Die Grenzen des Tatsachenbegriffs, insbesondere bei der betrügerischen Täuschungshandlung [1 ed.] 9783428510412, 9783428110414

Susanne Thomma beschäftigt sich mit der Frage, ob auf Unmögliches gerichtete Behauptungen - insbesondere phantastische u

125 52 48MB

German Pages 480 Year 2003

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die Grenzen des Tatsachenbegriffs, insbesondere bei der betrügerischen Täuschungshandlung [1 ed.]
 9783428510412, 9783428110414

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

SUSANNE THOMMA

Die Grenzen des Tatsachenbegriffs, insbesondere bei der betrügerischen Täuschungshandlung

Schriften zum Strafrecht Heft 142

Die Grenzen des Tatsachenbegriffs, insbesondere bei der betrügerischen Täuschungshandlung

Von

Susanne Thomma

Duncker & Humblot . Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Tübingen hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-11041-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Meinen lieben Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2002 von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Zu herzlichem Dank verpflichtet bin ich meinen Doktorvater Herrn Professor Dr. Ulrich Weber für seine umfassende fachliche und persönliche Betreuung und vorbehaltlose Unterstützung der Untersuchung. Bedanken möchte ich mich ferner bei Herrn Professor Dr. Joachim Vogel für die zeitnahe Erstellung des Zweitgutachtens sowie bei Herrn Dr. Florian R. Simon für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Schriften zum Strafrecht". Ich widme die Arbeit meinen Eltern, die meine gesamte Entwicklung und Ausbildung in beispielloser Weise begleitet, gefördert und unterstützt haben. Ich danke ihnen für das in mich gesetzte, uneingeschränkte Vertrauen. Stuttgart, im Juni 2003

Susanne Thomma

Inhaltsverzeichnis Einleitung

19

A. Hinführung zur Problematik ..........................................

19

B. Gang der Darstellung ................................................

28

Kapitell

Die historische Entwicklung des TatsachenbegrifTs und seiner Abgrenzung zu den Werturteilen, dargestellt an der Genese des Betrugstatbestands

30

A. Die Entwicklung des modemen Betrugsbegriffs ......................... I. Das Fehlen deutschrechtlicher Anknüpfungspunkte ................. II. Das falsum und der stellionatus des römischen Rechts als Vorläufer des modemen Betrugstatbestands? ................................ III. Der Unterschied zwischen Fälschung und Betrug, insbesondere die Verschiedenheit der geschützten Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

31 31

B. Das Entstehen des Bedürfnisses für einen allgemeinen Betrugstatbestand . ..

37

31 34

C. Die Kemprobleme der Betrugsdogmatik im 19. Jahrhundert .............. 38 I. Das Verhältnis von Zivilrecht und Strafrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39 II. Die Abgrenzung von erlaubter Geschäftstüchtigkeit und verbotenem Betrug ........................................................ 41 III. Das Erfordernis einer besonderen Qualität der Täuschungshandlung .. 44 D. Die nen I. II. IlI. IV. V. VI.

Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen", erläutert an einzelKodifikationen des Betrugstatbestands ............................. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 ................... Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 ......................... Das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg von 1839 ..... Weitere Partikularstrafgesetzbücher des 19. Jahrhunderts ............ Zusammenfassung.............................................. Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1851 .......... 1. Die einzelnen Entwürfe ...................................... 2. Die endgültige Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. § 241 PrStGB in der Rechtslehre und in der Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals .................................... VII. Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1861 .........................

45 45 46 47 49 49 50 50 52 52 54

10

Inhaltsverzeichnis VIII. Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 ......... IX. Die Handhabung des Tatsachenbegriffs nach In-Kraft-Treten des RStGB ........................................................ 1. Die Rechtsprechung zum Tatsachenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts ...................... b) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandes- und Landgerichte ..................................... 2. Der Tatsachenbegriff in der Rechtslehre nach 1871 .............. 3. Der Tatsachenbegriff in der Rechtslehre nach 1900 .............. 4. Die Tatsachendefinitionen in den gängigen Kommentaren und Lehrbüchern ................................................ 5. Abweichende Definitionen des Tatsachenbegriffs ................ a) Der Tatsachenbegriff Bitzilekis' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Der normative Tatsachenbegriff Pawliks ..................... 6. Zusammenfassung ........................................... X. Versuche einer Reform des Betrugstatbestands ..................... 1. Der Entwurf 1909 ........................................... 2. Die Entwürfe 1913 und 1919 ................................. 3. Der Entwurf 1927 ........................................... 4. Der Entwurf 1936 ........................................... 5. Der Entwurf 1962 ........................................... 6. Ergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

E. Die Begriffe des Werturteils und der Meinungsäußerung als Gegensatz zur Tatsache(-nbehauptung) .............................................. I. Die Begriffsbestimmung der h. M. ................................ 11. Hilgendorfs Ansatz zur Kategorisierung menschlicher Äußerungen ... III. Problematisierung der vorgebrachten Abgrenzungskriterien .......... IV. Abgrenzungsversuche bei der "Eideslehre" gegen Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. V. Parallelen zur Abgrenzung zwischen Sachverständigen und Zeugen ..

54 54 55 55 57 58 64 71 78 78 81 83 84 84 85 85 86 86 87 87 88 92 94 96 97

F. Das Merkmal "Tatsache" im Be1eidigungsrecht ......................... 99 Kapitel 2

Untersuchung des herrschenden Tatsachenbegriffs und Analyse der einzelnen Elemente im Hinblick auf "unmögliche Tatsachen", insbesondere "okkultistische" bzw. "parapsychologische Tatsachen"

101

A. Der Begriff der okkultistischen und parapsychologischen Tatsachen ....... 101 I. "Okkultismus" und "Parapsychologie" ............................ 102 11. Die Widersprüchlichkeit des Begriffs der okkultistischen und parapsychologischen Tatsachen ......................................... 105

B. Analyse der einzelnen Merkmale des Tatsachenbegriffs .................. 106

Inhaltsverzeichnis I.

11. III.

IV.

V.

"Vorgang oder Zustand" ......................................... "Konkretheit" des Vorgangs oder Zustands ........................ "Wirklichkeit" des Vorgangs oder Zustands ........................ 1. "Wirklichkeit" und "Tatsächlichkeit" ........................... 2. Auslegung des Realitätserfordernisses durch die h. M. ............ . 3. Operation mittels einer Wahrunterstellung ...................... 4. Der Standpunkt der Rechtsprechung, insbesondere der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 21.2.1978 (NJW 1978, 1207), und der Literatur zur "Wirklichkeit" übersinnlicher Phänomene ........... 5. Folgerung für die Behandlung von Okkultem bzw. Unmöglichem in § 263 StGB .............................................. Die sinnliche Wahmehmbarkeit .................................. 1. Darstellung der h. M. sowie der Ausführungen Hilgendoifs ....... 2. Kritische Würdigung ......................................... 3. Folgerung für die Behandlung von Okkultbehauptungen .......... Die "Beweisbarkeit" bzw. "Beweiszugänglichkeit" ................. 1. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Der Beweis nach der Zivilprozessordnung ...................... 3. Widersprüchlichkeiten im Zusammenhang mit dem Beweisbarkeitskriterium in Rechtsprechung und Literatur ...................... 4. Zusammenfassung und kritische Würdigung ....................

11 107 109 112 112 113 114 115 124 124 125 127 128 129 129 132 133 138

C. Zusammenfassung der Analyse der einzelnen Merkmale des Tatsachenbegriffs .............................................................. 139

Kapitel 3

Analyse einzelner Urteile, die sich mit Fällen aus dem Bereich des Okkulten, Übersinnlichen im Hinblick auf eine (Betrugs-)Strafbarkeit zu befassen hatten

141

A. Fälle aus der Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals ............. 142 I. Das Urteil des Preußischen Obertribunals vom 15.12.1864 .......... 142

11.

Das Urteil des Preußischen Obertribunals vom 3.3.1854 ............. 144

B. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts ................................ I. Urteile des Reichsgerichts über "Behauptungen, die das Gepräge freier Erfindung an sich tragen", RGSt 41, 193 und RGSt 68, 120 ......... 11. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Betrugsstrafbarkeit des Vorspiegelns von Unmöglichem bzw. wissenschaftlich Umstrittenem .. III. Zusammenfassung der Rechtsprechung des Reichsgerichts ...........

145 145 148 155

C. Beispielsf.ille aus der Rechtsprechung der Oberlandes- und Landgerichte .. 155 I. Das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 26.11.1913 ....... 156

12

Inhaltsverzeichnis 11. III. IV.

Das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 3.11.1982 - Vorinstanz im "Sirius-Fall", BGHSt 32, 38 ........................... 157 Das Urteil des Landgerichts Essen vom 13.10.1986 - Vorinstanz zu BGH, wistra 1987,255 ......................................... 161 Das Urteil des Landgerichts Mannheim, NJW 1993, 1488 ........... 166

D. Beispielsfälle aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ............ I. Das Urteil des Bundesgerichtshofs in BGHSt 8, 237 ................ 11. Der "Sirius-Fall", BGHSt 32, 38 ................................. III. Das Urteil des Bundesgerichtshofs in wistra 1987,255 .............. IV. Zusammenfassung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ......

171 172 173 175 177

E. Zusammenfassung der Analyse der Rechtsprechung zur Problematik "unmöglicher Tatsachen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178

Kapitel 4

Analyse des Inhalts und der Reichweite der Begriffe des "Vorspiegelns" und der ,,(Tatsachen-)Behauptung"

180

A. Der Begriff des Vorspiegelns ......................................... I. Das Erfordernis "besonderer Veranstaltungen" in der Literatur des 19. Jahrhunderts ................................................ 11. Das Vorsatzerfordernis bezüglich der Unwahrheit des Vorbringens als Begriffsmerkmal des "Vorspiegelns" .............................. III. Formeln der Literatur zur Bestimmung des "Vorspiegelns" .......... IV. Die Verkürzung der Tathandlung des § 263 StGB auf den Oberbegriff der Täuschungshandlung i. S. d. "Täuschung über Tatsachen" in der neueren Literatur und Rechtsprechung ............................ V. § 263 Abs. 4 S. 2 Var. 3 StGB a.F. - besonders schwerer Fall bei "besonderer Arglist" - und § 181 StGB a. F. - "hinterlistige Kunstgriffe" ........................................................ VI. Ergebnis zu Inhalt und Reichweite des Begriffs des Vorspiegelns ....

180

B. Der Begriff der (Tatsachen-)Behauptung ............................... I. Rückgriff auf die Tathandlungen der §§ 186, 187 StGB und des § 131 StGB a.F. sowie das Merkmal "Behaupten" bei § 824 BGB ......... 1. "Behaupten einer Tatsache" i.S.d. §§ 186, 187 StGB ............ 2. "Behaupten einer Tatsache" i. S. d. § 131 StGB a. F. ............. 3. "Behaupten einer Tatsache" i.S.d. § 824 BGB .................. 4. Zusammenfassung zum "Behaupten" einer Tatsache ............. 11. "Tatsachenaussage" gleich "Tatsachenbehauptung"? ................ 1. Die Gleichstellung der herrschenden Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Differenzierung Hilgendoifs zwischen "Tatsachenaussage" und "Tatsachenbehauptung" nach dem Geltungsanspruch einer Äußerung

194

181 184 185 186 192 193

195 195 197 197 198 199 199 201

Inhaltsverzeichnis

III.

13

3. Ergebnis zu den Begriffen "Tatsachenaussage" und "Tatsachenbehauptung" .................................................. 202 Irrelevanz des Tatsachenbegriffs und alleiniges Abstellen auf den Begriff der Tatsachenaussage bzw. der Tatsachenbehauptung? ....... 203

C. Ergebnis zum "Vorspiegeln" und "Behaupten" .......................... 204 D. Die Umschreibungen der Täuschungshandlungen in ausgewählten ausländischen Betrugstatbeständen ........................................... . I. Art. 148 Abs. 1 des schweizerischen Strafgesetzbuchs .............. 1. Die "Arglist" als Qualifizierung der Täuschungshandlung und das "Vorspiegeln" ............................................... 2. Zusammenfassung zum schweizerischen Recht .................. 11. § 146 des österreichischen Strafgesetzbuchs ....................... III. Art. 405 des französischen Code penal ........................... . IV. Art. 326 des niederländischen Strafgesetzbuchs .................... V. Art. 640 des italienischen Codice penale .......................... VI. Der Betrug im spanischen, englischen und amerikanischen Recht .... VII. Zusammenfassung der Untersuchung der Täuschungshandlungen einzelner ausländischer Betrugsvorschriften ..........................

205 205 206 210 210 213 214 215 216 219

Kapitel 5

Bezüge zu den viktimodogmatischen Ansätzen bzw. Lehren zum Opfermitverschulden

220

A. Erläuterung des Ausgangspunkts ...................................... 221 B. Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Lehre vom Opferrnitverschulden ........................................................... 223

C. Die h. M. in Rechtsprechung und Rechtslehre: Keine tatbestandliche Relevanz einer mitwirkenden Fahrlässigkeit des Opfers ...................... 229 D. Lösungsansätze im Bereich der Täuschungshandlung .................... 231 E. Lösungsansätze im Bereich des Irrtums ................................ 236 F. Lösung über die Kausalität zwischen Täuschung und Irrtum, insbesondere das Erfordernis eines adäquaten Zusammenhangs ....................... 240 G. Lösung mittels des objektiven Zurechnungszusammenhangs zwischen Täuschung und Irrtum .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 H. Lösung über die Kausalität zwischen Irrtum und Verrnögensverfügung .... . 246 I. Die Einordnung beim Verrnögensschaden ............................... 247 J. Die viktimologische Maxime als umfassendes regulatives Prinzip zur Tatbestandseingrenzung im Strafrecht ....................................... 247 K. Der Lösungsvorschlag Hilgendorfs ................. . . . ................ 250

14

Inhaltsverzeichnis

L. Grundsätzliche Kritik an der viktimologischen Lehre

250

M. Zusammenfassung und Folgerungen für die eigene Lösung .............. . 254 N. "Versteckte" Berücksichtigung der Opfermitverantwortung durch die h.M. in den Bereichen der konkludenten Täuschung und der Täuschung durch Unterlassen ......................................................... I. Die Auffassung der h. M. ....................................... . 1. Die Täuschung durch konkludentes Tun ....................... . 2. Die Täuschung durch Unterlassen ............................. 11. Die Konzeption Lackners ....................................... III. Pawliks Behandlung der Täuschung durch konkludentes Verhalten und durch Unterlassen .............................................. IV. Herausarbeitung der hinter der Täuschung durch konkludentes Verhalten und der Täuschung durch Unterlassen stehenden Kriterien bzw. Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

256 256 256 258 263 266 269 272

Kapitel 6 Die Ausscheidung von "marktschreierischer Reklame" und "übertriebenen Anpreisungen" aus dem Betrugstatbestand sowie Parallelen und Unterschiede zur Fallgruppe des Okkultschwindels

273

A. Die geschichtlichen Hintergründe der Behandlung der Werbung im Rahmen des Betrugstatbestands ............................................... 275 B. Die verschiedenen Lösungsansätze zur Ausscheidung von "marktschreierischer Reklame" und "übertriebenen Anpreisungen" aus dem Betrugstatbestand ............................................................... I. Die herkömmliche Ansicht, v. a. der Rechtsprechung: Verneinung der Tatsachenqualität und Einordnung als Werturteile unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung sowie der "Ernsthaftigkeit" .......... . 11. Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte ............................................. III. Die Behandlung der Werbung in ausländischen Rechtsordnungen .... IV. Kritik an der gängigen Argumentationsweise und abweichende Lösungsansätze in der Literatur .................................. 1. Kritik an der Vorgehensweise der h. M. ........................ . 2. Die Lehre von der Sozialadäquanz: Übertreibende Reklame als "sozialadäquates Verhalten" .................................. . 3. Lösungen mittels des Opferrnitverschuldens, insbesondere Ellmers und Hilgendorfs Konzeptionen zur Ausscheidung von "marktschreierischer Reklame" und "übertriebenen Anpreisungen" ...... a) Ellmers Kritik an der Argumentationsweise der h. M. sowie seine Behandlung "marktschreierischer Reklame" und "übertriebener Anpreisungen" ...................................

278 278 282 286 288 288 292 297 298

Inhaltsverzeichnis

15

b) Hilgendorfs Einordnung erkennbar übertreibender Werbung als Tatsachenaussage mit abgeschwächtem Geltungsanspruch . . . . . . 303 4. Zusammenfassung ........................................... 306 C. Parallelen und Unterschiede zwischen Fällen des Okkultschwindels und übertreibender, unglaubwürdiger Reklame ............................. . 306 D. Zusammenfassung und Ergebnis ...................................... 308 Kapitel 7

Zusammenfassung der bisher gewonnenen Ergebnisse sowie Entwicklung und Darstellung der eigenen Lösungskonzeption

310

A. Zusammenfassung der bisher gewonnenen Ergebnisse ................... 310

B. Entwicklung und Darstellung des eigenen Verständnisses des Begriffs der Tatsachenbehauptung ................................................ I. Resümee der Analyse des herrschenden Tatsachenbegriffs im Hinblick auf "unmögliche Tatsachen" .................................... . 11. Folgerung für die Behandlung von Unmöglichem - insbesondere von Okkultem - als Gegenstand einer Tatsachenbehauptung ............. III. Belege für das hier vertretene Ergebnis: Vereinzelte Ansätze in Rechtsprechung und Rechtslehre zur Ausscheidung von Unmöglichem aus dem Betrugstatbestand ......................................... . IV. Umfang des Unmöglichen ....................................... V. Konsequente Ausscheidung auf Unmögliches gerichteter Äußerungen aus dem Kreis der Tatsachenbehauptungen in anderen Tatbeständen des StGB ..................................................... . VI. Vorzugswürdigkeit der hier vertretenen Lösung gegenüber anderen Konzeptionen ................................................. .

312 313 315 318 321 324 326

Kapitel 8

Der "Kunstgriff" über die Figur der inneren Tatsachen

329

A. Die Entwicklung der Rechtsprechung zu den inneren Tatsachen . . . . . . . . . . . 330 B. Der Standpunkt der Rechtslehre zu den inneren Tatsachen ............... 333

C. Begriff und Umfang der inneren Tatsachen ............................ . 337 D. Grundsätzliche Probleme der Figur der inneren Tatsachen ................ I. Die Unterscheidung zwischen inneren Tatsachen in der Person des Täuschenden und Dritter ........................................ 11. Probleme der Subsumtion unter den herrschenden Tatsachenbegriff .. 1. Die Wirklichkeit innerer Phänomene .......................... . 2. Die sinnliche Wahrnehmbarkeit innerer Phänomene ..............

339 339 341 341 342

16

Inhaltsverzeichnis 3. Die Beweiszugänglichkeit innerer Phänomene mittels Indizienbeweises ...................................................... 343 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

E. "Verdeckte" Probleme der Figur der inneren Tatsachen bei konsequenter Anwendung und "Kunstgriffe" zur Umgehung der Betrugsirrelevanz von "Nicht-Tatsachen" ................................................... 344 I. Unmöglichkeit der Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und täuschenden Werturteilen bei konsequenter Anwendung der Figur der inneren Tatsachen .............................................. 344 11. Die behauptete Betrugsirrelevanz von "zukünftigen Tatsachen" bzw. Prognosen und die Einschränkung mittels der Fi~ur der inneren Tatsachen .......................................................... 352

F. Die Behandlung der inneren Tatsachen in ausländischen Rechtsordnungen, insbesondere im schweizerischen und im englischen Recht ............... 357 G. Abweichende Lösungen und Konzeptionen ............................. I. Die abweichende Auffassung Nauckes: Nichtanerkennung innerer Tatsachen aufgrund historischer Gesetzesauslegung .................... 11. Bitzilekis' Differenzierung zwischen eigenpsychischen Vorgängen und psychischen Vorgängen bei Dritten ............................... 111. Seiers Lösungsvorschlag bezüglich der Betrugsrelevanz von Prognosen IV. Hilgendorfs Behandlung der "parasitären Tatsachenaussagen" sowie der Prognosen ................................................. V. Ablehnung des "Kunstgriffs" über die inneren Tatsachen in der Literatur VI. Zusammenfassende kritische Bewertung der dargestellten Lösungsvorschläge und Folgerung für die Behandlung der inneren Tatsachen ... .

361 361 363 364 370 372 373

H. Nachweis der Irrelevanz der inneren Tatsachen in den Okkultfällen mangels Kausalität .......................................................... 375 I. Ergebnis ........................................................... 377 Kapitel 9

Bezüge zur Figur des abergläubischen, irrealen Versuchs sowie zu anderen Fallkonstellationen mit Bezug zu Aberglauben und Irrealem als Beleg für die Irrelevanz von OkkuItbehauptungen im Rahmen des Betrugstatbestands

378

A. Begriffsbestimmung des abergläubischen, irrealen Versuchs und Erläuterung anhand von Beispielen .............................................. . 379

B. Gründe für die Straflosigkeit des irrealen Versuchs ...................... I. Die verschiedenen Theorien zum Strafgrund des Versuchs ..... . . . . . . 1. Die objektiven Theorien ...................................... 2. Die subjektive Versuchstheorie ................................ 3. Die "gemischt subjektiv-objektive Eindruckstheorie" .............

381 382 382 383 385

Inhaltsverzeichnis 4. Neuere Lehren zur Bestimmung des Versuchsunrechts . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis zum Strafgrund des Versuchs ......................... Unterschiedliche Begründungen der Straflosigkeit des irrealen Versuchs ......................................................... 1. Einhellige Auffassung in Literatur und Rechtsprechung vor InKraft-Treten des § 23 Abs. 3 StGB ............................ 2. Der Rege1ungsgehalt des § 23 Abs. 3 StGB .... . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auffassung des Gesetzgebers zur Strafbarkeit des irrealen Versuchs ....................................................... 4. Generelle Straflosigkeit des irrealen Versuchs auch nach In-KraftTreten des § 23 Abs. 3 StGB ................................. 5. Erfassung als grundsätzlich strafbarer Versuch und Subsumtion unter § 23 Abs. 3 StGB ...................................... 6. Zusammenfassung und Stellungnahme .........................

11.

C. Andere Fallkonstellationen mit Bezug zu Aberglauben und Irrealem . . . . . . . I. Abergläubische, irreale Erfolgsabwendungsbemühungen des Versuchstäters als "ernsthaftes Bemühen" i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 2 bzw. Abs. 2 S. 2 Alt. 1 und 2 StGB ......................................... 11. Abergläubische, irreale Vorstellungen als für einen Erlaubnistatbestandsirrtum ausreichende Fehlvorstellung - erläutert am "Katzenkönig-Fall", BGHSt 35, 347 ..................................... III. Bedrohung i.S.d. § 241 Abs. 1 StGB durch Ankündigung eines nur mit Hilfe übersinnlicher Kräfte zu begehenden Verbrechens ......... IV. Weitere Fälle des Aberglaubens im (Straf-)Recht ................... V. Zwischenergebnis ..............................................

17 386 387 388 388 390 392 393 397 400 400 400 402 405 406 408

D. Parallelen und Unterschiede zwischen den dargestellten Fallgruppen und Fällen des Okkultschwindels sowie Folgerungen für die Lösung der Problematik der Okkultbehauptungen im Rahmen des Betrugstatbestands ........ 409 I. Parallelen und Unterschiede ..................................... 410 11. Folgerungen für die Lösung der Problematik der Okkultbehauptungen im Rahmen des Betrugstatbestands ............................... 412 E. Ergebnis ........................................................... 412

Kapitel 10

Verbleibender Schutz des Okkultgeschädigten durch das Zivilrecht A. Zivilrechtliche Ansprüche des Okkultgeschädigten ...................... I. Ansprüche nach altem Schuldrecht ............................... 1. Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V.m. § 263 StGB bzw. § 123 BGB ................................. 2. Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 826 BGB sowie den Grundsätzen der culpa in contrahendo .............................. . 2 Thomma

413 413 414 414 415

Inhaltsverzeichnis

18

11.

3. Rückforderungsanspruch gemäß § 812 BGB .................... Ansprüche nach neuem Schuldrecht .............................. 1. Wirksamkeit des Vertrags gemäß § 311 a Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . 2. Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 275 Abs. 4 i. V. m. § 311 a Abs. 2 BGB ................................................ 3. Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 826 BGB sowie den Grundsätzen der culpa in contrahendo .............................. .

417 417 418 420 424

B. Vorzüge eines Rechtsgüterschutzes durch das Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424

C. Zusammenfassung .................................................. . 427

Kapitelll Anderweitige Möglichkeiten des Einschreitens gegen Okkultschwindler, insbesondere ordnungswidrigkeiten- bzw. verwaItungsrechtliches Vorgehen 429 A. Okkultschwindel als "grober Unfug" gemäß § 360 Abs. I Nr. II Alt. 2 StGB a.F. bzw. "Belästigung der Allgemeinheit" gemäß § 118 OWiG ..... 429

B. Die polizeirechtliche Beurteilung von Gaukeleien, insbesondere die früher existierenden Gaukeleivorschriften in landesrechtlichen Polizeistrafgesetzbüchern ............................................................ I. Die landesrechtlichen Strafbestimmungen gegen Gaukelei ........... 11. Der Wandel in der Beurteilung der Strafbedürftigkeit der Gaukelei ... III. Die Rechtslage nach Aufhebung der Gaukeleivorschriften ...........

432 432 436 439

C. Die gewerberechtliche Beurteilung des Wahrsagens etc. ................. . 441 D. Die Forderung nach Schaffung einer besonderen Strafbestimmung gegen Okkulttaten ......................................................... 445 E. Zusammenfassung und Ergebnis ...................................... 447

Kapitell2 Zusammenfassung der Ergebnisse der Arbeit

449

Literaturverzeichnis

455

Sachwortverzeichnis

477

Einleitung A. Hinführung zur Problematik Der Aberglaube zieht sich durch die Geschichte der Menschheit wie ein roter Faden; skurrile Fälle, in denen gerissene Täter den Aberglauben und die Leichtgläubigkeit der Menschen durch die unglaublichsten Behauptungen zu ihrem Vorteil ausnutzten, machten Schlagzeilen und erstaunen den außenstehenden Betrachter. Schon Goethe bemerkte: "Der Aberglaube gehört zum Wesen des Menschen und flüchtet sich, wenn man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaßen sicher zu sein glaubt, wieder hervortritt."t lohn führte 1909 aus: "Der Hang nach dem Wunderbaren und Übersinnlichen ist in der menschlichen Natur tief begründet, er liegt dem Menschen gleichsam im Blute. Und nicht ist der Aberglaube nur im niederen Volke heimisch, er durchzieht alle Kreise der menschlichen Gesellschaft ... Hand aufs Herz, wer von uns möchte sich gänzlich davon freisprechen?,,2 "Das magisch-primitive Denken, das dem Zauberglauben zugrunde liegt, wird so schnell nicht aussterben, denn ,die Steinzeit ist noch nicht zu Ende,.,,3 Der Begriff des Aberglaubens ist nicht einfach zu erfassen; es handelt sich um einen Glauben, der etwas naturgesetzlich nicht zu Beweisendes dennoch für wahr hält4 , also naturgesetzlich unerklärte Kräfte für wirksam und wahrnehmbar erachtet, soweit dies nicht in der Religionslehre begründet ist5 . Erscheinungsformen sind vor allem Wahrsagerei, Stern- und Traumdeuterei, Kartenschlagen, magische Mittel, geheime Heilmittel, Spiritismus und Zauberei. 6 Sprüche in Prosa, Ethisches, Erste Abteilung, Nr. 35. lohn, Aberglaube, Sitte und Brauch im sächsischen Erzgebirge, S. 3. 3 Wimmer, JZ 1975,631 (632). 4 So GroßIGeerds, Handbuch der Kriminalistik, Band I, S. 99. 5 Bächtold-Stäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Band I, S. 66; Der große Brockhaus, 1. Band, S. 17; Schefold, Der Aberglaube im Rechtsleben, S. 5. 6 Der große Herder, 1. Band, Sp. 23. 1

2

2*

20

Einleitung

Der Aberglaube scheint überholt zu sein, doch auch unsere modeme, vermeintlich aufgeklärte Gesellschaft ist gegen abergläubische Vorstellungen nicht gefeit. So ist der Hexenwahn bis in neuere Zeit im Volk lebendig geblieben; noch 1960 soll einer als Hexe geltenden alten Frau in einem fränkischen Dorf das Haus angezündet worden sein. 7 Einer Umfrage zufolge glaubten 1976 noch 8% der Bevölkerung, am Hexenglauben sei "etwas dran". 8 Der Glaube an das Paranormale wächst weltweit. Doch auch die Zahl der Skeptiker wächst; die Skeptiker beschäftigen sich mit Fragen der Esoterik und des Psychomarktes, wie bei dem Weltkongress der Skeptiker in Heidelberg Ende Juli 1998 geschehen. 9 Noch immer liefern sich Anhänger und Gegner dieses "Glaubens" Fehden. Was früher - in einer vorwissenschaftlichen Phase - als "Okkultismus" bezeichnet wurde 10, tritt heute als "Parapsychologie" mit dem Anspruch auf, als junge Teildisziplin der Seelenkunde solche "para-"psychologischen, also "neben" den uns vertrauten und begreiflichen Erscheinungen stehenden Vorgänge mit wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen und zu beweisen. 11 Paranormale Phänomene sind nach der Meinung einer Vielzahl von Anhängern der Parapsychologie zwar nicht "erklärt", wohl aber - und zwar mit wissenschaftlichen Methoden - empirisch als existent nachgewiesen worden. 12 Dieser Anspruch der Parapsychologen wurde schon immer aufs Schärfste bekämpft: Die Parapsychologie entbehre jeder wissenschaftlichen Grundlage; in keinem einzigen Fall sei der wissenschaftlich exakte Beweis für die Existenz des "Übersinnlichen" erbracht worden. 13 Dieser Auffassung hat sich der Bundesgerichtshof im Jahre 1978 in seiner Grundsatzentscheidung zur Parapsychologie angeschlossen, indem er parapsychologische Sachverständige als völlig ungeeignete Beweismittel i. S. d. § 244 Abs. 3 S. 2 StPO einstufte: Die Parapsychologie gehöre nicht zu den gesicherten Schultz, MDR 1978,543 (544); Wimmer, JZ 1975, 631. Schultz, MDR 1978, 543 (544); Wimmer, JZ 1975, 631 (632), führt eine Umfrage aus dem Jahre 1973 an, der zufolge 9% der Bundesbürger Hexerei für möglich hielten. 9 Vgl. den Bericht der Stuttgarter Zeitung vom 27.7.1998. 10 So H. Bender, in: Parapsychologie, Entwicklung, Ergebnisse, Probleme, S. 107 (108). II H. Bender, in: Parapsychologie, Entwicklung, Ergebnisse, Probleme, Vorwort S. XV; Der große Brockhaus, 8. Band, S. 367. 12 B. Bender, Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 1978, 121 (122); ders., DÖV 1965, 326; Grochtmann, S. 285; aus der älteren Literatur vgl. nur F. Moser, Der Okkultismus, Täuschungen und Tatsachen, Band 11, S. 629, 923; Ueberhorst, DRiZ 1926, 233. 13 Hellwig, GA 71 (1927), 124 (128); ProkoplWimmer, Der modeme Okkultismus, S. 267 ff.; Wimmer, NJW 1976, 1131 (1132); ders., NJW 1979,587 (589). 7

8

A. Hinführung zur Problematik

21

naturwissenschaftlichen Erkenntnissen; die in Rede stehenden Kräfte seien nicht beweisbar. 14 Wie kommt nun der Jurist dazu, sich mit derartigen Phänomenen zu befassen? Der Aberglaube hat viele Erscheinungsformen, die die Rechtsordnung tangieren können. Strafrechtlich relevant wird er, wenn er mit kriminellem Verhalten gekoppelt ist. Der Strafrechtler hat sich mit Fragen aus dem Bereich des Übersinnlichen beispielsweise zu beschäftigen bei der Beurteilung eines sog. abergläubischen, irrealen Versuchs oder eines behaupteten Betrugs. Interessant sind insbesondere die Fälle des Missbrauchs fremden Aberglaubens. Dieser Missbrauch lässt sich bis in die graue Vorzeit verfolgen und die kommerzielle Ausbeutung Abergläubischer durch Okkultschwindel bis in die Gegenwart hinein belegen. 15 Dabei wird der Betrug in der einschlägigen Literatur als der typische Tatbestand genannt. 16 Sog. unechte Okkulttäter, die nicht selbst abergläubisch sind, aber mit ihren Praktiken bewusst die okkulten Vorstellungen anderer ausnutzen und den Okkultismus nur als Vorwand benutzen,17 sollen als Betrüger in Betracht kommen, da für sie das finanzielle Interesse den Anreiz zur Tat gebe. Es wird jedoch in aller Regel nur problematisiert, ob diesem Tätertyp der "böse Glaube" - das Wissen um die eigene Unfähigkeit, die versprochene Leistung erbringen zu können, also der Täuschungsvorsatz - nachgewiesen werden kann 18; ansonsten müsse nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" von einem sog. echten, d. h. gutgläubigen bzw. selbst abergläubischen Okkulttäter ausgegangen werden. Zur strafrechtlichen Erfassung der letztgenannten Fälle existierten früher Gaukeleivorschriften als Übertretungstatbestände in den landesrechtlichen Polizeigesetzen, wie Art. 28 b des Württembergisehen Polizeistrafgesetzes (WPStG) und § 68 des Badischen Polizeistrafgesetzbuchs (Bad. PoIStGB), die das entgeltliche Wahrsagen, Hellsehen und ähnliche Gaukeleien mit Strafe bedrohten. Sie setzten voraus, dass der Gaukler an seine Künste glaubte oder ihm das Gegenteil zumindest nicht nachzuweisen war, und waren daher subsidiär zum Betrug. Ein Bedürfnis für die strafrechtliche Ahndung dieser Fälle wurde bejaht, da die Öffentlichkeit auch vor Irreführung bewahrt werden sollte, wenn der Täter hinsichtlich seiner Fähigkeiten gutgläubig bzw. der Nachweis des Vorsatzes nicht BOH, NJW 1978, 1207. GroßIGeerds, Handbuch der Kriminalistik, Band I, S. 142; aus der älteren Literatur vgl. Schefold, Der Aberglaube im Rechtsleben, S. 6, 31, 33 f. 16 Geerds, in: Festschrift für Thomas Würtenberger, S. 341 (347). 17 Zu dieser Bezeichnung Geerds, in: Festschrift für Thomas Würtenberger, S. 341 (348); Schäfer, Der Okkulttäter, S. 247. 18 GroßIGeerds, Handbuch der Kriminalistik, Band I, S. 144; Geerds, in: Festschrift für Thomas Würtenberger, S. 341 (348); Weij3, DRiZ 1926,235 (237). 14

15

22

Einleitung

zu führen sei. 19 Nach Aufhebung der Gaukeleiparagraphen ist das Kartenlegen und Handlesen als solches nicht mehr mit Strafe bedroht. Seit langem wird die Einführung einer besonderen Strafbestimmung für Okkultstraftaten ins StGB befürwortet, um abergläubische Praktiken zu bekämpfen. 2o Ferner wurde die Ausnutzung des Aberglaubens, beispielsweise durch die Ankündigung des Wahrsagens oder die Vorführung eines spiritistischen Mediums, unter die Übertretung des § 360 Abs. 1 Nr. 11 StGB a. F. subsumiert als Verübung "groben Unfugs". Solche auf Täuschung und Irreführung berechnete Ausbeutung des Aberglaubens sei geeignet, in der Öffentlichkeit Beunruhigung hervorzurufen und den öffentlichen Rechtsfrieden zu stören. 21 Immer wieder hatte sich die Rechtsprechung mit Fällen zu befassen, in denen krimineller Aberglaube eine Rolle spielte, sei es im Zusammenhang mit (fahrlässigen) Körperverletzungen oder gar (fahrlässigen) Tötungen, z.B. bei Kurpfuschern 22 oder Exorzisten23 , mit Beleidigungen24, mit Fragen des Heilpraktikergesetzes25 oder mit § 263 StGB in Fällen, in denen Menschen auf die abenteuerlichsten Behauptungen hereinfielen und über ihr Vermögen zugunsten der Täter verfügten. "Berühmtes" Beispiel hierfür ist der "Sirius-Fall", BGHSt 32, 38, in dem der Täter sein Opfer, eine junge Frau, mit phantastischen Schwindeleien und Täuschungen dazu brachte, ihm zu glauben, er sei Bewohner des Sterns Sirius und gesandt worden, um den Seelen einiger auserwählter Menschen, darunter der des Opfers, auf einem anderen Planeten ein Weiterleben nach dem Zerfall des Körpers zu ermöglichen. Der Täter wollte die Frau zu einer als Unfall getarnten Selbsttötung veranlassen, um die Versicherungssumme zu erlangen; die Selbsttötungsversuche misslangen jedoch. Das Hauptproblem des Falls war zwar die Frage, ob versuchter Mord in mittelbarer Täterschaft oder straflose 19 B. Bender, DÖV 1965, 326; Hellwig, GA 71 (1927), 124 (128); Sontag, DJZ 1907, Sp. 419; LVG Hannover, DVBI. 1953,403 (404 f.). 20 So Hellwig, DJZ 1908, Sp. 643 f.; Schefold, Der Aberglaube im Rechtsleben, S. 42; Sontag, DJZ 1907, Sp. 419; vgl. auch Schäfer, Der Okkulttäter, S. 265 f. 21 So schon das PrOT, in: Rechtsprechung des Königlichen Ober-Tribunals in Strafsachen, hrsg. v. Oppenhojf, 14. Band, 507 f.; OLG Dresden, GA 45 (1897), 140 (141); OLG Frankfurt, DStZ 2 (1915), 370; vgl. ferner Dalcke/Fuhrmann/Schäfer, Strafrecht und Strafverfahren, § 360 Anm. 21. 22 Vgl. hierzu Hellwig, Okkultismus und Verbrechen, S. 25; Schäfer, Der Okkulttäter, S. 254. 23 So das LG Aschaffenburg, Urteil vom 21.4.1978, Aktenzeichen KLS 4 Js 6880/76 (nicht veröffentlicht), sog. KIingenberg-FalI: Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung durch eine TeufeIsaustreibung; ausführliche Besprechung bei Grochtmann, S. 286 ff.; vgl. auch Schultz, MDR 1978, 543 (544). 24 Vgl. hierzu Hellwig, Okkultismus und Verbrechen, S. 25; Schäfer, Der Okkulttäter, S. 254 f. 25 BGHSt 8, 237; BGH, NJW 1987, 2928 (2929); vgl. hierzu Schäfer, Der Okkulttäter, S. 253 f.

A. Hinführung zur Problematik

23

Selbsttötungsteilnahme vorlag, da die Revision hierauf beschränkt war, aber in erster Instanz war der Täter auch wegen Betrugs verurteilt worden; der Bundesgerichtshof stellte diesbezüglich lapidar fest: "Das Erstaunliche dieses Vorgangs entlastet ihn nicht. ,,26 Diese Entscheidung wird in der Arbeit immer wieder als Ausgangsbasis und Beispielsfall für "Okkultbehauptungen" herangezogen. Ein weiteres Beispiel von abenteuerlichen Vorspiegelungen und Täuschungen stellt der sog. "Katzenkönig-Fall" dar, BGHSt 35, 347. Auch dort ging es nicht um die Frage einer möglichen Betrugsstrafbarkeit, sondern um die Abgrenzung von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung bei vermeidbarem Verbotsirrtum des Tatmittlers. Der Tatmittler wurde durch schauspielerische Tricks, Vorspiegelung hypnotischer und hellseherischer Fähigkeiten und Vornahme mystischer Kulthandlungen dazu gebracht, an die Existenz des "Katzenkönigs", der seit Jahrtausenden das Böse verkörpere und die Welt bedrohe, zu glauben und den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Der "Katzenkönig" verlange ein Menschenopfer in Gestalt der Frau N., auf deren Tötung es die Mitangeklagten abgesehen hatten; andernfalls würde die Menschheit oder Millionen von Menschen vom "Katzenkönig" vernichtet. Auch die Zivilgerichte hatten sich wiederholt mit der Frage zu beschäftigen, ob Verträge, die auf die Erbringung übernatürlicher Leistungen wie Teufelsaustreibungen, Erstellung astrologischer Horoskope oder den Einsatz magischer Kräfte gerichtet sind, Wirksamkeit entfalteten oder nach dem Grundsatz "Impossibilium nulla est obligatio" von Anfang an auf eine unmögliche Leistung gerichtet und somit nach § 306 BGB a. F. nichtig waren?7 Der Problemkreis des Aberglaubens hat also durchaus aktuelle Bedeutung. Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, aus diesem Bereich die Fragestellung näher zu untersuchen, ob es sich bei "Okkultbehauptungen", also Äußerungen, die auf Okkultes, Irreales, Übernatürliches - also nach wissenschaftlichen Erkenntnissen Unmögliches - gerichtet sind, um Tatsachenbehauptungen i. S. d. § 263 StGB handelt. Dies erscheint deshalb fraglich, weil "Tatsachen" nach gefestigter Ansicht der Rechtsprechung und Rechtslehre nur konkrete Vorgänge und Zustände der Vergangenheit oder BGHSt 32, 38 (43). Für die Nichtigkeit OLG Düsseldorf, NJW 1953, 1553 (Horoskop); LG Kassel, NJW 1985, 1642 (magische Kräfte); LG Kassel, NJW-RR 1988, 1517 (magische Partnerzusammenführung); LG Aachen, MDR 1989,63 (magische und telepathische Kräfte); LG Mannheim, NJW 1993, 1488 (Teufelsaustreibung); dagegen unter dem Aspekt der Vertragsfreiheit LG Braunschweig, NJW-RR 1986, 478 (Gerät zur Abschirmung von Erdstrahlen). Zu den Änderungen durch das Gesetz zur Modemisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001, BGBL I, 3138, in Kraft getreten am 1.1.2002, vgl. unten Kapitel 10 A. 11. 26 27

24

Einleitung

Gegenwart, die sinnlich wahrnehmbar in die Wirklichkeit getreten und damit dem Beweis zugänglich sind, zu verstehen sind, wobei das Kriterium der Beweiszugänglichkeit häufig als das entscheidende angesehen wird. Wie verhält es sich nun mit Okkultbehauptungen? Bei Subsumtion unter die aufgestellte Tatsachendefinition ergibt sich, dass die behaupteten übernatürlichen Vorgänge bzw. Zustände - folgt man der ganz herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, die die Erwiesenheit dieser Phänomene verneint - gerade nicht sinnlich wahrnehmbar und wirklich sind und niemals ein positiver Beweis möglich ist, da diese Umstände eben nicht existieren. Versagt hier nun der Tatsachenbegriff oder betrifft dies nur die Frage der Wahrheit der Äußerung, so dass es sich eben um "falsche Tatsachen" handelt? Die Widersprüchlichkeit des Begriffs der "falschen Tatsache" wird heute allgemein erkannt, da eine Tatsache begrifflich etwas Wahres ist und es folglich keine "falschen" Tatsachen geben kann; falsch kann vielmehr nur die Behauptung von Tatsachen sein. Deshalb wird auch die Beschreibung der Täuschungshandlung in § 263 StGB allgemein als sprachlogisch verfehlt und gesetzestechnisch missglückt angesehen; die Tathandlung wird verkürzt auf das Erfordernis der "Täuschung über Tatsachen"?S Diese Beschreibung der Tathandlung sah auch § 252 E 1962 vor; außerdem findet sie sich beispielsweise im österreichischen Betrugstatbestand, § 146 äStGB. Kommt es etwa auf den Tatsachenbegriff gar nicht an, sondern nur auf das Vorliegen einer Tatsachenbehauptung, also darauf, dass etwas als Tatsache hingestellt bzw. als existierend behauptet wird? Die Rechtsprechung geht in den hier interessierenden Fällen in der Regel nicht näher auf diesen Problemkomplex ein, sondern begnügt sich mit der formelhaften Feststellung, dass auch Unmögliches Gegenstand einer Tatsachenbehauptung sein könne, oder sie greift auf die Figur der "inneren Tatsache" zurück und stellt darauf ab, dass der Täter seine Überzeugung von der Richtigkeit der Behauptung vorspiegelte, obwohl er tatsächlich die Unwahrheit kannte. Kriterien dafür, wann auf eine innere und wann auf eine äußere Tatsache abgestellt wird, werden nicht angegeben. Ist somit jeder okkulte Schwindel, jedes Märchen, sei es auch noch so unrealistisch und vom "durchschnittlich gebildeten" Bürger leicht zu durchschauen, eine betrugsrelevante Täuschung über Tatsachen? Dieser Frage muss auch deshalb nachgegangen werden, weil sich Parallelen zur Figur des sog. abergläubischen, irrealen Versuchs aufdrängen; ihm spricht die ganz überwiegende Auffassung jede rechtliche Relevanz ab, da sich der Täter solcher "magischer" Mittel bediene, die nicht beherrschbar seien und er sich somit nicht in dem Lebensbereich bewege, für den allein das Strafgesetzbuch gelte?9 Ferner begegnen uns in einem anderen Lebensbereich un28

Vgl. nur LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 9.

A. Hinführung zur Problematik

25

glaubwürdige Äußerungen, deren Unwahrheit sich jedem "durchschnittlich gebildeten" Bürger auf den ersten Blick aufdrängt, nämlich im Bereich der Werbung. Nach herkömmlicher Ansicht geht es hier um die Frage, ob marktschreierische Reklame und übertriebene Anpreisungen Tatsachenbehauptungen oder Werturteile sind. Gemeinhin wird gesagt, dass solchen allgemein gehaltenen anpreisenden Behauptungen der nachprüfbare Tatsachenkern fehle und es sich um betont subjektive, nüchterne Abstriche herausfordernde Werturteile handle 3o , wobei der Form der Äußerung, dem Grad der Bestimmtheit der Angaben und den Begleitumständen Bedeutung zugemessen wird?l Als zusätzlicher Gesichtspunkt wird die Verkehrsanschauung herangezogen, die Äußerungen im Bereich der Werbung vielfach nicht als ernsthafte Tatsachenbehauptungen begreife. 32 Ein anderer Lösungsansatz operiert mit der Figur des "sozialadäquaten Verhaltens", um Reklame, auf die im Verkehr üblicherweise kein Wert gelegt werde, aus dem Betrugstatbestand auszuscheiden. 33 Hier zeigt sich deutlich das schon immer bestehende Bestreben, die Strafbarkeit einzuschränken bei Äußerungen, die nach den Umständen des Einzelfalls niemand ernst nimmt?4 Bemühungen, den Betrugstatbestand unter dem Gedanken der Opfermitverantwortung zu beschränken, finden sich seit einiger Zeit auf unterschiedlichste Art und Weise. Unter diesem Gesichtspunkt wird diskutiert, ob die leichte Erkennbarkeit der Täuschung und die Vermeidbarkeit des Irrtums dem Täter zugute kommen soll, ob also die Verantwortungsbereiche abzuschichten sind und der Selbstverantwortlichkeit des Opfers für seinen Rechtsgüterschutz und der Subsidiarität des Strafrechts auf diese Weise Rechnung zu tragen ist. 35 Die Rechtsprechung lehnt bislang alle Einschränkungsversuche auf der Tatbestandsebene ab und spricht der Opfermitverantwortung lediglich die Bedeutung eines Strafzumessungsfaktors zu bzw. berücksichtigt die mitwirkende Fahrlässigkeit des Opfers bei den prozessualen Einstellungsmöglichkeiten. 36 Sie betont, dass die leichte Vermeidbarkeit des Irrtums den Täter nicht entlaste. 37 Auch die wohl noch herrschende Auffas29 Vgl. RGSt 33, 321 (322 f.); Bockelmann, Strafrechtliche Untersuchungen, S. 160 f. 30 Vgl. RGSt 56,227 (231); Maurach/SchroederlMaiwald, § 41 Rn. 33. 31 LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 15. 32 Ibid. 33 Herzberg, MDR 1972,93 (96); Hirsch, ZStW 74 (1962), 78 (130). 34 Vgl. RGSt 25, 182 (184); 56, 227 (231); RG, GA 47 (1900), 283 zu allgemeinen Redewendungen und üblichen Anpreisungen im Geschäftsverkehr. 35 Übersicht bei Ellmer, S. 144-165; Schünemann, NStZ 1986,439. 36 Vgl. BGH, StV 1986, 149 (150); OLG Köln, JZ 1968, 340; LG Mannheim, NJW 1993, 1488 (1489). 37 So schon RGSt 3, 392 (396); RG, HRR Bd. 16 (1940), 474; BGH, MDR 1972, 387; BGHSt 32, 38 (43); BGHSt 34, 199 (201).

26

Einleitung

sung in der Rechtslehre spricht sich gegen die tatbestandliehe Berucksichtigung des Opfennitverschuldens aus. 38 Festzustellen ist, dass bei auf Unmögliches gerichteten Behauptungen, wofür meist Beispiele aus dem Bereich des Okkulten angeführt werden, gemeinhin nicht für relevant erachtet wird, ob das Opfer die Äußerung ernst nehmen durfte bzw. sie hätte leicht durchschauen können; eine Berucksichtigung der Verkehrsanschauung findet nicht statt. Eine genauere Betrachtung der Betrugsdogmatik ergibt jedoch, dass diese Gesichtspunkte an anderer Stelle durchaus Beachtung finden. So wird in den Fällen der Täuschung durch konkludentes Verhalten untersucht, wie das Täterverhalten nach der Verkehrsanschauung zu verstehen ist, ob ihm ein Erklärungswert zukommt, was nach dem jeweiligen Geschäftstyp bestimmt wird. Ebenso wird bei der Täuschung durch Unterlassen, insbesondere bei der Frage der Herleitung einer Aufklärungspflicht aus Treu und Glauben, § 242 BGB, eine Abschichtung der Verantwortungsbereiche vorgenommen und untersucht, ob der andere Teil nach der Verkehrsauffassung die Mitteilung der relevanten Fakten erwarten konnte. Hier spielt der Gedanke der Opfennitverantwortung - unbewusst - doch eine Rolle. 39 Die Berucksichtigung der Erkennbarkeit der Täuschung ist also auch der herrschenden Auffassung nicht fremd. Besonders deutlich wird dies auch beim Komplex "Werbung". Bei Okkultbehauptungen besteht ganz überwiegend die Tendenz, diese dem Betrugstatbestand zu subsumieren, wohingegen bei der Werbung das Gegenteil der Fall ist, obwohl in beiden Bereichen die Erkennbarkeit der Täuschung eine Rolle spielt. Bei der Werbung ist der oben erläuterte Gesichtspunkt der Opfennitverantwortung jedoch in Fonn der Berucksichtigung der Verkehrsanschauung bzw. der Venneidbarkeit des Irrtums fruchtbar gemacht, ohne dies offen zu legen. Statt dessen wird die Ausscheidung erkennbar übertreibender Reklame fonnal mittels der Abgrenzung zwischen Tatsache(-nbehauptung) und Werturteil erreicht. Interessant ist auch ein Vergleich mit ausländischen Rechtsordnungen, insbesondere mit dem schweizerischen, dem französischen, dem italienischen und dem österreichischen Recht. Dort werden vergleichbare Versuche unternommen, den Betrugstatbestand unter dem Stichwort "Opfennitverschulden" zu beschränken. Im Unterschied zur deutschen Rechtslage stehen dort jedoch z. T. weitere Tatbestandsmerkmale zur Verfügung, bei denen für eine solche Restriktion anzusetzen ist, z. B. das Arglistmerkmal im schweizerischen Betrugstatbestand. Art. 405 des französischen Code penal verlangt zudem ausdrucklieh die Anwendung besonderer Kniffe ("manreuvres 38 Vgl. Geilen, JK, StGB § 25 1/1 a.E.; Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981. 39 Vgl. Ellmer, S. 100-114; Hilgendorf, S. 66-71.

A. Hinführung zur Problematik

27

frauduleuses"); ebenso sollen im italienischen Recht durch das Erfordernis besonderer Kunstgriffe in Art. 640 Codice penale plumpe Lügen ausgeschieden werden. In der österreichischen Betrugsdogmatik wird die abstrakte (oder "spezifische") Eignung zur Irreführung gefordert und für ausreichend erachtet; plumpes, von vornherein leicht durchschaubares Vorgehen sowie die Unwahrscheinlichkeit der behaupteten Tatsache schließen eine Täuschung nicht aus; eine Ausnahme wird jedoch bei absoluter Untauglichkeit des verwendeten Täuschungsmittels gemacht. Ferner werden auch in der Schweiz und in Österreich reklamehafte, übertreibende Anpreisungen aus dem Betrugstatbestand ausgeschieden, wenn und soweit sie üblicherweise nicht ernst genommen werden. Ein Versuch aus neuerer Zeit, eine Einschränkung der betrugsrelevanten Tatsachenbehauptungen, u. a. bei offensichtlich unglaubwürdigen Äußerungen, zu erreichen, stammt von Hilgendoif, der sich in seiner Habilitationsschrift "Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht" mit diesen Fragen beschäftigt. Seine Untersuchung gab den Ausschlag für die vorliegende Arbeit und wird deshalb häufig herangezogen. Hilgendorf schlägt eine neue Differenzierung innerhalb der Tatsachenaussagen vor, nämlich die Unterscheidung von (betrugsrelevanten) Tatsachenbehauptungen und (betrugsirrelevanten) Meinungsäußerungen und stützt sich hierbei auf die Topoi der Opferrnitverantwortung und den Geltungsanspruch einer Äußerung nach der Verkehrsauffassung. Tatsachenbehauptungen sind nach Hilgendorf nur solche, die mit uneingeschränktem Geltungsanspruch auftreten. Die Kategorie der Meinungsäußerungen umfasse alle Äußerungen, die mit offenkundig vermindertem Geltungsanspruch auftreten und so deutlich sichtbar den Charakter einer persönlichen Stellungnahme aufweisen. Ein derart abgeschwächter Geltungsanspruch komme allen Werturteilen zu und soll außerdem grundsätzlich bei Aussagen vorliegen, die nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Adressaten, insbesondere eines durchschnittlichen Teilnehmers am Geschäftsverkehr, in besonderer Weise unglaubwürdig sind. Hilgendorf setzt also nicht am Tatsachenbegriff an zur Lösung der hier interessierenden Fälle. Für ihn ist der Bereich der Tatsachenaussagen weit gefasst; er versteht darunter alle Aussagen, die prinzipiell empirisch überprüfbar sind, was auch bei völlig unglaubwürdigen Aussagen der Fall ist.

Zu untersuchen sein wird, ob sich nicht eine Lösung mittels des Begriffs der Täuschung über Tatsachen - also eng am Wortlaut des § 263 StGB orientiert - finden lässt. Die herkömmliche Tatsachendefinition muss einer kritischen Analyse unterzogen werden. Rechtsprechung und Literatur machen mit den aufgestellten Kriterien des Tatsachenbegriffs nicht ernst, sondern lassen sich maßgebend vom gewünschten Ergebnis und von Billigkeitserwägungen leiten. Soll der leichtgläubigen alten Frau, der der geris-

28

Einleitung

sene Täter mit den abenteuerlichsten Behauptungen den letzten Pfennig aus der Tasche zieht, der Strafrechts schutz versagt werden, weil ihr keine "falschen Tatsachen" vorgespiegelt wurden? Das Rechtsgefühl fordert in solchen Fällen wohl die Bestrafung des Täters, doch ist dies nach der geltenden Fassung des § 263 StGB tatsächlich möglich? Die folgende Untersuchung wird ergeben, dass dies entgegen der nahezu einhelligen Meinung nicht der Fall ist.

B. Gang der Darstellung In Kapitel 1 wird zunächst die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs und seiner Abgrenzung zu den Werturteilen im Rahmen des Betrugstatbestands anhand von Gesetzesmaterialien, Rechtsprechung und Rechtslehre untersucht. In Kapitel 2 wird auf die herrschende Tatsachendefinition näher eingegangen und die einzelnen Elemente kritisch im Hinblick auf "okkultistische" bzw. "parapsychologische" Tatsachen untersucht. Interessant sind insbesondere die Kriterien der "Wirklichkeit" sowie der "Beweiszugänglichkeit" bzw. der "Beweisbarkeit". Dabei werden sich Ungereimtheiten bei der Vorgehensweise der h. M. zeigen, die insbesondere als Prämisse davon ausgeht, dass Unmögliches betrugsrelevant vorgespiegelt werden kann. In Kapitel 3 werden einige Urteile aus der Rechtsprechung, angefangen beim Preußischen Obertribunal über das Reichsgericht bis zum Bundesgerichtshof sowie zu den Land- und Oberlandesgerichten, die sich mit Fragen aus dem okkultistischen und übersinnlichen Bereich bezüglich § 263 StGB zu befassen hatten, analysiert und die Wege der Entscheidungsfindung dargestellt. Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Inhalt und der Reichweite der Begriffe des "Vorspiegelns" bzw. der ,,(Tatsachen-)Behauptung", wobei die Frage im Vordergrund steht, ob diesen Begriffen Einschränkungen entnommen werden können, die zur Ausscheidung besonders leicht erkennbarer Täuschungen aus dem Betrugstatbestand führen. Ferner ist ein Blick auf einige ausgewählte Betrugsvorschriften ausländischer Rechtsordnungen zu werfen, die die Täuschungshandlung enger fassen bzw. auslegen, wobei z. T. jedoch zusätzliche Tatbestandsmerkmale enthalten sind, die eine Restriktion in diesem Bereich ermöglichen. In Kapitel 5 erfolgt eine Darstellung der Lehren vom "Opfermitverschulden", die überwiegend am Betrugstatbestand entwickelt wurden; auf verschiedene Weise wird der mitwirkenden Fahrlässigkeit des Betrugsopfers an unterschiedlichen Stellen des Tatbestands Rechnung getragen. Die wohl noch h. L. und v. a. die Rechtsprechung lehnen bislang jede tatbestandliche Berücksichtigung ab und messen der Opfermitverantwortung lediglich als

B. Gang der Darstellung

29

Strafzumessungsfaktor bzw. bei den prozessualen Einstellungsmöglichkeiten Bedeutung zu. Unglaubwürdige und absurde Behauptungen können indes mittels des Topos der "Opfermitverantwortung" aus dem Betrugstatbestand ausgeschieden werden. Ein beachtlicher Teil der Rechtslehre löst die in der vorliegenden Arbeit behandelte Problematik auf diese Weise. Es wird aber nicht am Tatsachenbegriff angesetzt; vielmehr wird durchweg eine Tatsachenaussage bejaht und die Lösung an anderen Tatbestandsmerkmalen festgemacht. Auch Hilgendoifbejaht das Vorliegen einer Tatsachenaussage, wenn auch infolge des deutlich abgeminderten Geltungsanspruchs bei besonders unglaubwürdigen Äußerungen keine betrugsrelevante Tatsachenbehauptung gegeben sein soll. Kapitel 6 befasst sich mit der Behandlung der "marktschreierischen Reklame" bzw. der "übertriebenen Anpreisungen" durch die h.M.; Parallelen zur Fallgruppe des Okkultschwindels werden aufgezeigt. In Kapitel 7 wird eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse gegeben und die eigene Lösung umfassend entwickelt und abgesichert, insbesondere auch der Umfang des "Unmöglichen" einer Klärung zugeführt. Die Figur der inneren Tatsache wird in Kapitel 8 eingehend untersucht. Die logische Trennung von Tatsachenaussagen und Werturteilen wird zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass aus sprachlogischen Gründen in jedem Werturteil die Behauptung des Urteilenden liegt, er sei von der Richtigkeit seines Urteils überzeugt, also die Behauptung einer inneren Tatsache. Diese Erkenntnis macht bei konsequenter Anwendung eine Abgrenzung von Tatsachenbehauptung und Werturteil unmöglich; die h. M. greift jedoch bei Werturteilen nur in Ausnahmefällen auf die mitbehauptete innere Tatsache zurück. Kapitel 9 beschäftigt sich mit Parallelen zwischen absurden, übematürliche Zusammenhänge vorspiegelnden Behauptungen und der Figur des sog. abergläubischen, irrealen Versuchs sowie anderen Fallgruppen, in denen Übersinnliches im Rahmen des StGB - sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen Teil - eine Rolle spielt. In Kapitel 10 wird der Frage nachgegangen, welche zivilrechtlichen Ansprüche das Opfer eines Okkultschwindels gegen den Täuschenden hat. In Kapitel 11 werden sodann andere Möglichkeiten des Einschreitens gegen Okkultschwindler - insbesondere im Wege ordnungswidrigkeiten- bzw. verwaltungsrechtlichen Vorgehens - erörtert. In Kapitel 12 schließlich werden die Ergebnisse der Arbeit zusammenfassend dargestellt.

Kapitell

Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs und seiner Abgrenzung zu den Werturteilen, dargestellt an der Genese des Betrugstatbestands Die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen" in § 263 StGB ist ohne seinen historischen Hintergrund nicht zu erfassen. Bedeutsam ist zum einen die Entwicklung des Betrugstatbestands überhaupt, zum anderen die Bedeutung und Funktion des Tatsachenbegriffs. Zunächst wird die Herausbildung eines allgemeinen Betrugsbegriffs und der Weg zum modemen Betrugstatbestand dargestellt; im Anschluss daran wird die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen" erläutert, zum einen an einzelnen Kodifikationen des Betrugstatbestands, zum anderen anhand der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts. Ausführliche Darstellungen der Genese der Betrugsdogmatik finden sich auch bei Naucke und Ellmer; beide betrachten die Entwicklung aus dem jeweils für entscheidend gehaltenen Blickwinkel: Naucke will den Willen des Gesetzgebers mittels der Entstehungsgeschichte des Betrugstatbestands im Preußischen Strafgesetzbuch (PrStGB) erforschen, um § 263 StGB heute historisch auslegen zu können. l Ellmer stellt die Topoi "Opfermitverschulden" sowie "Enttäuschung notwendigen Vertrauens" in den Mittelpunkt seiner Darstellung der Entstehungsgeschichte des modemen Betrugstatbestands und will für sie Anhaltspunkte in der Geschichte finden will. 2 Ferner hat Hilgend01f die Herausbildung des Erfordernisses einer "Täuschung über Tatsachen" im Betrugsstrafrecht dargestellt? Vorliegend soll deshalb nicht die gesamte Entwicklung umfassend dargestellt werden, sondern nur die für die zu behandelnde Problematik entscheidenden Gesichtspunkte, also die Haltung zu "unmöglichen Tatsachen" bzw. die strafrechtliche Beurteilung von Fällen des Okkultschwindels. Im Anschluss daran sollen die Begriffe des Werturteils und der Meinungsäußerung, die nach herkömmlicher Ansicht den Gegensatz zur Tatsache bzw. Tatsachenbehauptung bilden, geklärt werden. Zuletzt wird ein kurzer Blick 1 2 3

Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 62-128. Betrug und Opfennitverantwortung, S. 22-78. Hilgendorf, S. 24-36.

A. Die Entwicklung des modernen Betrugsbegriffs

31

auf die Entwicklung des Tatsachenbegriffs im Verleumdungstatbestand geworfen.

A. Die Entwicklung des modernen BetrugsbegritTs I. Das Fehlen deutschrechtlicher Anknüpfungspunkte Im deutschen wie im italienischen Strafrecht gab es keine Anknüpfungspunkte für einen allgemeinen Betrugsbegriff. 4 Die deutschen Volksrechte erwähnten neben der Fälschung - insbesondere Münz-, Grenz-, Urkundenfalschung und falschem Zeugnis - den Betrug nur selten, wobei die beiden Begriffe nicht scharf getrennt wurden. 5 In der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs, lateinisch "Constitutio Criminalis Carolina" (CCC), von 1532 gab es keinen allgemeinen und selbständigen Betrugstatbestand, sondern nur einzelne Arten von speziellen Fälschungsdelikten. 6 In Art. 111 bis 114 sowie 178 waren Betrugsfälle jeweils unter Fälschungsgesichtspunkten geregelt.? Das Delikt der Zauberei (Art. 44 und 109 CCC) wurde erst durch die Praxis zum Betrug gestempelt, während es ursprünglich als die wirkliche Hervorbringung bestimmter Ereignisse durch übernatürliche Kräfte zum Schaden Dritter angesehen worden war. 8 Die Reichspolizeiverordnungen des 16. Jahrhunderts enthielten vor allem betrugsähnliche Fälle der Warenfälschung. 9 Somit stand dem gemeinen Recht nur der Rückgriff auf das römische Recht, nämlich auf das falsum und den stellionatus, zur Verfügung. 11. Das falsum und der stellionatus des römischen Rechts als Vorläufer des modernen Betrugstatbestands? Der Betrugstatbestand nach modernem Verständnis entstand erst im 19. Jahrhundert. Vorläufer waren die römisch-rechtlichen Delikte des falsum und des stellionatus. \0 Ersteres umfasste Testaments- und Urkundendelikte, Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, S. 537 f.; Ellmer, S. 23. Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrechte, S. 128 f. 6 Zum Betrug in der CCC vgl. Merkel, Kriminalistische Abhandlungen 11, S. 18; Mittermaier, in: Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 649 Anm. 11; Rommel, Der Betrug, S. 3; zur Entstehung und Bedeutung der CCC vgl. Die Carolina, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, hrsg. v. F.-C. Schroeder, 1986. 7 Vgl. Merkel, Kriminalistische Abhandlungen 11, S. 18; Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 62; Rommel, Der Betrug, S. 3 f. 8 Rommel, Der Betrug, S. 3. 9 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 62; Rommel, Der Betrug, S. 5 f. mit einer Aufzählung einzelner Reichspolizeiordnungen. 4

5

32

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

Prozess- und Advokatendelikte, Edeimetall- und Münzdelikte, Fälschung der Verwandtschafts- oder der RangsteIlung sowie falsches Maß und Gewicht. ll Die lex Comelia de falsis aus dem Jahre 80 v. Chr., die einige besonders gefährliche Fälle der Fälschung herausgriff und als crimina falsi normierte, war im Wesentlichen ein Prozessgesetz, das für verschiedene verwandte Delikte einen besonderen Gerichtshof und das entsprechende Verfahren vorschrieb. 12 Der Betrug erschien als ziviles Unrecht, das seit Einführung der actio de dolo Schadensersatzansprüche und pönale Nebenfolgen, aber keine echten Strafen auslöste. 13 In der Kaiserzeit um 200 n.Chr. wurde nach dem Vorbild der zivilrechtlichen actio de dolo von der Rechtsprechung das Betrugsdelikt des stellionatus entwickelt, um Betrugsfalle des rechtsgeschäftlichen Verkehrs kriminell ahnden zu können. 14 Der Stellionat wurde benannt nach der stellio, der Stemeidechse, die "in den mannigfachsten Farben schillere, häufig ihre Haut wechsele und so durch ihr verschlagenes Gebaren mehr als jedes andere Tier den Menschen zu täuschen pflege. ,,15 Der Stellionat stellte ein kriminalisiertes Seitenstück zur actio de dolo dar und war wie diese subsidiär. 16 Als Begriffsmerkmale des Stellionats wurden überwiegend eine Täuschungshandlung, die einen Irrtum hervorgerufen hat, sowie ein Schaden gefordert; auf der inneren Tatseite war Dolus erforderIichY Streitig ist, ob der Stellionat ein Vermögensdelikt war oder als Erfolg jeder Nachteil ausreichte. Nach einer Auffassung war Angriffsobjekt des Stellionats das Vermögen, so dass der modeme Betrugsbegriff auf den Stellionat zurückgeführt werden könne. 18 Nach anderer An10 Zum falsum siehe Hupe, Falsum, fraus und stellionatus im römischen und germanischen Recht, S. 145-149; zum Stellionat siehe Schaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281-295. II Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 669 ff.; Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrechte, S. 124 ff. 12 H. Mayer, Die Untreue im Zusammenhang der Vermögensverbrechen, S. 40; siehe auch Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, S. 502; vgl. auch Rommel, Der Betrug, S. 2: Senatskonsulta und Konstitutionen dehnten den Begriff des falsum, das sich nur auf Testamentsfälschungen und Münzfälschungen bezogen hatte, auf andere Fälschungen, insbesondere Urkundenfälschungen aus, bis schließlich eigentliche Betrugsfälle als quasi falsa mit Strafe bedroht wurden. 13 Hupe, HRG, I. Band, S. 1062. 14 Ibid. 15 Schaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281 (283 f.) m. w. N.; Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 680 Fußnote 4: "Stellio, eigentlich eine Art Skorpion, ist der Schuft"; vgl. auch Ellmer, S. 74. 16 Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Bes. Teil, Erster Band, S. 339; Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, S. 537; H. Mayer, Die Untreue im Zusammenhang der Vermögensverbrechen, S. 40; Merkel, Kriminalistische Abhandlungen 11, S. 2. 17 Vgl. Hupe, Falsum, fraus und stellionatus im römischen und germanischen Recht, S. 169 ff.

A. Die Entwicklung des modemen Betrugsbegriffs

33

sicht war der Stellionat ein unscharfer Aushilfstatbestand für arglistiges Verhalten, der lediglich ein Handeln in necem alterius, also zum Verderben bzw. zum Nachteil eines anderen, voraussetzte. l9 Es soll sich nicht um eine Art Betrugstatbestand gehandelt haben, sondern nur um eine Zusammenfassung einer umfangreichen Kasuistik. 2o Eine entscheidende Rolle bei der Erörterung des Betrugsbegriffs spielte die Figur des "Dolus malus", der nach überwiegender Ansicht aus zwei Komponenten bestand, nämlich der objektiven als einem gewissen Maß an Raffiniertheit des Vorgehens und einer subjektiven als dem rechtswidrigen Willen des Täters?l Als notwendige Bedingung des Dolus malus war eine magna et evidens calliditas 22 erforderlich. Dies führte zur Beschränkung des Stellionats. 23

Schaffstein 24 teilt die Entwicklung des Stellionatsbegriffs in vier Phasen ein: In der ersten Phase erschien der Stellionat als ein subsidiärer, in seinen Konturen unscharfer Arglisttatbestand, der die Fälle arglistiger Täuschungen erfassen sollte, die unter spezielle Gesetze nicht subsumierbar waren. In der zweiten Phase erschien er als genereller "Schufterei-Tatbestand", mit dem crimen extraordinarium25 gleichgesetzt. Dies geschah infolge der Ausdehnung des falsum auf alle schädlichen Wahrheitsverdrehungen, so dass in 18 Merkel, Kriminalistische Abhandlungen II, S. 1 ff.; ebenso Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Bes. Teil, Erster Band, S. 339; Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, S. 539; Hupe, Falsum, fraus und stellionatus im römischen und germanischen Recht, S. 169; Marezall, Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebungen, S. 553; Mittermaier, in: Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 661 Anm. III; Rammel, Der Betrug, S. 3; Temme, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, S. 363. 19 Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechtes, S. 313, 314 mit Fußnote 4; ebenso Schaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281 (285 f.). 20 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 63. 21 Vgl. Ellmer, S. 74. 22 "Schlauheit" oder "Verschlagenheit", vgl. Ellmer, S. 23 mit Fußnote 13. Hierfür stützte man sich auf Digestenstellen wie D. 4.3.7.10: "Nam ni si ex magna et evidenti calliditate non debet de dolo actio dari". Weitere Digestenstellen bei Temme, Die Lehre vom strafbaren Betruge nach Preußischem Rechte, S. 50. 23 Köstlin, Zeitschrift für Zivilrecht und Prozess, N. F., 14. Band, 295 (365); Marezall, Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebungen, S. 553; Mittermaier, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 1 (4, 19); Rammel, Der Betrug, S. 2, führte aus, dass für den Stellionat ein betrügerisches ränkevolles Handeln, ein besonderes Raffinement erforderlich war; Temme, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, S. 365: "Das Benehmen muß dabei ein arglistiges sein; die erste beste Lüge reicht nicht aus." 24 Schaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281 (284 ff.). 25 Dem "crimen extraordinarium" fehlte im Gegensatz zum "crimen ordinarium" bzw. "legitimum" eine gesetzliche Grundlage; es war ein reines Produkt von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, vgl. Mammsen, Römisches Strafrecht, 3 Thomma

34

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

diesem Bereich kein Bedürfnis mehr bestand für einen ergänzenden subsidiären Tatbestand. In der dritten Phase verschmolzen falsum und Stellionat zu einem einheitlichen Delikt der arglistigen Wahrheits verdrängung; der Stellionat ging völlig im falsum, welches immer weiter ausgedehnt wurde, auf. In der vierten Phase, im 19. Jahrhundert, wurde gerade der Unterschied zwischen den beiden Delikten betont und versucht, zwischen Betrug und Urkundenfälschung - nach den betroffenen Rechtsgütern - zu differenzieren (dazu gleich). Das Verhältnis von falsum und Stellionat wurde also in den verschiedenen Phasen sehr unterschiedlich beurteilt und war alles in allem unklar. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Stellionat und das falsum weit von einem Betrugstatbestand nach heutigem Verständnis entfernt waren. In einer umfangreichen Kasuistik wurden für strafwürdig gehaltene Fälle aufgezählt, ohne dass eine Generalklausei vorhanden war. III. Der Unterschied zwischen Fälschung und Betrug, insbesondere die Verschiedenheit der geschützten Rechtsgüter

Das Wesen des Betrugs wurde in dem Angriff auf die freie Willensentschließung einer Person gesehen; der Täter füge dem Erkenntnisvermögen des Opfers Gewalt zu; charakteristisch sei die Ausübung von Zwang gegenüber dem Opfer. 26 Der Betrug wurde also als Delikt gegen die Freiheit der Willensbestimmung oder, moderner gesprochen, gegen die Dispositionsfreiheit angesehen. 27 Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt das "Recht auf Wahrheit" als Schutzgut des Betrugs?S Dieses "Recht auf Wahrheit" wurde von Cucumus zuerst behauptet. 29 Doch schon bald wurde es Gegenstand S. 680 mit Fußnote 5; Temme, Die Lehre vom strafbaren Betruge nach Preußischem Rechte, S. 11. 26 Cucumus, Über das Verbrechen des Betrugs, S. 82 f., fand das unterscheidende Merkmal des strafbaren Betrugs in einer "Vergewaltigung des Erkenntnisvermögens durch objektiv existierende falsche Gründe" und definierte den Betrug als "die durch äußerlich existierende falsche Gründe dem Erkenntnisvermögen einer Person dolos angethane Gewalt, welche, wenn ihre Wirkung nicht unterdrückt wird, eine Verletzung der Rechtssphäre hervorbringt"; vgl. auch S. 78, 80 f. Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 65 f.; Mittermaier, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 1 (17). 27 Vgl. Schaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281 (293). 28 Vgl. Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Bes. Teil, Erster Band, S. 338 f.; Temme, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, S. 364. Ausführlich zu der Entwicklung der Ansichten über das geschützte Rechtsgut Ellmer, S. 45 ff.; zur Diskussion über den Unrechtsgehalt des Betrugs siehe auch Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 103 ff. 29 Über das Verbrechen des Betrugs, Erster Abschnitt, § 1, S. 3 ff.; vgl. auch dens., in: Neues Archiv des Criminalrechts, Band 10 (1829), 513 (521, 528 ff.).

A. Die Entwicklung des modemen Betrugsbegriffs

35

heftiger Kritik; bemängelt wurde der daraus resultierende weite Anwendungsbereich des Betrugstatbestands. Da es keine absolute Pflicht zur Wahrheit gebe, könne die Entstellung der Wahrheit für sich allein noch keine Rechtsverletzung sein, ja oft nicht einmal eine Immoralität, da nicht selten die List das einzige Mittel sei, sich oder andere gegen ungerechte Angriffe abzuschirmen und zu retten. 30 Die Anerkennung eines "Rechts auf Wahrheit" würde zu einer unerwünschten Erschwernis des Handelsverkehrs führen?l Jedoch wurde später und wird noch heute die Auffassung vertreten, die Dispositionsfreiheit sei mitgeschütze 2, obwohl sich die Auffassung des Betrugs als reinem Vermögensdelikt durchgesetzt hat33 • Nach anderer Auffassung sind "Treu und Glauben" im Geschäftsverkehr, entweder neben dem Vermögen oder ausschließlich, geschützt. 34 30 Haager, GS 27 (1875), 561; vgl. auch Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 55; Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrechte, S. 119; auch Gross, Der Raritätenbetrug, S. 163, sprach sich gegen ein "Recht auf Wahrheit" aus; deshalb sei die Lüge nur ein Teil des Betrugstatbestands und würde erst in Verbindung mit äußeren Umständen zur arglistigen Täuschung, die ein Deliktsmerkmal des Betrugs sei. Kürzlich hat Pawlik den Versuch unternommen, den Begriff der Täuschung konsequent normativierend zu interpretieren; dabei stellt er die Begriffe des Wahrheitsrechts des Opfers und der (diesem Recht korrespondierenden) Wahrheitspflicht des Täters in den Mittelpunkt. Eine betrügerische Täuschung ist danach die unter dem Anschein der Rechtlichkeit erfolgende Verletzung eines Mitteilungsrechts, das in dem Recht auf Wahrheit wurzelt, welches dem Inhaber des angegriffenen Vermögensgegenstandes zusteht, vgl. S. 65 f., 74. Zur Bezeichnung der Informationsansprüche, die sich aus dem Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer ergeben, verwendet Pawlik unter Anknüpfung an die ältere philosophische und strafrechtsdogmatische Tradition den Terminus "Recht auf Wahrheit", vgl. S. 78. Dennoch versteht er den § 263 StGB auf der Ebene der positivrechtlichen Ausgestaltung im Einklang mit seinem einen Vermögensschaden voraussetzenden Wortlaut und mit der heute nahezu einhelligen Ansicht als Vermögensdelikt, vgl. S. 83. Als unmittelbares Schutzgut des Betrugstatbestands erkennt er daher allein das Vermögen an (S. 105). 31 Vgl. Haager, GS 27 (1875), 561 (580). 32 Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 263 Anm. I, sah den wahren Willen des Angegriffenen als mitgeschütztes Rechtsgut an; ferner Graul, in: Festschrift für Hans Erich Brandner, S. 801 (819); Gutmann, MDR 1963, 3; 91 (95). Diese Auffassung wurde auch von Kindhäuser, ZStW 103 (1991), 398 (399), vertreten, jedoch zwischenzeitlich aufgegeben, in: Festschrift für Günter Bemmann, S. 339 (354 Fußnote 40). 33 So die Rspr., vgl. nur RGSt 74, 167 (168 f.); BGHSt 7, 197 (198); 16, 220 (221); aus dem Schrifttum z. B. Arzt/Weber, Strafrecht Bes. Teil, § 20 Rn. 15, 26 f.; LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 4; Maurach/Schroeder/Maiwald, § 41 Rn. 19; Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 103; Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 1; SK-Samson/Günther, § 263 Rn. 1; Tröndle/Fischer, § 263 Rn. 1 b. 34 Für Treu und Glauben als geschütztes Rechtsgut z. B. Kohler, Treue und Glauben im Verkehr, 1893; Eckstein, GA 59 (1912), 29 (33). Nach Mezger, Strafrecht H, Bes. Teil, S. 167 f., ist neben dem Vermögen die Aufrechterhaltung von Wahrheit und von Treu und Glauben im vermögensrechtlichen Verkehr geschützt (Doppelbe-

3*

36

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

Die Bemühungen, einen selbständigen Betrugsbegriff zu finden, gingen davon aus, dass die Lüge bzw. List an sich nicht widerrechtlich sei, sofern ein abstraktes "Recht auf Wahrheit" nicht anerkannt wurde. Die List gehöre zu den natürlichen Waffen des Menschen, deren er sich in seinem Lebenskampf bedienen dürfe. 35 Die Lüge stelle also ein Mittel des geistigen Kampfes dar. 36 Somit sei zu fordern, dass mittels der Täuschung ein bestimmtes Recht angegriffen werde. Dies sei bei der Fälschung die "publica fides", also das "Recht der bürgerlichen Gesellschaft auf Ungekränktheit ihres idealen Fundaments" 37 bzw. "Treu und Glauben im Verkehr,,38, beim Betrug das Vennögen. Die Verschiedenheit des Betrugs von der Fälschung zeigte sich also in der Verschiedenheit des Angriffsobjekts bzw. des geschützten Rechtsguts. Dies wurde zuerst von Cucumus ausdrücklich hervorgehoben, der sich für die Unterscheidung von Fälschung und Betrug einsetzte. 39 Der Anstoß, den Betrug als Vennögensdelikt zu fixieren, kam aus dem Ausland. 4o Der französische Code penal von 1810 behandelte in Art. 405 den Betrug ("escroquerie") als Vennögensdelikt, und zwar als Verzeichnung des Rechtsguts beim Betrug); zwar gebe es kein selbständiges "Recht auf Wahrheit", aber dies schließe nicht aus, dass dieses Recht in bestimmten Beziehungen auch strafrechtlich eine Rolle spiele. Vgl. schon v. Cleric, Betrug verübt durch Schweigen, S. 92, 96 ff., insbes. S. 98 f., der den Betrug als ein Delikt mit doppeltem Schutzobjekt ansah; das primäre Schutzobjekt sei das Rechtsgut "Treu und Glauben im Verkehr", das als Durchgangsstadium durchlaufen werde; das sekundäre Schutzobjekt, das am Schluss verletzt werde, sei das Vermögen. Kahlrausch, in: Festschrift für Franz Schlegelberger, S. 203 (222), sah das Wesen des Betrugs allein in der Täuschung fremden Vertrauens. 35 Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 54 (Stichwort des "bellum omnium contra omnes"); Kahler, Treue und Glauben im Verkehr, S. 3 f., wies auf das egoistische Moment in der Spekulation hin, das nach der Lebensanschauung nicht unsittlich sei; vielmehr sei der Egoismus notwendig, um die Menschheit dem Höchsten zuzuführen durch die höchste Entfaltung der individuellen Kräfte. Rammel, Der Betrug, S. I, bemerkte, dass die gesamten menschlichen Verhältnisse, insbesondere aber die zwischenmenschlichen Beziehungen, vielfach auf Schein und Täuschung einerseits und Irrtum andererseits aufbauten und dass im Kampf um das Dasein jeder seinen Vorteil suche. Weiter sprach er von einem berechtigten Egoismus, so dass die Präzisierung des Punkts, an dem das Unrecht anfange und das Recht aufhöre, ganz besonders schwierig gewesen sei. 36 Vgl. Ellmer, S. 30. In den Beratungen zum Strafgesetzbuch für das Großherzogturn Baden von 1845 wurde der Betrug als ein Kampf mit den Waffen der List charakterisiert, vgl. Aschbach, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 16 (1841), 30 (33). 37 Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrechte, S. 121. 38 So v. Cleric, Betrug verübt durch Schweigen, S. 94. Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Bes. Teil, Erster Band, S. 338, sprach im Zusammenhang mit der "publica fides" von der "Echtheit oder dem Wahrheitsgehalt von Beweismitteln oder Beglaubigungszeichen". 39 In: Neues Archiv des Criminalrechts, Band 10 (1829), 513 ff., 681 ff. 40 So Maurach/Schroeder/Maiwald, § 41 Rn. 5.

B. Das Entstehen des Bedürfnisses für einen allgemeinen Betrugstatbestand 37

mögensverschiebungsdelikt, und unterschied ihn deutlich von den unter die Verbrechen gegen den öffentlichen Frieden eingeordneten Fälschungen ("faux", Art. 132).41 Der weitere Fortschritt ging somit von der Rechtsvergleichung aus. Auch in Italien und England wurden schon immer "falso" (im Gegensatz zum italienischen "truffa") und "forgery" (im Gegensatz zum englischen "cheat") als vom Betrug getrennte Verbrechen aufgefasst. 42 Dem eigentlichen Begründer der rechtsvergleichenden Methode im Strafrecht, earl J. A. Mittennaier43 , gelang "der entscheidende Durchbruch, der zur Anerkennung des Betrugs (Stellionats) als Vermögensdelikt, der davon scharf zu unterscheidenden Fälschung (Falsum) als Delikts gegen die publica fides führte,,44. Bis tief in die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts hinein erschien jedoch der wenig ausgeprägte Betrug meist nur als ein Anhängsel der gewichtigeren Fälschungsfälle. 45 Die Fälschung wurde gemeinhin als das schwerere Verbrechen angesehen und in den Kodifikationen auch strenger bestraft. 46 An dieser Stelle sei nur kurz angemerkt, dass der Durchbruch zu einem Betrugstatbestand moderner Prägung, der von den Fälschungsdelikten unabhängig ist und den Vermögens schutz in den Vordergrund stellt, im Bereich der Gesetzgebung erst in den Vorarbeiten zum PrStGB gelungen ist. 47

B. Das Entstehen des Bedürfnisses für einen allgemeinen Betrugstatbestand Es stellt sich die Frage, warum erst relativ spät ein allgemeiner Betrugstatbestand geschaffen wurde. Die einsetzenden Bemühungen um die Schaffung eines strukturierten Betrugstatbestands werden auf den Beginn des industriellen Zeitalters am Anfang des 19. Jahrhunderts datiert. Davor wurde keine Notwendigkeit für einen umfassenden Schutz des Vermögens gegen Täuschungen gesehen. 48 Es standen vielmehr andere Instrumente zur Verfü41 Maurach/Schroeder/Maiwald, § 41 Rn. 5; Sehaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281 (294). 42 Mittermaier, in: Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 650 Anm. 11; vgl. auch Rommel, Der Betrug, S. 6; Sehaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281 (294). 43 In seinen "Noten" zu den von ihm herausgegebenen späteren Auflagen des Feuerbaeh' sehen Lehrbuchs. 44 Schaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281 (294). 45 Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Bes. Teil, Erster Band, S. 338. 46 Vgl. Mittermaier, in: Feuerbaeh, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 650 Anm. III. 47 LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 3. 48 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 62.

38

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

gung: Das falsum erfasste lange Zeit in der Theorie alle Fälle schädlicher Wahrheitsverdrehungen; in den großen italienischen und deutschen Städten des Spätmittelalters, auf die sich Handel und Gewerbe beschränkten, waren zudem gewerbepolizeirechtliche Vorschriften vorhanden; diese Präventivkontrolle setzte im Vorfeld einer eigentlichen Schädigung des Kunden ein und bedrohte bereits das Anbieten minderwertiger Ware usw. mit Strafe. 49 Zwar bestand schon dort das Bedürfnis nach einem wirtschaftsstrafrechtlichen Instrumentarium zum Schutz des Geschäftsverkehrs, doch übernahm diese Aufgabe das vorbeugende Polizeirecht, so dass daneben eine Betrugsstrafe im modemen Sinn nicht erforderlich war. 50 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildete sich eine arbeitsteilige Industrieund Handelsgesellschaft51 ; die vielfältigen Geschäftsbeziehungen erforderten einen erhöhten Strafrechtsschutz. Zwei Gedanken prägten die Überlegungen: Zum einen sollte ein wirksamerer Vermögensschutz mit Hilfe des Strafrechts erreicht werden, zum anderen sollten aber dem Handel und Verkehr keine zu engen Fesseln auferlegt werden. 52 Die Gründe für die Schaffung eines exakten Betrugstatbestands sind also die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Denn erst "wenn ein Volk aus seiner ruhigen, einfachen Lebensweise in ein bewegteres Leben der Industrie und Cultur hinübertritt"S3, entsteht ein Bedürfnis nach wirksamem Strafrechtsschutz gegen Betrügereien.

c. Die Kernprobleme der Betrugsdogmatik im 19. Jahrhundert

Die Schaffung eines allgemeinen Betrugstatbestands warf Probleme auf, wobei zwei der Kemprobleme der Dogmatik hier behandelt werden sollen. Zum einen stellte sich die kriminalpolitische Frage des Verhältnisses von Zivilrecht und Strafrecht, zum anderen die Frage der Abgrenzung von verbotenem Betrug und strafloser Geschäftstüchtigkeit. 49 Zum Statutarrecht der italienischen Stadtstaaten des 14. Jahrhunderts siehe Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, S. 537 f.; schon Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrechte, S. 137, wies auf die Reichspolizeiordnungen zur Bekämpfung von betrügerischen Warenfälschungen hin; vgl. auch Merket, Kriminalistische Abhandlungen 11, S. 19: Der Sache nach handelte es sich in den Reichspolizeiordnungen nicht um Fälschungen im engeren Sinne, sondern um Betrügereien krimineller oder polizeilicher Natur. 50 Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, S. 538; Schaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 283. 51 Ellmer, S. 24; Schaffstein, in: Festschrift für Franz Wieacker, S. 281 (282). 52 Köstlin, Civilrecht, S. 294 f.; vgl. auch Ellmer, S. 24 f. 53 So Temme, Die Lehre vom strafbaren Betruge nach Preußischem Rechte, S. 9.

C. Die Kemprobleme der Betrugsdogmatik im 19. Jahrhundert

39

I. Das Verhältnis von Zivilrecht und Strafrecht Eingehend wurde die Frage behandelt, wie eine Grenze zwischen Zivilrecht und Strafrecht zu ziehen sei. Am Anfang dieser Problematik stand Kleinschrod am Ende des 18. Jahrhunderts, der eine grundsätzlich neue Lösung versuchte. 54 Er erklärte den Fälschungsbegriff der h. M. seiner Zeit, die darunter jede Unterdrückung oder Veränderung der Wahrheit zum Schaden eines Dritten verstand55 , für viel zu weit. Anhand dieses Begriffs könne man Wahrheitsentstellungen mit zivilrechtlichen Folgen nicht von Wahrheitsentstellungen mit strafrechtlichen Folgen unterscheiden. 56 Dies sei aber erforderlich, weil der Staat nicht alle Handlungen bestrafen könne, die eine Privatperson schädigten; vielmehr müsse es in diesen Fällen mit der Gewährung von Schadensersatz sein Bewenden haben. 57 Fälschungen seien nur zu bestrafen, wenn zugleich Schaden für das Eigentum eines Dritten und eine Gefahr der Unsicherheit des Eigentums aller entstehen könne, wobei unter Eigentum alle rechtlich irgendwie anerkannten Güter mit Vermögenswert verstanden wurden. 58 Kleinschrods These wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein nachhaltig diskutiert. 59 Er selbst zog folgende Konsequenz: Verfälschungen, die das Eigentum nicht schlechthin gefahrdeten, sollten aus dem Begriff des falsum ausscheiden und nur zivilrechtlich zu verfolgen sein. 6o Die Schädigung eines Einzelnen durch Täuschung sei nicht strafwürdig. Im Lauf der Zeit wurden zur Klärung des Verhältnisses von Zivilrecht und Strafrecht zwei Fragen auseinander gehalten: Einmal ging es um die Grenze zwischen rechtswidriger und rechtmäßiger Täuschung, zum anderen um die Grenze zwischen zivilrechtswidriger und strafrechtswidriger Täuschung.61 Als "Schlagwort" wurde der Gegensatz von "einfacher" bzw. "bloßer Lüge" und strafbarem Betrug benutzt. Der Begriff "bloße Lüge" wurde jedoch mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet62, auch von den Autoren selbst, z. B. im Sinne einer wirkungslosen Lüge im Gegensatz zu einer gelungenen Täuschung63 , im Sinne einer bloß In: Archiv des Criminalrechts, Band 2, l. Stück (1799), S. 113 ff. In: Archiv des Criminalrechts, Band 2, l. Stück (1799), S. 114. 56 In: Archiv des Criminalrechts, Band 2, l. Stück (1799), S. 113; vgl. hierzu ausführlich Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 64. 57 In: Archiv des Criminalrechts, Band 2, l. Stück (1799), S. 117. 58 In: Archiv des Criminalrechts, Band 2, l. Stück (1799), S. 117 f. 59 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 64. 60 In: Archiv des Criminalrechts, Band 2, l. Stück (1799), S. 118. 61 Vgl. Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 57; Geib, in: Archiv des Criminalrechts, N. F., 1840, 97 (98); Merkei, Kriminalistische Abhandlungen 11, S. 251; vgl. auch Ellmer, S. 25. 62 Übersicht bei Köstlin, Zeitschrift für Zivilrecht und Prozess, N. F., 14. Band, 295 (334 f.). 54 55

40

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

wörtlichen Vorspiegelung im Gegensatz zu einer durch andere Mittel unterstützten Lüge64 , als bloß negatives Verhalten im Gegensatz zu positiver Täuschung65 , im Sinne einer unsinnigen, albernen Lüge gegenüber einer an sich glaubhaften66 oder im Sinne einer solchen, durch die sich ein halbwegs Vernünftiger nicht hätte bestimmen lassen sollen, im Gegensatz zu einer solchen, die als Motiv dienen konnte67 . Insbesondere Kästlin und Merkel befassten sich mit dem Problem der Abgrenzung von strafbarem und nicht strafbarem Betrug. 68 Kästlin hielt eine Einengung der Strafbarkeit für erforderlich, um die Freiheit des Verkehrs zu gewährleisten. Als Anknüpfungspunkt wählte er die Verschiedenheit des Gegenstands der bürgerlichen und der Strafrechtspflege bzw. die grundsätzliche Unterscheidung von strafrechtlichem und zivilrechtlichem Unrecht. 69 Das Privatrecht habe den Zweck, gestörte Privatrechtsverhältnisse wieder herzustellen, also dem Geschädigten zum Schadensersatz zu verhelfen; im Strafrecht handle es sich nicht um diese Privatrechtsverletzung und deren Ausgleichung, sondern es komme darauf an, dass das Recht prinzipiell verletzt worden sei. 7o Dieser Unterschied wirke sich auch beim verbrecherischen Dolus in einem qualitativen Unterschied aus. 7 ! Für Merkel bestand zwischen Zivil- und strafbarem Unrecht kein Strukturunterschied; eine Unterscheidung sei erst anhand der Rechtsfolgen zu treffen. 72 Beim Vermögensschutz habe das Strafrecht Zurückhaltung zu üben, um der Entfaltung der individuellen Kräfte im Wettbewerb um die Chancen des höheren Gewinns freien Spielraum zu lassen. 73 Dem Zivilrecht wurde von der überwiegenden Meinung im Bereich des Vermögensschutzes der Vorrang eingeräumt, so dass von einer Subsidiarität Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 165. Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 163, 195; Geib, in: Archiv des Criminalrechts, N. F., 1840, 195 (203-205, 220); Gross, Der Raritätenbetrug, S. 163 f., 166 f.; Mittennaier, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 1 (17); ders., in: Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 666 Anm. II. 65 Mittennaier, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 1 (12, 14 f.). 66 Mittennaier, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 1 (17). 67 Geib, in: Archiv des Criminalrechts, N. F., 1840, 195 (197 f.). 68 Eine ausführliche Darstellung der Behandlung des Betrugs bei Köstlin und Merkel gibt Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 92-97. 69 Köstlin, Zeitschrift für Zivilrecht und Prozess, N. F., 14. Band, 295 (396). 70 Köstlin, Zeitschrift für Zivilrecht und Prozess, N. F., 14. Band, 295 (396 f.). 71 Köstlin, Zeitschrift für Zivilrecht und Prozess, N. F., 14. Band, 295 (398). 72 Merkel, Kriminalistische Abhandlungen I, S. 1 ff., 32 ff., 57 ff. 73 Merkel, Kriminalistische Abhandlungen I, S. 72 ff. 63

64

C. Die Kernprobleme der Betrugsdogmatik im 19. Jahrhundert

41

des Strafrechts gegenüber dem Zivilrecht ausgegangen wurde. 74 Der Einsatz des Strafrechts sei "nur da gerechtfertigt, wo durch andere gelindere Mittel, insbesondere diejenigen, welche die Civilgesetzgebung darbietet, nicht der Zweck eben so gut erreicht werden kann, und wo die Art des Angriffs die Anwendung des Strafzwangs fordert, und der Einfluß der Handlung auf die durch dieselbe bedrohten Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft die Strafe rechtfertigt".75 Andere dagegen, wie beispielsweise Zimmermann, lehnten einen Unterschied zwischen strafbarem und bloß zivil rechtlich zu verfolgendem Betruge ab?6

Gross sprach 1901 davon, dass die Suche nach einem prinzipiellen Unterschied zwischen strafbarem Betrug und zivilem Unrecht aufgegeben sei; die Nichtanerkennung des prinzipiellen Unterschieds sei heute communis opinio, wobei Merket hierfür bahnbrechend gewesen sei. 77

11. Die Abgrenzung von erlaubter Geschäftstüchtigkeit und verbotenem Betrug Die Abgrenzung von erlaubter Geschäftstüchtigkeit und verbotenem Betrug stellte das eigentliche Kemproblem der Betrugsdogmatik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar?8 Das Strafrecht sollte nicht zu sehr in die Wettbewerbsverhältnisse eingreifen, um den nötigen Freiraum für Handel und Gewerbe zu gewährleisten. Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts war gekennzeichnet von einer wirtschaftspolitischen Abstinenz des Staates und wollte ein freies Spiel der Kräfte gewährleisten. 79 Die "Bezeichnung der Gränzen, wie weit der Spekulationsgeist und die Klugheit gehen dürfen, mit denen im Wettkampfe Ellmer, S. 25. Mittermaier, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 1 f.; ebenso Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 146; Merkei, in: v. HoltzendorJf (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, Dritter Band, S. 619 (770); vgl. auch die Beratungen zum StGB für das Großherzogtum Baden von 1845, in denen der Betrug als ein Kampf 74 75

mit den Waffen der List bezeichnet wurde, dem man grundsätzlich mit Nachsicht

zu begegnen habe, eine zivilrechtliche Entschädigungsklage genüge daher in der

Regel, vgl. Aschbach, in: Annalen der deutschen und ausländischen CriminalRechtspflege, Band 16 (1841), 30 (33). Kohler, Treue und Glauben im Verkehr, S. 54 f., forderte, dass der Strafzwang nur da eingreifen solle, wo es absolut erforderlich sei; eine Übertreibung in der kriminalistischen Behandlung habe den Nachteil, die Schärfe des Strafrechts abzustumpfen. 76 Zimmermann, GS 29 (1877), 120 (121 ff., 129). 77 Der Raritätenbetrug, S. 129. 78 79

Ellmer, S. 25; Hilgendorf, S. 32. Ausführlich Ellmer, S. 77 m. w.N.

42

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

von zwei Vertragsschließenden, Jeder möglichst das Günstigste für sich zu gewinnen und dies durch Zurückhaltung der Wahrheit und durch Anpreisungen und glänzende Schilderungen zu erreichen suchen darf, ohne strafbar zu werden,,8o wurde eingehend erörtert. Die individuellen geistigen Kräfte im Wettbewerb sollten sich ungehindert entfalten dürfen, was mit dem Grundsatz einer "naturalis licentia decipiendi", also einer "natürlichen Erlaubnis zu lügen", begründet wurde. 81 "Vigilantibus iura sunt scripta" das Recht ist für die Aufmerksamen geschrieben. Der Selbstschutz habe Vorrang vor einem universellen System der Bevormundung durch den Staat. 82 Richtungsweisend waren Arbeiten Geibi 3 aus dem Jahre 1840 sowie Mittermaieri 4 aus den Jahren 1838 und 1858, die die Abgrenzung von strafbarem und straflosem Betrug mittels Abstellens auf die individuelle Opferperspektive, die Vermeidbarkeit des Irrtums für das Opfer bzw. die "Normalklugheit", deren Vernachlässigung einen strafrechtlichen Betrug ausschließen sollte, vornahmen. Dieser Gesichtspunkt der Eigenverantwortlichkeit bringt die Rolle des Opfers beim Betrug ins Spiel; in Kapitel 5 bei der Erörterung der geschichtlichen Entwicklung der Lehre vom Opfermitverschulden wird auf diese Fragen näher eingegangen. In diesem Zusammenhang ist noch auf die Sonderregeln, die für den Betrug in Vertragsverhältnissen in einigen Partikularstrafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts existierten, hinzuweisen. 85 Schon im römischen Recht fand sich die Bemerkung, dass nicht jede im Vertrags verhältnisse vorkommende Überlistung als Stellionat erfasst werde. 86 Zu nennen ist Art. 259 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813, der den Betrug in Vertragsverhältnissen restriktiv regelte: Täuschungen bei Eingehung oder Vollziehung zweiseitiger, auf gegenseitigen Vorteil gerichteter Verträge zogen keine strafrechtlichen, sondern nur zivilrechtliehe oder polizeiliche Folgen nach sich; Vertragsverletzungen erheblicher Art wurden jedoch nicht privilegiert. 87 Hinter dieser Regelung stand das Bestreben, Handel und Gewerbe nicht zu stark Mittermaier, GS 10 (1858), 122. Merke!, Kriminalistische Abhandlungen I, S. 72; ders., Kriminalistische Abhandlungen 11, S. 258; vgl. auch Ellmer, S. 26 f. 82 MerkeI, Kriminalistische Abhandlungen I, S. 72 f.; ders., Kriminalistische Abhandlungen 11, S. 256. 83 In: Archiv des Criminalrechts, N. F., 1840,97 ff., 195 ff. 84 In: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 1 ff. sowie GS 10 (1858), 122 ff. 85 Siehe hierzu Haager, GS 27 (1875), 561 (562 ff.); Kohler, Treue und Glauben im Verkehr, S. 41. 86 Mittermaier, in: Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 662 Anm. IV; vgl. auch Geib, in: Archiv des Criminalrechts, N. F., 1840, 195 (203). 87 Vgl. Ellmer, S. 57. 80 81

C. Die Kernprobleme der Betrugsdogmatik im 19. Jahrhundert

43

durch strafrechtliche Eingriffe zu stören; auf der anderen Seite sollten strafrechtliche Maßnahmen nicht allein deshalb ausscheiden, weil sich die Täuschung in einem Vertragsverhältnis abspielte. 88 Weiter ist das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg von 1839 zu erwähnen, das in Art. 352 eine Sonderregelung für den Betrug bei Verträgen traf. Wo in Vertragsverhältnissen nach zivilrechtlichen Grundsätzen wegen rechtswidriger Täuschung auf Aufhebung des Geschäfts oder auf Schadensersatz geklagt werden konnte, hatte es dabei sein Bewenden; das Strafgesetz kam nicht zur Anwendung. Eine Ausnahme wurde gemacht, wenn ein Teil den anderen durch besondere Arglist zur Eingehung des Vertrags verleitet hatte. 89 Auch im Strafgesetzbuch für das Herzogtum Braunschweig von 1840 fand sich in § 227 eine Sonderregelung für den Betrug in Vertragsverhältnissen: Ein solcher Betrug war nur dann strafbar, wenn dem Betrogenen der erlittene Schaden trotz Aufforderung nicht sofort ersetzt wurde. 9o Das Badische Strafgesetzbuch von 1845 sah eine Bestrafung des Betrugs bei Verträgen nur mit Einschränkungen vor; dem § 452 lag der Gedanke zugrunde, dass Verträge schon der Natur der Sache nach Kämpfe um den Gewinn auf Kosten des anderen seien. Das Strafrecht sollte nur dann eingreifen, wenn der Täter den Bereich der herkömmlicherweise erlaubten Wahrheitsentstellung zur Erlangung von Vertragsvorteilen überschritten habe; dies sei der Fall, wenn der Täter den Vertragsabschluß nur als Täuschungsmittel gebraucht und damit missbraucht habe. 91 Auch im Hannoverschen Criminalgesetzbuch von 184092 , im Hessischen Strafgesetzbuch von 1841 93 und im Thüringischen Strafgesetzbuch von 185094 fanden sich Vorschriften, die den "Betrug in Verträgen" besonders regelten, und zwar im Sinne einer Privilegierung. Im Preußischen StGB von 1851 sowie im StGB für den Norddeutschen Bund und im Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) fehlten hingegen besondere Vorschriften über den Betrug in Vertragsverhältnissen.

88

Ellmer, S. 57.

Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. Stenglein, Band 4, S. 139; vgl. auch Ellmer, S. 58. 90 Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. Stenglein, Band 5, S. 119; vgl. auch Ellmer, S. 59. 91 Aschbach, in: Annalen der deutschen und ausländischen Crirninal-Rechtspflege, Band 16 (1841), 30 (45 f.); Ellmer, S. 62; zu § 452 des Badischen StOB vgl. auch Haager, OS 27 (1875), 561 (566 f.). 92 Art. 312, vgl. die Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. Stenglein, Band 6, S. 164 f. 93 Art. 392, der im Wesentlichen dem Art. 352 des Württembergischen Strafgesetzbuchs von 1839 entsprach, vgl. die Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. Stenglein, Band 7, S. 162 f. 94 Art. 238, vgl. die Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. Stenglein, Band 10, S. 169 f. 89

44

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

III. Das Erfordernis einer besonderen Qualität der Täuschungshandlung

Ausgehend vom Stellionat, für den, wie schon erwähnt, eine magna et evidens calliditas verlangt wurde, wurde auch für die Betrugshandlung eine besondere Qualität gefordert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte die Auffassung, dass für die Erfüllung des Betrugstatbestands eine qualifizierte Täuschungshandlung erforderlich sei. Das Vorgehen des Betrügers müsse von Arglist geprägt sein, die in feinen, listigen Veranstaltungen bzw. Künsten und Ränken zum Ausdruck komme. 95 Nach h.L. war die Vermeidbarkeit des Irrtums das entscheidende Kriterium; keine Arglist sollte vorliegen, wenn der Irrtum für das Opfer ohne weiteres vermeidbar war. 96 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor diese Ansicht zunehmend an Boden. Nach h. M. war für die Täuschungshandlung keine Arglist erforderlich. 97 Nach einer Mindermeinung genügte hingegen eine bloße Lüge nicht, sondern es wurde eine durch äußere Momente unterstützte, also arglistige, Täuschung gefordert. 98 Ausdrücklich wurde jedoch eine Diskussion dieser Thematik unter dem Stichwort einer "culpa" des Getäuschten oder einer "naturalis licentia decipiendi" - so die h. L. - abgelehnt. 99 Gross hielt aber im Ergebnis die Frage nach einer besonderen Qualifikation der Täuschungshandlung im Falle der erfolgreichen Täuschung für überflüssig, weil hier hinreichend bewiesen sei, dass die Täuschung genügt habe, um eine List, eine Vorspiegelung, Entstellung oder Unterdrückung darzustellen, selbst wenn sie - an objektiven Maßstäben gemessen - als noch so plump erscheine. 1OO Eine Ausnahme vom Grundsatz "Zur Täuschung geeignet ist, was Täuschung bewirkt hat" soll nur zu machen sein, wenn beim Opfer 95 Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 180; Geib, in: Archiv des Criminalrechts, N. F., 1840, 195 (204 f., 220); Mittermaier, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 1 (4 f., 19); Temme, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, S. 365. 96 Vgl. Ellmer, S. 31. 97 Rommel, Der Betrug, S. 36; v. Hippel, Lehrbuch des Strafrechts, S. 256 Fußnote 5, führte aus, dass die Bezeichnung der Täuschung als "arglistige" entbehrlich und irreführend sei; es handle sich einfach um bewusste Unwahrheit. 98 Gross, Der Raritätenbetrug, S. 163 f., 166 f., der auf ausländische Betrugsvorschriften hinwies, so auf das französische Recht mit dem Erfordernis der "manreuvres frauduleuses"; Lügen genügten hierzu nicht, es müsse vielmehr eine "mise en scene" hinzukommen; ebenso sei im englischen Recht eine besondere Art des Betrugs, die conspiracy, das betrügerische Zusammenwirken, charakteristisch, wobei das Vorgehen des einen durch das des anderen unterstützt werde, so dass auch dort die bloße Lüge nicht ausreiche. 99 Gross, Der Raritätenbetrug, S. 164 f. mit der Begründung, dass hierzu in irgendeinem Rechtsgrundsatz weder eine Begründung noch eine Analogie gefunden werden könne. 100 Der Raritätenbetrug, S. 66 f., 72 f.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

45

ganz grober Leichtsinn vorliege; der Schaden sei dann allein auf den offenen Leichtsinn des Opfers zurückzuführen. 101

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen", erläutert an einzelnen Kodifikationen des Betrugstatbestands I. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 Das Preußische Allgemeine Landrecht (ALR) stellte die erste größere Kodifikation mit eigenständigem, allgemeinem Betrugstatbestand dar. Die Generalklausel des § 1256 (Zweiter Teil, XX. Titel, 15. Abschnitt) umschrieb den Betrug allgemein. Eine Täuschung über Tatsachen wurde nicht gefordert, vielmehr genügte "jede vorsätzliche Veranlassung eines Irrthums, wodurch Jemand an seinem Rechte gekränkt werden SOll".102 In den folgenden Vorschriften wurden der gemeine, der grobe und der qualifizierte Betrug behandelt (§§ 1325, 1326, 1328). Als gemeiner Betrug galt der in Kontrakten oder sonst im Handel und Wandel verübte Betrug; er erfasste zwar Vermögensverletzungen durch Täuschung, hatte aber nur zivilrechtliehe Folgen. I03 Der grobe Betrug wurde dagegen für strafbar gehalten; er soll nicht jede einfache Täuschung, sondern nur Fälle einer planmäßigen, feinen, nur durch besondere Aufmerksamkeit und Vorsicht zu entdeckenden Täuschung erfasst haben. 104 Weiterhin genügte die Täuschung über Absichten und Wertungen für den groben Betrug nicht. 105 Der grobe Betrug wurde weiter eingeteilt in den qualifizierten und den nicht qualifizierten Betrug, §§ 1326, 1328. Der qualifizierte Betrug enthielt im Wesentlichen die Untreue, Fälschungsdelikte, den Meineid, die falsche Anschuldigung, die Warenfälschung und den strafbaren Bankrott, also Fallgruppen, die heute nicht mehr zum Betrug gezählt werden. 106 In der Kategorie des qualifizierten Betrugs waren als besonders hart zu bestrafen die "auf eine vorzüglich listige und schwer zu entdeckende Weise" verübten Betrügereien (§ 1377 ALR), so insbesondere die Verfälschung (§ 1378 ALR) , hervorgehoben. 107 Zu erwäh101 102 103

S.68.

Der Raritätenbetrug, S. 73. Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, S. 220. Galtdammer, Materialien, S. 534; Naucke, Zur Lehre vom stratbaren Betrug,

104 Galtdammer, Materialien, S. 543; Naucke, Zur Lehre vom stratbaren Betrug, S. 68; Temme, Die Lehre vom stratbaren Betruge nach Preußischem Rechte, S. 55 f. 105 Naucke, Zur Lehre vom stratbaren Betrug, S. 68 f. 106 Naucke, Zur Lehre vom stratbaren Betrug, S. 68. 107 Kahler, Treue und Glauben im Verkehr, S. 39; Temme, Die Lehre vom strafbaren Betruge nach Preußischem Rechte, S. 57.

46

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

nen ist noch § 1402 ALR, der die Bestrafung der Goldmacher und Wahrsager anordnete; er gehörte zur Fallgruppe des qualifizierten Betrugs, genauer zu den Fällen, in denen gewissen Personen oder Sachen Merkmale oder Eigenschaften, die ihnen nicht zukamen, zur Bevorteilung anderer beigelegt oder vorhandene Eigenschaften verheimlicht wurden 108; auch beim qualifizierten Betrug waren also ganz am Rande Fälle behandelt, die auch heute zum Betrug zu rechnen sind. 109 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die bloße Vermögensverletzung durch einfache Täuschung nach dem ALR nur mit zivilrechtlichen Folgen belegt werden sollte; Betrug im heutigen Sinne war dagegen nur in geringem Umfang strafbar. llo 11. Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813

Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 beruhte auf Ideen Feuerbachs und war Vorbild für die Gesetzgebung der anderen deutschen Staaten. 111 Nach Art. 256 war des Betrugs schuldig, "wer, um einen Andern in Schaden zu bringen, oder sich selbst einen unerlaubten Vortheil zu verschaffen, wissentlich und vorsätzlich falsche Thatsachen für wahr ausgibt oder darstellt, wahre Thatsachen unerlaubter Weise vorenthält oder unterdrückt, oder auch von fremdem Betruge, sich selbst zum Vortheile oder einem Dritten zum Nachtheile, wissentlich Gebrauch macht"l12. Diese gesetzliche Bestimmung war offenbar die erste, die den Begriff "Tatsache" verwendete. l13 Ferner fand sich bereits hier der widersprüchliche Ausdruck "falsche Tatsachen" sowie der Pleonasmus "wahre Tatsachen". Es fehlen nähere Erläuterungen Feuerbachs zum Grund der Einfügung des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"Y4 Auch in seinem Lehrbuch beschrieb er das Verbrechen des Betrugs als "in einer beabsichtigten rechtswidrigen Täuschung Anderer durch Mittheilung falscher oder Vorenthaltung wahrer Thatsachen" bestehend 115, ohne näher auf den Tatsachenbegriff einzugehen. 108 Mittermaier, in: Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 651 Anm. IV. 109 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 68. 110 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 69; noch weitergehend eramer, Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, S. 27 Fußnote 23; gegen die These Nauckes Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, S. 35 f., die auf ein Reskript vom 15.8.1815 verweist, aus dem sich eindeutig ergebe, dass auch die Fälle des groben Betrugs von Amts wegen verfolgt und bestraft worden seien und insofern auch der Betrug im heutigen Sinne in Preußen wohl zahlreich vorgekommen sei. lll Ellmer, S. 56 mit Fußnote 210. 112 Vgl. die Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. Stenglein, Band 1, S. 103 (eigene Hervorhebung). 113 Hilgendorf, S. 31 m. w. N. 114 Vgl. Hilgendorf, S. 31.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

47

Bemerkenswert ist Art. 263, der "Betrüger, welche die Vorurtheile und den Aberglauben des Volkes durch angebliches Geisterbeschwören, Schatzgraben, Zeichendeuten, Goldrnachen u.s.w. zu ihren Eigennutze mißbrauchen" als ausgezeichnete Betrüger ersten Grades bestrafte. 116 Solche Fälle wurden also als besonders strafwürdig angesehen; der Gedanke, dass beim Okkultschwindel die Leichtgläubigkeit des Getäuschten zu Gunsten des Täters zu berücksichtigen sei, fand sich hier nicht. IH. Das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg von 1839 Das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg von 1839 beruhte zu einem großen Teil auf dem Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813. 117 Die Tathandlung des Betrugs (Art. 351) verwirklichte, wer "wissentlich falsche Tatsachen für wahr" ausgab bzw. "wahre Tatsachen" unterdrückte oder vorenthielt. 1I8 Auch hier wurden Betrügereien im Okkultbereich als qualifizierte Fälle angesehen, nämlich wenn sie durch hinterlistige oder auf den Aberglauben berechnete Verblendungen, z. B. Goldrnachen, Zeichendeuten, Schatzgraben, Geisterbeschwören, begangen wurden (Art. 353 Ziff. 3)Y9 Nach anderer Ansicht sollten Kartenschlagen und Zeichendeuten in der Regel nicht einmal unter den allgemeinen Betrugsbegriff fallen; als wahr und gewiss werde in solchen Fällen wenig behauptet und noch weniger geglaubt; die Vorgaben würden als ungewisse Vorhersagung gegeben und genommen. "Denn die Kartenschlägerin giebt nicht falsche Tatsachen für wahr und sich nicht für das Orakel von Delphi aus, und das Mädchen zahlt freiwillig seine sechs oder zwölf Kreuzer für die Bemühung und geht mehr oder weniger beruhigt davon; denn auch sie glaubt davon so viel oder so wenig als sie mag." 120 Auf Seiten des "Betrogenen" müsse man den 115 Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 647; dazu merkte er an, die gewöhnliche Definition der Rechtslehrer sei "viel zu dunkel und unbestimmt". 116 Vgl. die Jahrbücher der Gesetzgebung und Rechtspflege im Königreich Baiern, Erster Band (1818), Nr. 28, S. 253 ff. zur Frage, inwiefern das Kartenschlagen als ausgezeichneter Betrug zu bestrafen sei; vgl. auch Kahler, Treue und Glauben im Verkehr, S. 17 f. 117 Ellmer, S. 58. 118 Eigene Hervorhebung. 119 Vgl. hierzu Kahler, Treue und Glauben im Verkehr, S. 17. 120 V. Hufnagel, Commentar über das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg, Zweiter Band, S. 609 (Hervorhebung im Original); er zitierte aus den Jahrbüchern der Gesetzgebung und Rechtspflege im Königreich Baiern, Erster Band (1818), Nr. 28, S. 253-258 (zu Art. 263 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813) und meinte, man könne über Zeichendeuten und Kartenschlagen auch im Königreich Württemberg nichts Besseres sagen. Vgl. auch Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge und von der Fälschung, S. 103 ff. (108), der darauf abstellte,

48

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

Satz "volenti non fit iniuria" berücksichtigen; das angebliche Opfer bekomme genau das, was es wolle; die Bewertung der erhaltenen Informationen sei allein seine Angelegenheit. 121 Darüber hinaus würde durch die strafrechtliche Verfolgung jedes Kartenschlagens, Zeichendeutens oder Traumauslegens eine unnötige Vermehrung der Arbeit der Gerichte und der Kosten eintreten; dies habe der Gesetzgeber nicht gewollt. 122 Hier wurden Praktikabilitätserwägungen für die Straflosigkeit weniger gravierender Fälle des Okkultschwindels angeführt. Es wurde jedoch auch explizit festgestellt, dass keine falschen Tatsachen vorgespiegelt würden, wohl unter dem Aspekt der fehlenden Tatsachenqualität von Zukünftigem. Außerdem soll es in der Regel am Irrtum und am Vermögensschaden fehlen, da das Vorgegebene nicht als wahr und gewiss geglaubt sowie die geringfügige Gegenleistung nur für derart unsichere Prophezeiungen gegeben werde. Die in der Einleitung erwähnten Fälle zeigen dagegen, dass angebliche "Propheten" ihre Vorhersagungen häufig sehr wohl als sicher eintretend hinstellen, die Ratsuchenden fest daran glauben und deshalb sehr hohe Beträge hingeben. Allenfalls beim "harmlosen" und lediglich zu Unterhaltungszwecken in Anspruch genommenen Kartenlegen oder Handlesen auf dem Jahrmarkt o. ä., für das nur kleinere Beträge gezahlt werden, treffen die obigen Überlegungen zu. Interessant ist jedoch, dass das Vorbringen "falscher Tatsachen" in Fällen des Okkultschwindels immerhin problematisiert wurde. Auch Kästlin erörterte die Strafbarkeit der Wahrsager, Zeichendeuter etc., und zwar beim Kausalzusammenhang zwischen Irrtum und dem nachteiligen Tun oder Unterlassen des Irrenden. Er sah das Annehmen einer Gabe für Zeichendeuten, Wahrsagen, Traumauslegen und dergleichen nicht als Betrug an, sofern darin nur eine Belohnung für eine gewöhnliche, ordinäre Dienstleistung zu erblicken sei. 123 Es fehle am Kausalzusammenhang und eben deshalb auch am erforderlichen Dolus, weil dem Täuschenden dieser Umstand bekannt sei. 124 Hierzu ist zu bemerken, dass es sicherlich Fallgestaltungen gibt, in denen der Getäuschte die Entlohnung als Gegenleistung unabhängig vom Inhalt der Wahrsagungen hingibt; in anderen Fällen, in denen es um größere Beträge geht, treffen diese Überlegungen jedoch nicht zu. dass freiwillig für das Zeichendeuten gezahlt werde und diese Gabe somit nicht Gegenstand des Betrugs sein könne. 121 Ellmer, S. 59. 122 V. Hufnagel, Commentar über das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg, Zweiter Band, S. 609 f. 123 Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrechte, S. 151; ders., Zeitschrift für Zivilrecht und Prozess, N. F., 14. Band, 295 (350). 124 Ibid.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

49

IV. Weitere Partikularstrafgesetzbücher des 19. Jahrhunderts Auszugsweise seien noch Betrugsvorschriften elmger Partikularstrafgesetzbücher des 19. Jahrhunderts erwähnt. Nach § 224 des Crirninalgesetzbuchs für das Herzogtum Braunschweig von 1840 wurde bestraft, "wer den Irrthum eines Andern rechtswidrig veraniaßt oder benutzt ... "; eine Täuschung über Tatsachen wurde also nicht vorausgesetzt. Auch hier wurde der Betrug, der mit abergläubischer oder hinterlistiger Verblendung verübt wurde, besonders erwähnt (§ 226 1) Buchstabe C).125 Auch in Art. 308 des Criminalgesetzbuchs für das Königreich Hannover von 1840 fand sich das Tatbestandsmerkmal "Tatsachen" nicht. Hinzuweisen ist auf die Bestimmung des Art. 315 Nr. 4, wonach, wer "in eigennütziger Absicht durch abergläubische oder hinterlistige Verblendung, z. B. durch angebliches Geisterbeschwören, Schatzgraben, Zeichendeuten, Goldmachen und dergleichen" andere hinterging, nach den Vorschriften über den ausgezeichneten Diebstahl erster Klasse bestraft wurde. 126 Das Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Hessen von 1841 enthielt in Art. 391 das Erfordernis einer Täuschung über "Tatsachen"; die Tathandlung lautete folgendermaßen: "Mit Verletzung einer besonderen Rechtspflicht wissentlich falsche Thatsachen für wahr ausgeben, oder wahre Thatsachen vorenthalten oder unterdrücken, oder auch ohne Verletzung einer besonderen Rechtspflicht arglistiger Weise täuschende Handlungen vornehmen". 127 Dagegen enthielt § 450 des Strafgesetzbuchs für das Großherzogtum Baden von 1845 das Tatbestandsmerkmal "Tatsachen" nicht. 128 Auch das Thüringische Strafgesetzbuch von 1850 setzte in Art. 236 keine Täuschung über Tatsachen voraus. 129 V. Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass zahlreiche Partikularstrafgesetzbücher im 19. Jahrhundert für den Betrug eine Täuschung über "Tatsachen" verlangten. Darüber hinaus fanden sich häufig gesonderte Vorschriften über den Okkultschwindel, z. T. als qualifizierte Fälle des Betrugs. 125

118.

126 127 128 129

Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, hrsg. v. Stenglein, Band 5, S. 117, Sammlung Sammlung Sammlung Sammlung

4 Thomma

der der der der

deutschen deutschen deutschen deutschen

Strafgesetzbücher, Strafgesetzbücher, Strafgesetzbücher, Strafgesetzbücher,

Band Band Band Band

6, S. 162, 166 f. 7, S. 162. 8, S. 146. 10, S. 169.

50

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

Dies zeigt, dass solche Fälle an der Tagesordnung waren und für besonders erwähnenswert gehalten wurden. Mittermaier erwog, "daß die Strenge, mit der man einst solche Künste bestrafte, auf dem irrigen Glauben daran beruhte, während jetzt nur selten der Leichtgläubige getäuscht wird. ,,130 Diesbezüglich irrte Mittermaier, denn bis heute fallen Aber- und Leichtgläubige auf solche "Künste" herein. VI. Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1851 Die Entstehung des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten von 1851 war durch eine jahrzehntelange Gesetzgebungsarbeit gekennzeichnet, die sich in verschiedenen Entwürfen niederschlug. Die endgültige Fassung des § 241 PrStGB wurde in § 263 des StGB für den Norddeutschen Bund mit nur sprachlichen Veränderungen bei der Täuschungshandlung übernommen. § 263 des StGB für den Norddeutschen Bund wurde seinerseits zum § 263 des RStGB von 1871. Wegen dieser entscheidenden Bedeutung des PrStGB für das Verständnis des heutigen Betrugstatbestands wird die Entstehung des § 241 PrStGB eingehender dargestellt. 1. Die einzelnen Entwürfe

Der Entwurf von 1828 enthielt keinen allgemeinen Betrugstatbestand, sondern umschrieb in Anlehnung an das französische System kasuistisch einzelne, als gravierend empfundene Täuschungshandlungen. 131 Ein allgemeiner Betrugsbegriff wurde mit der Begründung abgelehnt, man dürfe nicht jede durch Täuschung bewirkte Vermögensverletzung bestrafen, da ansonsten eine Vielzahl im gewöhnlichen Verkehr vorkommender täuschender Verhaltensweisen kriminalisiert würde. Zum Einsatz strafrechtlicher Sanktionen sei der Staat erst dann berechtigt, wenn die Rechtssicherheit in höherem Grade gefährdet sei und mildere Mittel - wie die liberale Gewährung von Schadensersatz - nicht zur Verfügung stünden. 132 Von den einzelnen Täuschungsformen ist dabei die Benutzung des Aberglaubens zu nennen.!33 Die Aufführung dieser Modalität zeigt die Bedeutung des Okkult-

130 Mittermaier, in: Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, S. 667 Anm. VIII. 13l Ellmer, S. 64; Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 73. 132 Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, S. 457 f.; Goltdammer, Materialien, S. 535 f.; ausführlich Ellmer, S. 64 f.; Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 71 ff. 133 Vgl. Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, S. 458.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

51

schwindels zu dieser Zeit und die Bejahung einer erhöhten Gefährlichkeit sowie Strafwürdigkeit. Schon im Entwurf von 1830 fand sich ein allgemeiner Betrugstatbestand, da man die Erfassung einzelner Täuschungshandlungen als nicht ausreichend ansah. 134 Um die Betrugsstratbarkeit angemessen zu beschränken, wurde vorgeschlagen, dass die Täuschung arglistig sein müsse; dadurch werde angedeutet, dass nicht jede Täuschung, nicht jede im gewöhnlichen Leben vorkommende unrichtige Empfehlung einer Sache als strafbarer Betrug betrachtet werden solle. 135 In der Formulierung des Tatbestands fehlte dann jedoch das Arglistmerkmal; es sollte die "vorsätzliche Veranlassung eines Irrtums" erfasst sein. 136 Erwähnenswert ist wieder der Entwurf von 1843, der als Tathandlung "arglistigerweise in einen Irrtum versetzen,,137 vorschlug und somit die schon zuvor diskutierte Begrenzung mittels des Arglistmerkmals aufgriff. Doch bereits bei den Beratungen zum Entwurf von 1845 wurde das Arglistmerkmal als zu unbestimmt abgelehnt. Die Täuschungshandlung wurde schließlich in § 280 beschrieben als das "Vorbringen falscher Tatsachen oder das Unterdrücken wahrer Tatsachen", wodurch ein anderer in Irrtum versetzt werde; das Täuschungsmittel wurde also näher erläutert. Der Grund der Einfügung des Tatsachenbegriffs war der gleiche, der auch mit dem Arglistbegriff verfolgt worden war: Es sollte auf diesem Wege die strafrechtlich relevante, qualifizierte Lüge von der strafrechtlich irrelevanten, einfachen Lüge abgegrenzt werden. 138 Insbesondere "jene allgemeinen anpreisenden oder tadelnden Äußerungen, welche mehr nur die Natur des Urtheils haben, und über deren Ausnahme man in allen Stadien einverstanden war", sollten durch die Beschränkung auf "Tatsachen" vom Betrugstatbestand ausgeschlossen werden. 139 Im Entwurf von 1847 wurde schließlich folgende Formulierung festgelegt: " ... durch Vorbringen falscher oder durch Entstellen oder Unterdrücken wahrer Tatsachen" einen Irrtum erregen. Diese Fassung erweiterte die Beschreibung der Tathandlung nur um die Modalität des "Entstellens" wahrer Tatsachen.

Ellmer, S. 65. Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, S.459. 136 Ellmer, S. 65; Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 75 mit Fußnote 34. 137 Ellmer, S. 66. 138 Goltdammer, Materialien, S. 538, 542; Ellmer, S. 67. 139 Goltdammer, Materialien, S. 538. 134 135

4*

52

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

2. Die endgültige Fassung

Die endgültige Fassung des Betrugstatbestands in § 241 PrStGB übernahm die Formulierung des Entwurfs von 1847 unverändert. Dem Tatsachenbegriff wurde besondere Bedeutung beigemessen. Die intendierte Ausgrenzung von Werturteilen und allgemeinen Aussagen aller Art (s.o.) wurde mit dem Wesen der Tatsache begründet: Sie sei etwas "Bestimmtes, mit Gewissheit physisch oder geistig Erkennbares, aus dem Rahmen der allgemeinen Redensarten und Vorspiegelungen Hervortretendes, die Basis zu berechtigten Schlußfolgerungen Darstellendes bildet,,14o. Dem Tatsachenbegriff wurde als wesentliches Merkmal die "Konkretheit" zugesprochen. Nur wenn das Opfer auf etwas Konkretes vertraue und dieses Konkrete zur Grundlage seiner Willensbildung mache, sei dieses Vertrauen schutzwürdig. 141 Außerdem sollte mittels des Tatsachenbegriffs jede ausschließlich in die Zukunft fallende Täuschung, so die Erweckung falscher Vermutungen über künftige Ereignisse und das wissentlich falsche Versprechen künftiger Leistungen - wissentlich falsch in dem Sinne, dass man von vornherein schon den Willen habe, nicht zu leisten - ausgeschieden werden, da die "Tatsache" ihrem Begriff nach nur entweder Vergangenes oder Bestehendes sei. 142 Absichten und Zukünftiges sollten also aus dem Tatsachenbegriff herausgenommen werden. 143 Dem Tatsachenbegriff wurde somit eine restriktive Funktion zugeschrieben. Ihm oblag die Abgrenzung zwischen strafbarem Betrug und erlaubter Geschäftstüchtigkeit, also die Lösung des Kernproblems der Betrugsdogmatik im 19. Jahrhundert. l44 3. § 241 PrStGB in der Rechtslehre und in der Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals

Nach Erlass des PrStGB wiesen Kommentatoren darauf hin, dass der Betrugsbegriff im PrStGB und der Betrugsbegriff im gewöhnlichen Leben streng zu unterscheiden seien, wobei der strafrechtliche Begriff viel enger sei. 145 Der Begriff "Tatsache" wurde in Einklang mit dem Sprachgebrauch Feuerbachs verstanden als etwas in besonderem Maße Sicheres, kaum Bezweifelbares. 146 In der Alltagssprache wurde der Begriff dagegen in einem 140 Friedsam, Der Begriff der Tatsache im § 263 des Reichsstrafgesetzbuches, S. 37 f. 141 Ausführlich Ellmer, S. 68 f. 142 Goltdammer, Materialien, S. 543. 143 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 78. 144 Hilgendorf, S. 29. 145 Oppenhojf, Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, § 241 Anm. 1.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

53

viel weiteren Sinn verwendet. Es wurden also Einschränkungen in den Tatsachenbegriff hineingelesen, die schon dem damaligen Sprachgebrauch nicht mehr entsprachen. 147 "Dieses Mißverständnis des preußischen Strafgesetzgebers ist die Hauptursache für die terminologischen Unsicherheiten, die der Täuschungshandlung des § 263 StGB bis heute anhaften.,,148 Die ihm zugedachte Aufgabe übernahm der Tatsachenbegriff nur zum Teil, nämlich den schon oben erwähnten Ausschluss von "zukünftigen Tatsachen" und zunächst noch von inneren Tatsachen des Täuschenden. Das Preußische Obertribunal schied in ständiger Rechtsprechung Anpreisungen, Willensrichtungen und Absichten des Täuschenden sowie Zusagen aus dem Tatsachenbegriff aus. 149 Dagegen wurde die Täuschung über innere Zustände Dritter anerkannt. 150 Die Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals hielt somit die von Goltdammer vorgegebene Linie ein. Die Zechprellerei wurde nicht als Betrug bestraft, da nicht über gegenwärtige äußere Tatsachen, sondern nur über die Erfüllungsabsicht, also über Erwartungen, getäuscht werde. Der Begriff der Tatsache schließe die bloße Verheißung oder Verkündigung künftiger Ereignisse und Absichten, künftig handeln zu wollen, aus. 151 Die Betrugsirrelevanz künftiger Tatsachen wurde somit nicht mittels der Figur der inneren Tatsachen, also mittels der Täuschung über die gegenwärtige Absicht, in Zukunft leisten zu wollen, umgangen. Im Übrigen bestanden Diskrepanzen zwischen der gesetzgeberischen Intention und der tatsächlichen Gesetzesfassung. Schon Goltdammer stellte fest, dass durch die gewählte Fassung nicht dasselbe erreicht werde, das früher durch das Arglistmerkmal bezweckt worden sei. 152 Letzteres habe eine Steigerung gegenüber der einfachen Lüge bedeutet, eine "calliditas", entsprechend den "manreuvres frauduleuses" im französischen Recht. Somit sei nach jetziger Lage unbedenklich, dass jede einfache Täuschung für den 146 So Hilgendorf, S. 34, 46 f. Auch im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Elfter Band, I. Abteilung, I. Teil, Sp. 322, wird die "Thatsache" (res facti, factum) als "eine vorgefallene, wirklich geschehene Sache, etwas Feststehendes, das nicht bezweifelt werden kann", definiert. 147 Hilgendorf, S. 36. 148 Hilgendorf, S. 34. 149 Vgl. Oppenhoff, Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, § 241 Anm.47. 150 Vgl. die Entscheidung des PrOT vom 24.5.1871, in: Rechtsprechung des Königlichen Ober-Tribunals in Strafsachen, hrsg. v. Oppenhoff, 12. Band, 284. 151 PrOT, GA 1 (1853), 579 f.; GA 5 (1857), 567 f. ; dazu Naucke, Zur Lehre vom stratbaren Betrug, S. 87. 152 Materialien zum Strafgesetzbuche für die Preußischen Staaten, Kommentar, Teil 11, S. 543.

54

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

Betrugstatbestand ausreiche, sofern sie sich nur auf Tatsachen beziehe. 153 Dem historischen Gesetzgeber soll also eine Fehleinschätzung unterlaufen sein, weil der Tatsachenbegriff nicht dasselbe wie das Arglistmerkmal zu leisten vermochte. 154 VII. Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1861 Art. 314 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1861 erfasste als Täuschungshandlung das Hervorrufen oder Unterhalten einer Täuschung "mittels Vorspiegelung falscher oder mittels Unterdrückung wahrer Tatsachen oder mittels Anwendung arglistiger Kunstgriffe". Auch hier musste sich die Täuschung auf Tatsachen beziehen.

VIII. Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 Grundlage für das StGB für den Norddeutschen Bund war das PrStGB. 155 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Betrugstatbestand fand nicht mehr statt, vielmehr wollte der Gesetzgeber § 241 PrStGB im Wesentlichen beibehalten. 156 § 263 der endgültigen Fassung des StGB für den Norddeutschen Bund wies hinsichtlich der Beschreibung der Täuschungshandlung gegenüber § 241 PrStGB nur sprachliche Veränderungen auf, u. a. statt "Vorbringen falscher Tatsachen" nunmehr "Vorspiegelung falscher Tatsachen".157 Diese Fassung des § 263 wurde unverändert in das RStGB von 1871 übernommen und ist bis heute unverändert geblieben. 15s IX. Die Handhabung des TatsachenbegrifTs nach In-Kraft-Treten des RStGB Im Folgenden soll die Handhabung des Tatsachenbegriffs in Rechtsprechung und Rechtslehre untersucht werden.

Ibid. Ellmer, S. 76. 155 Ellmer, S. 73; Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 97. 156 Vgl. Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 98 zu den Motiven zum Entwurf von 1869. 157 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 99. 158 Vgl. Ellmer, S. 73. 153

154

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

55

1. Die Rechtsprechung zum TatsachenbegriJf

a) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts Wie bereits erwähnt, hatte das Preußische Obertribunal die Einbeziehung innerer Zustände des Täuschenden in den Tatsachenbegriff des § 241 PrStGB abgelehnt. Ebenso entschieden zu § 263 StGB das Königlich Sächsische Oberappellationsgericht 159 und der Bayerische Cassationshof160. Andere Länder wichen hingegen in der Rechtsprechung zu den inneren Tatsachen vom preußischen Vorbild ab 161 : In Baden und Württemberg folgte die Gerichtspraxis der anderen in der Rechtslehre vertretenen Ansicht und hielt die Täuschung über innere Zustände für betrugsrelevant. 162

Das Reichsgericht folgte den Vorgaben Goltdammers zum Tatsachenbegriff, jedoch mit einer Ausnahme l63 : Es ließ in einer seiner ersten Entscheidungen auch eine Täuschung über eine Absicht des Täters, also über eigene innere Tatsachen, genügen. l64 In späteren Entscheidungen wurde die Anerkennung innerer Tatsachen unter der Bedingung vorgenommen, dass sie in erkennbare Beziehung zu bestimmten äußeren Geschehnissen oder Zuständen der Vergangenheit oder Gegenwart gesetzt sein müssen, durch die sie in das Gebiet der wahrnehmbaren äußeren Welt getreten sind. 165 Dieser 159 Erkenntnis vom 2.9.1872, abgedruckt bei Stenglein, Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft, N. F., Band 2 (1873), 116 f.: Die bloße Absicht, eine übernommene Vertragsverbindlichkeit nicht zu erfüllen, kann nicht als eine Tatsache i. S. d. § 263 StGB angesehen werden. 160 Erkenntnis vom 28.2.1873, abgedruckt bei Stenglein, Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft, N. F., Band 2 (1873), 292 f.: Die Vorspiegelung der Absicht, als Knecht in Dienst zu treten, ist keine Täuschungshandlung i. S. d. § 263 StGB, da sie nichts Objektives, außerhalb der Sphäre der Willenstätigkeit des Vorspiegelnden Liegendes zum Gegenstand hat, sondern nur die Kundgabe eines inneren Vorgangs enthält. 161 Vgl. Hilgendorf, S. 35 mit Fußnote 73. 162 Vgl. Haager, GS 27 (1875), 561 (571 ff.); Urteil des Badischen Oberhofgerichts vom 6.7.1872, mitgeteilt in den Annalen der Großherzoglichen Badischen Gerichte, Band 38 (1872), 241 (247); Württembergisches Obertribunal, Beschluss vom 12.11.1873, abgedruckt bei Stenglein, Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft, N. F., Band 3 (1874), 213 f.: Die Vorspiegelung der Absicht, ein bestimmtes Vertragsverhältnis eingehen zu wollen, ist, falls diese Absicht in Wirklichkeit nicht besteht, Vorspiegelung einer falschen Tatsache. 163 Hilgendorf, S. 55. 164 RGSt 1, 305. Diese Rechtsprechung wurde fortgeführt, vgl. nur RGSt 24, 144 (145); RG, in: Rechtsprechung des RG, Band 9, 179 und seitdem die ständige Rechtsprechung. 165 So RGSt 41, 193 (194); 55, 129 (131) (zu § 186 StGB); 64, 10 (12) (zu § 186 StGB).

56

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

Rechtsprechungswechsel wird in Kapitel 8 ausführlich behandelt. Im Übrigen wurde die Definition der "Tatsache" als "etwas Geschehenes oder Bestehendes, das zur Erscheinung gelangt und in die Wirklichkeit getreten und daher dem Beweise zugänglich ist", zur ständigen Rechtsprechung, und zwar auch bei anderen Tatbeständen mit dem Tatbestandsmerkmal "Tatsachen", v.a. bei den §§ 186, 187 StGB (üble Nachrede und Verleumdung) sowie bei § 131 StGB a. F. (Staatsverleumdung).166 In den Bestimmungen des Besonderen Teils des StGB wurde dieses Tatbestandsmerkmal also gleich ausgelegt. Dem Begriff der Tatsache wurden die Begriffe des allgemeinen Urteils und der Meinungsäußerung gegenübergestellt, wobei die letztgenannten häufig synonym verwendet wurden. 167 Die Grenzen zwischen den "Tatsachen" und den "Urteilen" bzw. "Meinungsäußerungen" sollten flüssig sein und daher in jedem Einzelfall Sache tatrichterlicher Feststellung l68 , und zwar schon deshalb, weil jede tatsächliche Behauptung ein Urteil enthalte, nämlich das Urteil des Behauptenden, dass die Sache sich so, wie behauptet worden, verhalte 169. Umgekehrt liege jedem Werturteil die Behauptung einer Tatsache bzw. ein Tatsachenkem zugrunde, auf der bzw. dem das Werturteil beruhe. l7O Eine Differenzierung zwischen den Begriffen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" bzw. "Tatsachenaussage" erfolgte nicht. l7l Tatsachen sind Bestandteile der realen Außenwelt, wohingegen Tatsachenaussagen sprachliche Einheiten darstellen. l72 Die Gegenüberstellung von "Tatsache" bzw. "Tatsachenbehauptung" und "Urteil" ist zudem aus Gründen der Logik verfehlt, da nach deren Sprachgebrauch auch eine Tatsachenbehauptung ein Urteil darstellt, nämlich ein Urteil über Tatsachen. l73 166 Zu § 131 StGB a.F. vgl. RGSt 22, 158 (159); 24, 387 f.; 41, 193 (194); zu § 186 StGB vgl. RGSt 55, 129 (131) und 67, 2. 167 RGSt 22, 158 (159); 24, 300 (301); 24, 387 (388); 41, 193 (194); 55, 129 (131); 67, 2; 68, 120 (122). 168 RGSt 24, 300 (301); 55, 129 (131 f.); 64, 10 (12); 67, 268 (270). 169 RGSt 29, 40 (41); 55, 129 (131). 170 RG, in: Rechtsprechung des RG, Band 5, 395. 171 Vgl. Hilgendorf, S. 57. 172 Hilgendorf, S. 113. 173 Vgl. Blei, Strafrecht 11, Bes. Teil, S. 222, der das Gegensatzpaar Tatsachenurteil - Werturteil formuliert; so schon Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozess, S. 84 ff., der das Tatsachenurteil definierte als ein Urteil, das Erkenntnis objektiv gegebener Tatsachen körperlicher, eigenpsychischer oder fremdpsychischer Art bezwecke, wohingegen das Werturteil ein Urteil sei, welches nicht Erkenntnis, Wiedergabe einer objektiv gegebenen Wirklichkeit, sondern willensmäßige Neuschöpfung bezwecke. Vgl. ferner Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, S. 107: Das Urteil, das die Tatsache lediglich berichtet, soll Tatsachenbehauptung genannt werden. Engelhard, Die Ehre als Rechtsgut im Strafrecht, S. 35, bezeichnete das Wert-(Unwert-)Urteil als "Urteil" und im Gegensatz dazu das Urteil, das kein Wert(Unwert-)Urteil ist, als "Tatsachenbehauptung". Sauer und Engelhard verwendeten

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

57

An dieser Stelle sei auf Urteile des Reichsgerichts, die sich mit der Problematik der Vorspiegelung "unmöglicher Tatsachen" beschäftigten, nur kurz verwiesen, da in Kapitel 3 einzelne Urteile ausführlich analysiert werden. Das Reichsgericht verurteilte in mehreren Entscheidungen Okkultschwindler, die den Besitz übernatürlicher Fähigkeiten vorgespiegelt hatten - so die Fähigkeit zum "Totbeten"174, die Zukunft vorauszusagen 175 , des Kartenlegens 176 sowie Erdstrahlen abzuschirmen 177 - wegen Betrugs, ohne sich mit der Problematik der Unmöglichkeit der behaupteten Fähigkeiten auseinander zu setzen. b) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandes- und Landgerichte Der Bundesgerichtshof ist der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu den "Tatsachen" gefolgt, sowohl bei der Definition äußerer Tatsachen 178 als auch der Anerkennung innerer Tatsachen l79 . Auch das Gegensatzpaar "Tatsache" und "Werturteil" bzw. "Meinungsäußerung" ist in ständiger Rechtsprechung beibehalten worden, wobei die bei den letztgenannten Ausdrücke in der Regel synonym verwendet werden l80 • Auch die Oberlandesund Landgerichte haben den durch das Reichsgericht geprägten Tatsachenbegriff ganz überwiegend übernommen. 181 Einzelne interessante Urteile des Bundesgerichtshofs und der Oberlandes- und Landgerichte aus dem Okkultbereich werden in Kapitel 3 eingehend untersucht, wobei festzustellen sein wird, dass die Gerichte Unmögliches ganz überwiegend ohne nähere Erörterung als tauglichen Gegenstand einer Tatsachenbehauptung ansehen. demnach "Urteil" gleichbedeutend mit "Werturteil". Vgl. ferner Hilgendorf, S. 113 f.; auf S. 47-49 beschäftigt er sich ausführlich mit der Begriffsgeschichte des Ausdrucks "Urteil". 174 Urteil vom 26.1.1911, mitgeteilt von Hellwig, GA 62 (1916), 227 ff. 175 Vgl. LZ 1915, 1530. 176 Vgl. JW 1916, 1199. 177 JW 1938,503. 178 Vgl. nur BGHSt 34, 199 (201); BGH, JR 1977, 28 (29); wistra 1992, 255 (256). 179 Vgl. nur BGHSt 2, 325 (326), wo als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, dass über die Verwendungsabsicht als innere Tatsache getäuscht werden kann; BGHSt 12, 287 (290 f.) (zu § 186 StGB); 15, 24 (26); BGH, MDR 1951, 404; JR 1977,28 (29). 180 Vgl. nur BGHSt 12,287 (291); ebenso BVerfGE 61, 1 (7). 181 Vgl. OLG Braunschweig, NJW 1959, 2175 (2176) und NdsRPfl. 1962, 24; OLG Düsseldorf, wistra 96, 32 f.; OLG Stuttgart, NJW 1958, 1833; LG Mannheim, NJW 1993, 1488 f.; abweichend LG Essen, Urteil vom 13.10.1986, Aktenzeichen 21 Js 17/86 (nicht veröffentlicht), S. 13; einschränkend auch LG Baden-Baden, Urteil vom 3.11.1982, Aktenzeichen Ks 3/82 (nicht veröffentlicht), S. 64.

58

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

2. Der Tatsachenbegriff in der Rechtslehre nach 1871

Nach 1871 folgte die h.L. der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Tatsachenbegriff. Zum einen wurde die Interpretation der "Tatsache" als etwas Konkretes, genau Bestimmtes beibehalten. Zwar sei die geforderte Bestimmtheit und Konkretheit kein sprachlogisch notwendiges Merkmal des Tatsachenbegriffs, doch sei diese Interpretation aus historischen und teleologischen Erwägungen zwingend. I82 Bald wurde jedoch erkannt, dass die Restriktionswirkungen, die dem Tatsachenbegriff beigelegt wurden, überschätzt worden waren. Die Wahl des Wortes "Tatsache" wurde als unglücklich bezeichnet; sie habe eine Menge Missverständnisse und Unsicherheiten hervorgebracht. I83 Alle Restriktionsbemühungen mittels des Tatsachenbegriffs seien zum Scheitern verurteilt I 84; der Gesetzgeber hätte den jedermann völlig geläufigen und scharf fassbaren Ausdruck "Täuschung" verwenden sollen; dieser sei ihm jedoch zu allgemein erschienen, so dass er auf die viel unverständlicheren Begriffe der "wahren" und "falschen Tatsachen" zurückgriffen habe. I85 Im Folgenden sollen einige Definitionen des Tatsachenbegriffs genauer betrachtet werden. Zunächst bestanden noch Kontroversen bezüglich der Tatsachenqualität von Zukünftigem sowie inneren Zuständen und Vorgängen. Die Täuschung über innere Tatsachen wurde von der h. M. anerkannt; zukünftige Ereignisse wurden dagegen überwiegend aus dem Tatsachenbegriff ausgeschieden. Meist wurde auch zwischen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" differenziert. Besonderes Augenmerk ist auf die Behandlung von "unmöglichen Tatsachen" zu richten, genauer, ob Unmögliches unter den Tatsachenbegriff subsumiert bzw. als Behauptung einer Tatsache erfasst wurde. Oppenhojf verstand unter "Tatsache" "alles dasjenige, was (angeblich) so zur Existenz gekommen ist, daß es nach Außen wirksam werden konnte (,factum '). Ob diese Thatsache der Vergangenheit angehören, oder zur Zeit noch bestehen soll, ist gleichgültig; ... ebenso ob dieselbe mit Sicherheit festgestellt werden könne; es genügt, wenn auf ihre Existenz eine Schlußfolgerung zu ziehen ist ... Demgemäß gehören nicht allein alle Eigenschaften und Zustände eines Gegenstandes der Körperwelt hierher, sondern auch \82 Heilbronner, Der Begriff "Unterdrückung wahrer Thatsachen" beim Betruge, S. 8 mit Fußnote 20; eingehend Ellmer, S. 8i. \83 Gross, Der Raritätenbetrug, S. 17l. \84 Gross, Der Raritätenbetrug, S. 172 ff., der, wie oben ausgeführt, eine Beschränkung der Täuschungshandlung durch das Erfordernis äußerer Momente vorschlug, durch die aus einer bloßen Lüge eine schädigende Täuschung i.S.d. § 263 StGB werde; ausführlich Ellmer, S. 81 f. \85 Gross, Der Raritätenbetrug, S. 169 f.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

59

Dasjenige, was nur der Gedankenwelt angehört, sobald es als etwas Feststehendes, Anerkanntes eine Wirkung nach außen ausüben kann, oder wenigstens so dargestellt wird, als wenn es nach außen wirken könne. Ist dieses der Fall, so kommt Nichts darauf an, ob die vorgespiegelte Thatsache thatsächlich, juristisch oder moralisch möglich ist; es genügt, wenn der Glaube an ihre Existenz hervorgerufen werden sollte (Beisp.: der Besitz übernatürlicher Kräfte)".186 Oppenhojf differenzierte zwischen der "Tatsache" und ihrer "Behauptung"; da entscheidend sei, dass der Glaube an die Existenz der behaupteten Tatsache hervorgerufen werden solle, sei unerheblich, ob diese überhaupt existieren könne oder unmöglich sei. Es soll also auf die Darstellung nach außen ankommen. Ferner forderte er, dass die Tatsache konkreter, spezieller Natur sein müsse; allgemeine Urteile und Anpreisungen in Betreff gewisser Eigenschaften gehörten nicht hierher. 187 Oppenhojf hatte seine Kommentierung zum Tatsachenbegriff des § 241 PrStGB nicht in die des § 263 StGB übernommen. 188 Dort hatte er unter einer Tatsache nur etwas in die Außenwelt Getretenes oder Tretendes, ein zum äußeren Dasein gekommenes Verhältnis oder Ereignis verstanden; das "unwahre Vorgeben einer beim Versprechenden angeblich vorwaltenden Absicht, z. B. vertragsmäßige Übernahme einer Verpflichtung, welche nicht zu erfüllen man von vorne herein Willens ist", falle nicht unter den Begriff des Betrugs. 189 Merkel bemerkte, dass unter einer "Tatsache" äußere und der Gegenwart angehörige Verhältnisse zu verstehen sein dürften. "Jedenfalls wollen dadurch Täuschungen über bloße Absichten des Täuschenden vom Betruge ausgeschieden werden.,,190 Damit wandte er sich ausdrücklich gegen Oppenhoff. "Täuschungen über fremde Absichten dürften dagegen hierher zu ziehen sein ... , obgleich das Wort an sich für diese Unterscheidung keinen Anhalt bietet.,,191 Er bezeichnete das Merkmal der "Vorspiegelung von Tatsachen" als unsicher und im Grunde überflüssig; die Grenzen zu allgemeinen lügenhaften Urteilen und Anpreisungen seien nicht diesem Begriff zu Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 263 Anm. 39, 40. Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 263 Anm. 48. 188 Unzutreffend Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 1Ol. 189 Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, § 241 Anm. 47; Absichten Dritter subsumierte er hingegen dem Tatsachenbegriff. In seiner Kommentierung zu § 263 StGB distanzierte er sich ausdrücklich von der früheren Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals zur Strafbarkeit der Vorspiegelung der (eigenen) Erfüllungsbereitschaft, vgl. Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 263 Anm. 47; siehe jedoch auch Anm. 37. 190 In: v. HoltzendorJf (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, Dritter Band, S. 619 (753 f.). 191 In: v. HoltzendorJf (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, Dritter Band, S. 754 Fußnote 11. 186 187

60

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

entnehmen, sondern ergäben sich aus dem Erfordernis einer nach zivilrechtlichen Grundsätzen verantwortlich machenden Einwirkung auf fremde Vermögensverhältnisse. 192 Merkel schied also innere Vorgänge und Zustände in der Person des Täuschenden aus dem Tatsachenbegriff aus, erkannte dagegen die Täuschung über Absichten Dritter als betrugsrelevant an. Auch in seinem Lehrbuch führte er aus, dass mit dem Erfordernis einer Wahrheitsentstellung, die sich auf "Tatsachen" beziehen müsse, unwahre Versicherungen über bloße Ansichten und Absichten des Handelnden sowie übertreibende Anpreisungen oder Herabsetzungen einer Ware ausgeschlossen seien. Eine besondere Raffiniertheit der Wahrheitsentstellung sei im Übrigen nicht gefordert. 193 Merkel fasste also den Tatsachenbegriff enger als die h. M. seiner Zeit.

v. Olshausen definierte die Tatsache als "etwas Wirkliches, sei es Gegenwärtiges oder Vergangenes, das Gegenstand der menschlichen Wahrnehmung geworden ist".194 Unter "Tatsache" sei somit etwas zu verstehen, "das war oder ist", so dass es "objektiv genommen nicht ,falsch' sein kann"; dennoch könne von einer "wahren" bzw. "falschen" Tatsache dann gesprochen werden, wenn durch eine "subjektive Kundgebung etwas als ,Thatsache' hingestellt wird"; so behaupte beispielsweise jemand eine "falsche" Tatsache, wenn er "Nichtwirkliches als etwas kundgibt, das seines Wissens ,Wirkliches' - in dem oben angegebenen Sinne - sei". 195 Dabei sei auch gleichgültig, ob die behauptete Tatsache nach Natur- und Denkgesetzen nicht vorkommen könne, wie z. B. das Behextsein. 196 Er setzte sich also mit der Problematik der "unmöglichen Tatsachen" auseinander und kam zu dem Ergebnis, es sei allein entscheidend, dass etwas als Tatsache hingestellt werde. Zukünftiges subsumierte er nicht dem Tatsachenbegriff, ebenso wenig subjektive Auffassungen, Meinungen und Urteile, da diese gerade den Gegensatz zu den Tatsachen bildeten. 197 Innere Tatsachen wie Ansichten, Absichten und Beweggründe einer Person, die lediglich der Gedankenwelt angehörten, ließ v. Olshausen dagegen gelten. 198 Bei seiner Tatsachendefinition fällt auf, dass er als Tatsache nur das akzeptierte, was tatsächlich wahrgenommen worden ist, nicht jedoch das nur prinzipiell Wahrnehmbare. Damals war noch nicht abzusehen, welche rasanten Fort192 In: v. HoltzendorJf (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, Dritter Band, S. 754 Fußnote 14. 193 Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 328. 194 Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 2. Band, § 263 Anm.6. 195 Ibid. 196 Ibid. 197 Ibid. 198 Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 2. Band, § 263 Anm.7.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

61

schritte das menschliche Erkenntnisvermögen in den nächsten Jahren mit Hilfe der Technik machen würde, so dass in Zukunft sinnlich wahrnehmbar wurde, was nach dem derzeitigen Stand der technischen Möglichkeiten noch nicht tatsächlich beobachtbar war. 199 Eine Mindermeinung sah auch Zukünftiges als Tatsache an. Haager hielt für unerheblich, ob das vorgespiegelte zukünftige Ereignis mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit eintreten werde oder könne 2OO ; er stufte somit Zukünftiges generell als Tatsache ein. Als Begründung bemerkte Haager, dass vom Zivilrecht auszugehen sei, da in den meisten Betrugsfallen ein zivilrechtliches Vertragsverhältnis vorliege. Nach dem Zivilrecht sei eine juristische Tatsache jedes Ereignis, welches auf die Entstehung von Rechten oder auf entstandene Rechte Einfluss äußere oder äußern solle. Zu diesen Tatsachen würden auch Willenserklärungen, selbst fingierte, gerechnet, und dazu gehörten auch die Bedingungen, d. h. Zusätze einer Willenserklärung, wodurch das Dasein eines Rechtsverhältnisses von einem künftigen, ungewissen Ereignis abhängig gemacht werde?OI Auf diesem Wege gelangte Haager zur Anerkennung zukünftiger Ereignisse als - juristische Tatsachen; auch das wissentlich falsche Versprechen künftiger Leistungen falle somit unter den Betrugsbegriff. Im Übrigen erfasste er nicht bloß äußere, der Vergangenheit oder Gegenwart angehörige Verhältnisse, sondern auch innerliche Zustände und Eigenschaften, die einer Person oder Sache beigelegt würden, als Tatsachen. 202 Bemerkenswert ist, dass "auch Umstände, welche thatsächlich, juristisch oder moralisch gar nicht möglich sind, ... unter den Begriff von Thatsachen" fallen sollten203 . Dabei berief sich Haager auf Oppenhojf; doch wie oben dargestellt, hielt Oppenhojf für entscheidend, dass etwas als Tatsache hingestellt werde, dass der Glaube an ihre Existenz hervorgerufen werden solle. Er subsumierte also Unmögliches nicht wie Haager explizit dem Tatsachenbegriff. Haagers Ausführungen zu den "unmöglichen Tatsachen" erfuhren Kritik. Zimmermann hielt schon auf den ersten Blick für auffallend, dass etwas eine Tatsache sein solle, was tatsächlich gar nicht möglich sei; dies würde einen offenbaren Selbstwiderspruch enthalten. "Man wird auch hier wieder auf das gemeine Recht zurückgehen müssen, um eine sichere Grundlage zu erhalten. Was aber physisch unmöglich ist, find~t im Civilrechte keine Beachtung.,,204 Zimmermann griff also wie Haager auf das Zivilrecht zurück. Der Betrug müsse im Zivilrecht und Strafrecht gleich bestimmt werden; ein Unter199

200 201 202 203

204

Hilgendorf, S. 61. GS 27 (1875), 561 (578). GS 27 (1875), 561 (577 f). GS 27 (1875), 561 (578). Ibid. Zimmermann, GS 29 (1877), 120 (131).

62

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

schied zwischen dem strafbaren und dem nur zivilrechtlich zu verfolgenden Betrug sei nicht zu finden?05 Bemerkenswert ist sein nächster Satz: "Wenn also z. B. A. dem B. vorspiegelte, er sei Gott der allmächtige Vater und habe die Absicht, dem B. künftig nach dessen Tode einen Stuhl im Himmel neben ihm zuzusichern, oder ewige Jugend zu verleihen U.S.W., wenn er ihm sofort 1000 M. dafür gebe, so würde man doch wohl hier nicht einen strafbaren Versuch, oder wenn B. wirklich die verlangte Summe gezahlt hätte, einen vollendeten Betrug annehmen wollen, da auch der am geringsten Begabte einsehen müßte, daß A., wenn er im Ernste gehandelt, für das Irrenhaus reif sei.,,206 Zimmermann wollte also Unmögliches nicht unter den Tatsachenbegriff subsumieren; bei ihm wurde der Gedanke der Täuschungseignung bzw. der Opfermitverantwortung explizit dazu verwendet, den TatsachenbegriiJ zu begrenzen. 207 Doch daran lässt sich für die Lösung der Problematik des Okkultschwindels nicht anknüpfen, denn es ist unbestreitbar, dass Unmögliches gerade keine Tatsache darstellt. Ferner hielt Zimmermann auch "bloße Absichten über künftige Entschließungen und Leistungen" für (innere) Tatsachen. 2os Dagegen könnten "Vorspiegelungen in Bezug auf die Absicht, den Willen, künftig etwas physisch, juristisch oder moralisch Unmögliches vorzunehmen, nicht zu den Vorspiegelungen falscher Thatsachen im Sinne des § 263 des R.St.G.B. gezählt werden,,?09 Auch Hälschner kritisierte Haager und bemerkte: " ... denn so gewiß das Unmögliche nicht Thatsache sein kann, so gewiß kann es als solche vorgespiegelt und geglaubt werden.,,210 Deshalb sei des Betrugs schuldig, wer sich Geld als Lohn für die Anwendung angeblich wundertätiger Zauberkünste erschwindle?ll Bei Hälschner findet sich also die Differenzierung zwischen Tatsache und ihrer Behauptung. In diesem Zusammenhang verwies er auf ein Urteil des Preußischen Obertribunals aus dem Jahre 1864212 zum Begriff der Tatsache in § 241 PrStGB bzw. zu "unmöglichen Tatsachen", das in der Rechtslehre große Beachtung gefunden hat. Das Gericht hielt den Umstand, dass etwas Unmögliches vorgespiegelt worden war, für unerheblich und bejahte eine Täuschung über eine Tatsache. In Kapitel 3 wird dieses Urteil eingehend dargestellt. Nach Hälschner ist Tat205 GS 29 (1877), 120 (121) mit Hinweis auf die Gleichbehandlung der zivilrechtlichen "actio de dolo" und der strafrechtlichen "persecutio extraordinaria stellionatus" im römischen Recht; vgl. auch S. 123 f., 129, 141 f. 206 GS 29 (1877), 120 (131). 207 So Hilgendorf, S. 64. 208 GS 29 (1877), 120 (142). 209 GS 29 (1877), 120 (138). 210 Das gemeine deutsche Strafrecht, Zweiter Band, Bes. Teil, S. 262 Fußnote l. 211 Das gemeine deutsche Strafrecht, Zweiter Band, Bes. Teil, S. 262. 212 Urteil vom 15.12.1864, GA 13 (1865), 224.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

63

sache "Alles was geschehen ist, darum als ein Gegebenes feststeht, weil das Geschehene niemals wieder ungeschehen gemacht werden kann.,,213 Ob die Tatsache leichter oder schwieriger zu erkennen, mit Sicherheit festzustellen sei oder nicht, ob ein Mögliches oder Unmögliches als Tatsache vorgespiegelt werde, sei gleichgültig. 214 Man könne zwar von zukünftigen Tatsachen sprechen, aber sie seien keine wirklichen, sondern nur mögliche oder notwendigerweise eintretende, so dass an sich nicht von Täuschung gesprochen werden könne. Dennoch könne über sie insofern getäuscht werden, als jemand dem anderen die Möglichkeit oder Notwendigkeit des Eintretens vorspiegle; in solchen Fällen beziehe sich die Täuschung auf wirkliche Tatsachen, darauf, dass schon jetzt die Bedingungen des Eintretens des künftigen Ereignisses gegeben seien. 215 Die Täuschung müsse sich auf bestimmte, konkrete Tatsachen beziehen, da die Tatsache ihrer Natur nach etwas Konkretes und nicht etwas der näheren Bestimmung erst bedürfendes Allgemeines sei. 216 Rommel hatte ein sehr weites Verständnis des Tatsachenbegriffs. Er subsumierte unter ihn jedes tatsächliche Verhältnis oder Ereignis und auch Tatsachen im Inneren eines Menschen, wie Absichten, Ansichten, Meinungen und Überzeugungen, sofern ihnen nicht die erforderliche Bestimmtheit fehle; die Tatsache müsse konkreter Natur sein und sich objektiv feststellen lassen?17 Auch Zukünftiges gelte als Tatsache, wenn es in ganz konkreter und bestimmter Form behauptet werde?18 Das Zukünftige in seiner Allgemeinheit könne zwar zu unbestimmt sein, um als Tatsache zu gelten, andererseits sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass es in ganz konkreter und bestimmter Form behauptet werden könne. Bloße Hoffnungen, mehr oder weniger unbestimmte Erwartungen und Möglichkeiten genügten jedoch nicht, da sie keine Tatsachen seien, obwohl sie im täglichen Leben mit Erfolg zu Betrügereien verwendet würden?19 Demnach ist die Konkretheit das we213 Das gemeine deutsche Strafrecht, Zweiter Band, Bes. Teil, S. 261. Den Begriff der Tatsache in § 186 StGB verstand er dagegen anders; aus der Natur der Sache ergebe sich, dass dort Tatsachen nur in bestimmten, näher bezeichneten Handlungen, die dem Beleidigten beigemessen würden, bestehen könnten, denn nur in solcher Weise könnten andere in ihrem sittlichen Urteil über die Ehre des Beleidigten bestimmt werden. Es sei zudem eine "völlige Verkennung der eigenthümlichen Bedeutung der Verleumdung, wenn man die Behauptung s.g. innerer Thatsachen, z. B. den Vorwurf schlechter Charaktereigenschaft, für genügend erachtet", vgl. S. 191 f. mit Fußnote 2. 214 Das gemeine deutsche Strafrecht, Zweiter Band, Bes. Teil, S. 261 Fußnote 2. 215 Das gemeine deutsche Strafrecht, Zweiter Band, Bes. Teil, S. 261 f. 216 Das gemeine deutsche Strafrecht, Zweiter Band, Bes. Teil, S. 264. 217 Der Betrug, S. 17; zu den Absichten vgl. ausführlich S. 26 ff. mit Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen; zu Ansichten, Meinungen und Motiven vgl. S. 33. 218 Der Betrug, S. 18 f. 219 Der Betrug, S. 19.

64

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

sentliehe Begriffsmerkmal der Tatsache. Auch Rommel hielt für unerheblich, ob die vorgespiegelte Fähigkeit oder Fertigkeit tatsächlich, rechtlich oder moralisch möglich sei. Deshalb unterfielen Wahrsager, Goldmacher und Zauberer dem Betrugsparagraphen, wenn sie nur das Bewusstsein ihres Unvermögens hätten. 22o Der vom Gesetzgeber gewählte Ausdruck "falsche Tatsachen" sei wenig glücklich, da jede Tatsache wahr sei; vielmehr sei damit das Vorspiegeln der Existenz einer nicht vorhandenen Tatsache gemeint. 221 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass nach 1871 die "Konkretheit" bzw. "Bestimmtheit" überwiegend als Wesensmerkmal einer Tatsache angesehen wurde; ihr wurden allgemeine Urteile und Anpreisungen gegenübergestellt. Innere Tatsachen, auch in der Person des Täuschenden, wurden überwiegend anerkannt, Zukünftiges hingegen nicht. Die Behandlung von Unmöglichem war kontrovers. Vereinzelt wurde es dem Tatsachenbegriff unterstellt; überwiegend wurde jedoch erkannt, dass es als Tatsache begrifflich ausscheidet und allenfalls als Tatsache vorgespiegelt bzw. behauptet werden kann. Hier zeigt sich die Bedeutung der Differenzierung zwischen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung". 3. Der TatsachenbegriJf in der Rechtslehre nach 1900

Nach 1900 bestand eine gefestigte Auffassung zur Auslegung des Tatsachenbegriffs in § 263 StGB, so dass von einer "allgemeinen Ansicht" gesprochen werden kann. 222 Die Figur der inneren Tatsachen wurde fast durchweg anerkannt223 , Zukünftigem wurde die Tatsachenqualität jedoch überwiegend abgesprochen 224 . Im Folgenden werden einige Begriffsbestimmungen aufgeführt, wobei auch Beiträge zum Begriff der Tatsache im Beleidigungsrecht Erwähnung finden. Beispielhaft seien zunächst Franks Ausführungen zum Tatsachenbegriff wiedergegeben. Für ihn ist Tatsache "alles, was wahrnehmbar ist oder war, 220 Ibid. Auch er verwies auf das oben erwähnte Urteil des Preußischen Obertribunals aus dem Jahre 1864. 221 Der Betrug, S. 35. 222 Hilgendorf, S. 65. 223 Vgl. Hegler, VDB VII (1907), 405 (420 mit Fußnote 8); v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 330 und 458; Meyer/Alljeld, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 477; ebenso Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozess, S. 30, 35 f. (zum prozessualen Tatsachenbegriff - ausgehend vom Beweisrecht). 224 Vgl. v. Cleric, Betrug verübt durch Schweigen, S. 38; Hegler, VDB VII (1907), 405 (421 mit Fußnote 3); v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 330 und 458; Meyer/Alljeld, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 477 mit Fußnote 12; anders aufgrund seines abweichenden Ausgangspunkts Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozess, S. 32.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

65

also gleichgültig, ob es der Gegenwart oder der Vergangenheit angehört, ob es ein Gegenstand oder ein Zustand oder ein Ereignis ist".225 Den Gegensatz bilde "alles, was der Zukunft angehört. Etwas Zukünftiges ist ebensowenig eine Tatsache wie ein Weizenkom schon Weizen ist. Das Versprechen, demnächst zu zahlen, die Erklärung, daß in aller Kürze die Bahn an einem Grundstück vorüberführen werde, sind nicht Behauptungen von Tatsachen.,,226 Er stellte der Wahrnehmbarkeit durch die Sinne die Selbstbeobachtung gleich, so dass auch innere Tatsachen erfasst seien. 227 Dagegen nahm er "alles, was nicht wahrnehmbar ist oder gewesen ist, sondern erst auf Grund einer Denktätigkeit erkannt wird", aus dem Tatsachenbegriff aus. "Deshalb fallen Urteile, namentlich Werturteile und Meinungsäußerungen, im allgemeinen nicht unter den Begriff der tatsächlichen Behauptungen".228 Auf seine Einschränkung bezüglich der Irrelevanz von Zukünftigem, es sei zuzugeben, dass möglicherweise die Erklärung von etwas Zukünftigem gleichzeitig die Behauptung von etwas Gegenwärtigem, also eine Tatsache enthalte, so in den genannten Beispielen die Behauptung der jetzt vorhandenen Zahlungsabsicht, der Genehmigung der Bahn durch die zuständigen Stellen229 , wird in Kapitel 8 bei der Behandlung der inneren Tatsachen ausführlich einzugehen sein. Frank differenzierte zwischen den Begriffen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung"; zunächst ging er vom Tatsachenbegriff aus und definierte ihn, doch schon bei der Bestimmung des Gegenteils der Tatsache (Zukünftiges und Urteile) sprach er von "Behauptungen von Tatsachen" bzw. "tatsächlichen Behauptungen". Im Anschluss an diese ausführliche Darlegung sollen nur noch ausgewählte Bemerkungen der Literatur, insbesondere zur Problematik der Vorspiegelung von Unmöglichem, dargestellt werden. Nach Hegler ist für den Begriff der Tatsache das Moment der, bei Vorspiegelung wenigstens behauptungsweise bestehenden, objektiven Gewissheit maßgebend; daher schied er Beurteilungen, Bewertungen, Äußerungen des Glaubens und Meinens wegen ihrer subjektiven Natur und damit regelmäßig Anpreisungen, Reklamen und dergleichen aus dem Tatsachenbegriff aus. 230 Auch objektiv Unmögliches könne erfasst sein, da es bei der Vorspiegelung nur auf die behauptete objektive Gewissheit ankomme?31

225 226 227 228 229 230 231

Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Das Strafgesetzbuch für das Deutsche VDB VII (1907), 405 (420). VDB VII (1907), 405 (421).

5 Thomma

Reich, Reich, Reich, Reich, Reich,

§ § § § §

263 263 263 263 263

Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.

11. 11. 11. 11. 11.

I. I. I. I. 1.

a). b) alpha). b). a).

66

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

V. Cleric stellte fest, dass mit dem Begriff "Tatsache" in erster Linie das Moment des objektiv Gewissen, des Feststehenden verbunden sei. 232 Es seien Einschränkungen beim Tatsachenbegriff zu machen; das Gesetz hebe dieses Merkmal ausdrücklich hervor, so dass der Begriff so ausgelegt werden müsse, dass der Betrugstatbestand eine Einschränkung erfahre; ansonsten wäre dieses Merkmal überflüssig. 233 Der historische Werdegang des Betrugstatbestands sowie die Materialien sprächen ebenso für eine solche Einschränkung wie die Gesetzesfassung selbst. Als Vergleich führte er § 144 StGB a.F. (Auswanderungsbetrug) an, der einen weiteren Tatsachenbegriff enthalte, was durch das Tatbestandsmerkmal "unbegründete Angaben" neben dem der "Vorspiegelung falscher Tatsachen" zum Ausdruck komme. 234 V. Cleric bestimmte die Einengung des Tatsachenbegriffs beim Betrugstatbestand durch zwei Momente, wovon das eine dem Sprachgebrauch, das andere dem Gesetz selbst entnommen sei. Das Erfordernis der Bestimmtheit leitete er aus dem Alltagssprachgebrauch her. Auf der anderen Seite forderte er die Bestimmbarkeit für den Tatsachenbegriff; er schloss dies aus § 144 StGB a. F., wonach das Gegenteil zu "Tatsachen" "unbegründete Angaben" seien; darunter fasste er bloße Urteile und allgemein gehaltene Wertschätzungen, denen das Moment der genaueren Bestimmbarkeit abgehe. 235 Als Ergebnis der Ausführungen definierte er schließlich den Begriff der Tatsache "als ein der Gegenwart oder der Vergangenheit angehöriger, durch den Menschen erkennbarer, nach Dasein und Inhalt bestimmter und von außen her bestimmbarer Umstand"236. Da eine Tatsache immer wahr sei, sei der Ausdruck "wahre Tatsache" in § 263 StGB ein Pleonasmus; der Ausdruck "falsche Tatsache" sei eine schlechte sprachliche Fassung?37 Seine Feststellung, mit dem Tatbestandsmerkmal "Tatsachen" sei eine Einschränkung des Betrugstatbestands beabsichtigt, ist sehr aufschlussreich und begrüßenswert. In der vorliegenden Arbeit wird diese restriktive Funktion des Tatsachenbegriffs, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist bzw. vernachlässigt wird, zur Lösung der Problematik der Täuschung über Unmögliches, nämlich zu ihrer Ausscheidung aus dem Kreis der Tatsachenbehauptungen, fruchtbar gemacht. V. Liszt stellte fest, dass auch etwas Unmögliches als Tatsache hingestellt werden könne, da die Behauptung maßgebend sei. 238 Bei ihm findet sich also die Unterscheidung zwischen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung". 232 233 234 235 236 237 238

Betrug verübt durch Schweigen, S. 38. Betrug verübt durch Schweigen, S. 41. Betrug verübt durch Schweigen, S. 41 f. Betrug verübt durch Schweigen, S. 42 f. Betrug verübt durch Schweigen, S. 43. Betrug verübt durch Schweigen, S. 44. Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 330 und 458.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkrnals "Tatsachen"

67

Zum Teil wurden Ausnahmen von der Betrugsirrelevanz zukünftiger Ereignisse gemacht. Binding verstand unter Tatsache "Alles, was gewußt werden kann, einerlei, ob es der Außenwelt angehört oder eine Erfahrungstatsache des Innenlebens ist, ob es in die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft fällt".239 Als Beispiele für zukünftige Tatsachen nannte er den Umstand, dass am 21. September jeden Jahres die Sonne fast genau um 6 Uhr auf- und untergehe, sowie den Umstand, dass die Schwangerschaft mit dem 9. Monat ende?40 Für Binding ist Tatsache grundsätzlich alles, was empirisch wahrnehmbar ist, da er auf die prinzipielle Wahrnehmbarkeit und nicht auf die tatsächliche Wahrnehmung abstellte. 241 Demzufolge ließ er auch zukünftige Ereignisse für den Tatsachenbegriff genügen, wenn sie grundsätzlich beobachtbar sind; seine Beispiele zeigen, dass er nur solche Ereignisse erfassen wollte, die mit an Sicherheit grenzender Wahrschein1ichkeit prognostizierbar sind, nicht dagegen bloße Hoffnungen, Vermutungen oder allgemeine Erwartungen?42 Er differenzierte jedoch nicht scharf zwischen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung".243 Welzel erfasste zukünftige Ereignisse, die als unverbrüchlich notwendig eintretend hingestellt werden, als betrugsrelevante Tatsachen. Als Beispiele nannte er Sonnenfinsternisse und Jahreszeiten; bloße Möglichkeiten wie ein bevorstehender Krieg sollten jedoch nicht ausreichen, da deren Eintritt zwar wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, aber nicht wahr oder falsch sein könne?44 Er hob hervor, dass zu den Tatsachen auch objektiv Unmögliches gehören könne, da es bei der Vorspiegelung nur auf die behauptete objektive Gewissheit ankomme. 245 Obwohl Unmögliches ausdrücklich dem Tatsachenbegriff unterstellt wurde, zeigt sich hier die Unterscheidung zwischen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung". Liepmann und v. Lilienthai beschäftigten sich mit dem Tatsachenbegriff im Zusammenhang mit der üblen Nachrede, § 186 StGB. Liepmann legte den Tatsachenbegriff in den verschiedenen Bestimmungen des StGB einheitlich aus. 246 Dem Sprachgebrauch und der Ratio legis werde Zwang auferlegt, wenn dem Tatsachenbegriff innere Tatsachen nicht subsumiert würden?47 Außerdem wies er auf den Sprachgebrauch der Prozessordnungen Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Bes. Teil, Erster Band, S. 346. Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Bes. Teil, Erster Band, S. 346 Fußnote 6. 241 V gl. Rilgendorf, S. 62. 242 Hilgendorf, S. 62 f. 243 Ebenso Hilgendorf, S. 62. 244 Das Deutsche Strafrecht, S. 368. 245 Das Deutsche Strafrecht, S. 369; er berief sich auf Regler, VDB VII (1907), 405 (421). 246 VDB IV (1906), 217 (255). 239 240

5*

68

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

hin, um zu zeigen, dass der Tatsachenbegriff das Gebiet des psychisch Wirklichen mit einschließen müsse. 248 Tatsachen seien also alle in ihrer Individualität erkennbaren Vorgänge und Eigenschaften, also alles konkret Wirkliche?49 Liepmann stellte also die Kriterien der Erkennbarkeit bzw. der Wahrnehmbarkeit sowie der Konkretheit in den Vordergrund. Auch v. Lilienthai stellte zunächst fest, dass kein Grund vorliege, den Begriff der Tatsache in den verschiedenen Tatbeständen des StGB verschieden aufzufassen?50 Tatsache sei nur, was bewiesen werden könne 25l ; alles, was gewusst werden könne, könne begrifflich auch bewiesen werden252 . Er stellte somit die Wahrnehmbarkeit der Beweisbarkeit gleich. "Damit scheidet von selbst alles Zukünftige aus. Beweisen (und wissen) kann man nur, was ist oder gewesen ist, was sein wird nicht. ,,253 Bewiesen werden könne nur die Berechtigung, den Eintritt zukünftiger Ereignisse zu erwarten. Außerdem lasse sich nur etwas bestimmt Angegebenes beweisen, so dass allgemeine Andeutungen nicht ausreichten. 254 Im Ergebnis sei als Tatsache in diesem Sinne alles anzusehen, was wahrgenommen oder aus Wahrnehmungen erschlossen werden könne?55

Sauer beschäftigte sich im Jahre 1915 eingehend mit dem Tatsachenbegriff, ebenfalls im Zusammenhang mit dem Beleidigungsrecht. 256 Er bemühte sich um einen exakteren Tatsachenbegriff, als ihn die h. L. formulierte; er bemängelte bei deren Begriffsbestimmung eine methodische Unsicherheit. 257 Tatsachen seien "wahrgenommene einzelne Gegenstände, die zu unserem urteilenden Bewußtsein dadurch in Beziehung gesetzt werden, daß wir sie miteinander vergleichen und in ihrem Zusammenhange, insbesondere ihrem kausalen (genetischen) oder speziell kausal-teleologischen, zueinander bestimmen".258 Durch diese Beziehung werde der Gegenstand zum historischen Vorgang, den man daher auf seine "historische Wahrheit" prüfe?59 Auch Zustände gehörten zu den Tatsachen, da auch sie im Grunde nur historische Geschehnisse darstellten. 26o Ob die Tatsache der Gegenwart 247 248 249 250 251

252 253

254 255

256 257

258 259

Ibid. VOB IV (1906), 217 (256). Ibid. VOB IV (1906), 375 (390). VOB IV (1906), 375 (391). VOB IV (1906), 375 (391 Fußnote 3). VOB IV (1906), 375 (391). Ibid. VOB IV (1906), 375 (392). Oie Ehre und ihre Verletzung, S. 102 ff. Oie Ehre und ihre Verletzung, S. 104 Fußnote 1. Oie Ehre und ihre Verletzung, S. 103. Ibid.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

69

oder Vergangenheit angehöre, sei einerlei. Sog. zukünftige Tatsachen erkannte er dagegen nicht als Tatsachen an; Tatsache könne aber die Meinung jemandes sein, ein Ereignis werde eintreten; dann sei Tatsache natürlich nur die Meinung als solche, nicht etwa ihr Inhalt (der mutmaßliche Eintritt).261 Denn es sei daran festzuhalten, dass auch dem Innenleben angehörende Vorgänge Tatsachen sein könnten, wobei aber zu fordern sei, dass es sich um einen einzelnen, d. h. individuell umgrenzten und bestimmbaren Vorgang handle?62 Verallgemeinerungen seien daher keine Tatsachen. 263 Er hob also das Erfordernis der Konkretheit besonders hervor. Weiter führte er aus, dass Tatsache einmal das Bewiesene sei, also identisch mit der historischen Wahrheit, zum anderen aber auch das für einen idealen Beobachter Beweisbare?64 In Sinne des zuletzt Genannten meine man, dass auch Unmögliches als Tatsache hingestellt werden könne?65 Sauer ging jedoch nicht näher auf die "Beweisbarkeit" von Unmöglichem ein im Hinblick darauf, dass es stets nur widerlegbar ist. In Kapitel 2 wird das Kriterium der "Beweisbarkeit" im Zusammenhang mit "unmöglichen Tatsachen" näher untersucht. Sauer definierte schließlich Tatsachen im Sinne der Rechtsordnung "als solche Einzelvorgänge, die sich für alle oder doch die meisten Menschen im Wesentlichen übereinstimmend feststellen lassen, m. a. W. solche Einzelvorgänge, deren historische Wahrheit an sich beweisbar ist.,,266 Die Beweisbarkeit ist demnach neben der Konkretheit das wichtigste Kriterium des Tatsachenbegriffs, wobei auf die prinzipielle Beweisbarkeit abgestellt wurde, nicht auf die tatsächliche im konkreten Fall 267 . Sauers Lösungsansatz erfuhr eingehende Erörterung bei Engelhard, dessen Kritik nicht in allen Einzelheiten dargestellt werden soll?68 Engelhard ging von § 186 StGB aus; hierfür interessierte ihn nicht der Begriff der Tatsache an sich, sondern der der Tatsachenbehauptung. 269 Er wandte sich gegen das Merkmal der Beweisbarkeit in abstracto; durch dieses Merkmal werde der Tatsachenbegriff keineswegs abgegrenzt; dies seien vielmehr meDie Ehre und ihre Verletzung, S. 103 f. Die Ehre und ihre Verletzung, S. 104. 262 Die Ehre und ihre Verletzung, S. 104 f. 263 Die Ehre und ihre Verletzung, S. 105. 264 Die Ehre und ihre Verletzung, S. 106. 265 Die Ehre und ihre Verletzung, S. 106 Fußnote 3. 266 Die Ehre und ihre Verletzung, S. 106 f.; er stellte also die Wahrnehmbarkeit mit der Beweisbarkeit gleich, vgl. Engelhard, Die Ehre als Rechtsgut im Strafrecht, S.103. 267 Vgl. auch die Differenzierung zwischen der (historischen) Beweisbarkeit "an sich" und der Beweisbarkeit im Prozess, vgl. Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, S.109. 268 Die Ehre als Rechtsgut im Strafrecht, S. 102 ff. 269 Die Ehre als Rechtsgut im Strafrecht, S. 99, 103 f., 105. 260 261

70

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegrlffs

thodisch verfehlte Bemühungen. 27o Auch das Kriterium der Konkretheit zur Unterscheidung von Tatsachenbehauptung und Urteil lehnte Engelhard ab. 271 Sauers methodischer Grundfehler sei der, dass er sich mit aller Macht auf den Begriff der Tatsache werfe und darüber versäume, den Begriff des Werturteils gegenüber der Tatsachenbehauptung klarzustellen. 272 Er selbst ging den umgekehrten Weg, nämlich zunächst den Begriff des Werturteils zu erfassen, diesen sodann aus dem allgemeinen Urteilsbegriff herauszuheben und den verbleibenden Rest "Tatsachenbehauptungen" zu nennen?73 Erwähnung soll ferner seine Behandlung von Unmöglichem finden, wobei zu beachten ist, dass für ihn allein der Begriff der Tatsachenbehauptung entscheidend ist; Tatsache i. S. d. § 186 StGB sei eben der Gegenstand der jeweiligen Tatsachenbehauptung274 . "Da es also für die Tatsachenbehauptung oder -verbreitung objektiv lediglich darauf ankommt, daß die fragliche Vorstellung normalerweise positiv in das Persönlichkeitsbild des Objekts eintritt, und subjektiv darauf, daß der Aeußernde sich dessen bewußt war, so kann sehr wohl auch etwas Unmögliches den Inhalt einer Tatsachenbehauptung oder -verbreitung bilden.,,275 In Kapitel 4 wird jedoch gezeigt, dass die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der "Tatsachenbehauptung" nicht ohne den Begriff der Tatsache auskommen kann. Weiter bemerkte Engelhard, dass keine Tatsachenbehauptung oder -verbreitung vorliege, wenn die Äußerung sich objektiv als nicht ernst gemeint, ihr Inhalt als frei erfunden darstelle. 276 Leider fehlen nähere Ausführungen Engelhards zu dieser Aussage, insbesondere ob er sich auf das im Zusammenhang mit auf Unmögliches gerichteten Behauptungen genannte Kriterium einer Tatsachenbehauptung, nämlich dass die fragliche Vorstellung normalerweise positiv in das Persönlichkeitsbild des Objekts eintreten müsse, bezieht; was nicht ernst zu nehmen ist, tritt nicht als Vorstellung "positiv in das Persönlichkeitsbild des Objekts" ein. Es wird nicht deutlich, an welchem Kriterium einer Tatsachenbehauptung es in diesen Fällen fehlen soll. Auch in Fällen des Okkultschwindels stellen sich die Äußerungen der Täter häufig "objektiv", d. h. nach dem Verständnis eines durchschnittlich gebildeten Empfängers bzw. nach der Verkehrsanschauung, "als nicht ernst gemeint, ihr Inhalt als frei erfunden" dar, da sie in hohem Maße unglaubwürdig sind. Dennoch wollen die Täter die Äußerungen "subjektiv" als ernst gemeint darstellen, und die Opfer glauben an die Wahrheit der 270 271 272 273 274 275 276

Die Ehre Die Ehre Die Ehre Ibid. Die Ehre Die Ehre Die Ehre

als Rechtsgut im Strafrecht, S. 103 f. als Rechtsgut im Strafrecht, S. 109. als Rechtsgut im Strafrecht, S. 105. als Rechtsgut im Strafrecht, S. 99. als Rechtsgut im Strafrecht, S. 110 f. als Rechtsgut im Strafrecht, S. 111.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

71

Aussagen; werden sie nicht ernst genommen, fehlt es an einem Irrtum. Wenn die "Täter" dagegen nicht wollen, dass die Äußerungen als ernst gemeint aufgefasst werden, fehlt es am Täuschungsvorsatz. Das Kriterium des "Ernstmeinens" gehört also an sich nicht zum Problembereich "Tatsachen (-behauptung)", sondern zu denen des "Irrtums" bzw. des "Vorsatzes". Der Unterschied zu den Betrugsfällen besteht darin, dass die Äußerung bei den §§ 186, 187 StGB geeignet sein muss, den Betreffenden in seinem Geltungsanspruch zu verletzen, was bei offenkundig unsinnigen, frei erfundenen Behauptungen, denen niemand Glauben schenken wird, nicht der Fall ist. Parallelen bestehen ferner zu einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1908, in der festgestellt wurde, dass eine Behauptung, die das "Gepräge der freien Erfindung" so unverkennbar an sich trage, dass sie ihrer Beschaffenheit nach den Eindruck der Wirklichkeit nach außen hin nicht hervorrufen könne, keine Behauptung einer Tatsache i. S. d. § 131 StGB a.F. darstelle. 277 Dieses Urteil wird in Kapitel 3 näher untersucht. Als Ergebnis der vorstehenden Ausführungen ist festzuhalten, dass zum einen die Bestimmtheit bzw. Konkretheit, zum anderen die sinnliche Wahrnehmbarkeit bzw. die Beweisbarkeit als maßgebliche Kriterien der Tatsache angesehen wurden. Mittels des Bestimmtheitserfordernisses sollten vage Äußerungen und Mutmaßungen aus dem Betrugstatbestand ausgeschieden werden, ferner Urteile und Kundgebungen mit subjektiver Prägung. Das Kriterium der Beweisbarkeit findet sich in einigen der dargestellten Definitionen nicht explizit, dafür übernimmt das Kriterium der sinnlichen Wahrnehmbarkeit dieselbe Funktion, da vor Gericht nur das beweisbar ist, was (grundsätzlich) sinnlich wahrgenommen werden kann 278 . Ferner bestand Einigkeit bezüglich der Betrugsrelevanz von Unmöglichem, wobei die Unterscheidung zwischen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" nicht immer konsequent durchgeführt wurde. 4. Die Tatsachendefinitionen in den gängigen Kommentaren und Lehrbüchern

Bis heute ist die Definition der Tatsache unverändert geblieben279 ; überwiegend wird der Unterschied zwischen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" beachtet. In den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern RGSt 41, 193 (194). Vgl. nur Hilgendorf, S. 124; eine ausführliche Erörterung dieses Problemkreises erfolgt in Kapitel 2. 279 Auch im Zivilprozessrecht (Tatsachen werden z. B. im Beweisrecht relevant) ist diese Definition anerkannt, vgl. nur Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 113 I. 1.: " ... es sind die konkreten nach Raum und Zeit bestimmten, vergangenen oder gegenwärtigen Geschehnisse und Zustände der Außenwelt und des menschlichen Seelenlebens". 277

278

72

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

finden sich nahezu deckungsgleiche Ausführungen zum Tatsachenbegriff mit denselben Rechtsprechungsnachweisen, v. a. zu den inneren 280 und den "zukünftigen Tatsachen" sowie zum Gegensatzpaar Tatsachenbehauptung Werturteil bzw. Meinungsäußerung. Die Problematik der Täuschung über Unmögliches wird hingegen nicht mehr mit der Intensität diskutiert wie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Literatur geht davon aus, dass auch Unmögliches Gegenstand einer Tatsachenbehauptung sein könne?81 Auf die Wahrscheinlichkeit der behaupteten Tatsache soll es nicht ankommen; die Behauptung könne noch so absurd sein, sie sei dennoch taugliche Täuschungshandlung 282, bzw. es sei anerkannt, dass als Tatsachenbehauptung auch die Behauptung logisch oder naturwissenschaftlich unmöglicher Tatsachen zu gelten habe. 283 Dabei werden durchweg die gleichen Urteile des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs zitiert, die sich mit dieser Frage zu beschäftigen hatten; diese werden in Kapitel 3 analysiert. Die von der Rechtsprechung und der h. L. proklamierte These der Irrelevanz von Prognosen wird häufig durch die Feststellung relativiert bzw. unterlaufen, dass in Prognosen die konkludente Behauptung einer gegenwärtigen inneren Tatsache enthalten sei, nämlich die Behauptung, der Sprecher sei im Augenblick der Äußerung davon überzeugt, das Ereignis werde eintreten; entsprechendes gilt für Werturteile. Dieser Rückgriff auf die inneren Tatsachen wird in Kapitel 8 eingehender Betrachtung und Kritik unterzogen; bei der folgenden Darstellung wird diese Problematik deshalb noch nicht näher erörtert. Im Folgenden sollen einige ausgewählte Ausführungen in Kommentaren und Lehrbüchern betrachtet werden, v. a. im Hinblick auf abweichende Stellungnahmen sowie die Behandlung auf Unmögliches gerichteter Äußerungen. Beispielhaft seien Lackners Ausführungen zur betrügerischen Täuschungshandlung wiedergegeben. Er kritisiert zunächst die Gesetzesformulierung hinsichtlich der Täuschungshandlung: Sie sei umständlich und sprachlogisch verfehlt wegen der Verwendung des Begriffs der "falschen Tatsache" und außerdem gesetzestechnisch missglückt, weil die drei Begehungsformen sich weit überschnitten?84 Er übernimmt den Begriff der Tatsache des Reichsgerichts als "etwas Geschehenes oder Bestehendes, das zur Erscheinung gelangt und in die Wirklichkeit getreten und daher dem Be280 Ablehnend bis heute nur Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 214; gegen die Einbeziehung eigenpsychischer Vorgänge des Täuschenden auch Bitzilekis, in: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 29 (40 f.). 281 Vgl. nur LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 16; Tröndle/Fischer, § 263 Rn. 6a. 282 Nach Samson, JA 1978,469 (471), ist dies fast einhellige Meinung. 283 SK-Samson/Günther, § 263 Rn. 19. 284 In: LK, 10. Aufl., § 263 Rn. 9.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

73

weis zugänglich ist".285 Es müsse sich stets um konkrete Geschehnisse oder Zustände der Vergangenheit oder Gegenwart handeln; Zukünftiges gehöre als solches nicht hierher; es werde Tatsache erst mit seinem Eintreten?86 Weiter erkennt er auch psychische Gegebenheiten und Abläufe, wie z.B. Wissen, Vorstellungen, Überzeugungen, Absichten, Motive, Gefühle usw., als innere Tatsachen an, wenn sie nur - sei es auch auf Zukünftiges gerichtet - in erkennbare Beziehung zu Geschehnissen oder Zuständen der Vergangenheit oder Gegenwart gesetzt seien. 287 Als Gegenteil zur Täuschung über Tatsachen betrachtet Lackner das Äußern von subjektiven persönlichen Wertungen, also das Werturteil oder die Meinungsäußerung?88 Wie im Beleidigungsrecht sei auch beim Betrugstatbestand die Grenze flüssig; in jeder Täuschung über Tatsachen liege notwendig ein Element der Meinungsäußerung des Täuschenden, und jedes Werturteil enthalte die Behauptung, dass der Urteilende" von dessen Richtigkeit überzeugt sei. 289 Zur Abgrenzung stellt er maßgeblich auf das prozessuale Erfordernis der Beweiszugänglichkeit der Äußerung ab?90 Festzuhalten ist, dass Lackner grundsätzlich zwischen der Tatsache und ihrer Behauptung differenziert; statt der "Tatsachenbehauptung" ist für ihn jedoch der Begriff der Täuschung über Tatsachen maßgeblich; diese Umschreibung erfasse die drei Begehungsmodalitäten des § 263 StGB vollständig. 291 Aufschlussreich sind seine Ausführungen hinsichtlich der Betrugsrelevanz von Unmöglichem, die im Folgenden wörtlich wiedergegeben werden sollen: "Da sich § 263 mit der Täuschung über Tatsachen befaßt, ist nicht erforderlich, daß der behauptete Vorgang oder Zustand eine Entsprechung in der Wirklichkeit hat oder auch nur haben kann. Auch das nur angeblich Geschehene oder Bestehende kann - selbst wenn es natur- oder denkgesetzlich nicht nachvollziehbar ist - den Begriff der Tatsache i. S. des § 263 erfüllen, sofern es nur als etwas objektiv hinreichend Bestimmtes hingestellt wird ... ; der lediglich aus Gründen der Sprachlogik anfechtbare Begriff der ,falschen Tatsache' läßt diese Auslegung, die kriminalpolitisch geboten ist, zwanglos zu. Daher kann auch Unmögliches oder hinsichtlich seiner Möglichkeit wissenschaftlich Umstrittenes, etwa der Besitz überirdischer Kräfte oder die Fähigkeit zum Wahrsagen ... , zur Massenhypnose, zur Heilung

In: LK, 10. Aufl., § 263 Rn. 10 mit Rechtsprechungsnachweisen. In: LK, 10. Aufl., § 263 Rn. 11. 287 Ibid. 288 In: LK, 10. Aufl., § 263 Rn. 12. 289 Ibid. 290 Ibid; ebenso z. B. Samson, JA 1978, 469 (471); OLG Düsseldorf, JR 1965, 302 (303). 291 In: LK., 10. Aufl., § 263 Rn. 9; dazu ausführlich in Kapitel 4. 285

286

74

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

durch Gesundbeten, zur Augendiagnose ... oder zur Haardiagnose vorgespiegelt werden ... ,,292 Bei Lackner findet sich somit eine eingehende Beschäftigung mit dem hier interessierenden Problemfeld. Soweit ersichtlich, ist er der Einzige, der zugesteht bzw. überhaupt problematisiert, dass die Subsumtion von Unmöglichem unter die Tathandlung des § 263 StGB eine Auslegung darstellt, also nicht selbstverständlich ist; Unmögliches ist gerade keine Tatsache. Er stellt maßgeblich darauf ab, dass über eine Tatsache getäuscht werden muss. Ungenau ist jedoch seine Feststellung, dass auch das nur angeblich Geschehene oder Bestehende trotz Unmöglichkeit "den Begriff der Tatsache i. S. des § 263 erfüllen" könne. Tatsache ist eben nur das tatsächlich, nicht aber das nur angeblich Geschehene oder Bestehende. Auch Lackner beachtet hier also den Unterschied zwischen "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" nicht strikt. Ferner bestehen grundsätzliche Bedenken gegen eine auf kriminalpolitischen Erwägungen beruhende Auslegung des § 263 StGB; Einschränkungen, die sich aus dem Wortlaut einer Strafnorm ergeben, können nicht unter Berufung auf kriminalpolitische Erwägungen "hinweginterpretiert" werden. Fischer ist ebenfalls der Ansicht, dass auch über solche Tatsachen, "die objektiv nicht gegeben sein können", so z. B. die angebliche Fähigkeit des Hexens oder des Wahrsagens, getäuscht werden könne?93 Was objektiv nicht gegeben sein kann, ist aber gerade keine Tatsache. Herdegen formuliert für den Tatsachenbegriff der Rechtsprechung drei Abgrenzungskriterien: Die Wahmehmbarkeit, die Beweisbarkeit und die geschichtliche Existenz. 294 Die Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung müsse entweder in unmittelbarer Wahrnehmung (Beobachtung) direkt eingesehen oder aus wahrnehmbaren Fakten mit Hilfe von Erfahrungssätzen erschlossen werden können. Somit könne eine Äußerung eine Behauptung von Tatsachen, also von konkreten Geschehnissen, Zuständen, Dingen und Umständen der äußeren Welt, von Vorgängen und Eigentümlichkeiten des Seelenlebens oder vom Bestehen oder Nichtbestehen von Zusammenhängen, nur sein, wenn sie eine Wahrnehmungsbasis habe, die es ermögliche, die Übereinstimmung der Äußerung mit der Realität festzustellen. 295 Zur Beweisbarkeit führt er aus, dass eine Behauptung nicht als wahr gelten könne, wenn sie prozessualer Prüfung nicht zugänglich sei, mit den prozessualen Möglichkeiten nicht aufgeklärt werden könne. Tatsachenäußerung könne nur In: LK, 10. Aufl., § 263 Rn. 16; zustimmend LK-Tiedemann, § 263 Rn. 10. In: Tröndle/Fischer, § 263 Rn. 6 a. 294 In: LK, 10. Aufl., § 185 Rn. 4; zustimmend Gössel, Strafrecht Bes. Teil, Band 1, § 30 Rn. 14. 295 In: LK, 10. Aufl., § 185 Rn. 4. 292 293

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

75

sein, was als bestimmte Beweisbehauptung dem gerichtlichen Beweisverfahren zugänglich sei. 296 Das Kriterium der Bestimmbarkeit fließt hier also bei der Beweisbarkeit ein als Voraussetzung dafür, dass eine Äußerung im Prozess dem Beweis zugänglich ist. Zur "geschichtlichen Existenz" führt Herdegen aus, dass Tatsache nur sein könne, "was ist oder war. Künftiges ist noch keine Tatsache, die Voraussage künftiger Ereignisse eine Meinungsäußerung,,297. Cramer versteht unter Tatsachen alle konkreten vergangenen oder gegenwärtigen Geschehnisse oder Zustände der Außenwelt und des menschlichen Innenlebens?98 Auch er stellt fest, dass nicht nur das tatsächlich, sondern auch das angeblich Geschehene oder Bestehende als Tatsache anzusehen sei, sofern ihm das Merkmal der objektiven Bestimmtheit und Gewissheit eigen sei. 299 Auch hier findet sich also die bereits konstatierte Ungenauigkeit bzw. Widersprüchlichkeit, dass das nur angeblich Geschehene oder Bestehende als Tatsache eingeordnet wird. Cramer verweist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung in RGSt 56, 227. Dort ging es um die Behauptung eines Büroassistenten, er könne und werde "Dienste von dem gleichen Werte leisten" wie ein Rechtsanwalt. 3OO Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen Betrugs verurteilt. Das Reichsgericht führte u. a. aus, das Landgericht habe den Begriff der Tatsache i. S. d. § 263 StGB nicht richtig beurteilt; der Angeklagte habe keine gegenwärtigen Verhältnisse oder der Vergangenheit angehörende Geschehnisse oder Begebenheiten, wie sie den Begriff der äußeren Tatsache erfüllten, und auch keine ihm nicht innewohnende Absicht, also eine innere Tatsache, behauptet, sondern er habe sich die Fähigkeit zugeschrieben, Dienste zu leisten, die denen des Rechtsanwalts gleichwertig sein würden?OI Deshalb stehe lediglich ein Urteil in Frage, das der Angeklagte über die Wirksamkeit der von ihm in Aussicht genommenen Tätigkeit, über die Bedeutung seiner Befähigung auf dem Gebiete des Strafverfahrens gefällt habe. Zuzugeben sei, dass auch Urteile über die eigene Befähigung hinsichtlich gewisser Fertigkeiten oder Wissensgebiete u. U. als - innere - Tatsache gelten könnten; dann müssten sie jedoch ihrem Inhalt nach einen greifbaren, der Nachprüfung zugänglichen Kern enthalten, so dass sie sich zugleich als Behauptung der ihnen 296 In: LK, 10. Aufl., § 185 Rn. 7; so bereits v. Lilienthai, VDB IV (1906), 375 (392); ferner Arzt, JuS 1982, 717 (719); Sarstedt, LM § 186 StGB Nr. 3; vgl. auch Herdegen, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 244 Rn. 43 ff. zur "bestimmten Beweisbehauptung" . 297 In: LK, 10. Aufl., § 185 Rn. 4. 298 In: Sch/Sch, § 263 Rn. 8; hierauf bezugnehmend BGH, NJW 2001, 2187 (2188). 299 Ibid. 300 RGSt 56, 227 (231). 301 Ibid.

76

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

zugrunde liegenden Tatsachen darstellten, im Gegensatz zu allgemeinen Redewendungen oder Anpreisungen. Der Angeklagte habe jedoch keine Umstände vorgebracht, die dem Urteil über sich selbst erkennbar die Bedeutung gegeben hätten, er habe von sich behauptet, nach Vorbildung und Kenntnissen oder wegen Ablegung gewisser Prüfungen einem Rechtsanwalt gleichwertig zu sein. 302 Dieses Urteil ist bezüglich der Aussage, auch das nur angeblich Geschehene oder Bestehende sei als Tatsache anzusehen, sofern ihm das Merkmal der objektiven Bestimmtheit und Gewissheit eigen sei, ungeeignet; dass etwas nicht wirklich Geschehenes oder Bestehendes vorgebracht werden muss, ergibt sich bereits daraus, dass § 263 StGB eine Täuschung verlangt, die beim Vorbringen wahrer Umstände - abgesehen von der Problematik des Betrugs durch wahre Tatsachenbehauptungen303 - gerade nicht vorliegt. Maiwald stellt zunächst fest, dass der Ausdruck "falsche Tatsachen" in § 263 StGB ein Selbstwiderspruch und damit irreführend sei; Merkmal je-

der Tatsache sei die "Wahrheit". Was der Täter tue, sei entweder die Vorspiegelung oder die Unterdrückung von Tatsachen schlechthin?04 Für ihn ist das entscheidende Kriterium einer "Tatsache" die intersubjektive Nachprüjbarkeit des Ereignisses USW?05 Eine solche Nachprüfbarkeit sei z. B. bei künftigen Ereignissen gegeben, "die naturgesetzmäßig mit vorangegangenen Ereignissen zusammenhängen (,morgen haben wir Vollmond') oder die sonst aus zurückliegenden Ereignissen erschlossen werden können (Besuchsankündigung des Bundespräsidenten),,?06 Werde eine solche zukünftige Tatsache fälschlich als eintretend behauptet, so werde damit stillschweigend auf gegenwärtige oder vergangene Umstände Bezug genommen, die eine solche Prognose erlaubten, anders als in der Situation eines Wahrsagers, von dem jedermann wisse, dass seine Erklärungen nicht intersubjektiv überprüfbar seien. Betrug sei also durchaus durch Behauptung einer zukünftigen Tatsache begehbar, sofern durch die Art der Behauptung zugleich die prinzipielle intersubjektive Nachprüfbarkeit mitbehauptet werde?07 Für Maiwald ist also die "intersubjektive Nachprüfbarkeit" entIbid. Hierzu grundlegend Schröder, in: Festschrift für Karl Peters, S. 153 ff., der die Möglichkeit einer Betrugsstrafbarkeit bejahte; zustimmend z. B. Blei, Strafrecht 11, Bes. Teil, S. 223; Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 12; Tröndle, JR 1974, 221 (224); TröndlelFischer, § 263 Rn. 6 a; ablehnend Schumann, JZ 1979, 588 (589 f.); ein Beispiel bietet das Urteil des LG OsnabTÜck, MDR 1991,468 mit Besprechung von H.-W. Mayer, Jura 1992,238 (2400. 304 In: Maurach/Schroeder/Maiwald, § 41 Rn. 25. 305 In: Maurach/Schroeder/Maiwald, § 41 Rn. 27. 306 Ibid. 307 Ibid. 302 303

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkma1s "Tatsachen"

77

scheidendes Kriterium einer Tatsache, wobei auch er auf den Begriff der Tatsache, nicht auf den der Tatsachenbehauptung abstellt. Nach Samson und Günther bilden den Gegenstand der Täuschung - entgegen dem missratenen Gesetzeswortlaut - nicht "falsche Tatsachen" (ein Widerspruch in sich), sondern falsche Behauptungen über Tatsachen. 308 Im Übrigen geben sie die h. M. in Rechtsprechung und Literatur mit kritischen Anmerkungen wieder. 309 Zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Tatsachen und Urteilen bemerken sie, dass die h.M. von dieser Unterscheidung zahlreiche Ausnahmen mache; so werde mit Hilfe des Instruments der inneren Tatsache die grundsätzliche Ausgrenzung der zukünftigen Tatsache wieder zurückgenommen?10 Außerdem könnten Werturteile einen Tatsachenkern enthalten und deshalb für § 263 StGB in Betracht kommen?ll Der Kreis der von der h. M. ausgeschlossenen Äußerungen erweise sich somit als sehr klein 312 ; infolge der vorgenommenen Modifizierungen sei es zweifelhaft, ob das Begriffspaar Tatsache - Werturteil die gemeinte Grenze angemessen bezeichne?13 Nach Samson und Günther ist anerkannt, dass als Tatsachenbehauptung auch die Behauptung logisch oder naturwissenschaftlich unmöglicher Tatsachen zu gelten habe, wie z. B. die Behauptung, ein Gerät schütze vor Erdstrahlen oder der Behauptende besitze übernatürliche Kräfte?14 Sie gehen davon aus, dass die h.M. in Wahrheit nicht das reine Werturteil, sondern diejenigen Fälle aus dem Betrugstatbestand ausscheiden wolle, in denen die Entscheidung des Opfers angesichts der gelieferten Entscheidungsgrundlage extrem leichtfertig sei?15 Am Beispiel der Behauptung "unmöglicher Tatsachen" wollen sie aufzeigen, dass durch das Merkmal "Täuschung über Tatsachen" nicht dem Einfaltigen, der lediglich unfahig sei, die jedermann ins Auge springende Unwahrheit zu erkennen, sondern dem Leichtfertigen der Strafrechtsschutz entzogen werde. 316 Sie hinterfragen die formale Abgrenzung der Tatsachenbehauptungen von den Werturteilen und suchen nach dem dahinterstehenden "wahren" Grund dafür, bestimmte Äußerungen nicht dem Betrugstatbestand zu unterstellen. Hier wird der Gedanke des Opfermitverschuldens relevant: Wer auf Äußerungen vertraue, die durch keine tatsächlichen Grundlagen fundiert seien (Werturteile ohne Tatsachenkern), verdiene wegen der Leichtfertigkeit, die 308 309 310 311

312 313 314 315 316

In: In: In: In: In: In: In: In: In:

SK, SK, SK, SK, SK, SK, SK, SK, SK,

§ § § § § § § § §

263 263 263 263 263 263 263 263 263

Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.

7. 10 ff. 10 f. 12. 14. 17. 19 mit Rechtsprechungs- und Literatumachweisen. 18. 19; zustimmend Seelmann, JuS 1982, 268 (269).

78

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

er seinem Vermögen entgegenbringe, keinen Strafrechtsschutz?17 Das Kriterium des Vertrauensschutzes im rechtsgeschäftlichen Verkehr ist demnach entscheidend. Als Fazit der vorstehenden Ausführungen lässt sich feststellen, dass heute einhellig die Meinung vertreten wird, Unmögliches könne als Tatsache i. S. d. § 263 StGB vorgespiegelt werden. Es wird auf die behauptete objektive Gewissheit abgestellt, also darauf, dass auch Unmögliches als etwas objektiv hinreichend Bestimmtes hingestellt werden könne. Die tatbestandsbegrenzende Funktion der "Tatsache", insbesondere das ihr im 19. Jahrhundert beigelegte Merkmal des in besonderem Maße Sicheren, unverbrüchlich Feststehenden, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Eine nähere Untersuchung der einzelnen Kriterien des Tatsachenbegriffs erfolgt im Hinblick auf Unmögliches nicht. Die h. M. subsumiert darüber hinaus allgemein jede unglaubwürdige, leicht zu durchschauende Äußerung dem Betrugstatbestand. In Kapitel 5 wird diese Problematik, die unter dem Topos "Opfermitverschulden" diskutiert wird, behandelt. 5. Abweichende Definitionen des Tatsachenbegriffs

In neuerer Zeit gibt es vereinzelt Stimmen, die ein von der h. M. abweichendes Grundverständnis des Tatsachenbegriffs haben bzw. an einzelnen Merkmalen des herrschenden Tatsachenbegriffs Korrekturen vornehmen. Im Folgenden sollen die Konzeptionen Bitzilekis' und Pawliks dargestellt werden; diese Ansätze geben Anhaltspunkte für die Lösung der Problematik der "unmöglichen Tatsachen". a) Der Tatsachenbegriff Bitzilekis' Als Kritiker des herkömmlichen Tatsachenbegriffs ist Bitzilekis318 zu nennen. Wahmehmbarkeit, Beweisbarkeit und geschichtliche Existenz können seiner Ansicht nach nicht als entscheidende Abgrenzungskriterien des Tatsachenbegriffs fungieren. Gegen das Kriterium der sinnlichen Wahrnehmbarkeit, das aus der Erkenntnistheorie des Positivismus stamme319 , wendet er ein, es sei zu eng, um die Tatsache zu erfassen: Elemente der psychischen Welt, wie Absichten, Ziele und Präferenzen, seien ihrem Wesen nach nicht beobachtbare Zustände; beobachtbar seien nur ihre Auswirkungen, aus denen diese Elemente logisch zu schließen seien. 32o Psychische 317 318 319 320

In: In: In: In:

SK, § 263 Rn. 19. Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 29 ff. Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 31. Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 32.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

79

Faktoren und mentale Daten, im Inneren des Menschen ablaufende psychische Prozesse (eigenpsychische und fremdpsychische), seien etwas "Reales". Aber die Realität lasse sich nicht auf die Gegenstände und Vorgänge der Außenwelt und die seelischen Ereignisse und Vorkommnisse beschränken. "Es gibt noch eine andere Welt, die in Poppers dreigeteiltem Universum als Welt 3 im Gegensatz zu Welt 1 (der physikalischen Gegenstände und Zustände) und Welt 2 (der Welt der Bewußtseinszustände) bezeichnet wird und die ,Erzeugnisse des menschlichen Lebens' umfaßt.,,321 Diese Welt der objektiven Gedankeninhalte, insbesondere der wissenschaftlichen und dichterischen Gedanken und der Kunstwerke (Gedichte, Symphonien, Malereien), ist nach Popper keine Fiktion, sondern "wirklich" VOfhanden?22 Wenn jemand ein Buch lese, einen Text in eine andere Sprache übersetze, habe er mit einer Welt zu tun, die objektives Wissen enthalte, das wahr oder falsch sein könne. 323 "Um alle diese Realitäten zu erfassen, ist die Sinneswahrnehmung nicht das einzige oder ausschlaggebende Kriterium. ,,324 Weiter wendet sich Bitzilekis gegen die herkömmliche Auffassung, dass Werturteile nicht wahrheitsfahig seien. Man könne über Werte vernünftig debattieren, sie könnten wahr oder falsch sein, sie seien rational nachprüfbar. 325 Wenn also das Wahrheitskriterium ein Kriterium des Tatsachenbegriffs sei, dann seien Tatsachen nicht bloß naturwissenschaftlich fassbare Sachverhalte, sondern auch Institutionen, geistige Erzeugnisse und Wertesysteme, denn auch sie könnten als wahr oder falsch erwiesen werden. "Es folgt daher, daß wahr oder falsch nicht die Tatsache ist, sondern daß Tatsache ist, was wahr oder falsch sein kann. ,,326 Bei der Erörterung des nächsten Kriteriums des Tatsachenbegriffs, der Beweisbarkeit, stellt er den Zirkelschluss fest, der entstehe, wenn man die Tatsache mittels der Beweisbarkeit definiere, da Beweisgegenstand (im Zivilprozessrecht) eine Tatsache sei, die Beweisbarkeit also den Tatsachenbegriff voraussetze. 327 Im Zusammenhang mit dem dritten Kriterium der h. M., dem Erfordernis, dass das Geschehnis oder der Zustand der Vergangenheit oder der Gegenwart angehören müsse, stellt er die Frage, was zu einer solchen Definition berechtige, die jedes Zukünftige aus dem Tatsachenbegriff ausschließe. 328 Habe man im Tatsachenbegriff die Realitätsfrage berühren und die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft hinsichtlich der Realität deIbid. Popper, Objektive Erkenntnis, Kapitel 4, insbes. S. 161 ff., 165. 323 Bitzilekis, in: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 33, zitiert Popper, Objektive Erkenntnis, Kapitel 4. 324 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 33. 325 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 34 m. w. N. 326 Ibid m.w.N. 327 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 36 mit Fußnote 26. 328 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 36. 321

322

80

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

finieren wollen, so bedürfe es der Erklärung, warum das Vergangene, nicht aber das Zukünftige wirklich sei. 329 Alles, was existiere, sei in ständiger Bewegung, sei nicht Ruhe, sondern fortwährendes Werden. Das Zukünftige sei bereits im Gegenwärtigen, zugleich aber auch im Vergangenen enthalten?30 Unzutreffend wäre auch, die Tatsache dem bereits Geschehenen mit der Begründung gleichzusetzen, dass das Geschehene im Gegensatz zu dem Erwarteten sicher und gewiss sei. Was sich auf die Zukunft beziehe, sei nicht immer bloße Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, im Gegensatz zu dem, was der Vergangenheit oder der Gegenwart zugehöre. "Daß ich irgendwann sterben werde, ist genauso sicher und gewiß wie daß Aristoteles schon gestorben ist.,,331 Sprächen wir von objektivem Wissen, so meinten wir ein hypothetisch gut geprüftes und bewährtes Denken, das mit der Vernunft und dem Alltagsverstand in Einklang stehe. Dies beschränke sich nicht allein auf das Vergangene oder das Gegenwärtige, aber auch nicht auf alles, was der Vergangenheit oder Gegenwart zugehöre. Es sei zweifellos eine Tatsache, dass wir im Rahmen des Alltagsverstands sicher seien, dass die Sonne morgen über uns aufgehen werde oder dass das Wetter morgen regnerisch sein werde. Diese notwendige Hoffnung, die sich auf in der Vergangenheit wiederholt gemachte Beobachtungen oder auf wissenschaftliche Kenntnisse stütze, erzeuge größere Gewissheit als die auf die Vergangenheit bezogene Hypothese, dass z. B. Alexander der Große an Erkältung gestorben sei. "Entscheidend ist daher nicht die zeitliche Dimension einer Tatsache, sondern ihr Gewißheitsgrad .• .332 Nach dieser kritischen Erörterung der von der h. M. aufgestellten Kriterien einer Tatsache stellt Bitzilekis fest, dass diese auf ein und dasselbe zielten, nämlich die intersubjektive Nachprüjbarkeit und objektive Gültigkeit der Tatsache. 333 Während die Tatsachenbehauptung ein "etablierter Glaube", ein "pragmatischer Glaube" sei 334 , ein Glaube, der der Widerlegung widerstanden habe, sei das Werturteil ein Vorschlag, der sich noch keiner kritischen Untersuchung ausgesetzt habe?35 Die Tatsachenbehauptung suche nach Widerlegung, das Werturteil dagegen nach Akzeptanz. Die Tatsachenbehauptung sei eine Aussage, eine Hypothese, die der Überprüfung standgehalten habe. Ob sie diese Überlebenstüchtigkeit auch in der Zukunft erweisen werde, sei nicht entscheidend. Habe eine Theorie, eine In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 36 f. In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 37 m. w. N. 331 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 37. 332 Ibid. 333 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 39. 334 Bitzilekis, in: Festschrift für Hans Joachim Hirsch S. 40, zitiert Popper, Objektive Erkenntnis, Kapitell. 335 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 40. 329 330

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

81

Hypothese der rationalen Diskussion standgehalten, so führe diese Bewährung zu einer weitgehenden Akzeptanz, zu einer objektiven Einsicht, einer sog. Intersubjektivität. Diese bilde die objektive Basis, die Gewissheit innerhalb einer Kommunikationsgesellschaft schaffe, eine Objektivität, auf die sich jeder verlassen könne. "Wer sich also darauf verläßt, braucht strafrechtlichen Schutz für sein Vermögen. Von einer Täuschungshandlung kann im § 263 StGB nur dann die Rede sein, wenn jemand über etwas täuscht, das im Rahmen einer Kommunikationsgesellschaft als Gegebenes gilt.,,336 Übernatürliches, Okkultes - also Unmögliches - gilt in unserer Gesellschaft aber gerade nicht als "Gegebenes", es besteht gerade keine "weitgehende Akzeptanz" . Abschließend stellt Bitzilekis fest, dass auf der Stufe, wo man auf "Objektivierung" und Intersubjektivität stoße, wo man den Verständigungs- und Gewissheitsgrad in einer Diskussionsgemeinschaft erreicht habe, von Tatsachenbehauptung die Rede sei. 337 Wo der Tatsachenbegriff auftauche, bleibe er im Kern derselbe, möge er auch nicht überall dieselbe Bedeutung haben?38 b) Der normative Tatsachenbegriff Pawliks Pawlik339 hat eine von der h. M. erheblich abweichende Täuschungskonzeption vorgestellt. Aus seinem normativen Verständnis der betrügerischen Täuschung ergibt sich auch ein abweichendes Verständnis des Tatsachenbegriffs, den er auf den Boden einer normativierenden Konzeption stellt34o . Die von ihm vorgenommene Restriktion im Bereich der Täuschungshandlung kann für die in der vorliegenden Arbeit befürwortete Ausscheidung der Okkultbehauptungen aus dem Betrugstatbestand fruchtbar gemacht werden. Sein Tatsachenbegriff kann jedoch erst nach Darstellung seines Grundverständnisses der betrügerischen Täuschung voll erfasst werden; deshalb seien die folgenden Bemerkungen erlaubt. Pawlik versteht seine Lösung als einen systematisch fundierten Neuansatz im Bereich der Betrugsdogmatik. Auszugehen ist von seinem Verständnis der spezifischen sozialen Funktion des § 263 StGB: § 263 StGB reagiere auf das Problem der Regulierung der Informationsbeschaffung in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Rechtspersonen könnten sich 336 Ibid. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die inneren Tatsachen werden in Kapitel 8 dargestellt. 337 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 41 f. 338 In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch, S. 43. 339 Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999. 340

Pawlik, S. 93 ff., 100.

6 Thomma

82

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

in den Interaktionen, auf die sie sich zur Verwaltung ihres Vermögens einlassen dürften, das Wissen, das sie zur erfolgreichen Abwicklung ihrer Geschäfte benötigten, nicht zur Gänze selber verschaffen; sie seien in gewissem Umfang auf die Mitwirkung ihrer Interaktionspartner angewiesen?41 Diese Abhängigkeit des Opfers von der Wissensmitteilung durch andere legitimiere die Existenz des § 263 StGB unter freiheitstheoretischen Gesichtspunkten. 342 Sein Ansatzpunkt ist die Lehre von der objektiven Zurechnung; er will in seiner Arbeit zeigen, dass ohne diese Lehre und ihre betrugsspezifische Umsetzung kein Betrugsproblem systematisch befriedigend behandelt werden kann; der objektive Tatbestand bilde einen Anwendungsfall der Lehre von der objektiven Zurechnung?43 Seine Arbeit stellt den Versuch dar, den Begriff der Täuschung konsequent normativierend zu interpretieren. 344 Pawlik bemüht sich um die Aufstellung eines systematisch befriedigenden und inhaltlich umfassenden Systems von Kriterien für die Verteilung des Orientierungsrisikos im Bereich der betrügerischen Täuschung, durch das es gelingen soll, die Grenze, die den Bereich des Strafwürdigen vom NichtStrafbaren trennt, überzeugend aufzuweisen. 345 Er möchte sich bewusst von der Tendenz der herkömmlichen Betrugsdogmatik abheben, immer mehr Probleme in den Bereich des Vermögensschadens zu verlagern, was zu einer beträchtlichen Überforderung des Schadensbegriffs geführt habe. Es ist eine der Hauptthesen seiner Arbeit, dass die systematisch überzeugendere Alternative zu diesem Vorgehen darin bestehe, zunächst die Beschaffenheit der i. S. v. § 263 StGB unerlaubten Täuschung festzustellen und sodann die nachfolgenden Tatbestandsmerkmale anhand der Fragestellung zu interpretieren, in welchem Verhältnis sie zu der unerlaubten Täuschung stehen. 346 Zum Tatsachenbegriff führt Pawlik aus, dass der Begriff des möglichen Gegenstands der Täuschung von der h.M. nicht normativ, also unter Rückgriff auf Erwägungen über die Verteilung der Informationsbeschaffungszuständigkeiten zwischen Täter und Opfer, sondern vermittels der Kriterien von Beweiszugänglichkeit und Zeitbezug eingeführt werde. 347 In der Durchführung ihres Ansatzes zur Bestimmung des Tatsachenbegriffs weise die h. M. erhebliche Ungereimtheiten auf: Einerseits spreche sie bestimmten Umständen die Täuschungsrelevanz ab, die sie nach der Ausgangsdefinition eigentlich als Tatsache anerkennen müsste; dazu gehörten nicht nur allge341 342 343

344 345 346 347

Pawlik, Pawlik, Pawlik, Pawlik, Pawlik, Pawlik, Pawlik,

S. S. S. S. S. S. S.

84 sowie S. 185. 86. 3 f., 219. 65. 66. 3 f. 94.

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

83

meine und verschwommene Anpreisungen348 , sondern auch unwahre "taktische" Äußerungen in Verkaufsgesprächen349. Andererseits ziehe sie zahlreiche Gegebenheiten, die auf den ersten Blick Werturteile oder zukünftige Tatsachen darstellten, über den "Kunstgriff' der inneren Tatsachen doch unter den Betrugstatbestand. 350 Bemerkenswert ist seine Erkenntnis, dass sich die von der h. M. tatsächlich praktizierte Grenzziehung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil, die darauf hinauslaufe, im Wesentlichen nur Fälle übertriebener Anpreisungen und marktschreierischer Reklame sowie falsche Rechtsausführungen vor Gericht aus dem Tatsachenbegriff herauszunehmen, ohne die normative Verteilung der Orientierungsrisiken auf die Beteiligten, d. h. ohne die Abgrenzung von Zuständigkeitsbereichen, nicht begründen lasse?51 Aufgrund seines normativen Verständnisses der Täuschungshandlung gelangt er zu dem Ergebnis, dass sich aus der Aufgabe, das "Ausleben" der eigenen Bedürfnisse zu kontrollieren, auch die Obliegenheit ergebe, die eigenen Handlungsmaximen jedenfalls in einem gewissen Umfang an den sozial geltenden Rationalitätsstandards zu orientieren; die Täuschung des Abergläubischen unterfalle daher grundSätzlich nicht dem § 263 StGB. Mit diesem Ergebnis setzt er sich in Widerspruch zur Rechtsprechung und herrschenden Lehre. Ebenso wenig dürfe der suggestiven Kraft von Werbeaussagen widerstandslos nachgegeben werden?52 Pawlik gelangt somit zu dem auch in der vorliegenden Arbeit vertretenen Ergebnis der Ausscheidung irrealer Äußerungen aus dem Betrugstatbestand, und zwar ebenfalls mittels eines restriktiven Verständnisses des Begriffs der betrügerischen Täuschungshandlung. 6. Zusammenfassung

Sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Rechtslehre besteht seit In-Kraft-Treten des RStGB eine gefestigte Auslegung des Tatsachenbegriffs. Bezüglich der Einbeziehung innerer sowie der Ausscheidung "zukünftiger Tatsachen" besteht seit der lahrhundertwende weitgehend Einigkeit. Aus dem Kreis der Tatsachenbehauptungen werden im Wesentlichen nur marktschreierische Reklame bzw. übertriebene Anpreisungen sowie Rechtsausführungen vor Gericht ausgeschieden?53 Äußerungen, die auf Un348 Vgl. nur Blei, Strafrecht 11, Bes. Teil, S. 222; LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 15; Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 9. 349 So Bockelmann, Strafrecht BT 1, S. 66; ders., ZStW 79 (1967), 28 (33); zustimmend Kühne, Geschäftstüchtigkeit oder Betrug?, S. 9 f. 350 Pawlik, S. 94. In Kapitel 8 wird dieser "Kunstgriff" ausführlich erörtert. 351 Pawlik, S. 95 f. mit zahlreichen Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen. 352 Pawlik, S. 158.

6*

84

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

mögliches gerichtet sind, werden dagegen ganz überwiegend dem Begriff der Tatsachenbehauptung subsumiert; in Fällen des Okkultschwindels erfolgt in der Regel keine kritische Auseinandersetzung mit dem Tatsachenbegriff. In neuerer Zeit haben Bitzilekis und Pawlik abweichende Konzeptionen des Tatsachenbegriffs bzw. der betrügerischen Täuschungshandlung entwickelt, die sich auch auf die Behandlung "unmöglicher Tatsachen" auswirken.

x. Versuche einer Reform des Betrugstatbestands Seit dem In-Kraft-Treten des RStGB im Jahre 1871 sahen vier der Entwürfe zur Reform des StGB, die auch den Besonderen Teil betrafen, die Einfügung eines Arglistmerkmals in den Betrugstatbestand vor. 354

1. Der Entwurf 1909 Bei der Beschreibung der Täuschungshandlung in § 276 Abs. 1 E 1909 wurde auf den Tatsachenbegriff verzichtet und statt dessen zur Vereinfachung des Tatbestands das Merkmal "arglistige Täuschung" eingeführt; begründet wurde dies mit den "unfruchtbaren Unterscheidungen und Streitfragen", zu denen der Tatsachenbegriff geführt habe?55 Er habe die erhoffte Abgrenzung des strafbaren Bereichs der Täuschung nicht leisten können. Außerdem habe der Ausdruck "Vorspiegeln" die Frage aufgeworfen, ob hierfür die bloße wissentliche Behauptung einer falschen Tatsache als wahr genüge oder ob eine besondere Veranstaltung, ein Mehr als die bloße Lüge zu verlangen sei?56 Dennoch war man sich einig, dass sich auch die "arglistige Täuschung" auf Tatsachen beziehen müsse; allgemeine Anpreisungen und Urteile sollten weiterhin ausgenommen bleiben; dies ergebe sich aus dem Begriff der arglistigen Täuschung, weil jene nach den Gewohnheiten des Verkehrs nicht unter den Begriff der Arglist fallen könnten?57 Durch die Zusammenfassung der Täuschungsmittel im Begriff "arglistige Täuschung" werde weder eine Erweiterung des Tatbestands noch eine Einengung nach der subjektiven Seite herbeigeführt. 358 Das Arglistmerkmal wurde jedoch heftig kritisiert; einerseits wurde die damit verbundene Einen353 Vgl. Pawlik, S. 95; Seier, Der Kündigungsbetrug, S. 247; SK-Samson/Günther, § 263 Rn. 16, 16 a. 354 V gl. Ellmer, S. 82. 355 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1909, Bes. Teil, S. 411

(761).

Ibid. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1909, Bes. Teil, S. 411 (762); ausführlich Ellmer, S. 82. 356 357

D. Die Geschichte des Tatbestandsmerkmals "Tatsachen"

85

gung der Betrugsstratbarkeit gerügt 359 , andererseits die Extension des Tatbestands auf nicht strafwürdiges Verhalten36o . Diese konträre Beurteilung des Arglistmerkmals zeigt die mit diesem Begriff verbundenen Unsicherheiten. 2. Die Entwüife 1913 und 1919 In den Entwürfen 1913 (§ 366) und 1919 (§ 376) wurde die arglistige Täuschung ausdrücklich auf Tatsachen beschränkt361 , ohne dass damit eine sachliche Änderung gegenüber dem geltenden § 263 StGB beabsichtigt war362 . Das Arglistmerkmal wurde rein subjektiv interpretiert ohne eigene restriktive Bedeutung. 363 3. Der Entwuif 1927 § 343 des E 1927 enthielt das Erfordernis der "Täuschung über Tatsachen". Sachlich sollte damit nichts am geltenden Recht geändert werden; insbesondere sollten allgemeine Anpreisungen und persönliche Werturteile, wie sie im Verkehr üblich seien und von niemandem aufs Wort geglaubt würden, nach wie vor den Tatbestand des Betrugs nicht erfüllen, da es sich nicht um eine Täuschung über "Tatsachen" handle. 364 358 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1909, Bes. Teil, S. 411 (762). V. Cleric, Betrug verübt durch Schweigen, S. 44 f., führte aus, dass gegen die Streichung des Merkmals der "Tatsache" keine ernstlichen Bedenken bestünden, da die Einschränkungen, die der Betrugstatbestand durch das Merkmal der Tatsache erfahren solle, regelmäßig schon unter anderen Gesichtspunkten vorgenommen würden. 359 Binding, GS 77 (1911), 22 (54). 360 Vgl. Kohler, GA 56 (1909), 285 (300), der den Wegfall des Merkmals "Vorspiegelung" kritisierte, da gerade mit diesem Merkmal zwischen strafrechtlichem und zivilrechtlichem Betrug differenziert werden könne. 361 Ebermayer, Der Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches, 1914, S. 78; Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1920, Erster Teil, S. 85 (zum E 1913), Zweiter Teil, S. 83 (zum E 1919). 362 Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1920, Dritter Teil (Denkschrift zu dem Entwurf von 1919), S. 325. Nach wie vor sollten allgemeine Anpreisungen und Meinungsäußerungen, wie sie im Verkehr üblich seien und von niemandem aufs Wort geglaubt würden, nicht den Tatbestand des Betrugs erfüllen; deshalb werde der Begriff der Tatsache beibehalten. 363 Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1920, Dritter Teil (Denkschrift zu dem Entwurf von 1919), S. 325, wonach die arglistige Täuschung - eine Wendung, die dem § 123 BGB entspreche - keine besondere Hinterhältigkeit des Täters fordere; jedes Erregen oder Unterhalten eines Irrtums, das den Gewohnheiten des redlichen Verkehrs widerspreche, falle darunter. Vgl. ausführlicher Ellmer, S. 84.

86

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

4. Der Entwurf 1936

Der nächste Entwurf, der ein Arglistmerkmal vorsah, war der E 1936. § 446 enthielt die Umschreibung "durch arglistige Täuschung oder durch

arglistiges Verschweigen der Wahrheit". Durch die Neufassung der Tathandlung sollten sprachliche und inhaltliche Bedenken beseitigt und der Tatbestand vereinfacht werden. 365 Die Differenzierung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen sollte aufgegeben werden mit der Begründung, eine scharfe Grenzziehung sei ohnehin nicht möglich; auch ein Werturteil könne die Behauptung der inneren Tatsache enthalten, der Sprecher halte sein Werturteil für zutreffend?66 Die Abgabe eines bewusst unzutreffenden Werturteils, beispielsweise durch eine sachverständige Persönlichkeit, könne viel gefährlicher und strafwürdiger sein als rein tatsächliche Behauptungen. 367 Durch die Begrenzung der Täuschung auf Tatsachen werde der Tatbestand viel zu eng; das normative Merkmal der Arglist umreiße den Tatbestand zwar weniger scharf, eröffne aber dem Richter die Möglichkeit, die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. 368 5. Der Entwurf 1962

Der E 1962 enthielt in § 252 das Merkmal "Täuschung über Tatsachen". Auf ein Arglistmerkmal wurde verzichtet, da ein solches Tatbestandsmerkmal zu unbestimmt sei. 369 Der Entwurf wollte am Tatbestand des Betrugs nichts ändern, sondern lediglich eine sprachliche Verbesserung bzw. Vereinfachung vornehmen. 37o Es war diskutiert worden, ob die Beschränkung der Täuschung auf Tatsachen aufgegeben werden sollte, wobei die Argumente denen zum E 1936 entsprochen hatten; Werturteile könnten u. U. viel bedeutsamer für Vermögensdispositionen sein als Tatsachenbehauptungen?71 364 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung, 1927, S. 177. 365 Dahm, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Bes. Teil, 1936, S. 458 (459); Gürtner, Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuchs (nicht veröffentlicht, um 1936), S. 275; vgl. auch Ellmer, S. 84. 366 Dahm, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Bes. Teil, 1936, S. 458 (460); Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuchs, S. 275. 367 Ibid. 368 Dahm, in: Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Bes. Teil, 1936, S. 458 (460), der auf die Bedeutung der Gesinnung des Täters abstellte; eingehend Ellmer, S. 85. 369 Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB), E 1962, mit Begründung, Bundesratsvorlage, 1962, S. 424. 370 Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB), E 1962, mit Begründung, Bundesratsvorlage, 1962, S. 423.

E. Werturteil und Meinungsäußerung contra Tatsache(-nbehauptung)

87

Diese Ansicht konnte sich letztlich nicht gegen die Befürchtung einer inadäquaten Ausdehnung des Tatbestands durchsetzen. 372 Die Tathandlung des § 252 E 1962 wird in Kapitel 4 näher analysiert. 6. Ergebnis

Trotz aller Kritik am Tatsachenbegriff konnte sich der Gesetzgeber nicht durchringen, ihn zu streichen und beispielsweise durch ein Arglistmerkmal zu ersetzen. Dies zeigt, dass der herrschende Tatsachenbegriff sich trotz gewisser Schwierigkeiten in der Praxis bewährt hat und die ihm zugewiesenen Aufgaben im Wesentlichen erfüllen konnte?73

E. Die Begriffe des Werturteils und der Meinungsäußerung als Gegensatz zur Tatsache(-nbehauptung) Wiederholt wurden die Begriffe "Werturteil" und "Meinungsäußerung" verwendet, und zwar als Gegensatz zur "Tatsache" bzw. zur "Tatsachenbehauptung". Dieses Gegensatzpaar ist in Rechtsprechung und Literatur seit langem gängig; es findet sich außer beim Betrugstatbestand insbesondere im Beleidigungsrecht374 . Unter die §§ 186, 187 StGB fallt nur das Behaupten bzw. Verbreiten ehrenrühriger Tatsachen durch Kundgabe an Dritte, wohingegen § 185 StGB alle Ehrverletzungen erfasst, die nicht unter die §§ 186, 187 StGB fallen, wie das Vorhalten ehrenrühriger Tatsachen unmittelbar dem dadurch Verletzten gegenüber sowie alle beleidigenden Werturteile oder Meinungsäußerungen, gleichgültig ob unmittelbar dem Betroffenen oder Dritten gegenüber. 375 Nach Hilgendoif scheint Feuerbachs Gegenüberstellung von "behaupteten Thatsachen" und "schimpflichen Urtheilen" bei der Darstellung der Verleumdung 376 die Hauptquelle für die spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum Allgemeingut der Strafrechtsdogmatik gehörende Differenzierung zwischen Tatsachen bzw. Tatsachenaussagen einerseits und Werturteilen andererseits gewesen zu sein?77 371 Dreher, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 8. Band, Bes. Teil, S. 35 f. 372 Ellmer, S. 86. 373 So auch Hilgendorf, S. 13, 58. 374 Vgl. nur RGSt 55, 129 (131); 67, 2; Gössel, Strafrecht Bes. Teil, Band 1, § 30 Rn. 13; LK-Herdegen, 10. Aufl., § 185 Rn. 2; SK-Rudolphi, § 186 Rn. 4. 375 Vgl. nur Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/l, Rn. 490, 508. 376 Seit der 4. Aufl. seines Lehrbuchs des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts aus dem Jahre 1808, vgl. die 14. Aufl., S. 466. 377 Hilgendorf, S. 46.

88

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

Im Folgenden soll in groben Zügen dargestellt werden, was die h. M. unter den Begriffen "Werturteil" und "Meinungsäußerung" versteht. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Werturteilsproblematik unterbleibt; eine solche würde weit in die Gebiete der (Rechts-)Philosophie und der Logik führen würde. Dies ist aus Raumgründen nicht möglich und außerdem entbehrlich, da für die hier behandelte Problematik und die vorgeschlagene Lösung der Begriff des Werturteils bzw. der Meinungsäußerung nicht grundsätzlich geklärt werden muss. Vielmehr kann mit der Begriffsbestimmung der h. M. gearbeitet werden.

I. Die Begriffsbestimmung der h. M. Zunächst erfolgt eine kurze Zusammenfassung des bisher über die Begriffe "Werturteil" und "Meinungsäußerung" Gesagten. Die Rechtsprechung verzichtet i. d. R. auf eine nähere Erläuterung der Begriffe des Werturteils und der Meinungsäußerung. Das Reichsgericht sprach in ständiger Rechtsprechung von "allgemeinen Urteilen und Meinungsäußerungen", die den Gegensatz zu den "Tatsachen" bildeten?78 Die beiden Ausdrücke werden zur Beschreibung der "Nicht-Tatsachen" bis heute überwiegend synonym verwendet. 379 Die h. M. in Rechtsprechung und Literatur verwendet den Begriff "Urteil" zudem synonym mit "Werturteil,,?80 Ferner wird festgestellt, dass die Grenze zur Tatsache bzw. Tatsachenbehauptung flüssig sei und in jedem Einzelfall festgestellt werden müsse; dies sei Sache tatrichterlicher Auslegung und Würdigung?81 Dies beruhe darauf, dass in jedem Werturteil die Behauptung einer (inneren) Tatsache enthalten sei, nämlich die Behauptung, der Urteilende sei von der Richtigkeit seines Urteils überzeugt. 382 Außerdem liege jedem Werturteil eine Tatsache bzw. ein Tatsachenkern zuVgl. nur RGSt 22, 158 (159); 24, 387 (388); 55, 129 (131); 67, 2. Aus der neueren Literatur vgl. nur Küper, Strafrecht Bes. Teil, S. 265; LKLackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 12; Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 9; Tröndle/Fischer, § 263 Rn. 4; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT/2, Rn. 496; vgl. auch Seelmann, JuS 1982, 268. Eine Differenzierung findet sich beispielsweise bei Gössel, Strafrecht Bes. Teil, Band 1, § 30 Rn. 16 ff. Nach Wenzel, NJW 1968, 2353 (2356), bilden Tatsachenbehauptungen und MeinungsäuBerungen den einzigen rechtlich erheblichen Gegensatz; Werturteile seien entweder als Tatsachenbehauptung oder als Meinungsäußerung zu qualifizieren. 380 Vgl. nur Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 9. Nach Hilgendorf, S. 114, ist diese Gleichstellung außerordentlich missverständlich; ein Werturteil sei nur ein Unterfall des Urteils; auch Tatsachenaussagen seien Urteile, vgl. S. 113. Völlig zu Recht weise Blei, Strafrecht 11, Bes. Teil, S. 222, darauf hin, das relevante Gegensatzpaar sei nicht Tatsachenbehauptung - Urteil, sondern Tatsachenurteil - Werturteil. Näher hierzu unter E. IV. 381 So bereits RGSt 67, 268 (270); aus der Literatur vgl. nur D. Meyer, MDR 1976,980 (981); SK-Rudolphi, § 186 Rn. 4. 378

379

E. Werturteil und Meinungsäußerung contra Tatsache(-nbehauptung)

89

grunde, auf der bzw. dem die Wertung beruhe?83 Zum anderen enthalte auch jede tatsächliche Behauptung ein Urteil bzw. ein Element der Meinungsäußerung, nämlich das Urteil des Behauptenden, dass die Sache sich so, wie behauptet worden, verhalte. 384 Es komme daher nicht entscheidend darauf an, ob die Äußerung ihrer Form nach als Behauptung einer Tatsache oder als Werturteil erscheine; maßgebend sei vielmehr, ob der Sinn der Äußerung einen objektivierbaren, gerichtlicher Beweisführung zugänglichen385 Kern äußerer oder innerer Tatsachen ergebe, über dessen Vorhandensein oder Fehlen beim Getäuschten unrichtige Vorstellungen erweckt werden sollten. 386 Würde diese Erkenntnis konsequent angewandt, wäre eine Grenzziehung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen überhaupt nicht möglich. Dennoch hält die ganz h. M. an der Unterscheidung fese 8?; jede Äußerung soll entweder der Kategorie der Tatsachenbehauptung oder der des Werturteils bzw. der Meinungsäußerung zugeordnet werden. In den gängigen Kommentaren und Lehrbüchern finden sich im Wesentlichen übereinstimmende Definitionen der Begriffe "Werturteil" bzw. "Meinungsäußerung" . Meist wird nach einer kurzen Beschreibung des Gegensatzpaars auf umfangreiches Rechtsprechungsmaterial verwiesen. Herdegen 388 definiert im Anschluss an Engisch 389 Meinungsäußerungen als Akte des Stellungnehmens, Fürwahrhaltens oder Dafürhaltens, Werturteile als Akte subjektiven, in Aussageform gekleideten Bewertens. Diese Erscheinungen gingen ineinander über; die sie bezeichnenden Begriffe seien i. d. R. austauschbar. 39o Maiwald versteht unter Werturteilen persönliche, noch nicht 382

Vgl. nur LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 12; Maurach/Schroeder/Maiwald,

§ 41 Rn. 31.

383 Vgl. RG, in: Rechtsprechung des RG, Band 5, 395; ferner BGHSt 12, 287 (291 f.), wo letztlich nach dem Grad der Bestimmtheit des zugrunde liegenden Tatsachenkerns und der Beweiszugänglichkeit unterschieden wurde. 384 Vgl. RGSt 29, 40 (41); 55, 129 (131 f.); Bockelmann, Strafrecht BT 1, S. 65 f.; LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 12. 385 Ebenso OLG Düsseldorf, JR 1965, 302 (303); Samsan, JA 1978, 469 (471); Sarstedt, Anmerkung zu BGH, LM § 186 StGB Nr. 3; weniger weit einschränkend Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 9, der auf das prozessuale Erfordernis der Beweiszugänglichkeit verzichtet. 386 LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 12;. 387 Kritisch zum Gegensatzpaar Tatsache - Werturteil SK-Samson/Günther, § 263 Rn. 17 ff. Die herrschende Abgrenzung der Tatsachenbehauptung vom Werturteil wird grundsätzlich angezweifelt von Kühler, AcP 172 (1972), 177 (199); Päm, NJW 1979,2544 (2546 ff.); Wenzel, NJW 1968, 2353 ff.; ders., AfP 1979,276 ff. 388 In: LK, 10. Aufl., § 185 Rn. 3. 389 In: Festschrift für Richard Lange, S. 401 (404 f.). 390 Herdegen, in: LK, 10. Aufl., § 185 Rn. 3 mit Verweis auf RGSt 64, 10 (12); 67,2; BGHSt 12,287 (291) und BVerfGE 61, 1 (7).

90

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

zu Erfahrungssätzen konsolidierte Schlüsse, die aus Tatsachen gezogen werden; sie seien subjektiv gefärbt und könnten nicht Grundlage einer Täuschung sein, denn sie wollten mit ihrer bewusst persönlichen Note nicht an die Stelle von Tatsachenbehauptungen treten?91 Weiter führt er aus, dass der Begriff "Werturteil" in diesem Zusammenhang nicht notwendig im Sinne einer normativen (moralischen, rechtlichen) Bewertung zu verstehen sei; unter "Werturteil" seien in einem weiteren Sinne auch Äußerungen zu verstehen, die erkennbar eine persönliche Meinung des Betreffenden wiedergäben, also etwa Prognosen, Wertangaben u. ä. 392 Dies gelte nicht für Äußerungen, die (stillschweigend) einen objektivierbaren Tatsachenkern enthielten; entscheidend sei stets, wie die Äußerung vom Empfängerhorizont her zu sehen sei. 393 Nach herkömmlicher Ansicht ist maßgebliches Kennzeichen eines Werturteils die fehlende Wahrheitsfähigkeit; ein Wahrheitsbeweis sei also ausgeschlossen?94 Wertungen und Werturteile könnten nicht "wahr" oder "falsch" sein, sondern allenfalls "richtig" oder "unrichtig,,?95 Tatsachenaussagen können dagegen "wahr" oder "falsch" sein, je nachdem, ob das, was sie aussagen, tatsächlich der Fall ist. 396 Das Abgrenzungskriterium zur Tatsache bzw. zur Tatsachenbehauptung ist somit die - bei Werturteilen fehIn: Maurach/Schroeder/Maiwald, § 41 Rn. 30. In: Maurach/Schroeder/Maiwald, § 41 Rn. 32. 393 Ibid. 394 Vgl. nur RGSt 35, 227 (232); 64, 10 (11); Arzt, JuS 1982,717 (719): Werturteile sind eben "Ansichtssache", d. h. sie entziehen sich dem Wahrheitsbeweis; LKHerdegen, 10. Aufl., § 185 Rn. 2 a.E.; Hilgendorf, S. 230: Werturteile als solche sind dem Wahrheitsbeweis nicht zugänglich; dagegen kann der deskriptive Bestandteil eines Werturteils u. U. als zutreffend bewiesen werden; wird die negative Wertung davon getragen, so ist der Wahrheitsbeweis geführt; bei einem reinen Werturteil kann dasselbe angenommen werden, wenn eine bestimmte, das Werturteil tragende, aber nicht geäußerte Tatsachenaussage (die "Tatsachenbasis") als wahr erwiesen wird. 395 Hilgendorf, S. 22, 171; ebenso z.B. BGR, NJW 1978, 751 (die "Richtigkeit" lasse sich aber meist nicht exakt feststellen); anders RG, JW 1921, 1530: Die "Richtigkeit" eines rein subjektiven Werturteils kann nicht angegriffen und nicht nachgeprüft werden. Vgl. auch Staudinger-SchäJer, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl., § 824 Rn. 13, der "unwahr" und "unrichtig" gleichsetzt; Werturteile seien nicht "richtig oder falsch"; eine Wertung könne "annehmbar oder nicht annehmbar", "vertretbar" bzw. noch "diskutabel" sein, vgl. § 824 Rn. 15, 21. Hilgendorf, S. 171, weist darauf hin, dass Prädikate wie "richtig" oder "gültig" nicht in einem einheitlichem Sinne verwendet würden; die Analyse der verschiedenen Verwendungsformen von "Geltung" oder "Richtigkeit" bei Werturteilen falle in den Zuständigkeitsbereich der Moral- oder Rechtsphilosophie. 396 Hilgendorf, S. 171; vgl. auch S. 115 zu den verschiedenen Wahrheitstheorien. Zum Wahrheitsbegriff in der Rechtswissenschaft vgl. Adomeit, JuS 1972, 628 ff. und W. Meyer, JuS 1973, 202 ff. 391

392

E. Werturteil und Meinungsäußerung contra Tatsache(-nbehauptung)

91

lende - Beweisbarkeit. Eine im Vordringen befindliche Meinung hält indessen auch bei Werturteilen einen Wahrheitsbeweis für möglich?97 Dies wird insbesondere im Beleidigungsrecht bei § 185 StOB relevant; es wird ausgeführt, dass die erwiesenen Tatsachen das Werturteil als Schlussfolgerung tragen müssten; zutreffenden Kommentaren und durch das Verhalten des Ehrträgers gerechtfertigten Werturteilen, die sich im Rahmen seines Fehlverhaltens hielten und keine überschießende negative Bewertung enthielten, komme der Charakter einer Beleidigung nicht ZU. 398 Das auf ein gegebenes ehrminderndes Verhalten des Ehrträgers bezogene kongruente negative Werturteil enthalte keine Ehrverletzung; dies gelte nicht nur, wenn die Bewertung lediglich die Schlussfolgerung aus mitgeteilten Tatsachen sei, sondern auch dann, wenn das Werturteil zwar nicht mit einer Tatsachenmitteilung verbunden sei, aber erkennbar einen bestimmten gegebenen ehrmindemden Sachverhalt betreffe. 399 Bei Lenckner findet sich die Bemerkung, dass negative Werturteile keine Missachtung enthielten, wenn sie sich auf ein ehrminderndes Verhalten des Betroffenen bezögen und in dem Sinne richtig (angemessen) seien - einen "Wahrheitsbeweis" gebe es hier nicht -, dass sie durch den fraglichen Sachverhalt getragen würden, d. h. keine überschießende Abwertung zum Ausdruck brächten. 4OO Somit liege schon tatbestandsmäßig keine Beleidigung vor, wenn ein negatives Werturteil in dem Sinne "richtig" sei, dass es durch die erkennbar zugrunde liegenden Tatsachen getragen werde. 401 Abwertende, aber tatsachenadäquate Urteile sind nach dieser Ansicht straflos, weil sie keine schutzwürdigen Interessen des anderen verletzten. 402

397 So etwa Blei, Strafrecht 11, Bes. Teil, S. 104; Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 211 ff., der einen Richtigkeitsbeweis auch bei reinen Werturteilen für zulässig hält. Ausführlich zur Wahrheit von Werturteilen Zippelius, in: Festgabe für Theodor Maunz, S. 507 ff.; vgl. auch Bihler, Rechtsgefühl, System und Wertung, S. 122 ff.; Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, S. 183 ff. Nach F. Kaufmann, Methodenlehre der Sozialwissenschaften, S. 97, 104 ff., ist ein Werturteil wahr, wenn der präzidierte Wert gilt. Vgl. auch Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 313 ff., 320 ff., der infolge eines Wertnihilismus zu der Annahme gelangte, Werturteile seien immer falsch. Dagegen sind für Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 112, Werturteile immer wahr, wenn das Subjekt seinem Wertgefühl entsprechend aussagt, das Werturteil also seinem subjektiven Gefühl entspricht. 398 OLG Frankfurt, JR 1972, 515 (516) mit zustimmender Anmerkung von Hirsch, JR 1972,516 f.; zustimmend auch Blei, Strafrecht 11, Bes. Teil, S. 104. 399 Hirsch, JR 1972,516 (517); Sch/Sch-l..enckner, § 185 Rn. 7. 400 In: Sch/Sch, § 185 Rn. 7. 401 l..enckner, in: Gedächtnisschrift für Peter Noll, S. 243 (246). 402 Ibid.

92

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

Nach herkömmlicher Ansicht ist dagegen der Wahrheitsbeweis bezüglich der das negative Werturteil belegenden Tatsachen höchstens für die Strafzumessung bedeutsam.403 11. Hilgendorfs Ansatz zur Kategorisierung

menschlicher Äußerungen

Hilgendorf hat sich ausführlich mit der Analyse von Werturteilen und Meinungsäußerungen sowie den Abgrenzungsproblemen zu den Tatsachenaussagen auseinander gesetzt. 404 Er legt dar, dass die Abgrenzungsprobleme auch auf der fehlenden Differenzierung zwischen "Tatsache" und "Tatsachenaussage" beruhen dürften; die Parallelisierung des Ausdrucks "Tatsache" mit sprachlichen Konstrukten wie "Urteil" oder "Meinungsäußerung" beruhe auf einem Kategorienfehler und sei logisch verfehlt. 405 Er spricht sich gegen eine Gleichsetzung der Begriffe des Werturteils und der Meinungsäußerung aus; für ihn bilden Meinungsäußerungen eine Mischklasse, die neben den Werturteilen auch bestimmte Tatsachenaussagen umfasst. 406 Wie bereits in der Einleitung erwähnt, schlägt er eine neue Differenzierung innerhalb der Tatsachenaussagen vor, nämlich die Unterscheidung von (betrugsrelevanten) Tatsachenbehauptungen und (betrugsirrelevanten) Meinungsäußerungen. 407 Tatsachenbehauptungen sind nach Hilgendorf nur solche Tatsachenaussagen, die mit einem uneingeschränkten Geltungsanspruch auftreten; die Kategorie der Meinungsäußerungen soll alle Äußerungen umfassen, die nicht mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern mit offenkundig vermindertem Geltungsanspruch auftreten und so deutlich sichtbar den Charakter einer persönlichen Stellungnahme aufweisen. 408 Maßstab für den Geltungsanspruch einer Äußerung soll die Einschätzung durch einen durchschnittlich gebildeten und geschäftserfahrenen Bürger sein409 , wobei eine wirklich exakte Methode, den mit einer Behauptung er403 So RGSt 35, 227 (232); 64, 10 (11); RG, JW 1934, 692; Schönke/Schröder, 16. Aufl., § 185 Rn. 21. Nach Sch/Sch-Lenckner, § 185 Rn. 7, wird von dieser Ansicht verkannt, dass die einem ehrmindernden Sachverhalt kongruente negative Bewertung den Betroffenen in seinem - ihm tatsächlich zustehenden - Geltungswert ebenso wenig beeinträchtigen könne wie das Vorhalten der fraglichen Tatsachen selbst. 404 Hilgendorf, Kapitel 13 zur Analyse von Werturteilen, Kapitel 14 zu Wertbegriffen und Werturteilen im Strafrecht, insbes. S. 179 ff. zu den typischen Abgrenzungsproblemen zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen, sowie Kapitel 15 zu den Meinungsäußerungen. 405 Hilgendorf, S. 126. 406 Hilgendorf, S. 185, 186 f., 203. 407 Hilgendorf, S. 14. 408 Hilgendorf, S. 186 f., 203.

E. Werturteil und Meinungsäußerung contra Tatsache(-nbehauptung)

93

hobenen Geltungsanspruch zu messen, nicht existiere41O • Dieser verminderte Geltungsanspruch liege bei allen Werturteilen vor, da sie nicht empirisch nachprüfbar seien411 , außerdem grundsätzlich bei Aussagen, die nach dem Verständnis eines maßstabs gemäßen Beobachters in besonderer Weise unglaubwürdig seien412 . Ausnahmen sind nach Hilgendoif zu machen, wenn der Getäuschte aus Alters- oder sonstigen Gründen besonders schutzwürdig erscheint; in diesen Fällen einer besonderen Schwächesituation sei die konkrete Gefährlichkeit der täuschenden Aussage unter Zugrundelegung einer individuellen Opferperspektive zu berücksichtigen. 413 Es sei zu prüfen, ob der Irrtum aus individueller Opferperspektive grob fahrlässig erscheine; wenn ja, liege keine betrugsrelevante Tatsachenbehauptung vor, sondern lediglich eine betrugsirrelevante Meinungsäußerung, § 263 StGB sei also zu verneinen. 414 Mittels der Unterscheidung von betrugsirrelevanten Tatsachenaussagen (Meinungsäußerungen) und betrugsrelevanten Tatsachenbehauptungen könne die Abschichtung von erlaubter Geschäftstüchtigkeit und verbotenem Betrug, die der Gesetzgeber mit der Verwendung des Wortes "Tatsache" vergebens sicherstellen wollte, auf vergleichsweise einfachem Wege erreicht werden. 415 Es bestehen Bedenken gegen die Differenzierung zwischen Tatsachenaussagen und Tatsachenbehauptungen nach dem Geltungsanspruch; der Gesetzeswortlaut bietet keinen Anhaltspunkt dafür, Erwägungen zum Opfermitverschulden am Tatbestandsmerkmal der Täuschungshandlung festzumachen. In den Kapiteln 4 und 7 werden die Einwände gegen Hilgendoifs Konzeption eingehend dargestellt.

Hilgendorf, S. 199. Hilgendorf, S. 204. 411 Hilgendorf, S. 22, 187. Auch in BVerfG, NJW 1992, 1442 (1443), wurden Werturteile ausdrücklich als Meinungsäußerungen betrachtet. 412 Hilgendorf, S. 200. 413 Hilgendorf, S. 200. 414 Hilgendorf, S. 203. 415 Hilgendorf, S. 200. Nach LK-Tiedeman, § 263 Rn. 13, können mit dem Kriterium des Geltungsanspruchs in der Tat Ergebnisse erzielt werden, die der h.M. entsprechen, von ihr aber unterschiedlich - häufig mit dem Kriterium der Verkehrsauffassung - begründet werden Die Behandlung bestimmter Äußerungen "wie" Tatsachenbehauptungen durch die h. M. sei methodisch trotz des unerfreulichen Anscheins einer Analogie nicht wesentlich von dem Kriterium des Geltungsanspruchs verschieden, dessen Minderung bei Hilgendorf von der Annahme einer beweisbaren Tatsachenbehauptung zur Annahme einer bloßen Meinungsäußerung (Bewertung) führe: Der Geltungsanspruch sei in aller Regel nur und erst durch die Verkehrsauffassung zu ermitteln. 409

410

94

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

IH. Problematisierung der vorgebrachten Abgrenzungskriterien Bei der Abgrenzung zwischen Tatsachen(-behauptungen) und Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen spielen häufig andere Gesichtspunkte als die konsequente Anwendung der aufgestellten Kriterien die entscheidende Rolle. Die h. M. greift beispielsweise inkonsequenterweise nicht bei jedem Werturteil und jeder Prognose auf die Behauptung einer inneren Tatsache, nämlich der Überzeugung des Behauptenden von der Richtigkeit des Urteils bzw. vom sicheren Eintreten des Ereignisses, zurück, sondern nur in bestimmten Konstellationen, ohne offen den Grund für diese Vorgehensweise zu nennen. 416 Ausgehend von der Definition der Tatsache als das einem gerichtlichen Beweisverfahren Zugängliche wird ferner im Zusammenhang mit den §§ 186, 187 StGB ausgeführt, dass der Gedanke des Opferschutzes eine Rolle bei der Bestimmung des einem gerichtlichen Beweisverfahren Zugänglichen spiele. 417 Bei allgemein gehaltenen ehrenrührigen Behauptungen soll im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbeweis nicht das ganze Leben des Opfers durchleuchtet werden; daraus erkläre sich die Neigung der Gerichte, bei allgemein gehaltenen Behauptungen und bei Peinlichkeit des Wahrheitsbeweises für das Opfer ein Werturteil anzunehmen. 418 Umgekehrt könne die Annahme einer Tatsachenbehauptung statt eines Werturteils bei allgemein gehaltenen Äußerungen insofern nahe liegen, als ihre Unrichtigkeit dann als offenkundig oder gerichtskundig behandelt und auf diese Weise eine Beweiserhebung vermieden werden könne. 419 Der presserechtliehe Gegendarstellungsanspruch, der nur bei Tatsachenberichten gewährt werde, setze im Interesse des Persönlichkeitsschutzes eine extensive Interpretation des Tatsachenbegriffs auf Kosten des Werturteils voraus, während bei den §§ 186, 187 StGB gerade umgekehrt eine ebenfalls im Interesse des Persönlichkeitsschutzes vorgenommene restriktive Interpretation der Tatsache zugunsten des Werturteils vorgenommen werde. 42o Die Abschichtung der Tatsachenbehauptungen von Werturteilen führe in ein Labyrinth gegenläufiger Interessen. 421 Ausführlich hierzu in Kapitel 8. Arzt, JuS 1982, 717 (719). 418 Arzt, JuS 1982, 717 (719); vgl. auch BOH bei Dallinger, MDR 1955, 269, wonach die Beweiserhebung über die Wahrheit der ehrenrührigen Behauptung nicht Anlass sein dürfe, "ganz allgemein die angeblich schmutzige Wäsche der Beleidigten zu waschen." 419 Arzt, JuS 1982,717 (720). 420 Ibid. 421 Arzt, JuS 1982,717 (719). 416

417

E. Werturteil und Meinungsäußerung contra Tatsache( -nbehauptung)

95

Hier wird deutlich, dass vielfach prozessuale Gründe hinter der Abgrenzung und Zuordnung von Äußerungen stehen und die in Wahrheit maßgeblichen Gesichtspunkte sind. Auch im Zivilrecht zeigt sich die Tendenz, vom gewünschten Ergebnis her zu argumentieren und Billigkeitserwägungen einfließen zu lassen. Zu erwähnen ist zunächst die Zuordnung von wissenschaftlichen Aussagen, ärztlichen Diagnosen und Sachverständigengutachten, die v. a. im Hinblick auf eine Widerrufsmöglichkeit von Bedeutung ist. Der Bundesgerichtshof lehnt die Möglichkeit eines Widerrufsanspruchs weitgehend ab mit der Begründung, es handle sich um Werturteile. 422 Das Gutachten könne seinen Charakter als Werturteil allerdings verlieren, wenn der Sachverständige seine Methoden oder speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten "grob leichtfertig" anwende. 423 Diese Ansicht hat Kritik erfahren; es sei nicht nachvollziehbar, wie ein Werturteil allein aufgrund von Leichtfertigkeit, also eines subjektiven Elements in der Person des Sachverständigen, in eine Tatsachenbehauptung solle umschlagen können. 424 Steifen stellt im Zusammenhang mit § 824 BGB fest, dass früher bei Abgrenzungsschwierigkeiten der Grundsatz gegolten habe, die fließenden Grenzen zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil im Interesse des Ehrenschutzes zugunsten der Tatsachenbehauptung möglichst weit zu ziehen. 425 Hier ist zu beachten, dass bei § 824 BGB das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, relevant wird. Die Einordnung einer Aussage als Tatsachenbehauptung entscheidet über den Umfang des haftungsrechtlichen Schutzes für den Kritisierten und über die Freiheit zur Kritik; dieses grundgesetzliehe Spannungsverhältnis zwischen Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit spielt bei der Bestimmung des Begriffs der Tatsachenbehauptung mit hinein. 426 Steifen stellt jedoch fest, dass dieser Grundsatz nicht mehr gelte; die Anschauungen hätten sich gewandelt. Die Meinungsfreiheit habe heute einen höheren Stellenwert, als ihr ältere Erkenntnisse zugestanden hätten; Ehrenschutz und Freiheit zur Kritik seien als Werte gleichen Rangs gleich schutzwürdig.427 Die vorzunehmende BeVgl. BGH, NJW 1978,751 (752); 1989,774 (775); 1989,2941 (2942). So BGH, NJW 1978, 751 (752); offen gelassen in BGH, NJW 1989, 774 (775); 1989, 2941 (2942). 424 LarenziCanaris, § 88 1. 3. b), die ein abweichendes Abgrenzungsmodell vertreten und ein "Wissenschaftsprivileg" befürworten, wonach die Deliktshaftung für wissenschaftliche Äußerungen auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt sei, vgl. § 79 1. 2. d). Vgl. auch Mertens, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl., § 824 Rn. 26 ff. 425 In: BGB-RGRK, § 824 Rn. 20 unter Hinweis auf RGSt 67, 268 (270); BGHZ 3, 270 (273); BGH, NJW 1951, 352. Vgl. auch Staudinger-SchäJer, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl., § 824 Rn. 16. 426 Steifen, in: BGB-RGRK, § 824 Rn. 20. 422 423

96

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

wertung habe schon an dieser Stelle das Interesse beider Seiten zu berücksichtigen; schon der Begriff der Tatsachenbehauptung sei an den Bedürfnissen der Kritikerfreiheit mitzumessen. 428 Diese Ausführungen zeigen, dass der Tatsachenbegriff bzw. der der Tatsachenbehauptung den verschiedenen Bedürfnissen und Interessenlagen des jeweiligen Rechtsgebiets angepasst wird, obwohl dieser Begriff an sich in der ganzen Rechtsordnung gleich zu verstehen sein soll. Eine Abgrenzung zu den Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen wird folglich nicht ausschließlich nach formalen Kriterien getroffen. IV. Abgrenzungsversuche bei der "Eideslehre" gegen Ende des 19. Jahrhunderts Erwähnenswert erscheinen noch die Versuche, den Gegensatz zur "Tatsache" zu bestimmen und zu formulieren, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Bereich der Zivilprozessordnung unternommen wurden. Stein sprach 1893 davon, dass die Eideslehre gegenwärtig der Ort sei, an dem die Bestimmung des Gegensatzes zur Tatsache versucht werde. 429 Er verwies auf die §§ 410, 415, 437 ZPO a.F. sowie darauf, dass auch bei allen anderen Beweismitteln nur die Tatsache Beweisgegenstand sei. 43o Nach § 410 ZPO a. F. war die Eideszuschiebung, also der Parteieid auf Antrag einer Partei431 , nur über Tatsachen zulässig. Bei der Abgrenzung der Zeugen von den Sachverständigen habe man sich in früherer Zeit mit derselben Frage beschäftigt: Zeugen sollten schlechterdings nur Tatsachen berichten, ohne zu urteilen, Sachverständige hingegen nur urteilen, ohne zu berichten. 432 Dann sei jedoch erkannt worden, dass ein unerreichbares Ziel gesucht worden war: Tatsache und (logisches) Urteil seien gar keine Gegensätze. 433 Zur Begründung führte Stein aus, dass auch die einfachste Sinneswahrnehmung erst zum Urteil über den Sinneseindruck verarbeitet sein müsse, ehe sie für 427 Ibid. Auch Staudinger-SchäJer, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl., § 824 Rn. 16, stellt fest, dass dieser Grundsatz nicht der neueren Rechtsente wicklung entspreche. 428 Steifen, in: BGB-RGRK, § 824 Rn. 20. 429 Das private Wissen des Richters, S. 7. 430 Ibid. 431 Wilmowski/Levy, Zivilprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz für das Deutsche Reich, Erster Band, 10. Titel. 432 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 7, verwies beispielsweise auf WetzelI, System des ordentlichen Civi1prozesses, S. 529 f. 433 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 8; ebenso Schuppe, in: Gruchots Beiträge, Jg. 30 (1886), 233 f.; Wilmowski/Levy, Zivilprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz für das Deutsche Reich, Erster Band, 10. Titel Anm. 1; vgl. auch Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 43.

E. Werturteil und Meinungsäußerung contra Tatsache( -nbehauptung)

97

die praktischen Zwecke des Prozesses brauchbar werde; somit träten dem Richter die Tatsachen als Behauptungen der Parteien oder als Aussagen Dritter entgegen, also als Urteile von Menschen über die Tatsachen, als Ergebnis einer Schlussfolgerung, die nie ganz fehlen könne. 434 Somit bestehe kein Unterschied zwischen Tatsache und Urteil, sondern alle Tatsachen(-behauptungen) seien Urteile. 435 Schon Staub diskutierte 1886 das Problem der Grenze zwischen Tatsache und Urteil bei der Eideslehre; er stellte fest, dass in Wissenschaft und Praxis den Tatsachen die Urteile gegenübergestellt würden, die von der Eideszuschiebung ausgeschlossen seien.436 Auch er führte aus, dass im Sinne der Logik Urteile und Tatsachen keine Gegensätze seien. 437 Die Wissenschaft fasse aber konstant und einmütig die Begriffe Tatsache und Urteil als Gegensätze auf, was Staub in seinen folgenden Ausführungen auf einen unterschiedlichen Sprachgebrauch der logischen und der juristischen Wissenschaften zurückführte. 438 Hierzu ist zu bemerken, dass die h. M. in Rechtsprechung und Lehre bis heute an diesem Gegensatzpaar festhält. Zwar hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass nicht Tatsache und Werturteil, sondern Tatsachenaussage bzw. -behauptung und Werturteil entgegenzusetzen sind; das Anliegen, die Abgrenzung durchzuführen und in jedem Einzelfall eine eindeutige Zuordnung vorzunehmen, wird trotz der Einsicht, dass jede Tatsachenbehauptung ein Urteil und jedes (Wert-)Urteil eine tatsächliche Behauptung enthält, beibehalten. V. Parallelen zur Abgrenzung zwischen Sachverständigen und Zeugen

.Vereinzelt wird bei der Diskussion um den Gegensatz zwischen Tatsache(-nbehauptung) und Werturteil bei § 263 StGB der Unterschied zwischen Zeugen und Sachverständigen im Prozess herangezogen. 439 Im Pro434 Das private Wissen des Richters, S. 8, 11; ebenso KleinfeIler, Die geschichtliche Entwicklung des Tatsacheneides in Deutschland, S. 284: Die Fernhaltung eines jeden Urteils ist bei der Zeugenaussage nicht möglich, da jede Wahrnehmung auf Urteilen beruht. Vgl. ausführlich Rupp, Der Beweis im Strafverfahren, S. 5-20; OAG Lübeck, in: Seuffert's Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten, Band 1, Nr. 139; Band 3, Nr. 213; Band 7, Nr. 19; RG, in: Seuffert's Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten, Band 45, Nr. 226. 435 Stein, Das private Wissen des Richters, S. 11; zuvor wies er auf die Ungenauigkeit des Gesetzes hin, "Tatsachen" und "tatsächliche Behauptung" gleichzustellen. 436 JW 1886, 131. 437 JW 1886, 131 (132). 438 JW 1886, 131 (133 ff.); ebenso Wilmowski/Levy, Zivilprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz für das Deutsche Reich, Erster Band, 10. Titel Anm. 1. 7 Thomma

98

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

zess ist Zeuge, wer, ohne durch eine andersartige Verfahrensrolle von dieser Position ausgeschlossen zu sein, vor dem Richter seine Wahrnehmungen über Tatsachen durch Aussage kundgeben soll.44o Der Sachverständige hilft kraft seiner Sachkunde dem Gericht bei der Beurteilung einer Beweisfrage. 44 ! Er teilt Erfahrungssätze und Forschungsergebnisse aus seinem Wissensgebiet mit oder beurteilt den mitgeteilten Sachverhalt aufgrund der Erfahrungssätze seines Wissensbereichs. 442 Der Zeuge hat hingegen i. d. R. über Vorgänge zu berichten, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen443 ; Gegenstand des Zeugenbeweises sind Tatsachen, nicht aber bloße Meinungen, Schlussfolgerungen, Werturteile oder Rechtsfragen444 . Der Zeuge gibt also Auskunft über die Wahrnehmung von Tatsachen. 445 Hier findet sich somit dieselbe Gegenüberstellung von Tatsachen bzw. Tatsachenbehauptungen und Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen. Es wird jedoch betont, dass die Beurteilung von Tatsachen, also die Anwendung des Erfahrungswissens zur sachverständigen Würdigung der Tatsachen zwecks Erstattung eines Gutachtens, lediglich der häufigste Fall der Sachverständigentätigkeit sei. 446 Nur für den Regelfall könne gesagt werden, dass der Zeuge Tatsachen feststelle, während der Sachverständige Schlüsse ziehe. 447 Schon die schlichte Mitteilung einer Tatsache könne ein Urteil sein; zuweilen beruhten auch Aussagen des Zeugen auf Schlüssen. 44g Ferner gehören zu den Aufgaben des Sachverständigen zuweilen auch Tatsachenfeststellungen; er stellt Tatsachen fest, die nur aufgrund besonderer Sachkunde wahrgenommen oder erschöpfend verstanden und beurteilt werden können. 449 Das Gegensatzpaar Tatsache( -nbehauptung) - Werturteil ist somit nur ein Gesichtspunkt bei der Abgrenzung dieser Beweismittel. Die Gleichsetzung So etwa Kohlrausch/Lange. § 263 Anm. 11. 1. RGSt 52, 289; Roxin. Strafverfahrensrecht. § 26 Rn. 1. 441 Roxin. Strafverfahrensrecht, § 27 Rn. 1. 442 Löwe/Rosenberg-Dahs. Strafprozessordnung, § 85 Rn. 3. 443 RGSt 47, 100 (106); 61, 114; Pfeiffer. in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, Einleitung Rn. 95. 444 Pfeiffer. in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, Einleitung Rn. 95. 445 RGSt 47, 100 (104 f.); 61, 114; Löwe/Rosenberg-Dahs. Strafprozessordnung, § 85 Rn. 3. 446 KleinknechtlMeyer-Goßner. Strafprozessordnung. Vor § 72 Rn. 7; Löwe/Rosenberg-Dahs. Strafprozessordnung, Vor § 72 Rn. 7; Senge. in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, Vorbem. §§ 72 ff. Rn. 3. 447 Roxin. Strafverfahrensrecht, § 27 Rn. 4. 448 Löwe/Rosenberg-Dahs. Strafprozessordnung, § 85 Rn. 7. 449 BGHSt 9, 292 (293); Löwe/Rosenberg-Dahs. Strafprozessordnung, Vor § 72 Rn. 6, § 85 Rn. 11; Roxin. Strafverfahrensrecht, § 27 Rn. 1. 439

440

F. Das Merkmal "Tatsache" im Beleidigungsrecht

99

dieser Problematik mit der im Rahmen des Betrugstatbestands vorzunehmenden Abgrenzung ist somit nicht in vollem Umfang zutreffend. Es finden sich hier jedoch ähnliche Abgrenzungsbemühungen, wobei die maßgebenden Begriffe ohne weitere Diskussion aus anderen Bereichen übernommen werden.

F. Das Merkmal "Tatsache" im Beleidigungsrecht In der vorliegenden Arbeit soll das Merkmal "Tatsache" schwerpunktmäßig im Betrugstatbestand untersucht werden. Doch auch in anderen Tatbeständen des Besonderen Teils des StGB spielt der Tatsachenbegriff eine Rolle, v.a. bei der üblen Nachrede und der Verleumdung, §§ 186, 187 StGB. Hilgendoif hat die Herausbildung des Merkmals "Tatsache" im Verleumdungstatbestand dargestellt. 45o An dieser Stelle soll nur auf einige Punkte eingegangen werden, die für die vorliegende Problematik aufschlussreich sind. Die Ausführungen stützen sich dabei auf Hilgendorfs Arbeit. Der Tatsachenbegriff tauchte auch im Beleidigungsrecht erstmals an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf. 451 In den Partikularstrafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts setzte sich der Begriff rasch durch, v.a. im Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813.452 Wiederum war das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 prägend; in § 156 wurde die Verleumdung in einer dem heutigen Tatbestand schon stark ähnelnden Weise geregelt: "Wer in Beziehung auf einen Anderen unwahre Tatsachen behauptet oder verbreitet, welche denselben in der öffentlichen Meinung dem Hasse oder der Verachtung aussetzen, macht sich der Verleumdung schuldig. ,,453 Bemerkenswert ist, dass im Gegensatz zum Betrug für die Verleumdung innere Tatsachen überwiegend anerkannt wurden. 454 Dagegen sollte Unmögliches, wie die Beschuldigung der Hexerei, nicht Gegenstand einer verleumderischen Tatsachenbehauptung sein können. Das Preußische Obertribunal stellte in einem Urteil zu § 156 PrStGB fest, dass "unmögliche Handlungen den Be450 Hilgendorf, Kapitel 3. Er bemerkt, dass Verleumdung und üble Nachrede im älteren Schrifttum noch nicht getrennt wurden, vgl. S. 39 mit Fußnote 19. 451 Hilgendorf, S. 42. 452 Hilgendorf, S. 41. 453 Hilgendorf, S. 42. 454 So die Erkenntnisse des Preußischen Obertribunals vom 19.11.1851 und vom 2.7.1852, GA 1 (1853), 571 unter 11: Nicht nur äußere, durch die Sinne wahrnehmbare Tatsachen, sondern auch die angeblich als vorhanden behauptete dolose Absicht oder die als leitend dargestellten Motive der äußeren Tatsachen können im Sinne des Gesetzes Tatsachen sein und in dieser Beziehung den Tatbestand des § 156 PrStGB erfüllen. 7*

100

Kap. 1: Die historische Entwicklung des Tatsachenbegriffs

weis der Wahrheit nicht gestatten und durch den Aberglauben nicht zu Thatsachen werden, welche Haß und Verachtung erregen können,,455. In diesem Sinn wurde der Tatsachenbegriff auch in den §§ 186, 187 des StGB für den Norddeutschen Bund ausgelegt, wobei ausdrücklich die Möglichkeit der Tatsache gefordert wurde. 456 Hier fand also ebenfalls eine Auseinandersetzung mit der Problematik der "unmöglichen Tatsachen" statt, die jedoch gegensätzlich entschieden wurde.

455 Urteil vom 3.3.1854, wiedergegeben bei Striethorst, Archiv für Rechtsfälle, Band 12 (1854), 205 (207). 456 F. Meyer, Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, Zu §§ 186, 187 Anm. 3; im Ergebnis ebenso Hahn, Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, § 186 Anm. 343.

Kapitel 2

Untersuchung des herrschenden Tatsachenbegriffs und Analyse der einzelnen Elemente im Hinblick auf "unmögliche Tatsachen", insbesondere "okkultistische" bzw. "parapsychologische Tatsachen" In diesem Kapitel soll der im vorigen Kapitel dargestellte Tatsachenbegriff der h. M. im Hinblick auf "unmögliche Tatsachen" - insbesondere "okkultistische" bzw. "parapsychologische Tatsachen" - untersucht werden. Die einzelnen Elemente des Tatsachenbegriffs werden dahin gehend analysiert, ob sie den Bereich des Unmöglichen, Übersinnlichen und Irrealen erfassen. Dabei wird mit der ganz h. M. in der Naturwissenschaft und der Rechtslehre davon ausgegangen, dass übernatürliche Phänomene nicht real existieren, also keine "Tatsachen" i. S. v. "konkreten, in die Wirklichkeit getretenen Vorgängen oder Zuständen" sind. Vielmehr soll untersucht werden, wie die h. M., die zur Beschreibung der betrügerischen Täuschungshandlung noch vielfach am Tatsachenbegriff ansetzt, mit der Problematik der Täuschung über Unmögliches umgeht, genauer gesagt, wie sie die Täuschung über unmögliche - insbesondere übersinnliche - Phänomene unter das Tatbestandsmerkmal "Täuschung über Tatsachen" subsumiert. Als Ergebnis ist vorwegzunehmen, dass die h. M. vom gewünschten Ergebnis her argumentiert - der Erfassung der Okkultbehauptungen als betrügerische Täuschungshandlungen - und mit dem von ihr aufgestellten Kriterien des Tatsachenbegriffs nicht ernst macht. Obwohl der Tatsachenbegriff einige Anhaltspunkte zur Ausscheidung auf Unmögliches gerichteter Behauptungen aus dem Kreis der Tatsachenbehauptungen bietet, nutzt die ganz überwiegende Meinung diese zur Restriktion des Betrugstatbestands nicht.

A. Der Begriff der okkultistischen und parapsychologischen Tatsachen Zunächst soll der häufig verwendete Begriff der okkultistischen bzw. parapsychologischen Tatsachen geklärt werden.

102

Kap. 2: Untersuchung des herrschenden Tatsachenbegriffs

I. "Okkultismus" und "Parapsychologie"

Zuerst sollen einige Bemerkungen zum Okkultismus und zur Parapsychologie erfolgen, da diese Begriffe in der Arbeit des öfteren verwendet werden. Die einschlägige Literatur ist zu umfangreich, als dass ein auch nur annähernd vollständiger Überblick über den Inhalt dieser Lehren gegeben werden kann. Deshalb seien von den zahlreichen Definitionsansätzen nur einige wenige wiedergegeben, wobei die unterschiedlichen Ausgangspunkte der Anhänger und der Gegner des Okkultismus bzw. der Parapsychologie hinsichtlich der Existenz okkulter Phänomene zu beachten sind. Der große Brockhaus definiert "Okkultismus" als "Lehre, daß es verborgene, in die heutige wissenschaftliche Systematik nicht einzugliedernde Tatsachen der Natur und des Seelenlebens gebe, die mit unbekannten Kräften und Ursachen verknüpft und häufig an besonders begabte Personen (Medien) gebunden seien."! Hierzu gehören v.a. außersinnliche Wahrnehmungen (Telepathie, Hellsehen), Fembewegungen (Psychokinese), Materialisationen, personen- und ortsgebundener Spuk, Erscheinungen, Doppelgänger. "Die okkulten Erscheinungen sucht man heute mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen (---+ Parapsychologie). ,,2 Brockhaus - Die Enzyklopädie weist eine sehr ausführliche Beschäftigung mit dem Okkultismus, seinen Erscheinungsweisen, neueren Entwicklungen, weltanschaulichen Grundlagen und der Diskussion über den Okkultismus auf. 3 Der Begriff des Okkultismus stellt danach eine zusammenfassende Bezeichnung für weltanschauliche Richtungen und Praktiken dar, die beanspruchen, das Wissen von und den Umgang mit den unsichtbaren, geheimnisvollen und von der Wissenschaft noch unerforschten Seiten der Natur und des menschlichen Geistes besonders zu pflegen. 4 Er ist eine modeme Erscheinung, im Unterschied zu Magie und Astrologie, die in früheste Menschheitskulturen zurückreichen. 5 Im großen Herder wird unter "Okkultismus" die Bezeichnung für die sog. okkulten Wissenschaften oder Geheimwissenschaften verstanden, die sich mit Erscheinungen der Natur und des Seelenlebens befassen, deren Einordnung in bekannte Zusammenhänge nicht möglich erscheint, namentlich mit rätselhaften leib-seelischen Fähigkeiten besonders veranlagter Menschen (Medien).6 Diese Fähigkeiten sind Wahrnehmungen außerhalb der bekannten Sinnesorgane (Telepathie, Hellsehen, Ahnungen, Wahrträume, Zweites Gesicht und Visionen) sowie materielle Bewirkungen ohne 1 2

3 4 5

6

8. Band, S. 367. Der große Brockhaus, 8. Band, S. 367. 16. Band, S. 176--178. 16. Band, S. 176. 16. Band, S. 178. 6. Band, Sp. 1311.

A. Der Begriff der okkultistischen und parapsychologischen Tatsachen

103

erkennbare Vermittlung (Fernbewegungen von Gegenständen, sog. Telekinese, unerklärliches Beibringen von Objekten, sog. Apporte, oder Bildung von Phantomen, sog. Materialisation)? Die wissenschaftliche Erforschung der okkulten Phänomene heißt heute "Parapsychologie", die viele Einzelfälle solcher Erscheinungen als Selbsttäuschung, ja Betrug bezeichnen muss. 8 Die Parapsychologie ist eine Disziplin, die mit empirischen Methoden der Sozial- und Naturwissenschaften okkulte oder übersinnliche Erscheinungen kritisch auf ihren Tatsachengehalt hin untersucht und, sofern möglich, in den Rahmen geltender Erklärungsmodelle (Paradigmen) von Psyche und Natur einordnet. 9 Parapsychologische Erscheinungen werden unter zwei Fragestellungen untersucht: Zum einen unter der einer möglichen "Wahrnehmung außerhalb der bekannten Sinnesorgane", die in Telepathie, Hellsehen und Präkognition untergliedert wird, zum anderen unter der einer möglichen direkten Wirkung der Psyche auf physikalische oder biologische Systeme (Psychokinese und Telekinese).l0 Die Parapsychologie als Zweig der Psychologie befasst sich also wissenschaftlich mit den umstrittenen okkulten Erscheinungen, die bislang nicht unter bekannte und erklärbare Zusammenhänge eingeordnet werden konnten, und will die möglichen paranormalen Phänomene streng von denen der abergläubischen spiritistischen Praktiken scheiden. 11 Aus der parapsychologischen Literatur ist v. a. Hans Bender zu zitieren. Er führt aus, dass die "Parapsychologie", die Wissenschaft von den "okkulten" Erscheinungen, jene junge Teildisziplin der Seelenkunde sei, die sich mit der Untersuchung umstrittener Erlebnis- und Verhaltensweisen befasse, die das normale Erkenntnisvermögen und die normale Wirkungskraft der Psyche und des Leibes anscheinend überstiegen. Man spreche von parapsychischen Vorgängen und bringe mit der Vorsilbe para = neben zum Ausdruck, dass sie neben den uns vertrauten, mit den gewohnten Kategorien unseres Weltverständnisses begreiflichen Erscheinungen aufträten oder aufzutreten schienen. 12 Nach Bernd Bender befasst sich die Parapsychologie mit psychischen und psychophysischen Phänomenen, die sich gegenwärtig noch nicht mit Hilfe der wissenschaftlich allgemein akzeptierten Gesetzmäßigkeiten erklären oder verstehen lassen. 13 Anhänger der Parapsychologie gehen also davon aus, dass gewisse übernatürliche Phänomene tatsächlich Der große Herder, 6. Band, Sp. 1311. Der große Herder, 6. Band, Sp. 1311. 9 Brockhaus - Die Enzyklopädie, 16. Band, S. 567. 10 Ibid. 11 Der große Herder, 7. Band, Sp. 95. 12 In: ders. (Hrsg.), Parapsychologie, Entwicklung, Ergebnisse, Probleme, Vorwort S. XV. 13 NJW 1977, 1089. 7

8

104

Kap. 2: Untersuchung des herrschenden Tatsachenbegriffs

existieren und sich nur (noch) nicht mit den herkömmlichen Erkenntnismitteln beweisen lassen. Die Besonderheit der modemen Parapsychologie besteht somit darin, dass sie mit dem Anspruch auftritt, Wissenschaft zu sein. Mit Mystik soll sie nichts zu tun haben; ihre Methoden seien die alterprobten Wege aller Wissenschaften. 14 Gegner und Skeptiker sprechen dagegen der Parapsychologie jede wissenschaftliche Grundlage ab. Es fehle an dem für die Naturwissenschaft unentbehrlichen Kriterium der jederzeitigen Wiederholbarkeit der Demonstration dieser Phänomene unter gleichbleibenden Versuchsbedingungen, so dass die erforderliche Nachprüfbarkeit durch unabhängige Forscher nicht gegeben sei und allgemeingültige Aussagen, die eine wissenschaftliche Vorhersage gestatteten, gar nicht möglich seien. 15 Grundlegende methodische Mängel parapsychologischer Forschung verhinderten die Anerkennung der Parapsychologie als exakte Wissenschaft 16 ; es handle sich bei der Parapsychologie nicht um echtes wissenschaftliches Bemühen, sondern um Nachwehen tradierten Volksglaubens in wissenschaftlicher Einkleidung 17. In keinem einzigen Fall sei der wissenschaftlich exakte Beweis für die Existenz des "Übersinnlichen" erbracht worden. 18 Die Beweislast für diese Phänomene treffe nämlich die Parapsychologen; es sei nicht Sache des Skeptikers, sie zu falsifizieren, sondern der Parapsychologe habe ihre Existenz zu beweisen. 19

14 Driesch, in: H. Bender (Hrsg.), Parapsychologie, Entwicklung, Ergebnisse, Probleme, S. 93. 15 Wimmer, NJW 1979,587 (588). 16 Wimmer, NJW 1976, 1131 (1132); ders., NJW 1979, 587. 17 Wimmer, NJW 1976, 1131 (1132). 18 Hellwig, GA 71 (1927), 124 (128); Wimmer, NJW 1976, 1131 (1132); ders., NJW 1979,587 (589). 19 So schon Hellwig, Okkultismus und Wissenschaft, S. 7; ders., Okkultismus und Verbrechen, S. 19; zustimmend Wimmer, NJW 1979, 587 (589); ebenso LG Kassel, NJW 1985, 1642: "Wer sich auf parapsychologische Tatsachen beruft, deren Existenz jeglicher Lebenserfahrung widerspricht und deren Existenz auch durch naturwissenschaftliche Forschungen bislang nicht nachgewiesen werden konnte, den trifft die Beweislast für diese Tatsachen. Es ist nicht Aufgabe eines Skeptikers, jede absurde Behauptung zu widerlegen." A. A. B. Bender, NJW 1977, 1089 (1091), der - ausgehend von der Ansicht, dass übersinnliche Phänomene bereits wissenschaftlich nachgewiesen worden seien - behauptet, eine mit wissenschaftlichen Mitteln und in wissenschaftlicher Weise gewonnene Aussage sei so lange als zutreffend anzusehen, als sie nicht in gleichwertig wissenschaftlicher Weise falsifiziert worden sei.

A. Der Begriff der okkultistischen und parapsychologischen Tatsachen

105

11. Die Widersprüchlichkeit des Begriffs der okkultistischen und parapsychologischen Tatsachen

In der okkultistischen und parapsychologischen Literatur taucht der Begriff der okkultistischen bzw. parapsychologischen Tatsachen auf. 2o Auch Juristen, die sich mit der Parapsychologie befassen, verwenden diese Begriffe. 21 Dies ist jedoch falsch bzw. zumindest insofern missverständlich, als okkulte Phänomene entweder Tatsachen sind, also wirklich existieren, oder nicht existieren und dann gerade keine Tatsachen sind. Unter derartigen "Tatsachen" werden Phänomene verstanden, die sich mit den Naturgesetzen nicht erklären lassen bzw. die mit den normalen Sinnen nicht wahrgenommen werden können. Als Beispiele werden vor allem Erdentstrahlung, Gedankenlesen, Hellsehen, Hexenbannen, Kartenlegen, Telepathie, Wunderheilungen, Wahrsagen und Wünschelruten genannt. 22 Von Gegnern der Parapsychologie in der juristischen Literatur wird der Begriff der okkultistischen bzw. parapsychologischen Tatsachen gedankenlos gebraucht. Es wird nicht beachtet, dass der Begriff der Tatsache eben nur wirklich Geschehenes oder Bestehendes erfasst, was bei diesen Erscheinungen gerade nicht der Fall sein soll. Der Ausdruck "okkultistische" bzw. "parapsychologische Tatsachen" ist somit widersprüchlich. Zu nennen ist beispielsweise Wimmer, ein scharfer Gegner der Parapsychologie und Kritiker ihres Wissenschaftlichkeitsanspruchs. Er spricht von "parapsychischen Tatsachen,,23 und sorgt damit für Verwirrung, da er die Existenz bzw. die Erwiesenheit okkulter Phänomene strikt verneint. Schon Hellwig, gleichfalls ein Skeptiker, sprach von "angeblichen okkulten Tatsachen", hinter denen unerforschte, unbekannte Kräfte stecken sollen?4 Anschließend stellte er fest, die herrschende wissenschaftliche Richtung seiner Zeit gehe noch davon aus, dass der Wahrheitsbeweis für die "angeblichen okkulten Tatsachen" noch nicht erbracht worden sei. 25 Hellwig stimmte die20 Driesch, in: H. Bender (Hrsg.), Parapsychologie, Entwicklung, Ergebnisse, Probleme, S. 93 (99): "Paramentale" und "paraphysische Tatsachen". 21 Hellwig, Okkultismus und Verbrechen, S. 16 ff. ("okkulte" bzw. "okkultistische Tatsachen"); ders., Okkultismus und Wissenschaft, S. 9; Prokop/Wimmer, Der moderne Okkultismus, S. 271 ("parapsychologische Tatsachen"); Ueberhorst, DRiZ 1926, 233; Wimmer, NJW 1979, 587 (589) ("parapsychische Tatsachen"); Grochtmann spricht von "unerklär1ichen Tatsachen", vgl. z. B. S. 247, 262, 269. 22 Vgl. GroßIGeerds, Handbuch der Kriminalistik, Band I, S. 99 ff., 701; Geerds, in: Festschrift für Thomas Würtenberger, S. 341 (342 ff.) mit einem Überblick über die Erscheinungsformen des Aberglaubens. 23 NJW 1979,587 (589). 24 Okkultismus und Verbrechen, S. 17. 25 Okkultismus und Verbrechen, S. 18.

106

Kap. 2: Untersuchung des herrschenden Tatsachenbegriffs

ser Auffassung zu und nahm folglich an, dass es sich bei den angeblichen okkulten Phänomenen nur um scheinbar okkulte Phänomene handle, die bis zum Beweis des Gegenteils nicht als "okkult" zu betrachten seien. 26 Es müsse jedoch zugegeben werden, dass gewisse okkulte Erscheinungen, wenn auch nicht bewiesen, so doch immerhin möglich seien. 27 Obwohl Hellwig also davon ausging, dass die Realität dieser Phänomene nicht einwandfrei erwiesen sei, sprach er von "Tatsachen", zudem noch von "angeblichen", was nach der dargestellten Tatsachendefinition ein offenkundiger Selbstwiderspruch ist.

B. Analyse der einzelnen Merkmale des TatsachenbegrifTs "Tatsachen" sind nach der dargestellten allgemeinen Auffassung konkrete Vorgänge oder Zustände der Vergangenheit oder Gegenwart, die sinnlich wahrnehmbar in die Wirklichkeit getreten und daher dem Beweis zugänglich sind. 28 Im Folgenden sollen die einzelnen Merkmale des Tatsachenbegriffs daraufhin untersucht werden, ob sie Einschränkungen bei okkulten Behauptungen ermöglichen. Hilgendoif hat bereits eine ähnliche Analyse der Merkmale des Tatsachenbegriffs vorgenommen. 29 Dazu ist zu bemerken, dass er - wie die h.M. - häufig das erwünschte Ergebnis vorwegnimmt bzw. als gegeben voraussetzt, beispielsweise bei den Punkten "Wirklichkeit" und "sinnliche Wahrnehmbarkeit", bei denen er davon ausgeht, dass die behauptete Wirklichkeit bzw. die behauptete sinnliche Wahrnehmbarkeit ausreichend und entscheidend sei, ohne dass es auf die Möglichkeit der Wirklichkeit bzw. Wahrnehmbarkeit ankommen soll. Dies beruht darauf, dass seiner Ansicht nach nicht der Begriff der Tatsache - als Bestandteil der außersprachlichen Wirklichkeit - entscheidend ist, sondern sehr häufig der Begriff der Tatsachenaussage - ein sprachliches Konstrukt - in den Mittelpunkt zu rücken ist. 30 Eine Tatsache ist, was Gegenstand einer Tatsachenaussage sein Okkultismus und Verbrechen, S. 324. Ibid. 28 Vgl. nur RGSt 55, 129 (131); 67, 2; BGH, JR 1977, 28 (29); LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 10; Sch/Sch-Lenckner, § 186 Rn. 3; Wessels/Hettinger, Strafrecht BTIl, Rn. 492. 29 Hilgendorf, S. 116 ff. 30 Hilgendorf, S. 118; ebenso beispielsweise Wenzel, NJW 1968, 2353 (2354): Gegenstand der Betrachtung sind nicht Vorgänge oder Zustände als solche; nicht diese sind zu beurteilen, sondern lediglich Äußerungen; der Begriff der Tatsache ist 26

27

B. Analyse der einzelnen Merkmale des Tatsachenbegriffs

107

kann?! Der Tatsachenbegriff als solcher soll demgegenüber nur von sekundärer Bedeutung sein. Die heute noch h. M. setzt jedoch nach wie vor zur Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der betrügerischen Täuschungshandlung am Tatsachenbegriff an und definiert ihn. 32 I. "Vorgang oder Zustand"

Nach der oben dargestellten Formel der h.M. muss zunächst ein "Vorgang" oder "Zustand" vorliegen, damit es sich um eine "Tatsache" handeln kann. Dieses Erfordernis war nicht von Anfang an explizit in der Begriffsbestimmung enthalten. Das Reichsgericht sprach ursprünglich von "etwas Geschehenem oder Bestehendem,m, ohne die Begriffe "Vorgang" oder "Zustand" zu verwenden. In der Literatur des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts fanden sich die Begriffe des Verhältnisses und Ereignisses?4 Heute werden überwiegend die Begriffe "Vorgang" und ,,zustand,,35, aber auch "Geschehnis,,36 oder "Verhältnis,,37 zur Definition der "Tatsache" unerheblich. Für das Zivilprozessrecht Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 113 I. 2. 31 Ebenso schon Engelhard, Die Ehre als Rechtsgut im Strafrecht, S. 99, der vom Begriff der Tatsachenbehauptung ausging und zur Tatsache nur ausführte: "Über den Begriff der Tatsache an sich ist darnach nichts weiter auszuführen; Tatsache i.S.d. § 186 ist eben der Gegenstand der jeweiligen Tatsachenbehauptung." 32 Vgl. nur LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 10 f.; Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 8; TröndlelFischer, § 263 Rn. 2 f.; aus der Rechtsprechung vgl. nur RGSt 55, 129 (131); BGH, MDR 1973, 18; OLG Düsseldorf, wistra 1996, 32. 33 Vgl. nur RGSt 41, 193 (194); 55, 129 (131). 34 Vgl. z. B. Oppenhojf, Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, § 241 Anm. 47 zum Tatsachenbegriff des § 241 PrStGB; Rommel, Der Betrug, S. 17; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 263 Anm. 11. 1., sprach von Gegenständen, Zuständen und Ereignissen; Haager, GS 27 (1875), 561 (578), sprach im Zusammenhang mit dem Tatsachenbegriff von Verhältnissen, Zuständen, Eigenschaften und Ereignissen. Ein Ereignis wird vom Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 2, I. Aufl., S. 725, definiert als "etwas, was den normalen, alltäglichen Ablauf in bemerkenswerter Weise unterbricht und durch seine Ungewöhnlichkeit auffällt und in Erscheinung tritt; (bedeutsamer, denkwürdiger) Vorgang, Vorfall; Geschehnis". Nach Hilgendorf, S. 117, sind Ereignisse (zeitlich eng begrenzte) Vorgänge. 35 So Blei, Strafrecht 11, Bes. Teil, S. 221; Krey, Strafrecht BT 2, Rn. 339; Küper, Strafrecht Bes. Teil, S. 265. Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, S. 103 f., hielt eine Unterscheidung zwischen Vorgängen und Zuständen für überflüssig, da Zustände wie die Vorgänge historische Geschehnisse darstellten und auf ihre historische Wahrheit überprüft werden könnten. 36 So BGH, MDR 1973, 18; OLG Düsseldorf, wistra 1996, 32; LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 11; Maurach/SchroederlMaiwald, § 41 Rn. 27; Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 8; Seelmann, JuS 1982, 268; SK-Rudolphi, § 186 Rn. 3; TröndlelFischer, § 263 Rn. 2; aus dem Zivilprozessrecht vgl. z. B. Blomeyer, Zivilprozessrecht, Er-

108

Kap. 2: Untersuchung des herrschenden Tatsachenbegriffs

herangezogen. Es ist davon auszugehen, dass die verschiedenen Begriffe synonym verwendet werden sollen?8 Eine Definition dieser Ausdrücke findet sich allerdings in der Literatur in aller Regel nicht. Hilgend01f gibt zur Klärung die Definitionen des Duden wieder, der "Vorgang" definiert als "etwas, was vor sich geht, abläuft, sich entwickelt,,39 und "Zustand" als "augenblickliches Beschaffen-, Geartetsein; Art und Weise des Vorhandenseins von jemandem, einer Sache in einem bestimmten Augenblick; Verfassung, Beschaffenheit" bzw. "augenblicklich bestehende Verhältnisse; Lage, Situation,,4o. Ein "Vorgang" ist somit im Gegensatz zum "Zustand", der etwas Statisches, wenn auch nicht notwendig auf Dauer Unveränderliches darstellt41 , etwas in Veränderung Befindliches, sich Entwickelndes. Mehr lässt sich diesen Merkmalen nicht entnehmen. Hilgendorf weist darauf hin, dass die Ausdrücke "Vorgang" und "Zustand" nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht nur auf real Existierendes angewendet werden könnten, sondern genauso gut auf Phantasiewelten. 42 Als Beispiele führt er Äußerungen an wie, der Katzenkönig verlange ein neues Opfer43 oder man sei vom Sirius entsandt worden, um einige auserwählte Menschen zu retten44 • Diese Äußerungen betreffen nach seiner Auffassung bestimmte "Vorgänge oder Zustände" i. S. d. gängigen Tatsachendefinition.45 Ausgehend von der Definition des "Vorgangs" als "etwas, was vor sich geht, abläuft, sich entwickelt", beinhaltet der Begriff an sich das Merkmal der Realität, des wirklich vor sich Gehenden, ebenso der "Zustand" als "augenblickliches Beschaffen-, Geartetsein". Den Ausführungen Hilgendorfs kann jedoch gefolgt werden, da das Kriterium der "Wirkkenntnisverfahren, S. 351 ("jedes Geschehen, das sich einmal ereignete"); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 113 I. 1. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 42, bezeichnete ein Geschehnis als "flüchtig vorübereilend". Der Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 2. Aufl., Band 3, S. 1305, definiert das "Geschehnis" als "Ereignis, Vorgang". 37 BGH, MDR 1973, 18; TröndlelFischer, § 263 Rn. 2. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 42, verstand unter "Verhältnissen" etwas länger Währendes. Der Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 2. Aufl., Band 8, S. 3664, versteht unter Verhältnissen "Umstände, äußere Zustände; für jemanden, etwas bestimmende Gegebenheiten". 38 Wie die wiedergegebenen Erläuterungen im Duden zeigen, werden die Begriffe zur wechselseitigen Definition herangezogen. 39 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 2. Aufl., Band 8, S.3790. 40 Duden, 2. Aufl., Band 8, S. 4071. 41 So Hilgendorf, S. 116. 42 Hilgendorf, S. 117. 43 "Katzenkönig-Fall", BGHSt 35, 347. 44 "Sirius-Fall", BGHSt 32, 38. 45 Hilgendorf, S. 117.

B. Analyse der einzelnen Merkmale des Tatsachenbegriffs

109

lichkeit" des Vorgangs oder Zustands als eigenständiges Merkmal auftaucht. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Merkmal des "Vorgangs oder Zustands" außerordentlich weit verstanden wird. Nach Hilgendorf kann alles, was geschieht oder existiert oder was als geschehend und existierend hingestellt wird, Gegenstand einer Tatsachenaussage sein. 46 Zu beachten ist aber sein Ausgangspunkt, das Ansetzen am Begriff der Tatsachenaussage; für ihn ist deshalb maßgebend, ob etwas als Vorgang oder Zustand hingestellt wird.

11. "Konkretheit" des Vorgangs oder Zustands Der Vorgang oder Zustand muss nach der herrschenden Tatsachendefinition "konkret" sein. Dieses Merkmal findet sich schon von Anfang an in der Begriffsbestimmung des Reichsgerichts und wurde vom Bundesgerichtshof übemommen. 47 In der Literatur des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wurde die "Konkretheit" bzw. "Bestimmtheit" als maßgebliches Kriterium der Tatsache angesehen. 48 Hilgendorf hat die Vielgestaltigkeit des Wortfeldes "konkret" dargestellt. 49 Am treffendsten wird der Sinngehalt von "konkret" mit der Bedeutung "bestimmt" oder "substantiiert" wiedergegeben; in diesem Sinne wird er auch in der Literatur und Rechtsprechung verstanden. 50 Für den Begriff der Tatsache macht das Konkretheitserfordemis i. S. v. "Bestimmtheit" bzw. "Sustantiiertheit" jedoch keinen Sinn. "Tatsachen können nicht ,konkret' i. S. v. ,bestimmt' oder ,substantiiert' sein; diese Eigenschaft kann nur Tatsachenaussagen zukommen.,,51 Über etwas Geschehenes oder Bestehendes kann man nicht als etwas "Bestimmtes" sprechen. Dennoch wird sehr häufig in der Literatur und vor allem in der Rechtsprechung missverständlich von "konkreten" oder Hilgendorf, S. 117 f. Vgl. RGSt 16,368 (369); 22, 158 (159); 24, 387 f.; BGHSt 12,287 (291). 48 So Ellmer, S. 81 unter Hinweis auf Friedsam, Der Begriff der Thatsache im § 263 des Reichsstrafgesetzbuches, S. 37 f.; Rommel, Der Betrug, S. 18 f. 49 Hilgendorf, S. 118 f. 50 Aus der älteren Literatur vgl. v. Cleric, Betrug verübt durch Schweigen, S. 41 ff., der den Tatsachenbegriff durch die Momente der Bestimmtheit und der Bestimmbarkeit begrenzte, um die dem Tatsachenmerkmal zukommende restriktive Funktion für den Betrugstatbestand zu gewährleisten. Ferner Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Zweiter Band, Bes. Teil, S. 264; Liepmann, VDB IV (1906), 217 (255 f.); Rommel, Der Betrug, S. 17 ff.; aus der Rechtsprechung vgl. RGSt 29, 40 (41); RG, JW 1935, 2370 (2371); OLG Zweibrücken, JR 1989, 390 f. zur Frage, ob und wann in nicht genügend substantiiertem Tatsachenvortrag das Vorspiegeln falscher Tatsachen zu sehen ist. 51 Hilgendorf, S. ll9 f. 46

47

110

Kap. 2: Untersuchung des herrschenden Tatsachenbegriffs

"bestimmten" Tatsachen bzw. Geschehnissen, Verhältnissen oder Zuständen gesprochen. 52 Das Erfordernis der "Bestimmtheit" als Wesensmerkmal der Tatsache lässt sich historisch erklären und belegen. Wie in Kapitel 1 ausgeführt, wurde dem Tatsachenbegriff in den Materialien zum PrStGB das Merkmal der "Bestimmtheit" beigelegt. 53 Durch das Tatbestandsmerkmal "Tatsaehen" sollten allgemeine täuschende Anpreisungen ausgeschieden werden. Auch das Reichsgericht stellte wie bereits dargelegt den "Tatsachen" von Anfang an die "allgemeinen Urteile und Meinungsäußerungen" gegenüber und statuierte das bis heute geläufige Gegensatzpaar "Tatsache - Werturteil". Das Bestimmtheitserfordernis hängt ferner eng mit dem weiteren Kriterium der "Beweiszugänglichkeit" zusammen. Beweisen lässt sich nur etwas bestimmt Angegebenes. 54 Auf diesen Aspekt wird sogleich einzugehen sein. Hilgendoif führt wieder Phantasiewelten und Phantasiewesen bzw. Aussagen über solche als Beispiele an, wie "Es gab auf der Erde einmal fleischfressende Kühe", "Ich bin ein Bote des Sternes Sirius" oder "Es gibt geflügelte Pferde".55 Ausgehend von der Tatsachenaussage, die voraussetze, dass der behauptete Vorgang oder Zustand präzise, d. h. mit bestimmten Einzelmerkmalen, angegeben werde 56, soll es nicht angehen, solchen Äußerungen allein wegen ihres phantastischen Inhalts den Charakter von Tatsachenaussagen abzusprechen, da sie grundsätzlich empirisch verifizierbar bzw. falsifizierbar seien. Nach allgemeinen Sprachgebrauch seien diese Behauptungen noch als Tatsachenaussagen anzusehen. 57 Hilgendoif stellt somit fest, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit von Tatsachenaussagen sehr gering seien. 58 Um dennoch Einschränkungen hinsichtlich der Betrugsrelevanz VOn Äußerungen der zuletzt genannten Art vornehmen zu können, stellt er entscheidend auf den Zweck ab, den der Gesetzgeber bei der Verwendung des Tatbestandsmerkmals "Tatsache" verfolgte. Hilgendoif verweist auf den Leitgedanken bei der Differenzierung zwischen Beleidi52 Aus der Rechtsprechung vgl. RGSt 22, 158 (160); 29, 40 (41); 41, 193 (194); 64, 10 (12); BGHSt 12, 287 (291); BGH, MDR 1973, 18; OLG Zweibrücken, JR 1989, 390 (391); aus der Literatur vgl. schon Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Zweiter Band, Bes. Teil, S. 264; Rommel, Der Betrug, S. 17 ff.; Keller, JR 1989, 391 (392); Küper, Strafrecht Bes. Teil, S. 265; LK-Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 11; LK-Tiedemann, § 263 Rn. 14; Sch/Sch-Cramer, § 263 Rn. 8, 9; Tröndle/Fischer, § 263 Rn. 4, spricht von einem "konkreten Tatsachenkem". 53 Goltdammer, Materialien, S. 542. 54 So schon v. Lilienthai, VDB IV (1906), 375 (391). 55 Hilgendorf, S. 119. 56 Ibid. 57 Ibid. 58 Hilgendorf, S. 120.

B. Analyse der einzelnen Merkmale des Tatsachenbegriffs

111

gung und Verleumdung im frühen 19. Jahrhundert, nämlich dass Tatsachenbehauptungen für den jeweiligen Adressaten "gefährlicher" seien als persönliche Werturteile oder sonstige Meinungsäußerungen. 59 Diese Gefährlichkeit komme aber nur hinreichend substantiierten Aussagen zu. Somit sei zu fordern, dass die Äußerung hinreichend mit Informationen versehen sei, um aus der Sicht eines durchschnittlichen Empf