfern, wo es nichts gibt, was nodi unbefledst vom Zugriff seiner Gedanken ist? Er hat ja alles längst gekauft, und selbst dem Knaben, der bereit ist, sich für ihn zu opfern, nimmt er das Letzte, was ihm bleibt: die Reinheit des Opfers^«. Kreon ist zugleidi Elektra und Klytaimnestra. Wie Elektra rauben die Träume ihm den Willen zur Tat, wie Klytaimnestra weiß er um die Dämonie seiner Träume. (Hier unterscheidet er sich von Elektra, der Schein und Sein, Wahrheit und Traum ineinander Übergehn.) Traum und Erinnerung nehmen beiden, Vergl. Naef, a. a. O. S. 134. ™ Vergl. die ausführlidie Interpretation, die Hofmannsthal der Gestalt des Knaben Schwertträger in den Briefen an die Schauspielerin Gertrud Eysoldt (die nadi der Elektra audi den Knaben spielte) gab. Briefe 1900—1909, a. a. O. N r . 160: „Es ist eine Episode von 20 Minuten, aber es ist, glaub' ich, ein Schicksal darin, das Schicksal der Jugend. Er verliert den Glauben an den Menschen, den er liebt. Das sdiauspielerisch Starke und Schwere daran, weswegen nur Sie die Rolle spielen können, ist, daß man f ü h l e n muß, wie seine einfache Seele einen Sprung bekommt." Vergl. auch Brief N r . 161, a. a. O., der eine zweiseitige genaue Darstellung des Verhältnisses Kreon—Knabe gibt. 6»
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Kreon und Klytaimnestra, die Fähigkeit, unvoreingenommen zu reagieren. Trance und Reflexion lassen altern, lösen langsam Willen und Entschlußkraft auf und bewirken, daß das Empfinden für zeitliche Ordnung mehr und mehr schwindet und der Mensch bei lebendigem Leibe verfault. Augenblidc reiht sich an Augenblick, die Erinnerungen überwiegen immer mehr, der Raum des Erlebbaren wird kleiner, und am Ende ist das Alter die einzig erfahrbare Realität: Kreon: „ . . . und dennodi so maßlos widerlich geträumt. Mich alt geträumt, mit einer wüsten Schwere in den Gliedern, und noch nidit König, immer noch nicht König in Theben!" Klytaimnestra: „Wer älter wird, der träumt. Allein es läßt sich vertreiben. Warum stehst du so im Dunkel? Man muß sich nur die Kräfte dienstbar machen, die irgendwo verstreut sind. Es gibt Bräuche. Es muß für alles richtige Bräuche geben." Beide, Kreon und Klytaimnestra^"^, sind wie Claudio auf der Fludit vor sich selbst. Beide suchen nach einem Ausweg, nach Magie und Zauberspruch. Beiden ist der Zugang zu allem, was ihnen auf den ersten Blick hilfreich sein könnte, versperrt. Sie haben sich selbst ausgeschlossen, nichts dringt in den leeren Raum hinein, in dem sie sich befinden. Aber während Klytaimnestra immer noch hofft, es könne sich doch irgendein Wunder, etwas gänzlich Unvorhergesehenes, ereignen, hat Kreon den Glauben verloren. Was er berührt, ist verflucht: „durchlöchert ist der Becher, nichts kommt in mich", und selbst das scheinbar Überraschende - die Opferwilligkeit des Knaben und der Auftritt der Boten - erweist sich als längst vorausgesehen und geplant. So bleibt am Ende als einzig Unbedingtes wieder nur der Tod. Er allein ist die geheime Hoffnung des vom Ekel der Erkenntnis Angewiderten: „nur einfache Seelen sollen leben, Knabe." Das in der „Elektra" angedeutete Hamlet-Problem erfährt in Kreon seine letzte Steigerung; er lebt wirklich in einer Welt, indem es außer ihm selbst nichts mehr gibt^^. Was er Zu den Beziehungen zwischen Kreon und Klytaimnestra vergl. Grete Schaeder: „Die Gestalten", a. a. O. S. 85. ^^ Kreon ist wirklich ein Vorbote der götterlosen Welt Sartres. Der Erkenntnisekel, als auf die Spitze getriebenes Prinzip, wiederholt sich denn auch nidit zufällig bei Aigisth in Sartres „Fliegen".
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erfährt, ist nur das Edio eigener Hoffnungen, Wünsche und Gedanken. Es bedarf keines Beweises, daß Hofmannsthal in der Interpretation des Erkenntnisekels eigene, durdi die antike Tradition nicht vorgebahnte Wege gegangen ist. Dem Menschen der alten Tragödie ist die Diskrepanz zwischen Wunsch und Tat, Entschluß und Handlung durdiaus fremd - der Entschlossene handelt auch; wer einmal ein bestimmtes Ziel ins Auge gefaßt hat, strebt danach, es zu erreichen. Natürlidi gibt es Gestalten innerhalb der Tragödie, denen das Handeln versagt ist, wie zum Beispiel Ismene oder Chrysothemis, aber entscheidend ist, daß weder Ismene nodi Chrysothemis^^ den Wunsch haben, zu handeln. Zwar ist ihnen auferlegtes Gesetz, nicht handeln zu k ö n n e n ; aber dieses Gesetz entspricht ihrem „Charakter", nicht handeln zu w o l l e n . Von einer Antinomie zwischen Wollen und Können kann keine Rede sein. Gerade das Beispiel Orests, Antigones oder ödipus' zeigt, wie eng Handeln und Tun im fünften vorchristlichen Jahrhundert aufeinander bezogen sind. Natürlich gibt es ein retardierendes Moment, einen Augenblick des Zögerns, wo alles in Frage gestellt zu sein scheint („was soll ich tun, Pylades?"), aber die Sekunde des Zweifels macht die Größe und Konsequenz der folgenden Tat nur um so deutlicher. Das sokratische „wer das Gute weiß, tut es auch" gilt, auf das Handeln schlechthin bezogen, durchaus als Maxime, jedenfalls für die frühe Tragödie. Wie Kreon und ödipus, Elektra und Klytaimnestra, Chrysothemis und Elektra, so sind auch Jokaste und Antiope zusammen als Einheit zu sehen. Beide leben ganz für sich, in sich selbst ruhend, Inbegriff jenes Lebens, dessen Gegenmadit sich in Kreons Zweifelsinn verwirklicht. Antiope, die Greisin, die, fruchtbar und schon längst wieder dürr, das Leben hinter ^^ Ismene und Chrysothemis sind dadurch bezeichnet, daß sie b e i d e Seiten überschauen — Kreons und Antigones Lage, Elektras und Klytaimnestras Situation — und darüber nidit zum Handeln kommen. Sie beugen sidi dem Stärkeren, berufen sich auf ihre weiblidie Physis, die sie nicht handeln läßt und bleiben im R a u m des Normal-Erlaubten. Kreon und Elektra dagegen wollen handeln, aber sie bringen es einfach nicht fertig, obwohl sie gegen ihre Physis anzugehen suchen.
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sich gebracht hat, und Jokaste, der die Erfüllung ihres Daseins noch bevorsteht; Antiope, die aus der mythischen Welt in die Gegenwart hineinragend, die Zeit überdauert, und Jokaste^®, die trotz ihrer Ehe und der Geburt des Kindes, das man ihr nahm, weiter in den Vorhallen der Praeexistenz lebt; Antiope und Jokaste sind, wie die Kaiserin in der „Frau ohne Schatten" die Bewahrerinnen des Geheimnisses, reine Seelen in einer Welt voll Erkenntnisekel und blindem, fludibeladenem Trieb. Das Spiel zwisdien Mutter und Tochter (in der „Elektra") wiederholt sich im Verhältnis Schwiegermutter und Schwiegertochter^^ (in „ödipus und die Sphinx"). Beide beten die andere als die Starke, Lebensmächtige, ihrer selbst Bewußte an, Jokaste zuerst: „Ja, du redest zu den Göttern wie zu verwandtem Blut. Du ringst mit ihnen wie eine Riesenfackel mit dem Sturm", später, nach der Erzählung von ödipus' Geburt, Antiope: „wie das Dämmernde erglüht von ihrem Blut! wie stark die Lebensflamme sich hebt!" Audi Jokaste ist wie ödipus und Kreon auf einen bestimmten Punkt, die Verstoßung des Kindes, bezogen; aber im Un^^ Offenbar war Jokaste anfangs anders, heroisdi-trauernder und weniger versammelt-weiblich geplant. Vergl. das Fragment: „Die Königin Jokaste. Erste Studie zu einer Ödipus-Tragödie", H. v. H.: Ges. Werke . . . Dramen II, a. a. O. S. 537 ff. ^ Vergl. zu Hofmannsthals Darstellung der Verwandtsdiaftsverhältnisse („Alkestis": Mann und Frau, „Elektra": Vater und Toditer, » ö d i pus": Sohn und Vater, „Helena": Mann und Frau) Josef Nadler: „Hugo V. Hofmannsthal", Corona 2, a. a. O. S. 206 ff. und „Literaturgeschichte . . . " , a. a. O. S. 925: „ ,Im Abenteuer' beginnt er die Urdreiheit des Lebens Mutter — Vater — Kind herauszuheben und zu versondern. Er beginnt an ihrem wechselseitigen Geschlechtsverhältnis die Werte zu versetzen . . . Die hier nur versuchsweise bewegten Spitzen des urmenschlichen Dreieckes Vater — Mutter — Kind vertauschte Hofmannsthal in den zwei GriechenstücJcen. Bei ,Elektra' sind nur die verbindenden Seiten gelöst, und die Punkte stürzten gegeneinander ins Chaos zusammen. Die Mutter erschlägt den Gatten . . . Der heimkehrende Sohn erschlägt die Mutter, .ödipus und die Sphinx' schiebt den Vorwurf in den Bereich des Geschlechtlichen und vertauscht die Punkte des Dreieckes. Statt sich sinnvoll zugunsten des Sohnes zu opfern, opfert der Vater sinnwidrig den Sohn zu eigenem Gunsten. Unwissend erschlägt der Sohn den unerkannten Vater, und heiratet er die unerkannte Mutter."
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tersdiied zu den Männern (im Untersdiied auch zu Lalos) hat sie das Gesdiehnis nicht in ihrem Sein verändert, denn während Laios sich wandelte und bleich und finster wurde, blieb sie von allem abgelöst und empfand das Leiden als die ihr bestimmte natürliche Aufgabe. Rein bewahrt, unangetastet von aller relativierenden Verwandlung, erwartet sie ihr Geschick. Ahnungsvoll durchschaut sie geheimnisvolle Vorgänge, weiß um die Beziehung zwischen ödipus und der Sphinx und erkennt die Zusammenhänge, die zwischen der Verstoßung des Kindes und der Verwüstung des Landes bestehen. Jokaste ist so wie Elektra vor der Ermordung ihres Vaters war. Als sie verwandelt wird und der große Schatten des näherkommenden ödipus sie erreicht, kann sie es sich nicht anders erklären, als daß der Tod, der Bote der höchsten Welt, sich ihr naht. Wie Ariadne erfährt sie das Mysterium der Verwandlung im Augenblick des ersehnten Endes, jenes vermeintlidien Todes, den Antiope schon früh als Retter und Heiland begreift und von dem sie zu wissen glaubt, daß es Bacchos^®, der Lebensspender ist, dem Jokaste sich neu vermählen soll. Nicht Laios, der Verstorbene, und nicht Kreon, der Schattenmann, sondern ö d i p u s Bacchos und Jokaste, die vermählte Braut, bringen dem Volke Segen und Befreiung von der Sphinx. Was Antiope ahnte, bestätigt Teiresias im Preislied auf das „heilige Blut", und in der Huldigung der Jokaste, um deretwillen ödipus als Soter einzieht und die Sphinx vernichtet. Aber vernichtet er sie wirklich? Das Ende ist voller Geheimnis und Rätsel, und nidit ödipus, sondern die Sphinx bleibt wahrer Sieger^®. Sie ist es, die ihren vermeintlidien Besieget durch den vertrauten Gruß überwindet und den großen Täter wieder jenen ödipus werden läßt, der aus Delphi floh, um dem Traum von Vater und Mutter zu entgehen. Indem die Sphinx ödipus als den Träumer tiefer Träume begrüßt, madit sie den Siegesrausch seiner Taten zuVergl. Naef, a. a. O. S. 141. Diese Deutung tragen mit Recht Harden, a. a. O. S. 350, Naef, a. a. O. S. 129 fF., und Max Kommereil: „ H u g o v. Hofmannsthal", Wissenschaft und Gegenwart 1, Frankfurt 1930, vor. Eine andere Auffassung beaditet nicht den Grundplan der Trilogie und verkennt den fragmentarischen Charakter des Dramas.
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nichte und enthüllt ihm zugleich einen Zipfel der Wahrheit, wenn sie die Beziehungen zwischen Traum und Tat, Ahnung und Mord offenkundig madit®^. Nie sind ödipus und Kreon einander so ähnlidi wie in jenem Augenblick, da ödipus zum erstenmal seine Niederlage ganz begreift: „da lieg ich und wollte Taten tun und habe nidits getan als midi verraten an den Tod." Audi ö d i p u s hat seine Tat nicht tun können; auch er sieht in der Auflösung, im Todesopfer, seine einzige Hoffnung. Was er erstrebte, war Trug; die Tat blieb ihm versagt; sein rüstiges Vorwärtsschreiten war eine Drehung im Kreise. Zwischen den Worten in Delphi und der Erwartung der Sphinx liegt nur ein kurzer Weg. Zweimal hat ödipus sich aufgemacht - nadi Delphi, um nach seinem Vater zu fragen; nach Theben, um eine Weile zu rasten und dann weiterzuziehen. Beide Male wird er erwartet, zweimal stößt das Schicksal von außen auf ihn zu. In Delphi wird seine Frage gar nicht beantwortet, sondern man entläßt ihn mit einem Fluch; in Theben kann er die Sphinx nicht töten, sondern wird als Vertrauter und längst Erwarteter begrüßt. Audi bei ödipus besteht eine Diskrepanz zwischen der Erwartung und dem Eintreffen, aber es ist nicht Kreons Antinomie von ekler Phantasterei und schalem Erleben, sondern die Antithetik von blindem Meinen und realer Erfüllung . . . einer Erfüllung, die das Erwartete („man wird mir meine Frage beantworten"; „ich werde die Sphinx töten") gerade umkehrt. Um dieser Antithetik zu entgehen, will sich ödipus von Kreon opfern lassen allein im Tode sdieint die Grenze zwischen Opferndem und Opfertier zu fallen. Doch Kreons Versagen verhindert die Tat, und das Wunder des brennenden Baums sdieint am Ende ö d i pus' Erlösung anzudeuten. Aber diese Lösung überzeugt nicht, denn die Verwandlung Auch diese Tatsache verbietet, ö d i p u s als Triumphator und Sieger zu bezeichnen, wie Nadler (Corona 2, a . a . O . S. 206 ff.: „ ö d i p u s ist stärker als sein Schicksal und überwindet es.") und Hans Heinrich Schaeder: „In memoriam H u g o v. Hofmannsthal", a. a. O. S. 231: „ V o r ö d i p u s , der seines Weges und seiner T a t gewiß ist, schwindet ihre (der Sphinx) Macht dahin."
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ist äußerlidi und kommt allzu unvermittelt. Sollte der eben noch Gedemütigte wirklich Triumphator sein? Sollte ihm die Liebe zu Jokaste schenken, was die Tat verlangte? Ganz augenscheinlich hat Hofmannsthal die Akzente so verteilt, daß er ödipus gerade dann, wenn er einen Teil des Orakels erfüllt hat, hoffnungsvoll und seiner selbst gewiß sein läßt. Die mit der Existenz verknüpfte Schuld ist unausweichlidi; niemand kann ihr entgehen - selbst Jokaste nidit. Audi sie wird eines Tages erkennen müssen, wem sie sich vermählte. Gerade ihr jäher Ausbruch am Schluß des Dramas enthüllt Verfehlung und Schuld: „wir sind mehr als die Götter, wir, Priester und Opfer sind wir, unsere Hände heiligen alles, wir sind ganz allein auf der Welt!" Sowohl in der „Elektra" als audi im „ ö d i p u s " herrsdit am Ende Jubel und Triumph^®. Aber hier wie dort stehen Mord und Tod und Elend hinter der Freude - ausgesprochen in der „Elektra", schemengleich angedeutet im „ ö d i p u s " . Die Tat bringt keine Erlösung; das Opfer wird nicht vollzogen; die Liebe wächst aus dem Trieb gemeinsamen Bluts. Sollte es Zufall sein, daß ö d i p u s und Jokaste, genau wie Agamemnon in der „Orestie" des Aischylos, über den Teppich hinab in die Stadt schreiten, wo das Verderben auf sie wartet? Kann es Zufall sein, daß ausgerechnet der Verneiner des Lebens, Kreon, ihnen den Purpur ausbreitet?^®. „Elektra", „ ö d i p u s und die Sphinx", „Ariadne" und „Die ägyptische Helena" enden mit der göttlichen Apotheose in Rausch und festlidier Versöhnung . . . aber die Lösung des „ ö d i p u s " ist ironisch, und deshalb wirkt der dionysische Jubel doppelsinnig und gedämpft, und Mißgetön mischt sich unter die Posaunen. (Vergl. dazu Maximilian Hardens böswilliges B o n m o t : „Den Schluß des Dramas hatte ich dionysischer gehofft. Eine lachende Sphinx, die ganze Meute des lydischen Rebenreifers durch das Blut des frevlen Paares gehetzt und rings in den Lüften der jauchzende H o h n der Bakchen. Allzu feierlicher Ehrfurcht voll und mit zu vielen Sentiments behängt, steigen ö d i p u s und Jokaste, als kämen sie vom Bayreuther Festhügel, in die Kadmeia hinab." a. a. O. S. 355.) Die Ähnlichkeit zwischen Kreon und Klytaimnestra, die Hofmannsthal bewußt herausgearbeitet hat, macht es wahrscheinlich, daß er mit der Zitierung der Agamemnon-Stelle tatsächlich einen Hinweis auf das kommende Schicksal ö d i p u s ' und Jokastes geben wollte: beide teilen das Los Kassandras und Agamemnons.
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In Wahrheit ist die Situation am Schluß ganz ähnlidi wie am Ende des ersten Aufzugs - ö d i p u s hat seine T a t vollbradit und triumphiert. Aber das zweite Mal schweigen die Stimmen, die den jungen Sohn ihres Blutes auf den Thron seiner Väter geleiteten. Sie sdiweigen, doch der Mythos spricht weiter und verdeutlidat, daß audi die Verbindung von ö d i p u s und Jokaste nur eine Station auf dem Wege des Grauens war, daß ö d i p u s abermals erkannt ist, und daß auch Jokaste, nach dem Eintritt in die Welt, Schuld und Verstrickung nicht erspart geblieben sind. Zweimal nach seiner Flucht vor dem Orakel hat ö d i p u s gehandelt; zweimal, zunächst in Laios, der sein eigenes Kind opferte, dann in der Sphinx, die die Kinder fraß, das Gesetz der Lebensverneinung getroffen. Aber beide Male ist er nicht nur Überwinder, sondern audi Besiegter, weil er unwissend und blind war und nicht erkennen wollte, daß er immer ein Getriebener, in allen Verwandlungen Erbe seines Blutes geblieben ist. Auch die Erlösung durch die Liebe ist Trug. N i e ist ö d i p u s stärker der Sklave seines Blutes als gerade dort, wo er in der Geliebten die Mutter umarmt - sdieinbar ein souveräner Herr seines Schicksals, in Wahrheit aber nur ein Medium, hörig und folgsam der herrischen Stimme des Bluts: „Doch die Mütter - zu der Mutter — die Mütter ziehen alles hinter sich, das Blut ist stark, die Welt hängt an den Müttern." Der Jubel des Endes ist ein Sdirei der Verdammnis. Der Glaube, die Götter überwunden zu haben und allein auf der Welt zu sein, zeugt von der Verblendung des Triumphs. Dennoch ist der Jubel nicht nur als tragisdie Ironie zu bergeifen. Das vor der Tragödie als Motto stehende Hölderlinwort enthüllt den Sinn der Antinomie von Freude und Verdammnis. „Des Herzens Woge sdiäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels, das Schicksal, ihr entgegenstände^"." Erst wenn das Kommende mitbedacht wird, gewinnt die Seligkeit des Endes, gewinnt vor allem Jokastes trunkenes Sdilußlied an Kontur. Erst das Wissen um kommendes Scheitern gibt dem Lied der Wiedergeborenen, dem Gesang 30 Vergl. dazu Max Meli in der Neuen Rundschau 40, a . a . O . S. 642.
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von der "Weihe und Herrlidikeit des Augenblicks („und heute, dieses Heute, du und ich") seine Bedeutung und Größe. In „ödipus und die Sphinx" wurde eine Linie gezogen aber nicht zu Ende geführt. Ein Jahr nach der Veröffentlidiung des Dramas erschien die Übersetzung des sophokleisdien „König ödipus" in der „österreichischen Rundsdiau"®^ und mit den letzten Ödipus-Versen dieser Übersetzung wurde auch der wahre Schluß des zeitlidi vorhergehenden Dramas geschrieben: „Thebaner! das ist ödipus, der groß war unter dem Volk und viel beneidet war. Drum muß ein Mensch des letzten Tages harren im stillen, ganz im stillen."
Was das Ende des ersten Dramas verbarg und nur mit ver1905 geschrieben und 1911 bei S. Fischer in Berlin in Buchform publiziert. Die Übersetzung wird hier ausgelassen, da es sich um eine reine Gelegenheitsarbeit handelt. Hofmannsthal selbst hat sie zu wenig ernst genommen (und sie deshalb auch nicht für die gesammelten Werke vorgesehen: Brief an S.Fischer vom 1 2 . 3 . 1 9 2 2 , Die neue Rundschau 65, 1954, S. 396), als daß sidi ein — im einzelnen sicher reizvolles — Versfür-Vers-Vergleichen lohnte. Eine Analyse der Übersetzung würde freilich — da sich das an den Antikendramen Beobachtete wiederholt — manches Interpretationsergebnis bestätigen. Audi im „König ödipus" beginnt Hofmannsthal, ehe der Held selbst spricht, wie in der „Alkestis", der „Elektra" und in „ödipus und die Sphinx" mit einem Vorklang: erst muß der Protagonist apostrophiert werden, dann kann die Handlung einsetzen. Stimmungsschaffender Situation und atmosphärischem Bühnenbild (vergl. den Brief an Elsa Bruckmann vom 18. 2. 1909. Briefe 1900—1909, a. a. O. Nr. 274) wird ebensoviel Tribut wie in den anderen Dramen gezollt — eine Tatsadie, um deretwillen man Hofmannsthal häufig angegriffen hat („Hofmannsthal . . . verkleinert . . . die Monumentalität des Sophokles durch die symbolistischen Bühnenanweisungen." Lutz Weltmann in: Die Literatur 26, 1923/24, S. 193 ff.). Insgesamt ist die Übersetzung, wie Hofmannsthal selbst wußte, dürftig . . . mehr eine gekürzte Paraphrase denn eine Übersetzung oder gar eine Neuschöpfung, ohne sprachlichen Glanz, voll Wiederholungen und abrupter Inhaltsangaben der Chorlieder; eine Gelegenheitsarbeit kat' exochen, uneinheitlich und zwitterhaft in Rhythmus und Stil: einerseits zu wenig griechisch, andererseits zu wenig deutsch. Das Mißlingen der Arbeit mag der entscheidende Grund gewesen sein, warum Hofmannsthal den ursprünglichen Plan, eine Trilogie zu schreiben, schließlich aufgegeben hat.
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stecktem Hinweis bezeichnete, wird am Sdiluß des Mittelstücks ganz offenbar: ö d i p u s ist der besiegte Sieger - zwiefadi besiegt durch das erfüllte Sdiicksal und die triumphierende Sphinx. Er, der Erkannte, wird erkennen müssen: das ist das Fazit des Eingangsstücks. Der Sdilagende ist in Wahrheit geschlagen, der Mörder wird opfern, der Handelnde leiden müssen, und erst der Augenblick der Vernichtung, da der König erblindet, wird den Blinden, als Erkennenden, zum König machen. Der Schritt aus der Vorwelt in den Raum der Existenz bedeutete Leiden und Quap2 und erst späte Erkenntnis. Anders als Sophokles' Held, der nach Jahren des Glücks und gesegneter Herrschaft im Untergang Schrecken und Wissen erfährt, weiß Hofmannsthals ödipus um keinen Augenblicks der Erlösung und Hilfe. Das Blut treibt ihn vorwärts, und je weiter er geht und das Sciiicisal erfüllt, desto tiefer verstrickt er sich in der Spiegelwelt des Sdieins; ein trunkener Illusionist, der immer dann triumphiert, wenn er einen Teil des ihm aufgetragenen Verderben-Plans erfüllt hat: ein höriger Sklave des Augenblicks, so wie Kreon ein Knecht der Erinnerungen und Träume ist, ein Opferer und ein Verwandelter, der doch niemals ans Ziel gelangt. Hätte es noch eines Beweises bedurft, daß der Schluß des Dramas unter düsteren Vorzeichen steht und von einer Erlösung keine Rede sein kann, so beseitigt die Entstehungsgeschichte des Stücks die letzten Zweifel. Wie bei der „Elektra" hat Hofmannsthal von Anfang an eine Fortsetzung im Auge gehabt: an das Doppelstück „Elektra" sollte sich die Trilogie „ ö d i p u s " ansdiließen, und Vorgeschichte, Erkenntnis und Abgesang zugleich umfassen. Schon am 20. Januar 1904, ein Vierteljahr nach der Vollendung der „Elektra", spricht Hofmannsthal von einem „ödipus auf Colonos"-Plan, der ihm neben den „Bacchen" bedeutsam erschiene^®. Im gleichen Jahr madit er sidi an die Ausführung des ersten Teils, der ihn zunächst ganz in Atem hält - „es wird ein sehr kurzes Stück in drei Aufzügen, ein hymnenartiges, lyrisches Drama (zirka 1500 Verse), ein Vergl. Naef, a. a. O. S. 131. Briefe 1900—1909, a. a. O. Nr. 104 (an Hermann Bahr). Vergl. auch Brief Nr. 2 mit der Erwähnung des Oedipe Roi in der Com^die Franfaise.
ÖDIPUS UND DIE SPHINX Vorspiel zum Oedipus rex des Sophokles®^"
93 ohne jedoch den
ursprünglichen Plan, die den Gesamtmythos umfassende „ ö d i pus-Trilogie"
während
der Arbeit jemals ganz
aufzugeben.
„Nach dem 15. N o v e m b e r . . . kann man ja eine Premiere dieser Widitigkeit, eine zwei Abende füllende Trilogie, doch aus materiellen Gründen nicht bringen®®!" Dennoch, trotz aller V o r sätze, wiederholt sich das Schicksal der „ E l e k t r a " .
„ödipus
und die Sphinx" bleibt ein Fragment, die schon abgeschlossene Übersetzung des sophokleischen Mittelstücks wird später als ein gesondertes D r a m a hinzugefügt, und der fertige Epilog^®, allem Planen zum T r o t z („wir spielen zunächst nur dies Stück, s p ä t e r dann den ,König ö d i p u s ' und das Nachspiel")®', niemals aufgeführt. Die düstere Erhellung des weiteren Schicksals - das schauerliche O x y m o r o n , daß das Licht N a c h t und Dunkel Briefe 1 9 0 0 — 1 9 0 9 , a. a. O. N r . 129 (an Richard B e e r - H o f m a n n ) . In diesem Sdireiben v o m 21. September 1904 gibt H o f m a n n s t h a l auch seine Quelle an: „Oedipe et le Sphinx" von Jos^phin Peladan. („Ich wollte hier J e d e r m a n n ' anfangen, da fiel mir ein französisches Stück ,Oedipus und die Sphinx' in die Hände, und der Stoff gefiel mir so sehr, daß ich sogleich anfing, das gleiche zu machen.") Gleichzeitig erwähnt er in diesem Brief zum erstenmal seinen genauen Trilogieplan. „Es liegt mir nun an zweierlei sehr viel. 1. zu wissen, o b "Wüllner ein möglicher Oedipus ist — und 2. wenn ja (ich las über ihn eine sehr lobende K r i t i k , im gleidien Sinn äußerte sidi Kaßner), — dann den Reinhardt sofort wissen zu lassen, daß er ja nicht den König Oedipus aufführt, weil ich ihm sicher einen Oedipus und die Sphinx und wahrscheinlicii auch einen einaktigen
Oedipus-Greis
mache, so daß es eine Trilogie, an zwei Abenden zu spielen, wird." Das im September 1904 in Venedig begonnene D r a m a wurde im Spätherbst 1905, während der Bearbeitung des „König ö d i p u s " , beendet und
am
2. Februar 1906 im „Deutschen T h e a t e r " in Berlin von R e i n h a r d t uraufgeführt. Teilabdrucke erschienen im
„Tag"
(1905) und in der
„Neuen
Rundschau" von 1906. Zwei weitere Stücke, ein Ödipus-Monolog in der „Sdiaubühne"
(1905) und ein Fragment
„Die Königin
Jokaste"
in der
„Arena", Berlin 1906. (Vergl. H . v. H . : Ges. W e r k e . . . D r a m e n II, a. a. O . S. 534 ff.) Erste Gesamtpublikation bei S. Fischer, Berlin
1906.
Briefe 1 9 0 0 — 1 9 0 9 , a. a. O. N r . 163. D a ß der Epilog fertig sei, berichtet Hofmannsthal Gertrud Eysoldt am 28. September 1905; möglicherweise hatte er aber Vorhandenes und Geplantes miteinander verwechselt. Briefe 1 9 0 0 — 1 9 0 9 , a. a. O. N r . 166 (an Gertrud Eysoldt).
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bringt - blieb den Gedanken des mythenkundigen Zuschauers überlassen. Das D r a m a selbst schloß als Fragment. Den Sinn des Ganzen zu finden, blieb der zeitgenössischen Kritik noch mehr versagt als bei der „Elektra". Psychoanalytische Gesichtspunkte, so sehr sie sidi bei diesem „Urmythos der Psychoanalyse"®® aufzudrängen schienen, verhinderten eine gerechte Betraditung®® und der Bedeutung des Opferpreises („ich war der Priester, ich war auch das Opfertier") wurde ebensowenig Bedeutung geschenkt wie der Frage nach dem Unterschied zwischen antiker und moderner Auffassung des gleichen Stoffes, die sich uns hier, stärker als je, in der Antithese von aufgegebener Selbstintegration und befohlener Wiederherstellung der kosmischen Ordnung zeigt. Was Sophokles' ödipus, unschuldigschuldig, zerstört: die Regel des Daseins, den geheiligten Bezug zwischen Mann und Weib, Eltern und Kind und die frommen Gesetze des Staates, muß er am Ende durch seine Vernichtung in ihrer unantastbaren Gültigkeit anerkennend bestätigen. H o f mannsthals Held dagegen hat nur das eine Ziel: sich selbst zu entdecken und sich durch die ihm gemäße Opfertat zugleich als Individuum zu behaupten und in den Strom des Blutes einzuGrete Sdiaeder: „Hofmannsthals Weg zur Tragödie", a . a . O . S. 328. Als Beispiele zwei Kritiken. Zunächst Alfred Kerrs (insgesamt durchaus positive) Besprechung, abgedruckt in „Die Welt im Drama" II, a. a. O. S. 331: „Dieser ödipus träumt zu seinem brüllenden Schmerz, er werde den Vater töten, die Mutter heiraten — und tötet gleich darauf einen alten Mann, heiratet gleich darauf eine ältere Frau: obschon ihm einer angedeutet, daß seine Pflegeeltern nicht seine wahren Eltern sind. Das ist zu blöde. Seit Jahrhunderten lachen die Gallier über einen solchen Stoff. Mit Recht. Bei Hofmannsthal sucht ödipus umsonst seinen schwachen Verstand durch mutige Taten zu bemänteln. Er gilt trotz dem Hirnmangel plötzlich als ein H a l b g o t t . . . Ist er wirklich ein Symbol dafür, daß ein Mensch seinem Schicksal nicht entgehen könne? Wie soll er ihm entgehn, wenn er nicht den geringsten Einfall hat, es zu meiden; eher einen starken Willen, um hineinzurennen. Hunderte sahen das. Was ist das für ein Symbol! Aber das Ganze sei ein Symbol: dann erschiene mir noch immer ein unendlich plumpes und langes Gerät benutzt für den Ausdruck eines bescheidenen Gedankens (O Bearbeitungen! Bearbeitungen!)"; außerdem Albert Soergel, a. a. O. S. 522: „Mythisches Geschehen und Seelenzerfaserung: es geht nicht zusammen."
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Orden, um so als ein Rebell geborgen, als Täter aufgenommen und als Opfernder befreit zu werden. Aber weder Opfer noch Tat, weder Gehorsam noch Rebellion gegen das Blut schaffen jene dionysische Befreiung, die der Grieche in der Synthese von Leid und Erkenntnis erfährt und die Hofmannsthal in der „Ariadne", über die betrogenen Erwartungen Jokastes hinaus, als Verschwisterung von Tod und Liebe darstellt. Was Antigone, Ajas und ödipus in der Vernichtung ihrer physischen Existenz erfahren: das Wissen um ihr wahres Sein und damit die Erkenntnis der ihnen bis zur Sekunde des Erlöschens verborgenen Gesetze der Welt, erleben Ariadne und Helena, ihre glüdklicheren Schwestern, in der Sekunde davor, wo man den Tod erwartet, der sich im Opfer der Liebe verwandelt, und wo das Schwert schon gezückt ist, aber durdi Gattentreue wieder in die Scheide zurüdsgestoßen wird. Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist die Eroberung der mythologischen Oper die legitime Erweiterung der Griechendramen, und unbesdiadet der Frage, wieviel Orientalisdies Hofmannsthal in das Griechisdie^® einfließen ließ und wieviel psychoanalytisches Kalkül das Antike verdunkeln könnte, wird man feststellen dürfen, daß der Weg vom „Ödipus-Fragment" zur „Ariadne" und „Helena" audi ein Weg zu den Griechen ist: ein Sdiritt näher zur sophokleischen Tragödie, in der sich Freude und Qual, Trauer um die Vernichtung und Jubel um die wiedergewonnene Ordnung aufs innigste miteinander verbinden^'.
ARIADNE AUF NAXOS Im gleichen Jahr als die Übersetzung des „König ödipus" bei Fürstner erschien, 1911, begann Hofmannsthal (nadi „Alkestis", „Elektra" und „ödipus und die Sphinx") mit dem Entwurf seines vierten antiken Dramas: „Ariadne", dem ersten Werk, das, im Gegensatz zur „Elektra", von vornherein als Libretto Vergl. Rudolf Pannwitz: „Hofmannsthal in unserer Zeit", Die neue Rundschau 35, 1924, S. 139 ff. Vergl. Wolfgang Schadewaldt: „Sophokles und das Leid", Potsdam 1944, passim.
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ARIADNE AUF NAXOS
geplant und in enger Zusammenarbeit mit dem Freunde Richard Strauß entworfen wurde - anfangs, wie der Briefwechsel zwischen Strauß und Hofmannsthal zeigt, eine reine Gelegenheitsarbeit, beinahe ein Scherz, Pause zwisdien seriösem Geschäft, bald aber schon ein Hauptwerk, von dem der Diditer immer wieder beteuerte, daß es für ihn zum Liebsten gehöre, was er je gesdiaffen habe. Es ist bezeichnend, daß die früheste Erwähnung der „ Ariadne" in Parenthese - beiläufig und in jeder Weise in Klammern gesetzt - geschieht: „wenn man wieder einmal zusammen etwas machen wollte (ich meine etwas Großes, ganz abgesehen von der 30-Minuten-Oper für ein kleines K a m merordiester, die in meinem Kopf so gut wie fertig ist, benannt „Ariadne auf N a x o s " und gemisdit aus heroisch-mythologischen Figuren im Kostüm des X V I I I . Jahrhunderts in Reifröcken und Straußenfedern und aus Figuren der commedia dell'arte, H a r lekins und Scaramouccios, welche ein mit dem heroischen Element fortwährend verwebtes Buffoelement tragen), also: wenn man wieder einmal etwas Großes zusammen madien wollte, so müßte es eine bunte und starke Handlung sein, und das Detail des Textbudies minder wichtig^". Ein kleines opus also, Scherz und Spielerei, als Einlage in ein dramatisches Geschehen gedacht, das in der Weise des Moliere aufgebaut sein sollte, streng und stegreifartig zugleich^. Schon am 15. Mai 1912 berichtet Hofmannsthal von seiner Beschäftigung mit dem „Bourgeois Gentilhomme" und erwähnt den Plan, den etwas schwerfälligen Aufbau des Ganzen durdi eine rigorose Verkürzung von fünf auf zwei Akte zu beleben. Aber Strauß zeigt sich anfangs wenig begeistert, das erregende Element fehlt, die Handlung scheint ^ „Briefwechsel Ridiard Strauß — H u g o v. Hofmannsthal", Gesamtausgabe von Franz und Alice Strauß, bearbeitet von Willi Sdiuh, Zürich 1952, S. 107 (Brief v o m 20. 3. 1911). Vergl. zur Entstehungsgesdiidite audi Grete Schaeder: „Die Gestalten", a. a. O. S. 115. ^ Über
Hofmannsthals
Verhältnis
zur
romanischen
Literatur
vergl.
Naef, a. a. O. S. 314 ff. und Ernst Robert Curtius: „Hofmannsthal und die R o m a n i t ä t " , Die neue Rundschau 40, a. a. O. S. 654 ff. Vergl. auch Hofmannsthals im „Marsyas" (September-Oktober-Heft 1917) publiziertes Lustspiel „Die Lästigen", eine Komödie nach Moliere, und die „"Worte zum Gedächtnis Moli^res", Sphären a. a. O. S. 278.
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fade und matt: „Midi persönlich interessiert die Sadie auch nicht gerade übermäßig, darum bat ich Sie, Ihren Pegasus etwas zu stimulieren, damit der Versklang mich etwas aufreizt. Sie kennen vielleicht meine Vorliebe für Schillerisdie Hymnen und Rückertsdie Schnörkel. Sowas regt midi zu formalen Orgien an, und die müssen hier herhalten, wo das Innere der Handlung einen kalt läßt®." Als Richard Strauß diesen Brief schrieb, war die „Ariadne" für Hofmannsthal längst zum Hauptgeschäft geworden, für das er schon deshalb Zeit und Leidenschaft zu opfern bereit war, weil ihm inzwischen die wahre Bedeutung der BacdiusAriadne-Handlung aufgegangen war, das Eigentlidie der Handlung, ihr seelischer Kern: „Dieses Eigentliche zwischen Ariadne und Bacdius nun sdiwebt mir so abgestuft, so zart bewegt, so psychologisch und so lyrisch zugleidi vor der Seele, daß ich es schon miserabel ausführen müßte, wenn es Sie nicht schließlich in der gleichen Weise interessieren sollte, wie der Text ihrer L i e d e r . . Langsam, Schritt für Schritt, beginnt Hofmannstahl zu ahnen, welche Bedeutung der Stoff für seine gesamte künstlerische Entwidmung hat. Der Wendepunkt ist erreicht, von dem später das geheime Borderau Zeugnis ablegen wird®. Nach einigem Hin und Her über das Verhältnis von Moliere und Hofmannsthal, Jourdain und Ariadne pridit der Dichter in seinem nicht genau datierten Brief vom Juli 1911 zum 3 „Briefwechsel...", a . a . O . S. 119 (Brief v o m 2 7 . 5 . 1 9 1 1 ) . Es handelt sich bei diesem Brief um jenes Schreiben, das Hofmannsthal später (am 4. Mai 1925, „Briefwechsel.. .", a. a. O. S. 528) zitiert, um Strauß die mit einer Publikation des Gesamtbriefwechsels verbundenen Bedenken vorzutragen. ^ „ B r i e f w e d i s e l . . a . a. O. S. 120 ff., Brief v o m 28. 5. 1 9 1 1 . Vergl. zum Einfluß Ridiard Strauß' die zur Klärung v o n Hofmannsthals Verhältnis zur Antike wichtige Untersuchung von Karl-Joachim Krüger: „Hugo V. Hofmannsthal und Richard Strauß", Versuch einer Deutung des künstlerischen Weges Hugo v. Hof mann sthals, Berlin 1931. 5 Vergl. „Ad me ipsum", a. a. O. S. 361, S. 365, S. 367. Die Stellen bezeugen die nahe Verwandtsdiaft zwischen der „Ariadne" und der „Frau ohne Schatten". Das Drama zeigt den Dichter auf dem Wege, die Erzählung sieht ihn am Ziel. 7 Jens
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ARIADNE A U F N A X O S
ersten Mal vom Mysterium der Verwandlung, das sidi in der Begegnung zwischen Ariadneund dem Gott vollzöge. Aber Strauß, der die Bedeutung dieses, später als „Ariadne-Brief" gesondert erschienenen Schreibens® wohl ermißt, zeigt sich nidit überzeugt, da er das von Hofmannsthal Umschriebene in keiner Weise aus dem Manuskript herausgelesen habe. Am 23. Juli verdeutlicht deshalb Hofmannsthal den (für ihn entscheidenden) Unterschied zwischen Ariadne und Zerbinetta noch einmal mit aller Schärfe^, doch Strauß, durch Levin im Hinblick auf seine Zweifel wegen der Beziehungen Moliere-Hofmannsthal bestärkt, hält weiterhin an seinen Bedenken fest. Dennoch gibt Hofmannsthal auch jetzt nicht nach, sondern vertraut, im Gegenteil, mehr denn je seinem Gefühl, etwas wirklich Vollkommenes geschaffen zu haben. Ein letztes Mal wird das Werk durch die „Reinhardt-Krise"® vom Winter 1 9 1 2 bedroht, ehe die „Ariadne" ® Es handelt sich bei dem „Ariadne-Brief" um einen Rückgriff auf den undatierten Julibrief aus Aussee, Obertressen, nicht aber, wie in der Ausgabe des Briefwechsels a. a. O. S. 185 angegeben, um eine Wiederholung des Briefes vom 28. 7. 1911 (an diesem Tage wurde überhaupt kein Brief geschrieben). Der „Ariadne-Brief" wurde schon im Jahre 1912 bei Fürstner gesondert publiziert („Almanach für die musikalische W e l t " ) und findet sich heute im 3. Band der Prosa-Schriften. (H. v. H . : Ges. W e r k e . . . Prosa III, a. a. O. S. 138 ff.) '' „Das Symbolische nun, die Gegenüberstellung der Frau, die nur einmal liebt, und der, die viele Male sich gibt, ist so zentral behandelt, in einem so simplen und so entschiedenem Kontrast,. . . daß es zu einem gänzlichen Nichterkennen seitens des Publikums . . . doch vielleicht nicht kommen wird." „Briefwechsel . . .", a. a. O. S. 133 ff. (Brief vom 23. 7. 1911). ® Vergl. zu dieser Krise vor allem Hofmannsthals grundsätzlichen Brief vom 18. 12. 1911, „Briefwechsel. . . " , a. a. O. S. 146 ff: „Es ist eine meiner persönlichsten und mir wertesten Arbeiten; als ein aus Teilen komponiertes Ganzes gedacht, kann sie nur dort existieren, nur dort zur Entstehung kommen, w o ein höheres theatralisches Genie Teile zum Ganzen zu formen imstande ist; . . ." Die Zusammenarbeit mit Reinhardt w a r für Hofmannsthal „eine conditio sine qua non" („Briefwechsel. . .", a. a. O. S. 161), von der er, zumal nach dem großen Erfolg des im Zirkus Schumann gespielten „König ö d i p u s " , auf keinen Fall ablassen wollte. Vergl. Heinz Herald: „Max Reinhardt, Bildnis eines Theatermannes", H a m b u r g 1953, S. 9 ff. Die große Reinhardt-Biographie, in der das Verhältnis des Regisseurs zu Hofmannsthal eingehend analysiert werden müßte, bleibt bis heute ein Desiderat.
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nach mancherlei Intrigen endlich unter Reinhardts Regie am 25. Oktober 1912 in Stuttgart (nidit, wie ursprünglich geplant, im Deutschen Theater Berlin) uraufgeführt wird. Der Erfolg freilich blieb bescheiden, und als die Münchener Inszenierung Bruno Walters gar mit einem Debakel endete, entsdbloß sidi Hofmannsthal, Strauß' neuerlichem Widerstreben zum Trotz, die „Ariadne" ganz von Moliere zu lösen. Das Münchener Fiasko war ihm schon deshalb besonders unerträglich, weil er, wie der Briefwechsel zeigt, im Geheimen längst von der Diskrepanz zwischen dem „Gentilhomme" und der Ariadne überzeugt war®. Anfang Juni 1913^® entwirft er nun, von Molieres Schatten ganz befreit, das neue Vorspiel im Haus der Wiener Mäzens, und bereits am 12. 6.1913 heißt es in einem Brief an Strauß: „Hier ist ein korrigiertes Exemplar des neuen definitiven ,Ariadne'-Vorspiels, durch dessen Existenz ich erst das ganze Werk ,Ariadne' als abgeschlossen ansehe'^," Zwar weicht Strauß auch jetzt noch aus und bittet den Freund, sich durch die Mündiener Vorgänge nidit entmutigen zu lassen, aber die Arbeit schreitet doch, wenn auch mit vielfachen Unterbrechungen, voran, und im Mai und Juni 1916 werden die letzten Hindernisse für die am 4. Oktober des gleichen Jahres am Burgtheater in Wien inszenierte Premiere aus dem Wege geräumt. Damit ist, trotz der andauernden Reserve des deutschen Publikums, der Bann jedenfalls im Ausland gebrochen, und die Triumphe in Holland („Die Nachridit vom holländischen Erfolg freut mich natürlich überaus. ,Ariadne' ist nun einmal mein Liebling un® Vergl. „ B r i e f w e c h s e l . . a .
a. O . S. 205 ff. (Brief v o m 13. 2 . 1 9 1 3 ) .
I m Brief v o m 3 . 6 . 1913 schreibt H o f m a n n s t h a l :
„ W a s soll all die
unzulängliche Herumflickerei, die einzige A b h i l f e liegt seit acht T a g e n in m e i n e m S c h r e i b t i s c h . . . es w i r d eine b e z a u b e r n d e Ü b e r r a s d i u n g
für
ganze Welt, u n d m i r wälzen Sie einen Stein v o m H e r z e n , u n d
glauben
die
Sie m i r , sich auch, wenn erst die widernatürliche V e r k u p p e l u n g des T o t e n m i t d e m L e b e n d i g e n gelöst ist (ich g l a u b t e das T o t e durch die B ü h n e zu galvanisieren, aber das I n s t r u m e n t v e r s a g t e ! ) . Bitte, glauben Sie m i r ! Wie rein u n d ganz, wie h a r m o n i s c h w i r d die schöne , A r i a d n e ' erst auf diesem P o s t a m e n t dastehen! G l a u b e n Sie m i r , b i t t e ! " S. 222 f. " 7«
„Briefwechsel . . .", a. a. O . S. 223.
„ B r i e f w e c h s e l . . . , a. a. O .
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ter den Kindern")^^ ^nd Italien lassen, nach den Worten des Komponisten, den Anbrudi einer neuen Ära des Theaters erhoffenis. In der Tat ist die Verbindung von Scherz und Ernst, wie sie sidi in der Synthese von opera buffa und opera seria^^ zeigt, ein novum im modernen Theater. Hofmannsthal war sich der Problematik^® dieser Symbiose auch durchaus bewußt und hat deshalb nicht zufällig den zweiten Teil mit der doppelgesichtigen Ariadne-Zerbinetta-Handlung sowohl durdi eine Inhaltsangabe als auch durch eine andeutende Interpretation des ersten Teils vorbereitet^®. Wenn der Komponist davon spridit, er müsse „dem Bacchus eintrichtern, daß er ein Gott sei", dann deuten schon die verschiedenen Bereichen entnommenen Worte auf die Verbindung disparater Elemente hin, die sich im Folgenden vollziehen wird, ja, die Symbiose von spudaion und geloion ist im Grunde schon im Vorspiel selbst zu voller Wirklichkeit entwickelt, nur daß sich das Geschehen zunächst im Gleidinis, auf der Ebene der Interpreten und Musikanten abspielt. Ernst und Scherz, Wissen um das Mysterium der Verwandlung und Ahnung vom Umschlag der Verzweiflung in Heiterkeit und Anmut begegnen einander in den Gedanken des Komponisten: er, der Verteidiger des Todes und der Liebe, Stimme des Dichters („sie ist eine von den Frauen, die nur einem im Leben gehören und danach keinem mehr") und Myste der Verwandlung („Sie gibt sich dem Tod hin - ist nicht mehr da - weggewisdit - stürzt sidi hinein ins Geheimnis der Verwandlung - wird neu geboren - entsteht wieder in seinen Armen! - daran wird er zum Gott. Worüber in der Welt könnte eins zum Gott werden als über diesem Erlebnis?") wird „Briefwechsel. . a . 13 „Briefwechsel. .
a. O. S. 502 (Brief vom
14. 2. 1924).
a. a. O. S. 556 (etwa 10. 12. 1926).
Vergl. zur Synthese der Elemente Hans Heinrich Schaeder: „ H u g o V. Hofmannsthal", Neue Schweizer Rundschau 22, 1929, S. 579 f. Siehe Anhang. Vergl. Hofmannsthals Brief v o m 23.7. 1911, wo er (zur ersten Fassung!) schreibt: „Auch habe ich noch ein Vehikel, um diesen H a u p t p u n k t den Leuten näherzubringen: nämlidi die der Oper vorhergehende Prosaszene." („Briefwechsel. . .", a. a. O. S. 136.)
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am Ende selbst zum Verwandelten: „ich sehe jetzt alles mit anderen Augen! Die Tiefen des Daseins sind unermeßlidi!" — Die eigentlidie Oper ist in strengem Zweischritt komponiert: Najade, Dryade und Echo bezeichnen Anfang und Neubeginn und markieren durch ihren Auftritt die Grenzen. Wieder, wie schon so oft, geben Vorspiel und Einführung Stimmung und Situation an, ehe die Heldin selbst auftritt und in einem Lied das Schicksal ihres Lebens beschreibt. Wie die Jünglinge der frühen lyrischen Dramen lebt Ariadne an der Grenze von Wachen und Traum - Schatten streichen über sie hin, Traum vermisdit sich mit Wahrheit, und das Leben wird nur im Gleichnis des Leidens erfahren". Aber eben dieses Leiden unterscheidet die MinosTochter von Claudio und Andrea. Was ihnen versagt blieb, tödlicher Schmerz statt trister Erfahrung, düstere Krankheit statt Ekel und trübem Erstaunen: gerade das hat sie erfahren. Wie Chrysothemis möchte sie vergessen, aber nicht um weiterzuleben, sondern um einen Augenblick der Sammlung zu finden und dem Tod gefaßter entgegenschreiten zu können. Sie möchte vergessen, um wieder sie selbst zu werden und, ähnlich Chrysothemis, das Mädchen neu zu finden, das sie früher einmal war^®. Doch die Vergangenheit ist unauslotbar . . . was war, ist längs ein anderes geworden, und die Ariadne von einst ist nach der Begegnung mit Theseus nicht mehr erkennbar: „der Name ist verwachsen mit einem anderen Namen, ein Ding wächst so leicht ins andere, wehe!" Gerade weil Ariadne sidi treu bleiben will, findet sie, wie Elektra, nicht mehr sich selbst^®. Zwischen Gestern und Heute liegt die Tat: die Untreue des Geliebten, der Mord Agamemnons. Weder Erinnerung noch "
„Was hab' ich denn geträumt? W e h ! schon vergessen! / mein Kopf
behält nichts m e h r ; / nur Schatten streichen / durch einen Schatten hin. / Und dennoch, etwas zudtt dann auf und tut so w e h ! "
„Ariadne
auf
N a x o s " , Oper in einem Aufzug nebst einem Vorspiel von H u g o v. H o f mannsthal, neue Bearbeitung, Fürstner, Berlin-Paris, 1916, S. 43. Vergl. „Ariadne", H . v. H . : Ges. Werke . . . Prosa III, a. a. O. S. 138 ff., wo Hofmannsthal freilich um der Gemeinsamkeit Ariadne-Elektra willen die Verbindung Chrysothemis (die mit Zerbinetta konfrontiert wird) Ariadne außer acht läßt. "
Vergl. Naef, a. a. O. S. 152 ff.
—
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Vergessen geben das Gestern zurück, und deshalb geht gerade der Versuch, die Rasende durdi Zerstreuung zu heilen, am Wesen der Heldin vorbei und zeigt nur die Einsichtslosigkeit der Gegenspieler. Wo alles längst entschieden sdaeint und lediglich der Todeswunsdi der Ausgestoßenen bleibt („bald aber nahet ein Bote, Hermes heißen sie ihn"), glauben die verständigten Vielen, die Namenreichen, stets Zufriedenen immer noch an die Heilungskräfte trivialen Rausches in Musik und Tanz und an den banalen Werten des „Lebens" als oberster Instanz: „Leben mußt du, liebes Leben, leben nodi dies eine Mal!" Während Ariadne durch den Tod aus der Ungestalt ihres jetzigen Daseins erlöst zu werden hofft - „an dich werd ich mich ganz verlieren, bei dir wird Ariadne sein", - stimmen die Mitspieler den verwegenen Gesang des „alles kommt zum guten Ende" an^", den Preis jenes Vergessens, das nicht aus der Entzweiung herausführt und dem Menschen sich selbst zurückgibt, sondern von Elektra als tierisch und des Menschen unwürdig gebrandmarkt wird. Ein Vergessen, das sich allein auf den Augenblidc und die Impression der Sekunde, nicht aber auf die Dauer und Stetigkeit verantwortungsvollen Lebens zu richten versteht: „was immer Böses widerfuhr, die Zeit geht hin und tilgt die Spur." Wie in der Elektra scheiden sidi die Positionen am Verhältnis zur Zeit, nur daß die Antithese nicht Vergessen und Erinnern, sondern, differenzierter. Vergessen um seiner selbst willen und Vergessen um der Anamnesis willen heißt. Während Zerbinetta vergessen will, um für den nächsten bereit zu sein, strebt Ariadne nach Erlösung von der Widernatur ihrer augenblicklichen Situation: und auch das nur, um ihrer selbst, nicht eines anderen gewiß zu werden. Die plumpen Scäierze der commedia dell'arte-Helden dringen nodb nicht einmal in ihren GesichtsIn der Gegenüberstellung von „ausgesetzter" Zentralfigur und „verständigten" Nebenpersonen trifft Hofmannsthal das Grundproblem der großen Literatur zwisdien 1900 und 1920: K a f k a , Benn, Musil stellen das gleiche dar.
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kreis. Erst als die zum zweiten Mal auftretenden Najaden und Dryaden die Ankunft des göttlichen Kindes verkünden und Bacchus selbst, der von Circe nicht Verwandelte, auftritt, beginnt Ariadne, in erster Ahnung ungeheuren Geschehens, zum zweiten Mal zu sprechen. Von weither kündet sich das Mysterium der Verwandlung an: beide, Ariadne und Bacdius, stehen an der Schwelle der Erkenntnis, beide sind noch unverwandelt - Bacchus ist im Schmerz erster Erfahrung die Spanne zwischen Gott und Tier offenbar geworden, während Ariadne, von Theseus unerlöst, den Boten aller Boten als Herrn und Magister erwartet. Auch Bacdius erfährt nun das Wunder der Verwandlung, das ihm Circe nicht zu geben vermochte, auch er verfällt, um neu zu erstehen, der Seligkeit des Vergessens: „sprach ich von einem Trank, ich weiß nidits mehr." Wie er für Ariadne Verwandler ist, wird Ariadne für ihn zur Zauberin - beider Geschick ist nidit voneinander zu trennen. Beide erfahren in der Begegnung miteinander ein Drittes, dessen Existenz ihnen bisher verborgen war, jene Dimension des „Zwischen"®^ die sie zugleich erlöst und ganz zu sidi selbst führt: Bacdius: D u ! Alles du! Idi bin ein anderer, als ich war! Ariadne: Was bleibt, was bleibt von Ariadne? Laß meine Schmerzen nidit verloren sein!
In der Liebe wird der Todesbote zum Herrn des Lebens, die Geliebte zur Befreierin; Bacchus gelingt, was ödipus versagt blieb; Ariadne erfährt, was Jokaste ersehnte. Hofmannsthal selbst hat den hervorragenden Platz, den die „Ariadne" im Plan seines Werkes einnimmt, durch die Publikation des „Ariadne-Briefes" im „Almanadi für die musikalische Welt" vom Jahre 1912, über den Briefwechsel mit Richard Strauß hinaus, verdeutlicht und durch die Ausgestaltung seines Briefes vom Juli 1911 bewiesen, wie großes Gewicht er auf eine ^
In der Begegnung von „Ich" und „ D u " wird im Sinne von Piatons
siebentem Brief (341 D) eine Wahrheit enthüllt, die außerhalb lebendiger Begegnung, in Schrift und Lektüre, Monolog und egoistischer Besdiränkung, verborgen bleiben muß. Erst „dialogisches Leben" läßt den verborgenen
Zentralbereich
göttlicher
Mitte wieder
durchscheinen.
Vergl.
Martin Buber: „Das Problem des Menschen", Heidelberg 1948, S. 166 ff.
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authentische Interpretation der „Ariadne" legte^^. In der Tat wird sein ureigenstes, ihn seit den ersten Gedichten beschäftigendes Problem, „wie man von einer Sache zur anderen kommt", hier zum erstenmal nidit nur gestellt, sondern im Gleichnis der Begegnung von Mensch und Gott gelöst. Die Verwandlung, die Ariadne in Bacchus' Armen erfährt, und auf der anderen Seite die Metamorphose des göttlichen Kindes zum Gott bilden „den Lebenspunkt des Ganzen". Verwandlung ist für Hofmannsthal „das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur", denn Leben bedingt Vergessen und Veränderung, und Verharren bedeutet Stillstand und Tod. Verharren ist aber audi wieder die Vorausetzung menschlicher Würde, Stetigkeit verlangt Verzicht und Erinnern: „dies ist einer von den abgrundtiefen "Widersprüchen, über denen das Dasein aufgebaut ist, wie der delphische Tempel über seinem bodenlosen Erdspalt." Der Vergleich zwischen Ariadne und Elektra bietet sich an, und Hofmannsthal hat nicht gezögert, ihn zu ziehen, obgleich er wußte, daß eine solche Gegenüberstellung, wie alle Vergleiche, notwendig unvollkommen sein mußte. Ariadne will ja vergessen, Elektra dagegen nicht. Ariadne will In der Verwandlung zu sich selbst kommen, Elektra hingegen scheut den Blick nach außen, der ihr das eigene Los aus einer anderen Perspektive zeigen könnte. Zerbinetta „taumelt von einem Mann zum anderen", Chrysothemls denkt nicht an Treulosigkeit und nichtiges Haschen. Sie möchte eine Frau sein, sich verwandeln, und die Lebendigkeit zeitlichen Ablaufs an ihrem eigenen Schicksal erfahren: insofern steht sie genau in der Mitte zwisdien Ariadne und Zerbinetta. Es wäre also verfehlt, die Ähnlichkeiten stärker zu Abermals ein Grundphänomen der Diditung unseres Jahrhunderts: der Diditer ist zugleich Interpret und Selbstdeuter. Die Grenze von Wissenschaft und Dichtung wird, bei Hofmannsthal wie bei Musil und Thomas Mann, oder (um auch der anderen Künste zu gedenken) Paul Klee und Hindemith hinfällig — ein neuer poeta doctus scheint zu entstehen, und es ist nicht zufällig, daß von den Genannten zwei den Beruf des Hochschullehrers anstreben (Musil und Hofmannsthal), zwei ihn ausübten (Paul Klee und Hindemith).
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betonen als sie wirklich sind; Ariadne erfährt ein Schicksal, dessen Dimensionen in der „Elektra" noch nicht einmal angedeutet sind; Zerbinetta hingegen steht außerhalb jenes Raums, in dem die Gespräche der Schwestern den Umkreis menschlicher Erfahrung zu umspannen suchen - sie, die Treulose, von Augenblick zu Augenblick Springende, ist eher eine Transfiguration der Klytaimnestra ins Unbeschwert-Komische als eine späte Wiederholung der Chrysothemis. Das "Wichtigste aber ist, daß das Geschehen in der „Ariadne" beginnt, wo es in der „Elektra" endet: im Augenblick des Todes. Was im Drama von 1905 als letzte und äußerste Position menschlicher Treue beschrieben wurde, ist sedis Jahre später zur Ausgangsbasis geworden. Abschied ist Übergang, Tod wandelt sich in Leben, und die visionären Ahnungen, die Elektra kurz vor ihrem Ende überkommen: es könnte der Tod das seit der Kinderzeit Verschlossene öffnen und die verlorene Verbindung zwischen Idi und Welt, Mensch und Ewigkeit, wieder anknüpfen, werden in der „Ariadne" zu konkretem Erlebnis. Während Elektra sidi schon längst im Tempel ihrer Erinnerungen geopfert hat, erhält Ariadne, die (wie Elektra) Treue und dennoch (wie Chrysothemis) Vergessensbereite durch Bacchus mit der Liebe zugleich das Leben als neues Geschenk: „sie war gestorben und ist aufgelebt, ihre Seele ist in Wahrheit verwandelt." Bacchus ist in gleicher Weise Gegenspieler des Harlekin, wie Ariadne Gegenmacht der Zerbinetta - aber er ist mehr: ein Knabe, der sidi zum Gott wandelt, ein Held, der anderen zum Schicksal wird, nidit als Verniditer, wie Orest, und nicht als fluchbeladener Zerstörer, wie ödipus, sondern als Retter und altersloser Gott. Schicksal zu schaffen und Sdiidssal empfangen zu können, scheint seine geheimste Aufgabe, um die er ahnt und derer er sich würdig erweist, als er Circe verläßt, die kleine Stillung seiner großen Sehnsucht opfert, und die Todesbereite vollziehen läßt, was er der hingebenden Frau „um seines Platzes im Dasein willen" versagen mußte. Jahre später, nach 1916, hat Hofmannsthal die Interpretation des „Ariadne-Briefs" durch die Chiffren des geheimen Bor-
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dereaus ergänzt. Dabei erweist sich, daß er die Verwandlung durch die Liebe - wie sie sich in der „Ariadne", der „Danae", der „Frau ohne Schatten", der „ägyptischen Helena"^^ und den Komödien zeigt - als den höchsten Punkt, ja als die eigentlidie Vollendung des nidit-mystisdien Wegs aufgefaßt wissen wollte. Verwandlung durdi die Tat bedeutet Aufgabe seiner selbst, Verwandlung durch Liebe führt zur Wiedergeburt: „Verwandlung. — aber jenseits des Lebens: Ariadne. Wiedergeburt^^." Was in der „Frau ohne Sdiatten" zusammengefaßt und in der Bilderwelt des Märchens umschrieben wird, deutet sich in der „Ariadne" zum ersten Mal an: das allomatisdie Element, jenes geheimnisvolle Elixier, das Ich und Ich zugleich zerstört und auf höherer Ebene verbindet. Verwandlung ist gleichsam die Synthese von Vergessen und Treue, Beharren und Entsdilossenheit zur Selbstaufgabe; das genaue Gegenteil der „Zerstreuungs-Philosophie" Zerbinettas, aber auch die Überwindung jener verabsolutierten Treue, die Elektra - „ewig brütendes Gestern"^® - wie mit Ketten an die geschehene Tat schmiedet und ihr mit dem Blick über die Grenzen ihres verdunkelten Zimmers hinaus auch die Möglichkeit der Verwandlung nimmt. Von der „Ariadne" an bedeutet „Sich-Verwandeln" auch „Verwandeln eines Andern"^®, und nur die Liebe gestattet Verknüpfung mit der Welt^^. Nicht zufällig hat Hofmannsthal, ganz anders als Paul Ernst in seiner gleichzeitig entstandenen „Ariadne auf Naxos", bei der Darstellung des Mysteriums Bacchus-Ariadne auf die Überlieferung des griediischen Mythos Rücksicht genommen. „Die Kreuzung der mythischen Motive" oder „das Entgegenkommen mythischer Motive"^®, die er im Vergl. auch Semeies Schicksal in „Jupiter und Semele", H. v. H . : „Ges. Werke . . D r a m e n II, a. a. O. S. 504 ff. ^ „Ad me ipsum", a. a. O. S. 361. Josef Nadler: „Literaturgeschichte...", a . a . O . S. 925. Vergl. Walther Bredit: „Hugo v. Hofmannsthals Ad me ipsum und seine Bedeutung." Jb. d. fr. dtsch. Hchst. 1930, S. 342. „Hinzutretendes Hauptmotiv (mit welchem die Auflösung erfolgt): mit dem Sich-Verwandeln das Verwandeln eines Andern." „Ad me ipsum", a . a . O . S.365.
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Journal im Zusammenhang mit der Bacchus-Sage erwähnt, beziehen sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Geburt des Dionysos zurück („Vorgeschidite des Bacdius [Semelemotiv]"): Semele, Bacchus' Mutter, hatte sich ja auf Anraten der eifersüchtigen Hera gewünscht, Zeus, der oberste Gott und ihr Geliebter, möge sich ihr in seiner göttlichen Vollkommenheit zeigen, und da Zeus ihr die Erfüllung des Wunsches im voraus versprochen hatte, war er gezwungen, ihrem Wunsch zu willfahren. Als er sich ihr aber in seiner wahren Gestalt, unverhüllt, unter Blitz und Donner, zeigte, verbrannte Semele, von den Blitzen des Gottes getroffen, Zeus nähte das ungeborene Kind der Geliebten in seinen Schenkel ein und rettete auf diese Weise das Leben des Dionysos. Dieses Schicksal der Bacchus-Mutter wiederholt sidi abgewandelt in Ariadne. Audi sie sehnte den Gott herbei, aber nicht den Geliebten wie Semele, sondern Hermes, den Herrn des Totenschiffs. Auch ihr erscheint der Gott in seiner leibhaftigen Gestalt, aber nidit, um sie zu vernichten, sondern um ihr Leben und Liebe zu schenken. Semele wurde geliebt und erntete Tod; Ariadne wurde verlassen und erntete Leben. Die Variation zeigt deutlich, in wie tiefer, auf den ersten Blick unergründlicher Weise Hofmannsthal den griediischen Mythos übernommen und - ohne es auszusprechen - in der ihm gemäßen Art verändert hat. Zugleich wird ersichtlidi, wie die Verbindung von Liebe und Tod, auf die der Dichter immer wieder, am deutlidisten in der „Ägyptischen Helena", hingewiesen hat, bereits in der antiken Tradition im Kreis der Dionysos-Mythen vorgebildet ist. Nicht zufällig gehören Semele und Ariadne gerade deshalb so eng zusammen (hier ist „die Kreuzung der Motive" zu finden), weil sie beide von Dionysos aus der Unterwelt zum Olymp geführt wurden, um als Ariadne und Thyone durch den Segen des Gottes Unsterblidikeit zu empfangen. Einerlei woher Hofmannsthal zuerst der Einfall kam, ein „Ad me ipsum", a. a. O. S. 367. Das Lied des Bacdios enthüllt nidit nur eine Situation, sondern gleidinishaft das Sdiicksal eines ganzen Lebens. Im Sohn wiederholt sidi das Erlebnis der Mutter — Ariadne und Semele ersdieinen als Sdiwestern.
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Ariadne-Drama zu schreiben, - nach der Lektüre Hesiods, nach Catulls 64. Gedicht oder nach der Betrachtung von Tintorettos Gemälde im Dogenpalast zu Venedig - kein Zweifel kann daran bestehen, daß er mit der Übernahme nicht nur seine Gabe bewies, im rechten Augenblick den Stoff zu finden, den er brauchte, sondern auch ein Zeugnis für die fortwirkende und befruchtende Kraft jenes griechischen Mythos ablegte, in dem die Grundphänomene des Daseins nicht in Formeln und Abstraktionen, sondern im anschaulichen Gleichnis des Geschehens dargestellt wurden, so daß durch die Lucidität der konkreten Beschreibung „Liebe und Abschied so leicht auf die Schultern" gelegt sind, „als wären sie aus anderem Stoffe gemacht als bei uns." Gerade die Verbindung von Heiterkeit und Ernst, die Synthese vonCTTTovjSalovund ysAcTov, mit deren Hilfe Hofmannstahl die Erschütterung in freudige Hinnahme und die lächelnde Beteiligung in wissende Ahnung verwandelte, läßt ihn den Griechen nahe sein. Tragödie und Satyrspiel sind zu Mysterium und Harlekinade geworden, und die Einheit von docere und delectare, die Kommunikation von erbaulichem Ernst und scherzhafter Überredung, scheint in der „Ariadne" nach langer Trennung der verwandten Bereiche wieder hergestellt zu sein. Über „Elektra" und „ödipus" hinaus ist, in enger Verbindung mit der Musik, ein Element hinzugekommen, das das dramatische Spiel wie im Frühwerk durch den Glanz einer lyrischen Spradie erhellt und zugleidi der dunklen Tragödienwelt ein Gran von vergeistigter Lucidität verleiht. In der „Ariadne" gewinnt der Diditer zum ersten Mal den Anschluß an die Lorisjahre wieder; erst jetzt, in der Symmetrie von Drama und Lyrik, erweist sich die Schärfung seines am Vorbild der griechisdien Tragödie geschulten Blicks für Antithesen und kühne Konfigurationen. Was in der „Elektra" und in „ödipus und die Sphinx" Vergleichen und Entgegensetzen war, Parallelismus und Kontrast, wird in der „Ariadne" zum bezugreichen Wechselspiel. Es bedurfte der Zusamenarbeit mit dem Komponisten, um jenes „allomatische" Moment zu finden, mit dessen Hilfe das oratorisdie Element, dessen letzte Spuren sich im
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Verhältnis von Zerblnetta und Arladne zeigen, überwunden werden konnte. Was dem Manne versagt bleibt, Hingabe und Opfer, gelingt der Frau. Nur Weibliches kann die Versöhnung erzwingen, weil es bereit ist, dorthin zu gehen, wo man es vernichten kann^®. Vollendet wird die Erlösung im Kind . . . im Zeichen Hermiones umarmen sidi die getrennten Gatten der „Ägyptisdien Helena"; dem Ruf der Kinder folgt die Kaiserin; Bacchus, der Knabe, verwandelt den Tod in Liebe. Männliches vermag erlöst zu werden; aber nur von außen und beinahe - man denke an Menelaos, aber auch an Kari Bühl - gegen seinen eigenen Willen. In der Mitte von „Alkestis" und „Helena" hat Hofmannsthal mit der „Ariadne" eine Gestalt geschaffen, der in liebender Hingabe, ohne Zutun eines Dritten^", gelingt, was die Aufzeichnungen als Geburt zum Sein bezeichnen: „ein platonisdier Terminus: yeveais eI; oCiafav Erzeugung zum Sein"^^ DIE ÄGYPTISCHE HELENA In der Entstehungsgeschichte der „Ägyptischen Helena", Hofmannsthals letztem auf einen antiken Vorwurf zurückgehenden Schauspiel, wiederholt sidi die Genesis der „Ariadne" in geheimnisvoller Weise. Wieder sdieint es sich anfangs, wie Gespräch und erste Andeutungen vom April 1923^ bezeugen, um ein Nebenwerk, einen kleinen dreiaktigen Spaß zu handeln. „Weibliches will hin, wo Weibliches Vernichtung findec." H . v. H : Ges. Werke . . . Dramen II, a. a. O. S. 505. Eines Dritten: wie Herakles in der „Alkestis". Der Fortschritt zeigt sich in der Überwindung der „deus-ex-machina-Lösung" zugunsten einer „inneren" Dramatik. Corona 6, a. a. O. S. 62. 1 Vergl. „ B r i e f w e c h s e l . . a . a. O. S. 476 (Hofmannsthals Brief vom I . A p r i l 1923 aus Rodaun): „Der kleinen leichten Oper einen hübschen und geistreichen kurzen dritten A k t zu ersinnen . . . schreckt mich gar nicht — als das Schwierige an meiner Aufgabe erscheint mir nur das Finden des Stils. . V e r g l . zur „Helena" auch F. Gys: „Richard Strauß", Potsdam 1934, S. 138 ff.
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„Der Stil muß leicht sein, manchmal der Konversation so nahe wie im „Ariadne"-Vorspiel, manchmal nähert er sich der Konversationsszene des „Rosenkavalier"; nie geht er so ins Schwere wie „Ariadne" (Oper). Aber es ist reichlich Gelegenheit zu Duetten und zu Terzetten. Diese lyrischen Stellen werden sich, wenn mir der Text nicht mißlingt, deutlidi von der leichten, oft psychologisch feinen Konversation unterscheiden. J e leichter, ja leichtsinniger Sie die Arbeit nehmen, desto besser wird sie werden Heiterkeit, Scherz und Sdiwerelosigkeit sind also die Paten der „Helena", Pathos und Pomp dagegen sollen um jeden Preis vermieden werden: „Die Hauptsadie ist, daß das Ganze leicht bleibt. Es ist ein heroischer Stoff, aber lustspielhaft behandelt; das muß den Stil durchaus bestimmen, auch dort, wo der Text im einzelnen verführen könnte (aber nur einen minderen als Sie) ins „Musikdrama" hinüberzugleiten. Geschähe das, wäre alles verloren®." Leidit, wie Tenor und Stimmung, geht auch die Arbeit. Schon im November 1923 ist Hofmannsthal bei der Ausführung des zweiten Akts, Anfang Dezember werden die ersten Seiten a b g e s d i ü t , und je länger die Arbeit dauert, desto mehr schält sich das Eigentliche des Stoffs, die Bedeutung von Ehe, Treue und Liebe heraus, die audi in der „Ariadne" entwickelt wurde. Zwar werden Schwank und operettenhafte Leichtigkeit nicht aufgegeben; aber daneben kristallisiert sich doch ein Element von zarter Poesie und Sinnhaftigkeit heraus, das Hofmannsthal, im Gegensatz zum Konversationsstil, als das „höhere Lyrische" bezeichnet, dem es alle Aufmerksamkeit zu schenken gelte: „ich war im Anfang des Schreibens mir nodi nicht klar, wie sehr der zweite Akt ins höhere Lyrische geht. Aber alles trotzdem noch Verbliebene an Lustspielhaftem, Konversationellem ist sehr wertvoll; aus diesem Doppelten ergibt sich die Neuheit des Genre und der zarte "Wert derSache^." Wieder, wie in der „Ariadne", kommt alles auf ^ „Briefwechsel . . . " , a. a. O . S. 479 ff. (Brief v o m 14. 9. 1923). ® „ B r i e f w e c h s e l . . . " , a . a . O . S. 486 ff. (Brief v o m
16.10.1923).
* „Briefwechsel . . .", a. a. O . S. 496. (Brief v o n A n f a n g 1924. D i e tierung ist unsicher.)
Da-
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III
die Verbindung von Sdierz und Ernst, opera seria und opera buffa a n . . n u r daß im Fall der „Helena" nicht ein Vorspiel die entworfenen Linien verdeutlichen kann, sondern sidi alles aus Verweisen, aus Andeutungen, gleichnishaften Verkürzungen und Analogien von Motiven und Situationen ergeben muß. Jeglicher Naturalismus wird dabei streng vermieden; je schneller die Arbeit vorangeht, desto mehr muß Hofmannsthal, um den Musiker nicht in die Irre zu führen, das psychologische Konversationsstück zugunsten eines mythischen Vorgangs verändern - nur kein krasses Ausspielen, keine nackte Dialektik und keine realistischen Hinweise: „Nur nichts vom billigen ,Orient' der heutigen Musikwelt. Ich habe keinen geographischen Begriff hineingezogen, der nicht griechische Antike wäre! Atlas, Ägypten, Libyen - das alles wird im Pindar und im Aischylus erwähnt. Gerade daß Sie diese bunte Farbe meiden wollen, darin liegt mir die Gewähr des Hohen, das erreicht werden kann®." Am Ende, als das Drama nach mancherlei Schwierigkeiten^ fertig ist und am 6. Juni 1928 unter der Leitung von Fritz Busch am Dresdener Opernhaus aufgeführt werden kann, ist vom „psychologischen Konversationsstück" des Jahres 1923 ebensowenig übriggeblieben wie im Oktober 1916 von den ersten Entwürfen zur „Ariadne". - In seinem Aufsatz über die „Ägyptische Helena", einem halb fiktiven Gespräch mit Richard Strauß, hat Hofmannsthal auf den entsdiei® Vergl. Hans Heinrich Sdiaeder: „ H u g o v. Hofmannsthal", Neue Sdiweizer Rundschau 22, 1929, S . 5 7 9 f F . und S. 582: „In der ,Ägyptisdien Helena' gelangt die mythologische Oper zur Reife." « „ B r i e f w e d i s e l . . . " , a. a. O. S. 532 ff. (Brief v o m 30. 6. 1925). Die Verzögerungen ergaben sich vor allem aus stilistischen Erwägungen — die Übereinkunft von poetischem und musikalischem Element erwies sich schwieriger als bei früheren Arbeiten — und immer neuen Variationen Hofmannsthals, der begierig jede Anregung von außen annahm . . . vor allem den Vorschlag des späteren Prager Intendanten Dr. Paul Eger, am Schluß eine Apotheose Poseidons und ein göttliches Nachspiel Aithra—Poseidon einzufügen. Strauß' Reaktion (eine nicht auftretende Nebenperson darf gegen Schluß nicht als Höhepunkt neu eingeführt werden) beweist den großen dramatischen Instinkt des K o m p o nisten, der den Dichter mehr als einmal auf die vorgeschriebene Bahn zurücklenkte. (Vergl. „ B r i e f w e c h s e l . . a . a. O. S. 550—S. 554.)
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denden Unterschied zwischen dem Konversationsstück amerikanischer oder französischer Provenienz und seinen eigenen Absichten hingewiesen: nicht der zweckhafte, zielgerichtete Dialog, sondern die Andeutungen außerhalb der direkten Mitteilung seien das Entscheidende. Allein durch die Kunstmittel des lyrischen Dramas, nicht durch „natürliche" Rede, durch gleichnishafte Verkürzungen, nidit durdi unvermittelte Ausspradien, durch Symbol und Ausdruck, nidit durch Mitteilung könne jene mythische Ebene dargestellt werden, auf der sich das Leben der Gegenwart in Wahrheit vollzöge: „Denn wenn sie etwas ist, diese Gegenwart, so ist sie mythisch - idi weiß keinen anderen Ausdruck für eine Existenz, die sidi vor so ungeheuren Horizonten vollzieht — für dieses Umgebensein mit Jahrtausenden, für dies Hereinfluten von Orient und Okzident in unser Ich, für diese ungeheure innere Weite, diese rasenden inneren Spannungen, dieses Hier und Anderswo, das die Signatur unseres Lebens ist. Es ist nicht möglich, dies in bürgerlidien Dialogen aufzufangen. Madien wir mythologische Opern, es ist die wahrste aller Formen. Sie können mir glauben®." Verkürzte Gleichnisse statt Zweckdialogen; Chiffren statt Mitteilungen; Gestalten statt Reden; motivisdie Hinweise statt realistischer Projektion; Umkleidung und Zauber statt Nacktheit und Natürlichkeit; Wunder und Geheimnis statt Dialektik und Soziologie; Motiv Verstrickung und Schattierung des Tonfalls statt Aussprache und Kalkül: mit Recht betont der Musiker, daß der Dichter hier seine Grenze überschreite und das Drama Musik werden lasse. Aber gerade darauf kam es H o f mannsthal an, weil er wußte, daß die griechische Tragödie gesungen wurde, und deshalb mit Nachdruck eine Kunstform anstrebte, in der sich Wort und Musik, Drama und Lyrik zu neuer Einheit verbänden . . . einer Synthese von Chiffre und Ton, in der allein „das Maximum unserer kosmisch bewegten, Zeiten und Räume umspannenden Mensdiennatur eingefangen" werden konnte. Er wußte aber auch, daß nur mit Hilfe des griechischen Mythos, in dem die Grundphänomene menschlicher Er® Hugo V. Hofmannsthal: „Die ägyptisdie Helena", Insel-Almanadi auf das Jahr 1929, S. 89 ff.
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fahrung als konkret-bildhafte Geschehnisse und in Erzählungen faßbare Vorgänge begriffen wurden, jene Vielfalt der Räume und Zeiten umspannt werden kann, deren Besitz dem Mensdien der Gegenwart zu etwas Selbstverständlidiem geworden ist. Allein die mythische Sprache reicht hin, um jenes „Umgebensein mit Jahrtausenden", von dem Hofmannsthal spricht, jenes „Hier und Anderswo, das die Signatur unseres Lebens ist", im Gleichnis des verbindlidien Bildes einzufangen^. Nidit zufällig greift der Dichter, um ein modernes Phänomen zu analysieren - die Einzigartigkeit einer Erfahrung, die weder an Raum noch an Zeit gebunden ist, sondern hier und dort, im Abendland und im Morgenland gleich wirksam ist, - gerade auf Homer zurück. Er, der früheste Sänger Europas, war der erste, der im vierten Gesang der Odyssee die Geschichte der heimgekehrten Helena erzählte - eine Fabel, die später, nach Stesichoros' Palinodie^", Euripides veränderte, indem er die Heimgekehrte als die rein Bewahrte beschwor, die, während Freund und Feind, Griechen und Troer, sich durch ein Trugbild täusdien ließen, von Hera am Hof des Königs Proteus von Ägypten verborgen wurde. ® Vergl. Grete Schaeder: „Hofmannsthals Weg zur Tragödie", a. a. O. S. 324. ^^ Die Vorstellung vom T r a u m b i l d findet sich zuerst bei Hesiod fr. 266 R z . (Vergl. zum ei'ScoAov auch Homer E 449 und A 602.) Die Fortentwicklung des Motivs nach Stesichoros läßt sich bei Herodot II, 113 ff. verfolgen. Den Gedanken, daß Helena in Ägypten weilt, während man bei Troja um ein Trugbild kämpft, hat Stesichoros noch nicht; die Vorstellung k a m unter Umständen durch Vermittlung ägyptischer Priester in die Literatur des fünften Jahrhunderts. Euripides' Interpretation geht zugleich auf Stesichoros (EISCOAOV-Motiv) und Herodot (ägyptisdher A u f enthalt) zurück. (Vergl. hierzu E. Preuß: „De Euripidis Helena", Diss. Leipzig 1911.) Vergl. zum einzelnen Sdimid-Stählin: „Griechische Literaturgeschichte", im Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft VII, 1, 1, S. 471 ff. und VII, 1, 3, S. 501 ff. Die auf Homer (P. 161 ff.) zurückgehende Vorstellung von der reuigen Selbstanklägerin hat Euripides zur Darstellung der Unschuldig-Treuen weiterentwickelt. Hier setzt Hofmannsthal ein, der Euripides wie Homer als Quelle benutzt und die sympathische Seite der Helena, — auf Kosten Theonoes = Aithras — so weit verstärkt, daß ihr am Ende auch der T r u g nidit mehr angemessen erscheint. Jens 8
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Hofmannsthal nun, der moderne Dichter, hat, wie Euripides, die Diskrepanz zwischen dem furchtbaren Geschehen - Betrug, Ehebruch und Kjrieg - und der gelassenen Restauration, von der uns das Delta der Odyssee berichtet, deutlidi empfunden und deshalb auch die Konsequenz der euripideischen Version gebilligt, ohne sich mit der Fabel selbst identifizieren zu können: wie sollte, was in der Odyssee friedlich geordnet schien, allein durch List und Trug zustande gekommen sein? Durften Krieg, Angst und Not, Wiedersehen und Rückkehr, Irrfahrt und Neubeginn in der alten Heimat wirklich nur Ergebnis eines Götterbetrugs sein? Bedeutungsvolleres als Trug und Hinterlist mußte geschehen sein^^, ehe die durch Schuld und Treulosigkeit getrennten Gatten wieder zusammenkamen. Sollte die Gemeinschaft der wieder vereinten Gatten nidit zur Farce, Menalaos' Kampf um Helena nicht zur Hanswurstiade werden, dann mußte die Vorstellung des Trugbilds aufgegeben und durch einen Vorgang ersetzt werden, der Eroberer und Eroberte, Sieger und Gedemütigte in einer Weise aneinanderband, daß die Neuvermählung der scheinbar auf ewig Getrennten glaubhaft und sinnvoll wurde. Zwischen der Eroberung Trojas und dem Neubeginn in Sparta mußte etwas geschehen sein, das die Trennung der zehn Jahre zunichte machte und Helena und Menelaos auf höherer Ebene zusammenführte. Was also ereignete sich nach jener unheilvollen Nacht, als die Griechen Troja besetzten und Menelaos in Priamos' Palast der Treulos-Geliebten begegnete?^^ Wohin führte er sie? Mußte er, der Sieger, sich nicht für die Jahre der Mühsal, den Tod so vieler Helden, für die Trauer der Griechen und die Entbehrungen des Krieges zu rächen suchen, indem er Helena tötete? Was geschah in jenem Moment, da der Mordbereite sich durch Liebe überwinden ließ und aus Drohung und Rachsucht neue Verbindung entstand? Nicht durch Zauber und Magie, sondern allein durch Verwandlung konnte ein Neues entstehen: in Menelaos mußten sich Mann und Frau, Abendland und Mor"
Vergl. Naef, a. a. O. S. 214.
^^ Vergl. Hofmannsthal: a. a. O. S. 92 f.
„Die
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Helena",
Insel-AlmanacJi
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genland^®, Ordnung und Dämonie, Satzung und Regellosigkeit so innig verbinden, daß die Vorgeschichte am Ende zur conditio sine qua non einer höheren Gemeinsdiaft wurde. Beide mußten sich opfern: Menelaos, indem er verzieh, Helena, indem sie sich selbst zugunsten von Ordnung und sittlidier Verpflichtung aufgab. Beide mußten aber vor allem zueinander finden, ohne das Vergangene zu vergessen, mußten sich wandeln, ohne der heilsamen Kraft der Erinnerung zu entraten. Wie in der „Ariadne" sind Vergessen und Erinnerung, Zeitverlorenheit und Zeitbesinnung die tragenden Pfeiler der Handlung. Wieder stehen Zerstreuen und Vergeßlidikeit als die dämonischen Gegenkräfte geordneten Lebens im Mittelpunkt des Gesdiehens. Aithra, die Zauberin^^, möchte sich über die Abwesenheit ihres Geliebten, Poseidon, hinwegtrösten - ein Zaubermittel bietet sich an, ein Fläschchen, das Vergessen schenkt und das Verlorene in Traum und Dämmer wiederfinden läßt. Ein halbes Vergessen wird sanftes Erinnern; du fühlest im Innern dir wiedergegeben den göttlichen Mann!
Aber Aithra will sich nicht betäuben. Es gibt andere Mittel gegen Bewußtheit und Helle: Zerstreuung und Gesellsdiaft. Auch Gesdiiditen und Bilder sdiaffen Vergessen - ein Schiff, eine sdilafende Frau, ein Mann, der einen Mord begehen will: im Nu ist Aithra beteiligt, schickt einen Sturm, rettet die Frau und läßt Helena und Paris, von Fackeln begleitet, in ihren Siehe Anhang. Aithra, die Zauberin, erinnert von fern an die göttliche Seherin Theonoe bei Euripides. (Vergl. Anm. 10.) Aber während Theonoes Rat Helena wirklich v o m Verderben errettet, bringt A i t h r a nur scheinbare, auf die Dauer unwirksame Hilfe. Tertium comparationis zwischen A i t h r a und ihrem griediisdien Vorbild ist die Macht und das Ansehen der Frau, die mit den Göttern im Bunde steht. Im übrigen hat Hofmannsthal die — im Vergleich mit ihrem Bruder Theoklymenos doppelt erkennbare — reine Gesinnung der Priesterin ins Pfiffig-Schlaue, Listenreich-Kompromißlerische verwandelt.
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Palast führen. Das Spiel von Elektra und Chrysothemis, Ariadne und Zerbinetta sdieint sich zu wiederholen: wieder ist der eine, Menelaos, ganz auf die Vergangenheit - die ihm angetane Sdimach und den Betrug seiner Frau - bezogen, währen die andere, Helena, Herrin der Situation und Meisterin des Augenblicks, nodi die Todesdrohungen mit einem koketten Vers zu beantworten weiß. Menelaos lebt allein im Gestern („Du warst eine Schwägerin ohnegleichen"), Helena dagegen^® im Heute („aber du bist der Beglückte, denn sie alle sind tot und du bist mein Herr!"), so sehr, daß sie über dem Augenblick alles, was sie bis zur Sekunde der Gegenwart hinführt, vergessen zu haben scheint: „sieh mir ins Gesicht - und laß alles, was war, alles, alles, außer diesem, daß ich dein bin'®!" In der Tat variiert Hofmannsthal das Grundproblem seiner Dichtung: das Verhältnis von Sein und Werden, hier zum ersten Mal nicht am Beispiel von zwei Frauen, sondern (wie in der „Frau ohne Schatten") an jener Antithetik von Mann und Frau, die sich nicht nur in einer grundsätzlidi verschiedenen Zeitauffassung, sondern auch im Verhältnis zu Natur, Mensch und Ding zeigt. Was Helena hilft, ist Menelaos verderblich, und was ihn unterstützt, bringt ihr Verderbnis und Untergang. Während Chrysothemis und Elektra sich immer noch auf eine gemeinsame Ausgangsposition beziehen konnten, leben Menelaos und Helena in vollkommen getrennten Bereichen. Sie entzweien sich nidit nur an einem bestimmten Punkt, zerfallen nicht über einem Faktum in Hader und Streit - sie leben in Welten, von deren Existenz sie gegenseitig kaum etwas ahnen. Abendland und Morgenland, Mann und Frau, Sonne und Erde, Licht und Dunkel, Leben und Tod: die Urgegensätze des Seins selbst prallen in ihnen aufeinander . . . Antithesen, die nach Mord und Opfer, Tat und Hingabe, männlichem Zugriff und Helena mutet wie eine Vereinigung von Ariadne und Chrysothemis an. Sie wandelt sich, gibt sich auf, wird ganz sie selbst (wie Ariadne) und bleibt doch immer, wie Chrysothemis, auf der H ö h e der Situation, im geheimen Bündnis mit der realen Zeit. H u g o V. Hofmannsthal: „Die ägyptische Helena", Fürstner, Berlin 1928, S. 21.
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weiblicher Eröffnung verlangen. Wäre nicht Trug und Zauberei, hätten die Elfen nicht Menelaos ein Kampfgetümmel vorgegaukelt, wäre nicht Helena - „ein halbes Vergessen bringt sanftes Erinnern" - von Aithra gerettet worden: der Mord wäre nicht nur im Traum, sondern in Wahrheit vollzogen worden. So aber lenkt die Zauberei die Sinne ab, Menelaos trinkt den Trank des Vergessens und erfährt von Aithra das Märchen vom Luftgespinst, das Paris nach Troja entführte, während die wahre Helena sich am Hang des Atlas in sicherer Obhut befand. Verzaubert, scheinbar sich selbst zurückgegeben, zeitversunken und im Gestern heimisch, gewahrt Menelaos die geliebte Frau: „Die ich zurückließ auf meinem Berge, die ich zu denken nie gewagt, die Jungfrau, die Fürstin, die Gattin, die Freundin! O Tag aus dem Jenseits, der nächtlich mir tagt!" Helena aber sieht tiefer; sie weiß, daß die Verzauberung an Trank und Augenblick geknüpft ist und erwartet angstvoll die Stunde des Erwachens, in der die Schatten der Vergangenheit wieder wachsen werden: „mir bangt vor dem Alten! Laß mich midi freuen, laß midi ihn halten!" Mitten in der Verzauberung beginnt sie zu ahnen, daß die ihr gesetzte Frist nur kurz, zudem an die Existenz des Elexiers gebunden ist; einzig ein Ort im Nirgendwo, eine Stätte, wo niemand sie kennt und niemand von ihren Schicksalen weiß, kann den Augenblidi eine Weile verlängern: ^^ niemand uns kennt, wo Helenas N a m e ein leerer Hauch wie Vogellaut, wo von T r o j a nie kein Ohr vernahm, dort birg uns der Welt für kurze Frist, vermagst du das audi?
Gesagt, getan; ein Zaubermantel führt die Liebenden fort. Erwachend finden sie sidi in einem Zelt zu Füßen des hohen A t l a s . . . . in einer Welt, wo tatsächlich niemand sie kennt. Aber Helenas Hoffnung, den Augenblick der Verzauberung zu verlängern, erweist sich als Trug, denn Menelaos, statt neugeboren zu sein, erblickt in Helena, der geliebten Frau, nur das
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Wunder eines Gaukelspiels, ein luftzartes Gleichnis . . . die wirklidie Helena ist tot, und er selbst hat sie getötet. Die Schatten der Vergangenheit sind drohend und nah, umsonst das Vergessen, vergeblich der Trank der Zauberin'^. Im Moment zwar herrsdit ruhiger Friede, aber das Gestern bleibt wirklich und wahr, und der Schritt aus dem dunklen Reidi des Vergangenen in die Helle der Gegenwart ist unbegreifbar. Das Wissen um den Übergang fehlt, und deshalb findet Menelaos keine Ruhe: was war und was ist schließen sich nicht zusammen, der Trank, der ihn sidi selbst wiedergeben sollte, hat ihn nur weiter von sich entfernt: „Doch welch ein Trank ward mir gegeben? Wie sänftigt' jäh er meine Wut? Wie fand ich Kraft, mich neu zu heben, dich zu empfangen wie den Mut?" Der Becher gehört ins Reich der Magie, allein das Sdiwert ist greifbar und nah^®. Wirklicher im euripideischen Sinne scheint das leidvoll Erfahrene, das Wissen um Kampf und leidvolle Sehnsucht nach der geliebten Frau, als der Widersdiein der Luftsirene: „o süßes Gebild zu trüglicher Wonne gesponnen aus der flirrenden Sonne - Luftsirene! nicht nahe dich! den Arm nicht dehne! nicht fahe midi!" Das von Helena angstvoll Vermutete hat sich bestätigt - statt Vereinigung zu schaffen hat der Vergessenstrank „die Falsche dem Falschen vermählt", die Sirene dem halb erwachten und vor lauter Zauber selbstvergessenen Mann. Auch die Liebeswerbung Altairs, des Fürsten der Berge, und seines Sohns, des knabengleichen Da-ud, können Menelaos nicht überzeugen, daß die Aufführung eines echten Helena-Schauspiels notwendig audi die wahre Helena " Wie in der „Frau ohne Schatten" wird die Märchenwelt, das Reich des Zaubers und der Magie, durch die Einordnung ins Wirkliche überwunden. Menelaos befindet sich im Zustand der Jünglinge, die die Präexistenz verlassen haben: die Vorwelt der Trance genügt nicht, die Stillung reichte nidit hin — die Entschlossenen verlangt es nach Wirklichkeit und klarer Bewußtheit. Im T u n vergewissert sich der Mensch ständig seiner eigenen Existenz. T u n kann also Ausdrude der Unsicherheit sein, genau wie die Antizipation. Einzig Vertrauen, allomatische Bindung, überwindet die ExistenzUnsicherheit. Der Standpunkt Elektras „Der ist selig, der tuen darf" wird durch Menelaos widerlegt. Es gibt auch einen Bund von T a t und T r a u m .
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als Protagonistin haben muß: zwar kommen ihm Vergleiche zwisdien der Werbung Altairs und der Verzückung der Könige, als Helena auf den Zinnen von Troja stand, aber die Erinnerung bleibt im Raum des Gleichnisses und sdiafft dem Traumbild keine Wirklichkeit. Helena, der Zeitlosen, fehlt es an Schwere und aus Erfahrung gewonnenem Schicksal. Ihr Blick scheint dem leidvoll Verstrickten „zu jung und zu wenig umnachtet". Menelaos, dem Vielerfahrenen, verwirren sich Gestern und Morgen, Erleben und Hoffnung, Ahnung und Wissen. Der jahrelange Kampf, die Eroberung Trojas, der „Mord" an Helena, die Entrückung, der Anblick des unversehrten Spiegels, die Werbung der Wüstenbewohner - alles ersdieint ihm als bunter Traum, unbegreiflidi und fremd: „Ein fremder Knabe! Ein fremdes Weib! Ein fremdes Land! Ein Abenteuer! Ein bunter Traum! und Hörner laden zur J a g d . " Noch einmal wiederholt sidi der Scheinmord an Paris, jetzt aber faktisch, da nicht die Elfen ein Kriegsgetümmel inszenieren, sondern Da-ud dem Rasenden als wiedergeborener Verführer erscheint, den er verfolgt und tötet. Das Schwert bleibt für Menelaos die einzige Realität: „vergib mir, Göttin: dies Sdiwert und ich, wir beide gehören zusammen." Gerade das halbe Vergessen ist sein Verderben, denn es zwingt ihn, das Getane und doch wieder nicht Getane, das Geahnte, aber nicht Erlebte immer neu zu wiederholen. Um seiner inne zu werden, trachtet er nadi ständiger Betätigung, denn was gestern geschah, braucht morgen nicht mehr gültig zu sein. Nirgendwo ist Halt und Festigkeit: „Denn wer wegging zur Jagd und kehrt heim zum Weibe - er kann nie wissen, ob er die gleiche wiederfindet!" Helena weiß, daß einzig Wiedererinnern Menelaos zu sidi zurückführen und den Schwebezustand, in dem er sich befindet, aufheben kann, und deshalb bittet sie Aithra um jenen Trank, den ihr die Zauberin warnend vorenthalten möchte, das Elexier der Erinnerung. Nur Anamnesis schafft Leben und Wissen um Wirklidikeit, die Helena, als Tot-Lebendige, um jeden Preis erstrebt. Der Vergessenstrank bewahrte ihr Leben und ließ sie dodi tot sein; das Elexier der Erinnerung kann ihren Tod bedeuten, aber bevor sie stirbt, wird sie leben dürfen;
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die Tot-Lebendige wird zur Lebendig-Toten werden. Was nützt ihr das Leben, wenn Menelaos glaubt, mit ihr die wahre Helena betrogen zu haben? Was nützt süßes Vergessen, wenn die Verbindung Luftgespinst und Gleichnis ist, da allein der bittere Trank der Erinnerung, selbst um den Preis des Todes, Leben sdienkt? Lächelnd weist Helena die Bedenken der Zauberin zurück, lächelnd versagt sie sich Altairs Werbung: und Menelaos versteht. Im Augenblick, da Helena entsdilossen ist, alles zu wagen, schiebt er die Zauberin beiseite und überläßt sich, ein Todesmyste wie Herakles, dem Wunder der Verwandlung. Die unnahbare Stunde, da Leben in Tod und Tod in Leben umschlägt, die Stunde der „Ariadne", wiederholt sich am Sdiluß der „Ägyptischen Helena". Um zu sühnen und den Mord seiner Frau an sich selbst zu vergelten, empfängt Menelaos aus den Händen der Sühnepriesterin den Trank des Todes. Lächelnd opfert er sidi, um im Tod die Geliebte wiederzufinden und für immer mit der Gattin vereinigt zu bleiben. Ein Traum war, was ihn mit Helenas Ebenbild verband, Wahrheit liegt allein in der Rückkehr zur Toten: „hast du mich jemals besessen? Laß mich der Toten und lebe!" Aber nicht Hermes, sondern Dionysos, nicht Hades, sondern Helena zeigt sich dem Erinnerungstrunkenen, nachdem er den Becher geleert. Noch einmal ist das Schwert das Nächste, als Menelaos erwacht und auf Helena eindringt; aber dann erkennt er die Wandlung von Leben und Tod, das Trugbild wird zum Schatten, der Schatten zur erkannten Frau, und in der Liebe zu der Treulos-Treuen, durdi Reue Verwandelten wiederholt sich der Jubel der Ariadne. Die Gegensätze verbinden sich zu höherer Einheit, und Hermione, das Kind, symbolisiert, mitten auf der Bühne von vollem Licht getroffen, die Versöhnung der Gatten. Wie „Ariadne" ist audi „die ägyptische Helena" in strenger Weise zweigeteilt^®. Vergessen und Zerstreuung, Trug und Täuschung versagen - das ist in jedem Fall das Resultat des ersten Teils. Zerbinettas Lied und Aithras Trank erlösen die Umschatteten (Ariadne und Menelaos) nicht aus ihrer Qual. Zur HeiVergl. dazu Grete Schaeder: „Die Gestalten", a. a. O. S. 151 und vor allem Hugo v. Hofmannsthal in der „Literarischen Welt" vom 26. 2. 1926.
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lung bedarf es der Liebe. Erst Treue und Beständigkeit schaffen die Voraussetzung zur Verwandlung. Freilich geht die „Ägyptische Helena' in diesem Punkt noch weit über die „Ariadne" hinaus, denn während Ariadne sich erst durch die Aufgabe ihrer unglücklichen Vergangenheit auf höherer Ebene wieder gewinnt, werden Helena und Menelaos gerade durch das Bekenntnis zum Gewesenen, durch die Hineinnahme von Irrung und Verfehlung in das Glück des Augenblicks, verwandelt. Ariadne überwindet ihre Enttäuschung durch neue Liebe, Helena und Menelaos erneuern das schon bestehende Band. Nicht Liebe, sondern Ehe^®, nicht Verwandlung, sondern Neugewinnung schafft Erlösung^i. Ariadne und Bacchus, Helena und Menelaos werden im Augenblick des vermeintlidien Todes vereint; aber während Ariadne und Bacchus von fernher aufeinander zukommen, sind Helena und Menelaos von Anfang an für einander bestimmt. Ariadne bleibt in aller Verwandlung was sie immer war; Helena dagegen überwindet ihre Zwienatur und wandelt sich vom unsteten Dämon zur liebenden Gattin. Bacchos ist ein göttlicher Knabe, der durdi Ariadne zum ersten Mal seiner Bestimmung inne wird; Menelos dagegen erscheint als leiderprobter und viel erfahrener Mann, der nicht der Begegnung mit der Geliebten, sondern der Heilung durch die wiedergeschenkte Frau bedarf. Ariadne und Helena überwinden Zerstreuung und Trug; Bacdbos und Menelaos entziehen sidi der Verführung durch Circe und Helenas Traumbild zugunsten verwandelnder Liebe und Gattenpflidit. Die Gegenüberstellung erweist, wie Hofmannsthal das in der „Ariadne" Angedeutete in der „Helena" auf höherer Ebene löst. Die allomatische Verbindung vollzieht sicJi nicht im Rausch der ersten Liebe, sondern im verpfliciitenden Bekenntnis der Gatten. In der „Helena" sind die beiden Sphären der „Ariadne", das heitere und das seriöse Element, auf eine ein„Der Sinn der Ehe ist -wediselseitige Auflösung und Palingenesie. W a h r e Ehe ist darum nur durch den T o d lösbar, ja eigentlich auch durch diesen nicht." Buch der Freunde, a. a. O. S. 31. Vergl. Naef, a. a. O. S. 226 (f. und Grete Schaeder: „Die Gestalten", a. a. O. S. 153, die die Schlußszene der „Ägyptischen Helena" als eine Rüdekehr Hofmannsthals zum „homerisdien Griechentum" interpretiert.
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zige Ebene projiziert worden, Ernst und Scherz sind mythisdier Einhelligkeit gewichen, einer bezaubernden Schliditheit, die keine Trennung zwischen opera buffa und opera seria mehr zuläßt. Nicht umsonst hat Hofmannsthal immer wieder auf die Zeitlosigkeit gerade dieses Dramas hingewiesen, dem alle verkleinernden und Bedingungen schaffenden Zitate räumlicher und zeitlidier Art durchaus fehlen. Was sich vollzieht, ist urmenschlich und deshalb überall und zu jeder Stunde möglich. Allein die mythische, raumentzogene und zeitvergessene Welt des Märchens scheint ausreidiend, um das Geschehen zugleich in der Moderne („Nehmen Sie überhaupt alles so, wie wenn es sich vor zwei oder drei Jahren irgendwo zwischen Moskau und Neuyork zugetragen hätte") und an jedem beliebigen Punkt der Geschichte zu verankern. Nie war Hofmannsthal den Griechen so nah wie gerade in der „Ägyptisdien Helena", als er, um des Gleichnisses von der Gattentreue willen, mit der Erneuerung eines griechischen, von Homer, Stesichoros und Euripides gezeidineten Mythos die bürgerliche Oper durch die mythologisdie ersetzte und damit der Gegenwart einen Spiegel vorhielt, in dem sie, von Jahrtausenden umgeben, von Orient und Okzident zugleidi umflutet und gerade deshalb von der Sehnsucht nach der Einfachheit und Unzweideutigkeit des Anfangs getragen, sich selbst erkennen konnte. Einzig in der „Ägyptischen Helena" sind antiker und moderner Mythos, „Hier und Anderswo" so zur Deckung gebracht worden, daß eine antike Gestalt, Helena, ohne von ihrem homerisdien Glanz zu verlieren, zu einem Symbol zeitloser Gegenwärtigkeit werden konnte. Es kann keinen Zweifel geben, daß Hofmannsthal um diese Realisierung des Mythos gewußt und sie mit voller Absicht angestrebt hat. Sowohl der Sdiluß des Helena-Essays, der von der mythisdien Existenz der Gegenwart spridit, als auch die „Ad me ipsum"-Notiz vom 12. 11. 1926 erheben die Vermutung, daß der Dichter in der „Helena" in der Tat nach einer Identifizierung von griechischem Mythos und mythisch-moderner Empfindung strebte, zur Evidenz: „Das Mythische. Der Abenteurer eine mythische Figur. Des-
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gleichen Ariadne. Das Mythische in höherer Sphäre realisiert in „Helena". Aristie (Würde:)"22. Nach Alkestis, Elektra, Oedipus und Ariadne schuf Hofmannsthal mit der Helena die vierte Gestalt, die ein Zeugnis für die Unauflösbarkeit mythischen Fabulierens und die exemplarische Kraft der griechischen Sagengestalt ablegt. Die jähe Vergegenwärtigung des Vergangenen, die Hofmannsthal im Jahre 1900 im „Vorspiel zur Antigone"^^ darzustellen sudite, hat er selbst immer wieder, in der Wiederholung und Variation des mythisdien Vorgangs, zu leisten versucht, und je länger er sich mühte, desto stärker näherten sich, trotz kühner Veränderungen und „Orientalisierungen", seine Zeidinungen dem Original. Das Schicksal des Studenten im „Vorspiel" erscheint deshalb wie eine Umschreibung seines eigenen dichterisdien Wegs. Was anfangs verschwommen und unscharf ist, ein leeres Gewand, das sich bauscht, gewinnt Gestalt und Kontur und wird zum Kleid eines Menschen. Traum wandelt sich zur Wirklichkeit und was fern schien - „die Griechen, sie sind doch recht fern" wird unversehens „fürchterliche Gegenwart" . . . nicht mehr ein Phantom, sondern lebendiges Wesen; nicht mehr ein Spuk, aus dem man bald erwachen wird, sondern Träger großer Botschaften, dessen Stimme umso unüberhörbarer wird, je mehr die scheinbare Augenblicksgegenwart dahinschwindet und das Spiel sich zu wirklichem Geschehen erhebt. „Denn hier ist Wirklichkeit, und alles andere ist Gleichnis und ein Spiel in einem Spiegel." Immer wieder vollzieht sich das einmal Geschehene, immer wieder stirbt Antigone: „Antigenes erhabnem Schattenbilde schreit ich in der erneuten Todesstunde voran und streue Ehrfurcht ringsumher." Vergeblich sucht sich der Mensch gegen den Zugriff des wirklichen - einzig-wirklichen - Geschehens zu sträuben („ein menschlich Aug erträgt nichts Wirkliches"), am Ende muß er doch Zuschauer sein und schon durch sein Dasein, seine erzwungene Anwesenheit, sein ungewünschtes Zuschaun, die Gültigkeit und stete Wiederholbarkeit des scheinbar Ver„Ad me ipsum", a. a. O. S. 377. „Vorspiel zur Antigone des Sophokles", H . v. H . : Dramen I, S. 275 ff.
Ges. Werke . . .
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gangenen (in "Wirklichkeit aber Zeitlosen) eingestehen: „Was muß idi Teilnehmer sein an etwas Furditbarem, das nun gesdiehn wird?" Das Fest beginnt ohne sein Zutun, aber kaum, daß die ersten Töne verklungen, die ersten Worte gesprochen sind, fühlt sidi der Mensch in den Zusammenhang einbezogen, sein Widerstand schwindet, die Gegenwart des Vergangenen überwindet alles zeitliche Maß^^, ist nur in der staunenden Hingabe ertragbar: „dies strahlende Geschöpf ist keines Tages! Sie hat einmal gesiegt und sieget fort", bis schließlich, wenn Raum und Zeit versinken und die letzten vertrauten Maße hinfällig werden („ich bin der sdiwesterlichen Seele nah, ganz nah, die Zeit versank, von den Abgründen des Lebens sind die Schleier weggezogen"), nur nodi Flucht und Verhüllung bleiben: „Einwühlen muß idi midi in meinen Mantel, eh midi die übermäßigen Gesidite erdrüdjen! Denn dem Haudi des Göttlidieii hält unser Leib nidit stand, und unser Denken sdimilzt hin und wird Musik''®."
DIE THEORETISCHEN SCHRIFTEN Frühzeitig schon, als Gymnasiast und Schüler, hat Hofmannsthal mit der Antike vertraulidien Umgang gepflegt. Ihm, dem vielfadien Erben, war das Griechische mehr als spät Erkanntes und sehnsüchtig Erstrebtes: es war ihm von früh an Den Einbrudi heller Vergangenheit in die — plötzlidi verwandelte — Gegenwart hat Hofmannsthal, ähnlidi wie im „Vorspiel", sdion in seinem Aufsatz über die Duse besdirieben: der Alltag verwandet sidi, und mitten im Getriebe des Tages wiederholt sidi das Legendäre des griediisdien Wunders. „Diese W o d i e haben wir in Wien, ein paar tausend geweihte Mensdien, das Leben gelebt, das sie in Athen in der Wodie der großen Dionysien lebten. Da lebten sie in Sdiönheit, mit bebenden Nerven: Künstlernamen waren in ihrem Mund mit dem ehernen T o n der großen Berühmtheit, bei dem die Menge der Unberühmten bebt, wie die phrygisdien Tänzer beim Klirren blanker Klingen. In ihnen zitterten die Rhythmen der neuen Dithyramben; davon war
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selbstverständlicher Besitz. Als K i n d der D o n a u m o n a r c h i e ' und Ö s t e r r e i c h e r aus Ü b e r z e u g u n g u n d H i n g a b e ^ , d a z u v o n m ü t t e r licher Seite eng a n I t a l i e n g e b u n d e n , w a r i h m s d i o n als K n a b e n j e n e r R a u m besonders n a h , in d e m sich A b e n d l ä n d i s c h e s
und
M e d i t e r r a n e s , a n t i k e s E r b e u n d orientalischer Z a u b e r z u einer E i n h e i t v e r b a n d e n , f ü r die N a m e u n d B e g r i f f , V e n e d i g ' e i n stellv e r t r e t e n d e s S y m b o l ist. H i e r , in dieser „ S t a d t , w o O r i e n t u n d G r i e c h e n t u m aus italienisdier S u b s t a n z ein f r e m d e s
Märchen-
w u n d e r " machen®, f a n d e n seine A h n u n g e n B e s t ä t i g u n g u n d E r füllung, u n d es n i m m t nicht w u n d e r , w e n n H o f m a n n s t h a l , w i e J a h r e s p ä t e r bei d e r A n a l y s e der „ Ä g y p t i s c h e n H e l e n a " , schon 1 9 1 7 ( ? ) a n l ä ß l i c h eines Lebensüberblicks A n t i k e u n d O r i e n t in e i n e m A t e m z u g n e n n t ( „ D a s f r ü h e W i e n . A h n u n g eines nicht mehr Orient,
vorhandenen Geschichte")
Zustandes. und
im
Ahnung gleidien
der
Welt:
Antike,
Zusammenhang
auch
I t a l i e n s , des g r o ß e n U m s c h l a g h a f e n s g e d e n k t , w o O s t u n d W e s t in ihren Herzen allen ein ruheloser Rausdi und unbestimmte süße Sehnsudit. So saßen sie im Theater und sogen, wie Saft der Weinbeere, die Seele eines großen Künstlers aus funkelnden Sdialen, das waren die funkelnden Verse; und sie verstanden die Schönheit weicher Körper, die sidi wiegten, und die königliche Kunst der großen Gebärden hatte ihnen einen Sinn. Nachts aber konnten sie nicht schlafen und wandelten in Scharen auf wachen, weichen Fluren und redeten im Rausch von der neuen Tragödie. Dieses Leben haben wir gelebt, ein paar tausend geweihte Menschen, in der ganzen großen, lauten Stadt. Und dionysischer Festzug, Dithyrambos und Mysterium war uns die Gegenwart einer einzigen Frau, einer italienischen Komödiantin." („Eleonora Duse, Die Legende einer Wiener Wodie." H. v. H.: Ges. W e r k e . . . Prosa I, a. a. O. S. 80 ff.) „Vorspiel zur Antigone des Sophokles", a. a. O. S. 284. ^ Vergl. zu Hofmannsthals Verhältnis zur habsburgischen Tradition vor allem Raoul Auernheimer: „Hugo v. Hofmannsthal als österreichisdie Erscheinung", Die neue Rundschau 40, 1929, S. 660 ff., Heinrich Eduard Jacob: „österreichische Form", im gleichen Heft S. 667 ff. und Carl Jacob Burckhardt; „Begegnungen mit Hugo v. Hofmannsthal", Die neue Rundschau 65, 1954, S. 341 ff. Vergl. auch das Pamphlet von Karl Kraus: „Hofmannsthal und die Bezüge", Die Fackel, Wien, Jg. 27, Nr. 717 (März 1926). ^ Hofmannsthals „Bejahung Österreichs" als tragender Kraft inmitten einer zusammenstürzenden Welt beginnt, nadi dem Zeugnis der Briefe
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sich begegnen: „Was war mir Italien - ja was war mir alles dies?"" West und Ost, Orient und Okzident, Abendländisdies und Morgenländisdies - in der Synthese des Getrennten und der Vereinigung der dem modernen Menschen wieder als Einheit erkennbaren Gegensätze sah Hofmannsthal seine große Aufgabe®. Anders als der deutschen Klassik war ihm, dem Erben der habsburgischen Tradition, das Antike niemals um seiner selbst willen, sondern immer nur im größeren Rahmen der gemeinsamen Überlieferung wichtig. Schon die Briefe des jungen Loris bekunden jene eigentümliche Verwandlung des geschauten Urbilds, von der der Dichter der mythologischen Oper immer wieder Zeugnis ablegen wird: „Die Odyssee hab' idi auch unendlich gern; besonders die Nausikaa-Geschichte, nur hab' ich die, sei nicht bös, mit meiner Stilverdrehung wieder ganz trecentistisch gobelinmäßig im Kopf®." Das Erbe der deutschen Romantik, die Forschungen Creuzers und Görres', Hölderlins späte Hymnen („ich aber will dem und theoretisdien Schriften, etwa gleidhzeitig mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs (vergl. H. v. H . : Ges. "Werke . . . Prosa III, a. a. O. S. 176 bis 513). Nadi dem Weltkrieg erweitert der Dichter, wie vor allem die beiden wichtigsten Äußerungen: „Das Schriftum als geistiger Raum der Nation" und „Das Vermächtnis der Antike" zeigen, die Vorstellungen von der geistigen Einheit der Donaumonarchie zugunsten einer Hinwendung zum gesamteuropäischen Erbe. Vergl. Otto Heuscheie: „Hugo V. Hofmannsthal und die Idee Europa", Hugo v. Hofmannsthal Dank und Gedächtnis, Frbg. i. Br. 1949, S. 54 S. ® Ernst Robert Curtius: „Hofmannsthal und die Romanität", a . a . O . S. 659. Hofmannsthal selbst nennt Venedig „eine Fusion der Antike und des Orients". Vergl. Carl Jacob Burckhardt, a. a. O. S. 349. * „Ad me ipsum," a. a. O. S. 371. ® Vergl. Max Meli: „Hofmannsthals Werk", Die neue Rundschau 40, 1929, S. 642. 6 Briefe 1890—1901, S. Fischer Verlag, Berlin 1935, Nr. 70 (an Leopold Freiherrn von Andrian zu Werburg), vom 21. März 1894. Vergl. auch den Brief Nr. 68 an Elsa Bruckmann-Cantacuzene vom 18. Februar des gleichen Jahres: „Ich arbeite. Hauptsächlich bearbeite ich ein Stück von Euripides und möcht's gern recht lebendig machen, natürlich zur Aufführung. Warum? Weil das wirklich eine unterhaltende Arbeit ist. In dem Münchner kleinen Rokokotheater könnte man's audi spielen; hat da
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Kaukasus z u . . . " ) und Novalis' in den „Hymnen an die N a d i t " verkündete indische Prophetie warteten darauf, fruchtbar zu werden. Die Zeit, da nur das Griechische den Enkeln verpflichtende Richtschnur war, schien auf immer dahin, und die Visionen in den Strophen der „Wanderer" und „Quelle der Donau" verlangten nach neuer Erfahrung^. Weder Hofmannsthal nodi George oder Rilke® vermochten der Antike, so sehr sie sich ihr verpflichtet fühlten, jene absolute, über allen Zweifel erhabene Gültigkeit zuzuerkennen, die ihr die deutsdie Klassik von Winckelmann bis zum späten Goethe als ein selbstverständliches Attribut zu zollen bereit war. Im Zeichen jener erweiterten Erfahrung, von der Hofmannsthal am Schluß seines Helena-Essays spricht und im Hinblick auf die mit der deutsdien Romantik beginnende „Relativierung" des klassisdien Altertums, zu der die Wissensdiaft des 19. Jahrhunderts einen erheblichen Teil beiträgt, war es, jedenfalls nach der zweiten Renaissance, die die Antike zwischen 1860 und 1875 in Basel erlebte®, nicht mehr möglich, zwisdien Griechischem und Orienjemand Geschmack an solchen Sachen? S o l c h e n Sadien heißt: Euripides von mir bearbeitet, es sieht ungefähr aus wie griechische Mosaikarbeit von Stuck nachgemacht." Daß in Hofmannsthals Briefen nicht jedes Wort auf die Goldwage gelegt werden darf, braucht nicht angemerkt zu werden. Der Absender richtet sich zu stark nach dem Adressaten, als daß ein Brief „für sich" genommen werden dürfte. Vergl. dazu grundsätzlich Richard Alewyn: „Unendliches Gespräch. Die Briefe Hugo v. Hofmannsthals", Die neue Rundschau 65, 1954, S. 538 ff. Vergl. zum Wandel des Antiken-Bildes bei Hölderlin und den Romantikern Walther Rehm: „Griechentum und Goethezeit", München 1952®, S. 271 ff. ® Für Rilke ist die Antike eine Epoche unter anderen auch; ihn reizt die Vorstellung der „Frühe", aber er findet das gleiche Gesetz ebenso in der gotischen Kathedrale wie am archaischen Torso. Für George stehen Antike, Mittelalter, Orient — wie die „Bücher der Hirten und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten" beweisen — als weithinwirkende Zeiten nebeneinander; von einem Primat des Griechischen kann keine Rede sein. (Vergl. hierzu vor allem die, freilich überspitzt kritischen, Äußerungen von Morwitz in den Würzburger Jahrbüchern 1, 1946 S. 226 ff.) ® Diese Renaissance reicht ungefähr von 1859 bis 1872. Ihre wichtigsten Stationen sind Bachofens „Versuch über die Gräbersymbolik der Alten"
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talischem mit Schärfe zu trennen. Hofmannsthal selbst hat in der Besprechung von K . E. Neumanns Buddha-Übersetzung nachdrücklidi auf die geheime Aufgabe gerade der deutschen Kultur hingewiesen, das antike Erbe durch die Einbeziehung des großen Orients nidit nur zu bereichern, sondern im editen Sinne neu zu erobern: „Die Kultur, die uns trägt, und an der, wie an den Planken eines alten Sdiiffes der gewaltigste und anhaltendste Sturm seit einem Jahrtausend jetzt rüttelt, ist in den Grundfesten der Antike verankert. Aber auch diese Grundfesten selber sind kein Starres und kein Totes, sondern ein Lebendes. Wir werden nur bestehen, sofern wir uns eine neue Antike schaffen: und eine neue Antike entsteht uns, indem wir die griechisdie Antike, auf der unser geistiges Dasein ruht, vom großen Orient aus neu anblicken. Auch hier muß aus dem Versdiwinden des Mittelmeeres eine ungeheure Konsequenz gezogen werden. In solchen entsdieidenden Augenblicken sind die Nationen alle aufgerufen, aber die deutsche ist doch wie die Toditer Jephtas und muß vorangehen."^® Als österreidiischer Dichter mit einem untrüglidien Sinn für Tradition und lebendige Überlieferung begabt" wußte Hof(1859), Bachofens „Mutterrecht und Urreligion" von 1861, Jacob Burckhardts Kollegentwurf zur griechisdien Kulturgeschichte von 1869 und Nietzsches „Geburt der Tragödie" von 1872. Auch York von W a r t e n burgs Schrift „Die Katharsis des Aristoteles und der ö d i p u s Coloneus des Sophokles" (1866) gehört in diesen Zusammenhang. Gesammelte Werke, S. Fischer Verlag, Berlin 1924, Band 3, S. 154. ^^ Vergl. vor allem Rudolf Borchardt in dem Hofmannsthal gewidmeten Eranosheft von 1924, S. XXXII f.: „Aller Maßlosigkeit entkleidet und in unübersehbaren Formaten vollkommen geschlichtet und gelöst enthülltest Du mir die Dialektik meines Problems in lächelnden und seligen Gedichten. Soviel wie die antikste aller Städte Europas, die italienischere als alle Städte Italiens, die älteste und jugendlichste Großstadt deutscher Zunge, soviel wie Wien an europäischer und menschlicher, an ungebrochener deutscher Vergangenheit besaß, soviel besaßest Du unbefangen als ein unerkämpftes Erbe. Endliches Klangwerden der Geschichts- und Geisterwelt Habsburgs, der organische Kulturausdruck der letzten deutschen Universalmonarchie Europas, durch die Sprache und in der Sprache den ganzen älteren Bildungsbestand der alten Bildung besitzend, durch das lebendig gebliebene Barock die Renaissance und die Antike in geschichtlich
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mannsthal, von „Gestern" bis hinauf zum „ T u r m " , daß Vergangenes stirbt, wenn es nidit das Geheimnis des Daseins kristallgleich umsdiließt und zugleich die Phantasie jeder Epoche in unwiederholbarer "Weise entzündet. Allein die Begegnung mit dem im Mythos verdichteten Kern und die Entflammung der Phantasie an der variablen Außenseite gewährt vergangenen Epodien Fortleben und Dauer, und das Fundament des Hauses ist nur dann sicher und fest, wenn jede Generation es aufs neue der Erde abringt und damit die ihr gemäße „Antike" schafft. So betrachtet ist Erbe nicht nur Besitz, sondern Verpfliditung, und die Verwandlung des griechischen Bildes durch die kühne Synthese von Mythos und Märchen bezeugt die ungebrochene Leuchtkraft des in aller Erscheinung erkennbaren Urbilds, das audi noch hinter Hieroglyphen und Chiffren, hinter mutwilliger Variation und entschlossenem Abweichen als verpflichtende N o r m hindurchscheint. Hofmannsthal wußte, daß es jeder Zeit aufgegeben ist, die ihr gemäße Gestalt der Antike zu suchen^^, weil allein durch eine Besinnung auf H e r k u n f t und Grundlage, - Abweichung und Übereinstimmung, - gemeinsames Erbe und provozierendes Anderssein erkannt und verstanden verfeinerten und ätherisierten Formen, durch österreldiisdie lebendige Nachzeugung Italiens bis nach Byzanz, und durch die blühende archaische Mundart eines homogenen Volksstammes so viel Mittelalter als Dir unentbehrlich war, durch die heiter erhalten gebliebene Lebensform höfischer Stände zugleich ein der letzten deutschen Klassizität von selber blutsverwandtes, leise über das Alltägliche und Papierene ins Wandellose gesteigerte Idiom — so vollendetest D u auf der ganzgebliebenen österreichischen Länderbrücke neben dem einsinkenden Reiche die deutsche Kultur als ihr direkter Fortsetzer und Verklärer." Vergl. zu Hofmannsthals „Bejahung Österreichs" auch Willy Haas, Die Literarische Welt 5, 1929, v o m 26. Juli und 7, 1931, vom 1. Mai. ^^ Hofmannsthal wußte, daß ein einfaches „Zurück zu den Griechen" unmöglich ist: „Ein Zurück zu Mozart ist ebenso unmöglich wie zu den Griechen; uns fördert heute nur Lebendiges, werdend wie w i r . . (H. V. H . : Ges. W e r k e . . . Prosa I, a . a . O . S. 45). Diese Äußerung aus der Frühzeit wird durch ein Zitat aus der Beethovenrede (Gesammelte Werke, Berlin 1924, Band III, S. 301 ergänzt: Die Musik Mozarts ist „schön und faßlich wie eine Antike, aber eine christliche, gereinigte Antike, unschuldiger als die erste." 9 Jens
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werden können: „betraditet man die Wielandsdie Auffassung der Antike und die Nietzsdiesdie nebeneinander, ebenso die von Winckelmann und von Jakob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Ersdieinung zu empfangen hoffen."^® Gerade die erst dem Modernen ermöglichte freie Verfügbarkeit alles Historischen - Fluch und Segen notwendiger gesdiichtlicher Betraditung - , die zur Aufgabe der Naivität und mühsamer Neubesinnung auf mythisdie Analogien führt, bedingt eine Vielfalt der Ansdiauungsmöglichkeiten, die das Antike von Jahrzehnt zu Jahrzehnt anders erscheinen läßt. Hofmannsthal selbst hat, ähnlich wie George^^, in seiner Jünglingszeit neben dem durdi Euripides gebrochenen Mythos vor allem die Weltstadt der Caesaren, die späte, der Kultur des fin de sikle so verführerisch nahe Kaiserzeit geschätzt: das Rom der decadence, da wissende Spätlinge ihre wüsten Spiele erfanden und das Leben nur lebenswert galt, wenn es auf Schönheit, Ästhetik und zartem Rausdi erriditet war: „In einem gewissen halbreifen Alter voll Sehnsudit und Raffiniertheit hat unser aller Phantasie sich einmal an dem Rom der Verfallzeit wollüstig festgesogen, an dieser graziösen Epoche, wo die großen starken Worte des alten Latein zu prunkvollen sonoren Titeln werden, wo traumhaft aus dem blauen Meer die nackten Gestalten der alten Poesie mit naiven Händen und kindlidien Stirnen vor den Spätgeborenen auftauchen und wo ein Gesdilecht mit merkwürdigen Sphinxaugen und schmalen vibrierenden Fingern schattenhaft umhergeht und in den ererbten Schätzen wühlt, in den gescäinittenen Steinen, den Dosen " Buch der Freunde, a. a. O. S. 48. ^^ Deutlichstes Zeugnis ist der „Algabal"; im „Algabal" wiederum das Gedicht „Da auf dem seidenen Lager. . .": „Da auf dem seidenen lager / Neidisch der Schlummer mich mied / So bringt keine wundersager I So will ich kein lullendes lied J Der mädchen attischer lande / Was mir vor monden gefiel / Nun schlingt mich in eure bände / Flötenspieler vom Nil." Vergl. zu diesem Fragenkomplex auch die außerordentlich ergiebige Würzburger Dissertation (Masch. Sehr.) von Klaus G. Just: „Studien zum Ästhetizismus bei Stefan George und seinem Kreis", 1948, S. 34 ff.
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erstarrten Mythos, prachtvollen Gebeten und Chören. Es war eine tadellose antike Amphore, gefüllt mit der flüssigen Glut eines höchst lebendigen, fast bacchantisdien Naturempfindens. Nicht das zur beherrschten Klarheit und tanzenden Grazie emporerzogene Griechentum atmete darin, sondern das orphisch ursprüngliche, leidenschaftlidi umwölkte. Wie Mänaden liefen die Leidenschaften mit nacJcten Füßen und offenem Haar; das Leben band die Medusenmaske vor, mit den rätselhaften und ängstigenden Augen; wie in der Adonistrauer, im Kybelekult flössen die Sdiauer des reifsten Lebens und des Todes zusammen; und Dionysos fuhr, ein lachender und tödlicher Gott, durch die unheimlich lebendige Welt. Aus tiefsinnigen Beinamen der Götter, aus Mysteriendunkel, aus der lallenden Gewalt heiliger Hymnen, aus Strophen der Sappho, aus den marmornen Leibern sonderbarer und widernatürlicher Gebilde des Mythos war eine wilde Schönheit wach geworden, von keiner heiligen Sdiam gebändigt®"." Es bleibt unklar - und es wird auch mit Absicht offen gelassen, in welcher Zeit Hofmannsthal selbst das „eigentlich" Antike gesehen hat: in der von Pater gefeierten Verfallszeit, der durch Swinburnes Drama verherrlichten Frühe oder der nadiklassischen Epoche, jener Zeit zärtlichpraxitelisdier Reife, die der Prolog zu Ludwig von Hofmanns Tänzen beschreibt: „Denn was wäre griechisch, was dürfte uns griechisch heißen, wenn nicht dies: eine Wollust des Daseins, der ihre Schwere genommen ist, genommen alles, was üppig herumfließt wie überschwere Luft, darin sich zuviele Düfte und auch Verwesendes und Erstickendes löst und mischt - eine Wollust, in der soviel Bewegung ist, daß sie langsamen Augen, schwerblütigen Sinnen keusch erscheint wie stürzendes Wasser und tanzende Sterne; aber Gegenwart des nackten menschlichen Leibes überall - nicht da und dort schwer sich lösend aus schwülen Hüllen - nein, überall, und mit dem nackten menschlichen Leib jedes Gebild der Erde sich begegnend, an ihm sich messend, wie wenn zwei im Tanz sich begegnen, umschlingen, wieder lösen.. .21?« 20 H. V. H.: Ges. Werke . . . Prosa I, a. a. O. S. 116 f. H. V. H.: Ges. Werke . . . Prosa II, a. a. O. S. 189.
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In seiner Besprechung von Georges „Büchern der Hirten und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten" hat Hofmannsthal angedeutet, warum ihm die Antike nur als geistiger Gesamtraum und verpflichtendes Fundament, nicht aber als „Früh-", „Spät-" oder „Hochantike" widitig und bedeutsam war. Dem Erben ist es selbstverständlich, daß er sich in seinem Dichten nicht anders denn historisch verhalten kann. Was er sagt und bedenkt, ist vorgedacht und vorbestimmt, und auch ein scheinbar neuer Klang ist im Grunde nur Echo und spätes Zitat: „Es wird niemandem ein gewisses Verhältnis der ,Hirten und Preisgedichte' zu den Alten (und mehr zu dem Tone des Tibull und Horaz als dem der Griechen), ein gewisses Verhältnis der ,Sagen und Sänge' zu dem Tone der Deutschen des 13. Jahrhunderts entgehen.... Nur ist dieses Verhältnis nicht stärker herbeigezogen, als es für Mensdien später Gesdilechter ganz unaufdringlich und selbstverständlich in den Landschaften und äußeren Manieren zu liegen scheint^^." Vorherbestimmung und historischer Entwurf sind dem Kinde der Donaumonarchie verständliche Dinge^®: unbezweifelbar scheint es ihm auch, daß die Verkettung mit Vergangenem, und zumal die Rückbindung an die Antike als Grundlage abendländischer Gesittung und Bildung, nicht Verpflichtung gegenüber einer bestimmten Zeit und einem einzigen, fest umrissenen Zeitraum bedeutet: „Wir sind von vielfältiger Vergangenheit nidit loszudenken. Aber freilich ebensowenig in eine bestimmte Ver22 H . V. H . : Ges. Werke . . . Prosa I, a. a. O. S. 289 f. 23 Vergl. Hofmannsthals Äußerung über sidi selbst (Briefe 1890—1901, a . a . O . N r . 119, an H a r r y Gomperz v o m 2 5 . 7 . 1 8 9 5 ) : „Daraus abgeleitet vielleicht ein gewisser historisdier Sinn, das heißt eine gewisse Kedtheit, die Dinge höchst unhistorisdi anzuschauen, Fernes auf Nahes, Kleines auf Großes zu beziehen und in einem starken Glauben ans Mensdiliche in allem Vergangenen etwas sdilediterdings Begreifliches aufzuspüren." Das eigentümliche Verhältnis des Österreichers zur Antike bedürfte einer grundsätzlichen Darstellung: es würde sich dann zeigen, daß hier, aus dem Gefühl geheimer Verwandtschaft geboren, Kräfte am Werke sind, die auch in der jüngsten Gegenwart, wie etwa das Beispiel der jungen Lyrikerin Ingeborg Bachmann („Dunkles zu sagen" in „Die Gestundete Zeit", Frankfurt/Main 1953, S. 11) zeigt, nicht ausgestorben sind.
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aus Chrysopras, den wächsernen Totenmasken, den wundervoll skulptierten alten Versen und den einzelnen Edelsteinen der halb verlorenen Spradie. So ähnlich mit uns selber kamen sie uns vor, wie sie da vor sidi hinlebten, nicht ganz wahr und doch sehr geistreidi und sehr schön, von einer morbiden NarcissusSchönheit, allem Gleidinishaften zugetan und in einer etwas manirierten Skepsis; frauenhaft und knabenhaft und greisenhaft und vibrierend vor tiefen Spuren der Schönheit, jeder Schönheit, der Schönheit sanftschwellender Vasen und der Schönheit klippiger Felsen, der Schönheit des Antinous, der Schönheit des Sterbens, des Totseins, der Blumen, der Göttin Isis, der Schönheit der großen Kurtisanen, der Schönheit der untergehenden Sonne, der christlichen Märtyrer, der Sdiönheit der Psyche, der weinenden, wandelnden, naiv-perversen kleinen Psyche aus dem „Goldenen Esel", jeder Schönheit, nur nicht der einen großen, unsäglidien des Daseins; denn die ist schwachen Geschlechtern verborgen"'®. Tenor und Pathos dieses Preises der decadence und der verzaubert-späten Sdiönheit beweisen, wie Hofmannsthal beim Niedersdireiben der Zeilen, die sich auf ein Buch von Walter Pater, „Marius der Epikuräer", beziehen, längst am andern Ufer stand. Der Hymnus auf die Verfallszeit, die in der Weise von Georges Algabal und Huysmans „a rebours"'® komponierten Beschreibungen von Laster und Müdigkeit, Trauer und makabrer Schönheit zeigen deutlidi, daß der Dichter - die Art des Rüdcblicks beweist es die Anbetung der Verfallszeit als etwas Vergangenes betraditet, das er schon lange, um der Erkentnis der „einen großen, unsäglichen Sdiönheit des Daseins" willen aufgegeben hat. Aber eine ferne Verzauberung klingt nadi und macht deutlich, daß die Überwindung der ästhetisdien Weltanschauung zwar theoretisdi vollzogen, aber nodi nicht bis in die Wortwahl hinein wirksam geH. V. H.: Ges. Werke . . . Prosa I, a. a. O. S. 239 f. Paters Marius und Huysmans des Esseintes frönen dem gleichen Laster. Beide zeigen eine intensive Hinwendung zur Spätantike. Vergl. dazu auch Leopold Andrian: „Über den Humanismus", Corona 6, a. a. O. S. 552fF. Außerdem Hugo v. Hofmannsthal: Briefe 1890—1901, a.a.O. Nr. 82 (vom 6. August 1894 an Hermann Bahr). 9*
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worden ist . . . was Sentenz und These anprangern, verteidigen Vokabel und Rhythmus, und erst der Brief des Lord Chandos wird, Jahre später, die Situation des „Mystikers ohne Mystik", des späten Erben, der nach bestätigenden Analogien und verpfliditenden Normen sucht, deutlicher bestimmen. Dem frühen Hofmannsthal sind Verfall und Frühe, Spätzeit und mystisches Dunkel in gleicher Weise bedeutsam; Preis der brüderlichen Zeit und Anbetung ungebrochener Naivität erscheinen als Zeugnisse derselben Geisteshaltung. Der Verlassene, aus allen Bindungen Gelöste sehnt sich nach Bestätigung und schwärmerisch verehrter Ungebrochenheit. Gerade das Geistigste, Feinste - Thomas Mann hat das immer wieder gezeigt^^, - wird am Ende seiner selbst müde und sehnt sich nach der einfachen Faktizität der Frühe. Nicht zufällig findet deshalb die PaterRezension in der schon ein Jahr früher, 1893, veröffentliciiten Würdigung von Algernon Charles Swinburne^® ihre Entsprechung: wie Pater die Spätzeit anbetet, feiert Swinburne den archaischen Blutkult; wie Pater die dekadenten Spiele einer spätrömischen jeunesse d'oree analysiert, preist Swinburne in seinem lyrischen Drama „Atalanta in Kalydon" das GrausamRüde des erwacJienden Äons: und es ist tief bezeichnend für des jungen Hofmannsthal Verhältnis zur Antike, daß er (trotz seiner Ablehnung Paters) das eine wie das andere mit dem gleichen Reichtum an Verständnis und Einfühlung zu würdigen versteht. Spätestes und Frühestes, Ausgeprägtes und Ungeformtes, die Wildnis der UrlandscJiaft und die Grazie kunstreicher Parks sind - man denke an d'Annunzio! - der Bewunderung des nach Ebenbild und Kontrast suchenden Aestheten^® in gleicher Weise würdig. „1865 ersciiien ein lyrisches Drama: „Atalanta in Kalydon", mit wunderbarer Verlebendigung des Vergl. Thomas Mann: das Einleitungskapitel „Höllenfahrt" zu „Joseph und seine Brüder" und „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix K r u i r , Frankfurt/Main 1954, S. 318. Über den — gar nicht zu überschätzenden — Einfluß Swinburnes auf Hofmannsthal vergl. u. a. Luise Wagener: „Hofmannsthal und das Barock", Diss. Münster 1931, S. 35 ff. Vergl. Klaus G. Just, a. a. O. S. 51 ff.
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gangenheit hineinzudenken^^." Ein großer unabselibarer Strom geht durch alles hindurdi, Frühestes verbindet sich mit Spätem, Junges ist Abglanz des Alten, und die Endzeit variiert den unbekümmerten Entwurf des Beginns: „Wir geben uns kaum Redienschaft darüber, wieviel von dem Zauber eines jeden Tones diese mitschwingenden Obertöne ausmachen, dieses Anklingen des früheren herben im späten milden des kindlichen im feinen, dieses Mitschwingen des Homer in den späten Griechen, der Griedien in den Römern, dieser Abglanz der Venus in den Bildern von diristlichen Heiligen^^." Es bezeichnet den Enkel, daß er nidit nur die Zeiten früher Vergangenheit, sondern auch die Deutungen der Vorzeit durch späte Geschlechter wie Bild und Brechung, Glas und Facettierung in doppelter Verschachtelung betrachtet: der Sohn macht sich ein Bild der Antike, der Erbe entwirft ein Bild des Bildes und gewinnt durch die doppelte Brechung neue unerwartete Reize, weil die Entsprechung von Urbild, Abbild und Kopie zu immer neuen Variationen, Trennungen und Vereinigungen einlädt: „Und sind nicht die Antike Goethes, die Antike Shelleys und die Antike Hölderlins drei so seltsam verwandt-geschiedene Gebilde, daß es einen traumhaften Reiz hat, sie nebeneinander zu denken, wie die Spiegelbilder dreier sehr seltsamer Schwestern, in einem stillen Wasser, am Abend^®?" N o d i in der zwiefachen Brechung, in der Zusammenschau vergangener Interpretationen der Antike, zeigt sich, an Dichtung und Theorie in gleicher Weise erkennbar, ein Abglanz des Griechischen selbst; ein „Strahl von Hellas", der auch auf dem doppelten Umweg über Deutung und Wiederdeutung, Betrachtung und Betrachtung der Betrachtung nicht viel von seiner K r a f t verliert, sich aber dort am ungebrochensten zeigt, wo Hofmannsthal sich mit dem Geheimnis der Antike selbst, dem Reiz ihrer Landschaft und dem Wunder ihrer fortwirkenden K r a f t einläßt; wo in der Begegnung zwischen dem Ausgelieferten und der wieder erkannten Mutter, zwischen Erben und H . V. H . : Ges. Werke . . . Prosa I, a. a. O. S. 290. 25 ebenda. ebenda.
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Ahn, das Griechische ohne die Verhüllung späterer Deutungen erscheint. Dreimal, in den „Augenblicken in Griechenland", dem Reiseberidit „Griechenland" und in seinem Vortrag „Das Vermächtnis der Antike", hat Hofmannsthal (in seinen theoretischen Sdiriften) das Griechisdie selbst zu Wort kommen lassen einmal in den „Augenblicken" und in „Griechenland" als den verzaubernden Bann, dem auch der widerwillig sich Sträubende nicht widerstehen kann; das andere Mal im „Vermächtnis" als „unser Denken selbst", die „Kreation unserer geistigen Welt" und den „Mythos unseres europäischen Daseins". „Die Augenblicke in Griechenland" analysieren, in dreifacher Variation, das Verhältnis von Erwartung und Eintreffen, Traum und jäher Erleuditung^^, Dahinleben und plötzlidier Erfüllung. In kurzen, parataktisch-knappen Sätzen beschreibt die erste Skizze, „Das Kloster des heiligen Lukas", die delphische Landschaft: Platanen und Quellen, Hirten und Herden, Sonne und Wolken - alles ist gleich wichtig und wirksam. Dann, gegen Abend, verwandelt sich die Szene, und Bedeutungsvolles kündigt sich an: „man fühlte, wie die bläulidaen Berge sich schlössen und wie dieses Tal das Ende des ganzen Weges war." Eine riesige Pinie taucht auf; eine schwarze Ziege und ein alter Mann mit einem Gartenmesser in der Hand weisen den Weg. Der Schatten des Klosters wird immer größer, dodi nach langer Ankündigung vollzieht sich der Eintritt rasch und beinahe ohne Übergang: „Wir traten hinaus und sahen, daß wir mitten im Kloster waren." Aber nicht der Eintritt selbst ist das Ziel, dem die Skizze zustrebt: audb die Ankunft im Klosterbezirk hat, wie sich bald zeigt, nur vorbereitende Bedeutung. Der Frieden muß tiefer, der Gesang der Mönche inbrünstiger werden, ehe sich die Stunde erfüllt und das Geheimnis zu sprechen beginnt ein Mysterium, das den Mensdien aus seiner Isolation erlöst und ihn der großen Gemeinschaft der Natur zurückgibt. Nicht Vergl. Hans Heinrich Sdiaeder: „In memoriam H u g o v. Hofmannsthal", a . a . O . S. 232: „und jedesmal ist es so, daß in einem N u des Erlebens die Realität ihr Geheimnis aufbrechen läßt und sich der willigen Seele darreicht."
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die Verzückung durch ein gewaltiges, nie erahntes Geheimnis, sondern das Wissen um Gleichmaß und Wiederholung, die Bezogenheit auf die Selbstverständlichkeit natürlichen Rhythmus' („in ihrem Gang war der gleiche undefinierbare Rhythmus: gleich weit von Hast und von Langsamkeit") stellen die frühe, im Brief des Lord Chandos aufgegebene Einheit wieder her: „Es vollzog sich, was sich seit einem Jahrtausend Abend für Abend an der gleichen Stelle zur gleichen Stunde vollzieht. Welches stürzende Wasser ist so ehrwürdig, daß es seit zehnmal hundert Jahren den gleichen Weg rauschte? Nichts ist hier zu nennen als das ewige Meer drunten in den Buchten und die ewigen Gipfelkronen des schneeleuchtenden Parnass unter den ewigen Sternen." Der Friede der Landschaft („alles atmet Frieden und eine von Duft durchsüßte Freudigkeit") und der sich im Rhythmus der Jahrtausende gleichbleibende Ablauf des Klosterlebens lösen den Betrachter gleichsam von sich ab, überlassen ihn dem Geheimnis des selbstverständlichen Ebenmaßes, dem Wunder der Natürlichkeit, das die Griechen als Höchstes erkannten, und enthüllen ihm endlich die Bedeutung einer Landschaft, deren Wesen das Maß und der Ausgleich der gewohnten (und im Augenblick des Schauens vergessenen) Extreme ist: „Ein Unnennbares ist gegenwärtig, nicht entblößt, nicht verschleiert, nicht faßbar, und auch nicht sich entziehend: genug, es ist nahe. Hier ist Delphi und die delphische Flur, Heiligtum und Hirten, hier ist das Arkadien vieler Träume, und es ist kein Traum." Mitten im Bereich des Klosters, nahe der heiligen Stätte von Delphi, empfindet Hofmannsthal ein Gesetz, das ihm selbst zur Norm seines Lebens wurde: den harmonischen Ausgleich der Gegensätze, ein „weder-noch" und „nicht-nicht" und „einerseits-andererseits", ein Umgreifen von Antinomien („niciit entblößt, nicht verschleiert", „gleidi weit von Hast und Langsamkeit"), das allein Unnennbares enthüllen und das Fernste nah und begreiflich machen kann. Ein Ton wird angeschlagen, der, wie im Gespräch der Mönche, einen Alltagsdialog mit dem Zauber der Sprache aus den „Zeiten der Patriarchen" erfüllen kann. In Griechenland erfährt Hofmannsthal zum ersten Mal die Antike selbst, - ursprünglich und durdi keine Vermitt-
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lung verändert. Der Titel der Skizzen weist auf die Wichtigkeit des Kaipös; der Augenblick enthüllt den Schleier: „Stunde, Luft und O r t madien alles^®." Was die erste Skizze andeutet, erläutert die zweite „Der Wanderer". Wieder bedarf es langer Vorbereitung, eines tiefen Gesprächs, in dem zwei Mensdien durdi ihre Worte ihre Freunde wie lebendige Geisterwesen beschwören, ehe das Geheimnis selbst sich in der Erscheinung eines irre redenden, halb verhungerten Buchbindergehilfen aus Lauffen an der Salzach ankündigt. Wie die Stille des Klosters enthüllt audi die Epiphanie des Leidenden inmitten der Wüste den Sinn der Stunde und die Bedeutung der Welt, in der man sidi befindet. „Die tiefe und gleichsam zeitlose Einsamkeit" griechischer Landschaft läßt Fernstes zur vertrauten Nähe, peinvoll Nahes bedeutungslos und so fern sein^®, daß das W o r t wieder magische Gewalt bekommt und der Abwesende wie ein Reisegenosse angesprochen werden kann: „es schien alles Gegenwart, und die Berge waren in diesem lautlosen, bläulichen Leben der Luft nicht wirklicher als die Erscheinungen, die uns begleiteten." Wunder begibt sich: der ersehnte Freund ist so nah wie der leidvolle Wander28 Vergl. hierzu die großartige Deutung, die Hermann Brodi den „Augenblicken" gegeben hat: „Deutlicher, konziser, packender als in seiner Dichtung . . . erreicht hier Hofmannsthal deren mythisches Ziel, und nidit etwa weil er hiezu eine mythische Landschaft kat' exochen gewählt h a t . . . , wohl aber weil hier der Unterschied zwischen Landsdiaft und Staffage völlig verschwindet und die Menschengestalt völlig in der Landschaft, die Landschaft völlig in der Menschengestalt aufgeht, in ihrer beider Identität ein verkleinertes Abbild jener gewaltigen Einheit, die den Mythos erfüllt, wenn er Natur und Mensch bis zur Ununtersdieidbarkeit zusammensdimilzt, vorwegnehmend die Kulturganzheit, die des Menschen Natur ist: lediglich verkleinertes Spiegelbild, lediglich der Dichtung Vorstadium und trotzdem — just dazu wird der Essay bei Hofmannsthal — Vorstadium des Mythos oder richtiger des künftigen Mythos. (Die neue Rundschau 62, 1951, 2. Heft, S. 1 ff, vor allem S. 29 f.) Die Verbindung von Nähe und Ferne im Zeichen des Lichts ist für Hofmannsthals Griechenerlebnis symptomatisch: der Geist überwindet die Distanz. („Die Reise nach Griechenland ist von allen Reisen, die wir unternehmen, die geistigste." „Griechenland", Die Berührung der Sphären, a. a. O. S.316.)
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gefährte aus Lauffen, und die Zeiten sind nicht mehr im Sinne von Gestern und Heute voneinander zu trennen: „Ohne Übergang wurde etwas in mir gegenwärtig, etwas Fernes, lieblichangstvoll Versunkenes: ein Knabe, an dem Gesichter von Soldaten vorüberziehen . . E r s t die Aufhebung der Zeit und das Gefühl des „Nirgendwohin-Gehören und Überall-Sein" ermöglicht den Übergang des Ich in die ihn umgrenzende Welt und schafft jenen xaipösj in dem die Kluft eines Berges so nah wie die Wurzel der Hand ist; erst die Hingabe des Selbst und die im Bewußtsein des Ungeheuren freudig geleistete Opfertat, bei der Priester und Opfertier sich miteinander vermählen, ersetzt das „Nacheinander" durch das „Zugleich", die Trennung durch die verbindende Nähe. „Einmal offenbart sich jedes Lebende, einmal jede Landschaft, und vöUig: aber nur einem erschütterten Herzen." Dodi die Kommunikation dauert nur Sekunden, und das Empfinden, etwas sei „gewesen", zerstört den Augenblick mystischer Einswerdung, kaum daß er ausgekostet wurde. Die Situation zu Beginn der dritten Skizze „Die Statuen" weicht deutlich vom bisher Erfahrenen ab. Die Verbindung ist zerrissen, und das klare Bewußtsein empfindet das magische Spiel als peinlich und fremd: „Jener Wanderer war weit weg von mir, als icäi am nächsten Abend zur Akropolis hinaufstieg. Auch von den Gestalten des eigenen Lebens hätte keine hier herantreten können. Es war als wäre ein Etwas zwischen mir und ihnen wieder didit geworden, und die Erinnerung an die Magie, die uns umsponnen hatte, schien befremdlich." Leben und Lidit scheinen dem Blick des Erwaditen fern und unwirklich, alles ist voll Schatten, und „selbst die Steine sind vom Alter verwest". Sogar das Wunder einer Säule voll „unsäglicher Strenge und Zartheit" deutet auf Vergänglidies, und der Sciiritt des angstvoll verzagten Wanderers stockt, als er auf sie zugehen will. Fragment und Torso scheinen einzige Wirklichkeit, die Griechen sind für immer entsdiwunden, und „das kleine Wort ,Gewesen' war stärker als diese ganze Welt". Erinnerung und Zeitmaß verhindern reines Dauern und schaffen eine tiefe Kluft zwisdien dem Betrachter und seinem fernen Gegenüber. Poesie,
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Kunst und Geschichte, die ganze Welt des Altertums löst sich vor dem illusionslosen Blick des Betrachters auf wie ein „farbiger Nebel". Die kurze Begegnung mit Piaton, bewußte Vision, erneuert die tiefen Sekunden auf der "Wanderung und im Klosterbezirk nicht: Zeit und Ort bleiben erkannt, und die Ernüchterung folgt allzu schnell. Kein lebendiger Mensdi, sondern ein Phantom schritt vorbei. Der Schatten des eigenen Ich, die Gegenwart des Nüchtern-Unverwandelbaren scheint unüberwindlich. Das Gift der Zeit und die ungewollte Entschlossenheit, sich um keinen Preis noch einmal verwandeln zu lassen („aber ich wollte mich diesem nicht hingeben") lassen auch Dichtung und Fabel fremd und unverstehbar erscheinen. Entschlossen legt der Wanderer den „Philoktet" aus der Hand und begibt sich in das kleine Museum, wo man ihn längst erwartet. Das - später gestrichene^" — Gesprädi mit dem redelustigen Kustoden hat, wie in den beiden ersten Skizzen, die Funktion, einzuführen und das Wunder vorzubereiten. Aber was die Landschaft präludierend eröffnete, droht das Geschwätz des Wächters gerade zu vernichten. Doch endlich, kaum mehr erhofft, öffnet sich trotzdem noch einmal die Pforte, die schon für immer verschlossen schien. Aber der Kampf des Ich, das nach Behauptung und Erhaltung strebt, ist jetzt entschlossener als in den träumerischen Augenblicken von Delphi. Nur langsam und schrittweise wird die „unmögliche Antike" wiedergefunden, das „vergebliche Suchen" durch reines Finden belohnt. Erst die entschlossene Abwendung von dem gefährlichen Schwätzer schafft die Voraussetzung für die dritte und höchste Begegnung - die Verzauberung durch die Statuen jener attischer Mädchen, die das Erschauern, welches der Wanderer im Anblick der Landschaft und in der Begegnung mit dem unglücklichen Landsmann empfand, noch einmal, ein letztes Mal in ihm wachrufen. „In diesem Augenblick geschah mir etwas: ein ®® Die „Augenblicke in Griechenland", einzeln zum Teil schon vorher (im „Morgen" 1908 und im „Insel-Almanach auf das Jahr 1912") abgedruckt, erschienen zum ersten Mal gesamt im dritten Band der prosaischen Schriften, 1917. Die Striche wurden zwischen der Publikation von 1917 und dem Wiederabdruck der Gesammelten Werke im Jahre 1924 vorgenommen.
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namenloses Erschrecken: es kam nicht von außen, sondern irgendwoher aus unmeßbaren Fernen eines inneren Abgrundes: es war wie ein Blitz: den Raum, wie er war, viereckig, mit den getünditen Wänden und den Statuen, die dastanden, erfüllte im Augenblick viel stärkeres Lidit, als wirklich da war: die Augen der Statuen waren plötzlich auf midi gerichtet, und in ihren Gesichtern vollzog sich ein völlig unsäglidies Lächeln. Der eigentliche Inhalt dieses Augenblickes aber war in mir dies: ich verstand dieses Lächeln, weil idi wußte: ich sehe dies nidit zum ersten Mal, auf irgendwelche Weise, in irgendwelcher Welt bin ich vor diesen gestanden, habe ich mit diesen irgendwelche Gemeinschaft gepflogen, und seitdem habe alles in mir auf einen solchen Sdiredken gewartet, und so furchtbar mußte ich mich in mir berühren, um wieder zu werden, der ich war." Was sich in den ersten beiden Skizzen ankündigte, wird vor den Statuen erfüllt; nicht nur Ich und Welt, Landschaft und Individuum versöhnen sich, sondern indem der Mensch der K r a f t seines Gegenüber, dem saugenden Blick der Statuen, erliegt, versöhnt er sich in der Erinnerung zugleich mit sidb selbst, hebt die Zeit auf, die ihn von sich trennte, und findet, auf dem Höhepunkt der Anamnesis, in den Geburtswehen sdirecklidier Sdiauer, zu dem zurück, der er einmal war. Wie ödipus vor der Sphinx sieht sich der Wanderer wieder erkannt, aber was den Fluchbeladenen verzweifeln läßt, erfüllt den Beschauer mit feierlicher Freude, weil er weiß, daß er zurückgekehrt ist. Wieder ist er Priester und Opfer zugleich, wieder vollzieht sich das Mysterium außerhalb der Zeit, denn die Anamnesis ist nicht mit den Maßen des Chronos zu messen: „nichts von den Bedingtheiten der Zeit konnte anklingen in der Hingenommenheit, an die ich mich verloren hatte; sie war dauerlos und das, wovon sie erfüllt war, trug sich außerhalb der Zeit zu." Aber der Größe der Vision entspricht schnelles Vergehen®^, das Erwachen verödet die Welt, und Zahl und Zeit werden jäh wieder bewußt: „nichts bleibt zurück als eine todbehauchte Verzagtheit." Doch der Entmutigung - und das macht die Ein„ K o p a i Das unheimlidie Vergessen von Augenblick zu Augenblick." „Ad me ipsum", a. a. O. S. 369.
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maligkeit dieses letzten Augenblicks aus - folgt neuer Aufschwung, neue Besinnung („aber, mein Gott, wie wirklich sind s i e . . . wie schön sind sie"), und unversehens wird aus Kalkül und rationellem Genuß ein zweites tieferes Einssein: die Verbindung erneuert sich innig, die „Welt, in der ich atme und lebe" wird zum zweiten Mal einbezogen, und aus Ernüchterung und Bei-sich-sein entsteht unvermittelt, durch drängende Fragen bezeichnet, ein zweiter Traum, eine neue, größere Woge seligen Vergessens. Festigkeit und Form lösen sich auf, und während die Oberflädie sidi mehr und mehr entzieht, verwandeln sich die Körper in Bewegung und Rhythmus, die Koren neigen sich nieder, der Wanderer hebt sein Auge empor: „mein Auge sank nidit, doch sank eine Gestalt über die Knie der einen Priesterin hin, jemand ruhte mit der Stirn auf dem Fuß einer Statue. Ich wußte nicht, ob ich dies dachte, oder ob dies geschah. Es gibt einen Schlaf im Wachen, einen Schlaf von wenig Atemzügen, der größere Kraft der Verwandlung in sich hat und dem Tode verwandter ist als der lange tiefe Schlaf der Nächte." Der zweiten Vision folgt ein neues Besinnen; aber jetzt bricht der Traum nicht ab, sondern Nüchternheit und Magie verbinden sich zu höherer Synthese. Seltsam Paradoxes geschieht. Klarheit hebt den Traum nicht auf, sondern vertieft ihn, Erinnerung schafft zugleich Vergessen, und das Gefühl, in der Gewalt der Gegenwart zu sein, schließt das Wissen nicht aus, mit den Statuen schon in langem vertrautem Umgang zu leben. Zahl und Unterschiede erweisen sich als belanglos, denn über die Zeiten hinweg ist die Seele des Beschauers in der Erinnerung wieder zu sich selbst gekommen. Ariadnes Wissen um die Verbindung von Vergessen und Erinnern erscheint im Anschaun der Statuen vorweggenommen. Das Ich löst sich, von der reinen Gegenwart der Koren überwunden, auf; die Ewigkeit des andern läßt den Betrachter, selbstverloren und mächtig, in das geliebte Bild hinübergleiten, und die Distanz zwischen Beschauer und Geschautem ist wie in der heiligen Handlung des Opfers zunichte geworden. „Und indem ich mich immer stärker werden fühle und unter diesem einen Wort: Ewig, ewig! immer mehr meiner selbst verliere, schwingend wie die Säule
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erhitzter L u f t über einer Brandstätte, frage ich mich, ausgehend wie die L a m p e im völligen Licht des Tages: Wenn das Unerreidilidie sidi speist aus meinem Innern und das Ewige aus mir seine Ewigkeit sich aufbaut, was ist dann nodi zwischen der Gottheit und mir?" Dreifadi, in der Begegnung mit der Landschaft, dem Menschen und der Plastik, vollzieht sich der Akt geheimnisvoller Transzendenz. Dreimal, in der Eroberung des heilig-delphischen Bezirks, im Ansdiauen böotisdier Felsen und in der Verzauberung durdi das Lächeln der Mäddien, hebt sich der Vorhang zwischen Subjekt und Objekt, Heute und Gestern, Wadien und Traum. Dreimal beschreibt Hofmannsthal den K a i p ö ; der Verwandlung, den das „Gesprädi über Gedichte" analysiert. Was er im Mai 1908 in Griechenland erfuhr^^ war nicht das Erlebnis eines Mannes, der, während er reist, in Wahrheit immer noch zu Hause ist; es war nicht die Impression eines flüchtigen Augenblicks, sondern die Erfahrung einer unendlichen zeitlosen Gegenwart: „dieses Land i s t . . . kein L a n d der Vergangenheit wie Italien, dazu ist es zu geheimnisvoll g e g e n w ä r t i g , . . . man Bedeutsam erscheint die Wahl der Reisegefährten: H a r r y Graf Keßler und Aristide Maillol. Keßlers Kennerschaft erweist seine Interpretation des Hauptmannschen Griechenlandbuchs „Griediischer Frühling" in der Neuen Rundschau 20, 1909, S. 719 f!. Maillols Einfluß auf Hofmannsthal müßte genauer geprüft werden — die Entdeckung des Plastischen, die der Dichter in Griechenland machte, könnte auf die Schulung durch Maillol zurückgehen. Die Bedeutung der bildenden Kunst für Hofmannsthals Verständnis der Antike ist nicht zu unterschätzen: Die „Idylle" geht auf Böcklin zurück, die „Alkestis" zitiert die Malerei von Stuck, und Ludwig V. H o f m a n n s „ T ä n z e " würdigt der Dichter durch eine ausführliche Interpretation. H o f m a n n s Bedeutung für die Literatur der Zeit sollte bald einmal untersucht werden; dabei müßten außer Hofmannsthal vor allem George („Südliche Bucht" und „Feld vor R o m " im „Teppich des Lebens") und Gerhart H a u p t m a n n berücksichtigt werden, der von H o f m a n n (wie Hofmannsthal von Maillol) nach Griechenland begleitet wurde und später einen Prolog zu den „ R h y t h m e n " schuf. Der Tatsache, in wie starkem Maße die von den Malern geschaute Landschaft später für die Dichter bedeutsam wird, ist bisher wenig Beachtung geschenkt worden — und wie fruchtbar wäre zum Beispiel eine Untersuchung der (in der Folge von Klees und Mackes tunesischen Impressionen entstandenen) Nordafrikaliteratur bis zu Camus und Paul Bowles!
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ist wie außerhalb aller Zeit^®." Griechenland war für Hofmannsthal zugleidi das Selbstverständlich-Vertraute (so vertraut-bekannt, wie es das Zeitlose zu sein pflegt) und das Fremd-Bedrohliche, demgegenüber die gewohnten Maße versagten: „Das Fremde, das absolut F r e m d e . . . ich bin glücklich, das endlich einmal kennengelernt zu haben®^." „Ich habe ganz fälschlich irgendeine A r t Italien erwartet und habe den Orient gefunden^®." Zwisdien Delphi^® und Athen ging ihm vielleicht zum ersten Mal der dämonische Zauber jener düsteren Landschaft auf, die er sechzehn Jahre vorher in den „südfranzösischen Eindrücken" vorweggeahnt hatte. Wie Gerhart Hauptmann, der ein Jahr vor ihm reiste, und dessen Tagebudi eine so überraschende Ähnlichkeit mit seinen Notizen aufweist®'', fand er das "Wesen der Griechen in der Landschaft und in der Plastik, im Bild der Gebirge und im Spiegel der Menschen^®. Der Formenreichtum des Gebirges schien dem vollkommenen Leib zu entsprechen - beides war unberührbar und nah, beides, das gewachsen Geformte und das zur Formung Gewadisene, wie Innen und Außen, Subjekt und Objekt, aufeinander bezogen®®. Briefe 1900—1909, a. a. O. Nr. 247 (Brief an die Fürstin Marie Taxis vom 11. 5.1908). aus dem gleichen Brief an die Fürstin Marie Taxis. Briefe 1900—1909, a. a. O. Nr. 248 (Brief an den Vater aus Triest). In Delphi hielt sich Hofmannsthal vor allem Maillols wegen auf, „. . . weil viele antike Statuen und Trümmer dort sind" (Briefe 1900 bis 1909, a. a. O. Nr. 246). Vergl. hierzu den Vergleich der Hauptmannschen und der Hofmannsthalsdien Version des Eindrucks, den das Kloster Hosios Lukas am Abend macht, bei Joseph Gregor: „Gerhart Hauptmann", Wien 1951, S. 442 ff. Für die Bedeutung des Griedienlanderlebnisses im Gesamtwerk Gerhart Hauptmanns vergl. Felix A. Voigt: „Antike und antikes Lebensgefühl im Werke Gerhart Hauptmanns", Breslau 1935, S. 52 ff. Die Götter in der Natur und die Plastizität der Gestalt waren auch Hauptmanns wichtigste Griechenlandeindrüdce. Eine Kopie des delphischen Wagenlenkers stand in seinem Arbeitszimmer in Agnetendorf. Auf die Deutung der Natur macht vor allem Keßlers Aufsatz, a. a. O., aufmerksam. Wie sehr gerade Gerhart Hauptmann Hofmannsthal als einen Bruder der Griechen ansah, beweist sein Nachruf im Berliner Tageblatt vom 16.7. 1929: „Der begnadete Schüler des Plato ist mit seinem Meister vereint." »» Vergl. Hermann Brodi, a. a. O. S. 29 ff.
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Was Rilke vor den frühen Apollo-Torsen empfand - Anziehung und Abkehr, Anruf und Versagen^» erfuhr H o f mannsthal im Ansdiaun der Akropolis-Koren. Georges Vision südlidier Landsdiaft^^, Rilkes Plastik-Erlebnis und Hauptmanns Ahnung von der Gegenwärtigkeit der Götter des Blutes und des Opfers^^ verband er zu dreifach gegliederter großer Zusammenschau. Dreimal legte er am Beispiel griechischer Landschaft und Kunst Zeugnis für jene Gegenwart und Unvergänglichkeit der Antike ab, von der er 20 Jahre später, in systematischer Form, in seinem berühmten Vortrag vor den Freunden des humanistisdien Gymnasiums kündete. D a freilich war das in Griechenland ahnungsvoll Geschaute und im Tagebuch als Lebenshöhepunkt Verzeichnete („das Plastisdie gegenüber dem Visuellen: in Köpai [Statuen]") längst zu selbstverständlidiem Besitz geworden und hatte sich inmitten einer aufgelösten, aus den alten Ordnungen gerissenen Welt als unverlierbarer Bestand erwiesen. J e älter Hofmannsthal wurde, je stärker er nach sicherem Fundament in der Erscheinungen Flucht und nach bewährter Tradition im Zerfall der mit Habsburgs Sturz versinkenden Werte suchte, desto wichtiger wurde ihm die Be^^ Vergl. hierzu Harry Mielert, a. a. O. S. 51, der mit Redit audi für Rilke eine Beeinflussung durch die Malerei des ausgehenden Jahrhunderts (Hans V. Marees) annimmt, Ulridi Hausmann: „Die Apollosonette Rilkes und ihre plastischen Urbilder", Berlin 1947 (Kunstwerk und Deutung 2), Gertrud Sdiiebel: „Rilke und die bildende Kunst", Diss. Gießen 1933 und "Wolfgang Schneditz: „Rilke und die bildende Kunst", Diss. Graz 1947. ^^ Stefan George: „Der Teppidi des Lebens": „Feld vor R o m " und „Südlidie Bucht". Vergl. hierzu grundsätzlich Kurt Wais: „Die zeitgenössische Dichtung und die bildenden Künste." Atti del quinto congresso internazionale di lingue e letterature moderne, Florenz 1955, S. 457 ä . ^^ Vergl. Gerhart Hauptmann: „Griediischer Frühling", Das gesammelte Werk, Berlin 1942, Band 5, S. 182 ff. Zum Verhältnis von Heiterkeit und Düsternis bei den Griechen — eine Antithetik, auf der Hermann Bahr seine ganze „Hysterietheorie" aufbaute — vergl. Hofmannsthals Entwurf zu einem Grillparzer-Vortrag, H. v. H . : Ges. Werke . . . Prosa II, a . a . O . S. 93: „dieses Ausschöpfen des tragischen Gehalts uralter Mythen: warum ließen die Griechen Furchtbares hervorgehen aus einer Jagd nach dem Glänzenden . . ." IC Jens
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SCHRIFTEN
sinnung auf das Erbe der Griechen*®. In einer Zeit, da der Geist selbst verwundet zu sein schien und niemand sich der allgemeinen Bedrohung zu entziehen vermodite, pries der Dichter die Griedien als die einzig Beständigen im Chaos der Gegenwart, ja, er postulierte, daß die Antike aufzugeben: sich selbst aufzugeben hieße, da sie dodi unser Denken selber und, als „ein herrliches Ganzes, zu jeder Stunde zu neuer Verwandlung und jäher unvermuteter Metamorphose fähig" sei. Die hoffnungslose Zeichnung, die Hofmannsthals Vortrag von der Gegenwart und ihren gespenstisch-unerforschten Abgründen entwarf, findet ihre antithetische Entsprechung in dem Hymnus auf eine Epoche, die, über selbst hinauswirkend, „der Dunkelheit den Lichtstrahl schenkt, der sie adelt". „Das, wofür Sie einstehen, ist der Geist der Antike, ein so großes N U M E N , das kein einzelner Tempel, obwohl viele ihm geweiht sind, es faßt. Es ist unser Denken selber; es ist das, was den europäischen Intellekt geformt hat. Es ist die eine Grundfeste der Kirche und aus dem zur Weltreligion gewordenen Christentum nicht auszuscheiden; ohne Piaton und Aristoteles nicht Augustin noch Thomas. Es ist die Sprache der Politik, ihr geistiges Element, vermöge dessen ihre wechselnden und ewig wiederkehrenden Formen in unser geistiges Leben eingehen können. Es ist der Mythos unseres europäischen Daseins, die Kreation unserer geistigen Welt (ohne weldie die religiöse niciit sein kann), die Setzung von Kosmos gegen Chaos, und er umschließt den Helden und das Opfer, die Ordnung und die Verwandlung, das Maß und die Weihe. Es ist kein angehäufter Vorrat, der veralten könnte, sondern eine mit Leben trächtige Geisterwelt in uns selber: unser wahrer innerer Orient, offenes unverwesliches Geheimnis. Es ist ein herrliches Ganzes; tragender 43 Vergl. H a n s Heinrich Schaeder: „In memoriam H u g o v. H o f m a n n s thal", a . a . O . S. 235: „Die alte Frage der Hofmannsthalsdien Diditung nadi Vergangenheit und Ewigkeit, nach dem Verharren des Vergangenen im Jetzigen scheint jetzt ihre letzte Lösung zu finden, indem sie sidi mit geschichtlicher Anschauung füllt. Denn Geschidite ist der Seinsbereich, der ewigen Fluß und ewige Dauer, Beharren und Wandlung umspannt." Vergl. audi Arnold Bergsträsser": „Hofmannsthal und der europäische Gedanke", Kieler Universitätsreden H e f t 2, Kiel 1951, S. 5 ff.
DIE THEORETISCHEN SCHRIFTEN
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Strom zugleich und jungfräulidier Quell, der immer rein hervorbricht. Nidits in seinem Bereidi ist so alt, daß es nicht morgen als ein Neues, strahlend vor Jugend, hervortreten könnte^^." „Die Setzung von Kosmos gegen C h a o s " : mit diesem Satz ist die Hinwendung des späten Hofmannsthal zur Antike am deutlichsten bezeichnet. Griechenland — das war der Geist gegen den Ungeist, das Licht in der Dunkelheit, die Ordnung inmitten einer Welt, die mit der verlorenen N o r m audi die verbindlichen Gesetzestafeln aufgegeben hatte. Der Hofmannsthal der zwanziger Jahre wußte, daß mit einer Zusammensdiau verschiedener Antike-Interpretationen im Sinne der frühen George-Rezension nichts getan war. Das Erlebnis des Zusammenbruchs und die Begegnungen auf der griechisdien Reise hatten ihn überzeugt, daß es eine neue, unberührte Antike zu sdiaffen gälte, wenn die Reinheit des Urbildes nicht durch zwiefache Brechung, sondern nackt und schleierlos ersdieinen sollte. Der Aufsatz „Griechenland^®" aus dem Jahre 1922 sudit deshalb zu zeigen, daß "Weggefährten und Begleiter zurückbleiben müssen, wenn sidi der Mensch dem Ungeheuren selbst überläßt. „Wir kommen an, verloren in einem Bündel schattenhafter Gefährten. Aber wie wir den Fuß auf diesen Strand setzen, das wirkliche Gestein unter unserer Sohle fühlen, die sonnige und frische L u f t einziehen, lassen sie uns alle im Stich. Wir stehen im Vorhof unserer Sehnsucht, und wir fühlen, daß wir unseren Führer verloren haben." Weder Goethe, der nie ein griechisdies Original sah, noch Winckelmann als ein verharmlosender Cicerone, weder Burckhardt nodi Nietzsdie oder Bachofen, die das Licht Griedienlands niemals ahnten, können Zeugen und Helfer sein, wenn es gilt, sich der schattenlosen Helle des griediisdien Tages zu stellen und im Licht des zeusgeborenen Gottes die Inkarnation „Das Vermächtnis der Antike", Rede anläßlich eines Festes
von
Freunden des humanistischen Gymnasiums. Die Berührung der Sphären, a. a. O. S. 255 ff. Erste Publikation in den „Basler Nachriditen" v o m 17. und 24. 12. 1922. Später als Vorrede zu „Griechenland" von H . H o l d t und H . v. H o f mannsthal, Berlin 1923 erschienen. Die Berührung der Sphären, a. a. O. S. 316 ff.
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des Geistes zu sehen. Theorem und Vorstellung, Lektüre und Ahnung erweisen sich als unzureichend, um das Wunder des Lichts und die sich im Schatten des Wunders vollziehenden Begegnungen von Mensch und Landsdiaft zu beschreiben. Der Mythos Homers aber wird greifbar-gegenwärtig: er, den man als Resultat kühner Phantasie und als Produkt bezaubernden Fabulierens begriff, erweist sich als wirklich und der Realität des hellen griechischen Tages entsprungen . . . wacher Intellekt, nicht der Traum einer Stimmung begreift ihn. Alles Trennende scheint im Zeidien des Lichts aufgehoben^®: wo keine Schatten sind, ist auch kein Gestern; wo allein das Gesetz der Helle herrscht, ist die Antithese von Leib und Geist überwunden: „unsere abgeblaßte Winckelmannsche Vision, die das Schöne zu nahe an ein Anmutiges, und an ein entnervtes Anmutiges, herangebracht hatte - zu nahe an Canova! - und die noch immer irgendwo in uns lauert, hatte uns vergessen machen, wie eng die Schönheit mit der Kraft verschwistert ist und die Kraft mit allem Furchtbaren und Drohenden des Lebens - wie könnte sie sonst das Leben auf die Knie zwingen!" Welch ein ungeheurer Bogen von der kaum eingestandenen Verherrlichung des späten Walter-Pater-Roms und der Blutkult-Antike Swinburnes bis zu der großen Zusammenschau griechischen Wesens, der Synthese von Schönheit und Kraft, Lidit und Geist, in dem Griechenland-Aufsatz von 1922! Welch eine Spannweite zwischen dem Hinweis auf die reizvolle Aufgabe, Goethes, Shelleys und Hölderlins Antike zusammenzusehen bis zur erbarmungslosen Erkenntnis, daß das Griechische sich allein in der ungesdiützten Begegnung, der gleißenden Helle des Lichts, der führerlosen Einsamkeit erfahren ließe! Welch eine Wandlung schließlich vom Prolog zu Ludwig von Hofmanns Tänzen bis zum „Vermäditnis der Antike" vom Jahre 1928, jenem großen letzten Bekenntnis zur griechischen Welt, in dem „sich zu den Griechen bekennen" soviel wie „ein Mensch sein" heißt, Vergl. hierzu den aus der gleichen Vorstellung, der gleichen Feier des Lichts
erwachsenen
großen
Essay
von
Thedor
Däubler:
„Delos",
Deutsdie Rundschau 202, 1925, S. 178 ff. und S. 310 ff. Das M o t t o dieses Aufsatzes: „o lumen o numen" könnte auch über Hofmannsthals Reisebericht stehen.
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well ja das Antike nidit außer uns, in der Welt geistiger Reservate, sondern in uns, im geheimen Raum der sich an ihre Heimat erinnernden Seele zu suchen sei: „Es ist kein angehäufter Vorrat, sondern eine mit Leben träditige Geisterwelt in uns selber: unser wahrer innerer Orient, offenes unverweslidaes Geheimnis." Mit dem Griedienland-Aufsatz von 1922 und dem Vortrag von 1928 spricht Hofmannsthal aus, was er auf seiner Hellasreise als Auftrag erfuhr: den im Staunen des Augenblicks erfahrenen Anruf der Griechen. Kraft seiner Stellung als Erbe, seinem Wissen um die Antike als die eine große Ordnungsmacht der europäischen Gesdiidite, seiner Erfahrung, daß eine mythische Zeit wie die Gegenwart des unverfälschten Mythos bedürfe und nicht zuletzt dank seiner Sprachbeherrschung^^, die ihm, wie die Aufzeichnungen zeigen, das Griechische mühelos ins Deutsche übergehen ließ, war er wie kein anderer berufen, diesen Auftrag weiterzugeben und damit ein Zeugnis abzulegen für die Gegenwart des griechischen Geistes. Hofmannsthal war vielleicht der letzte Europäer, dem Griechenland ein Synonymon für den Geist selbst war - jenen objektiven Geist, der sich in der wachen Phantasie des Dichters widerspiegelt: „In einem wunderbaren Intellekt müßten die Dinge so daliegen (wie im griechischen Lidit), so wach und so besänftigt, so gesondert und so verbunden - wodurch verbunden? nicht durch Stimmung . . . nein: durch den Geist selbst^®." Von allen Dichtern, die sich in unserem Jahrhundert mit der Antike beschäftigt haben, sdieint Hofmannsthal schon deshalb der berufenste zu sein, weil er des Griechisdien mäditig war wie kaum ein anderer auch die schwierigsten Texte, wie Pindar, Weise,
manchmal
bei
absonderlichen
in der
Umständen,
und
selbstverständlichsten zum
Beispiel
einem
Manöver (Briefe 1890—1901, a. a, O. N r . 142), zu lesen verstand. Dabei urteilte er über sein Verständnis sehr bescheiden: „Die antike Tragödie begreif ich noch gar nicht." (Briefe 1890—1901,
a. a. O. N r . 144).
Un-
begreiflich aber war es ihm, wenn sich jemand der Antike näherte, ohne die seiner Ansicht nach unerläßlichen Voraussetzungen mitzubringen: „Daß Goethe nicht gut griechisch konnte und nie ein echtes griechisches Bildwerk mit Augen gesehen hat, ist seltsam zu denken." (Budi der Freunde, a. a. O. S. 79.) „Griechenland", Die Berührung der Sphären, a . a . O . S. 318.
ANHANG EINLEITUNG Erste Versuche, den Mythos neu zu gestalten: „Leda und der Schwan" (1900), „Jupiter und Semele" (1901), in: Dramatische Entwürfe aus dem Nachlaß, "Wien 1936, neuerdings in H . v. H.: Ges. Werke Dramen II, S. 501 ff. Vor allem der auf Euripides' „Bacchen" zurückgehende Pentheus-Stoff hat Hofmannsthal, wie die Aufzeichnungen und Briefe aus den Jahren 1903 und 1904 beweisen („Bacchen des Euripides zu erneuern", Corona 9, a. a. O. S. 673), außerordentlich gereizt. Vergl. dazu H . v. H.: Briefe aus dem Nachlaß 2, 1900—1909, Wien 1937, Nr. 79 („Dann die ,Bacchen', eine ganz freie Umdichtung"), Nr. 104 („daneben spiele ich mich auch mit den ,Bacchen' im Kopf herum"), N r . 119 („,Pentheus' im Stoff den ,Bacchen' des Euripides nahe, aber viel reicher und schöner, hat sich zum Szenarium gegliedert, zweiaktig;") und vor allem N r . 122: „.. . dazwischen drängt sich der noch viel fascinierendere Plan der ,Bacdien'. Es müßte alles auf die Bühne kommen, was bei Euripides erzählt wird, alles erzählt werden, was bei Euripides dargestellt ist. Ich sehe es in Verwandlungen, aber nicht maschinellen, sondern solchen, wo auf einer fast nackten Bühne ein anderes Lidit, ein hingestelltes Ruhebett, ein aufgehängter Teppich, genügen, um die Phantasie frisdi anzuregen, ohne sie zu binden. Es sind in diesem Stoff so scliöne Möglichkeiten, fast ungreifbare, nie recht zu beredende Dinge allegorisch auszudrücken: als das Verhältnis des Einzelnen zur Kunst oder besser den unheimlichen Gegensatz jener beiden Verhältnisse zur Kunst, in denen eigentlich alle Menschen stehen: das des Enthusiasmus und das des wilden Hasses. Wie schön, daß dieser Mythos die Möglichkeit hergibt, das auszudrücken. Dabei ist es eine aufregende Handlung." Vergl. ferner: „,Pentheus'. Das ganze Szenarium dazu gefunden. In zwei Aufzügen. Die Handlung hat mit den ,Bacchen' des Euripides nun fast nichts mehr zu tuen." („Aus Hugo v. Hofmannsthals Tagebüchern", Corona 6, 1936, S. 571; vergl. auch S. 578.) Vergl. weiterhin Hofmannsthals Bemühungen um eine Neuinterpretation des Mythos von Odysseus, Corona 4, 1933—1934, S. 706: „Homer: die Figur des Odysseus. Hier ist aus der Analyse dieser Figur der Begriff des Heros abzuleiten, der sich von
ANHANG
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der viel greifbareren, Dürerisdien K o n t u r des germanischen Helden sehr unterscheidet. E r
ist keineswegs ein shakespearisdier
Charakter;
er ist
weder durch sozialen R a n g n o d i durch das Ambiente seiner Person, noch durdi das Alter eines reifen Mannes irgend bedingt. E r taugt für die Arbeit eines Ruderknedites und Jägers ebenso wie in die Situation eines gefangenen
Sklaven, eines Liebhabers,
eines bescheidenen
Gastes,
eines
Händlers, eines Lügners . . . ( A n k u n f t in I t h a k a : Szene mit der als H i r t verkleideten Athene) — Was ihm dennodi den Schwerpunkt gibt, ihn zusammenhält, ist keineswegs W ü r d e im mittelalterlichen Sinn, sondern ein viel Dämonischeres, eine Materie den G ö t t e r n verwandt, — so sind die Korai aus dem Perserschutt der Akropolis den G ö t t i n n e n wesensverwandt." Ausgangspunkt der Variation (Trennung von griechischem Heros und germanischem Helden) ist eine vorweggenommene Erfahrung: das in „Ad m e ipsum" und den „Statuen" beschworene Erlebnis der Korai.
ALKESTIS ® Vergl. „Das Gespräch über Gedichte", in H . v. H . : Ges.
Werke...
Prosa II, a . a . O . S. 103 f.: „Mich dünkt, idi sehe den ersten, der opferte. E r fühlte, daß die G ö t t e r ihn haßten: daß sie die Wellen des Gießbaches und das Geröll der Berge in seinen Acker schleuderten; daß sie mit der fürchterlichen Stille des Waldes sein H e r z zerquetschen wollten; oder er fühlte, daß die gierige Seele eines T o t e n nadits mit dem W i n d hereink a m und sich auf seine Brust setzte, dürstend nach Blut. D a griff er, im doppelten D u n k e l seiner niedern H ü t t e und seiner Herzensangst, nach dem scharfen k r u m m e n Messer und war bereit, das Blut aus seiner Kehle rinnen zu lassen, dem furchtbaren Unsichtbaren zur Lust. U n d da, trunken vor Angst und Wildheit und N ä h e des Todes, wühlte seine Hand, halb unbewußt, noch einmal im wolligen warmen Vließ des Widders. — U n d dieses T i e r , dieses Leben, dieses im Dunkel atmende, blutwarme, ihm so nah, so vertraut — auf einmal zuckte dem T i e r das Messer in die Kehle, und das warme Blut rieselte zugleich an dem Vließ des Tieres und an der Brust, an den Armen des Menschen hinab; und einen Augenblick lang muß er geglaubt haben, es sei sein eigenes B l u t ; einen Augenblick lang, während ein Laut des wollüstigen Triumphes aus seiner Kehle sich mit dem ersterbenden Stöhnen des Tieres mischte, muß er die Wollust
ge-
steigerten Daseins für die erste Zuckung des Todes genommen haben: er muß, einen Augenblick lang, in dem T i e r gestorben sein, nur so konnte das T i e r für ihn sterben. D a ß das T i e r für ihn sterben k o n n t e , wurde ein großes Mysterium, eine große geheimnisvolle Wahrheit. Das T i e r hinfort den symbolischen
Opfertod.
Aber alles ruhte darauf, daß
starb auch
er in dem Tier gestorben war, einen Augenblick lang. D a ß sich sein D a sein, für die Dauer eines Atemzugs, in dem fremden Dasein hatte."
aufgelöst
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ANHANG
Vergl. audi „ ö d i p u s und die Sphinx" in H . v. H . : Ges. ' W e r k e . . . . Dramen II, a. a. O. S. 291. „Der Strom des Bluts, / das war die sdiwere, dunkle Flut, in der / die Seele taudit und findet keinen Grund. / Das war in mir. Nein, das war idi! Ich war / ein wilder König, der erbarmungslos / ein Weib umsdilingt in einer Stadt, die brennt, / und war auch der Verbrennende im T u r m / idi war der Priester, der das Messer schwingt, / und ich zugleich war auch das Opfertier." Vergl. ferner: „Augenblicke in Griechenland", „Die Statuen," in H . v. H . : Ges. Werke Prosa III, a. a. O. S. 37. „Irgendwo geschah eine Feierlichkeit, eine Schladit, eine glorreicjie Opferung: das bedeutete dieser T u m u l t in der L u f t , das Weiter- und Engerwerden des Raumes — das in mir dieser unsagbare Aufschwung, diese übersdiwellende Geselligkeit, wechselnd mit diesem sdilaffen todbehauditen Verzagen: denn ich bin der Priester, der diese Zeremonie vollziehen wird — ich auch das Opfer, das dargebracht wird: das alles drängt zur Entscheidung, es endet mit dem Überschreiten einer Schwelle, mit einem Gelandetsein, einem Hier — mit diesem Dastehen hier, ich inmitten dieser: noch ist das Ganze Gegenwart . . . " Die Bedeutung des Opfers als eines Grundmotives findet sich in anderer Weise, aber nidit weniger zentral, übrigens auch bei Gerhart Hauptmann. Vergl. Heinz Fuhrmann: „Der Atriden-Mythos im modernen Drama. H a u p t m a n n — O'Neill — Sartre", Diss. (Masch. Sehr.) Würzburg 1950, passim. (Besonders die Hauptmannsche Iphigenie in der „Atriden-Tetralogie", vor allem dem Sdilußstück „Iphigenie in Delphi", ist Hofmannsthals Frauen, unter dem Gesichtspunkt des Opfers, vielfach verwandt. Vergl. Fuhrmann, a. a. O. S. 106 ff.)
ELEKTRA Das Archaische betonen unter vielen anderen vor allem Karl Federn in der „ Z u k u n f t " 47, 1904, S. 234: „Hofmannsthal hat nicht etwa moderne Menschen aus den Helden des Sophokles gemacht. Sie sind vielleicht in einem Sinn — man könnte das Paradoxon aussprechen — griechischer als die Griechen des Sophokles selbst; es sind wahrhaftigere Griechen der Urzeit. Es sind Griechen, geschaut mit moderner Psychologie und modernem kulturhistorischen Wissen." Adolf v. Grolman, Die schöne Literatur 10, 1929, S. 458: „Hofmannsthal sah anfangs die Antike rein bukolisch, theokritnahe, ohne in den Geßnerschen Idyllenton zu verfallen; alsdann jedoch wurde er gewahr, daß die Antike etwas anderes ist, als wie Winckelmann und Goethe es für lange Jahrzehnte einem deutschen Volke stilisiert hatten; er stieg in die Abgründe, in das lä-bas der orphischen Mysterien . . . und er sah die dunklen Gänge der Menschen." Emil SulgerGebing, „ H u g o v. H o f m a n n s t h a l " , Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte 3, 1905, S. 76: „Alles Apollinische ist verschwunden", und vor allem Alfred Kerr, Die neue Rundschau 11, 1900, S. 660, abgedruckt in „Die Welt im
ANHANG
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Drama" I, Berlin 1917, S. 155 ff.: „Schlächtereien — Hofmannsthal übernimmt den Zug, daß ,kein Mann im Haus ist'. Zuerst Klytämnestras Todesschrei, — man kennt von der Adelheid im Götz, wie stark so ein Todessdirei vom Nebenzimmer wirkt. Zuvor jedoch ein besondrer Nervenreiz: ein .furchtbares Warten'. Hiernach Klytämnestras zweiter Sdirei. ,Von drinnen ein zweiter Schrei.' Dann wird Ägisth geschlachtet. Er tritt ,schreiend' an ein Fenster und ,wird weggezerrt'. Dodi er erscheint bei Hofmannsthal nodi ein zweites Mal an einem Fenster — und ,wird fortgerissen'. N u n e r s t . . . N u n erst machen auch die Knechte ein Blutbad unter sich. Alle — , . . . alle, / die leben, sind mit Blut bespritzt und haben / selbst Wunden, und doch strahlen alle, alle / umarmen sich —.' Ein Blutplätschern; wie etwa beim d'Annunzio noch über Rosen Blut strömt. Und jetzt, am Schluß, ,wirft' Elektra ,die Knie' und tanzt (nachdem sie sdion zuvor den Ägisth umtanzt hatte mit einer Fackel), sie tanzt einen ,namenlosen Tanz'. Und tanzend bricht sie im Tode zusammen.. . . Dieses Stück von vorn bis hinten ist: die Erfüllung eines Gefühls. Wir haben keinen Schlächterdurst; wir sehn daher einen Menschen, dessen Gefühle wir nicht teilen; der aber in einem riesenhaften Gefühl ganz aufgeht und untergeht. Und das ist das Fortreißende." Auch Nadlers berühmte Kritik (Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Regensburg 1932®, S. 925 f.) geht in die gleiche Richtung: „Aber ,Elektra' war nicht Trieb zur Antike, sondern erster Durchbruch des Barodts, Blut und Grauen wie zur gleichen Zeit bei der Handel-Mazetti. Noch war alles ins Schauerlidie gesteigert, Barock als das ungeheuerlich Übertreibende, wenn auch im Quaderstil jener Göttermenschenzeit begründet." Vergl. auch Albert Soergel: „Dichtung und Dichter der Zeit" 1928^®, S. 522: „. . . ganz auf wildestes Grausen ist die 1904 erschienene Tragödie ,Elekt r a . . . frei nach Sophokles' gestellt. Ein Stück der Unnatur. Alles ist überhitzt, sogar die Bühnenbemerkungen. Es wird im Blute geschwelgt, Ägisth wird auf offener Bühne geschladitet. Elektra ist die Blutgier in Person." Am überspitztesten, aber geistvoll und prägnant, wiederum Alfred Kerr in seinem „Elektra-Nachklang", „Die Welt im Drama" II, a. a. O. S. 320:
„Ein Krampf. Ein Schreck. Ein Sdiädeldruck. Ein Blutbann lastet auf dem Hause. Man spielt (nach der Musik von Gluck!!) Das Rächerdrama, ohne Pause.
Durchs Beil, im Garn, erlag der Held. Die ihm das Todesnetz geflochten. Die Klytämnestra wird gefällt, Ihr Buhlerich zugleich geschochten.
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ANHANG Die Freude bringt Elektren um; Audi sie? . . . Das Drama ist zu Ende? Verglast sitzt alles Publikum, Dann klatscht man zögernd in die Hände. Den Autor ruft eine kleine Zahl; Und als die Vorhangshälften weichen, Kommt S o p h o k l e s . . . Nein Hofmannsthal, Und lächelt höflich über Leichen."
Vergl. vor allem Hermann Bahr (von einem Teil der Berliner Kritiker neben Arthur Sdinitzler gern als Hofmannsthals psychoanalytischer Berater bezeichnet): Tagebücher 1921—1923, a . a . O . S. 208 ff., der zu zeigen versudit, wie Hofmannsthal jenes griechische Element, das die klassische Antike überwand, die Hysterie, in den Mittelpunkt seines Dramas stellte und damit wieder löste, was die Griechen einst banden. „Wie die Griechen ihre Hysterie loswurden, ist das Geheimnis ihrer dunklen Vorgeschichte, bei Salamis waren sie sie jedenfalls schon los; und alles was wir an ihnen bewundern, ist Zeugnis der bändigenden, bindenden, bildenden Gewalt, mit der sie sich vergessen lernten. Seit Nietzsche wissen wir, was sie zu vergessen hatten, um Griechen zu werden. Aber wenn sich von der in den geheimen Abgründen ihrer Schönheit immer noch zuweilen mit der Kette rasselnden oder dumpf aufstöhnenden Hysterie der Griechen gerade Hofmannsthal immer wieder unwiderstehlidi fasziniert zeigt, so bin ich selbst daran sdiuld: Dreißig Jahre ist's her . . . da retteten wir uns vor der Gypsgriedielei der Heysezeit durch ahnende Blicke nach der rasenden Pein, in der der Grieche seines holden Lächelns genas." Freilich sucht Hermann Bahr seinen Freund in Schutz nehmen: „er will die Griechen doch gar nicht hysterisieren, . . . sie werden ihm bloß, ohne daß er's weiß, unter den Händen, die sie nachbilden wollen, auf einmal hysterisch." Noch weiter, im Zeichen Nadlers Antikes als Barode deutend, geht der Gedächtnisaufsatz der Neuen Rundschau, Die neue Rundschau 40, 1929, S. 625 ff.: „.. . aus Furcht vor dem falschen (Pathos) geriet er zuweilen in den Verdacht, die stille Welt der Griechen ,hysterisieren* zu wollen. Davor hat ihn schon sein dauerndes Verhältnis zu Goethe bewahrt: ,Klarheit und Einfalt', die beiden Tugenden, die Goethe so hoch an der Antike schätzt, blieben ihm warnend zur Seite, wenn er auch freilich, vermeintlich nach der Antike segelnd, unversehens im Hafen des Barode landen mußte. Josef Nadler war der erste, der in Hofmannsthals Entwicklung, die man als Trieb zur Antike deuten wollte, den ,Durchbruch des Barock" erkannte." Stärker noch als Bahr hebt Maximilian Harden das psychoanalytische Element der „Elektra" hervor (Die Z u k u n f t 48, 1904, S. 349 ff.), der Bahrs Grundthese, die vor allem in der Komödie „Der Meister" (1903) und im „Dialog vom Tragischen" (1904) ausgesprochene Anschauung von der griediischen Hysterie, die die Tragödie überwand,
ANHANG
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in Zusammenhang mit Freud, Schnitzler und vor allem Hofmannsthal bringt: „ . . . ich habe, mag der Poet gesagt haben, eine .Elektra' geschrieben, der alle Esel vorwerfen werden, daß sie nicht griechisch, sondern hysterisch sei; als ob der Typus der hysterica nicht audi in Hellas zu finden gewesen sein könnte, sein müßte!" (S. 349). „Elektra ist Agamemnons hysterisdie Toditer!" (S. 352). „In ihrer Seele schwärt das Gräßliche und in den Pulsen pocht eiterndes B l u t . . . Der Gedanke läßt sie nicht los, wird zur dominierenden Vorstellung, zum Krampf, zum clavus hystericus im Hirn." (S. 355) Vergl. ferner Alfred Kerr: „Die Welt im Drama" I, a . a . O . S. 158, Lutz Weltmann, Die Literatur 1924, S. 193 ff.: „Hofmannsthal verkleinert die ,Elektra' des Sophokles, indem er ihren Bluträcherdrang mit ihrer Hysterie motiviert" und Paul Emsts in jeder Weise unverantwortliche Kritik, die den „Feuilletonisten" Hofmannsthal als „Sklaven seiner Zeit" anprangert. („Völker und Zeiten im Spiegel ihrer Dichtung", Aufsätze zur Weltliteratur, München 1940, S. 87.) — Daß sich bei Hofmannsthal Anklänge an Freud finden, ist selbstverständlich. Es wäre unwahrscheinlich, wenn der Dichter ausgereciinet von der großen, in seiner Stadt erwachsenden Bewegung, trotz seines Freundeskreises, keine Kenntnis gehabt hätte. Aber die Beziehungen zwischen Elektras „Affekt" und der von Freud untersuchten Anna O. (einem besonders klassischen Fall: entscheidende psychische Veränderungen nadi dem Tode des Vaters, vergl. Freud und Breuer: „Studien über Hysterie", a. a. O. S. 15 ff.) besagen nur, daß gewisse psychologische Kategorien, derer sich sowohl der Dichter als auch der Wissenschaftler bedienten, „gleichsam in der Luft lagen" — keineswegs aber, daß Hofmannsthal etwa, auf dem Umweg über Schnizler und Bahr, die Freudsdie Analyse „entlehnt" und alle beschriebenen Symptome, wie Aberglauben, Fetischismus, Neigung zur Selbsthypnose, mangelnde Reaktion auf das affizierende Ereignis usw. f ü r die Charakterzeichnung seiner Heldin verwandt hätte . . . auch wenn er sie kannte und sich, in späteren Notizen, selbst Freudscher Begriffe wie „Traumata" und „eingeklemmter Affekte" bediente. Vergl. hierzu „Aufzeichnungen", Corona 7, 1937, S. 195 ff. und Grete Schaeder: „Hofmannsthals Weg zur Tragödie", a. a. O. S. 321 ff.
ARIADNE AUF NAXOS Die Kritik äußerte sich im allgemeinen, sowohl in München als auch in Berlin, außerordentlich unfreundlich, und außer bei der Reinhardtschen Premiere konnte sich die erste Fassung nirgendwo durchsetzen. Vergl. dazu vor allem die Kritik von Alfred Kerr, abgedruckt in „Die Welt im Drama" II, a. a. .O. S. 336 ff.: „Was in dieser Hofmannsthalschen Schwächebekundung vorgeht, weiß ich heute noch nicht. Sobald Moliere zu reden aufhört und jener anfängt, sobald Ariadne zu Opern beginnt: sobald wächst eine Langweiligkeit auf alle Versammelten; grauenvoll.
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ANHANG
. . . Sdion im Idomeneus wird auf den Brettern die Antike so langweilig. Säulen sind edel bei Sunion, edel auf der Akropolis in D u f t und Luft; schlimm auf jedem Theater — weil nichts mehr vom Knoblauchgeruch der blitzrassigen Hellenen, von ihrer Leibhaftigkeit nichts mehr zu wittern ist: sondern vorwiegend Bildung, fahl und trauerig. Das wird ärger, wenn die Antike f ü r Schnallenschuhleute gekämmt und angepudert ist. Jabot-Hellenen könnten ulkig sein — aber der spaßlose Hofmannsthal setzt ein vermeint-spaßhaftes Element, Harlekingruppen (nur gebildet-ulkig), an die scherzfremden Mythologiker von außen. Das Vermengen des Ernsten, das nicht ernst, mit dem Heiteren, das nicht heiter i s t . . . Apart Gemachtes und nicht Gekonntes. Trostlos. Gekonntes . . . ? Nicht mehr Sache des Könnens ist Molieres Behandlung. Tote sind waffenlos; doch die atmenden Berufsgenossen heimgegangener Vettern haben die Pflicht, edle Leichname zu schirmen. Der ganze Mythos steht frei, bitte. Genug Uneingezäuntes Hegt herum, was mancher dichtende Raritäteies auf neu bearbeiten kann. Doch geschlossene Genies dürfen im geringsten nicht von Kleineren zerschnitten werden. Finger weg. (Abseits hiervon wispert, raschelt, hupft, pfeift, locit, summt, schreit, lächelt, klagt eine Musik von Richard Strauß w i e . . . Wie von einem Mozart, der holdes Meistersingerweben und Leo Fall studiert hätte.)"
DIE ÄGYPTISCHE HELENA Vergl. zur Unterscheidung von Sonne (Menelaos) und Mond (Helena) Hofmannsthals Brief vom 5. 12. 1927 (die Partitur war bereits am 8. O k tober des gleichen Jahres beendet worden), der zugleich den ursprünglichen Text der Gebete beider Gatten enthüllt. .„Helena' 1. Akt. Hier ist, indem Sie den Menelas einige Worte der Helena wiederholen lassen, etwas eingetreten, was f ü r Kenner der Antike unsinnig wäre. Es läßt sich aber ganz leicht korrigieren. Nämlich: Menelas und Helene rufen hier nicht die gleichen, sondern einander entgegengesetzten und feindlichen Götter — Gruppen an. Helena, die ein Dämon ist, r u f t die alten Naturdämonen auf: Erde und Nacht, Mond und Meer, damit sie ihr als ganz unmoralisdie N a t u r k r ä f t e durdi Zauberei helfen. Menelas dagegen, der Ehegatte, r u f t die oberen, die olympischen Götter an, die H ü t e r des Rechtes und der Sitte. Wenn Sie nun auch den Menelas singen lassen: Erde und Nacht, Mond und Meer, helfet mir Jetzt (wo er ganz genau weiß, daß das die Helfer des immer betrügerischen Weibes und nicht des Redit suchenden Mannes sind), so steht die ganze Sache auf dem Kopf. Ich schlage also vor: Menelas: ,Erde und Nacht, Mond und Meer, weichet hinweg!' Dann können sie immerhin beide zusammen singen: ,Erde und Nacht, Mond und Meer!' Jeder verbindet eben die entgegengesetzte Bedeutung damit.
ANHANG
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Sodann kommt ganz richtig nochmals Menelas' Anrufung der oberen Götter und Helenas Beschwörung der unteren dunkeln. Nunmehr singen sie wieder zusammen: ,Erde und Nacht, Mond und Meer.' Als letzte Zeile singt Helena ,Helfet mir jetzt!' Und Menelas: ,weichet hinweg!' Ich habe in diesem Sinn das Textbuch korrigiert. Wenn Ihnen diese kleine Korrektur akzeptabel erscheint, so bitte ich, daß sie auch in die Partitur eingetragen wird. (Anm. d. Hersg.: .Diese Korrektur ist von Strauß übernommen worden.') Da der Gegensatz zwischen dem Dämonischen der Helena und dem menschlich Sittlichen des Menelas eigentlich der Angel ist, um den sich das ganze Stück dreht, so liegt mir natürlich sehr viel daran, daß die Korrektur durchgeführt wird." „Briefwechsel . . a. a. O. S. 596 f.) Vergl. zur Synthese Abendland — Morgenland auch „Ad me ipsum", a. a. O. S. 378.