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German Pages 239 [241] Year 2011
Norbert Fischer / Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.)
Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers
Meiner
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2191-9
www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2011. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Umschlagfoto: © François Fédier. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.
Inhalt
Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Norbert Fischer Vorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers vor dem Hintergrund der geschichtlichen Situation . . . . . . . . . . . . .
11
Friedrich-Wilhelm von Herrmann Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Costantino Esposito Heidegger, von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Günther Pöltner Philosophie als ›Korrektion‹ der Theologie. Heideggers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie . . .
69
Paola-Ludovica Coriando Seinsbedürfnis. Der »letzte Gott« in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Johannes Brachtendorf Heideggers Metaphysikkritik in der Abhandlung »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Klaus Düsing Die Mythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Norbert Fischer Das Gewagtsein des Menschen. Die Rilke-Deutung Heideggers als Spur seines Denkens auf dem Weg der Gottesfrage . . . . . . . . . . . 149 Rainer Thurnher Heideggers Distanzierung von der metaphysisch geprägten Theologie und Gottesvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Albert Raffelt Martin Heidegger und die christliche Theologie. Eine Orientierung mit Blick auf die katholische Rezeption . . . . . . . 195
anhang Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
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Vorwort der Herausgeber Das Verlangen nach lebendiger Aneignung der tragfähigen Überlieferung war der Beweggrund, philosophische Seminare in Kloster Weltenburg durchzuführen, zumal diese Überlieferung unser Leben auch dann faktisch tragen kann, wenn wir gar nicht mehr explizit um sie wissen (vgl. SO I 12). Die Seminare waren von 2000 bis 2004 Augustins Confessiones gewidmet, von 2005 bis 2008 Kants Kritik der reinen Vernunft; seit 2009 haben sie ›die Frage nach Gott‹ im Blick, die uns Menschen gleichsam von Natur aus angeht – und demgemäß ein ›specialissimum humanum‹ ist. Die neue Reihe begann mit einem weiteren Seminar zu Kant (vgl. dazu Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, herausgegeben von Norbert Fischer und Maximilian Forschner). Im zweiten Seminar zur Gottesfrage, dessen Frucht hier vorgelegt wird, wurde untersucht, wie sie für Martin Heideggers Denken in mehreren Wegabschnitten zum Thema geworden ist. In den beiden kommenden Seminaren soll die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas (2011) und in der Dichtung von Rainer Maria Rilke (2012) thematisiert werden. Der vorliegende Band beginnt mit knappen Vorüberlegungen, die den Hintergrund der abendländischen Philosophiegeschichte betreffen, der in Heideggers Gottesfrage vorausgesetzt ist. Danach stellt Friedrich-Wilhelm von Herrmann den Umriß der Aufgabe des ganzen Buches dar, indem er die drei ›Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers‹ ins Auge faßt. Diesem grundlegenden Beitrag folgen Untersuchungen zu den vorgezeichneten Wegabschnitten. Alle Beiträge machen den hohen Rang von Heideggers Ringen um die Gottesfrage deutlich, das mit der abendländischen – christlich und griechisch geprägten – Denkgeschichte tief vertraut ist. Heidegger regt nicht nur dazu an, im Anschluß an sein Denken neue Wege der Beantwortung der Gottesfrage zu suchen, sondern auch dazu, sich eindringlicher mit dem genuinen Sinn der überlieferten Antworten zu befassen, die er in radikaler und eigen| 7
tümlicher Weise ausgelegt hat. Zu beidem, zum Versuch, Heideggers Wege der Gottesfrage zu verstehen, wie zur Aufgabe, tiefer in den Sinn der überlieferten Antworten einzudringen, bietet der vorliegende Band Stoff. Bemerkenswert ist zweifellos die durchgehend zentrale Stellung der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, das sich dadurch von der Gottvergessenheit mancher Zeitgenossen abhebt. Gewiß gilt für ihn auf seine besondere, geschichtlich bedingte Weise Augustins Wort (sol. 1,7); »deum et animam scire cupio« – ebenso wie Kants Hervorhebung der zwei Fragen, mit denen allein »wir es in einem Kanon der reinen Vernunft« zu tun haben (vgl. z. B. KrV B 831): die Frage nach Gott – verknüpft mit der Frage, wer wir Menschen wesentlich sind und zu sein haben – hat das Denken Heideggers von seinem Anfang an bis zu seinem Ende bewegt – und kann als eine der möglichen Formulierungen der Urfrage seines Denkens gelten. Der vorliegende Band knüpft in mancher Hinsicht an eine von denselben Herausgebern betreute Veröffentlichung an (Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema. Hamburg: Meiner 2006). Diese frühere Publikation steht hier im Hintergrund und ist auch dort zu beachten, wo die bearbeiteten Stationen dieser Tradition nicht ausdrücklich genannt werden. Zitiert wird grundsätzlich nach dem Text der Martin HeideggerGesamtausgabe (GA); wo dort auch die Originalpaginierungen mitgenannt sind, werden Zitate stets nach diesen ausgewiesen. Zu beachten ist bei Stellennachweisen (auch für andere zitierte Autoren) das Siglenverzeichnis. Heidegger zitiert Augustinus aus der MigneAusgabe (PL); wo Augustinus-Belege nicht direkt aus Heidegger übernommen werden, sind sie hier nach den Maßgaben des CAG wiedergegeben. Eckige Klammern in Zitaten kennzeichnen Hinzufügungen oder Auslassungen des Autors. Die Herausgeber danken den Mitarbeitern des Eichstätter Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie, die an der Druckvorbereitung mitgewirkt haben, dem Akademischen Rat Dr. Jakub Sirovátka und der Sekretärin Anita Wittmann, den wissenschaftlichen Hilfskräften Sr. Hanna-Maria Ehlers OCist, Florian Sassik und Elisabeth Wittmann, ihr auch für die Erstellung des Anhangs. Herzlich danken die Herausgeber dem Herrn Abt des Klosters Weltenburg, Thomas M. Freihart OSB, der die Seminare von Anfang 8 | Vorwort der Herausgeber
an freundlich begrüßte und ihre Durchführung über all die Jahre tatkräftig unterstützt hat. Mögen diese Seminare und die aus ihnen hervorgegangenen Publikationen der Verlebendigung der uns tragenden Überlieferung dienen. Die Herausgeber danken schließlich dem Verlag Felix Meiner für die Aufnahme ins Verlagsprogramm, insbesondere Herrn Horst D. Brandt für die Verlagsgespräche und Herrn Jens-Sören Mann für die wie immer angenehme Zusammenarbeit bei der Druckvorbereitung. Norbert Fischer Eichstätt / Wiesbaden
Friedrich-Wilhelm von Herrmann Freiburg
Vorwort der Herausgeber | 9
– Norbert Fischer –
Vorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers vor dem Hintergrund der geschichtlichen Situation 1. Zur Bedeutung der Gottesfrage für die Philosophie In einem Brief, den Martin Heidegger am 16. November 1971 an Max Müller geschrieben hat, beklagt er – wie ältere Professoren es auch heute tun – die Verschlechterung der Situation an der Universität, weiß sich aber unsicher, »ob es nur Empfindlichkeit des Alters ist, wenn ich finde, dort sei nichts mehr zu retten.«1 Bedenkenswerter als die Neigung zum Bejammern gegenwärtiger und zum Vergolden vergangener Zustände ist jedoch die Sorge um die Erhaltung der Lebendigkeit der jeweils tragenden Tradition im Blick auf die Zukunft. Heidegger sagt, nachdem er das Überhandnehmen des Forschungsbetriebs beklagt hat, im Blick auf diese wesentlichere Gefahr im erwähnten Brief weiter (ebd.): »Unheimlicher ist der drohende Abbruch der Überlieferung und deren Umfälschung zu einem bloßen Informationsbestand.« Heidegger sucht Orientierung an der Idee eines wesentlichen Lebens, wie sie in der Tradition begegnet und die er – denkend und mit kritischen Erwägungen – fortzuführen bemüht ist.2 Auch Überlieferung ist allerdings eine schillernde Sache, da sie nicht nur Anregung bietet, die zu Besserem führt. Goethes Faust erklärt bekanntlich zum überlieferten Erbe (vgl. Faust I. Nacht, V. 682–685): »Was du ererbst von deinen Vätern hast,/ Erwirb es, um es zu besitzen«. Goethe gibt diesem Wort aber eine Wendung, die den Nutzen als bestimmendes Kriterium des Sinns der Überlieferung ausweist: »Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,/ Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.« So wundert es nicht, daß Faust sich »der Magie ergeben« hat, weil es ihm »schier das Herz verbrennen« will, »daß wir nichts wissen können« (vgl. V. 364 f., 377). Ob und inwieweit Aneignung überlieferter Denkformen | 11
förderlich, nützlich oder schädlich ist, läßt sich nur in selbstdiagnostischem Bedenken der je eigenen geschichtlichen Situation und in einer gründlichen Prüfung der in Rede stehenden Überlieferung entscheiden. Überlieferung bedarf der Auslegung aus dem Blickwinkel der Selbstdeutung des Interpreten. Vor diesem Hintergrund ist schon Platons Wort zu verstehen, daß ein Interpret die Sache kennen und in der Lage sein müsse, das Geschriebene als minderwertig zu erweisen.3 Das Thema des vorliegenden Buches war schon der Titel eines Aufsatzes von Bernhard Welte.4 Nach Erscheinen dieses Aufsatzes ist das Schrifttum Heideggers weiter angewachsen und liegt jetzt zudem mit der Martin Heidegger-Gesamtausgabe in einem Umfang vor, der Generationen von Forschern anregen und beflügeln kann. Und Paola-Ludovica Coriando – eine exzellente Kennerin der Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) – beginnt ihre Auslegung dieser Schrift im vorliegenden Band mit dem Hinweis, die philosophische Welt stehe ›über zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung der Beiträge zur Philosophie mit gesteigerter Verlegenheit vor diesem Werk‹. In welchem Licht Heideggers Denken – auch im Blick auf die Gottesfrage – bei Beachtung aller Texte vor dem Hintergrund der philosophischen Tradition, die er wie wenige gründlich zur Kenntnis genommen und durchdacht hat, einst erscheinen wird, mag demnach eine offene und heute noch nicht zu beantwortende Frage sein. Heidegger selbst hat dazu durchaus unterschiedliche und spannungsreiche Hinweise gegeben. Faktisch haben seine Bezugnahmen auf überlieferte hochrangige philosophische Texte – wie es bei denkenden Lesern auch sein muß – sowohl destruktive als auch konstruktive Merkmale. Exemplarisch tritt dies an Kant und das Problem der Metaphysik hervor, einem Buch, das den seinerzeit noch fast gänzlich übersehenen metaphysischen Charakter der kritischen Philosophie betont, aber zugleich in der Absicht, ihre Probleme offenzulegen und über Kant hinauszudenken. Die intensive Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie, die das Phänomen des ›Nihilismus‹ in den Vordergrund rückte, führte ihn zu neuartigen Deutungen der Geschichte der Metaphysik. Demnach trägt sie, ohne es zu wissen, seit ihrem Ursprung in der Philosophie Platons, als dessen Gründungstext er die zentralen Gleichnisse der Politeia sieht, den 12 | norbert fischer
Keim des Nihilismus in sich.5 Diese Auslegungen mögen auch mit Gewaltsamkeiten einhergehen.6 Dennoch sind sie bedenkenswert, weil sie der unheimlichen Frage nachgehen, wie im Rahmen der Geschichte der Metaphysik am Ende das Phänomen des Nihilismus auftauchen konnte, innerhalb dessen dann auch das Wort vom ›Tod Gottes‹ zur Sprache kommt.7 Heidegger trägt zuweilen nicht nur dezidiert kritische, aber durchaus bezweifelbare ›Urteile‹ zur ›Metaphysik‹ Platons vor, die – um mit Worten Kants zu reden – keineswegs als ›dogmatische Metaphysik‹ bezeichnet werden kann.8 Er neigt gelegentlich auch dazu, Autoren vom Schlage Kants zu diskreditieren – explizit gegen dessen Selbstauslegung; was nicht für verboten gehalten werden muß, sofern kein Autor (also auch Heidegger nicht) sich und sein Denken in einer Weise verstehen kann, die nicht mehr hinterfragbar wäre. Einerseits sieht Heidegger in ›der‹ Metaphysik – diskreditierend, aber nicht in weltanschaulicher Kampfposition – den Beginn der Geschichte des Nihilismus, der zum ›Tod Gottes‹ geführt habe. Dabei gelangt er teilweise zu extremen Urteilen, die – wenigstens an der Oberfläche – für höchst ungerecht gehalten werden müssen. Solche Urteile finden sich in Heideggers Manuskripten zur Überwindung der Metaphysik (1938/39, jetzt GA 67), mit dem Titel Metaphysik und Theologie. Sie müssen schon deswegen kritisch hinterfragt werden, weil Heidegger in ihnen das ›Primat der reinen praktischen Vernunft‹ außer acht läßt, das für Kant gewiß eine tragende Rolle spielt.9 Außerdem übersieht Heidegger Kants scharfe Kritik der Onto-Kosmo-Theologie, die er in einem wesentlichen, aber selten beachteten Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft vorgetragen hat.10 Kants Gottdenken kann gerade nicht der »Rechnung und Erklärung« dienen, wodurch folgende Behauptung Heideggers angreifbar wird (GA 67,92): »Der Versuch, dem ›Glauben Platz zu machen‹ (Kant), ist nur die letzte Verstrickung in die Metaphysik und ihre Grundlosigkeit.« Immerhin sieht er selbst die Mängel einer Kritik, die fremden Ansätzen folgt, von außen an andere Autoren herangeht und nicht ihrem authentischen Denken zu folgen sucht (GA 65,187 f.). Ein Blick auf einige, in diesem Rahmen auch zufällig ausgewählte, Stationen dieser Geschichte mag vor den Untersuchungen Vorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 13
zu Heideggers Bedenken der Gottesfrage nicht unangebracht sein. Die Gottesfrage ist wenigstens seit dem Werk Platons eines der großen Themen der Philosophie. Vielleicht ist sie sogar das große Thema der philosophischen Überlieferung überhaupt, ohne das andere Themen ihre tiefere Bedeutung verlören. Diese Frage berührend hat Martin Heidegger in Beantwortung eines Schreibens von Max Müller am 4. November 1947 erklärt: »Was Sie von der ontologischen Differenz sagen, trifft. Darum spreche ich möglichst wenig davon. Die Gefahr, fehl zu denken, ist hier besonders groß. In der ersten Ausarbeitung des III. Abschnittes des 1. Teils von Sein und Zeit, wo die Kehre zu ›Zeit und Sein‹ sich vollzieht, nannte ich das Gemeinte die ›transzendenzhafte Differenz‹ in Bezug auf die transzendentale (ontologische im engeren Sinn) und die transzendente (theologische) Differenz. Der Titel war eine Verlegenheit wie der ganze damalige Versuch, der mit der onto-theologischen Basis der Metaphysik nicht durchkam. Es sind immer nur seltene und langsame Schritte, die in diesem unbegangenen Feld bisweilen glücken und noch öfters mißglücken.«11 Wenn wir uns entschlössen, die Beziehung zu Gott und Göttlichem im Blick auf unser eigenes Sein und das Sein der Welt ganz zu ignorieren oder zu verneinen, könnte das einen ungeahnten Bedeutungsverlust herbeiführen, der anderen philosophischen Fragen ihren Elan rauben würde. Als Frage nach Göttlichem ist die Gottesfrage aber sogar nach Nietzsche lebendig geblieben. Menschen, die philosophieren, streben nach einer Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe, die wir in dieser Welt nicht verwirklichen können, die uns so sehr als göttliches Ideal begegnet, daß Platon Philosophie überhaupt als o3moíwsi@ jeö/ kata1 to1 dunato2n bezeichnet hat (Theaitetos 176b). Daß in der heutigen Situation der »Abbruch der Überlieferung und deren Umfälschung zu einem bloßen Informationsbestand« nicht nur droht, wie Heidegger sagt, sondern schon weitgehend vollzogen ist, wird in der Öffentlichkeit kaum noch in seiner Unheimlichkeit wahrgenommen. Karl Rahner hatte in einer Meditation über das Wort ›Gott‹ gesagt, »das Einfachste und Unausweichliche in der Gottesfrage […] für den Menschen« sei »die 14 | norbert fischer
Tatsache, daß in seinem geistigen Dasein das Wort ›Gott‹ gegeben ist«.12 Rahner fragt, »ob einmal eine Menschheit existieren könne, in der das Wort ›Gott‹ schlechterdings nicht mehr vorkommt«. Dabei geht er zunächst davon aus, daß bei »uns jedenfalls […] dieses Wort da« ist, auch wenn wir mit dem bloßen Wort nicht viel anfangen können; zwar wirke es im Sprachgebrauch »wie eine Art Eigenname«, bei dem man »anderswoher wissen« müsse, »was damit gemeint ist« (SW 26,49 f.). Eine ›deiktische Geste‹, bei der wir auf die gemeinte Wirklichkeit wie bei einem ›Baum‹ oder einem ›Hund‹ zeigen könnten,13 ist im Blick auf ›Gott‹ nicht möglich.14 Da das Wort nichts über seinen Gehalt aussagt, sehe es »zunächst so aus, als ob das Wort uns anblicke wie ein erblindetes Antlitz« (SW 26,50). Nach Rahner hätte der Mensch im Vergessen Gottes »das Ganze und seinen Grund vergessen und zugleich vergessen, (wenn man so sagen darf), daß er vergessen hat«. Damit wäre zu sagen: »Er würde aufhören, ein Mensch zu sein. Er hätte sich zurückgekreuzt zum findigen Tier.« Oder wie Rahner dort positiv erklärt (SW 26,52): »Aber eigentlich existiert der Mensch nur, wo er, wenigstens als Frage, wenigstens als verneinende Frage, ›Gott‹ sagt.« Und noch einmal in Betonung der Unheimlichkeit, die mit dem Wort ›Gott‹ und mehr noch mit seinem Verlust verbunden ist (ebd.): »Der absolute, selbst seine Vergangenheit tilgende Tod des Wortes ›Gott‹ wäre das von niemandem mehr gehörte Signal, daß der Mensch selbst gestorben ist.« Wir Menschen sind aber nicht erst durch ein kontingentes Wort auf die Wirklichkeit Gottes bezogen, obwohl dem Wort hohe Bedeutung zukommt. Vielleicht sind wir durch unsere Lebenswirklichkeit schon immer und unausweichlich auf die Wirklichkeit Gottes ausgerichtet. Gewiß bedarf die Lebenswirklichkeit für uns Menschen der Worte, zumal sie selbst des Wortes bedarf, weil sie ohne jedes Wort wenigstens nicht in vollem Sinn vergegenwärtigt werden kann, wie Stefan George sagt: »Kein ding sei, wo das wort gebricht.«15 Dennoch müssen wir gestehen, daß Gottes Größe und Macht für uns unfaßlich bleiben und menschliches Räsonnieren nicht an die mit dem Wort gemeinte Wirklichkeit rühren kann. Das Wort ›Gott‹ könnte die Antwort auf die Lebenswirklichkeit sein, sofern diese von vornherein auf Gott bezogen ist (conf. 1,1), auch dann, wenn wir uns das nicht explizit bewußt machen und es nicht Vorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 15
wirklich denken können. Goethes Sinnspruch mag auch unabhängig vom Meinen und Sagen der Menschen gelten:16 Gottes ist der Okzident! Gottes ist der Orient! Nord und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände. Wer versucht, sein Denken auf ›Gott‹ zu richten, muß sich alsbald eingestehen, daß alle unsere Versuche, i h n zu ›denken‹ oder gar zu ›begreifen‹, zum Scheitern verurteilt sind. Im Wissen um die Schwierigkeiten in der Rede von Gott hat Augustinus in einer Predigt gesagt (s. 117,5): »de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis? si enim comprehendis, non est deus. sit pia confessio ignorantiae magis, quam temeraria professio scientiae. attingere aliquantum mente deum, magna beatitudo est: comprehendere autem, omnino impossibile.« Die Confessiones beginnen bekanntlich mit dem Lob der Größe Gottes, das der Autor aber nicht selbst ausspricht, sondern dem Psalter entnimmt. Er muß es dem Psalmisten nachsprechen, weil er sich für so unbedeutend hält, daß von ihm ausgesprochenes Gotteslob nur Anmaßung wäre; er muß die Worte einem gegebenen Text nachsprechen, weil sein faktisches Leben ihn gerade nicht zum Gotteslob anregt: faktisch lastet seine Sterblichkeit auf ihm, faktisch führt er ein verfehltes Leben – und überdies neigt er zum Hochmut. Augustinus begreift das Gotteslob, das er dennoch aussprechen will, demgemäß ursprünglich nicht als seine Tat, sondern als Antwort auf eine von Gott ausgehende Anregung und sagt (conf. 1,1): »tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.« Im Geiste von Augustins Beginn der Confessiones sagt Rainer Maria Rilke (KA 1,170 f.): Gott, Du bist groß, Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin, wenn ich mich in Deine Nähe stelle. In späten Schriften Heideggers zur Sprache finden sich gelegentlich auch versteckte Hinweise auf Gedanken großer Gottdenker: 16 | norbert fischer
im »Geheimnis der Sprache« scheint es Heidegger zugleich um das ›Geheimnis Gottes‹ zu gehen.17 Die Weise, wie »wir Menschen« nach Heidegger, »um die zu sein, die wir sind, in das Sprachwesen eingelassen bleiben und daher niemals aus ihm heraustreten können, um es noch von anderswoher zu umblicken«, und wie er dieses Nichtkönnen als einen »Vorzug« charakterisiert (WS 254 f.), ließe sich gut auf die ›Mauer des Paradieses‹ bei Nikolaus von Kues beziehen (VD 51).
2. Zum Ursprung der Gottesfrage und zu ihrer heutigen Situation Seit Platon hatte die Ausarbeitung von Gottesbeweisen lediglich apologetische Funktion gegen solche, die nicht an Gott glauben.18 Platon geht es nicht vor allem um die Absicherung der Existenz Gottes oder von Göttern (oder eines für sich selbst existierenden Göttlichen), sondern um die Zurückweisung ›zweier krankhafter Auffassungen über die Götter‹, nämlich daß sie sich entweder nicht um die menschlichen Angelegenheiten kümmerten oder sie sich durch Opfer und Gebete leicht umstimmen ließen.19 Bemerkenswerte, aber nur selten beachtete Überlegungen zum Verhältnis von göttlicher und menschlicher Freiheit hatte Platon schon in der Politeia vorgetragen – sozusagen in einem ersten ›theologischen Grundkurs‹ der abendländischen Philosophiegeschichte.20 Im Vorfeld von Untersuchungen zur Gottesfrage im Denken Heideggers wären mehrere Hinweise Platons zu beachten. Erstens ist zu erwähnen, daß Platon von Gott als ›dem Guten‹ und dem ›Urheber von allem‹ spricht (pa2ntwn ai6tio@).21 Hinzuzufügen ist die These, daß er ›nicht Urheber der Übel‹ sei (tw/n de1 kakw/n a6naition).22 Da es bei den Menschen mehr Übles als Gutes gebe, sei er bei ihnen nur von wenigem Ursache, so daß ›für das Üble andere Ursachen aufzusuchen seien, nur nicht Gott‹ (tw/n de1 kakw/n a6ll© a6tta dei/ zhtei/n ta1 ai6tia, a4ll© ou4 to1n jeo2n).23 Obwohl Gott die Menschen in die Freiheit entlassen habe,24 sorge er sich doch weiterhin um sie.25 Als Zugangsweise zum Göttlichen nennt er einerseits die Frage nach den Gründen (a4rcaí), andererseits die Forderung nach Gerechtigkeit.26 Beide Fragen führen den suchenden Menschen aber nicht aus eigener Kraft ans Ziel, so daß eine verwirklichte Beziehung der Vorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 17
Menschen zu Gott stets zusätzlich auch der Tätigkeit Gottes bedarf. Die Frage, ›wie der Gott in die Philosophie kommt‹, die Heidegger später gestellt hat,27 beantwortet Platon nicht nur mit dem Hinweis auf unsere Suche nach einer ›causa‹ oder gar der ›causa sui‹.28 Daß Platon das Höchste unableitbar, also ›plötzlich‹ (e4xaífnh@), auftreten sieht, führt ihn dazu, das Höchste ›jenseits des Seins‹ (e4pe2keina th/@ ou4sía@) zu nennen, und macht deutlich, daß sich die Frage, wie Gott nach Platon in die Philosophie kommt, nicht leicht beantworten läßt.29 Der Zwiespalt in der Zugangsweise zum Göttlichen, mit der Platon einerseits die Vernünftigkeit der Annahme seiner Wirklichkeit betont, andererseits aber unverhohlen den Geheimnischarakter dieser Wirklichkeit hervorhebt, aus dem ihre Unzugänglichkeit für menschliches Forschen folgt, hat die nachplatonische Tradition weithin bestimmt. Bei Augustinus zeigt sich dieser Zwiespalt darin, daß er sich einerseits gleichsam scheut, Gottesbeweise vorzutragen, die Ausarbeitung von Beweisen allerdings nebenbei nicht gänzlich vermeidet,30 andererseits aber doch immer wieder auf der Unbegreiflichkeit Gottes beharrt, und damit zugleich auf der Unbeweisbarkeit Gottes. Denn, wovon ich nicht wirklich wissen kann, was es ist, kann ich nicht beweisen, daß es ist. Einen berühmt gewordenen ›Beweis‹ hat später – mit Anspielungen auf Gedanken Augustins – Anselm von Canterbury im Proslogion ausgearbeitet, in einem Werk, das zunächst unter dem kennzeichnenden Titel Fides quaerens intellectum hatte stehen sollen.31 Bei diesem Beweis ist allerdings zu beachten, daß Anselm selbst ihm schon die Grundlage entzieht, nachdem er ihn zunächst gegen den ›Toren‹ vorgetragen hatte, der in seinem Herzen spricht: ›Es ist kein Gott‹. Denn in Kapitel 15 gibt er die Basis des Beweises preis, nämlich die Annahme, es könne gewußt werden, was im Gedanken, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, gedacht sei.32 Denn das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, sei größer, als gedacht werden kann.33 Wenn aber nicht ›in intellectu‹ ist, was mit dem ›maximum absolutum‹ gemeint ist, kann auch nicht bewiesen werden, daß das Größte nicht nur ›in intellectu‹, sondern auch ›in re‹ sei.34 Ähnliche Erwägungen sind im Blick auf die ›fünf Wege‹ des Thomas von Aquin anzustellen, der mehrfach erklärt hat, ›wir wüßten nicht, was Gott ist‹ (»nos 18 | norbert fischer
non scimus de deo, quid est«).35 Folglich behauptet er nicht, daß die Existenz Gottes bewiesen werden könne (»demonstrari«), sondern bleibt bei dem moderaten Ziel, sie annehmbar zu machen (»probari potest«).36 Eine einschneidende Veränderung tritt mit dem Neubeginn der Philosophie durch Descartes ein. Dieser Wandel zeigt sich schon in der Suche nach einem Fundament, das keinem Zweifel mehr ausgesetzt werden kann und das Descartes im »cogitans sum« zunächst entdeckt zu haben meint. Weil die Unverbrüchlichkeit dieses Fundaments alsbald ins Wanken gerät und nur standhält, solange ich denke und es sich nicht durch den Gedanken des ›deus deceptor‹ unterhöhlen läßt,37 sieht Descartes sich genötigt, den Gottesgedanken zur Nachfundamentierung heranzuziehen. Diese Nachfundamentierung, wenn sie überhaupt Sinn haben soll, muß die höchsten Ansprüche des Wissens erfüllen: sie darf nicht nur Atheisten zur Annahme bewegen wollen, der Vernünftigkeit der Annahme des Daseins Gottes doch zuzustimmen, der Annahme der Vernünftigkeit des Glaubens, sondern sie muß dogmatische Gewißheit aus dem reinen Argument bewirken.38 Und diese dogmatische Gewißheit erstrebt Descartes im Argument der Fünften Meditation.39 Gegen das bloße Vorhaben einer absoluten Fundamentierung des Wissens wendet sich Kant mit der Destruktion der dogmatischen Metaphysik – und zwar mit einer Schärfe, die es in die Nähe des Atheismus rückt. Er sagt ganz allgemein gegen die Onto-KosmoTheologie (KrV B 660 f.): »Da man unter dem Begriffe von Gott nicht etwa bloß eine blindwirkende ewige Natur als die Wurzel der Dinge, sondern ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit der Urheber der Dinge sein soll, zu verstehen gewohnt ist, und auch dieser Begriff allein uns interessirt, so könnte man nach der Strenge dem Deisten allen Glauben an Gott absprechen und ihm lediglich die Behauptung eines Urwesens oder obersten Ursache übrig lassen. Indessen da niemand darum, weil er etwas sich nicht zu behaupten getrauet, beschuldigt werden darf, er wolle es gar leugnen, so ist es gelinder und billiger, zu sagen: der Deist glaube einen Gott, der Theist aber einen lebendigen Gott (summam intelligentiam).« Vorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 19
Diese Kritik findet sich noch schärfer zugespitzt bei Heidegger, schon in der Auseinandersetzung mit Nietzsche in Vorlesungen der 30er Jahre, die er 1961 zusammengefaßt und publiziert hat. Eine hier einschlägige Passage beginnt mit der Bemerkung: »Ein Beweis kann in sich vollkommen schlüssig, formallogisch fehlerlos sein und dennoch nichts beweisen.« Und gezielt erklärt er dann zum Problem von (dogmatischen) Gottesbeweisen, wie Descartes sie vorträgt: »Ein Gottesbeweis z. B. kann mit allen Mitteln der strengsten formalen Logik aufgebaut sein, gleichwohl beweist er nichts, weil ein Gott, der sich seine Existenz erst beweisen lassen muß, am Ende ein sehr ungöttlicher Gott ist und das Beweisen seiner Existenz höchstens auf eine Blasphemie hinauskommt.«40 Bekanntlich hat Heidegger den Gottesbegriff der dogmatischen Beweise im Sinne der »Ursache als die Causa sui« bezeichnet und gesagt, daß »das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher« sei, oder jedenfalls »freier für ihn, als es die Onto-TheoLogik wahrhaben möchte.«41 Auffällig ist die schon zitierte, abschätzige Bemerkung zu Kants Annahme, durch Aufhebung des Wissens »zum Glauben Platz zu bekommen«. Angesichts dieser überscharfen Bemerkung in Die Überwindung der Metaphysik ist erstens zu beachten, daß Heidegger kein Kant-Interpret sein wollte,42 zweitens, daß er das Unangemessene solcher Aussagen auch selbst deutlich hervorgehoben hat, wenn er in den Beiträgen zur Philosophie erklärt: »Große Philosophien sind ragende Berge, unbestiegen und unbesteigbar.«43 Demnach hätte also, um Kant sachgemäß kritisch kommentieren zu können, »seine Leitfrage (aus der verschwiegenen Grundfrage her) nach ihrem vollen Gefüge« entfaltet werden müssen.44 Heidegger hat aber das Entscheidende, das Kant als »das einzige Factum der reinen Vernunft« bezeichnet, nicht eigens zum Thema gemacht und diese Auslassung auch nicht kommentiert.45 Die ›drei Wegstationen der Gottesfrage im Denken Heideggers‹ sind das Thema der Hinführung in das eigentliche Thema der vorliegenden Publikation durch Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Wie Heidegger eine äußerliche Abfertigung großer Gedanken der Überlieferung zu vermeiden trachtete, muß es auch unser Ziel sein, 20 | norbert fischer
uns den Gedanken Heideggers von innen her zu nähern. Dieser Aufgabe widmen sich die vorgelegten Beiträge im Ausgang von verschiedenen Texten. Dennoch kann sogar dem gegen Kant gerichteten Satz, obwohl er Kants Intentionen verfehlt, auch Zustimmung zuteil werden, da Kants Hinweis, er habe »das Wissen aufheben« müssen, »um zum Glauben Platz zu bekommen«, in doppelter Weise falsch verstanden werden kann.46 Erstens könnte dieser Satz als Notbehelfsstrategie gelten, durch die sich das in der Suche nach Gewißheit scheiternde Subjekt doch noch die ersehnte Beruhigung zu verschaffen versucht. Nachdem es eingesehen hat, daß ›Wissen‹ auf diesem Gebiet nicht zu erreichen ist, hätte es sich notgedrungen auf das ›Glauben‹ verlegt, im Sinne einer minderen Weise des ›Fürwahrhaltens‹.47 Kants wirkliche Strategie taugt jedoch nicht zur positiven Selbstvergewisserung des Subjekts, sondern lediglich dazu, die scheinbare Gewißheit der Gegner zu vereiteln und zurückzuweisen. Zum polemischen Gebrauch, der »den klärsten Beweis der Unwissenheit der Gegner« zur Folge habe, meint Kant immerhin, diese Einsicht sei »kein gering zu achtendes Geschenk«, weil sie »allen Einwürfen wider Sittlichkeit und Religion auf sokratische Art« ein Ende mache.48 Womöglich wäre Heidegger, wie seine zum Teil auch scharf kritischen Überlegungen zu Nietzsche zeigen, bereit, einem solchen Anliegen zuzustimmen und an ihm mitzuarbeiten. Zweitens könnte der Glaube, dem die dogmatische Gewißheit fehlt, als Ausdruck des ›Willens zur Macht‹ aufgefaßt werden, der das Wissensdefizit durch willkürliche Entscheidung ersetzt.49 Dieser Glaube wäre der Wille, sich mit der Annahme Sicherheit und Beruhigung zu verschaffen, daß der höchstmögliche Gewißheitsgrad hinsichtlich der Existenz Gottes eben das Glauben sei. Dieser Wille wäre nicht fähig zu bemerken, daß die Beziehung zu Gott nicht Beruhigung und Sicherheit zur Folge hat, sondern vielmehr eine ganz andere, transzendente Dimension eröffnet. Sie ist so wenig Grund einer Beruhigung, daß Augustinus die Unruhe seines Herzens auf Gott zurückführt, weil er von Gott auf Gott hin geschaffen sei und Ruhe erst in Gott finden könne (conf. 1,1). Demnach wäre die Beziehung zu Gott, wären auch die anderen Fragen der Metaphysik für Kant gerade kein Grund der Beruhigung, sondern Anlaß einer »rastlosen Bestrebung«.50 Und eine solche rastlose Bestrebung finVorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 21
det sich hinsichtlich der Gottesfrage auch im Denken Heideggers, das ebensowenig wie das Kants zu ›dogmatischen‹ Antworten führt, und, wo dies dennoch der Fall zu sein scheint, den Leser zur Destruktion neuer Dogmatismen ermuntert. Der Titel ›der letzte Gott‹ könnte demgemäß als Chiffre aufgefaßt werden, nicht als Bezeichnung einer bestimmten Wirklichkeit, die zum Beispiel dem ›christlichen Gott‹ entgegenzusetzen wäre, auch wenn Heidegger das an der Oberfläche zu tun scheint.51 Heideggers Weg des Bedenkens der Gottesfrage mündete folglich in die bleibende Fraglichkeit der Gottesfrage, also in ein Motiv, das Heidegger (im Anschluß an Kant, aber auch an Nietzsche) selbst entfaltet hat. Fraglichkeit aber ist nicht als Defekt des Denkens aufzufassen. Wem diese Frage selbst eine Aufgabe des Denkens geworden ist, der wird sich vielmehr mit Heidegger auf den Weg begeben können und fragen müssen, wie das Denken von ihr getroffen, bewegt und beunruhigt wird. Denn wenn eine Frage wirklich ›Gott‹ zum Inhalt hat, erfährt sich der Fragende in der Gottesfrage als ein durch sie beunruhigtes Herz, als ›cor inquietum‹. Nachdem sich Augustinus, wie er im Zentrum des zehnten Buchs der Confessiones berichtet, mit allen Sinnen von Gott angegangen sieht und erfahren hat, gelangt er nicht zur Ruhe, sondern zu größerer Beunruhigung: »vocasti et clamasti et rupisti surditatem meam, coruscasti, splenduisti et fugasti caecitatem meam, fragrasti, et duxi spiritum et anhelo tibi, gustavi et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam.«52 Nachdem er in Beantwortung des von Gott ausgehenden Rufs bekennt,53 für den Frieden Gottes entbrannt zu sein, beginnt die Darstellung seines Kampfes mit den ›temptationes‹, die für Heideggers Phänomenologie des faktischen Lebens so bedeutsam geworden ist.54
3. Zur Bedeutung von Heideggers Denken für die Gottesfrage Heidegger sieht sich selbst nicht in der Lage, die Wege der Gottsuche zu gehen, die Augustinus gegangen ist, jedoch auch nicht den Weg über die Ethikotheologie, den Kant beschritten hat.55 In Anknüpfung an Hölderlins Frage: »… und wozu Dichter in dürftiger Zeit?« sucht er Ausblick auf »das Heile«, »das Heilige«, auf 22 | norbert fischer
»das Göttliche« und hofft auf die Wahrheit des Wortes (WD 294): »Göttliches nähert den Gott.« Dies tut Heidegger mit Geduld, ohne mehr zu sagen, als er sehen kann. Ein Wort Rilkes mag für diese Haltung stehen, die aus der Ehrfurcht vor dem Göttlichen und aus dem Dank für das geschenkte eigene Selbst erwächst und im Modus der Defizienz doch Augustins »deum et animam scire cupio« vergegenwärtigt.56 Im Malte Laurids Brigge heißt es zu den Gottsuchern (KA 3,584): »Ich konnte mir denken, daß dies den Heiligen geschah, damals, eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott anfangen wollten, um jeden Preis – Wir muten uns dies nicht mehr zu. Wir ahnen, daß er zu schwer ist für uns, daß wir ihn hinausschieben müssen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt. Nun aber weiß ich, daß diese Arbeit genauso bestritten wird wie das Heiligsein, daß dies da um jeden entsteht, der um ihretwillen einsam ist, wie es sich bildete um die Einsamen Gottes in ihren Höhlen und leeren Herbergen einst.« Und mit einem Wort Rilkes an alle, die sich »Gott vorgenommen haben«,57 seien diese Überlegungen beschlossen. Es lautet: »Daß wir doch lernten, vor allem aushalten, und nicht urteilen.«58 Womöglich hängen die Namen, die nach Augustinus am klarsten auf Gott weisen, einerseits mit dem Selbstsein Gottes, andererseits mit der Art der ihm zugesprochenen Liebe zusammen.59 Beide Namen können, sofern sie auf Gott bezogen werden, nicht Unterschiedliches bezeichnen. Beide treten im Denken Heideggers in hervorragenden Zusammenhängen, als höchste Möglichkeiten von Menschen auf, die Heidegger allerdings nicht selbst ausdrücklich auf Gott bezieht. Dennoch darf angenommen werden, daß Heidegger die theologischen Hintergründe gekannt hat. Und natürlich kannte er den Anfang der Confessiones, wo Augustinus davon spricht, daß unser Herz ruhelos sei, weil Gott es antreibe und auf Göttliches hinlenke, weil es von Gott so sehr auf Gott und Göttliches hin geschaffen sei, daß es am Ende nur in Gott Ruhe finden könne (1,1). Indem Heidegger ›Selbstsein‹ und ›Liebe‹ als höchste Möglichkeiten des Menschen nennt und man annehmen kann, daß er sich mit diesen Benennungen in der Spur Augustins wußte, hält er sich insofern im Rahmen von Augustins Interpretation des biblischen SchöpfungsVorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 23
gedankens.60 Mit Kant könnte sogar eine Art Christologie auf diesem Gedanken errichtet werden. ›Selbstsein‹ und ›Liebe‹ sind in der Weise, wie Heidegger sie denkt, als göttliche Ideale zu verstehen, die auch ohne explizite Nennung den Gottesbezug lebendig erhalten. Der ›Sinn des Seins des Daseins‹ ist nach Heidegger eigentliches Selbstseinkönnen – und der höchste Sinn der Liebe ist der Wille, das Sein eines Du zu wollen, also eines anderen ›Selbst‹. Womöglich hat er sich, wie wenige vor ihm und wie wenig andere nach ihm, der Gottesfrage so zugewandt, daß sie alle andere Themen der Philosophie mitbetraf. Auch für ihn gilt (sol. 1,7): »deum et animam scire cupio.« Dennoch liegt auf der Hand, daß er auf diesem Weg kein ›Theologe‹ geworden ist, dessen Gedanken sich zu einer ›Lehre von Gott‹, zu einer ›Theologie‹ zusammenfügen ließen. Theologen, die noch ein wenig Sinn für das Unerhörte und Unfaßbare haben, wovon sie reden oder zu reden vorgeben, sollten sich mit Ernst auf die von Heidegger gestellten Fragen einlassen, auch weil sie aus tiefer Vertrautheit mit der großen theologischen Tradition erwachsen sind. Die Gottesfrage ist für Heidegger eine echte Aufgabe des Denkens gewesen und geblieben, mit der er spannungsreich und teils versteckt bis zu seinem Ende gerungen hat: nüchtern, mit letzter Energie, verzweifelt und hoffnungsvoll. Er ragt unter denen hervor, die sich »Gott vorgenommen haben« – oder ist vielleicht sogar einer derjenigen, die Gott sich vorgenommen hat, damit wir anfangen, »endlich offen und Empfänger« zu sein (SO II 5), und auf diesem Weg aufzuhören beginnen, in verfehlter Weise von Gott zu reden.
Anmerkungen
Martin Heidegger: Brief an Max Müller und andere Dokumente, 63. Damit könnte z. B. seine Orientierung an Augustinus gemeint sein; dazu vgl. z. B. AuN. 3 Phaidros 278c; vgl. dazu Norbert Fischer: Einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand. Kant, Schleiermacher und Heidegger zur Wahrheitssuche in überlieferten Texten. 4 Bernhard Welte: Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (1964); vgl. dazu die Hinweise im Beitrag von Albert Raffelt im vorliegenden Band. 5 Vgl. dazu PLW; Heidegger beginnt dort mit Text und Übersetzung des 1 2
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Höhlengleichnisses (Politeia 514a–517a) und entdeckt in ihm einen »Wandel des Wesens der Wahrheit, welcher Wandel zur Geschichte der Metaphysik wird« (PLW 142), nämlich den Wandel von der a l 4 h jeia 2 (Unverborgenheit) zur o 4rjo t2 h@ (Richtigkeit), wodurch die Wahrheit »unter das Joch der i d4 e 2a« komme (PLW 136). 6 Heidegger fi ndet im Höhlengleichnis einen Stufenweg vom a l 4 hje 2@ über die a l 4 hjes t2 era zum a l 4 hje 2staton, gesteht zwar das Fehlen des Ausdrucks a l 4 hje 2staton ein, vermerkt aber (PLW 127): »Zwar gebraucht Platon 4 hje 2staan dieser Stelle diese Bezeichnung nicht, wohl aber nennt er to 11 a l ton das Unverborgenste in der entsprechenden und gleich wesentlichen Erörterung am Beginn des VI. Buches der Politeia.« Er übergeht also sowohl die Bestreitung der Annahme, daß diese Stelle ›gleich wesentlich‹ ist, als auch die Tatsache, daß sie es gar nicht sein kann, wenn immer die ›Idee des Guten‹ jenseits des Seins (e 4pe k2 eina tῆ @ ou 4sía@) zu denken ist (509b). 7 Zur Genese des Ausdrucks ›Metaphysik‹ hat Heidegger im Blick auf Politeia 516c beachtenswerte Hinweise gegeben (vgl. PLW 141); zum Ernst und zur Offenheit Heideggers vgl. z. B. auch seine kritische Frage (BH 177): »Weil auf Nietzsches Wort vom ›Tod Gottes‹ hingewiesen wird, erklärt man ein solches Tun für Atheismus. Denn was ist ›logischer‹ als dies, daß derjenige, der den ›Tod Gottes‹ erfahren hat, ein Gott-loser ist?« 8 Hier sei auf Paul Natorp verwiesen, mit dem Heidegger gewiß vertraut war; der Neukantianer Natorp sagt (Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus; Vorwort zur zweiten Auflage, XII): »Für mich steht schon seit langem die Arbeit an Plato in genauem Zusammen hang mit der an meiner eigenen Philosophie. Ich vermöchte nicht zu sagen, ob mehr das tiefere Durchdenken der Systemfragen mir zum reineren Verständnis Platos geholfen hat, oder umgekehrt. Mein Glaube aber ist, das dies das Schicksal nicht blos meiner, sondern der Philosophie ist.« 9 Vgl. Norbert Fischer: Kants These vom Primat der praktischen Vernunft. Zu ihrer Inter pretation im Anschluß an Gedanken von Emmanuel Levinas; weiterhin Emmanuel Levinas: Le primat de la raison pure pratique. 10 Bes. KrV B 659–661: vgl. die unten folgende Erläuterung dieser Stelle. 11 In: Martin Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente, 15. 12 Karl Rahner: Meditation über das Wort ›Gott‹; jetzt: SW 26,49. 13 Vgl. Wilhelm Kamlah; Paul Lorenzen: Logische Propädeutik. Vorschule vernünftigen Redens. Zwar »erwirbt« sich ein Kind sprechend »gleichsam die Welt« (46). Wie dies möglich, bleibt durchaus unklar. Wer je Gelegenheit hatte, Kleinstkinder beim Erlernen der Sprache begleiten zu können, wird aus dem Staunen nicht herauskommen. 14 Denn Gott (und Göttliches) erscheint nicht unmittelbar in der Welt, sondern – z. B. nach Thomas – nur ›mediante natura‹; vgl. De malo 5,2c: »ea vero quae sunt supra naturam, ordinantur mediante natura.« 15 Vgl. Das Wort; in: Gedichte, 161 f. Es bliebe, wenn wir das Wort Gott nicht Vorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 25
hätten, vielleicht bei der Blindheit eines erregten Gefühls. Georges Vers wird von Heidegger bedacht in: Das Wesen der Sprache. In: UzS (GA 12,147–204), bes. 162 ff.; dem Theologie-Kenner Heidegger war der trinitarische Sinn des Ausdrucks ›Wort‹ (lo g2 o@ – ›verbum‹) nicht unbekannt und fremd, sondern vertraut. 16 Vgl. West-östlicher Divan: Talismane, 1. Strophe (HA 2,10). 17 Dies ließe sich an zahlreichen Stellen im Blick auf die Nähe zu Gedanken Augustins zeigen, z. B. auf die Nähe und Ferne Gottes bzw. der Sprache; zu WS 241 vgl. an. quant. 77, wo Augustinus im Blick auf Gott sagt, was nach Heidegger für die Sprache gilt: »quo nihil sit secretius, nihil praesentius, qui difficile invenitur, ubi sit, difficilius, ubi non sit«. Sogar trinitätstheologisch deutbare Anspielungen fi nden sich dort (WS 242). Heidegger nennt dort als Aufgabe der Untersuchung: »Die Sprache als Sprache zur Sprache bringen.« Er sagt dazu: »Die Formel gebraucht das Wort ›Sprache‹ dreimal, wobei es jedesmal Anderes und gleichwohl das Selbe sagt.« 18 Nomoi 887c ff.; 890b. 19 Nomoi 888c, 899d ff.; auch das Kleine und Geringe vernachlässigten die Götter nicht (z. B. 902a). 20 Politeia 379a–382d; es geht dort um: oi 3 tu p 2 oi perì jeología@. 21 Politeia 516c; zu beachten ist aber 509b, daß sie dennoch e 4pe k 2 eina th @/ ou 4sía@ seien. 22 Politeia 379b. 23 Politeia 379c. 24 Rainer Maria Rilke (SO II,23): »Wir sind frei, wir wurden dort entlassen,/ wo wir meinten, erst begrüßt zu sein.« 25 Politikos 273d. 26 Vgl. Politeia 511a (im Rahmen des ›Liniengleichnisses‹); Theaitetos 176b/c (mit der Betonung der Gerechtigkeit Gottes, der wir Menschen nachzustreben haben). 27 Vgl. OVM (GA 11,77). 28 Heidegger hat andere Ursprünge der Gottsuche gekannt; z. B. hatte er Sinn für den Liebesgedanken Augustins. 29 Zum e 4pe k 2 eina tῆ @ ou 4sía@ vgl. Politeia 509b; zum e x4 aífnh@ Politeia 515c und den Siebenten Brief 341c/d. 30 Vgl. z. B. lib. arb. 2;4–40; ganz knapp, fast unwillig trägt Augustinus Gottesbeweise in conf. 10,9 vor: zunächst in dem Sinn, daß die uns begegnenden Wirklichkeiten bei unserer Gottsuche auf einen Schöpfer verweisen; im Zwischenschritt weist er auf das Innere, das besser sei als das Äußere: »sed melius quod interius«. Und der ›innere Mensch‹ sieht sich am Ende auf Gott verweisen. Die Antwort stützt sich nicht auf Beweise (10,10): »homines autem possunt interrogare, ut ›invisibilia‹ dei ›per ea, quae facta sunt, intellecta conspiciant‹«. 31 Mit Recht stellt Karl Barth seine Deutung dieses Werks unter den ur26 | norbert fischer
sprünglich vorgesehenen Titel: Fides quaerens intellectum: Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms. 32 Ausgangspunkt in cap. 2 ist: »id quo maius cogitari nequit, non potest esse in solo intellectu.« 33 Vgl. cap. 15: »non solum es quo maius cogitari nequit, sed es quiddam maius quam cogitari possit.« 34 Am Ende von cap. 2 hieß es: »Existit ergo procul dubio aliquid quo maius cogitari non valet, et in intellectu et in re.« Nach cap. 15 existiert das ›maximum‹ gar nicht »in intellectu«, weil der Intellekt es nicht fassen kann. 35 S.th. I 2,1c; in verschärfter Fassung S.th. I 3 introductio: »de Deo scire non possumus quid sit«. 36 S.th. I 2,3c. 37 Vgl. MPP III,4; Gott muß als ›ens perfectissimum‹ erwiesen werden (vgl. MPP III,35). 38 Descartes trägt Gottesbeweise in der Dritten und Fünften Meditation vor (MPP V,7–16). Der Beweis der Dritten Meditation führt zu keinem ›Gottesbegriff‹ – und damit (wie das ›Argumentum Anselmianum‹) eigentlich zu keinem ›Beweis‹, weshalb Kant sich mit Recht auf das Argument der Fünften Meditation beschränken konnte. 39 Dies ist der ›ontologische Beweis‹, den Kant auch den ›cartesianischen‹ nennt; vgl. KrV B 630. 40 Nietzsche I (GA 6.1,327); vgl. allerdings die nicht abwegige Bemerkung von Emmanuel Levinas zum Cartesischen Argument (aus der Dritten Meditation), die den Gedanken sowohl vor der Kritik Kants als auch Heideggers in Schutz nimmt (im Vorwort zur deutschen Überset zung von Totalité et Infini, also Totalität und Unendlichkeit 11 f.), aber doch auch keinen dogmatischen Beweis zu installieren versucht. Zu beachten ist die schon erwähnte Tatsache, daß Kant nicht das ›Argument‹ der Dritten Meditation, das eher nur allgemein auf Transzendenz verweist, nicht also Gott ›beweist‹, als das Cartesische im Blick hatte, sondern das aus der Fünften Meditation. 41 Vgl. OVM (GA 11,77). Erläuternd zu Gott als ›Causa sui‹ heißt es (ebd.): »Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.« 42 Vgl. auch Die Überwindung der Metaphysik; GA 67,95. 43 GA 65,187; vgl. dazu schon die grundsätzlichen Überlegungen in SuZ 19–27 (§ 6: Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie). 44 GA 65,188. 45 KpV A 56; zur Bedeutung dieses ›Factums‹ für das ›Gebäude‹ der Philosophie Kants; vgl. die Skizze zu Kants System einer ›kritischen Metaphysik‹ von Norbert Fischer: Einleitung (KMR), XXVI–XXXV. 46 Vgl. KrV B XXIX f.: »Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einVorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 27
mal annehmen, wenn ich nicht der speculativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme.« Die Leistung, die Kant sich hier zugute hält, ist nur negativ, nämlich gegen die Anmaßung überschwenglicher Einsichten gerichtet, gegen die Leugnung Gottes. Heideggers Analysen bleiben aber im Bereich der spekulativen Vernunft. 47 Vgl. Vom Meinen, Wissen und Glauben; KrV B 848–859. 48 KrV B XXX f. Dieses nicht ›gering zu achtende Geschenk‹ dient nach Kant keineswegs der Errichtung einer dogmatischen Metaphysik, sondern verschärft nur das Bewußtsein der Frag lichkeit der Situation, in der wir uns als Menschen befi nden, auch angesichts der These, daß »irgend eine Metaphysik […] immer in der Welt gewesen« ist und »auch wohl ferner« in ihr »anzutreffen sein« wird. 49 Kants Wort: »Ich will, daß ein Gott« sei usw. (KpV A 258) steht in anderem Kontext, nämlich dem des reinen Willens, der die subjektiven Bestrebungen hintansetzt, also nicht als ›Wille zur Macht‹ verstanden werden kann. 50 KrV B XV: »Woran liegt es nun, daß hier noch kein sicherer Weg der Wissenschaft hat gefunden werden können? Ist er etwa unmöglich? Woher hat denn die Natur unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht, ihm als einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren?« 51 GA 65,403: »DER LETZTE GOTT./ Der ganz Andere gegen/ die Gewesenen, zumal gegen/ den christlichen.« Heidegger scheint hier ungeschützt und ungenau zu sprechen: wen meint er denn mit dem ›christlichen‹ Gott? 52 conf. 10,38: »Du hast gerufen, geschrieen und mein taubes Ohr geöff net; Du hast geblitzt und geleuchtet, die Nacht vertrieben und meine Blindheit geheilt; Du verströmtest Wohlgeruch: ich sog ihn ein und lechze nach Dir; ich habe gekostet und hungere und dürste nach Dir; Du hast mich berührt, und ich glühe vor Verlangen nach Deinem Frieden.« Die Frage, womit Gott ihn berührt habe, beantwortet Augustinus zunächst nicht. 53 Positiv könnte dieser Ruf auf die Bergpredigt verweisen, die Augustinus zu Beginn des elften Buchs der Confessiones zitiert (vgl. 11,1). 54 Ohne Schwierigkeiten nachzuweisen wäre dies für AuN und SuZ. Vgl. dazu Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Gottsuche und Selbstauslegung. Das X. Buch der Confessiones des Heiligen Augustinus im Horizont von Heideggers Phänomenologie des faktischen Lebens. Der Titel dieser Arbeit weist deutlich auf das Augustinische »deum et animam scire cupio«. 55 Vgl. lib. arb. 1,6. Die Entlarvung der Moral durch Friedrich Nietzsche als versteckten ›Willens zur Macht‹ hat übrigens an der Goldenen Regel, die von Augustinus wie Kant kritisch beurteilt wird, einen sachgemäßen Ansatzpunkt. Aber Augustinus wie Kant stützen sich gerade nicht auf Überlegungen von der Art der Goldenen Regel, weil diese die Belange eines klug reflektierenden Ich zum Maßstab macht. Erst wenn ›Andere‹ ins Spiel kommen, die (wie ich mich selbst als Zweck an sich betrachte) als Zwecke an sich selbst geachtet werden sollen, kann das Ziel des ›homo ordinatissimus‹ erstrebt werden (vgl. lib. arb. 1,16–19). 28 | norbert fischer
Diese Doppelfrage ist maßgebend von Platon über Augustinus und Kant bis hin zu Rilke – und vermutlich sogar noch für Heidegger. 57 Besonders zu beachten Malte Laurids Brigge (KA 3,620): »Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden. Wir rükken unsere Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen. Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.« Heidegger scheint einer von denen zu sein, die sich Gott vorgenommen haben. 58 Malte Laurids Brigge (KA 3,602); vgl. Stellen zu Gott, bes. ab 602. Der Abschnitt 602 beginnt vor dem Zitat: »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es gibt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche ungeheure Verpfl ichtung läge in deiner Gewißheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen.« Es gibt in Rilkes Text Augustinische Anspielungen (z. B. KA 3,615: ›Außen‹ und ›innen‹ und ›vor Dir, mein Gott‹), aber auch Pascalsche (KA 3,629: »mit dem Herzen zu den ken«). 59 Zum ›Selbstsein‹ vgl. conf. 12,7: »id ipsum, id ipsum, id ipsum«; diese Stelle präsentiert das Selbstsein gleichsam trinitarisch; dazu die Hinweise bei Aimée Solignac: Notes complementaires, BA 14,550–552. Und im Versuch, reine Liebe zur Sprache zu bringen, rekurriert Heidegger öfters auf einen Gedanken Augustins, den er frei so formuliert: »Amo: volo, ut sis.« Heidegger übersetzt das Wort (vgl. Hannah Arendt – Martin Heidegger: Briefe 1925–1975, 31): »ich liebe Dich – ich will, daß Du seiest, was Du bist.« Vgl. dazu Norbert Fischer: Selbstsein und Gottsuche. Zur Aufgabe des Denkens in Augustins ›Confessiones‹ und Martin Heideggers ›Sein und Zeit‹, 77, 86. 60 Dies ließe sich analog für Kant nachweisen; z.B im »von ihm selbst gezeugten und geliebten Urbilde der Menschheit« (RGV B 220=AA 6,145 f.); auch »durch die uns schon durch die Vernunft […] versicherte Liebe« Gottes zur Menschheit (RGV B 176=AA 6,120). 56
Vorüberlegungen zur Gottesfrage im Denken Martin Heideggers | 29
– Friedrich-Wilhelm von Herrmann –
Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers 1. Hermeneutische Analytik des faktischen Lebens und die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie (1916–1921) Im Frühjahr 1915 hatte Heidegger seine Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus abgeschlossen. Für die Veröffentlichung im Jahre 1916 verfaßte er einen Schluß mit dem Titel ›Das Kategorienproblem‹. Aus diesen abschließenden zwölf Seiten spricht unüberhörbar ein neuer Geist. Denn ihr Verfasser zeigt die Notwendigkeit auf, daß und wie das Kategorienproblem in die ›Philosophie des lebendigen Geistes‹ einmünden muß (GA 1,406): »Die Philosophie kann ihre eigentliche Optik, die Metaphysik, auf die Dauer nicht entbehren.« »Innerhalb des Reichtums der Gestaltungsrichtungen des lebendigen Geistes ist die theoretische Geisteshaltung nur eine« (ebd.). Vom ›lebendigen Geist‹ heißt es, er sei »wesensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wortes« (GA 1,407). »Im Begriff des lebendigen Geistes und seiner Beziehung zum metaphysischen ›Ursprung‹ eröffnet sich ein Einblick in seine metaphysische Grundstruktur« (GA 1,410). »Philosophie als vom Leben abgelöstes, rationalistisches Gebilde ist machtlos« (ebd.) Die hier neu entworfene Idee der Philosophie wird abschließend gekennzeichnet als »Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit« (ebd.) Die Grundintention dieser Zitate: eine Philosophie des vortheoretischen Geistes, des lebendigen Geistes, des vortheoretischen Lebens in seiner verehrenden Gottinnigkeit, kehrt in verdeutlichter Weise in jenen Briefen wieder, die Heidegger im Jahre 1916 an seine Braut Elfride Petri richtet.1 Im Brief vom 1.1.1916 heißt es: »Kind, ahnst Du nicht, daß nur der unendliche, persönlichste Geist Gottes in seiner absoluten Fülle uns u. unserem Dasein letztes Ziel u. Ende sein kann«.2 Zwei Tage später schreibt Heidegger: »›wahres Gotterlebnis‹ ist eine wun| 31
dersame, seltene Gnade, deren man nur würdig wird durch Leid, wie Du es geworden« (ebd. 29 f.). Der Brief vom 5.3.1916 ist an Deutlichkeit kaum überbietbar: »ich weiß heute, daß es eine Philosophie des lebendigen Lebens geben d ar f – daß ich dem Rationalismus den Kampf bis aufs Messer erklären d ar f – ohne dem Bannstrahl der Unwissenschaftlichkeit zu verfallen – ich d ar f es – ich mu ß es – u. so steht heute vor mir die Notwendigkeit des Problems: wie ist Philosophie als lebendige Wahrheit zu schaffen u. als Schöpfung der Persönlichkeit wert u. machtvoll« (ebd. 36 f.). Jetzt ist es ganz deutlich geworden: Die Philosophie des ›lebendigen Geistes‹ ist die Philosophie des ›lebendigen Lebens‹, und diese Philosophie des vortheoretischen Geistes und Lebens ist eine neue Metaphysik, eine Metaphysik des lebendigen Geistes und der verehrenden Gottinnigkeit. Und so heißt es im Brief vom 12. Mai 1918: »Aus einer solchen Atmosphäre persönlichen Zusammenlebens mit den ständig wirksamen Perspektiven religiöser Verinnerlichung wird mir die wahrhafte Religionsphilosophie u. das Philosophieren überhpt. erwachsen« (ebd. 66). In diesen Briefstellen spricht sich Heideggers denkerische Urerfahrung für seine eigenste Fragestellung aus: Die Philosophie des ›lebendigen Lebens‹ wird dann in den Vorlesungen seit 1919 als hermeneutische Phänomenologie des ›faktischen‹, ›vortheoretischen‹ Lebens und Daseins in dessen eigenstem Sein entfaltet. Aus diesem neu erfahrenen Ursprungsboden des ›lebendigen Lebens‹ soll auch die philosophische Gottesfrage als die ›wahrhafte Religionsphilosophie‹ ausgearbeitet werden. Zum Brief vom 12. Mai 1918 gehören auch die auf den 6. und 10. September 1918 datierten Aufzeichnungen, die Heidegger in der Zeit seines aktiven Frontdienstes bei der Frontwetterwarte in der Nähe von Verdun verfaßt hat. Es sind Aufzeichnungen im Ausgang der Sermones in Cantica Canticorum des Bernhard von Clairvaux (GA 60,334f f.), des Begründers der mittelalterlichen Mystik. Diese Aufzeichnungen gehören zu einem Konvolut, dessen Umschlag von Heideggers Hand den Titel Phänomenologie des religiösen Bewußtseins trägt. Ebenfalls von Heideggers Hand ist in diesem Titel ›Bewußtsein‹ durchgestrichen und durch ›Leben‹ ersetzt worden. Aber schon in seinen Briefen an Elfride Petri aus dem Jahre 1916 sprach Heidegger von seiner »Philosophie des lebendigen Lebens«, was deutlich macht, daß er ›Bewußtsein‹ bereits im Sinne des hermeneu32 | friedrich-wilhelm von herrmann
tisch-phänomenologisch erfahrenen vortheoretischen (faktischen) Lebens versteht. Den Satz Bernhards »Hodie legimus in libro experientiae« übersetzt Heidegger so (GA 60,334): »Heute wollen wir uns im Felde persönlicher Erfahrung auffassend (beschreibend) bewegen.« Was damit von Bernhard vollzogen wird, entfaltet Heidegger im Lichte seiner hermeneutischen Ursprungsenthüllung (GA 60,334): »Zurückwendung auf die eigene Erlebnissphäre und aufhorchen auf die Kundgabe des eigenen Bewußtseins. Ausgeprägtes, eigen formuliertes Bewußtsein vom ausschließlichen Prinzipalwert und -recht religiöser Eigenerfahrung. / Religiöses Erlebnisverlangen und Sichmühen um Jesusgegenwart als echt nur möglich als erwachsen aus einer Grunderfahrung. Über solche Erlebnisse nicht frei willentlich verfügbar in der Befolgung kirchengesetzlicher Vorschriften. Das ›Wissen‹ um sie und ihr Wesen entspringt nur dem wirklichen Erfahrenhaben.« Ferner heißt es (GA 60,336): »Die Analyse, d. h. die Hermeneutik, arbeitet im historischen Ich. Das Leben als religiöses ist bereits da. Es ist nicht so, als würde ein neutrales Sachbewußtsein analysiert, sondern in allem ist die spezifische Sinnbestimmtheit herauszuhören. Problem: Die intuitive Eidetik ist als hermeneutische nie neutral-theoretisch, sondern hat selbst nur ›eidetisch‹ […] die Schwingung der genuinen Lebenswelt.« Noch vor Beginn des ersten Nachkriegssemesters, am 9. Januar 1919, schreibt Heidegger an den mit ihm befreundeten Freiburger Dogmatiker Engelbert Krebs einen Brief, in dem er seine seit 1916 gewonnene philosophische Grunderfahrung zusammenfaßt: »Die vergangenen zwei Jahre, in denen ich mich um eine prinzipielle Klärung meiner philosophischen Stellungnahme mühte […], haben mich zu Resultaten geführt, für die ich, in einer außerphilosophischen Bindung stehend, nicht die Freiheit der Überzeugung und der Lehre gewährleistet haben könnte. Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht – nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne).«3 Weder das Katholische als solches noch das Christentum, sondern nur das ›System‹, d. h. die rational-theoretische Durchgestaltung des katholischen Christentums verträgt sich nicht mehr mit Heideggers philosophischer Grunderfahrung vom vortheoretischen Leben. Angedeutet ist hier, Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Heideggers | 33
daß das Christliche des Christentums aus der Philosophie des ›lebendigen Lebens‹ eine vorrationale begriffliche Durchdringung erhalten soll. Was Heidegger in seinem Brief an Engelbert Krebs programmatisch anzeigt und was er schon 1916 als »Philosophie des lebendigen Lebens« gekennzeichnet hat, findet nun in seiner ersten Nachkriegsvorlesung unter dem ebenfalls programmatischen Titel Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem seine erste schriftliche Ausarbeitung.4 Jetzt wird die ›Philosophie des lebendigen Lebens‹ als ›vortheoretische Urwissenschaft‹ vom vortheoretischen Umweltlichen und Umwelterlebnis gefaßt und das vortheoretische Umwelterleben in seiner eigensten Struktur als ›Ereignis‹ bestimmt – Er-eignis insofern, als das Umwelterleben ,aus dem Eigenen lebt‹, welches ›Eigene‹ bald darauf ›Existenz‹ genannt wird. In dieser Kriegsnotsemester-Vorlesung vom Januar bis April 1919 wird in methodischer wie in thematischer (sachlicher) Hinsicht der Grund für die hermeneutische Phänomenologie des vortheoretischen Lebens und Daseins gelegt. Für das Wintersemester 1919/20 hatte Heidegger die Vorlesung Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik angekündigt (GA 60,301–337), deren Vorbereitungen er jedoch am 30.August 1919 abbrach, um stattdessen die Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie zu halten. Doch die aus der Zeit der Vorbereitung der Mystik-Vorlesung erhaltenen und von Heidegger in jenem schon genannten Konvolut Phänomenologie des religiösen Lebens versammelten Aufzeichnungen sind von großer Bedeutung für die von ihm seit 1916 verfolgte ›wahrhafte Religionsphilosophie‹, weshalb wir aus diesen Aufzeichnungen einige Textauszüge wiedergeben. In der vom Titel der Mystik-Vorlesung ausgehenden Aufzeichnung v.10. VIII. 1919 heißt es zu Beginn (GA 60,303): »Die Formulierung ist vieldeutig. Die treibende Problematik und Methodik ist die phänomenologische Erforschung des religiösen Bewußtseins. Damit wird gesagt: 1. (negativ) Verzicht auf konstruktive Religionsphilosophie, 2.(negativ) Nichtaufgehen im rein Historischen als solchem, 3. [positiv] Rückführung der echt geklärten und als echt ursprünglich erschauten Phänomene in das reine Bewußtsein und seine Konstitution. Darin liegt aber das Problem: das Gewinnen und Verstehen solcher Phänomene überhaupt aus dem Historischen 34 | friedrich-wilhelm von herrmann
[Geschichtlichen], dieses und seine Faktizität im phänomenologischen Urverstehen.« Damit wird klar: Die Mystik-Vorlesung bezweckt keinen geschichtlichen Überblick über die mittelalterliche Mystik, sondern eine hermeneutisch-phänomenologische Analyse des religiösen Bewußtseins, d. h. Lebens, so, wie dieses den Boden der mittelalterlichen Mystik bildet. Im Ausgang vom vortheoretischen religiösen Leben in der Mystik soll die ›wahrhafte Religionsphilosophie‹ hermeneutisch-phänomenologisch erarbeitet werden. An späterer Stelle heißt es (GA 60,304): »In welcher Richtung und Abzweckung verläuft unsere Untersuchung bezüglich der mittelalterlichen Mystik, wenn uns das urwissenschaftliche, phänomenologische Ziel echt leitet? Welche Seiten der Mystik und wie kommen sie in Betracht? Wie geleitet und motiviert ist das Verstehen? Das heißt: […] Wie muß das Thema urwissenschaftlich verstanden werden?« Ferner (GA 60,305): »Gehen wir an das religiöse Leben selbst heran, echt und rein methodisch: Welche Grundschichten, Formen, Bewegtheiten ergeben sich da? Wie konstituiert sich dieses Leben?“ Unter dem Titel Mystik im Mittelalter heißt es (GA 60,306): »Die mittelalterliche Mystik als Ausdrucksform des religiösen Erlebens.« In der Aufzeichnung Das religiöse Apriori sagt Heidegger (GA 60,313/14): »Es liegt bereits in der stark naturwissenschaftlichen, naturalistisch theoretischen Seinsmetaphysik des Aristoteles und seiner radikalen Ausschaltung und Verkennung des Wertproblems bei Plato, die sich in der mittelalterlichen Scholastik erneuerte, das Überwiegen des Theoretischen angelegt, so daß die Scholastik innerhalb der Totalität der mittelalterlich christlichen Erlebniswelt gerade die Unmittelbarkeit religiösen Lebens stark gefährdete und über Theologie und Dogmen die Religion vergaß. […] Als elementare Gegenbewegung ist eine Erscheinung wie die Mystik aufzufassen.« In der Aufzeichnung, die überschrieben ist Phänomenologie des religiösen Erlebnisses und der Religion, heißt es (GA 60,322): »Die Selbständigkeit des religiösen Erlebnisses und seiner Welt ist als eine ganz originäre Intentionalität zu erschauen mit ganz originärem Forderungscharakter«. An späterer Stelle sagt Heidegger (GA 60,323): »Eines der bedeutsamsten, fundierenden Sinnelemente im religiösen Erlebnis ist das Geschichtliche. […] Die religiöse Erlebniswelt ist in ihrer Ursprünglichkeit – nicht theoretisch theologischen Abgelöstheit – zentriert in einer großen einDie drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Heideggers | 35
maligen historischen Gestalt (persönlich wirkenden Lebensfülle). Damit zusammenhängend der konstitutive Charakter des Offenbarungs- und Traditionsbegriffes im Wesen der Religion.« In seinem Brief vom 30.8.1919 an die Philosophische Fakultät begründet Heidegger seine Vorlesungsänderung mit dem Hinweis darauf, daß ihm nicht die genügende Zeit für »eine strengen Anforderungen genügende Durcharbeitung des Materiales« für die angekündigte Mystik-Vorlesung zur Verfügung stünde.5 Statt der Mystik-Vorlesung liest Heidegger im Winter 1919/20 Grundprobleme der Phänomenologie, in der die philosophische Urwissenschaft vom Umwelterleben systematisch zur ›Ursprungswissenschaft vom faktischen Leben‹ ausgebaut wird. Es legt sich der Gedanke nahe, daß Heidegger für eine hermeneutisch-phänomenologische Auslegung des vortheoretischen religiösen Lebens in der mittelalterlichen Mystik einen tiefer und breiter ausgearbeiteten sachlichen Boden in Gestalt des faktischen Lebens benötigte, den er nun in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie gewinnt. Deshalb bleibt auch die religions-hermeneutische Fragestellung aus dieser Vorlesung ausgeblendet. In der anschließenden Vorlesung vom Sommersemester 1920 Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks heißt es mit Blick auf die 1918 geforderte ›wahre Religionsphilosophie‹ (GA 59,91): »Es besteht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christlichen Existenz durch sie. Die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie […]. Der Weg zu einer ursprünglichen christlichen – griechentumfreien – Theologie«. Auf dem Boden der beiden für die hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens grundlegenden Vorlesungen vom Winter 1919/20 und Sommer 1920 hätte nun vielleicht die Mystik-Vorlesung ausgearbeitet werden können. Doch Heidegger entscheidet sich anders. Das religionsphilosophische Programm wird von ihm in den beiden folgenden Semestern ein Stück weit verwirklicht: in der Vorlesung vom Wintersemester 1920/21 Einleitung in die Phänomenologie der Religion (GA 60,1–156) und in der Vorlesung vom Sommersemester 1921 Augustinus und der Neuplatonismus (GA 60,157–299). In der religionsphänomenologischen Vorlesung werden zuerst im Rückgriff auf die vorangehenden Frühen Freiburger Vorlesungen die Grundstrukturen des 36 | friedrich-wilhelm von herrmann
faktischen Lebens herausgestellt: der Gehaltssinn als der Weltbezug, der Bezugssinn als das Sorgetragen-für und der Vollzugssinn als das zweifache und unterschiedliche Wie, in dem der Bezugssinn, die Lebens- oder Daseinssorge, vollzogen wird. Auf diesem gelegten Boden erfolgt anschließend eine hermeneutisch-phänomenologische Durchdringung dreier Paulinischer Briefe, um so die urchristliche Religiosität des Neuen Testaments als urchristliche Lebenserfahrung im Sinne der faktischen Lebenserfahrung auszulegen. In der Augustinus-Vorlesung interpretiert Heidegger die durch die Gottsuche Augustins geleitete Selbstauslegung der anima bzw. vita aus dem X. Buch der Confessiones als bestimmt durch die faktische Lebenserfahrung in ihren existenzialen Charakteren des Gehalts-, Bezugsund Vollzugssinnes. In beiden religionsphänomenologisch ausgerichteten Vorlesungen wird die christliche Existenz ohne Rückgriffe auf aristotelische, neuplatonische und stoische Begrifflichkeit aus dem faktischen Leben (Dasein) und dessen Seinscharakteren ausgelegt.
2. Hermeneutische Da-seins-Analytik in der theologischen Epoché ( 1921/22–1931) Die auf die beiden religionsphänomenologischen Vorlesungen unmittelbar folgende Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 61) schlägt nun aber völlig unerwartet einen neuen Ton an, wenn es jetzt plötzlich heißt, die hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens müsse von der Gottesfrage freigehalten werden. Die Enthaltsamkeit gegenüber der Gottesfrage kennzeichnet Heidegger – höchst mißverständlich – als ›prinzipiellen Atheismus‹ (GA 61,196), zwar nicht im Sinne eines dogmatischen, das Nichtsein Gottes behauptenden, wohl aber im Sinne eines methodischen Atheismus, was gelegentlich auch durch die Bindestrichschreibung ›A-theismus‹ verdeutlicht wird. Unsererseits können wir diesen methodischen Atheismus mit dem phänomenologischen Terminus einer ›theologischen Epoché‹ bezeichnen. Heidegger sagt (GA 61,197): »Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit prinzipiell Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Heideggers | 37
a-theistisch sein. Sie darf sich gerade ob ihrer Grundtendenz nicht vermessen, Gott zu haben und zu bestimmen. Je radikaler sie ist, umso bestimmter ist sie ein weg von ihm, also gerade im radikalen Vollzug des ›weg‹ ein eigenes schwieriges ›bei‹ ihm«. Diese gänzlich neue Haltung gegenüber der philosophischen Gottesfrage und einer Religionsphilosophie verschärft sich um ein weiteres in dem sog. Natorp-Bericht von 1922 (GA 62,341–419, hier 363): »wenn […] Philosophie gesonnen ist, das faktische Leben in seiner entscheidenden Seinsmöglichkeit in Sicht und Griff zu bringen, das heißt, wenn sie bei sich selbst radikal und klar ohne Seitenblicke auf weltanschauliche Betriebsamkeiten sich dafür entschieden hat, das faktische Leben von ihm selbst her aus seinen eigenen faktischen Möglichkeiten auf sich selbst zu stellen, das heißt, wenn die Philosophie grundsätzlich atheistisch ist und das versteht – dann hat sie entscheidend gewählt und für sich zum Gegenstand erhalten das faktische Leben hinsichtlich seiner Faktizität.« In einer Fußnote fügt Heidegger hinzu (ebd. Fn): »›A-theistisch‹ nicht im Sinne einer Theorie als Materialismus oder dergleichen. Jede Philosophie, die in dem, was sie ist, sich selbst versteht, muß als das faktische Wie der Lebensauslegung gerade dann, wenn sie dabei noch eine ›Ahnung‹ von Gott hat, wissen, daß das von ihr vollzogene sich zu sich selbst Zurückreißen des Lebens, religiös gesprochen, eine Handaufhebung gegen Gott ist. Damit allein aber steht sie ehrlich, d. h. gemäß der ihr als solcher verfügbaren Möglichkeit vor Gott; atheistisch besagt hier: sich freihaltend von verführerischer, Religiosität lediglich beredender Besorgnis. Ob nicht schon die Idee einer Religionsphilosophie, und gar wenn sie ihre Rechnung ohne die Faktizität des Menschen macht, ein purer Widersinn ist?« Auch in der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, die in ihrem Hauptteil eine vorlesungsmäßige Darstellung des Ersten Abschnitts von Sein und Zeit ist, betont Heidegger erneut (GA 20,109 f.): »Philosophische Forschung ist und bleibt Atheismus.« Somit enthält Sein und Zeit, das im April 1927 erschienene Grundwerk, keinen Hinweis auf die philosophische Gottesfrage.6 Allerdings teilt Heidegger 1947 in einem Brief an Max Müller mit, daß die erste Ausarbeitung des 1927 38 | friedrich-wilhelm von herrmann
nicht mitveröffentlichten III. Abschnittes ›Zeit und Sein‹ außer der ontologischen als der transzendentalen Differenz von Sein und Seiendem eine »transzendente (theologische) Differenz« von Sein und Gott unterschieden habe.7 Damit sollte die Gottesfrage im Zusammenhang der Fundamentalfrage nach dem Sinn von Sein überhaupt wenn auch nicht systematisch entfaltet, so doch zumindest unter dem Titel der ›theologischen Differenz‹ angezeigt werden. Auch wenn die hermeneutische Daseins-Analytik von Sein und Zeit in der theologischen Epoché durchgeführt wird, ist der im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit ausgearbeitete und gehaltene Vortrag Phänomenologie und Theologie von großer Bedeutung (GA 9,45–78). Denn er zeigt das Verhältnis der hermeneutischen Phänomenologie des Daseins, d. h. der Fundamentalontologie, zur christlichen Theologie auf (GA 9,66): »Die Philosophie ist das mögliche, formal anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe. […] Dieses eigentümliche Verhältnis schließt nicht aus, sondern eben ein, daß der Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur Philosophie gehörigen und faktisch höchst veränderlichen Existenzform der Todfeind bleibt. […] Dieser existenzielle Gegensatz zwischen Gläubigkeit und freier Selbstübernahme des ganzen Daseins […] muß gerade die mögliche Gemeinschaft von Theologie und Philosophie als Wissenschaften tragen […]. Es gibt daher nicht so etwas wie eine christliche Philosophie, das ist ein ›hölzernes Eisen‹ schlechthin.« Der Text Phänomenologie und Theologie muß als grundsätzliche Bestimmung des Verhältnisses von existenzial-ontologischer Daseinsanalytik und christlicher Gottesfrage gelesen werden. Insofern ist er eine ›Ergänzung‹ zu Sein und Zeit, die zeigt, inwiefern die christliche Gottesfrage, die auf Heideggers Wegabschnitt von 1916 bis 1921 von zentraler Bedeutung war, aus dem Aufriß von Sein und Zeit ausgeklammert bleibt, inwiefern aber dennoch die Daseinsanalytik für die christliche Theologie als ontologische Korrektion fungieren kann.
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3. Das ereignisgeschichtliche Da-sein im Bezug zum ›letzten Gott‹ (1932–1976) Die hermeneutische Analytik des faktischen Lebens in den Frühen Freiburger Vorlesungen (1919–1923) legt das faktische Leben auf die drei fundamentalen Seinscharaktere des Gehaltssinnes, des Bezugssinnes und des Vollzugssinnes aus. Der Gehaltssinn nennt das Sein in einer Bedeutsamkeits-Welt, der Bezugssinn nennt den Bezug des Sorgetragens zu dieser Welt und der Vollzugssinn nennt die beiden Seinsmöglichkeiten, in denen der sorgetragende Bezug vollzogen werden kann. In der hermeneutischen Daseins-Analytik von Sein und Zeit ist das Sein in einer Bedeutsamkeitswelt (der Gehaltssinn) das In-der-Welt-sein des Daseins. Der Bezug, in dem das Dasein zur Welt steht, wird in Sein und Zeit als Sorgevollzug gefaßt. Die beiden Vollzugsmöglichkeiten des Sorgebezugs erhalten in Sein und Zeit die terminologische Bezeichnung der ›Uneigentlichkeit‹ und der ›Eigentlichkeit‹. In diesen Seinscharakteren des In-Seins in der Welt, der Sorge, der Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, die insgesamt das Sein des Da-seins, die Existenz bilden und deshalb Existenzialien heißen, ist das daseinsmäßige Selbst an ihm selbst und für es selbst, also selbsthaft aufgeschlossen. In dieser selbsthaften Aufgeschlossenheit versteht sich die selbsthafte Existenz in ihrem In-Sein in Welt, in ihrem Sein als Sorge und in ihren Sorge-Vollzugsmöglichkeiten der Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit. Allein, in dieser selbsthaften Erschlossenheit ist die Existenz verstehend entrückt in die horizontale Erschlossenheit der Welt und der nichtdaseinsmäßigen Seinsweisen des aus der Bedeutsamkeitswelt innerweltlich dem Da-sein begegnenden Seienden. Was wir jetzt die ›selbsthafte Erschlossenheit‹ und die ›horizontale Erschlossenheit‹ genannt haben, erfüllt in seiner Zusammengehörigkeit den Sinn des ›Da‹ aus dem Da-sein. Das ›Da‹ bedeutet hier weder ›Hier‹ noch ›Anwesend‹, sondern einzig und allein ›Erschlossenheit‹ im Sinne von ›Lichtung‹ und ›Gelichtetheit‹. Dieses ›Da‹ meint aber nicht nur die Erschlossenheit der Existenz, dessen Selbst und dessen Existenzialien, sondern zu ihm gehört jene Dimension der Erschlossenheit, die nicht Selbsterschlossenheit ist, in die aber die selbsthafte Existenz in ihrer Selbsterschlossenheit verstehend entrückt ist. Dieses verstehende Entrücktsein in die horizontale Erschlossenheit nennt 40 | friedrich-wilhelm von herrmann
Heidegger in Sein und Zeit den ekstatischen Charakter der Existenz. Die Existenz als Sorge ist existenzial verfaßt als ›Geworfensein‹ in das Da als die selbsthaft-ekstatische-horizontale Erschlossenheit und als ›aufschließendes Entwerfen‹, das an der Aufschließung der Erschlossenheit wesentlichen Anteil hat. Im Sorgevollzug als dem aufschließenden geworfenen Entwerfen ›übersteigt‹ das existierende Selbst das (Seiende) auf die horizontal erschlossene Bedeutsamkeitswelt, um verstehend von diesem erschlossenen Welthorizont auf das überstiegene Seiende zurückzukommen und sich zu diesem Seienden als dem Innerweltlichen in den Weisen des besorgenden Umgangs zu verhalten. Das gekennzeichnete ›Übersteigen‹ ist ein ›Transzendieren‹, so daß das Da-sein qua Sein des Da in der Fundamentalontologie von Sein und Zeit als Existenz ›transzendental‹ und als das ›Wohin des Transzendierens ›horizontal‹ verfaßt ist. Die fundamentalontologisch ausgerichtete Daseins-Analytik hält sich somit in der transzendental-horizontalen Blickbahn. Mit dem Übergang dieser transzendental-horizontalen Blickbahn in die seins- oder ereignisgeschichtliche Blickbahn des Heideggerschen Denkens Anfang der Dreißigerjahre tritt die philosophische Gottesfrage aus der bisherigen Epoché heraus in das Zentrum des ereignisgeschichtlichen Denkens, aber nicht als Frage nach dem christlichen Gott, sondern nunmehr als Frage nach dem ›letzten Gott‹. Das Grundwerk für das seinsgeschichtliche Denken sind die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis).8 Wie ergibt sich der Übergang des transzendental-horizontalen Denkens in das ereignisgeschichtliche Denken? Dieser Übergang wird ausgelöst durch die neue Erfahrung und Einsicht, daß das Da, die Erschlossenheit oder Gelichtetheit des Seins im Ganzen, selbst geschichtlich ist, daß die Geschichtlichkeit in der Herkunft der Geworfenheit-in-das- Da aus dem ›Zuwurf‹ beruht, in welchem Zuwurf die Erschlossenheit oder Wahrheit oder Lichtung des Seins sich als das jeweilige geschichtliche Da zuwirft. Die so sich zuwerfende Wahrheit des Seins wird nun gefaßt als die ›Lichtung des Sichverbergens‹, das Sichverbergen aber als die Herkunft für die geschichtlich sich wandelnden Weisen der Gelichtetheit des Da. Was sich als geschichtliche Gelichtetheitsweise zuwirft, wird von der Existenz übernommen und im geworfenen Entwurf eröffnet. Während das Sichzuwerfen der Lichtung des Seins als ein ›Ereignen‹ gefaßt wird, erhält der aus dem ereignenDie drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Heideggers | 41
den Zuwurf geworfene Entwurf die Kennzeichnung als ›ereigneter‹ Entwurf. Die Zusammengehörigkeit von ereignendem Zuwurf und ereignetem Entwurf ist das, was Heidegger ›das Ereignis‹ nennt: die ereignishafte Zusammengehörigkeit der Lichtung des Sichverbergens und des Da-seins. Das als Gegenschwung von ereignendem Zuwurf der Lichtung des Seins und ereignetem Entwurf des Da-seins verfaßte Er-eignis ist der Erscheinungsraum des »letzten Gottes«. Das Motto über jenem Kapitel in den Beiträgen, das überschrieben ist ›Der letzte Gott‹, lautet (GA 65,403): »Der ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen«. Was besagt der ›letzte‹ Gott ? Heidegger sagt (GA 65,406): »Wie aber, wenn der letzte Gott so genannt werden muß, weil zuletzt die Entscheidung über die Götter unter und zwischen diese bringt und so das Wesen der Einzigkeit des Gottwesens ins Höchste hebt.« In welchem Verhältnis steht der letzte Gott zum Ereignis? Hierauf antwortet Heidegger (GA 65,409): »Der letzte Gott ist nicht das Ereignis selbst, wohl aber seiner bedürftig als jenes, dem der Dagründer zugehört.« Und zum Bezug des letzten Gottes zum daseinsmäßigen Menschen heißt es (GA 65,26): »Das Ereignis übereignet den Gott an den Menschen, indem es diesen dem Gott zueignet. Diese übereignende Zueignung ist Ereignis«. Innerhalb des seinsgeschichtlichen Denkens nimmt das denkende Gespräch mit der Spätdichtung Hölderlins einen herausragenden Platz ein. Die einzigartige Stellung Hölderlins als Gesprächspartner im ereignisgeschichtlichen Denken zeigen drei Textstellen aus den Beiträgen zur Philosophie an (GA 65,422): »Die seynsgeschichtliche Einzigkeit Hölderlins muß zuvor gegründet werden und alles ›literar‹- und dichtungshistorische Vergleichen, alles ›aesthetische‹ Urteilen und Genießen, alles ›politische‹ Auswerten muß überwunden sein“. Und (GA 65,422): »eine Vorbereitung des Denkens für die Hölderlinauslegung muß geschaffen werden. ›Auslegung‹ meint hier allerdings nicht: ›verständlich machen‹, sondern den Entwurf der Wahrheit seiner Dichtung in die Besinnung und Stimmung gründen, in denen das künftige Da-sein schwingt.« Weiterhin (GA 65,422 f.): »Die Wahrheit, jene Lichtung des Sichverbergenden, in deren Offenem die Götter und der Mensch zu ihrer Ent-gegnung ereignet werden, eröffnet selbst das Seyn als Geschichte, die wir vielleicht denken müssen, wenn wir den Raum bereitstellen sollen, 42 | friedrich-wilhelm von herrmann
der zu seiner Zeit das Wort Hölderlins, das wieder die Götter nennt und den Menschen, im Widerklang bewahren muß, damit dieser jene Grundstimmungen anstimme, die den künftigen Menschen in die Wächterschaft der Notschaft der Götter bestimmen.« Alle Texte Heideggers nach den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938) , die nun vom Gott und den Göttern, vom Heiligen, von der Gottheit und vom Gott, von den Göttlichen und den Himmlischen handeln, denken von dem seins- oder ereignisgeschichtlichen Horizont des ›letzten Gottes‹ her und müssen deshalb auch aus dem Ereignis und dessen Wesensbezügen und Wesenszusammenhängen denkend nachvollzogen werden. Hierher gehört nun auch der auf das Jahr 1943 zurückgehende Holzwege-Text Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ (GA 5,209–267), in dem Heidegger die Summe aus seinen zwischen 1936 und 1940 gehaltenen Nietzsche-Vorlesungen zieht, die ihrerseits aus dem Horizont des seinsgeschichtlichen Denkens der Beiträge zur Philosophie ausgearbeitet sind. Das Leitwort Nietzsches ›Gott ist tot‹ deutet Heidegger als den Tod des ›christlichen Gottes‹ und darüber hinaus als die Kraftlosigkeit der ›übersinnlichen Welt‹, als das Zu-Ende-gekommensein der abendländischen Metaphysik als Platonismus. In der Sprache der Beiträge zur Philosophie nennt der Tod Gottes die ›Flucht der Götter und des Gottes‹, die auch Hölderlin auf seine Weise in seiner Spätdichtung erfahren hat. Sein denkendes Gespräch mit der Spätdichtung R. M. Rilkes stellt Heidegger in seiner Rilke-Abhandlung in den Holzwegen unter den Titel Wozu Dichter? (GA 5,269–320), die Verkürzung des HölderlinVerses aus der Elegie Brod und Wein, der da lautet: »…und wozu Dichter in dürftiger Zeit?« Die ›dürftige Zeit‹ ist die geschichtliche Zeit der ›Weltnacht‹, des ›Wegbleibens des Gottes‹. Hölderlin als Dichter in dürftiger Zeit achtet dichtend ›auf die Spur der entflohenen Götter‹ und dichtet ›das Heilige‹. Ist auch Rilke ein Dichter in dürftiger Zeit? – so lautet Heideggers Frage, die er an die Spätdichtung Rilkes richtet. Während Hölderlin der Dichter des Heiligen ist, zeigt sich Rilke für Heidegger als Dichter des ›Heilen‹, das dem ›Heiligen‹ voraufgeht. Das im Zentrum der Rilke-Abhandlung stehende späte Gedicht Rilkes beginnt mit dem Vers (vgl. KSA 2,324): »Wie die Natur die Wesen überläßt«. In welcher Weise in Heideggers Rilke-Abhandlung die seinsgeschichtliche Gottesfrage Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Heideggers | 43
leitend ist, sollen drei Zitate anzeigen, die das Verhältnis des Heilen zum Heiligen bedenken (GA 5,319): »Erst im weitesten Umkreis des Heilen vermag Heiliges zu erscheinen. Dichter von der Art jener Wagenderen sind, weil sie das Heillose als ein solches erfahren, unter wegs auf der Spur des Heiligen«. »Unheil als Unheil spurt uns das Heile. Heiles er winkt rufend das Heilige. Heiliges bindet das Göttliche. Göttliches nähert den Gott.« »Auf der Spur zum Heilen gelangt Rilke zu der dichterischen Frage, wann Gesang sei, der wesenhaft singt.« Aus demselben Jahr, in dem die Rilke-Abhandlung verfaßt wurde, stammt auch Heideggers Brief über den Humanismus (GA 9,313–364), in dem ebenfalls der Bezug des Heiligen, der Gottheit und des Gottes zur Wahrheit (Lichtung) des Seins bedacht wird. Eine dieser Textstellen lautet (GA 9,351): »Erst aus der Wahrheit des Seins läßt sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von Gottheit zu denken. Erst im Lichte des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt werden, was das Wort ›Gott‹ nennen soll.« In diesen Zusammenhang gehört die Nennung ›der Göttlichen‹ als eine der vier Weltgegenden des Gevierts in Texten der fünfziger Jahre. In Bauen – Wohnen – Denken heißt es von den ›Göttlichen‹ (GA 7,151): »Die Göttlichen sind die winkenden Boten der Gottheit. Aus dem heiligen Walten dieser erscheint der Gott in seine Gegenwart oder er entzieht sich in seine Verhüllung.« Die Welt als Geviert, als die Versammlung der vier Weltgegenden: Erde und Himmel, die Sterblichen und die Göttlichen, ist ein Gedankenzug, den Heidegger ebenfalls von Hölderlin her gedacht hat. Heideggers seinsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Gottesbegriff der Überlieferung und dessen leitendem Seinsverständnis findet in dem grundlegenden Text Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik (1957) seine zusammenfassende Entfaltung. Eine der prägnantesten Passagen aus diesem Text lautet (GA 11,77): »Dies ist die Ursache als Causa sui. So lautet der sachgerechte Name für den Gott in der Philosophie. Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen./ Demgemäß ist das 44 | friedrich-wilhelm von herrmann
gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher. Dies sagt hier nur: Es ist freier für ihn, als es die Onto-TheoLogik wahrhaben möchte.« Heideggers denkerischer Weg war von Beginn an und durch alle drei Wegabschnitte hindurch – trotz des Wandels seiner denkerischen Gottesfrage – begleitet vom Gespräch mit herausragenden Theologen beider Konfessionen. Hier sind vor allem zu nennen Rudolf Bultmann, Karl Rahner, Karl Lehmann und Bernhard Welte. Anmerkungen
»Mein liebes Seelchen !« Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915–1970. 2 »Mein liebes Seelchen !«, 29. 3 Martin Heidegger: Brief an Engelbert Krebs v. 9.1.1919, 541. 4 M.Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem (GA 56/57); vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl. 5 Martin Heidegger: Brief an die Philosophische Fakultät der Universität Freiburg v. 30.8. 1919, im Nachwort des Herausgebers zu: Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik; GA Bd. 60,348. 6 Vgl. § 8 mit dem ›Aufriß der Abhandlung‹ (SuZ 39 f.). 7 Martin Heidegger: Brief an Max Müller vom 4. November 1947, in: Briefe an Max Müller und andere Dokumente, 15. 8 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). GA Bd. 65. Vgl. hierzu Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträge zur Philosophie«, hier 1–107. 1
Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Heideggers | 45
– Costantino Esposito –
Heidegger, von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität 1. Heideggers Position gegenüber dem ›christlichen‹ Gott Obwohl dies nur selten sichtbar wird, bildet die Gottesfrage einen höchst wichtigen Strang in den Forschungen des jungen Heidegger. Sie ist der versteckte Leitfaden, der jedoch eingelassen ist in das weitläufigere Geflecht seines Denkens. Sogleich sei präzisiert, daß Heidegger jene Frage nicht im allgemeinen darauf bezieht, wie sich Gott in der Philosophie denken oder beweisen läßt, sondern daß er von Anbeginn an den christlichen Gott meint, und folglich zugleich Bedeutung, Rolle und Schicksal, die das Christentum für das Selbstverständnis der menschlichen Existenz und für die Interpretation des Sinns von Sein eingenommen hat und künftig noch einnehmen wird. Heidegger hat sich jedoch nicht allein auf diesem Weg dem Gottesproblem gewidmet: unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit beschäftigte ihn das Problem des ›Göttlichen‹ im Zusammenhang mit der griechischen und der mittelalterlichen metaphysischen Tradition, in der die beiden Gegenstände der Aristotelischen prw2th filosofía – das Seiende als solches (einschließlich seiner Eigentümlichkeiten) und die höchste Gattung des Seienden (oder jei/on) – eng ineinander verwoben erschienen. In dieser Tradition gerät der eigentliche Gegenstand der Metaphysik nach Heideggers Lesart ins ›Übersinnliche‹ – womit der Bedeutungsunterschied zwischen Sein und Seiendem (dem Seienden in seiner Gesamtheit wie dem höchsten Seienden) in Vergessenheit gerate. Zuletzt habe die mittelalterliche lateinische Theologie diese metaphysische Betrachtungsweise vom Verhältnis des höchsten Seienden (des Schöpfers) zu einer anderen Art von Seiendem (der Kreatur) als schlichte Wirkung einer ontischen Hervorbringung verstanden, aufgenommen und radikalisiert. | 47
Diese onto-theo-logische Lesart der metaphysischen Tradition möchte ich hier nicht diskutieren, auch wenn man mit Recht einige Voraussetzungen der Heideggerschen Hermeneutik bestreiten könnte, zumal im Blick auf den Zusammenhang zwischen griechischer Philosophie und christlicher Theologie und auf das Neue, das die sogenannte mittelalterliche Metaphysik in Hinblick auf den Aristotelischen Naturalismus gebracht hat.1 Im übrigen mag daran erinnert sein, daß Heidegger selbst, etwa in der Mitte der Dreißiger Jahre, durch eine äußerst intensive Hölderlin-Lektüre, einen anderen Anfang im Gottesdenken (oder im Denken des ›Göttlichen‹ oder auch der ›Götter‹) in enger Abhängigkeit von Ereignisdenken und seinsgeschichtlichem Denken in Aussicht genommen hat.2 Hier soll es hingegen um eine ›Entdeckung‹ (oder Wiederentdeckung) gehen, die Heidegger in den Zwanziger Jahren macht, nämlich des Christentums als geschichtlicher Begebenheit eines radikal Neuen gegenüber der griechischen Theorie vom Sein und damit einhergehend als Ausgangspunkt für das geschichtlich-zeitliche Verständnis der Existenz. Ich spreche paradoxerweise von einer Entdeckung, wobei ich dem Kontext Rechnung trage, in dem Heidegger seine Arbeit durchführte: stark geprägt von der Neuscholastik und deren Versuch, die katholische Theologie auf eine Standard-Version der Aristotelischen Metaphysik zu gründen, die als philosophia perennis die systematische Handhabe dazu bieten sollte, die christliche Dogmatik rational zu fassen. Heidegger bewegt sich also in einer Gegenrichtung zu den herrschenden Perspektiven in der katholischen Theologie (gleichwohl in direkter Verbindung mit verschiedenen Untersuchungen zur historisch theologischen Hermeneutik im protestantischen Umkreis).3 Aber was er unternimmt, ist eine recht eigentliche Entdeckung des Urchristentums, auch in dem Sinn, daß die Entdeckung sich in seinen Augen als eine besondere Eigenart der frühchristlichen Lebenserfahrung darstellt, nämlich seiner selbst und der Welt. Man kann also sagen, daß wir der Entdeckung einer Entdeckung gegenüber stehen. Ich komme sogleich auf meine Hypothesen, wie dieses wesentliche Moment in der Geschichte von Heideggers Denken zu lesen wäre. a. Die erste Hypothese ist, daß Heidegger durch die frühchristli48 | costantino esposito
che Entdeckung eines neuen Sinnes von Zeit und Geschichte dazu kommt, den ontologischen Sinn der Faktizität des Lebens und der Geschichtlichkeit des Seins zu entdecken. Einzig eine faktische Religion wie das Christentum konnte diese ungewöhnliche Perspektive eröffnen. b. Die zweite Hypothese ist, daß Heidegger eine genaue Wahl in Bezug auf das Christentum trifft: um die frühchristliche Entdekkung, i.e. die radikale ontologische Neuheit einer Faktizität und Geschichtlichkeit gegenüber der griechischen Metaphysik bewahren zu können, muß man diese Entdeckung in eine vor-christliche Sprache übersetzen: nicht mehr jedoch in die Sprache der Metaphysik, vielmehr in die der aristotelischen Physik. Auf diese Weise wird das Christentum als eine Religion der Faktizität gedeutet. c. Die dritte Hypothese (die hier nur eine Arbeitshypothese bleibt) besagt schließlich, daß sich eben im Licht dieser grundlegenden hermeneutischen Option in Hinsicht auf das Christentum viele andere von Heidegger getroffene Wahlen verstehen lassen, nicht nur was die Gottesfrage, sondern allgemeiner, was die Entwicklung der Fundamentalontologie und des seinsgeschichtlichen Denkens angeht. So stellt die Gottesfrage nicht nur eine spezielle Thematik im Rahmen eines äußerst artikulierten und komplexen Denkens dar, wie es das Heideggers ist, sondern bildet in ihm auch ein tiefgreifendes und unterschwellig wirksames Motiv. Versuchen wir, es ans Licht zu bringen. Am Anfang von Heideggers philosophischer Arbeit lassen sich drei zusammenfließende Leitlinien erkennen: 1. Ein ontologisches Überdenken der Husserlschen Phänomenologie, als der einzigen angemessenen Methode, philosophische Forschung zu betreiben, nicht mehr und nicht allein als Analyse von Bewußtseinsinhalten also, sondern als Interpretation des Seins des Leben selbst, oder besser, als das ›Wie‹, in dem sich das Leben selbst versteht; 2. eine Wiederentdeckung des ursprünglichen Christentums (vor allem durch die Paulus-Briefe und die Confessiones Augustins), nicht jedoch als Annahme der geschichtlichen Offenbarung des Mensch gewordenen Gottes, vielmehr als eine ursprüngliche Modalität, die Endlichkeit des menschlichen Seins, d. h. seine Zeitlichkeit und seine Geschichtlichkeit zu erfahren; Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 49
3. eine Wiederaneignung des Aristotelischen Gedankenguts (vor allem der Nikomachischen Ethik und der Physik), das so der gewöhnlichen neuscholastischen Interpretation entzogen wird, für die die Aristotelische Metaphysik eine natürliche Vorbereitung auf die Offenbarungstheologie darstellt, vielmehr verstanden als eine phänomenologische Beschreibung jener ›Bewegung‹, die das Sein des menschlichen Lebens bildet. Um zu erfassen, welche Bedeutung der Gottesfrage und der Frage nach der christlichen Religion in der Ausbildung von Heideggers Denkens zukommt, lohnt es sich, an einen besonders wichtigen Augenblick seiner intellektuellen Biographie zu erinnern. Wir befinden uns im Jahr 1919, einem Jahr, das für das Verständnis der philosophischen und existentiellen Option unseres Autors entscheidend ist: nachdem er seine feste Tätigkeit als Assistent Husserls am philosophischen Seminar der Universität Freiburg aufgenommen hat, distanziert er sich deutlich vom ›Katholizismus‹, um sich der Philosophie als uneingeschränkter Berufung zuzuwenden. In einem Brief an seinen geistigen Mentor, Engelbert Krebs, schreibt er, daß er zwei Jahre verbracht habe, »in denen ich mich um eine prinzipielle Klärung meiner philosophischen Stellungnahme mühte«. Dabei entdeckte er, daß ihm »in einer außerphilosophischen Bindung stehend« nämlich jene mit der Katholischen Kirche, »nicht die Freiheit der Überzeugung und der Lehre gewährleistet« war: und hier bezieht er sich polemisch auf die rigiden neuscholastischen Positionen, die ein »System des Katholizismus« konstruiert hätten, das in seinen Augen nunmehr »problematisch und unannehmbar« sei, aufgrund von »erkenntnistheoretische[n] Einsichten, übergreifend auf die Theorie des geschichtlichen Erkennens«. Für Heidegger bedeutet dies jedoch keinen Grund, »das Christentum und die Metaphysik, diese allerdings in einem neuen Sinn«, abzulehnen. Die deutliche Abkehr von der philosophia perennis in katholischer Ausprägung ist als Folge der neuen persönlichen und theoretischen Position Heideggers zu lesen. Über seine Wahl schreibt er: »Es ist schwer zu leben als Philosoph – die innere Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber u. mit Bezug auf die, für die man Lehrer sein soll, verlangt Opfer u. Verzichte u. Kämpfe, die dem wissenschaftlichen Handwerker immer fremd bleiben. Ich glaube, 50 | costantino esposito
den inneren Beruf zur Philosophie zu haben u. durch seine Erfüllung in Forschung und Lehre für die ewige Bestimmung des inneren Menschen – u. nur dafür das in meinen Kräften Stehende zu leisten u. so mein Dasein u. Wirken selbst vor Gott zu rechtfertigen.«4 Die Ernsthaftigkeit, mit der er die philosophische Forschung wählt, welche eine völlige Hingabe der Existenz verlangt, ohne andere Bindungen und Stützen außer denen, die der Treue zum eigenen Forschen entspringen, verbindet sich mit der Entdeckung einer wahrhaftigen Berufung, wofür Luthers Idee der Rechtfertigung aus dem Glauben des vor Gott stehenden Menschen entscheidend wird. Nur daß hier die Rechtfertigung nicht so sehr von Gott ausgeht, als vielmehr von der eigenen Wahl und von der kühnen Macht der eigenen Fragestellung. In dieser zugleich philosophischen und persönlichen Wahl zeichnet sich der Leitfaden ab, der die drei Richtlinien begleitet und untereinander verbindet, von denen die Rede war im Zusammenhang der Ausbildung von Heideggers Denken (Husserlsche Phänomenologie, Urchristentum und Aristotelisches Gedankengut): sie werden von einer grundsätzlichen Frage durchzogen, die Heidegger in zwei unauflöslich miteinander verbundenen Fragen ausdrückt: a) Was ist Philosophie? b) Wie ist die Seinsweise des Lebens? In diesen Freiburger Jahren hält Heidegger Vorlesungen und Einführungsseminare zur phänomenologischen Forschung, mit ständiger Bezugnahme auf Husserl und auf Aristoteles, und in geringerem, aber nicht weniger bedeutsamem Maße auf Paulus und Augustinus, wobei sich die Philosophie als eine Hermeneutik des faktischen Lebens herauskristallisiert. Fragen, was Philosophie sei, ist kein akademisches Unterfangen, weil die Philosophie an sich eine besondere Modalität ist, in der das Leben sich selbst versteht; und umgekehrt ist Fragen, wie das Leben ist, keine ›biographische‹ oder ›gefühlsmäßige‹ Frage, sondern eine vorzüglich ontologische. Für Heidegger bildet die ›Faktizität‹ (die von der bloßen biologischen oder historischen Tatsache wohl zu unterscheiden ist) die eigentliche ontologische Ebene des Menschen: sie fällt weder mit Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 51
dem Bewußtsein zusammen noch mit dem Ich, und läßt sich weder durch Metaphysik noch durch Psychologie verstehen, sondern allein dank der ursprünglichen (Selbst)Deutung des Lebens, welche die Phänomenologie ist. Durch eine Phänomenologie der Religion, besser gesagt: des religiösen Lebens, erscheint das Phänomen der Faktizität dann auch in Heideggers Augen in seiner ganzen ontologisch-essentialen Bedeutung. Wir stoßen darauf, wenn wir zunächst Heideggers Lektüre einiger Briefe des Paulus verfolgen, und dann seine Interpretation einiger Passagen aus den Confessiones des Augustinus betrachten.
2. Die Paulinische Erfahrung der Zeitlichkeit des Lebens Wenn das Leben des Menschen nicht als eine ein für allemal bestimmte Substanz zu verstehen ist, sondern als eine Selbstverfügung, die geschichtlich eintritt, tut es Not, einen Moment in der Zeit festzustellen, in dem zum ersten Mal die Bedeutung der Zeit auftaucht, oder aber eine historische Begebenheit, die das Einsetzen der Geschichte wäre. Für Heidegger kann dieser Nullpunkt der Manifestation nicht durch die traditionelle Metaphysik der Schöpfung aus dem Nichts erreicht werden, und auch nicht vermittels einer Rückführung auf das transzendentale Bewußtsein. Bleibt die Frage: wann und wie beginnt sich das geschichtlich-zeitliche Phänomen des Leben selbst in seinem vollen Vollzug zu zeigen? Die Antwort kann nicht bloß chronologischer Art sondern muß radikal historisch-phänomenologisch sein: jenes Phänomen beginnt mit dem Urchristentum (GA 58,61): »Das tiefste historische Paradigma für den merkwürdigen Prozeß der Verlegung des Schwerpunktes des faktischen Lebens und der Lebenswelt in die Selbstwelt und die Welt der inneren Erfahrungen gibt sich uns in der Entstehung des Christentum. Die Selbstwelt als solche tritt ins Leben und wird als solche gelebt.« Mit dem Auftreten des Christentums tritt ein neues Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu der ihn umgebenden Welt auf.5 Genauer gesagt beginnt zum ersten Mal die genuine Selbsterfahrung nicht als Naturgegebenheit, auch nicht ausgehend von der Gegen52 | costantino esposito
wart der Welt, sondern als reine Selbstaffektion: sich sich selbst geben und sich in dieser Rezeption verstehen. Das Leben wird mithin zur Übereinkunft von Selbstgegebenheit und Selbstempfängnis. Wenn Heidegger vom Christentum als einem ›historischen Paradigma‹ spricht, bezieht er sich also nicht auf dessen dogmatischen oder kerygmatischen Inhalt (wie es in Hegels spekulativer Reflexion geschieht), aber auch nicht auf eine Weltsicht oder auf ein historisches Bewußtsein (wie es beispielsweise in der hermeneutischen Sichtweise Diltheys geschieht), sondern darauf, daß in diesem eine besondere Tendenz des faktischen Lebens auftaucht (GA 58,61): »Was im Leben der christlichen Urgemeinden vorliegt, bedeutet eine radikale Umstellung der Tendenzrichtungen des Lebens, dabei ist meist gedacht an Weltverneinung und Askese (der ReichGottes-Gedanke, Paulus (vgl. zu allem Ritschl)). Hier liegen die Motive für die Ausbildung ganz neuer Ausdruckszusammenhänge, die sich das Leben schafft, sogar bis zu dem, was wir heute Geschichte nennen.« Sogleich ist anzumerken, daß das Christentum in seinem Aufkommen für Heidegger nie der Beginn einer Geschichte ist, die bis in die Gegenwart reicht: hingegen handelt es sich um einen Anfang, der in sich verhalten bleibt; und paradoxerweise wird das Geschehen, mit dem die geschichtliche Erfahrung des Lebens angefangen hat, nie selbst als Geschichte gesehen. Im Gegenteil habe sich das Urchristentum in seiner geschichtlichen Entwicklung ›objektiviert‹ und kategorialisiert, und sei mithin gewissermaßen zurückgekehrt zum griechischen Epistema. Zwar kommt es für Heidegger im Lauf der Geschichte des Christentums noch zu heftigen Eruptionen gegenüber dem griechischen Objektivismus (er nennt Augustinus, die mittelalterlichen Mystiker, Bernhard von Clairvaux und Bonaventura, Eckhart, Tauler und Luther, bis hin zu Kierkegaard: vgl. GA 58,62 und 205), aber diese ändern nichts daran – im Gegenteil, bestätigen und radikalisieren – was für Heidegger das Schicksal dieser Anfänge ist, nämlich daß mit ihnen nicht etwas Neues beginnt, da jede Neuheit noch in der Ordnung der Gegenstände liege, während das, was hier zum ersten mal auftaucht, ein Phänomen ist, das sich niemals objektivieren könne. Dieses Phänomen ist die ursprüngliche Zeit. Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 53
Bei Paulus treten Heidegger zufolge die religiöse Erfahrung der Zeitlichkeit und die radikal geschichtliche Erfahrung des Lebens selbst am deutlichsten hervor. Paulus ist für Heidegger nicht nur ein Beispiel von religiösem Bewußtsein, sondern er ist die religiöse Erfahrung selbst, gelebt in ihrem Vollzugssinn.6 Bei Paulus sehen wir lebendig die »Bestimmung der urchristlichen Religiosität« (GA 60,82): »1. Urchristliche Religiosität ist in der faktischen Lebenserfahrung. Nachsatz: Sie ist eigentlich solche selbst. 2. Die faktische Lebenserfahrung ist historisch. Nachsatz: Die christliche Erfahrung lebt die Zeit selbst (›leben‹ als verbum transitivum verstanden).« Die Zeit ist kein Kontext oder ›Rahmen‹, innerhalb dessen Erfahrungen ausgelebt werden, sondern sie ist selbst das, was gelebt wird.7 In diesem Sinn ›haben‹ wir die Zeit nicht, sondern wir ›sind‹ es schon immer. Dieses Zeit-sein ist das eigentliche Phänomen der religiösen Erfahrung des Paulus: eine Gegenwart wie der Moment oder der Augenblick – kairo2@ – da sich Vergangenheit und Zukunft eröffnen. Diese drei Zeit-Dimensionen erscheinen in den zwei Paulus-Briefen An die Thessalonicher. Die ›Vergangenheit‹ wird erfahren im Wissen darum daß »ihr von Gott auserwählt seid« und daß »ihr unsere und des Herrn Nachfolge geworden seid« (1 Thess 1, 4–7). Aber das Gewordensein dessen, was man gegenwärtig ist, ist nicht einfach eine Bezugnahme auf das, was vergangen ist, sondern die Überantwortung seiner selbst an die eigene unüberwindbare Schwäche. Mit Freuden das Geschenk des Heiligen Geistes annehmen heißt nicht, sich von der Bedrängnis befreien: im Gegenteil läuft die »Erwartung der parousía des Herrn« hinaus auf »eine absolute Bedrängnis«, eine Erfahrung, die »zum Leben der Christen selbst gehört«, wie es der »Stachel im Fleisch« bekundet, von dem Paulus im zweiten Korinther-Brief (2 Kor 12, 7) spricht (GA 60,97). Im ersten Brief An die Thessalonicher (5,1–3) spricht Paulus hingegen von ›Zeit und Augenblick‹ (perì tw/n cro2nwn kaì tw/n kairw/n), da das zweite Kommen Christi geschehe: »der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht«. Während einige sagen: »Es ist Friede, es hat keine Gefahr«, überfällt sie plötzliches Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau. Und sie werden 54 | costantino esposito
nicht entkommen. Es handelt sich, Heidegger zufolge, um zwei verschiedene Arten, sich auf das eigene Leben zu beziehen; in dem einen Fall wird das Leben berechnet und die Zeit lediglich gemessen; im anderen Fall, von dem Paulus Zeugnis ablegt, bringt die Erwartung die eschatologische Dimension des Lebens zum Vorschein. In der Interpretation, die Heidegger gibt, ist die Erwartung der ersten Christen jedoch nicht als ein Zustand von fehlender Gegenwart zu verstehen, die in der Zukunft erfüllt werden wird; im Gegenteil erfüllt sich das Leben in der Gegenwart, eben insofern es einer objektiven Erfüllung ermangelt (d. h. gerade weil man nicht weiß, ›wann‹ der Herr kommen und ›was‹ bei seinem Kommen geschehen wird). Und dies nicht, weil man es noch nicht weiß, aber in Zukunft wissen wird, sondern weil die Erfüllung der Erwartung »nicht objektiv-einstellungsmäßig« ist (GA 60,105). Die Zeitlichkeit stellt für Heidegger mithin eine «»ständige Unsicherheit« dar, die «auch das Charakteristische für die Grundbedeutendheiten des faktischen Lebens» ist (ebd.). Auch wenn Paulus im zweiten Brief An die Thessalonicher (2,3–7) schreibt, daß das zweite Kommen Christi von einer großen Apostasie und von der Offenbarung des Antichrist vorbereitet sein solle, zeigt er Heidegger zufolge damit an, daß das Ereignis der parousía nichts anderes ist als die Art und Weise, wie die Erwählten die Erwartung erleben im Gegensatz zu den Verdammten: für erstere ist die Erwartung an sich schon der Vollzug des faktischen Lebens; für letztere ist sie hingegen als Aussicht auf bestimmte unweigerlich idolatrische Ereignisse gerichtet. Nicht ein Objektives, nicht ein ›Was‹ erfüllt das Leben, sondern sein bloßes ›Wie‹. Heidegger will »das Inhaltliche« der Verkündigung »völlig beiseite lassen«, paradoxerweise sogar »Jesus selbst als Messias« (GA 60,116). Hier wird Heideggers Option deutlich: das christliche Leben erfüllt sich in der zeitlichen Modalität seiner Beziehung auf den Christus, aber in dem Moment, da Heidegger aus der frühchristlichen Erfahrung die Zeitlichkeit des Lebens hervorgehen sieht, muß ein solches Phänomen von seinem ursprünglichen Bezug abgetrennt und die Person des Christus selbst dem Schicksal der Objektivität überlassen werden. Dennoch bleibt hier die Aporie bestehen: sollte es in einer Phänomenologie der religiösen Erfahrung gerechtfertigt sein, den Inhalt der Botschaft auszuschließen? Das ›Wie des Lebens‹ Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 55
sollte um den Preis einer Ausgrenzung oder Aufhebung (e4poch2) seiner Inhalte zu begreifen sein? Heidegger selbst scheint dieser Aporie gewahr zu sein, wenn er feststellt (GA 60,121f.): »Der Christ hat das Bewußtsein, daß diese Faktizität nicht aus eigener Kraft gewonnen werden kann, sondern von Gott stammt – Phänomen der Gnadenwirkung. […] Der Vollzug übersteigt die Kraft des Menschen. Er ist aus eigener Kraft nicht denkbar.« Das Leben kann sich niemals aufgrund seiner eigenen Kraft vollziehen; und trotzdem ist es für Heidegger strukturell ein Selbst-Vollzug. Wie läßt sich diese Differenz erklären? Ein aus eigener Kraft Vollzogenes wäre noch einmal objektivierbar aufgrund der eigenen Mittel und Visionen. Gott gibt dem Leben nicht seinen Sinn, es sei denn, indem er es von den Bedeutungen löst, die die Menschen von Fall zu Fall als ontische Ziele annehmen, um dem Existieren einen ›Halt‹ zu geben: »Der Christ findet nicht in Gott seinen ›Halt‹ (vgl. Jaspers8). Das ist eine Blasphemie! Gott ist nie ein ›Halt‹. Sondern einen ›Halt haben‹ wird immer vollzogen im Hinblick auf eine bestimmte Bedeutsamkeit, Einstellung, Weltbetrachtung, insofern beim Haltgeben und Haltgewinnen Gott das Korrelat einer Bedeutsamkeit ist. Christliche Weltanschauung: eigentlich ein Widersinn!« (GA 60,122). Wenn die Dinge aber so stehen, wo und wie könnte das Leben dann das Geschenk der Gnade erfahren? Diese hängt vom Wirken des ›Geistes‹ (pneu/ma) ab, welcher nicht nach Art der Mysterienreligionen (wie in der Weisheit des ›Corpus Hermeticum‹) zu verstehen ist als enthusiastischer Besitz Gottes als ›All‹ ( GA 60,124): »Der Christ kennt keinen solchen ›Enthusiasmus‹, sondern er sagt [mit Paulus]: ›Laßt uns wach sein und nüchtern.‹ Hier zeigt sich ihm gerade die ungeheure Schwierigkeit des christlichen Lebens.« Die Alternative zum Enthusiasmus ist eine wesentliche Unmöglichkeit, in objektive Beziehung mit dem zu treten, was das Leben von außen her erfüllen und erretten kann. Der Geist beschränkt sich nicht auf eine ganz innerliche Seelenerfahrung; zugleich aber 56 | costantino esposito
kommt er nicht von Außen zum Menschen. Die Faktizität besteht also darin, die Gabe des Geistes anzunehmen, ohne jedoch jemals erkennen zu können, von wo sie kommt und wer sie gibt. Sie stimmt letztendlich mit der Gabe des Nichts überein.
3. Augustinus und das Leben als Suche Am Anfang von Sein und Zeit, dort wo er die Aufgabe einer Interpretation des Daseins in seiner unmittelbaren und nächsten Modalität, i. e. die »durchschnittliche Alltäglichkeit« einführt, bezieht sich Heidegger auf die Lebensarbeit über das Leben, die Augustinus in den Confessiones leistet: »ego certe laboro hic et laboro in meipso: factus sum mihi terra difficultatis et sudoris nimii« (conf. 10,25; zitiert in SuZ 44).9 Wir können noch einmal mit Augustins Worten sagen (conf. 10,50: »mihi quaestio factus sum«), daß das Dasein sich selbst zum Problem wird, eben weil es ein strukturelles Verhältnis mit dem eigenen Sein ›ist‹, genauer noch ein Verständnis und eine Interpretation der – zumeist impliziten – Bedeutung des Sein selbst. Alle Seinsweisen des Dasein lassen sich auf dieses ›Suchen‹ zurückführen. Heidegger sagt (SuZ 7): »Hinsehen auf, Verstehen und Begreifen von, Wählen, Zugang zu sind konstitutive Verhaltungen des Fragens und so selbst Seinsmodi eines bestimmten Seienden, des Seienden, das wir, die Fragenden, je selbst sind. Ausarbeitung der Seinsfrage besagt demnach: Durchsichtigmachen eines Seienden – des fragenden – in seinem Sein.« Aber dieses Fragen ist seinerseits – und in gleichursprünglicher Weise – wesentlich auf sein Gefragtes und durch sein Gefragtes ausgerichtet (SuZ 7): »Das Fragen dieser Frage ist als Seinsmodus eines Seienden selbst von dem her wesenhaft bestimmt, wonach in ihm gefragt ist – vom Sein. Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein.« Wenn das Sein also gesucht wird, so weil wir Fragende sind; wir Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 57
aber besitzen die Seinsweise des Fragens, weil das Gesuchte uns konstitutiv zugehört. Indem er bewußt riskiert, in einen circulus vitiosus zu geraten – den Sinn von Sein fragen, während man das Sein des Dasein voraussetzt, d. h. das, worauf das Fragen ausgeht –, kehrt Heidegger die Schwierigkeit um und macht eben in der Beziehung des Fragenden (des Daseins) zum Gefragten (das Sein) den Schlußstein aus für die Manifestation des Seins-Sinnes. Genau an diesem Punkt, so scheint mir, ist das Augustinische Problem bei Heidegger angesiedelt, und zwar in zweifacher Hinsicht: als Moment größter Nähe und zugleich schon als Moment endgültiger Abkehr. Ganz und gar Augustinisch ist das Thema des Fragens als ursprüngliche Struktur des Lebens, und ein Verständnis von Suche derart, daß sie nicht allein auf ein Auffinden ausgeht, sondern grundsätzlicher von einem Auffinden her ihren Ausgang nimmt. Aber schon hierin ist die Dynamik von Suchen und Gesuchtem ausgesprochen Heideggerisch angelegt: das Fragen selbst des Seienden, welches sucht, jenes Fragen, das seinem Sein zu eigen ist, kann nur als ein Suchen ohne Finden ausgedrückt werden; nicht weil es unmöglich wäre, das zu erlangen, was man als das andere seiner selbst sucht, sondern weil wir, in dem Maße, wie wir auf uns selbst verwiesen sind, bereits das sind, was wir suchen. Bereits in der 1921 in Freiburg gehaltenen Vorlesung über Augustinus und der Neuplatonismus bemerkt Heidegger, daß bei Augustinus die radikalste Bewegung des Lebens im quaerere Deum (nach Gott suchen) besteht, und eben in dem Vorantreiben der Suche im Angesicht Gottes eröffnet sich der letzte Sinn des confiteri. Heidegger begreift genau den ontologischen (kaum psychologischen, ethischen, theoretischen) Charakter dieser Suche und die konstitutive Rolle dieses ›Bekenntnisses‹ für das Leben des Ich, aber gleichzeitig versteht er sie so, daß der Gegenstand der Suche und der Gesprächspartner des Bekenntnisses fortschreitend aufgesogen werden im Vollzug des Suchens selbst als Suchen: als ob das Bekennen sich vor sich selbst vollziehen müsse. Die Transzendenz des Ich zu dem ›Tu, Domine‹ wird gelegentlich interpretiert als Selbst-Übersteigung des Existierens in sich, von sich und zu sich. Wenn Augustinus dann, nachdem er Gott in den Dingen und bei den Lebenden, die sich auf der Welt begegnen, gesucht und nicht gefunden hat, anfängt, ihn im Leben des Ich selbst aufzusuchen, be58 | costantino esposito
gleitet Heidegger ihn in die geheime und überraschende Weite der ›Memoria‹ (»penetrale amplum et infinitum«).10 ›Memoria‹ ist ein Name, der laut Heidegger im Lateinischen belassen und nicht mit ›Gedächtnis‹ übersetzt werden sollte, was eher ›recordatio‹ wiedergebe. Der Unterschied liegt darin, daß in der ›recordatio‹ Dinge, die bereits durchlaufen und vergangen sind, erinnert werden, während die ›memoria‹ ein Modus ist, das eigene Selbst in der Gegenwart auszuleben. Nun macht sich Augustinus in der ›memoria‹ auf die Suche nach dem Angesicht und der Gegenwart seines Liebes-Objekts (ein ganz eigenartiges ›Objekt›, wenn denn sein Name ›Du› ist: »quid autem amo, cum te amo?«; vgl. conf. 10,8), und über das kein anderes Geschöpf außerhalb seiner ihm eine befriedigende Antwort hat geben können. In diesem Zusammenhang hebt Heidegger zwar die Neuheit dessen hervor, was mit Augustinus seinen Anfang nimmt, doch zu gleicher Zeit beginnt er damit, es in eine andere Richtung zu lenken (GA 60,182): »Im fort- und überschreitenden Aufstieg kommt Augustin in das weite Feld der memoria. […] Was Augustin an konkreten Phänomenen beibringt, rein inhaltlich, und vor allem wie er die Phänomene expliziert, in welchen Grundzusammenhängen und -bestimmungen – z. B. beata vita –, sprengt den Rahmen und die Struktur des üblichen Begriffes. […] In der memoria sind die zahllosen Bilder der Dinge und all das, was wir zugleich über sie – sie durchdenkend erweiternd und zusammenziehend, sie bearbeitend – denken: ›penetrale amplum et infinitum‹ [conf. 10,15]. All das gehört zu mir selbst, und ich fasse es nicht selbst. Um sich selbst zu haben, ist der Geist zu eng. Wo soll es sein, was der Geist an sich selbst nicht faßt? ›Stupor apprehendit me‹ […]«. Das Sein des Lebens wird demnach mit dem Verständnis der Unfaßbarkeit in Bezug auf sich selbst gleichgesetzt, mit dem Rätsel des Sich-Habens. Das Selbst-Sein, besser gesagt: das Sein des Selbst wird hier als spezifische Modalität identifiziert und gelebt, sich selbst zu haben, oder besser gesagt: als Modalität jenes ›Habens‹, das eine Art Selbst-Besitz dessen ist – in der memoria und als memoria –, was sich nicht besitzen läßt. Heidegger geht weiter in dieser Richtung, indem er in erster Linie jene ontologisch unerklärliche Erfahrung interpretiert, die wir alle machen, wenn wir in der ›memoria‹ aufVon der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 59
bewahrte Affekte vergegenwärtigen, aber in einer dem Vergangenen gegenüber veränderten Situation, wie wenn man sich zum Beispiel mit Freuden eine vergangene Traurigkeit vergegenwärtigt (conf. 10,14). Vor allem aber hält er sich bei der Augustinischen Beschreibung der oblivio, d. h. des Vergessens auf (vgl. conf. 10,24). Dies Vergessen annulliert einerseits mit seiner Präsenz die ›memoria‹, andererseits ist es in der ›memoria‹ bewahrt und in ihr gegenwärtig (›praesto‹), kann ich doch erinnern, daß ich vergessen habe und auch was ich vergessen hatte! »Nun ist oblivio bezughaft, was bisher auch nicht beachtet wurde: nicht gegenwärtig haben – etwas, das gegenwärtig gewesen war und es jetzt sein sollte – als nicht gegenwärtig verfügbar haben, als Abwesenheit von memoria. Dieses Abwesendsein, gelegen im Bezugssinn, ist gefaßt – es muß dafür selbst aber gesehen sein – als Nichtdasein im […] Sinne des Nicht-praesto-Seins, und zwar vollzugshaft« (GA 60,188). Die Aporie des Vergessens in der memoria – will sagen der Umstand, daß ich mir sicher bin, selbst das Vergessen, welches die memoria annulliert, zu erinnern –, nötigt erneut, die Frage zu stellen (GA 60,189): »Was heißt Suchen?« Hier ist es vielleicht angebracht, darauf zu verweisen, daß diese Frage die phänomenologische Übersetzung – so neutral, wenn man will, wie zweideutig –, die Heidegger für die explizite Frage vorschlägt, die Augustinus an seinen göttlichen Gesprächspartner richtet (conf. 10,29): »quomodo ergo te quaero, domine?« Für beide heißt das: was ist das Mensch-Sein? Worin besteht das Leben als Fragen? Und umgekehrt, in welcher Weise ist fragen gleichbedeutend mit ›existieren›? Nur daß in den zwei Fällen, wie wir sehen werden, der letzte Sinn des Fragens selbst sich verändert, insofern ja bei Heidegger das te, Domine gänzlich im ›wie› (quomodo) des Fragens (quaero) aufgeht. Im Nexus fragen/finden verkehrt sich die Nähe von Heidegger und Augustinus in einen Abstand. Für Augustinus kann Gott nicht mit anderen Kenntnissen in der ›memoria‹ enthalten sein; nichtsdestoweniger könnte ich ihn nicht suchen, wenn ich ihn nicht der ›memoria‹ hätte, und wenn ich ihn gefunden hätte, würde ich ihn nicht erkennen (conf. 10,26): »si praeter memoriam meam te invenio, immemor tui sum; et quomodo iam inveniam te, si memor non 60 | costantino esposito
sum tui?« Heidegger liest: um finden zu können, was ich suche, und d. h. das Gesuchte selbst, muß ich es bereits ›haben‹ (GA 60,192): »Was heißt eigentlich ›suchen‹? […] Was suche ich denn eigentlich? Genauer: was habe ich als noch verfügbar beim Suchen? (Daß ich es habe, wie ich es habe). Um was bemühe ich mich, was ist mir entfallen? […] im Suchen dieses Etwas als Gott komme ich selbst dabei in eine ganz andere Rolle. Ich bin nicht nur der, von dem das Suchen ausgeht und irgendwo sich hinbewegt, oder in dem das Suchen geschieht, sondern der Vollzug des Suchen selbst ist etwas von dem selbst.« Was suche ich nun denn, wenn ich Gott suche? »cum enim te, Deum meum, quaero, vitam beatam quaero. quaeram te, ut vivat anima mea« (conf. 10,29). Gott suchen bedeutet das Leben suchen, und das Leben suchen – so Heideggers Übersetzung – hat die Bedeutung einer Bekümmerung um Leben (GA 60,193), nämlich jener Unruhe, die das Leben selbst als ›Sorge› ist. Und wenn Augustinus schließlich sagt, daß wir alle wissen, was ›vita beata‹ bedeutet (glückseliges Leben, was wir deshalb in der ›memoria‹ aufbewahren), insofern wir das ›gaudium‹ erfahren haben (conf. 10,30: »expertus sum in animo meo, quando laetatus sum, et adhaesit eius notitia memoriae meae«), streicht Heidegger eine bemerkenswerte Verschiebung in der Dynamik des Erfahrens selbst heraus, da in diesem Fall die Erfahrung nicht mehr mit einem bestimmten Inhalt (dem, was von Fall zu Fall erfahren wird) identifiziert werde, vielmehr mit dem ›Selbst‹, das expertus werde, genauer gesagt mit dem Selbst, das sich erfreut. Die Verschiebung geschehe mithin in der Erfahrung der Freude selbst, die nicht mehr als ein ›Inhalt‹ sondern als eine Modalität verstanden wird, als das ›Wie‹, in dem sich das Leben des Ich erfüllt. Die Frage, was die Freude sei, spitzt sich zu auf die Frage, wie diese vom selbst gehabt wird, und vollendet sich darin. Eben in dieser Vollzugssituation zeigt sich die eigentliche Existenz, als eine »[r]adikale Verweisung auf das Selbst, eigentliche Faktizität« (GA 60,196). Wir wissen jedoch, daß für Augustinus nicht jedes ›gaudium‹ ein Zeichen des glückseligen Lebens ist, sondern allein das ›gaudium de veritate‹, die Freude der Wahrheit (conf. 10,33: »beata quippe vita est gaudium de veritate. hoc est enim gaudium de te, qui veritas Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 61
es«). Heidegger unterstreicht, daß die Wahrheit (und das Licht, mit dem sie das Ich erleuchtet) hier nicht ›dinglich-metaphysisch‹ (griechisch) zu verstehen ist; eher meint sie »einen ganz bestimmten existentiellen Vollzugssinn im selbstweltlich faktischen Erfahren« (GA 60,199). Diese Wahrheit beweist sich nämlich vor allem in jener ›Abfallsrichtung‹, die darin liegt, die Wahrheit (Gott) zu hassen, im Namen dessen, was sich fälschlicherweise das Wahre zu sein wähnt (conf. 10,34): »itaque propter eam rem oderunt veritatem, quam pro veritate amant. Amant eam lucentem, oderunt eam redarguentem.« Heidegger kommentiert (GA 60,201): »Sie hassen sie aber, wenn sie ihnen auf den Leib rückt. Wenn sie selbst sie angeht und aufrüttelt, ihre eigene Faktizität und Existenz in Frage stellt«. Wenn daher Augustinus im zweiten Teil des zehnten Buches der Confessiones von der ›Versuchung‹ als einer strukturellen Dimension des Lebens spricht (conf. 10,39: »numquid non temptatio est vita humana super terram?«), interpretiert Heidegger sie als die phänomenologische Beschreibung der radikalen Wahrheit der Existenz. Während jedoch für Augustinus die drei berühmten Formen der ›temptatio‹ (›concupiscentia carnis‹, ›concupiscentia oculorum‹ und ›ambitio saeculi‹) drei Modalitäten darstellen, in denen eine Unterbrechung der Beziehung zu dem göttlichen Du eintritt, d. h. drei Formen der Sünde vorliegen, bildet die ›temptatio‹ für Heidegger eine ganz und gar unerläßliche, sozusagen absolute Bedingung (ab-soluta, losgelöst aus jeglicher Beziehung, außer der des Selbst zu sich selbst). Das Leben – darauf insistiert Heidegger – ist sich selbst eine ›Last‹ (›moles‹), eine Erfahrung der Belästigung, das so betrachtet, sich jeder Erlösung entzieht. Das Erlebnis hat eben in diesem ›Befrachten‹ oder dieser Beschwernis seinen Ort (GA 60,242): »Molestia: Beschwernis für das Leben, etwas, was dieses herabzieht; und das Eigentliche der Beschwernis liegt nun gerade darin, daß die molestia herabziehen kann, wobei dieses ›können‹ vom jeweiligen Erfahrungsvollzug selbst gebildet wird. Demnach: Diese Möglichkeit ›wächst‹, je mehr das Leben lebt; diese Möglichkeit wächst, je mehr das Leben zu sich selbst kommt.« In dieser Schwere zeigt sich der »Grundcharakter des faktischen Lebens«, i.e. das curare als Bekümmertsein um sich selbst. Allein 62 | costantino esposito
daß ich für Augustinus mir selbst zur Last bin, weil nicht von Dir, o Herr, erfüllt (conf. 10,39: »quoniam tui plenus non sum, oneri mihi sum«), während es sich bei Heidegger wie um ein nacktes und bloßes ›Lasten‹ des Lebens handelt. Die primäre Tendenz des Lebens liegt darin, was Augustinus die Zerstreuung im Vielfältigen (»defluxus in multa«) nennt, und was Heidegger als eine Zerstreuung in der Objektivität der bestimmten Lebensinhalte liest; während die Gegenbewegung in der ›continentia‹ oder in dem Zusammenhalten des aus der Zerstreuung zurückgerissenen Ich besteht. Daß in diesem Deutungszusammenhang die Augustinische Beschreibung der ›temptatio‹ aufgenommen und aufgeladen wird, abgesehen von Augustins eigener Einschätzung, ist dennoch kein Zufall, sondern entspricht einer präzisen methodologischen Option (Nachschrift von Oskar Becker; GA 60,283): »[…] unsere Interpretationsmöglichkeit [hat] ihre Grenzen […], denn das Problem des confiteri entspringt aus dem Bewußtsein der eigenen Sünde. Die Tendenz auf die vita beata, nicht in re, sondern in spe, erwächst nur aus der remissio peccatorum, der Versöhnung mit Gott. Diese Phänomene müssen wir aber beiseite lassen, weil sie sehr schwierig sind und Verständnisbedingungen fordern, die hier im Zusammenhang nicht erreicht werden können. Allerdings werden wir in unserer Betrachtung in der Ordnung des Verstehen das Grundlegende gewinnen für den Zugang zu jenen Phänomenen der Sünde, Gnade usw.«11 4. Von der Gnade zur physis Diese Einstellung liegt der in der Vorlesung von 1922 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles aufgestellten Behauptung zugrunde, der zufolge die Philosophie »prinzipiell a-theistisch« (GA 61,197) sein muß, gerade insofern sie Selbstauslegung des Selbst als reine Fraglichkeit oder Unruhe ist. Ebenso ist es Grundlage für das, was Heidegger in dem berühmten Vortrag von 1927 über Phänomenologie und Theologie sagt, daß nämlich die Philosophie nicht nur die für die christliche Tradition grundlegenden theologischen Begriffe beiseite lassen könne, sondern gleichzeitig auch den ›ontischen‹, d. h. ›vorchristlichen Gehalt‹ solcher Begriffe anzeigen Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 63
müsse, um dadurch »das mögliche, formal anzeigende ontologische Korrektiv« (vgl. Wegmarken, GA 9,66) zu gewinnen. Doch schon in der Vorlesung über Augustinus von 1921 hatte Heidegger entsprechendes geäußert (wiederum aus der Becker-Nachschrift; GA 60,283f.): »Allerdings steht das Sündenbewußtsein und die Art, wie Gott dabei gegenwärtig ist, bei Augustin in einer eigentümlichen Verflechtung mit dem Neuplatonismus. (Daher kann seine Auffassung der Sünde nicht […] für die phänomenologische Explikation des ›echten‹ Phänomens leitend sein.)« In Heideggers Augen bestimmt der Neuplatonismus Augustins also die Auffassung des Selbst als Verhältnis zu etwas dem Selbst gegenüber Anderen, als da wäre das Gnadengeschehen; in den Confessiones hingegen wird dieses gerade der Neuheit der geschichtlichen Begegnung von Ich und Gott durch den Christus zugeschrieben, gegenüber einer gänzlich ›spirituellen› aber auch abstrakten Auffassung des göttlichen Logos, wie es die Vorgabe der ›platonischen Philosophen‹ war (conf. 7,13 ff.). Folglich scheint es, als müsse man für Heidegger Augustinus vom Neuplatonismus befreien, um ihn in Aristotelischem Sinne zu interpretieren, da ja allein bei Aristoteles die frühchristliche Entdeckung des ›Lebens‹ aufbewahrt sei.12 Die Faktizität aber, nachdem sie einmal dem Verhältnis, das sie Augustinus zufolge konstituiert (und worin sie immerhin auch laut Heidegger zum ersten Mal aufgefunden wird), weggenommen ist, hat gereinigt und verabsolutiert zu werden gegenüber jeglicher persönlichen Identität – von Ich und Gott zugleich. Gegen die neuscholastische Tendenz, das thomistische Gedankengut in Kategorien der Aristotelischen Metaphysik zu übersetzen und zu systematisieren, will Heidegger diesen Strang abtrennen und ihn auf andere Weise anknüpfen, indem er Augustinus (nachdem er einmal vom Platonismus losgelöst ist) unmittelbar an die Aristotelische Auffassung vom Leben anbindet. Wie es in Sein und Zeit heißt, handelt es sich um »Versuche einer Interpretation der augustinischen – das heißt griechisch-christlichen – Anthropologie mit Rücksicht auf die grundsätzlichen Fundamente, die in der Ontologie des Aristoteles erreicht wurden« (§ 42, GA 2,264, Anm.). Wenn wir den Natorp-Bericht von 1922 oder die Vorlesung von 64 | costantino esposito
1924 über die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie lesen, verstehen wir, warum Heideggers Aufmerksamkeit, neben Werken wie der Metaphysik oder der Nikomachischen Ethik, der Rhetorik und dem De anima, auf ausgesprochen intensive Weise (wenn schon vielleicht nicht augenfällig) der Physik gilt, da in ihr sichtbar wird, daß im Aristotelischen Denken die entscheidende – wenngleich noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannte – Selbstdeutung des Lebens in Begriffen der ›Bewegung‹ vorliegt. In der Erforschung der physis wird »die Gewinnung der primären Kategorien, die Aristoteles nachher in seiner Ontologie ansetzt«, aufgesucht (GA 18,284). In der Aristotelischen Beschreibung des Seienden »im Wie seines Bewegtsein« gilt es Heidegger zufolge, den Sinn zu finden, aufgrund dessen »das Menschsein«, will sagen »das im Leben Sein« des Daseins zu erfahren und zu deuten ist; und allein in einer solchen Interpretation wäre die dominante Bedeutung des Seins »zugänglich, faßbar und bestimmbar« (vgl. Natorp-Bericht; GA 62, 371–374). Was Aristoteles hinsichtlich der fu2sei o6nta, des Seienden, das in sich das Prinzip der Bewegung hat, sagt, wird von Heidegger als die dynamische Struktur der Bewegtheit, die kínhsi@ des Lebens vom Menschenwesen interpretiert. Wie bereits angedeutet, besteht jene Bewegtheit im curare, d. h. darin, mit dem zu tun zu haben, was man in der eigenen Umwelt antrifft, wobei man ständig in die weltlichen Beschäftigungen verfällt und zusammen damit in die Gegen-Bewegung der Existenz, will sagen in jene Bekümmerung oder Unruhe bezüglich des eigenen Selbst, worin es um das eigene, eigentliche Sein geht (vgl. GA 62,360–362). In der Marburger Vorlesung von 1924 kommentiert Heidegger das dritte Buch der Aristotelischen Physik, wo von der Aporie der Bewegung die Rede ist: die kínhsi@ ist ein derartiges Phänomen, daß in einem einzigen Akt – in einer einzigen e4ntele2ceia – sowohl der Beweger (›agens‹) als auch das Bewegte (›patiens‹) zugegen sind. Der Logik nach müssen wir zugestehen, daß obwohl die zwei Bewegungen (der poíhsi@ und der pa2jhsi@) voneinander verschieden sind, dennoch beide in ein und demselben Subjekt anzusiedeln sind. Aktion und Passion aber wohnen demselben Subjekt inne, da in der Bewegung der Motor stets Beweger eines Bewegten ist, und das Bewegte ist immer bewegt von einem Beweger. Von der Faktizität der Religion zur Religion der Faktizität | 65
Diese Zusammengehörigkeit von Beweger und Bewegtem zieht Heideggers Aufmerksamkeit auf sich (GA 18, 392–393): »Das in Bewegung Seiende wurde bestimmt als Gegenwärtigkeit des Seienden in seinem Seinkönnen [das ist Heideggers Übersetzung von e4ne2rgeia oder e4ntele2ceia und du2nami@]. Kínhsi@ macht also das Da aus des in Bewegung Seienden, des Bewegten. Bewegtes ist aber (vgl. pro2@ ti) Sein im Bezug zu Bewegendem, im Mitdasein eines kinou/n bzw. kinhtiko2n. Wie ist das Da dieses mit dem in Bewegung Seienden als Bewegtem Mitdaseienden zu bestimmen? […] Gegenwärtigsein im Da – in das Da Bringen, Bewegen. Das Bewegende und Bewegte sind im selben Da.« Den Ursprung und das Prinzip der Bewegung (Leben, Dasein, Existenz) in sich zu tragen, stimmt überein mit der radikalsten ontologischen Bedeutung, jener verborgenen Dynamik, die die gesamte Geschichte der Ontologie unterhält. Die Augustinus eigene Errungenschaft wird buchstäblich in Bewegung gesetzt, nicht mehr jedoch ausgehend vom geschichtlichen Ereignis ihrer Herkunft. Was historisch angefangen hat als ›gratia‹ wird letztlich mit fu2si@ identifiziert, nicht aber als eine einfache Rückkehr zur vorchristlichen Situation des Lebendigen, vielmehr mit dem (nachchristlichen) Anspruch, eine radikalere oder ›vollständigere‹ Deutung der christlichen – nämlich geschichtlichen – Entdeckung des Lebens zu geben. So schlägt das spannungsreiche Verhältnis zum Ursprung – was für Augustinus im Wesentlichen bedeutet, in der Wahrnehmung des ›Du‹ zu leben – um in die Unmöglichkeit des Ursprungs als einzigen Lebens-Sinn des Dasein: das Seiende, das sich von selbst aus ›bewegt‹. Das faktische Leben wird somit zu einer endogenen und autogenen Bewegung, einer ›Schenkung‹ des Lebens, die nicht mehr von dem her zu denken ist, was ›gegeben‹ ist (das Ich im objektiven Sinn des Begriffes), aber auch ohne einen Geber (Gott). Am Anfang der Confessiones schreibt Augustinus, daß der Mensch Gott loben wolle (conf. 1,1): »quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te«. In seiner Interpretation scheint es, als ob Heidegger die Unruhe des Herzens – verstanden als die bloße Bewegung des Lebens, die sich selbst zum Problem wird – auflädt und herausstellt, gegenüber seinem Ursprung (dem 66 | costantino esposito
›Du‹, der hat uns gemacht, und uns für ihn gemacht hat) und seinem Schicksal (die volle, vollständige Befriedigung, die Glückseligkeit liegt im Verhältnis zum Du). So wird in Heideggers Augen das ›inquietum cor nostrum‹ selbst zum Ursprung, zu einer Art von selbstbezüglicher Anschreibung des Lebens, zu einer Struktur, die dem Bezug zu seiner Herkunft ontologisch vorausgeht. Das ›fecisti nos ad te‹, das bei Augustinus das Geheimnis der Geburt bezeichnet, wird bei Heidegger auf eine bloße ontisch-objektive Gegebenheit reduziert, von der man sich zu entfernen habe, um das Sein des faktischen Lebens erfassen zu können. Und das ›donec requiescat in te‹ wird interpretiert als das »zum Tode sein«, die Unmöglichkeit als Schicksal und Erfüllung des Lebens. Es bleibt das hermeneutische Rätsel: Heidegger hat stets anerkannt, daß allein bei Augustinus (und vor ihm bei Paulus) die Entdeckung des ontologisch-temporalen Sinnes der Existenz stattgefunden habe – und daß dies ohne das ursprüngliche Christentum nicht möglich gewesen wäre. Und obwohl er den Anspruch gehabt hat, in der Bewegtheit des Aristotelischen Naturwesen die Wahrheit der urchristlichen Entdeckung zu finden, bleibt diese als ein unauflöslicher Kern im Grunde seines Denkens. Von diesem verborgenen Punkt ausgehend können wir – und müssen wir vielleicht – Heideggers Denken einer Prüfung unterziehen: ein Denken, in dem die Fragen größer sind und beunruhigender als alle Antworten. Übersetzt von Sabine Beck
Anmerkungen
Vgl. dazu Costantino Esposito: ›Al di sopra‹, ›attraverso‹, ›al di là‹. Heidegger, Suárez, Tommaso nella storia della metafisica. 2 Vgl. Costantino Esposito: Die Geschichte des letzten Gottes in Heideggers »Beiträge zur Philosophie«. 3 Zu diesem Kontext vgl. Bernhard Casper: Das theologisch-scholastische Umfeld und der anti-idolische Grundzug des Denkens des jungen Heidegger. 4 Brief an Engelbert Krebs vom 9. Januar 1919. 5 Zu diese Hermeneutik des Urchristentum bleiben wichtig die klassischen Studien von Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heidegger (bes. 27 ff. und 1
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306 ff.) und Karl Lehmann: Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger. 6 Dazu vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Faktische Lebenserfahrung und urchristliche Religiosität. Heideggers phänomenologische Auslegung Paulinischer Briefe. 7 Zum folgenden vgl. Contantino Esposito: Heidegger e l’esperienza protocristiana del tempo. 8 Fn Heidegger: »Vgl. K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919, Kap. III c: Der Halt im Unendlichen.« 9 Zur Präsenz Augustins im Denken Heideggers vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Die »Confessiones« des Heiligen Augustinus im Denken Heideggers; Norbert Fischer: Selbstsein und Gottsuche. Zur Aufgabe des Denkens in Augustinus »Confessiones« und Martin Heideggers »Sein und Zeit«; weiterhin Frederick Van Fleteren (Hg.): Martin Heidegger’s interpretations of Saint Augustine: Sein und Zeit und Ewigkeit. 10 Dazu vgl. Costantino Esposito: Memory and Temptation: Heidegger Reads Book X of Augustine’s Confessions. 11 Über das Verhältnis zwischen der Gnade Gottes und die (un)mögliche Erlösung des Menschen vgl. Costantino Esposito: Die Gnade und das Nichts. Zu Heideggers Gottesfrage. 12 Dazu vgl. Costantino Esposito: Heidegger: da Agostino ad Aristotele.
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– Günther Pöltner –
Philosophie als Korrektion der Theologie Heideggers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie
Der Text Heideggers, um dessen Auslegung es im folgenden geht, trägt den Titel Phänomenologie und Theologie.1 Er gehört in jenen Wegabschnitt, den Friedrich-Wilhelm von Herrmann als ›Hermeneutische Da-seins-Analytik in der theologischen Epoché (19211931)‹ überschrieben hat. Es handelt sich um einen Vortrag, der am 8. Juli 1927 in Tübingen gehalten und am 14. Februar 1928 in Marburg wiederholt wurde. Der Ausdruck ›Phänomenologie‹ steht für ›Philosophie‹, d. i. für eine methodisch im Sinne der Phänomenologie vorgehende Philosophie. Die phänomenologisch vorgehende Philosophie ist die in Sein und Zeit entwickelte Fundamentalontologie des seinsverstehenden Daseins. Mit ›Theologie‹ ist die christliche Theologie gemeint, die christliche Offenbarungstheologie.
1. Der Ansatz der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie 1.1 Die vulgäre Auffassung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie Heidegger bestimmt das Verhältnis von christlicher Offenbarungstheologie und Philosophie als »Verhältnis zweier Wissenschaften« (47). Er grenzt sich damit gegen das ab, was er die »vulgäre Auffassung« dieses Verhältnisses bezeichnet (47). Für die vulgäre Bestimmung handle es sich bei Philosophie und Theologie um den Gegensatz von »Glaube und Wissen, Offenbarung und Vernunft« (47), d. h. um einen Gegensatz unterschiedlicher Weltanschauun| 69
gen – einer »glaubensfreie[n]« und einer »glaubensmäßigen« (47). Nach der vulgären Auffassung hätten Theologie und Philosophie ungefähr denselben Bereich – »das menschliche Leben und die Welt« (49) – und würden sich nur durch das Auslegungsprinzip dieses Bereichs unterscheiden. Die Theologie sei dem Prinzip des Glaubens, die Philosophie dem Vernunftprinzip verpflichtet. Die vulgäre Auffassung erlaube jedoch »keine grundsätzliche Einsicht« in das Verhältnis von Theologie und Philosophie als zweier Wissenschaften (47). Eine grundsätzliche Einsicht ist erst auf dem Boden eines Begriffs von Wissenschaft möglich. Dieser Begriff lautet (48): »Wissenschaft ist die begründende Enthüllung eines je in sich geschlossenen Gebietes des Seienden, bzw. des Seins, um der Enthülltheit selbst willen.« Mit dieser Definition sind bereits zwei grundsätzliche Möglichkeiten von Wissenschaft angezeigt (ebd.): einerseits die Wissenschaften vom Seienden, »ontische Wissenschaften« und andererseits »die Wissenschaft vom Sein, die ontologische Wissenschaft, die Philosophie.«2
1.2 Der Unterschied von ontischer und ontologischer Wissenschaft 1.2.1 Die Positivität der ontischen Wissenschaften Ontische Wissenschaften (griech. to1 o6n – das Seiende) richten sich direkt auf ein »vorliegendes Seiendes«, auf ein »Positum«, das bereits aus einem der Wissenschaft vorausliegenden Weltbezug irgendwie bekannt ist (48). Das bedeutet des näheren: 1) Die ontischen oder positiven Wissenschaften schaffen nicht den Erstzugang zu ihrem Thema, sondern setzen dessen vorwissenschaftliche Bekanntheit voraus. Sie beziehen sich allemal auf ein schon irgendwie enthülltes vorliegendes Seiendes, das sie in Form der theoretischen Vergegenständlichung weiter enthüllen.3 2) Der vorwissenschaftlichen Enthüllung entspricht eine Zugangsart, in der sich auf unausdrückliche, vorbegriffliche Weise (a) die Sachhaltigkeit des Gebietes, dem das Seiende angehört 70 | günther pöltner
(z. B. Natur, Geschichte), sowie (b) die Seinsart des Seienden zeigen. Und das bedeutet, 3) daß auch das vorwissenschaftliche Verhalten zu dem schon enthüllten Seienden von einem »unbegrifflichen Seinsverständnis« (50) geleitet ist. Die wissenschaftliche Vergegenständlichung des vorliegenden Seienden, so erklärt Heidegger, sei »eine Fortführung der schon existierenden vorwissenschaftlichen Einstellung zu diesem Seienden« (48). Damit will nicht gesagt sein, die ontischen Wissenschaften lieferten die genauere Bestimmung dessen, was aus dem vorwissenschaftlichen Weltbezug bekannt ist. Die ontischen Wissenschaften sagen uns keineswegs, was die vorwissenschaftlich bekannten Dinge in Wahrheit sind. Die Vergegenständlichung ist vielmehr eine Fortführung, weil die vorwissenschaftliche und die wissenschaftliche Bezugnahme auf Seiendes etwas gemeinsam haben: Beiden wird das Je-schon-Enthülltsein, das Vorgegebensein des Seienden nicht zum Problem. Beide richten sich – wenn auch in unterschiedlicher Weise – auf etwas Gegebenes, fragen aber nicht nach dessen Gegebensein, sondern setzen es einfach voraus. Dies, daß Seiendes je schon so oder so enthüllt ist, ermöglicht die vorwissenschaftliche wie die wissenschaftliche Bezugnahme auf Seiendes. Sofern beide Weisen der Bezugnahme die Rückfrage nach der Ermöglichung des SichZeigens von Seiendem und des Bezugnehmens selbst nicht stellen, bewegen sich beide in derselben Einstellung. Deshalb ist die wissenschaftliche Vergegenständlichung eine ›Fortführung der schon existierenden vorwissenschaftlichen Einstellung‹ zu Seiendem.
1.2.2 Philosophie als ontologische Wissenschaft Besteht die wissenschaftliche Vergegenständlichung in einer Fortführung der vorwissenschaftlichen Einstellung zum Seienden, so ist die ontologische Wissenschaft, die Wissenschaft vom Sein, d. i. die Philosophie nur in einer Einstellungsänderung möglich. Eines ist es, sich auf Gegebenes zu richten und es nach mannigfachen Hinsichten zu erkunden, ein anderes ist es, nach dem Gegebensein zu fragen. Die Philosophie vollzieht eine »Umstellung«, sie richPhilosophie als Korrektion der Theologie | 71
tet sich nicht direkt auf das Seiende, sondern blickt »vom Seienden auf das Sein« (48). In der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie wird diese methodische In-Blick-nahme näher als phänomenologische Reduktion (Rückführung des Seienden auf das Sein), phänomenologische Konstruktion (In-Blick-nehmen des Seins in Gestalt des Entwurfs) und phänomenologische Destruktion (Freilegung des Bedeutungsursprungs der Begriffe) charakterisiert. Destruktion besagt (GA 24,31): »kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind.« Die positiven Wissenschaften beziehen sich jeweils auf ein in gewisser Weise schon enthülltes vorliegendes Seiendes, sie vergegenständlichen ein Positum.4 Nicht aber fragen sie wie die Philosophie nach der Positivität selbst. Deshalb unterscheiden sich die positiven Wissenschaften voneinander nur relativ, hingegen ist jede positive Wissenschaft von der Philosophie »nicht relativ, sondern absolut verschieden« (48). Zwischen Philosophie und den nichtphilosophischen Wissenschaften herrscht absolute Verschiedenheit, weil nur die Philosophie danach fragt, was uns die Bezugnahme auf Seiendes ermöglicht, d. i. was es in der Weise gibt, daß »wir uns Seiendes als Seiendes zugänglich machen und uns zu ihm verhalten […] überhaupt so etwas wie Seiendes erfahren und verstehen« können (GA 24,13 f.). Das aber ist das Sein (GA 24,14): »Seiendes vermögen wir als solches, als Seiendes, nur zu fassen, wenn wir dergleichen wie Sein verstehen.«5 Heideggers These lautet nun (49): »Die Theologie ist eine positive Wissenschaft und als solche daher von der Philosophie absolut verschieden.« Theologie ist eine positive Wissenschaft, allerdings »eine solche eigener Art« (ebd.). Soll demnach das Verhältnis von Philosophie und Theologie bestimmt werden, muß zuvor (a) die Positivität sowie (b) die Wissenschaftlichkeit der Theologie bestimmt werden.
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2. Positivität und Wissenschaftlichkeit der Theologie 2.1 Das Positum der Theologie »Die positive Wissenschaft ist die begründende Enthüllung eines vorliegenden und schon irgendwie enthüllten Seienden« (51). Heidegger grenzt das Positum der Theologie zunächst von unzureichenden Bestimmungen ab. Das Positum der Theologie ist (a) nicht die geschichtliche Erscheinung namens Christentum, weil die Theologie ihrerseits zu diesem Christentum gehört. Die Theologie ist aber deswegen (b) auch nicht bloß die jeweilige Selbstreflexion des Christentums als eines weltgeschichtlichen Ereignisses. Vielmehr ist die Theologie das Wissen darum, weshalb das Christentum zu einem weltgeschichtlichen Ereignis werden konnte. Das aber ist die Christlichkeit (52): Das »Vorliegende (Positum) für die Theologie ist die Christlichkeit.« Das irgendwie schon enthüllte Seiende, das es in der Theologie weiter zu enthüllen gilt, ist »Christus, der gekreuzigte Gott« (52). Die vortheologische Enthülltheit dieses Seienden unterscheidet sich nun grundsätzlich von allen anderen Formen vorwissenschaftlicher Enthülltheit von Seiendem darin, daß sie die Form der Offenbarung besitzt, die sich einzig im Glauben und als dieser ereignet. Die Kreuzigung ist ein geschichtliches Ereignis, dessen spezifische Geschichtlichkeit sich »nur für den Glauben in der Schrift« bezeugt (52). Glaube meint nicht das Für-wahr-halten von Sätzen auf die Autorität eines anderen hin, vielmehr ist unter ›Glaube‹ »eine Existenzweise des menschlichen Daseins« zu verstehen, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie »nicht aus dem Dasein und nicht durch es aus freien Stücken gezeitigt wird, sondern […] aus dem Geglaubten«, d. i. aus Christus, dem gekreuzigten Gott (52). Die Theologie ist also eine positive Wissenschaft »eigener Art« (49), weil die ihr vorausliegende und sie allererst ermöglichende Enthülltheit ihres Positums eine Existenzweise ist, »deren das betroffene Dasein von sich aus nicht mächtig« ist (53), nämlich der Glaube an Gottes Offenbarung in Christus dem Gekreuzigten. Glaubend existieren heißt Teilnehmen und Teilhaben am Offenbarungsgeschehen des Kreuzesereignisses, in der »das ganze Dasein als christliches, d. h. kreuzbezogenes vor Gott gestellt« wird dergePhilosophie als Korrektion der Theologie | 73
stalt, daß es seiner »Gottvergessenheit« inne wird. Kreuzbezogen vor Gott gestellt wird das Dasein durch Gott. Der Glaubensvollzug als Existenzweise ist deshalb ein »Umgestelltwerden der Existenz« (53). Die Rede von einem ›Umgestelltwerden‹ signalisiert aufs Neue, daß der Glaube eine Existenzweise ist, deren das Dasein »von sich aus nicht mächtig« ist (53), vielmehr eine ›geschenkte‹ Existenzweise ist (56), die sich der »gläubig ergriffene[n] Barmherzigkeit Gottes« verdankt (53). Heidegger bezeichnet die Umwandlung der vorgläubigen in die gläubige Existenz als »Wiedergeburt« (53). Sie wird bestimmt als geschichtliches Existieren in der Offenbarungsgeschichte. Die Offenbarungsgeschichte ereignet sich als glaubendes Existieren und zwar so, daß an den Glauben selbst geglaubt wird, d. h. daß zum Glauben nicht in der Absicht auf Distanz gegangen wird, seine Wahrheit von einer außergläubigen Instanz bekräftigen oder gar beurteilen zu lassen. Deshalb heißt es (54): »Glaube ist gläubig verstehendes Existieren in der mit dem Gekreuzigten offenbaren, d. h. geschehenden Geschichte.«
2.2 Die Wissenschaftlichkeit der Theologie 2.2.1 Theologie als Glaubenswissenschaft Die Theologie ist als »die Wissenschaft des Glaubens« (55) »eine völlig eigenständige ontische Wissenschaft« (61). Der Genetiv (›des Glaubens‹) wird nach vier Gesichtspunkten erläutert, wobei die ersten beiden der alten Unterscheidung von ›fides quae‹ und ›fides qua‹ entsprechen: Theologie ist (1) Wissenschaft vom »Geglaubten« (55), d. i. die Explikation der Offenbarung Gottes in Christus, dem Gekreuzigten, und sie ist (2) Wissenschaft vom »glaubenden Verhalten« (55). Sie ist (3) Wissenschaft des Glaubens, insofern sie dem Glauben »entspringt«, von ihm »motiviert und [ge]rechtfertigt« wird (55). Und sie ist (4) Wissenschaft des Glaubens, insofern sie im Dienste der Glaubensfestigung und Glaubensvertiefung selbst steht, nämlich »die Gläubigkeit selbst an ihrem Teil mit auszubilden« (55). Nach diesen vier Hinsichten ist die Theologie »begriffliche Selbstinterpretation der gläubigen Existenz« (56), der es um die »Durch74 | günther pöltner
sichtigkeit des christlichen Geschehens« geht (56). Insofern sie den Sachgehalt und die spezifische Seinsart des christlichen Geschehens begrifflich aufschließt, ist sie systematische Theologie. Als solche ist sie neutestamentliche Theologie, wenn anders das christliche Geschehen im Neuen Testament sich bezeugt. Die Wissenschaftlichkeit der Theologie hat ihr Eigentümliches in ihrer prinzipiell existenziellen Ausrichtung. Ihr Ziel liegt nicht in der Ausbildung eines Systems von für wahr zu haltenden Sätzen, nicht in der Gewinnung eines »freischwebenden Wissen[s] irgendwelcher Sachverhalte« (56), die dann auf die christliche Praxis anzuwenden wären. Vielmehr spricht »[j]eder theologische Satz und Begriff […] in die gläubige Existenz des einzelnen Menschen in der Gemeinde hinein« (56). Auch ist es nicht Sache der Theologie, den Glauben zu begründen und zu rechtfertigen, weil der Glaube »nur durch den Glauben gewonnen werden kann« (56).
2.2.2 Unzureichende Bestimmungen der Theologie Um die wissenschaftliche Eigenständigkeit der Theologie zu unterstreichen, grenzt Heidegger sie von Bestimmungen ab, die nicht der spezifischen Positivität der Theologie, sondern nicht-theologischen Wissenschaften entnommen sind. Die Theologie darf in ihrer Beweisführung und Begrifflichkeit nicht an anderen Wissenschaften gemessen werden. Heidegger nennt »Philosophie, Historie und Psychologie« (60), näherhin spekulative Gotteserkenntnis, Religionswissenschaft und Religionspsychologie. Die im Hinblick auf Heideggers weiteren Denkweg wohl bedeutsamste Abgrenzung betrifft die Philosophie – wird doch in ihr die Problematik der onto-theologischen Verfaßtheit der Metaphysik bereits deutlich greifbar. (a) Die Theologie – dem Wortsinn nach: die Wissenschaft von Gott – hat nach Heidegger keineswegs Gott zu ihrem Gegenstand. Diese zunächst befremdliche Sentenz – wo, wenn nicht in der Theologie soll denn sonst auf wissenschaftliche Weise von Gott die Rede sein? – verliert ihre Befremdlichkeit, berücksichtigt man, worin Heidegger die Positivität der Theologie, d. i. die vortheologische Enthülltheit ihres ›Gegenstandes‹ erblickt hat. Theologie ist sehr wohl Gotteserkenntnis – nur (59): »Theologie ist nicht spekulative Philosophie als Korrektion der Theologie | 75
Gotteserkenntnis.«6 Sie gewinnt ihre Erkenntnis nicht auf spekulative Weise. Die Abgrenzung bezieht sich auf die Quelle theologischer Erkenntnis. ›Spekulativ‹ ist die Bezeichnung für eine Zugangsart und bildet den Gegensatz zu ›religiös‹. Spekulative Gotteserkenntnis entstammt nicht einer religiösen Grunderfahrung, sondern gelangt zu Gott auf dem Wege der Explikation einer Seinsidee. Gott ist dasjenige Seiende, welches dieser Idee auf vollkommene Weise entspricht. Gott ist deshalb das höchste Seiende, die seiende Seinsidee. Diesbezüglich sind die aus dem Jahr 1922 stammenden Phänomenologische[n] Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik aufschlußreich. Aristoteles, so bemerkt Heidegger, gelangt zum Göttlichen über die Idee des Bewegtseins (GA 62,389): »Die Idee des Göttlichen ist aber für Aristoteles nicht in der Explikation eines in religiöser Grunderfahrung zugänglich gewordenen Gegenständlichen erwachsen, das jeῖon ist vielmehr der Ausdruck für den höchsten Seinscharakter, der sich in der ontologischen Radikalisierung der Idee des Bewegtseienden ergibt.«7 Das Göttliche ist dasjenige Seiende, welches »der Idee des Bewegtseins als solchen am reinsten genügt« (ebd.).8 (b) Die Offenbarungstheologie hat ebensowenig »die Beziehung Gottes überhaupt zum Menschen überhaupt und umgekehrt« zum Thema, d. h. sie ist nicht »Religionswissenschaft«, d. i. »Religionsphilosophie oder Religionshistorie« (59). (c) Und ebensowenig ist Theologie Religionspsychologie, d. h. »Wissenschaft vom Menschen und seinen religiösen Zuständen und Erlebnissen«, in denen sich »der Gott im Menschen« entdecken ließe (59). Ein Blick auf frühere Äußerungen Heideggers mag für das bessere Verständnis dieser Abgrenzung hilfreich sein.9 Heidegger geht es erstens um die Ernstnahme der geschichtlichen Singularität christlichen Glaubens. Der christliche Glaube könne nicht als Spezialfall eines allgemein bestimmbaren Gottesverhältnisses des Menschen genommen werden. Religionsphilosophie, die diesen Namen verdient, konstituiert sich nicht in Orientierung an Begriffen von Philosophie und Religion, die nicht weiter auf ihre Herkunft befragt werden, sondern kann immer nur die philosophische Durchdringung eines bestimmten religiösen Bezugs sein. Sie ist dann allerdings, wenn es sich um den christlichen Glauben handelt, Theolo76 | günther pöltner
gie (GA 60,124): »Die echte Religionsphilosophie entspringt nicht vorgefaßten Begriffen von Philosophie und Religion. Sondern aus einer bestimmten Religiosität – für uns der christlichen – ergibt sich die Möglichkeit ihrer philosophischen Erfassung.« Und es geht ihm zweitens angesichts der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Seinsverständnis der griechischen Philosophie um die »wahrhafte Idee der christlichen Philosophie« (!) (GA 59,91), die den Weg für eine wahrhaft christliche, d. h. ›griechentumfreie‹, von griechischphilosophischer Begrifflichkeit nicht verunstaltete Theologie bereiten soll.10 Eine griechentumfreie Theologie dürfte nicht mehr mit vorhandenheitsontologischen Begriffen operieren, sondern müßte sich (im Hinblick auf den zugrundeliegenden Text Phänomenologie und Theologie) in einer existenzial-ontologischen Begrifflichkeit bewegen.
3. Das Verhältnis der Theologie zur Philosophie Nicht der Glaube, wohl aber seine begrifflich-wissenschaftliche Aneignung in Gestalt der Theologie bedarf der Philosophie – von der es eingangs geheißen hat, sie sei die Wissenschaft vom Sein, ontologische Wissenschaft. Die Theologie braucht die Philosophie nicht zur Bereitstellung ihres Themas (etwa in Form sogenannter Gottesbeweise), sie bedarf der Philosophie nicht »zur Begründung und primären Enthüllung ihrer Positivität, der Christlichkeit« (61). Denn die primäre Enthüllung der Christlichkeit, d. i. des kreuzbezogenen Vor-Gott-Gestelltseins (53), geschieht in und als die Existenzmöglichkeit des Glaubens, deren das Dasein »von sich aus nicht mächtig« (53) ist. Die Philosophie vermittelt der Theologie nicht das Thema, sondern verbürgt die Art und Weise von dessen Behandlung. Die Theologie bedarf der Philosophie mit Rücksicht auf ihre Wissenschaftlichkeit, und das wiederum, wie Heidegger erklärt, »nur in einer zwar grundsätzlichen, aber doch eigenartig eingeschränkten Weise« (61). Grundsätzlich, wenngleich auf eingeschränkte Weise ist die Theologie auf die Philosophie angewiesen wegen der eigentümlichen Verfaßtheit ihres Positums. Bei näherem Zusehen scheint diese Angewiesenheit allerdings etwas Überflüssiges zu sein. Philosophie als Korrektion der Theologie | 77
3.1 Die Schwierigkeit der Verhältnisbestimmung Die Schwierigkeit der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie liegt in den ontologischen Implikaten einer jeden ontischen Auslegung11, näherhin darin, daß die Philosophie im Falle der Theologie für etwas zuständig sein muß, wofür sie aus Kapazitätsgründen nicht zuständig sein kann. Auf der einen Seite bewegt sich jede ontische Auslegung – also auch die theologische, wenn anders die Theologie eine ontische Wissenschaft ist – in einem zunächst vorbegrifflichen Seinsverständnis, dessen begriffliche Ausarbeitung Sache der Philosophie ist. Auf der anderen Seite ist jedoch das Geglaubte, d. i. das vorbegriffliche, der Theologie vorausliegende Glaubensverständnis philosophisch unzugänglich, »auf rein rationalem Wege weder in seinem Sachgehalt zu ergründen noch in seinem Recht zu begründen« (62). Zwar kann das Unbegreifliche als solches nur im Horizont einer ausgearbeiteten und sich ihre Grenzen eingestehenden begrifflichen Auslegung aufscheinen – anderenfalls »bleibt die Unbegreiflichkeit gewissermaßen stumm« (62), aber solch eine Auslegung ist nach Heidegger »Sache der Theologie« (62). Also scheint die Philosophie unzuständig zu sein – mit der Konsequenz, daß es mit der Wissenschaftlichkeit der Theologie nichts ist, weil die theologischen Grundbegriffe (z. B. Kreuz, Sünde) sich einer philosophisch-ontologischen Klärung entziehen, von einer solchen Klärung aber die Wissenschaftlichkeit der Theologie abhängt.
3.2 Die korrektive Funktion der Philosophie Heidegger behebt die Schwierigkeit mit dem Hinweis, der christliche Glaube sei eine Wiedergeburt. Wiedergeburt bedeutet Aufhebung der vorgläubigen, ungläubigen, vorchristlichen Existenz in die gläubige christliche Existenz (›vorgläubig‹, ›ungläubig‹ meint den Existenzmodus vor der Annahme der gläubigen Existenz). Aufhebung der vorgläubigen Existenz in die gläubige bedeutet nicht deren Vernichtung, vielmehr wird die vorgläubige Existenz »in die neue Schöpfung« der gläubigen Existenz »hinaufgehoben, in ihr erhalten und verwahrt« (63). Diese Aufhebung betrifft aber nur 78 | günther pöltner
den Existenzmodus der vorchristlichen Existenz, nicht jedoch die ontologische Struktur der Existenz, nicht die jeden Existenzmodus ermöglichenden Konstitutionsmomente, nicht die Existenzialität.12 Weil also auch der christlich-gläubige Existenzmodus durch die existenziale Struktur des Daseins ermöglicht ist, liegt »in der gläubigen Existenz das überwundene vorchristliche Dasein existenzialontologisch mitbeschlossen« (63). Es ist für das weitere Verständnis wichtig, auf die zweifache Bedeutung des Ausdrucks ›vorchristlich‹, auf seine existenzielle und existenziale Bedeutung aufmerksam zu machen. Einmal meint ›vorchristlich‹ einen Existenzmodus – den Existenzmodus vor der Annahme des christlichen Glaubens. Dann aber meint ›vorchristlich‹ die existenziale Struktur der Existenz, die sowohl der vorchristlichen wie der christlichen Existenz zugrunde liegt.13 Daß in der christlichen Existenz das vorchristliche Dasein »existenzial-ontologisch mitbeschlossen liegt« (63), wirkt sich naturgemäß auf die theologischen Grundbegriffe aus: Ihr Gehalt besitzt eine rein rational faßbare und eine rein rational unfaßbare Dimension. Der existenziell-ontische Gehalt ist aufgehoben, d. h. von der »auf sich selbst gestellten Vernunft« nicht zu ermitteln (63), ihr existenzial-ontologischer Gehalt jedoch ist rein rational faßbar. Die theologischen Grundbegriffe haben einen »ontisch aufgehobenen, aber gerade deshalb sie ontologisch bestimmenden vorchristlichen und daher rein rational faßbaren Gehalt« (63). Der vorchristliche, rein rational faßbare Gehalt der theologischen Grundbegriffe bildet den Gehalt desjenigen Seinsverständnisses, »das das menschliche Dasein als solches von sich aus hat, sofern es überhaupt existiert« (63). Die Explikation dieses Seinsverständnisses ist Sache der Existenzialontologie. Was es mit der ontologischen Bestimmtheit theologischer Grundbegriffe auf sich hat, verdeutlicht Heidegger am Beispiel des Begriffs der Sünde. Sünde, d. i. ein Existieren in Sünde, gibt es zwar nur im gläubigen Existieren als dessen Gegenphänomen, weil nur ein Gläubiger faktisch als Sünder existieren kann. Soll der Grundbegriff der Sünde jedoch theologisch expliziert werden, ernötigt der Gehalt dieses Begriffs den »Rückgang auf den Begriff der Schuld« (64). Wer sündigt, ist vor Gott schuldig geworden. Im gläubigen Existenzmodus steht die Schuld unter einem neuen Vorzeichen, sie Philosophie als Korrektion der Theologie | 79
hat eine neue, den Gottesbezug des Menschen betreffende Dimension gewonnen. Mit dem gläubigen Existieren hat sich die Schuld in Sünde gewandelt. Es kann also theologisch nicht von Sünde geredet werden, ohne expliziert zu haben, was Schuld im Grunde ist und worin sie gründet. Zureichend begriffen und ursprünglich gefaßt ist das Phänomen der Schuld erst, wenn gezeigt worden ist, wie ihre Möglichkeit in der das Daseins konstituierenden Struktur, d. i. in der existenzialen Struktur des Daseins gründet. Der ursprünglich gefaßte Begriff der Schuld ist der ontologische Schuldbegriff.14 Die mit der Sünde neu aufgebrochene Dimension ist zwar philosophisch aus dem Schuldbegriff nicht herzuleiten. Die Auslegung dieser Dimension ist Sache der Theologie. Aber ohne Rückgang auf einen zureichenden Schuldbegriff bleibt die Theologie orientierungslos, weil sie dann mit Begriffen operiert, die einer dem Menschsein des Menschen fremden Seinsregion entstammen. Sie hat keinen »Leitfaden« (64) für die Explikation des Sündenbegriffs.
3.2.1 Exkurs zum existenzial-ontologischen Schuldbegriff Die Leitfadenfunktion der Philosophie sei am Beispiel des existenzial-ontologischen Schuldbegriffs ganz kurz verdeutlicht. Existenzial-ontologisch verstanden besagt Schuld: »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit« (GA 2, 376). Das Dasein steht in der Möglichkeit, faktisch unschuldig bzw. faktisch schuldig zu sein. Diese beiden faktischen Möglichkeiten gründen in der existenzialen Struktur des Daseins, d. h. darin, daß das Dasein »als solches schuldig« ist (GA 2, 378 f.). Das faktische Schuldigsein, das seinen Gegensatz im faktischen Unschuldigsein hat, ist vom existenzial-ontologischen Schuldigsein zu unterscheiden. Dieses liegt dem genannten Gegensatz zugrunde und ermöglicht ihn allererst. Faktisches Schuldigsein impliziert zum einen ein ›Nicht-sein‹ und zum anderen ein ›Grundsein für‹. Wenn ich faktisch schuldig bin, bin ich nicht der, der ich sein könnte. Daß ich aber faktisch nicht der bin, der ich hätte sein können, dafür bin ich selbst der Grund. Weil das ›Grundsein für‹ keine erlernbare Fähigkeit ist, sondern ein Strukturmoment des Daseins bildet, ist das Dasein als 80 | günther pöltner
solches schuldig. Und aufgrund dieses seines »ursprünglichen Schuldigseins« (GA 2, 377), kann es faktisch schuldig oder unschuldig sein. Demnach kann Heidegger sagen: »Die formal existenziale Idee des ›schuldig‹ bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit« (GA 2,376). Das faktisch-existenzielle Schuldig- bzw. Unschuldigsein gründet im Existenzial der Schuld. Nur ein Seiendes, das im existenzialen Sinn schuldig ist, kann im faktisch-existenziellen Sinn schuldig oder unschuldig sein. Die existenzial-ontologische Rede vom ursprünglichen Schuldigsein des Daseins sagt nichts über dessen faktisches Schuldig- oder Unschuldigsein aus. Das Grundsein einer Nichtigkeit – dies ist nun der entscheidende Punkt – darf aber nicht als Mangel (privatio) bestimmt werden. Das faktische Schuldigwerden gründet nicht in einem Mangel des Daseins. Dem Dasein kann nichts mangeln – aber nicht deshalb, weil es vollkommen wäre, sondern weil der Begriff des Mangels einer dem Dasein fremden Seinsregion, d. i. dem Vorhandensein, entnommen ist. Mangel besagt Nichtvorhandensein, genauer: Fehlen von etwas, was vorhanden sein sollte. Der Begriff des Mangels hat seine »ontologische Herkunft aus der Ontologie des Vorhandenen« (GA 2, 380). Der Begriff des Mangels verfehlt die Seinsart des Daseins. Wenn dem so ist, dann darf auch das sündige Existieren theologisch nicht als Folge eines Mangels bestimmt werden.
3.2.2 Korrektion als formale Anzeige Weil nun der christliche Gehalt – also der für den Sündenbegriff ausschlaggebende (konstitutive) Gehalt – sich aus dem ontologischen Schuldbegriff nicht herleiten läßt, besitzt dieser nicht eine einfachhin leitende, sondern nur eine mit-leitende (korrektive) Funktion.15 »Die Ontologie fungiert demnach nur als Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe« (64). Die »primäre Direktion (Herleitung) als Ursprung seines christlichen Gehaltes dagegen gibt immer nur der Glaube« (64). Die Korrektion besitzt einen formal-anzeigenden Charakter.16 Sie ist formal, weil ein existenzial-ontologischer Begriff zwar ontologisch bestimmt ist, aber ontisch-existenziell un-bestimmt, d. i. Philosophie als Korrektion der Theologie | 81
offen ist, keine existenziell-ontische Bestimmungen benennt, keine Existenzideen vorgibt, nichts über die konkreten Weisen des Existierens aussagt, sondern im Hinblick darauf neutral ist.17 Und die Korrektion ist anzeigend, weil (um bei dem herangezogenen Beispiel der Sünde zu bleiben) der (ontisch neutrale) existenzial-ontologische Begriff der Schuld »den ontologischen Charakter der Seinsregion anzeigt, in dem sich der Begriff der Sünde als Existenzbegriff notwendig halten muß« (65). Diese Seinsregion ist das Dasein als In-der-Welt-sein, nicht aber das Vorhandensein. Die Anzeige leistet demnach zweierlei: Sie eröffnet, indem sie gleichzeitig abwehrt. Sie eröffnet einen Zugang, insofern sie auf die ›spezifische Existenzdimension des Glaubens‹ (65) hinweist, in der und aus der allein der theologische Begriff der Sünde gewonnen werden kann. Sie ist andererseits Abwehr, indem sie die Theologie vor unsachgemäßen Interpretationswegen abzuhalten sucht.18 Der formal anzeigende Charakter der Korrektion findet Eingang in die abschließende Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie: »Philosophie ist das formal anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe« (65). Diese Bestimmung wird dahingehend ergänzt, daß die Philosophie zwar von sich aus nicht in wesensnotwendiger Beziehung zur Offenbarungstheologie steht – »Philosophie kann aber sein, was sie ist, ohne daß sie als dieses Korrektiv faktisch fungiert« (66) – von sich aus aber diese Beziehung auch nicht ausschließt. Umgekehrt jedoch ist die Theologie sehr wohl im Hinblick auf ihre Wissenschaftlichkeit auf den formal anzeigenden Charakter der ontologischen Grundbegriffe angewiesen.
4. Das hölzerne Eisen einer christlichen Philosophie 4.1 Todfeindschaft zwischen gläubiger und philosophischer Existenz Die mitanleitende (korrektive) Funktion der Philosophie bedeutet für Heidegger freilich nicht, daß es so etwas wie eine christliche Philosophie geben könne. Sie ist für ihn »ein ›hölzernes Eisen‹ 82 | günther pöltner
schlechthin« (66). Denn sie vereint in sich etwas Unvereinbares – gläubiges, christliches Existieren und philosophisches Fragen. Schon bisher ist zwischen Existenzweise und wissenschaftlicher Reflexion unterschieden worden – nämlich zwischen der glaubenden Existenz und der Theologie als Glaubenswissenschaft. Jetzt kommt Heidegger abschließend auf die der Philosophie zugeordnete Existenzweise zu sprechen. Diese Existenzweise wird charakterisiert als ›rein auf sich gestelltes Dasein‹ (65), als ›freie Selbstübernahme des ganzen Daseins‹ (66). Die der philosophischen Existenzweise zugeordnete Wissenschaft – die Philosophie – wird bestimmt als »das freie Fragen des rein auf sich gestellten Daseins« (65). Zwischen beiden Existenzformen herrscht Todfeindschaft (66). Dieser existenzielle Gegensatz zwischen »Gläubigkeit und freier Selbstübernahme des ganzen Daseins« bildet nach Heidegger die Basis für »die mögliche Gemeinschaft von Theologie und Philosophie als Wissenschaften« (66). Weil die Philosophie als Wissenschaft der philosophischen Existenzform, nicht aber der Existenzform des christlichen Glaubens zugeordnet ist, kann es keine christliche Philosophie, sondern nur eine christliche Theologie geben. Die gläubige Existenzform verträgt sich nicht mit der Wissenschaft namens ›Philosophie‹. Philosophieren, frei fragen – so legt es die Formel vom hölzernen Eisen nahe – kann offenbar niemals ein gläubiger Mensch, sondern nur derjenige, der sein Leben unter eine nichtchristliche, glaubens-freie Existenzidee gestellt hat.
4.2 Der vorbereitende Charakter der theologischen Epoché Wieso kann ein gläubiger Christ nicht radikal fragen? Wieso ist ein radikales Fragen an eine glaubens-freie (glaubens-lose) Existenz gebunden? Ist die Rede vom hölzernen Eisen einer christlichen Philosophie sachlich fundiert – oder weist sie in eine andere Richtung? Es bleibt ja zu fragen, was es für den christlichen Theologen letztendlich bedeutet, auf die Mitleitung der Philosophie angewiesen zu sein. Wenn philosophische Reflexion und gläubige Existenzweise ein hölzernes Eisen ergeben, besteht dann das Verhältnis der Theologie zur Philosophie in einer bloßen Übernahme philosophischer Gedanken? Was bedeutet das für die verstehende Aneignung der Philosophie Philosophie als Korrektion der Theologie | 83
durch den Theologen? Solch eine Aneignung ist aber unumgänglich, soll die korrektive Funktion der Philosophie für den Theologen nicht zu einer äußerlichen und im Grunde unverstanden gebliebenen Handhabung existenzial-ontologischer Grundbegriffe absinken. Wenn anders etwas nur verstanden ist, wenn die Frage verstanden ist, auf die das Gesagte die Antwort darstellt, und eine Frage nur im Fragen selbst, im Vollzug des vor die gemeinsame Sache gestellten Fragens, verstanden werden kann, dann muß der gläubig existierende Theologe radikal fragen, d. h. etwas in sich vereinen, was sich nach Heidegger nicht vereinen läßt: radikales Fragen und gläubiges Existieren. Der Theologe muß radikal fragen, ohne sein Fragen an eine nicht-gläubige Existenz gebunden zu haben. Anders gesagt: Die Philosophie kann ihre korrektive (mitleitende) Funktion der Theologie gegenüber nur als christliche Philosophie ausüben. Das wiederum läßt die theologische Epoché, d. i. die existenzialontologische Enthaltsamkeit gegenüber der Gottesfrage in neuem Licht erscheinen. Dazu abschließend zwei Hinweise. (1) In der im Sommersemester 1920 gehaltenen Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (= GA 59) hat Heidegger noch von der wahrhaften Idee einer christlichen Philosophie gesprochen, eine christliche Philosophie offensichtlich nicht als ein hölzernes Eisen angesehen (GA 59, 91): »Es besteht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christlichen Existenz durch sie. Die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie; christlich keine Etikette für eine schlechte und epigonenhafte griechische. Der Weg zu einer ursprünglich christlichen – griechentumfreien – Theologie.« Im Wintersemester 1921/22 ist dann die Rede vom prinzipiellen Atheismus der Philosophie (GA 61, 197): »Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit prinzipiell a-theistisch sein. Sie darf sich gerade ob ihrer Grundtendenz nicht vermessen, Gott zu haben und zu bestimmen. Je radikaler sie ist, um so bestimmter ist sie ein weg von ihm, also gerade im radikalen Vollzug des ›weg‹ ein eigenes schwieriges ›bei‹ ihm«. 84 | günther pöltner
Prinzipiell heißt hier ›methodisch‹. Das radikale, philosophische Fragen sieht methodisch von der Gottesfrage ab, nicht aber ist es an ein nicht-gläubiges Existieren gebunden (ebd.): »Fraglichkeit ist nicht religiös, sondern vermag überhaupt erst in die Situation religiöser Entscheidung zu führen. Ich verhalte mich nicht religiös im Philosophieren, wenn ich auch als Philosoph ein religiöser Mensch sein kann. ›Die Kunst liegt aber darin‹: philosophieren und dabei echt religiös zu sein«. Gläubiges Existieren und philosophisches Fragen ergeben keineswegs ein hölzernes Eisen.19 (2) Im Hinblick auf den Stellenwert der theologischen Epoché gibt Heideggers Bemerkung von einem Offenbarwerden der Gottvergessenheit zu denken: Die von der Offenbarung betroffene und so vor Gott gestellte gläubige Existenz werde »sich selbst offenbar in ihrer Gottvergessenheit« (53). Vergessenheit meint hier nicht das Entfallen eines vordem gehabten Bewußtseinsinhalts. Gläubig werden heißt nicht, sich an etwas erinnern, was man schon einmal gewußt hat. Wenn anders der Glaube dem sich offenbarenden Gott vertraut, und Offenbarung aus Verborgenheit heraus geschieht, dann bedeutet ›Vergessenheit‹ so viel wie ›Verborgenheit‹. Die vorchristliche Existenz steht in einem Gottesbezug – sie bewegt sich in einem Bezug zu dem verborgenen Gott bzw. in einem verborgenen Gottesbezug. Sie bewegt sich in einem Gottesverständnis, in das hinein die göttliche Offenbarung erfolgt – anderenfalls könnte das Dasein die Offenbarung nicht als eine göttliche verstehen.20 Daß das gläubige Existieren eine Existenzweise ist, deren das Dasein »von sich aus nicht mächtig« ist (53), bedeutet nicht, daß es als Dasein in schlechthinniger Gottesunbezüglichkeit steht. Vorgläubiges gottvergessenes Existieren ist nicht identisch mit existenzial-ontologischer Gott-losigkeit. Wenn – wie die Rede vom Offenbarwerden der Gottvergessenheit zeigt – die vorchristliche (vorgläubige) Existenz in einem verborgenen Gottesbezug steht, dann muß dieser Bezug existenzial-ontologisch durchsichtig gemacht werden.21 Dann läßt sich aber die theologische Epoché weder im Sinne einer Abwehr der philosophischen Gottesfrage noch im Sinne eines methodischen Absehens von ihr aufrechterhalten. Die theologische Epoché muß einen anderen Sinn haben. In einer Anmerkung in Vom Wesen des Grundes heißt es, die »ontologische Interpretation des Daseins als In-der-Welt-sein« Philosophie als Korrektion der Theologie | 85
entscheide »weder positiv noch negativ über ein mögliches Sein zu Gott« (GA 9,159, Anm. 56): »Wohl aber wird durch die Erhellung der Transzendenz allererst ein zureichender Begriff des Daseins gewonnen, mit Rücksicht auf welches Seiende nunmehr gefragt werden kann, wie es mit dem Gottesverhältnis des Daseins ontologisch bestellt ist.« Die theologische Epoché steht im Dienst der Vorbereitung und Ausarbeitung einer existenzial-ontologischen Begrifflichkeit und Daseinsauslegung als eines Ansatzes für die Gottesfrage. Sie hat einen die Gottesfrage vorbereitenden Charakter, wie ein Blick auf die späteren Fragestellungen zeigt – Heideggers Denken weiß sich auf einem Weg. Einen Abschnitt dieses Weges näher zu beleuchten, war die Absicht dieses eitrags.
Anmerkungen
Martin Heidegger: Phänomenologie und Theologie. Zitiert nach GA 9, 45–78. Die in runde Klammern gesetzten Seitenangaben beziehen sich auf GA 9. 2 Bekanntlich hat Heidegger später den Begriff der Wissenschaft auf die Fachwissenschaften eingeschränkt und konsequenterweise die Philosophie nicht mehr als Wissenschaft bezeichnet. 3 In der im Sommersemester 1927 gehaltenen Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie heißt es ähnlich: Es »haben alle nichtphilosophischen Wissenschaften Seiendes zum Thema, und zwar dergestalt, daß es ihnen als Seiendes jeweils vorgegeben ist. Es wird im voraus von ihnen gesetzt, es ist für sie ein positum. Alle Sätze der nichtphilosophischen Wissenschaften, auch die der Mathematik, sind positive Sätze« (GA 24,17). 4 Das gilt auch für die Weltanschauung: Philosophie ist die »theoretischbegriffl iche Interpretation des Seins«, »Weltanschauung dagegen ist setzendes Erkennen von Seiendem und setzende Stellungnahme zu Seiendem, nicht ontologisch, sondern ontisch« (GA 24,15). Daher ist eine »Weltanschauungsphilosophie« ein »hölzernes Eisen« (GA 24,16). 5 Vgl. GA 24,13 f.: »Am Ende gibt es etwas, was es geben muß, damit wir uns Seiendes als Seiendes zugänglich machen und uns zu ihm verhalten können, etwas, das zwar nicht ist, das es aber geben muß, damit wir überhaupt so etwas wie Seiendes erfahren und verstehen. Seiendes vermögen wir als solches, als Seiendes, nur zu fassen, wenn wir dergleichen wie Sein verstehen.« 6 Er hätte auch sagen können: Theologie ist nicht Onto-Theologie. 7 Was Gott genannt wird, ist »Titel für das höchste Seiende. An dessen 1
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Seinsart wird sichtbar, wie eine Ontologie, die so von Gott handelt, das Sein versteht« (GA 23,77). Vgl. GA 23,79: »Ontologische Konstruktion des eigentlich absolut Seienden (Gottes) für die Scholastik am Leitfaden der Dinge.« 8 Vgl. Einleitung in die Phänomenologie der Religion (GA 60,97): »Es ist ein Abfall vom eigentlichen Verstehen, wenn Gott primär als Gegenstand der Spekulation gefaßt wird. Das ist nur einzusehen, wenn man die Explikation der begriffl ichen Zusammenhänge durchführt. Dies ist aber niemals versucht worden, weil die griechische Phi losophie sich in das Christentum eingedrängt hat. Nur Luther hat einen Vorstoß in dieser Richtung gemacht, und von daher ist sein Haß auf Aristoteles erklärlich.« 9 Es handelt sich um die in GA 59 und GA 60 publizierten Vorlesungen aus den Jahren 1920 und 1921. 10 Vgl. GA 59, 91: »Es besteht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christlichen Existenz durch sie. Die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie; christlich keine Etikette für eine schlechte und epigonenhafte griechische. Der Weg zu einer ursprüng lich christlichen – griechentumfreien – Theologie.« 11 Vgl. 62: »Alle ontische Auslegung bewegt sich auf einem zunächst und zumeist verborgenen Grunde einer Ontologie.« 12 In Sein und Zeit heißt es(GA 2,17): »Die Frage der Existenz ist eine ontische ›Angelegenheit‹ des Daseins. Es bedarf hierzu nicht der theoretischen Durchsichtigkeit der ontologischen Struktur der Existenz. Die Frage nach dieser zielt auf die Auseinanderlegung dessen, was Existenz konstituiert. Den Zusammenhang dieser Strukturen nennen wir die Existenzialität.« 13 Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins und christliche Theologie, 304: »›Vorchristlich‹ hat also genau genommen zwei Bedeutungen: einmal meint es die Existenzweise der Vorchristlichkeit, zum anderen bezieht sich das Vorchristliche auf die existenzialontologische Verfaßtheit der Existenz, die aber bestimmend ist sowohl für die vor-christliche wie für die christliche Existenzweise.« 14 Vgl. 64: »Je ursprünglicher und angemessener und im echten Sinne ontologisch die Grundverfassung des Daseins überhaupt ans Licht gestellt ist, je ursprünglicher z. B. der Schuldbegriff gefaßt wird, um so eindeutiger vermag er als Leitfaden für die theologische Explikation der Sünde zu fungieren.« 15 korrektiv – nicht: korrigierend. 16 Vgl. dazu Helmuth Vetter: Philosophische Hermeneutik, bes. ›Die formale Anzeige‹ (95–99). Siehe auch GA 60, 62–65 und GA 61, 33 ff. und 141 ff. 17 In Vom Wesen des Grundes heißt es (GA 9,158): »Alle Wesenssätze einer ontologischen Analytik des Daseins im Menschen nehmen dieses Seiende im vorhinein in dieser Neutralität.« 18 Zur weiteren Verdeutlichung des Verhältnisses von existenzial-ontologischer Bestimmung des Daseins und faktisch-existenziellen Vollzugsformen Philosophie als Korrektion der Theologie | 87
des Daseins kann das Existenzial der Verfallenheit aus Sein und Zeit herangezogen werden (GA 2,238f): »Die existenzial-ontologische Interpretation macht daher auch keine ontische Aussage über die ›Verderbnis der menschlichen Natur‹ […]. Das Verfallen ist ein ontologischer Bewegungsbegriff. Ontisch wird nicht entschieden, ob der Mensch ›in der Sünde ersoffen‹, im status corruptionis ist, ob er im status integritatis wandelt oder sich in einem Zwischenstadium, dem status gratiae, befi ndet. Glaube und ›Weltanschauung‹ werden aber, sofern sie so oder so aussagen, und wenn sie über Dasein als In-der-Weltsein aussagen, auf die herausgestellten existenzialen Strukturen zurückkommen müssen, vorausgesetzt, daß ihre Aussagen zugleich auf begriffl iches Verständnis einen Anspruch erheben.« 19 Siehe dazu: Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Die ›andere Metaphysik‹ und die Frage nach dem Religiösen in unserer geschichtlichen Gegenwart, bes. 181 f. 20 Gläubig – im Sinne des christlichen Glaubens – vor Gott gestellt werden kann nicht besagen, erstmals in den Gottesbezug treten. Vielmehr hat sich der Gottesbezug aufgrund der Offenbarung gewandelt. Schließlich hat sich Jesus auf den Glauben der Väter bezogen, und sind gläubige Juden zu Christen geworden. 21 Das Erfordernis einer existenzial-ontologischen Explikation des Gottesbezugs wird auch aus Folgendem einsichtig: Wenn die Philosophie als Wissenschaft vom Sein nach dem Gegebensein-(können) des Seienden fragt, dann muß sie aufgrund ihrer korrektiven Funktion für die Theologie danach fragen, wie sich für das vorgläubige Dasein Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte, als Sohn Gottes zeigen kann. D. h. sie muß die existenziale Daseinsstruktur als den Erscheinungsort Gottes aufzeigen.
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– Paola-Ludovica Coriando –
Seinsbedürfnis Zum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹
1. Die Stellung der ›Beiträge zur Philosophie‹ im Denken Heideggers Über zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung der Beiträge zur Philosophie im Jahr 1989 (vgl. GA 65; 21994) steht die philosophische Welt mit gesteigerter Verlegenheit vor diesem Werk. Es sind nicht viele, die sich an eine direkte Auseinandersetzung mit diesem Gedankengefüge wagen. Wahrscheinlich ist dies ein gutes Zeichen. Die Beiträge sind ein Text, der unmittelbar nach seinem Erscheinen in einigen Kreisen bedingungslose Faszination wie ablehnende Skepsis hervorgerufen hat. Die Sprache der Beiträge, mit ihrer Radikalität, mit den begrifflichen Neubildungen, die für manche ›esoterisch‹ klingen mögen und nicht zuletzt mit den verstreuten Nietzscheanischen Anklängen, lädt offensichtlich mehr zur Polarisierung als zur nüchternen Konfrontation ein. Zweifelsohne ist jede dezidierte Stellungnahme, selbst die negative, eine Form der Entscheidung, die der Indifferenz vorzuziehen ist. Doch jede ›Stellungnahme‹ ist partikulär und begrenzt. Wenn hier zu Beginn ein persönliches Wort erlaubt ist, so sehe ich heute klarer, daß auch meine frühe, durchaus ›positive‹ Rezeption dieses Werkes1 nicht frei war von allzu viel vorschneller Ergriffenheit und damit von den Grenzen, die jeden derartigen Zugang bestimmen. Anderes wiederum scheint mir heute wie damals seine Gültigkeit behalten zu haben. Das betrifft in erster Linie die Bedeutung dieses Werkes innerhalb des Denkweges Heideggers, das – wie FriedrichWilhelm von Herrmann in seinen maßgeblichen Interpretationen gezeigt hat2 – ohne weiteres als Heideggers zweites Hauptwerk anzusehen ist. Es sind die in den Beiträgen erstmals entworfenen | 89
Grundstrukturen, die das begriffliche Gerüst für das gesamte späte Denken Heideggers bilden, ›Strukturen‹ (das Wort muß freilich in Anführungszeichen stehen), die etwa das Gevierts-Denken oder die Besinnung auf das Wesen der modernen Technik in einem neuen Licht erscheinen lassen. Die Beiträge sind das Hauptwerk des seinsgeschichtlichen Denkens und bilden so das Gegenstück zu Sein und Zeit als dem Hauptwerk der Fundamentalontologie. Dem tut die äußere Form dieses Werkes, das auf den klassischen Stil einer philosophischen Abhandlung verzichtet, keinen Abbruch, denn auch diese ›Form‹ ist eine Anzeige jenes immanenten Wandels, der sich mit der denkerischen Erschließung der Geschichtlichkeit des Seins vollzieht. Mit dem Gedanken des ›kehrigen Bezugs‹ von ›ereignendem Zuwurf‹ der Wahrheit des Seins und ›ereignetem Entwurf‹ des Daseins wird die Geschichtlichkeit des Seins in ihrem Elementargefüge erfaßt, ein Gefüge, das freilich keine dem jeweiligen er-eigneten Standort übergeordnete, allgemeine Ebene meint, sondern stets als Vollzug des Er-eignisses zu denken ist. Geschichte, Geschichtlichkeit entfaltet sich – und das gilt auch bei abgewandelter Terminologie durchwegs für das späte Denken Heideggers – in der Gegenwart der ›Seinsverlassenheit‹ (Ent-eignis) als Zeit-Spiel-Raum des ›Übergangs‹ von dem ›ersten‹ in den ›anderen Anfang‹. Die in den Beiträgen bedachten sechs ›Fügungen‹ (Der Anklang, Das Zuspiel, Der Sprung, Die Gründung, Die Zukünftigen, Der letzte Gott) lokalisieren jeweils ›Wesungsbereiche‹ dieser – unserer – ›übergänglichen‹ Zeit. Sie sind jeweils unter einer Leitstimmung stehende ›Ereignungen‹ eines Unterwegsseins des Menschen zu einer neuen Epoche des Seins und damit Signaturen einer ortslosen Gegenwart (der Ab-grund), die, sich als solche zeigend, Stationen eines neuen, künftigen Aufenthaltes des Menschen auf der Erde (Ab-grund) zu denken gibt. Zu diesen Stationen, die sich zwischen Beschreibung und Vordenken bewegen (und damit der hermeneutischen Phänomenologie, an der Heidegger bis zuletzt festhält, eine neue Valenz geben), gehört – unter dem Namen des ›letzten Gottes‹ – eine Gestalt der ›Gottesfrage‹. ›Gottesfrage‹ muß hier freilich, im Sinne Heideggers, bloß als formale Anzeige für ein Denken des Göttlichen stehen, das sich nicht nur in seinen Ergebnissen, sondern auch in seiner inne90 | paola-ludovica coriando
ren Valenz als Frage grundsätzlich von der Tradition unterscheidet. Dieses Sich-unterscheiden findet seine begriffliche Prägung in der Rede vom ›Seinsbedürfnis‹ als dem vorgedachten Seinsbezug des ›letzten Gottes‹. Seinsbedürfnis ist der ›springende‹ Gegenentwurf zum summum ens der Metaphysik. Dieser Begriff bietet im folgenden den Einstieg in die Thematik des ›letzten Gottes‹. Dazu sollen zunächst gezielt einige Grundzüge des metaphysischen Gottesdenkens vergegenwärtigt werden.
2. Der Gott der Metaphysik als das ›summum ens‹ In der griechisch-christlichen metaphysischen Tradition war die Frage nach Gott als eine Grundfrage der metaphysica specialis vornehmlich in den Versuch eingegangen, die Existenz eines letzten fundamentierenden Prinzips zu beweisen. Vor jeder religiösen Bestimmtheit (wenn auch, was die christliche Metaphysik betrifft, nicht frei von leitenden Vorgriffen) meinte dieses Denken, das tatsächliche Vorhandensein eines ›höchsten Seienden‹ anhand der bloßen rationalen Einsicht festmachen zu können, eines Seienden, das im Unterschied zum endlichen Seienden als die Summe aller Perfektionen bestimmt war. Daß dieses Seiende, Gott genannt, auch einen konkreten Bezug zum Menschen und den Grundfragen seiner Existenz hat oder haben kann, wird meistens erst als Folgefrage ausgeführt. Das ›höchste Seiende‹ verrät in seinen verschiedenen Gestalten allem zuvor einen metaphysischen Blick auf die Wirklichkeit, der das durch Vergänglichkeit und Unvollkommenheit belastete Seiende auf ein schlechthin sich Unterscheidendes bedingungslos zu er-gänzen und darin zu fundamentieren trachtet. Metaphysik heißt vertrauende Ausrichtung auf einen Sinn. Das metaphysisch ausgelegte Seiende ist sinnvoll, dem Wahren und Guten zugewandt, in dem es letztlich, unbeschadet seiner vordergründigen Unvollkommenheit, gründet. Der leitende Hinblick auf eine letzte Vollkommenheit garantiert dem Seienden im Ganzen (und der menschlichen Existenz in seiner Mitte) die Ausrichtung auf einen Grund, der rational erschlossen und besprochen werden kann. Metaphysik versteht sich als rein rationales, gleichsam neutrales Geschäft des sich absolut setzenden Zum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹ | 91
Logos, der alles, was ist, als gleichförmiges Substrat von möglichen Prädikationen erfaßt. Diese Gleichförmigkeit ist kein Mangel, sondern die Auszeichnung des Seienden, das dadurch seine Einheit im Guten und Wahren erhält. Das endliche wie das unendliche Seiende haben Teil am selben, in sich einigen Grund. Zwar übersteigt die allein dem unendlichen Seienden zugestandene Seinsfülle die Unvollkommenheit des endlichen Seienden nicht nur graduell, sondern substanziell, zwar wird das ›Sein‹ – im Sinne des Wasseins (essentia) – dem endlichen und dem unendlichen Seienden oft nur ›analog‹ zugesprochen. Das Wie-Sein (existentia) beider aber ist, und auch hier hat Heidegger etwas Entscheidendes gesehen, ›selbstverständlich‹ als faktisches Vorhanden- bzw. Nichtvorhandensein von einem bloßen Etwas bestimmt, wobei das ›bloße‹, und das ist zu betonen, im Selbstverständnis der Metaphysik keine fehlende Vielfalt, sondern gerade die Freiheit des Einfachen meint. ›Es gibt einen Gott‹ bedeutet für die Metaphysik: unter den Seienden kommt ein Seiendes vor, das sich durch Vollkommenheit und Unvergänglichkeit auszeichnet und dadurch das ›höchste‹ Seiende genannt werden muß. Vorkommen heißt hier: nicht nur möglich sein, weder im Sinne der possibilitas (reine Denkbarkeit) noch im Sinne der potentialitas (Dynamis im eigentlichen Sinne), sondern ›wirklich‹ sein, wirklich im Sinne der tätigen Energeia, des konkret wirkenden actus. Weil diesem Seienden nichts Unausgefaltetes (Vermögend/ Mögliches) anhaftet, sondern seine Existenz reine, ausgefaltete Wirklichkeit ist, ist sein wirkliches Sein zugleich ein notwendiges Sein, eine von jeglicher Abhängigkeit befreite Substanz, die in absoluter Weise unbedürftig ist. Das Höchste in der Rangordnung des Seienden ergibt sich aus einem Verständnis von Sein, das auf Einfachheit (man könnte von Monofundamentalismus sprechen), Beständigkeit und Präsenz ausgerichtet ist. Eine diesseits dieses ›onto-theo-logischen‹ Gefüges angesiedelte Denkbarkeit des Göttlichen zu entwerfen ist ein gewagter Versuch, nicht nur, weil es befremdlich erscheint, daß eine sich als endliches (›a-theistisches‹) Denken verstehende Philosophie überhaupt die Rede von Gott aufnimmt. Gewagt ist dieses Sprechen auch deshalb, weil hier in gesteigerter Ausdrücklichkeit alles mit dem Versuch steht und fällt, die Grenzen des metaphysischen Sprachverständnisses zu über winden. Das vergegenständlichende Denken 92 | paola-ludovica coriando
zu verlassen heißt, der Sprache eine Valenz einprägen zu wollen, die ihren eigenen grammatikalischen und das heißt geschichtlichen Gesetzen widerspricht. Denken soll nicht mehr, was die Sprache der Philosophie scheinbar allein kann, fest-stellen, beschreiben und erklären, sondern an-denken, hervorrufen, evozieren, ein noch Verborgenes ›hereinwesen‹ lassen, ohne es zu einem ›Gegenstand‹ des Denkens zu machen. Die hermeneutische Phänomenologie des Ereignisses ist im Grunde ein – wörtlich genommen – bodenloses (abgründiges) Unterfangen, denn sie versucht, den nicht mehr tragenden Grund der Metaphysik zu verlassen zugunsten einer anderen Valenz des Sprechens, die die Regeln der auf dem Subjekt-ObjektGefüge fundierten Grammatik subvertiert bzw. ständig unterlaufen muß. Sie versucht etwas zu sagen, wofür es ›eigentlich‹ ›noch‹ keine Sprache gibt.
3. Das Göttliche im anderen Anfang: Seinsbedürfnis Der Gedanke des Seinsbedürfnisses, mit dem Heidegger auf eine ›andersanfängliche‹ Annäherung an die Frage des Verhältnisses von Sein und Gott abzielt und der für das Verständnis der Fügung ›Der letzte Gott‹ entscheidend ist, ist eine von diesen subvertierenden, ›noch‹ ortlosen Versuchen. Daher gehört dieser Gedanke stimmungsmäßig in die Fügung ›Der Sprung‹. Im Sprung liegt das ab-setzende Moment, ein Weg-von, das freilich selbst bereits ein gründendes Verlassen ist, ein Hin-zu zu einem neuen Boden. Die Frage ›ob überhaupt dergleichen wie Sein den Göttern zugesprochen werden darf, ohne alles Gotthafte zu zerstören‹ (GA 65, 437), verabschiedet nicht nur den Gedanken eines möglichen Beweisens und Verfügbarmachens des Göttlichen, sondern zielt auf eine Überwindung des eindimensionalen Seins-Gefüges der Metaphysik. Diese Eindimensionalität aufzubrechen heißt zunächst, Unterschiede zu setzen, die nicht nur zur ontologischen, sondern auch zur ›theologischen Differenz‹ zwischen Sein und Gott führen. Das Göttliche ist nicht: um diesen in den Beiträgen wiederholt geäußerten Gedanken nicht mit einer bloßen ›atheistischen‹ Gegenthese zur Grundaussage der metaphysica specialis zu verwechseln, ist es nötig, die Sprache immer wieder ihrer eigenen metaphysischen GeZum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹ | 93
setzmäßigkeit zu entreißen. ›Das Göttliche ist nicht‹ bedeutet zunächst: wenn es überhaupt menschenmöglich ist, das Göttliche zu denken, dann nicht mehr als vorhandenes Etwas; denn alle Versuche in diese Richtung sind gescheitert. Bliebe es bei dieser Bedeutung, dann hätten wir mit einer (etwa Kantischen) Kritik am theoretischobjektivierenden Weg der theologia rationalis zu tun. Es bleibt aber nicht dabei, denn der Satz bedeutet auch: wenn überhaupt das Göttliche gedacht werden kann, soll, oder gar muß (und für Heidegger handelt es sich eindeutig ums Letzte), dann nicht mehr im Ausgang vom Sein, und erst recht nicht im Ausgang von einer ›höchsten Seiendheit‹. Die faktische Vorhandenheit Gottes kann weder erkannt noch postuliert werden, denn auch ein Postulat (oder eine Hoffnung) geht hin auf ein gefordertes oder erhofftes Sein, das zwangsläufig als ›höchstes‹ Seiendes angesetzt werden muß. ›Das Göttliche ist nicht‹ heißt dann: die Dimension des Göttlichen soll das Andere bleiben, das Andere des Seins, denn nur als das Andere des Seins erlangt die Dimension des Göttlichen ihre eigene Würde. Doch das Andere des Seins ist nicht ohne Bezug zum Sein. Das Göttliche ›braucht‹ – benötigt, verlangt – Sein als Erscheinungsraum einer jeweiligen Gottesgestalt (GA 65,438): »Daß ›die Götter‹ das Seyn brauchen, rückt sie selbst in den Abgrund (die Freiheit) und spricht die Versagung jeglichen Begründens und Beweisens aus.« Die Gründung einer gewandelten ›Wesung‹ des Seins durch das Da-sein und im Da-sein wird mit diesem Gedanken in ihrer äußersten Notwendigkeit gedacht. Denn sie ist umwillen der Götter. Die Rede von ›den Göttern‹ ist eine formale Anzeige, ein Hinweis in die »Unentschiedenheit, welcher Gott und ob ein Gott welchem Wesen des Menschen in welcher Weise noch einmal zur äußersten Not erstehen werde« (GA 65,437). ›Seinsbedürfnis‹ ist so verstanden keine neutrale Bestimmung, die auf eine bloße Umkehrung des klassischen Begriffs des summum ens abzielt, sondern ein hermeneutisch-phänomenologischer seinsgeschichtlicher Begriff, der das Göttliche epochal und in seinem jeweiligen Bezug zum Da-sein des Menschen denkt. Die Epoche des Übergangs ist in der Sprache der Beiträge eine Gratwanderung zwischen Ab-grund und Ab-grund, und so gibt das Seinsbedürfnis ›den ersten Anhalt, um »›die Götter‹ zu denken als Jene, die das Seyn brauchen«. Der »Abspruch des 94 | paola-ludovica coriando
Seins« an das Göttliche wird in diesem Schwingen zwischen Abgrund und Ab-grund zu einem gründenden Spruch, zu einem übergänglichen Leitsatz, der im Loslassen vom ›onto-theo-logischen‹ Gefüge (Sprung) Sein und Gott neu in ihrem wechselseitigen Verhältnis denkt (Gründung): »Das Seyn ist das von den Göttern Gebrauchte; es ist ihre Not, und die Notschaft des Seyns nennt seine Wesung« (GA 65,438). »Das Seyn gelangt erst in seine Größe, wenn es als Jenes erkannt ist, was der Gott der Götter und alle Götterung brauchen« (GA 65,243). Das vom Da-sein zu gründende Sein als Erscheinungsraum des Göttlichen, das Göttliche als Jenes, das des so gegründeten Seins bedarf – dieser Gedanke ist allerdings keine rationale Einsicht, keine Erkenntnis, kein neues ontotheologisches System, sondern ein Aufruf zur Verwandlung. Denn er zielt letztlich auf die Fragen ab: Ist das Sein (die Welt, unsere Erde, ich selbst) ein des Erscheinens eines Gottes würdiger Ort? Sind wir die, die dieses Erscheinen vorbereiten? Können wir die Winke des Göttlichen hören, sehen, oder gestalten und leben wir das Seiende (die Welt, die Natur) so, daß es sich jeglichem Hereinwesen des Göttlichen verschließt und verschließen muß? Dies führt uns zu einem weiteren Punkt, dem ›Letzten‹ als dem von Heidegger gedachten ›äußersten Bezug‹ im Gefüge von Mensch, Sein und Gott.
4. Das Letzte als das Äußerste und die Vorbereitung des Erscheinungsraums des Göttlichen Ob sich der brauchende Bezug erfüllt – ob das Seyn das von den Göttern Gebrauchte ist, ob ›das Er-eignis‹ ›den Gott an den Menschen‹ übereignet, ›indem es diesen dem Gott zueignet‹ (GA 65,280), ob eine Göttergestalt in die Geschichte hereinbricht – entscheidet sich im (geschichtlichen) Da-sein des Menschen. Die Unverfügbarkeit dieses zueignend-übereignenden Ereignisses entbindet den Menschen so wenig von der Verantwortung für das Seiende im Ganzen, daß sie vielmehr gerade zur ›Vorbereitung‹ eines möglichen künftigen ›Vorbeigangs‹ des Göttlichen und zur ›Bereitschaft‹ für die entwerfende Übernahme seiner ›Winke‹ aufruft (GA 65,411): »Die Vorbereitung des Erscheinens des letzten Gottes ist das äußerste Zum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹ | 95
Wagnis der Wahrheit des Seyns, kraft deren allein die Wiederbringung des Seienden dem Menschen glückt.« Wiederbringung: das Seiende der Unwesentlichkeit, dem machenschaftlichen, berechnenden Bezug entreißen, es retten, befreien, die Welt, den Menschen, die Natur nicht länger als Verfügungsfeld des sich frei betätigenden ›Subjektes‹ sehen, sondern ihm seine Bestimmung zurückgeben: eines Gottes würdig zu sein, eine Bestimmung, die in der Epoche der Seinsverlassenheit progressiv und systematisch ausgelöscht wird. Erst wenn das Seiende im Dasein ›wiedergebracht‹, befreit wird zu seinem unverstellten Wesen, kann es dem ›künftigen‹ Gott zum Geschenk, zum ›bereiten‹ Ort für das ›Fest‹ seines Vorbeigangs werden. Die Wiederbringung aber gelingt nur, wenn sie bereits geleitet ist von einer Grundstimmung, die sich dem möglichen ›Vorbeigang‹ öffnet, ihn als kommendes, bevorstehendes Ereignis andenkt. Schenken erwartet keine Gegenleistung. Die so gedachte Vorbereitung ist keine Aktion, die etwas verändern, bewirken, erreichen will. Sie ist keine begriffliche Einsicht und kein zu entwickelnder Plan, sondern eine Grundstimmung. Die Vorbereitung ist ein neues (entwerfendes) Sehen, ein neues (sich zuwerfendes) Licht (der ›Glanz‹), das das Seiende im Ganzen transfiguriert und es für Augenblicke zu ›heilen‹ und zu ›heiligen‹ vermag. Die Vorbereitung setzt die ›Bereitschaft‹ des Da-seins voraus, den Zuwurf des Seins zu übernehmen, für die Grundstimmung des heilenden Blicks offen zu sein. Bereitschaft ist ein (ursprünglich verstandenes) Ethos, das dem Da-sein die Ortslosigkeit unserer Epoche als ›die Not‹ erfahren läßt. Diese Erfahrung wird zwar nur möglich, wenn für Augenblicke sich etwas anderes, ein befreites Dasein zeigt, ist aber selbst ›noch nicht‹ eine ›Geschichte gründende‹, epochale Erfahrung, sondern eine solche der ›Wenigen und Seltenen‹. Diese Unterscheidung zwischen Erfahrung der Einzelnen und ›Geschichte gründender‹, offener Wesung des Seyns ist auch für das Denken des ›letzten Gottes‹ entscheidend. Es sind »die großen und verborgenen Einzelnen«, die dem »Vorbeigang des Gottes die Stille« und »unter sich den verschwiegenen Einklang der Bereiten« schaffen (GA 65,414). Die ›Wenigen und Seltenen‹, die großen und verborgenen Einzelnen sind die ›Reifen‹, die sich für das ›Äußerste‹ offenhalten, dieses Äußerste aber nicht als ›persönliche Erfahrung‹, 96 | paola-ludovica coriando
sondern als Grund (Ab-grund) leben und entfalten, auf dem das Menschsein neu gegründet werden kann. Vorbereitung des ›anderen Anfangs‹ und Vorbereitung des Erscheinens des letzten Gottes sind dasselbe. Doch die Vorbereitung des Erscheinens des letzten Gottes wird ein äußerstes Wagnis genannt. Das ›Äußerste‹ dieses ›Wagnisses‹ und das ›Letzte‹ aus dem letzten Gott gehören in der Sprache der Beiträge zusammen. Der Wink des letzten Gottes ist nicht etwas anderes als der ›Wink des Seyns‹, der als die ›zögernde Versagung‹ des Grundes die Kehre vom Ab-grund in den Ab-grund zu denken gibt. Denn diese ›Winke‹ haben keinen Inhalt, der voneinander unterschieden werden könnte. Seynsverlassenheit und ›Fehl Gottes‹ sind nicht zwei getrennte Erfahrungen, sondern gehören zusammen als Erfahrung der ›Verwahrlosung‹ des Seins, die sich in der Machenschaft, im Riesenhaften, im vielseitigen Sichverstellen des echten Bezugs zum Seienden zeigt. Worin besteht also das Äußerste der Vorbereitung der Winke des letzten Gottes? An einer Stelle heißt es (GA 65,408): »In diesen Winken wird das Gesetz des letzten Gottes zugewunken, das Gesetz der großen Vereinzelung im Da-sein, der Einsamkeit des Opfers, der Einzigkeit der Wahl der kürzesten und steilsten Bahn.« Die große Vereinzelung im Dasein, die Einsamkeit des Opfers, die Einzigkeit der Wahl der kürzesten und steilsten Bahn sind Hinweise in das ›Äußerste‹ des Daseins, in die äußerste Möglichkeit der Existenz, die in Sein und Zeit als Sein-zum-Tode gedacht ist. Im eigentlich entworfenen Sein-zumTode ist das Dasein auf seine eigene ›Nichtigkeit‹ zurückgestellt, weil im ›Vorlaufen in den Tod‹ das Nicht der Endlichkeit unverdeckt in die Existenz aufgenommen wird. Im seinsgeschichtlichen Denken ist dieses Nicht nicht nur die Endlichkeit der jemeinigen Existenz, sondern wird als das ›Nichten‹ des Entzuges in seiner zweideutigen, kehrigen Valenz gedacht (GA 65,284 f.): Je ursprünglicher das Sein in seiner Wahrheit erfahren wird, um so tiefer ist das Nichts als der Ab-grund am Rande des Grundes. Auch hier zeigt sich ein Grundimpuls des seinsgeschichtlichen Denkens: die rein selbsthafte Dimension, die im fundamentalontologischen Denken noch tragend war, verschmilzt mit der Geschichte. Ohne die (ausdrückliche oder mitlaufende) Rückbindung in den Zuwurf des Seins ist kein wesentliches Existieren möglich. Der Zuwurf des Seins betrifft, wenn es ein Zum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹ | 97
wesentlich entworfener Zuwurf ist, niemals nur ›mich selbst‹, weder als Subjekt, noch als nur jemeinige, vor dem Äußersten der Existenz stehende, vereinzelte Existenz. Die Vereinzelung meines Selbst ist seinsgeschichtlich gedacht zugleich eine Entgrenzung, die jegliches Festhalten am individuellen Heil ausschließt. Seinsgeschichtliches Denken ist im ursprünglichen Sinne ›politisch‹. Die ›Ergänzung‹ des die ursprüngliche Zeitlichkeit erschließenden Seins-zum-Tode um die geschichtliche Dimension (den Zeit-Spiel-Raum des Übergangs) ist freilich »nur den Denkern des anderen Anfangs eine Pflicht« (GA 65,285). Denn ›Denken‹ bleibt für Heidegger – formal gesehen durchaus traditionell – der ›vorgewagteste‹ Weg der Existenz, auch dann, wenn es sich von anderen Wegen, etwa dem Dichten oder der Kunst, Hinweise geben läßt und in ein Gespräch mit diesen Erfahrungen tritt (immerhin räumt Heidegger ein, daß die ›Wiederbringung‹ sich auf verschiedenen ›Bahnen der Bergung‹ vollziehen kann: in den Beiträgen nennt er Zeug, Werk, Opfer, Blick, Tat). Doch das Gefüge ›Die Einzelnen – die Wenigen – die Vielen‹, diese nicht numerisch verstandene Erweiterung des Selbsthaften zeigt Stationen an, in denen die U-topie (wörtlich zu verstehen als (noch) nicht wesender Zeit-Raum) einer Gemeinschaft der ›Bereiten‹ angedacht wird, eine U-topie, in der die Erfahrung des anderen Anfangs gelebt und geteilt werden könnte (im Grunde genommen ist jede Utopie auch eine Art des Gottesbezuges: eine Weise, dem ›Gott‹ etwas zu ›zeigen‹, was wir nicht sind, aber wenigstens sein könnten; somit eine Art der ›schenkenden Vorbereitung‹). Das Äußerste des Da-seins und das ›Letzte‹ des ›letzten Gottes‹ entsprechen einander in der Erfahrung der Endlichkeit des Seins, der Endlichkeit nicht nur als des immer schon bevorstehenden Endes meiner eigenen Existenz, sondern der jeweils geschichtlichen Lichtung des Seyns selbst. Dazu eine Stelle, die diesen Bezug klar ausdrückt (GA 65,410): »Reife ist Bereitschaft, eine Frucht zu werden und eine Verschenkung. Hierin west das Letzte, das wesentliche, aus dem Anfang geforderte, nicht ihm zugetragene Ende. Hier enthüllt sich die innerste Endlichkeit des Seyns: im Wink des letzten Gottes.« Die innerste Endlichkeit des Seins selbst ist seine Geschichtlichkeit, das Unwiderrufliche des Gewesenen und die Unverfügbarkeit des Künftigen; es ist das Hier und Jetzt der Ent98 | paola-ludovica coriando
scheidung, die befreit, aber auch ausschließt und begrenzt, weil sie das Verlorene, nicht Wiederkommende aushalten muß. Der Wink des letzten Gottes ›braucht‹ das Seyn so, wie es sich in der Entscheidung, im jemeinig-geschichtlichen Selbst erschließt. Wenn das Da-sein ent-schieden wird, wird das Da zum Zeit-Raum, zum ›entrückend-berückenden‹ Gefüge der Seinsgeschichte, dann ist das Seiende verwandelt und bereit (GA 65,410): »Im Herrschaftsbereich des Winkes treffen sich neu zum einfachsten Streit Erde und Welt: reinste Verschlossenheit und höchste Verklärung, holdeste Berükkung und furchtbarste Entrückung.« Das vom Göttlichen ›gebrauchte‹ Seyn ist das Seyn der im Seinzum-Tode existierenden Zu-künftigen, der ›Gezeichneten‹ (›Einzelnen‹), denen »Wink und Anfall der Fernung und Nahung des letzten Gottes zu kommt« (GA 65,395). Der Augenblick, in dem die Endlichkeit meines jemeinigen Selbst sich als ein Ereignetsein aus dem geschichtlich sich wandelnden Zuwurf des Seins zeigt, ist die ›Stätte‹, der einräumende Bezug, der den Entzug, die Gegenwart als Über-gang, als mögliche Verwindung der Seinsverlassenheit erfahren läßt. Im Äußersten des Todes wird das seinsverlassene Seiende erst ursprünglich erfahren als das, worin sich – hier und jetzt – kein Gott zeigen kann, weil »sein Vorbeigang eine Beständigung des Seienden und damit des Menschen inmitten seiner fordert« (GA 65,413). Erfahrung des Todes (das Äußerste des Existenz) und Gottesbezug gehören zusammen, wenn auch Heidegger jeglichen Gedanken an traditionelle Fragen wie die Unsterblichkeit der Seele ausblendet. Der fehlende Gott ist hier nicht der Erlöser im christlichen Sinne – wohl aber ein Gotthaftes, das sich in der Erfahrung der inneren Endlichkeit von Mensch und Sein bekundet. In der Erfahrung des Nicht-bereitseins des Seienden für einen Gott, des Sichnicht-Schenken-Könnens einem Gott wird die Notwendigkeit eines neuen Seinsbezugs zur ›äußersten Not‹. »Wie wenige wissen davon, daß der Gott wartet auf die Gründung der Wahrheit des Seyns und somit auf den Einsprung des Menschen in das Da-sein. Statt dessen scheint es so, als müßte und würde der Mensch auf den Gott warten. Und vielleicht ist dieses die verfänglichste Form der tiefsten Gottlosigkeit« (GA 65,417). Das ›Warten‹ des Gottes und überhaupt die in den Beiträgen oft verwendete scheinbar personifizierende Rede Zum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹ | 99
von den Göttern darf nicht mißverstanden werden. Der Gott, der ›wartet‹, ist kein bestimmter, persönlicher Gott, sondern die Unentschiedenheit darüber, ob sich eine Gottesgestalt künftig zeigen wird und zeigen kann in der Geschichte des Menschen. Das Denken des letzten Gottes bleibt ein diesseitiges, phänomenologisches Denken.
5. Der ›ganz andere‹ Gott Das Letzte des ›letzten Gottes‹ ist in seinem wesenhaften Bezug zum Äußersten des Da-seins »nicht das Aufhören, sondern der tiefste Anfang« (GA 65,405), der das Gotteswesen nicht herabsetzt, sondern vielmehr seine ›Einzigkeit‹ ›ins Höchste hebt‹ (GA 65,406), weil die Einzigkeit Gottes sich in der äußersten Vereinzelung des Da-seins zeigt. Das ›Letzte‹ gehört nicht in eine Reihung oder gar eine Chronologie, sondern nennt das Äußerste des Todes als Wesensraum für das Erscheinen des Göttlichen. Doch in den Beiträgen läuft auch eine etwas abgewandelte Valenz mit: das ›Letzte‹ nennt auch, wenngleich nicht primär, den Bezug des Gotthaften zu den ›gewesenen‹ Göttergestalten der abendländischen Geschichte. So gesehen läßt sich der Begriff in Verbindung mit der von Hölderlin, dem ›Zu-künftigsten‹, gedichteten ›Flucht der Götter‹ bringen. »Seine Wesung hat er im Wink, dem Anfall und Ausbleib der Ankunft sowohl als auch der Flucht der gewesenden Götter und ihrer verborgenen Verwandlung« (GA 65,409) Die ›verborgene Verwandlung‹ der Götter zeigt in die Geschichtlichkeit des Göttlichen. Obwohl ›der letzte Gott‹ nicht der Name für einen ›neuen Gott‹ ist, zu dem ein religiöser Bezug bestehen könnte, setzt Heidegger das künftige Gotthafte dezidiert von den gewesenen Gestalten der Gottesverehrung ab. Der letzte Gott ist »Der ganz Andere gegen/ die Gewesenen, zumal gegen/ den christlichen« (GA 65,403). Gemeint ist hier nicht nur der onto-theo-logisch ausgelegte ›Gott der Philosophen‹. Wenigstens in den Beiträgen scheint Heidegger die gesamte christliche Gotteserfahrung, also auch den Gott der Offenbarung, als überwundene bzw. zu überwindende Dimension zu betrachten. Man mag diesen Gedanken dem Einfluß Nietzsches zurechnen oder für eine genuine Folge des seinsgeschichtlichen 100 | paola-ludovica coriando
Denkens halten – es wäre jedenfalls durchaus forciert, Heideggers Gottesdenken in den Beiträgen doch noch ›christlich‹ zu lesen. Eine weit entscheidendere Frage ist allerdings, ob dieser Entwurf nicht eine Möglichkeit eröffnet, die echte Hoffnung, die jedem genuinen religiösen Empfinden zugrunde liegt, anders, freier zu denken, unabhängig davon, ob wir Heideggers Radikalität in ihren letzten Konsequenzen folgen wollen oder können. ›Hoffnung‹ bezieht sich in den Beiträgen immer auf einen Wandel in der Seinsgeschichte. ›Persönliche‹ – existenzielle – Hoffnung hat in diesem Gefüge, und zwar mit gutem Grund, zunächst (wenn auch nicht prinzipiell) keinen Platz. Doch gerade diese existenzielle, ›je-meinige‹, ›je-unsrige‹ Hoffnung: die Hoffnung auf ein die Identität des Selbst bewahrendes Leben nach dem Tod, ist der kühnste Gedanke der christlichen Theologie und Metaphysik. Erlösung von der Endlichkeit, Unsterblichkeit der Seele und Auferstehung der Körper, das Wiedersehen der Toten, sich Wiederfinden als verklärte, aber selbige, identische, im Kosmos einzigartige Person: kaum eine Theologie und Religion hat diese gegen alle Faktizität sich auflehnende Hoffnung so differenziert und strukturiert gedacht und gelebt wie das Christentum. Die Auflehnung gegen die Faktizität ist der größte Entwurf der abendländischen Geschichte. Vom letzten Gott heißt es (GA 65,413): »Hier geschieht keine Erlösung, d. h. im Grunde Nieder werfung des Menschen«. Die christlich gedachte Erlösung setzt die Auslegung des Menschen als sündiges Wesen voraus, das der Gnade Gottes bedarf; so gesehen bedarf der Mensch einer Erhöhung durch den Gott, die man mit gutem Recht als ›Niederwerfung‹ auslegen kann – ein ungeheuerlicher, schwer auszuhaltender Gedanke, der den Menschen in die Einsamkeit seines Wesens entläßt. Gibt es etwas, das wir sehnlichster hoffen als eine Erlösung von der Endlichkeit und Vergänglichkeit? Hier, so heißt es weiter, geschieht »keine Er-lösung, d. h. im Grunde Niederwerfung des Menschen, sondern die Einsetzung des ursprünglicheren Wesens (Da-seinsgründung) in das Seyn selbst: die Anerkennung der Zugehörigkeit des Menschen in das Seyn durch den Gott, das sich und seiner Größe nichts vergebende Eingeständnis des Gottes, des Seyns zu bedürfen« (ebd.). Braucht der Mensch aber nicht auch die kleine, ›allzumenschliche‹ Hoffnung auf eine Überwindung des Todes? Vielleicht ist diese persönliche, diese exiZum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹ | 101
stenzielle Hoffnung selbst eine Utopie oder gar ein bloßes Wunschdenken. Doch wann und wie ist sie das? Kann diese Hoffnung, befreit von aller subjektivistisch-berechnender Haltung, nicht selbst zu einer Bahn werden für ein unverstelltes Sein des Menschen auf der Erde? Brauchen wir nicht die Versammlung auf einen Sinn, die nur eine ›je-unsrige‹ Hoffnung geben kann, um das Seiende in seinem Glanz zu sehen? Hat die ›Wiederbringung‹ des Seienden nicht sehr viel gemeinsam mit dem erfüllten Glück, das wir Menschen (und hier besteht freilich unsere Endlichkeit) niemals getrennt leben können von einem uns ›mitmeinenden‹ Anflug von Ewigkeit? Endlichkeit, Opfer, Einsamkeit, innere Zerklüftung, Untergang, sich verschwenden – es sind diese Worte, die in den Beiträgen das Wesen der Zu-künftigen anzeigen. Sie bergen eine echte phänomenologische Radikalität in sich, die letztlich ihren Ursprung in der Hermeneutik der Faktizität hat. Ob die (christliche) Auflehnung gegen das Faktische allerdings nicht auch Wahres und Radikales enthält – und das heißt auch: was Phänomen ist und was Einbildung oder Verstellung, entscheidet sich letztlich nur in der Haltung – dem wohlverstandenen Ethos – des Einzelnen. Mir scheint es, daß die Wesentlichkeit aller Dinge und das erfüllte Leben auf dieser Erde immer einer Utopie bedürfen, der Utopie einer Überwindung des ständig drohenden Verlustes. Die Wiederbringung braucht einen verklärenden, sie braucht einen dichtenden Blick, der mitten im Sinnlosen das verborgen Bewegende (den Sinn, das jeῖon) aufzuspüren vermag. Die Wiederbringung braucht die Liebe zu einer Mitte, sie braucht Erzählungen, die von dieser Liebe, von dieser Mitte sagen und um sie versammeln. Die Metaphysik so, wie sie sich selbst verstand, ist zu Ende. Deshalb, vielleicht, können wir erst jetzt den metaphysischen Blick als einen dichterischen Blick verstehen und die Metaphysik selbst als eine Erzählung bewahren, die wahr ist, weil sie wahr sein sollte; als ein Postulat, aber als ein dichterisches und dichtendes Postulat, das von einem tieferen Grund kommt als der als ratio sich setzende Logos. Vielleicht ist die Freilegung dieser dichterischen und dichtenden Sicht der Sinn der ›überwindenden Wiederholung‹ der Metaphysik. Wenn sie gelingt, könnte diese neue Sicht die Metaphysik von ihrem totalen, setzenden Anspruch befreien und sie damit ganz anders erscheinen lassen als der von Kant mißbilligte ›Kampfplatz von 102 | paola-ludovica coriando
Streitigkeiten und grundlosen Anmaßungen‹. Freilich gehört dazu der Mut des Verzichtes auf jegliche Absolutsetzung, ein Mut, den die Metaphysik selten aufbringen konnte und den jegliche antimetaphysische Haltung (und dazu gehört Heidegger nicht) erst recht verfehlt. Die Frage ist: verbleiben wir bei den ›Stellungnahmen‹, bei der ›Wahrheit‹-Suche, beim Richtigen oder Falschen – oder sehen wir das Dichterische der Metaphysik, dieses äußersten Wagnisses unserer Geschichte? Und damit auch das Dichterische des christlichen Gottes und seines eigenen Äußersten? Dann vielleicht wird der christliche Gott selbst, aber werden auch die griechischen, die germanischen Götter und alle gewesenen Göttergestalten, zu denen der Mensch mit Hoffnung hinaufschauen konnte, in ihrer Einzigkeit erscheinen als die ›ganz Anderen‹, als immer noch ›zu-künftige‹ Gestalten des Göttlichen, die auf ein ›dichterisches Wohnen‹ des Menschen warten.
Anmerkungen
Paola-Ludovica Coriando: Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-gründigen Zeit-Räumlichkeit des Übergangs in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹. 2 Vgl. u. a. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹. 1
Zum ›letzten Gott‹ in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹ | 103
– Johannes Brachtendorf–
Heideggers Metaphysikkritik in der Abhandlung: Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹
1. Heidegger und der Nihilismus Nietzsches Heidegger hat sich in den 1930er und 1940er Jahren intensiv mit Friedrich Nietzsche auseinandergesetzt, sowohl in seinen Vorlesungen als auch in zahlreichen Publikationen. Vieles ist zusammengetragen und publiziert im zweibändigen Werk Nietzsche.1 Auch der Aufsatz Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ (= NWGit), der in Holzwege abgedruckt ist, gehört in diesen Zusammenhang. Er wurde 1943 vorgetragen, geht inhaltlich aber auf Vorlesungen aus den Jahren 1936 bis 1940 zurück. In diesem Aufsatz präsentiert Heidegger eine Deutung der Philosophie Nietzsches, die vor allem deren Stellung innerhalb der Metaphysikgeschichte zu bestimmen versucht. Im Vordergrund stehen dabei Nietzsches Ideen des ›Willens zur Macht‹, der ›Umwertung aller Werte‹ und natürlich das Wort ›Gott ist tot‹. Heideggers Perspektive ist bei diesen Themen aber durch die Frage nach den Spielarten und dem Wesen des Nihilismus bestimmt. Welche Rolle, so fragt Heidegger, spielt Nietzsches Ringen mit dem Nihilismus für die Geschichte der Frage nach dem Sein?2 Über weite Strecken bietet Heideggers Aufsatz eine Rekonstruktion der Lehre Nietzsches unter Rückgriff auf einige weitere, aber nicht allzu zahlreiche Nietzsche-Texte. Dagegen umreißen die eröffnenden und die abschließenden Partien Heideggers Metaphysikkritik, wie sie in den Schriften nach der ›Kehre‹ häufig zu finden ist, und sie betrachten Nietzsches Denken aus der Perspektive dieser Kritik. Ich werde mich vor allem diesen Partien des Aufsatzes zuwenden. Zum besseren Verständnis werde ich Heideggers Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944/46)3 hinzuziehen, weil viele Zusammenhänge, die in Nietzsches Wort nur angedeutet werden, dort deutlich zur Sprache kommen. | 105
Heidegger erkennt dem Denken Nietzsches eine philosophiegeschichtlich herausragende Bedeutung zu, die er allerdings mit einer negativen Bewertung versieht. Zunächst stellt er Nietzsches Philosophie in den Kontext der abendländischen Metaphysik, und zwar so, daß sie nicht als deren Ende, sondern als ihre konsequenteste Ausprägung erscheint. Dies ist ungewöhnlich, ja geradezu provozierend, weil Nietzsche selbst sich für einen Anti-Metaphysiker, einen Anti-Platoniker und einen Anti-Christen hielt. Dagegen sieht Heidegger in ihm den Vollender der Metaphysikgeschichte seit Parmenides und Platon. Gelegentlich erklärt er sogar, Nietzsche sei »der zügelloseste Platoniker innerhalb der Geschichte der abendländischen Metaphysik« (PLW 133). Den Kristallisationspunkt der Philosophie Nietzsches findet Heidegger in dessen Satz ›Gott ist tot‹.4 Zu fragen bleibe jedoch, ob Nietzsche damit nicht nur das Wort ausspreche, »das innerhalb der metaphysisch bestimmten Geschichte des Abendlandes immer schon unausgesprochen gesagt« worden sei (NWGit 196). Die Metaphysik ist nach Heidegger bereits der Tod Gottes, und die Philosophie Nietzsches ist nur der letzte Schlag gegen Gott. Heidegger zufolge denkt Nietzsche also selbst metaphysisch, doch ohne es zu bemerken.5 In seinem Aufsatz Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ will Heidegger darlegen, was Nietzsche unter Nihilismus versteht, um so zu zeigen, wie Nietzsche selbst zum Nihilismus steht (vgl. NWGit 196 f.). Er gelangt dabei zu dem Resultat, daß Nietzsche nur einen »uneigentlichen Nihilismus« bekämpft habe. Der »eigentliche«, wesentliche Nihilismus sei nämlich die Metaphysik, und diesen Nihilismus setze Nietzsche unbefragt fort. Deshalb spricht Heidegger direkt von der »Metaphysik Nietzsches« (etwa NWGit 212). Nietzsche denke das »Sein als Sein« so wenig wie alle Metaphysik vor ihm. Überdies bringe Nietzsche die Metaphysik als den eigentlichen Nihilismus im Sinne der Seinsvergessenheit gerade zur Vollendung, indem er die Frage nach dem Sein unmöglich mache und die Philosophie gegen das »Sein als Sein« abriegele. Durch seine vorgebliche ›Überwindung‹ des Nihilismus mache Nietzsche dessen wahres Wesen unkenntlich. Heideggers Nietzsche-Kritik ist nur vor dem Hintergrund seiner Metaphysikkritik verstehbar. Über die Metaphysik heißt es in den einleitenden Partien, »daß in der Geschichte des abendländi106 | johannes brachtendorf
schen Denkens zwar von Anfang an das Seiende hinsichtlich des Seins gedacht wird, daß jedoch die Wahrheit des Seins ungedacht bleibt« (NWGit 195 f.). Im folgenden sei erstens dargelegt, inwiefern nach Heidegger in der Metaphysik die Wahrheit des Seins ungedacht bleibt. Dabei wird insbesondere die sogenannte Transzendentalienlehre der antiken und mittelalterlichen Metaphysik heranzuziehen sein, weil hier – in scheinbar direktem Gegensatz zu Heideggers These, die Wahrheit des Seins bleibe ungedacht – das Sein selbst geradezu mit der Wahrheit selbst identifiziert wird. Zweitens sei Heideggers These nachgezeichnet, daß die Metaphysik stets nur das Seiende hinsichtlich des Seins gedacht habe, aber niemals das »Sein als Sein«. Auf dem Hintergrund dieser Darstellung seiner Metaphysikkritik sei drittens Heideggers Nietzsche-Kritik nachgezeichnet, sofern sie den Vorwurf beinhaltet, Nietzsches vermeintliche Überwindung des Nihilismus sei bloß die Vollendung der Metaphysik und lösche jeden Weg zur Erfahrung des Seins aus (vgl. NWGit 238).
2. Die Wahrheit des Seins – Heidegger und die Transzendentalienlehre Bekanntlich charakterisiert der spätere Heidegger die Metaphysik auf extrem negative Weise: Metaphysik sei das ›Verhängnis des Abendlandes‹, die ›Verwüstung der Erde‹.6 In fachphilosophischer Terminologie heißt es, Metaphysik denke nicht das Sein,7 sie sei Folge und Ausdruck der Seinsvergessenheit (EWiM 200 f.), sie denke nicht den Unterschied von Seiendem und Sein und sei daher Onto-Theologie (vgl. EWiM 207). Heidegger zufolge tötet die Metaphysik Gott, weil sie das Sein verfehlt. Genauer gesagt zieht sie das Sein zum Seienden herab. Das »künftige Denken«, das Heidegger nicht mehr Philosophie nennen möchte (BH 194), weil er diese mit Metaphysik gleichsetzt, bewahre dagegen das »Andenken« an das Sein (z. B. BH 188 und 197). In methodischer Hinsicht wirft Heidegger der Metaphysik Naivität vor, denn sie gehe nicht in ihren Grund zurück, z. B. in der Abhandlung Zur Seinsfrage (= ZS, hier 213): »Nach der Überlieferung versteht die Philosophie unter der Seinsfrage die Frage nach Heideggers Metaphysikkritik | 107
dem Seienden als Seienden. Sie ist die Frage der Metaphysik. Die Beantwortung dieser Frage beruft sich jeweils auf eine Auslegung des Seins, die im Fraglosen verbleibt und den Grund und Boden für die Metaphysik bereitstellt. Die Metaphysik geht nicht in ihren Grund zurück.« Derart beruhe die Metaphysik, insofern sie die Seinsfrage als Frage nach dem Seienden als Seienden formuliert, auf einer vorgefaßten Auslegung des Seins, die ihrerseits nicht mehr befragt wird. Diese unbefragte Auslegung des Seins, die nach Heidegger für die Metaphysik konstitutiv ist, manifestiere sich gerade darin, daß die Frage nach dem Sein mit einer Theorie des Seienden als Seienden beantwortet wird. An anderer Stelle spitzt Heidegger die Metaphysikkritik auf den Wahrheitsbegriff hin zu (EWiM 198 f.): »Aber die Metaphysik bringt das Sein selbst nicht zur Sprache, weil sie das Sein nicht in seiner Wahrheit und die Wahrheit nicht als die Unverborgenheit und diese nicht in ihrem Wesen bedenkt.« Wer mit der klassischen Metaphysik ein wenig vertraut ist, wird Heideggers Vorwürfe zunächst befremdlich finden. Die Metaphysik befaßt sich seit Parmenides mit der Frage nach dem Sein – wie kann man ihr also Seinsvergessenheit vorwerfen? Die Metaphysik liefert seit jeher Beweise für die Existenz Gottes und versucht, das Wesen Gottes zu umschreiben, soweit dies aufgrund der Transzendenz Gottes gegenüber dem Seienden möglich ist – wie kann Metaphysik also den Tod Gottes herbeiführen? Die sogenannte Transzendentalienlehre, wie sie von Augustinus und Thomas von Aquin entfaltet wurde8, behauptet, daß die Begriffe »seiendes«, »eines«, »wahres« und »gutes« extensionsgleich seien, so daß jedes Seiende ein Wahres ist (ens et verum convertuntur). Wenn die Transzendentalienlehre schließlich sogar das »Sein selbst« mit der »Wahrheit selbst« identifiziert – wie kann dann Heidegger behaupten, die Metaphysik bedenke »das Sein nicht in seiner Wahrheit«? Beruht Heideggers These, Metaphysik sei der Tod Gottes, auf Unkenntnis der philosophischen Tradition? Und ist die These, Nietzsche stehe nicht im Gegensatz zur Metaphysik, sondern spreche mit seinem Wort »Gott ist tot« nur deren innerstes Wesen aus, einer solchen Unkenntnis geschuldet? Da ein Wissensmangel in philosophiehistorischen Dingen bei Heidegger grundsätzlich nicht anzunehmen ist, gilt es, seine kritische Sicht auf die Metaphysik einer genaueren 108 | johannes brachtendorf
Betrachtung zu unterziehen. Dabei stellt Heideggers Wahrheitsbegriff einen geeigneten Ansatzpunkt dar. Schon in Sein und Zeit entwickelt Heidegger einen dreistufigen Wahrheitsbegriff. Die unterste Stufe bildet demnach der aussagentheoretische Wahrheitsbegriff, wie er in der Bestimmung der »Wahrheit als adaequatio intellectus et rei« zum Ausdruck komme (SuZ 214; Heidegger verweist dort auf Thomas von Aquin, ver. q. I, a.1). Die Angleichung des Intellektes an die Sache manifestiere sich nämlich in der Aussage, die zutreffend behauptet, was von der Sache gilt. Wahrheit (bzw. Falschheit) ist demnach eine Eigenschaft von Aussagen. Allerdings ist die Aussagenwahrheit nach Heidegger keine ursprüngliche, sondern eine abkünftige Form der Wahrheit. Sie gründet in der Wahrheit des Gegenstandes bzw. des Dinges selbst, von dem die Aussage handelt, so daß die Wahrheit des Dinges als ursprünglicherer Sinn von Wahrheit anzusehen ist. Die Aussagenwahrheit hat eine Voraussetzung, nämlich die Zugänglichkeit, oder wie Heidegger gern sagt, die »Offenbarkeit« des Seienden selbst, denn nur weil Seiendes offenbar ist, können wahre (oder falsche) Aussagen über es gemacht werden. Die Offenbarkeit des Seienden nennt Heidegger auch »Erschlossenheit«, »Entdecktheit«, oder »Unverborgenheit«,9 wobei er den letztgenannten Begriff gern als ›Un-verborgenheit‹ schreibt, um eine Eindeutschung des griechischen Terminus a4lh2jeia zu geben, dessen ersten Buchstaben er als alpha privativum interpretiert. Die Dingwahrheit im Sinne der Un-verborgenheit stellt also gegenüber der Aussagewahrheit eine ursprünglichere Dimension von Wahrheit dar. Doch auch die Wahrheit im Sinne der Erschlossenheit, der Offenbarkeit und Unverborgenheit des Seienden hat ihrerseits einen Grund in einer noch ursprünglicheren Dimension von Wahrheit. Während Heideggers Wahrheitstheorien vor und nach der sogenannten Kehre in ihrer Dreistufigkeit sowie in der Beschreibung der beiden ersten Stufen übereinstimmen, unterscheiden sie sich in der Charakterisierung der dritten, fundamentalen Stufe. Nach »Sein und Zeit« gründet die Erschlossenheit und Entdecktheit des Seienden im Dasein selbst, nämlich in dessen Seinsverständnis. Als »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-)« (SuZ 192) ist das Dasein im existenzialen Sinn erschließend und entdeckend. Dasein ist nach Heideggers Metaphysikkritik | 109
Heidegger ontisch-ontologisch (vgl. SuZ §§ 4 und 5), d. h. seine Seinsweise (ontisch) besteht darin, Sein zu verstehen (ontologisch), und d. h. Seiendes zu erschließen und zu entdecken. Wenn nun die Wahrheit des Seienden in seiner Erschlossenheit, Entdecktheit und Unverborgenheit liegt, dann ist das Dasein selbst, das aufgrund seiner eigenen Seinsweise erschließend, entdeckend und entbergend ist, in noch höherem Sinne wahr zu nennen. Wahrsein gilt demnach primär vom Dasein als erschließenden und entbergenden, sekundär vom Seienden, das derart erschlossen und entborgen wird, und tertiär von den aufgrund einer Adäquation des Verstandes an das entborgene Ding aufgestellten Aussagen über dieses. »Dasein ist in der Wahrheit« (SuZ 221 f.), wie Heidegger in Sein und Zeit schreibt, um die Fundierung aller Wahrheitsbegriffe im geworfen entwerfenden, Faktizität und Existenzialität umfassenden Wesen des Daseins auszudrücken. Allerdings gilt nach »Sein und Zeit« auch der gegenteilige Satz »Dasein ist in der Unwahrheit« (SuZ 222), denn zum Dasein gehört nach Heidegger auch das Existenzial der Verfallenheit an das Man, und damit das Verstellen und Verdecken des zunächst erschlossenen und entdeckten Seienden. Es gehört zur existenzialen Struktur, d. h. zur Seinsweise des Daseins, daß es das ursprünglich entborgene Seiende verfallend verbirgt. Insofern das Dasein entbergend verbergend ist, gilt von ihm, daß es zugleich in der Wahrheit und in der Unwahrheit ist. In Heideggers späteren Werken verändert sich der Wahrheitsbegriff insofern, als nicht mehr das Dasein die dritte, fundamentale Position innerhalb der Wahrheitstheorie besetzt, sondern das Sein selbst in seiner Wahrheit und seinem Wesen.10 Das Wesen des Seins ist nach Heidegger verbal zu verstehen, d. h. als Tätigkeit oder Vollzug des Seins, das sich gibt und entzieht, das entbirgt und zugleich verbirgt. Entbergen und Verbergen gelten nun nicht mehr primär als Vollzugsweisen des Daseins, das in seiner Existenzialität, Faktizität und Verfallenheit Seiendes, und darunter auch sich selbst, erschließt und verschließt, sondern sie werden als Geschehen des Seins bzw. als Geschick des Seins interpretiert, in das der Mensch qua Dasein eingelassen ist und dem er entsprechen soll. Das Sein, nicht mehr das Dasein, ist der eigentliche Akteur. Während »Sein« in Sein und Zeit die jeweilige Seinsweise eines Seienden meint, nämlich die Vorhandenheit, Zuhandenheit oder Existenzialität, wie sie 110 | johannes brachtendorf
vom Dasein im Seinsverstehen erfaßt werden, bezeichnet »Sein« in Heideggers späteren Schriften eine dem Dasein vorgeordnete Instanz, die dessen Seinsverstehen allererst ermöglicht, die das Seinsverstehen des Daseins für sich in Anspruch nimmt und den Menschen so zum »Hirt des Seins« (BH 162; 172) oder zum Hüter der »Wahrheit des Seins« macht (BH 162; 164). Die Wahrheit im höchsten Sinn ist nun die Wahrheit des Seins, wobei diese Wahrheit als Geschehen des sich Entbergens und Verbergens des Seins zu deuten ist. Entbergen und Verbergen wurzeln also nicht mehr in der existenzialen Struktur des Daseins, sondern werden konzipiert als historisch auftretende Vollzugsweisen des Seins. Die Art des Vollzugs bestimmt ganze kulturgeschichtliche Epochen. Heidegger zufolge entbirgt sich das Sein mindestens seit der Erfindung der Metaphysik, indem es sich verbirgt und so die abendländische Kultur seit ihren griechischen Anfängen zur Seinsvergessenheit bestimmt. Vor dem Hintergrund seines dreistufigen Wahrheitsbegiffs kritisiert Heidegger die philosophische Tradition. Die neuzeitliche Philosophie kenne nur noch die Aussagewahrheit und halte sie somit für ursprünglich. Das Bewußtsein der mehrfachen Fundiertheit dieses Phänomens sei abhanden gekommen. Dagegen verfüge die antike und mittelalterliche Metaphysik durchaus über das Konzept der Dingwahrheit, die der Aussagewahrheit voraus- und zugrunde liegt. Jedoch – so Heideggers Kritik – habe auch sie nicht bedacht, daß die Dingwahrheit ihrerseits wurzelt in der Wahrheit des Seins, das sich selbst gibt und entzieht. Die klassische Metaphysik denke nicht das Sein in seinem Wesen, sondern bleibe im Seienden befangen. Dieses nehme sie in seiner Unverborgenheit und gehe von dessen Offenbarkeit aus, frage aber nicht danach, woher die Offenbarkeit und Unverborgenheit des Seienden stamme. Doch vom Standpunkt der hier kritisierten Metaphysik selbst aus ist an dieser Stelle ein erster Einspruch zu erheben. Augustinus oder Thomas von Aquin würden die These, sie hätten nicht nach einem Grund für die Wahrheit des Seienden gefragt und seien somit im Seienden befangen geblieben, zweifelsohne zurückweisen. Keineswegs fange ihre Metaphysik mit der Unverborgenheit des Seienden an, sondern diese werde gerade von Gott her erklärt. Gemäß der Transzendentalienlehre ist Gott als das Sein selbst auch die Heideggers Metaphysikkritik | 111
Wahrheit selbst, die allem Seienden das Wahrsein verleiht. Die Offenbarkeit des Seienden geht demnach zurück auf Gott, der allererst die Unverborgenheit begründet. Die Wahrheit des Seienden wurzelt in der Wahrheit des Seins. Somit scheint die klassische Metaphysik genau das zu behaupten, was Heidegger einfordert. Will man Heideggers These, Gott sei tot und die Metaphysik habe ihn getötet, verstehen, so muß man die Suche nach dem Punkt, an dem Heideggers Denken sich von der Metaphysik trennt, weiter vorantreiben. Wie gezeigt kann Heidegger vernünftigerweise nicht behaupten, die Metaphysik habe keinen Unterschied gemacht zwischen Seiendem und Sein, oder sie habe die Wahrheit des Seienden nicht auf die Wahrheit des Seins zurückgeführt. Der eigentliche Kritikpunkt ist vielmehr in Heideggers These zu finden, die Metaphysik berufe sich auf eine »Auslegung des Seins, die im Fraglosen verbleibt und den Grund und Boden für die Metaphysik bereitstellt« (ZS 213). Welches ist diese nicht hinterfragte »Auslegung des Seins«? Ein Rückgang auf Platon läßt erkennen, worauf Heideggers Metaphysikkritik zielt. Platon fragt, was das Seiende zum Seienden macht und stößt dabei auf die ou4sía als i4de2a. Die Wirklichkeit teilt sich zunächst auf in Ideen als intelligible, unveränderliche Seiende einerseits und materielle, sinnlich wahrnehmbare Dinge, die entstehen und vergehen, andererseits. Die Ideen sind die ou4síai im Sinne dessen, was wahrhaft ist, während die materiellen Dinge nur in einem abgeschwächten Sinn seiend heißen dürfen. Der Vorrang der Ideen gründet darin, daß die materiellen Dinge nur durch diese, d. h. durch Teilhabe an den Ideen überhaupt Seiende sind. Ideen sind Prinzipien, die den materiellen Dingen allererst Sein verleihen. Deshalb heißen sie selbst im eminenten Sinne seiend. Doch was ist es, das sie zu eminent Seienden macht? Welche Eigenschaft geben sie weiter an die materiellen Dinge, so daß auch diese Seiendes genannt werden? Dies ist die Erkennbarkeit bzw. die Bestimmtheit. Ideen sind auf eindeutige und unveränderliche Weise, was sie sind, sie sind reine Washeiten. So ist die Idee der Schönheit schön und zwar uneingeschränkt, unveränderlich, rein und vollkommen. Aufgrund ihrer eindeutigen Bestimmtheit sind die Ideen im vollen Sinn. Materielle Dinge besitzen zwar ebenfalls Washeiten, aber ihnen fehlt die Eindeutigkeit der Ideen, da sie sich ständig verändern, verschiedene Bestimmungen in sich aufnehmen 112 | johannes brachtendorf
und diese nur gradweise realisieren, so daß sie z. B. nur vergleichsweise, nicht aber absolut schön sind. Aufgrund ihrer abgeschwächten Bestimmtheit, sind die materiellen Dinge auch nur in einem reduzierten Sinn. Es ist nun genau diese Erkennbarkeit und Bestimmtheit, auf die der ontologische Wahrheitsbegriff der klassischen Transzendentalienlehre zielt. Die Begriffe ›seiend‹ und ›wahr‹ sind deswegen vertauschbar, weil Bestimmtheit und Erkennbarkeit das Sein des Seienden ausmachen. Heidegger spricht hier von Offenbarkeit und Unverborgenheit. Er charakterisiert die Sichtweise Platons so (GA 45,94): »Das Seiende in seiner Seiendheit (ou4sía) ist, kurz und eigentlich, die Unverborgenheit des Seienden selbst. Das Seiende, bestimmt hinsichtlich seiner Unverborgenheit, ist damit gefaßt […] als i4de2a, und so ist nichts anderes gefaßt als das Seiende in seiner Seiendheit.« Jene »Auslegung des Seins«, die den Grund und Boden der Metaphysik bereitstellt, und die der Kritik zufolge im Fraglosen verblieb, findet Heidegger in der Unverborgenheit. Diese ist es, die bei Platon die Idee zum eminent Seienden werden läßt und die materiellen Dinge zum bloß abgeschwächt Seienden. Das Sein des Seienden liegt in der Offenbarkeit und der Unverborgenheit. In dieser Identifikation des Seins mit der Unverborgenheit besteht Heidegger zufolge die Naivität und die Ungegründetheit der Metaphysik. In anderer Formulierung spricht Heidegger gern von der Unverborgenheit als »Gelichtetheit«. Demzufolge identifiziert die Metaphysik das Sein des Seienden mit der Gelichtetheit. Dazu bemerkt Heidegger kritisch (BH 162): »Die Wahrheit des Seins als die Lichtung selber bleibt der Metaphysik verborgen.« Der Grund der Metaphysik, in den diese selbst aufgrund ihrer Naivität nicht mehr zurückgegangen ist, zeigt sich Heidegger zufolge dann, wenn man »Lichtung« verbal versteht, d. h. als ein Geschehen oder einen Prozeß, dessen Resultat die Gelichtetheit ist. Wahrheit als Unverborgenheit ist demnach nichts Ursprüngliches, sondern etwas Abkünftiges. Sie ist ein Produkt des entbergend-verbergenden Seins- und Wahrheitsgeschehens. Dies nicht erkannt zu haben ist nach Heidegger das prw/ton qeu/do@ der Metaphysik. Hier liege die Ursache für den Tod Gottes. Doch an dieser Stelle erhebt die klassische Metaphysik abermals Einspruch. Platon nimmt ja die Offenbarkeit und Gelichtetheit der Heideggers Metaphysikkritik | 113
Ideen nicht einfach an, sondern erklärt sie aus der Idee des Guten. Das Sonnengleichnis der Politeia (508a–509b) erklärt ausdrücklich, daß die Ideen ihre Erkennbarkeit im Sinne der Intelligibilität nicht aus sich selbst besitzen, sondern von der Idee des Guten empfangen. Diese spendet das Licht, das die anderen Ideen für den Intellekt sichtbar macht. Deren Gelichtetheit ist somit Resultat des Geschehens der Lichtung, das die Idee des Guten als geistige Sonne an ihnen vollzieht. Dieser Gedanke schlägt sich im Gottesbegriff der klassischen Metaphysik deutlich nieder, denn Gott gilt hier als das Licht des Denkens, das allen denkbaren Dingen erst die Erkennbarkeit verleiht,11 so daß die Gelichtetheit der Wirklichkeit aus der Lichtung durch Gott stammt. Gerade deswegen bestimmt die Transzendentalienlehre Gott als die Wahrheit selbst, die der Grund der Wahrheit alles Seienden ist. Aber auch gegen diese These richtet sich Heideggers Metaphysikkritik. Die Grundlagen dieser Kritik werden sogar hier erst sichtbar. Heidegger kennt das Sonnengleichnis Platons und den aus ihm resultierenden metaphysischen Gottesbegriff gut, denn er hat dieses Gleichnis wiederholt interpretiert.12 Grundsätzlich sieht er sich dadurch aber in seiner Auffassung bestätigt, daß die Metaphysik auf der unbefragten Auslegung des Seins als Gelichtetheit und Unverborgenheit beruhe. Denn die Idee des Guten, die alle Ideen lichtet, ist selbst wiederum eine Idee, d. h. ein Sichtbares, und zwar das zuhöchst Sichtbare. Das Gleiche gilt vom Gottesbegriff Augustins und Thomas von Aquins. Gott als die geistige Sonne macht nicht nur alles Seiende sichtbar, indem er dieses lichtet, sondern ist selbst das zuhöchst Sichtbare und somit seinerseits gelichtet. Die Lehre von der Unbegreiflichkeit Gottes, wie sie von der klassischen Metaphysik vorgetragen wird, steht Heideggers Deutung nicht entgegen, denn diese Unbegreiflichkeit resultiert nicht daraus, daß Gott in sich dunkel wäre, sondern daraus, daß das geistige Sehvermögen, d. h. die Vernunft des Menschen, zu schwach ist, um die Helligkeit Gottes ertragen zu können. Schon in Platons Höhlengleichnis findet sich die Vorstellung, daß der Mensch erst am Ende eines Gewöhnungsprozesses direkt in die Sonne sehen kann ohne geblendet zu werden (Politeia 515e–516b; 518c). Aristoteles vergleicht die menschliche Vernunft mit den Augen der Fledermäuse, die durch das Tageslicht überfordert sind (Metaphysik 993b9). Nach Thomas von 114 | johannes brachtendorf
Aquin bleibt die Schau des Wesens Gottes dem jenseitigen Leben vorbehalten, weil die Vernunft erst dann einer intellektuellen Anschauung fähig sei. Gott ist für Thomas »per se notum simpliciter«, d. h. aus sich selbst heraus schlechthin wißbar, aber er ist nicht »per se notum quoad nos«, d. h. er ist für uns nicht schlechthin bekannt, weil die menschliche Vernunft im irdischen Leben restringierenden Bedingungen unterliegt (S. c. g. I 11). In Heideggers Verständnis zeigt sich auch hier die für die Metaphysik typische Auslegung des Seins als Unverborgenheit und Gelichtetheit. Gott wird zwar einerseits beschrieben als das, was alles Seiende lichtet, gilt andererseits aber selbst als das zuhöchst Sichtbare und Gelichtete. Somit verharrt die Metaphysik fraglos innerhalb des Rahmens, den die vorgefaßte Auslegung des Seins bereitstellt. Durch die metaphysische Gotteslehre sieht Heidegger sich in seiner These bestätigt, daß die Metaphysik auf Offenbarkeit und Unverborgenheit fixiert sei, ohne nach dem Grund der Unverborgenheit zu suchen, der Heidegger zufolge im Seinsgeschehen als sich verbergenden Entbergen liegt. Die Metaphysik denkt nicht die Wahrheit des Seins, weil sie auch das Sein selbst als unverborgenes und gelichtetes denkt, ohne das Wesen (verbal verstanden!) der Wahrheit als verschließendes Erschließen zu bedenken und als Grund aller Unverborgenheit zu erkennen. So erklärt sich schließlich auch Heideggers Vorwurf, die Metaphysik habe Gott getötet. In Heideggers Sicht denkt die Metaphysik immer nur das Seiende, nicht aber das Sein – und zwar selbst dann, wenn sie über das Sein selbst und die Wahrheit selbst spricht. Denn das Sein in Heideggers Sinn ist eben jenes Geschehen, das die Metaphysik unbedacht lasse, indem sie stets von der Unverborgenheit ausgehe. In diesem Sinne denkt die Metaphysik nicht den Unterschied von Sein und Seiendem; in diesem Sinne ist sie Onto-Theologie. Denn indem sie Gott als die Sonne, als das Hellste und Unverborgenste überhaupt denkt, verfehlt sie das Sein als den Grund der Unverborgenheit, zieht Gott somit auf die Ebene des Seienden als unverborgenen herab und »tötet« ihn so. Will man Gott wahrhaft denken, denn muß man ihn Heidegger zufolge denken als das Sein, das wesend alle Gelichtetheit begründet, sich dabei aber auch verbirgt. Heidegger führt in diesem Zusammenhang gern das Apostelwort aus 1 Kor 1,20 an: »Hat Gott nicht die Weisheit der Welt Heideggers Metaphysikkritik | 115
als Torheit entlarvt?« Die Weisheit der Welt ist nach Heidegger die klassische Metaphysik, die aufgrund der fraglos vorausgesetzten Auslegung des Seins als Gelichtetheit zur Onto-Theologie wird und Gott tötet, indem sie das wahre Verständnis Gottes verschließt. Heidegger empfiehlt der Theologie, dieses Apostelwort neu zu bedenken und so den metaphysischen Gottesbegriff zugunsten eines Andenkens an Gott als den verbergend entbergenden zu überwinden. Ob Heideggers Kritik der Metaphysik berechtigt ist, kann im Rahmen der vorliegenden Abhandlung nicht wirklich diskutiert werden. So viel läßt sich aber doch sagen: Der Gegensatz zwischen Heidegger und der Tradition liegt nicht so sehr darin, daß letztere nicht mehr nach einem Grund der Unverborgenheit und Gelichtetheit gefragt hätte, sondern eher darin, daß die Metaphysik Gott als von sich her und aus sich heraus hell und daher keiner Entbergung bedürftig ansieht, während Heidegger alles »Lichte« aus einem Prozeß der Ent-bergung stammend denkt, der vom Sein selbst vollzogen wird. Zudem ist Heideggers Sein nicht nur entbergend, sondern auch verbergend, indem es sich über ganze kulturgeschichtliche Epochen hinweg entzieht, während das Sein selbst der Tradition in überzeitlicher Weise hell ist und anderes lichtet, ohne sich je zu verbergen.
3. Die Frage nach dem Seienden als solchen und der Ursprung des Nihilismus Nach Heidegger ist die Metaphysik der eigentliche Nihilismus. Der Ursprung des eigentlichen Nihilismus liege in der Grundfrage der Metaphysik: Was ist das Seiende? Nach Aristoteles ist dies die Frage nach dem Seienden als solchen. Da das Seiende als solches dank dem Sein sei, habe sich schon in der Antike die Frage nach dem Seienden als solchen im Sinne der Frage nach dem Sein des Seienden gestellt (vgl. Nihilismus 311). In den Anfängen der Metaphysik wird das Seiende Heidegger zufolge in zwei Hinsichten erfahren, die er als essentia und existentia bezeichnet. In diesen beiden Hinsichten wird auch das Sein des Seienden gedacht. Zunächst denke die Metaphysik das Sein des Seienden aus der Washeit (essentia) des Seienden, d. h. aus dessen Wesen im Sinne der Gattung und des 116 | johannes brachtendorf
So-und-so-Seins. Sodann werde das Seiende als solches aber auch in der Hinsicht erfahren, daß es überhaupt ist (existentia). Daher erwache »aus der Frage, was das Seiende als solches sei, zugleich die andere: Welches unter allem Seienden als Seiendem dem am meisten entspreche, was als das Was des Seienden bestimmt ist« (ebd.). Beide Hinsichten treten zusammen in der These, daß dasjenige Seiende, das der essentia des Seienden am meisten entspreche, das wahrhaft Existierende sei. Demnach denkt die Metaphysik das Sein des Seienden zunächst als essentia, und dann als das zuhöchst Existierende, das als reine essentia ist, wie etwa die Idee im Sinne Platons, oder der unbewegte, aller Potentialität ledige unbewegte Beweger des Aristoteles. Heideggers Metaphysikkritik fußt auf der These, daß in dieser Art des Fragens nach dem Sein des Seienden das Sein selbst ungedacht bleibe. Denn das in dieser Frage Befragte sei das Seiende, nicht das Sein. So komme das Sein nur vom Seienden her in den Blick, indem das Seiende aus dem Sein her gedacht werde. Insofern denke die Metaphysik aber nicht das Sein als Sein. »Aus dem Sein her denken, besagt noch nicht: auf das Sein zurück, es in seiner Wahrheit an-denken« (Nihilismus 311). In der Frage nach dem Sein des Seienden werde die Metaphysik nur wie in einem Vorbeigang vom Sein gestreift, ohne direkt nach ihm fragen zu können. Weiterhin versucht Heidegger, das Seins-Defizit der Metaphysik an der Formulierung »das Seiende als solches« aufzuweisen. Mit dem Wort »als« werde ausgedrückt, daß das Seiende gelichtet sei und in der Unverborgenheit stehe (Nihilismus 317): »Im ›als solches‹ wird gesagt: das Seiende ist unverborgen.« Wenn die Metaphysik nach dem Seienden als solchem fragt, läßt sie die Unverborgenheit des Seienden, die im »als solches« zum Ausdruck kommt, unbefragt und ungedacht. Die Metaphysik fragt nicht nach dem Sein als Grund der Unverborgenheit des Seienden als solchen. Das Ungedacht-Lassen des Seins in der Frage nach dem Seienden als solchen ist nach Heidegger jedoch nicht als fehlerhafte Unterlassung des Denkens zu betrachten, sondern als »Ausbleiben des Seins« (Nihilismus 319). Das Sein selbst west als die ungedachte, d. h. verborgen bleibende Unverborgenheit; das Sein selbst bleibt aus. Jedoch ist das Sein Heidegger zufolge nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt zudem noch aus, sondern »das Ausbleiben Heideggers Metaphysikkritik | 117
des Seins als solchen ist das Sein selbst« (ebd.). Daß das Sein selbst in der Metaphysik ungedacht bleibt, besagt (Nihilismus 319): »das Sein selbst bleibt aus, als welches Ausbleiben das Sein selbst west«. Das Ausbleiben bezeichnet Heidegger auch als eine »Verbergung« des Seins, so daß in der Unverborgenheit des Seienden als solchen zugleich eine Verborgenheit des Seins west. Das Sein selbst entzieht sich, aber so, daß es sich als Sein des Seienden, nämlich als essentia und existentia zeigt. Demnach ist das Sichentziehen des Seins das Grundgeschehen der Metaphysik und des eigentlichen Nihilismus. Der Entzug des Sein geschieht, seitdem das Seiende als das Seiende ins Unverborgene gekommen ist und die Frage nach dem Seienden als solchen gestellt wird. Die Metaphysik ist die Geschichte dessen, daß es mit dem Sein selbst nichts ist (Nihilismus 321): »Das Wesen des eigentlichen Nihilismus ist das Sein selbst im Ausbleiben seiner Unverborgenheit, die als die seine Es selber ist und im Ausbleiben sein ›ist‹ bestimmt.« In seinen Schriften zu Nietzsche verwendet Heidegger immer wieder den Begriff der »Ortschaft«, um das Wesen des Menschen zu kennzeichnen. Dies erinnert zunächst an das Existenzial des Inseins, wie es in § 12 von Sein und Zeit dargestellt wird (SuZ 52–59). Der frühe Heidegger führt das Wort »in« etymologisch auf »innan«, d. h. wohnen zurück (GA 20,213). In-sein, bzw. Wohnen ist nach Heidegger nicht im räumlichen Sinne zu verstehen, sondern als Seinsverständnis, durch das das Dasein mit dem Seienden, d. h. der Welt und sich selbst immer schon vertraut ist. In ähnlicher Weise zielt der Begriff der ›Ortschaft‹ auf den Seinsbezug des Menschen, der sich immer schon zum Seienden als solchen verhält. Allerdings interpretiert der spätere Heidegger das Seinsverständnis des Menschen nicht mehr als Prinzip des Seins, sondern umgekehrt das Sein als Prinzip des Menschseins. Sein und Mensch gehören zusammen, weil das Sein sich sein Verstanden-werden schafft. Die schon in Sein und Zeit zu findende Formulierung: »Es gibt das Sein«, deutet der spätere Heidegger um in »Das Sein gibt sich«.13 Das Wesen des Menschen ist die Ortschaft, in der das Sein sich gibt, also die ›Ortschaft der Ankunft des Seins‹. In dieser Ortschaft findet das Sein als »Ankunft« eine »Unterkunft« (Nihilismus 322 f.). Allerdings ereignet sich diese Ankunft seit dem Beginn der Metaphysik als Ausbleiben des Seins. Daher schreibt Heidegger (Nihilismus 323): »Das Sein 118 | johannes brachtendorf
selbst begabt sich, indem es sich in die Unverborgenheit seiner selbst begibt – und nur so ist Es das Sein – mit der Ortschaft seiner Ankunft als der Unterkunft seines Ausbleibens.« Das ›sich begaben‹ ist als sich geben des Seins zu verstehen, so daß der zitierte Satz folgendermaßen zu paraphrasieren ist: Das Sein ist nur, indem es west. Es gibt sich dem Menschen zu verstehen und kommt so in der Ortschaft an und unter, doch seitdem das Seiende als solches in die Unverborgenheit getreten ist, ereignet sich das Sich-Geben und die Ankunft des Seins als Ausbleiben. Dabei ist das Wesen des Menschen nichts, das irgendwie unabhängig von oder sogar vor der Ankunft des Seins wäre. Vielmehr liegt das Wesen des Menschen im Seinsverständnis. Umgekehrt gibt es aber auch kein Sein ohne das Seinsverstehen des Menschen. »Es gibt das Sein« heißt für Heidegger ja gerade, daß das Sein sich zu verstehen gibt und eine Ankunft im Menschen hat. Vom Ausbleiben des Seins ist das »Auslassen des Ausbleibens« durch die Metaphysik und den Nihilismus zu unterscheiden. Der Nihilismus führt das Ausbleiben des Seins zwar nicht herbei – dazu wäre das Denken des Menschen gar nicht in der Lage, aber dennoch gilt, daß es dem Entzug des Seins nicht entspricht und sich nicht hält an »das Ausbleiben des Seins als solchen« (Nihilismus 324). Statt dessen läßt die Metaphysik, und mit ihr Nietzsche, das Ausbleiben des Seins aus. Statt das Sein derart auszulassen, ist nach Heidegger eine Gelassenheit nötig, in der das Sein als Sein »gelassen« wird (Nihilismus 331). Eine Überwindung des Nihilismus dürfe sich darum nicht gegen das Ausbleiben des Seins richten, sondern allenfalls gegen die Auslassung des Ausbleibens (Nihilismus ebd.). Heidegger empfiehlt, »das Ausbleiben der Unverborgenheit des Seins als solchen als eine Ankunft des Seins selbst zu erfahren und das so Erfahrene zu bedenken« (Nihilismus 332). Heidegger nennt dies: »dem Sein in dessen Ausbleiben als solchen entgegendenk[en]« (ebd.). Dieses Entgegendenken lasse das Ausbleiben des Seins weder aus, noch versuche es, sich dessen zu bemächtigen und es zu beseitigen. Vielmehr »folge« es dem Sein in sein Sichentziehen (Nihilismus 333): »Das Denken folgt ihm [sc. dem Sein] jedoch in der Weise, daß es das Sein selbst gehen läßt und seinerseits zurückbleibt.« Heidegger verwendet zahlreiche weitere Metaphern, um dieses dem Sein Entgegendenken und ihm Folgen zu charakterisieren. So heißt es, das Denken, das vom Wesen des Nihilismus betroffen worden sei, Heideggers Metaphysikkritik | 119
›verweile‹ in der Ankunft des Ausbleibens und ›warte seiner‹. In der »Anerkennung« des Seins erfahre dieses Denken, daß der »Entzug« des Seins gerade sein »Bezug« sei, »der das Wesen des Menschen als die Unterkunft seiner (des Seins) Ankunft beansprucht« (Nihilismus 332). In anderer Terminologie bezeichnet Heidegger das Sein als »Versprechen«, wobei die Vorsilbe »ver-« zugleich positiv und negativ zu verstehen ist; positiv, insofern das Sein sich im Wesen des Menschen zuspricht, negativ, insofern es sich dabei zugleich entzieht und ausbleibt (Nihilismus 333): »Dem Sein selbst in sein Ausbleiben entgegendenken heißt: dieses Versprechens innewerden, als welches Versprechen das Sein selbst ›ist‹.«
4. Nietzsches Metaphysik und der Tod Gottes Heidegger unterscheidet zwischen eigentlichem und uneigentlichem Nihilismus (Nihilismus 306). Der eigentliche Nihilismus beruhe auf der Seinsvergessenheit und sei identisch mit der Metaphysik. Der uneigentliche Nihilismus hingegen löse den metaphysischen Begriff des Seienden auf, indem er die übersinnliche Welt leugne. Das Wesen des Nihilismus sei im eigentlichen Nihilismus zu suchen. Nietzsche setzt sich Heidegger zufolge jedoch allein mit dem uneigentlichen Nihilismus auseinander, indem er gegenüber dem Nein zum Seienden ein Ja verlange (Nihilismus 307) und so den Nihilismus durch eine Metaphysik des Willens zur Macht überwinden wolle. Dabei bleibe Nietzsche aber im eigentlichen Nihilismus, d. h. in der Metaphysik, befangen, und zwar so sehr, daß er das Wesen des Nihilismus, nämlich die Abkehr vom Sein, nicht einmal erkenne (Nihilismus 302). Nietzsches Denken denke nicht »das Sein aus dessen Wahrheit und diese als das Wesende des Seins selbst«. Deshalb könne bei Nietzsche die Frage nach dem Sein gar nicht erwachen. Um Nietzsches eigenes Verständnis von Nihilismus zu dokumentieren, zitiert Heidegger zunächst eine Passage aus Der Wille zur Macht. Dort heißt es (NWGit 205): »Was bedeutet Nihilismus? […] Daß die obersten Werte sich entwerten.«14 Die obersten Werte seien für Nietzsche Gott, die übersinnliche als die wahrhaft seiende Welt, die Ideale und Ideen, die Ziele und Gründe, die das mensch120 | johannes brachtendorf
liche Leben tragen und bestimmen. Traditionell gesprochen handle es sich um das Wahre als das wirklich Seiende, das Gute als das, worauf es letztlich ankommt, und das Schöne als Ordnung und Einheit des Seienden im Ganzen. Offensichtlich stehen hier die metaphysische Transzendentalienlehre und der zugehörige Begriff Gottes als die Wahrheit selbst, das Gute selbst und das Sein selbst zur Diskussion. Nihilismus ist nach Nietzsche jener kulturgeschichtliche Vorgang, in dem diese obersten Werte ihre Verbindlichkeit verlieren und eine Entwertung erfahren. Freilich rede Nietzsche nicht einer völligen Wertlosigkeit das Wort, sondern er fordere eine »Umwertung aller Werte« (NWGit 206): »Das Nein gegenüber den bisherigen Werten kommt aus dem Ja zur neuen Wertsetzung.« Für ungenügend halte Nietzsche aber die Idee, an die Stelle Gottes und des Christentums neue Ideale zu setzen, wie etwa den Sozialismus oder die Musik Wagners. Dies wäre der »unvollständige Nihilismus«.15 Stattdessen ziele Nietzsche einen ›vollendeten‹ Nihilismus an, der nicht bloß neue Werte an die Stelle der alten bringe, sondern ein neues Prinzip der Wertsetzung veranschlage. Dieses Prinzip sei für Nietzsche der Wille zur Macht, der die Werte als »Erhaltungs-, SteigerungsBedingungen« setze (NWGit 210). Also gilt (NWGit 213): »Die Werte sind die vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingungen seiner selbst.« In dieser These liegt nach Nietzsche eine Umkehrung und Über windung der Metaphysik, denn ihr zufolge sei nicht mehr Gott der höchste Wert und zugleich die Quelle aller Werthaftigkeit, sondern der Wille zur Macht setze die Werte. Im Willen zur Macht sehe Nietzsche »das innerste Wesen des Seins« (NWGit 218; vgl. KSA 13,260), wobei »Sein« hier das Seiende im Ganzen meine. Das Seiende denke Nietzsche somit als Werte-setzendes. Obwohl Nietzsche sich kritisch gegenüber der Metaphysik äußere, stehe er faktisch und für ihn selbst unerkannt mit der Theorie des Willens zur Macht doch ganz innerhalb der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität, die ihrerseits an die antike Metaphysik anschließe. Heidegger führt vor, wie sich schon in Descartes’ Suche nach der Gewißheit die Frage nach dem Wert abzeichne. Das Gewisse sei bei Descartes das, was als Festes und Bleibendes zum Stehen gebracht werde (NWGit 220). Das Ständige als der Gegenstand sei primär das beständig Anwesende, das überall schon vorliege und Heideggers Metaphysikkritik | 121
von Aristoteles als u3pokeímenon, im Mittelalter aber als subiectum bezeichnet wurde. Für Descartes werde das ego cogito das ständig Anwesende und das ego sum zum subiectum. Somit deute Descartes, unbewußt geleitet vom Gedanken der Gewißheit als Wert, das subiectum als Selbstbewußtsein. Nietzsche sage somit zu Recht (NWGit 220 f.; vgl. KSA 12,311): »Die Frage der Werte ist fundamentaler als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet ist.« Damit erkläre er, daß »die Gewißheit als das Prinzip der neuzeitlichen Metaphysik erst im Willen zur Macht wahrhaft gegründet« sei. In Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht vollende sich so die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität. Ebenso wie die antike Metaphysik nehme auch die neuzeitliche ihren Ausgangspunkt beim ständig Anwesenden als dem Unverborgenen, ohne nach der Herkunft dieser Unverborgenheit zu fragen. Das Spezifische der neuzeitlichen Metaphysik liege aber darin, daß sie das ständig Anwesende als ein solches konzipiere, das durch ein Stellen zum Stand gebracht werde. Dieses Stellen habe die Art des »vor-stellenden Herstellens« (NWGit 221). Bei Nietzsche werde dieses Konzept explizit, denn für ihn bedeute Wahrheit »weder die Unverborgenheit des Seienden, noch die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit dem Gegenstand, noch die Gewißheit als das einsichtige Zu- und Sicherstellen des Vorgestellten. Wahrheit ist jetzt […] die beständigende Bestandsicherung des Umkreises, aus dem her der Wille zur Macht sich selbst will« (NWGit 222). Auch dieses Wahrheitsverständnis sieht Heidegger bei Descartes schon implizit am Werk. Faktisch werde das Sein des Seienden bereits hier in das Sich-Wollen verlegt, das sich als Sich-selbst-Wissen verwirklicht. Das Seiende präsentiere sich, und zwar ihm selbst, weil es sich wolle. Das Sichpräsentieren als Re-präsentation bzw. als Vor-stellung sei bei Descartes das Sein des Seienden qua subiectum. Mit seiner Lehre vom »Willen zur Macht« steht Nietzsche Heidegger zufolge am Ende der neuzeitlichen Metaphysik der »Subjektivität«, weil hier das Sein des Seienden ausdrücklich in das »Sich-vor-sich-selbstStellen« gelegt werde (NWGit 222). Dadurch werde schließlich die Welt zum Gegenstand, die Erde zu dem, was in die Verfügung des Vor- und Herstellens gebracht werden muß, und die Natur verwandle sich in den Gegenstand der Technik. Metaphysisch gesehen 122 | johannes brachtendorf
wirke in all dem die Lehre vom »Willen zur Macht«, der sich selbst will und zur Erhaltung und Steigerung seiner selbst Werte setzt. Das Wahrheitsverständnis, das dem neuzeitlichen Prinzip der Gewißheit und der Sicherheit zugehöre, charakterisiert Heidegger auch als »Richtigkeit (rectitudo) des Vorstellens« (NWGit 225). Richtigkeit sei dabei aber nicht als Adäquation zu deuten, sondern als Recht-fertigung im Sinne der Anpassung des Gerecht-fertigten an die Selbst-Gewißheit der Subjektivität. So wird nach Heidegger in der neuzeitlichen Metaphysik die ›Gerechtigkeit‹ zur Wahrheit des Seienden (NWGit 227): »Die von Nietzsche gedachte Gerechtigkeit ist die Wahrheit des Seienden, das in der Weise des Willens zur Macht ist.« Heidegger zitiert mehrere Stellen aus Nietzsche, die folgende Deutung der neuzeitlichen Metaphysik unterstützen sollen (NWGit 226): »Im Wesen der Wahrheit als der Gewißheit, diese als die Wahrheit der Subjektität und diese als das Sein des Seienden gedacht, verbirgt sich die aus der Rechtfertigung der Sicherheit erfahrene Gerechtigkeit.« Gerechtigkeit ist so der oberste Wert und die Wahrheit des Seienden. Dieser Gedanke wirke zwar schon in der Philosophie Descartes’, werde aber erst von Nietzsche explizit gemacht und eigens als Prinzip angesetzt. Nietzsches Konzeption kulminiert Heidegger zufolge im Konzept des »Übermenschen«. Während der bisherige Mensch zwar faktisch vom Willen zur Macht als Grundzug alles Seienden bestimmt war, aber ihn nicht als solchen Grundzug erfahren und übernommen habe, macht sich der Übermensch dieses Prinzip ausdrücklich zu eigen und lebt aus ihm. Der Übermensch will sich selbst »als den Vollstrecker des unbedingten Willens zur Macht« (NWGit 231). Wie schon gesagt, hat Nietzsche nach Heidegger die Metaphysik keineswegs überwunden, sondern zur Vollendung geführt. Nietzsche ist in seinen Augen ein Metaphysiker par excellence, der die bei Parmenides und Platon wirksamen Motive zum Abschluß bringt. Er denke also metaphysisch, ohne es zu bemerken. Denn mit dem Satz »Gott ist tot« ziehe er bloß die Konsequenz, die in aller Metaphysik immer schon gelegen habe. Wie an vielen Stellen seiner späteren Schriften, so erklärt Heidegger auch hier, daß die Metaphysik notwendigerweise Onto-Theologie sei. Die Frage nach dem Seienden als solchen (Ontologie) führe ja erstens zur Feststellung, daß das Sein des Seienden in der essentia liege, und zweitens zur These, daß Heideggers Metaphysikkritik | 123
das wahrhaft Existierende der reinen essentia ähnlich sein müsse und insofern göttlich sei (Nihilismus 313): »Weil die Metaphysik, das Seiende als solches denkend, vom Sein angegangen bleibt, aber es auf das Seiende zu aus diesem her denkt, deshalb muß die Metaphysik als solche das jeῖon im Sinne des zuhöchst seienden Grundes sagen (le2gein).« Genau dies gilt Heidegger zufolge aber auch für die Philosophie Nietzsches, denn Nietzsche denke die essentia des Seienden als den Willen zur Macht, und er fasse die existentia des Seienden als solchen im ganzen theologisch als die ewige Wiederkehr des Gleichen. Nietzsche perpetuiere, so bemerkt Heidegger, unkritisch die alte metaphysische Unterscheidung von essentia und existentia, indem er den »Willen zur Macht« als essentia des Seienden ansetze, und die »ewige Wiederkunft des Gleichen« als die Weise, wie das Seiende im Ganzen existiert, d. h. als existentia. Zwar sei Nietzsches metaphysische Theologie eine negative Theologie, wie das Wort »Gott ist tot« zeige. Doch (Nihilismus 314): »das ist nicht das Wort des Atheismus, sondern das Wort der Onto-Theologie derjenigen Metaphysik, in der sich der eigentliche Nihilismus vollendet«. Weiterhin lasse auch Nietzsche die Wahrheit des Seins ungedacht, denn Wahrheit im Sinne der »Bestandsicherung« und der »Richtigkeit« sei der wesenden Wahrheit des Seins selbst, das sich von sich her entbirgt, verbirgt und so insgesamt den Menschen in Anspruch nimmt, geradezu entgegengesetzt. Hatte Heidegger der Metaphysik vorgeworfen, das Sein als Sein ungedacht zu lassen und statt dessen das Sein nur als Sein des Seienden anzuvisieren, so gilt dieser Vorwurf a fortiori gegenüber Nietzsches Deutung des Seins als Wert. Denn hier setze das als Wille zur Macht gedeutete Seiende das Sein, so daß dieses ausdrücklich als das Sein des Seienden erklärt werde, wodurch das Sein als Sein gänzlich ›ausgelassen‹ bleibe (NWGit 238): »indem das Sein als ein Wert gewürdigt wird, ist es schon zu einer vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingung herabgesetzt.« Nihilistisch im Sinne des eigentlichen Nihilismus ist Nietzsches These deshalb, weil sie das Sein nicht als wesendes denke, als entbergend verbergendes und als ausbleibend ankommendes, sondern als Wert und als vom Seienden, nämlich dem Willen zur Macht, gesetztes. Ganz wie in der klassischen Metaphysik werde auch bei 124 | johannes brachtendorf
Nietzsche das Sein vom Seienden her und damit als Sein des Seienden gedacht, nicht als Sein selbst. Perfide ist dieser Nihilismus, weil er vorgibt, den Nihilismus zu bekämpfen und dadurch sein eigenes nihilistisches Wesen (im Sinne des »eigentlichen« Nihilismus) verschleiert. Das »zum Wert ausgelassene Sein« stellt nach Heidegger das vollständige, sich selbst verbergende »Auslassen des Ausbleibens des Seins« dar (Nihilismus 326). Denn das »Nicht-Denken des Seins hüllt sich in den Anschein, es denke doch, indem es das Sein als Wert schätze, das Sein in der würdigsten Weise, so daß alles Fragen nach dem Sein überflüssig werde und bleibe« (NWGit 239). Dadurch wird der Weg zur Erfahrung des Wesens des (eigentlichen) Nihilismus versperrt. Somit gilt nach Heidegger (Nihilismus 325): »Aus dem Wesen des Nihilismus gedacht, ist Nietzsches Überwindung nur die Vollendung des Nihilismus«. Das ›Auslassen‹ des Seins, das nach Heidegger für alle Metaphysik charakteristisch ist, vollzieht sich bei Nietzsche so, daß es sich durch die These vom Sein als Wert selbst unkenntlich zu machen versucht. Wenn nun die Metaphysik Gott tötet, indem sie das Sein ausläßt, dann gilt dies im Blick auf Nietzsche umso mehr (NWGit 242): »Diesen letzten Schlag im Töten Gottes führt die Metaphysik, die als Metaphysik des Willens zur Macht das Denken im Sinne des Wertdenkens vollzieht.« Bei Nietzsche vollziehe sich das Töten Gottes in der Bestandsicherung des Willens zur Macht um der eigenen Sicherheit willen (ebd.). Schließlich manifestiere sich Nietzsches ›Auslassung‹ des Seins als Sein in seiner Idee einer ›Überwindung‹ des Nihilismus. Denn da der wesentliche Nihilismus nach Heidegger aus dem Ausbleiben des Seins selbst resultiert, käme die angestrebte Überwindung des Nihilismus dem Versuch des Menschen gleich, das Sein unter seine Botmäßigkeit zu bringen (Nihilismus 330). Faktisch ist dies ohnehin nicht möglich, da ja das Wesen des Menschen nichts anderes ist als jene Ortschaft, in der und als die das Sein sich gibt. Gegen das Ausbleiben des Seins angehen zu wollen, bedeutete aber gerade, das Sein selbst nicht als Sein zu achten, sondern es auszulassen. Das Auslassen des Seins ist aber ein Wesenszug des Nihilismus, so daß der Versuch einer Überwindung des Nihilismus gerade in den Nihilismus hineinführe. Nietzsches Unternehmen ist nach Heidegger somit die Aufgipfelung jenes Nihilismus, der die abendländische Metaphysik von Anfang an prägt. Heideggers Metaphysikkritik | 125
Statt den Nihilismus überwinden zu wollen, gilt es Heidegger zufolge, dem Sein in seinem Ausbleiben zu entsprechen, seiner zu warten und ihm so entgegenzudenken. Nur die Achtung des Seins als Sein beende das Töten Gottes, das mit der Metaphysik der Griechen begonnen und in Nietzsches Metaphysik vollendet worden sei.
Anmerkungen
Erstausgabe Pfullingen 1961, jetzt: GA 6.1 und 6.2; hier zitiert als Nietzsche I bzw. Nietzsche II. 2 Für Gesamtdarstellungen des Verhältnisses Heideggers zu Nietzsche vgl. zusammenfassend Werner Stegmaier: Auseinandersetzung mit Nietzsche I – Metaphysische Interpretation eines Anti-Metaphysikers. Ausführliche Analysen fi nden sich bei Wolfgang Müller-Lauter: Nietzsche Interpretationen. Bd. III. Heidegger und Nietzsche; Harald Seubert: Zwischen erstem und anderem Anfang: Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens; Michael Skowron: Nietzsche und Heidegger. Das Problem der Metaphysik. 3 Abgedruckt in: Nietzsche II (GA 6.2, 301–361); dieser Abschnitt aus Nietzsche II wird hier zitiert als Nihilismus. 4 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 125 (KSA 3,480– 482); bes. 481: »Gott ist todt!« 5 Ob Heideggers Nietzsche-Deutung dem Selbstverständnis Nietzsches entspricht, kann an dieser Stelle nicht eigens geprüft werden. Vgl. dazu die kritischen Vorbehalte bei Werner Stegmaier: Auseinandersetzung mit Nietzsche I, 208 f. 6 Vgl. Überwindung der Metaphysik (= ÜM) 70: »Der Untergang vollzieht sich zumal durch den Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt und durch die aus der Metaphysik stammende Verwüstung der Erde.« Weiter ÜM 75: »Die Metaphysik ist […] aber vielleicht auch das notwendige Verhängnis des Abendlandes«. Vgl. auch ÜM 76 und 97. 7 Vgl. Einleitung zu: Was ist Metaphysik? (= EWiM) 196: »Die Metaphysik denkt, insofern sie stets nur das Seiende als das Seiende vorstellt, nicht an das Sein selbst.« 8 Vgl. Augustinus: De ordine 2,48 über die Einheit; De trinitate 8,3 sowie De natura boni über das Gutsein, und De trinitate 8,3 über das Wahrsein. Bei Thomas von Aquin vgl. De veritate q.1, Summa contra Gentiles I cap. 37–41. 9 Vgl. dazu insgesamt SuZ 212–230 (§ 44: Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit). 1
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Vgl. dazu Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit – Freiheit – Geschichte. Eine systematische Untersuchung zu Heideggers Schrift ›Vom Wesen der Wahrheit‹. 11 Vgl. z. B. auch Augustinus: De civitate dei 8,4 ; De magistro 40. 12 Z. B. in der Vorlesung aus dem SS 1927: Grundprobleme der Phänomenologie § 20, GA 24, 400–405. 13 Vgl. SuZ 212; GA 24,317; BH 165: »In ›S. u. Z.‹ (S. 212) ist mit Absicht und Vorsicht gesagt: il y a l’Être: ›es gibt‹ das Sein. Das il y a übersetzt das ›es gibt‹ ungenau. Denn das ›es‹, was hier ›gibt‹, ist das Sein selbst. Das ›gibt‹ nennt jedoch das gebende, seine Wahrheit gewährende Wesen des Seins. Das Sichgeben ins Offene […] ist das Sein selber.« BH 166: »Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt. Das aber sagt, geschickhaft gedacht: Es gibt sich und versagt sich zumal.« 14 Zitiert wird Friedrich Nietzsche NF 9 [35] (27); KSA 12,350 (Herbst 1887). 15 NWGit 208; vgl. Friedrich Nietzsche NF 19 [42] (172); KSA 12,476 (Herbst 1887). 10
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– Klaus Düsing –
Die Mythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte
1. Einleitung Dem religiösen Denken und der Metaphysik aus reiner Vernunft folgt immer wie ein unablösbarer Schatten deren Bestreitung durch Skeptizismus, Materialismus oder Nihilismus. Dies gilt z. B. für das fortgehende 18. Jahrhundert, als Skeptizismus und mechanistischer Materialismus Sinn und Geltung von Religion und Metaphysik obsolet zu machen versuchten. Diese Situation fanden die Denker der klassischen deutschen Philosophie, auch Hölderlin und Hegel in impliziter oder expliziter Beachtung vor – und sie etablierten daraufhin tiefgreifende Antworten. In verschärfter Weise stellt sich diese Situation im 20. Jahrhundert bis heute dar, weil Skeptizismus, Materialismus und Nihilismus in Naturwissenschaft, Ethik und Religionskritik in dieser Zeit auch gesellschaftlich oft geradezu bestimmende Vormeinungen geworden sind; und hierauf sucht Heidegger entscheidende Antworten. Da für ihn die Sprache der modernen Wissenschaften, die Sprache seiner eigenen technisierten Lebenswelt und dezidiert die Sprache der Philosophie, die er, was hier nicht näher untersucht sei, als die Sprache der ›Metaphysik‹ auffaßt, davon latent oder offenkundig durchherrscht ist, bezieht er sich für seine Antworten auf eine bedeutungsreiche, tiefsinnige Dichtung, deren Sprache von jenen eingeschliffenen, verfallsartigen Sprach- und Denkweisen weit entfernt ist und die nur dem eigenen produktiven, einsichtsreichen, wesentlich religiösen Duktus folgt, auf die Dichtung des späten Hölderlin. So wird ihm gerade Hölderlins späte Dichtung zu einer Art Vorbild oder Präfiguration in seiner Auseinandersetzung insbesondere mit dem Nihilismus seiner Gegenwart, den er nicht zu widerlegen, sondern als geschichtliches Ereignis zu begreifen sucht, um ihn unter Aufrechterhaltung von | 129
dessen negativen Grundthesen in Richtung auf ein anderes, neuartiges Seins- und Gottesverständnis zu übersteigen. So sei nun in einem ersten Teil – unabhängig von den Deutungsvorgaben Heideggers – die Mythologie des späten Hölderlin umrissen. Dabei wird gezeigt, wie Hölderlin den ästhetischen Platonismus und Pantheismus seiner klassischen Zeit zugunsten einer Auffassung von der geschichtlichen Realität der griechischen Götter verläßt, wie in seiner Mythologie in gewisser Anknüpfung an Schiller die griechischen Götter in einem Göttertag anwesend und offenbar waren, worauf die Götternacht, die Abwesenheit und Verbergung der Götter bis in Hölderlins Gegenwart folgte und wie schließlich die Wiederkehr der Götter oder Gottes als neue göttliche Anwesenheit oder Offenbarung erhofft wird. Dabei soll sich erweisen, daß es erstens eine späte, nicht mehr konsequent vollzogene Wendung Hölderlins zum Christlichen gibt und daß zweitens die späte Gesamtkonzeption Hölderlins zu Mythologie und Religion prinzipiell idealistisch zu verstehen ist. Beides entspricht nicht Heideggers Auffassung. – Im zweiten Teil sei Heideggers Deutung dieser Mythologie im Ausgang von seiner Interpretation der Hölderlinschen ›göttlich-schönen Natur‹ sowie die grundlegende Parallele der mythologisch-religiösen Geschichte von Göttertag, Götternacht und Wiederkehr der Götter oder Gottes mit Heideggers Geschichte des Seins als dessen Entbergung, Verbergung und anderem Anfang aufgezeigt. Dabei sei insbesondere die Entsprechung von Götternacht und Nihilismus akzentuiert. Diese Umdeutung Heideggers verwandelt Hölderlins religiöse Vorstellung einer solchen Geschichte in ein reines Denken der Seinsgeschichte. Dieses sei am Schluß hinsichtlich der Ontologieformen, die in Heideggers Konzeption dabei im Hintergrund stehen, näher betrachtet.
2. Die Mythologie des späten Hölderlin 2.1 Vom ästhetischen Platonismus und Pantheismus zum Ansatz der geschichtlichen Realität der Götter In seiner mittleren, der sog. ›klassischen‹ Zeit (etwa von 1795 bis 1799) vertrat Hölderlin einen ästhetischen Platonismus und Pan130 | klaus düsing
theismus. Für ihn war die höchste Idee – wie z. T. im RenaissancePlatonismus – die Idee der Schönheit. Diese beherrscht nach Hölderlin als ursprüngliche Einheit und Harmonie das All in seiner Mannigfaltigkeit und auch in seinen Gegensätzen. Sie ist nicht transzendent, sondern immanent im Weltganzen anwesend; dieses aber wird nicht mechanistisch-deterministisch gedacht wie bei Spinoza der räumlich-zeitliche Kosmos, sondern wesentlich als Inbegriff von Leben und Geist. In dieser Auffassung sind die griechischen Götter Phantasiegestalten der Kunst und Symbole für poetische Bedeutungen, ähnlich wie in Platons Phaidros der ›selige Chor‹ der Götter, die bestimmte Bedeutungen tragen, geschildert wird (vgl. Phaidros 250b).1 Diese Auffassung verläßt Hölderlin um 1799/1800. Seine eigenen Bemühungen um ein Drama zu Empedokles und die Deutung von dessen tragischem Schicksal, das zugleich als Präfiguration von Christi Schicksal angedeutet wird, führen Hölderlin u. a. zu dem neuen Ansatz, daß die griechischen Götter nicht nur als poetische Symbole, sondern als eigene, von den Griechen religiös verehrte, geschichtliche Realitäten zu verstehen sind.2 Die Rückbindung an das menschliche, religiöse und künstlerische, zugleich kultisch die Verehrung vollziehende Dasein bleibt also erhalten, das sich eben darin bevorzugt selbst versteht. Die Götter sind infolgedessen nicht nur nicht transzendent; sie sind zugleich geschichtlich. In der klassischen Religion der Griechen sind sie als solche für die Menschen anwesend und offenbar und damit von eigener geschichtlicher Realität; sie sind für Hölderlin nicht mehr nur poetisch-künstlerische Phantasieprodukte.3 Nicht nur die Menschen sind für ihr grundlegendes Selbstverständnis auf reale, geschichtlich ihnen gegenwärtig gewordene Götter angewiesen; Hölderlin äußert – in der Rheinhymne – auch den generell mystischen Beziehungsgedanken, daß da »die Seligsten nichts fühlen von selbst«, es erforderlich ist, daß »in der Götter Namen / teilnehmend fühle ein Anderer«, den sie »brauchen«, der Mensch.4 Die Götter zeigen sich demnach den klassischen griechischen Menschen in geschichtlicher Epiphanie, weil sie nur durch jene ein eigenes Selbstverhältnis gewinnen; und umgekehrt erlangen die Menschen ein Selbstbewußtsein ihres religiösen, künstlerischen und kultischen, aber in Handlungen auch tragischen Daseins nur im Angesicht der Götter. Mythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte | 131
2.2 Hölderlins Mythologie von Göttertag, Götternacht und Wiederkehr der Götter Das sog. ›älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‹, dessen Verfasserfrage hier übergangen sei, fordert: »Wir müssen eine neue Mythologie haben«;5 denn die griechische, die jüdisch-christliche oder die germanische Mythologie seien im Grunde vergangen. Hölderlin ist damals der einzige, der eine solche Forderung, freilich wesentlich auf synkretistische Weise erfüllt. Er nimmt vor allem die griechische, auch Teile der christlichen Mythologie seinem Verständnis nach auf und führt einen neuen, höchsten Gott in der Hymne: Friedensfeier (1802) ein, den Fürsten des Festes als den Gott des Friedens.6 Neu ist ebenso die Übertragung des bekannten Phasenschemas von ursprünglicher Einigkeit, Entzweiung und neuer, höherer Einigkeit auf die gesamtgeschichtliche religiöse Entwicklung des Verhältnisses von Gottheit und Menschen. Diese Konzeption bildet das Zentrum der Mythologie des späten Hölderlin. Hölderlin geht hierbei aus von Schillers elegischer Sicht in der Hymne: Die Götter Griechenlands.7 Dort rühmt Schiller die Epoche der ›schönen Welt‹, in der die griechischen Götter regierten, die für ihn freilich – wie für den klassischen und anders als für den späten Hölderlin – ›schöne Wesen aus dem Fabelland‹ (V. 4) sind. Dies war nach Schiller die Epoche der Schönheit, der Freude und des Glücks. Kritisch gegenüber dem Christentum, was Hölderlin so nicht übernimmt, erklärt Schiller dann (V. 155 f.): »Einen zu bereichern unter allen, mußte diese Götterwelt vergehn.« Zwar wünscht sich auch Schiller deren Wiederkehr herbei; aber sie lebt nur in der Dichtung weiter, ist endgültig vergangen. Hölderlin verwandelt diese Motive zu einer neuen, tiefsinnigen Mythologie, die vielen seiner späten Hymnen zugrunde liegt. Im folgenden wird nur der bildhaft-vorstellungsartige und gedankenreiche Gehalt der Mythologie betrachtet; die einzigartige poetische, z. T. gräzisierende Sprache bedürfte eigener Würdigung. Die ursprüngliche Epiphanie der Götter geschah, wie Hölderlin z. B. in der Elegie: Brot und Wein (1800/1801) sagt, im ›seligen Griechenland‹ (V. 55).8 Hier »kehren die Himmlischen ein, tiefschütternd gelangt so / aus den Schatten herab unter die Menschen ihr Tag« (V. 71 f.), nämlich der Göttertag, oder hier bricht sich die Epiphanie der Göt132 | klaus düsing
ter aus dem Dunkel der Unbewußtheit bei den Menschen Bahn. So leben die Menschen des Göttertages in der Überfülle des Lichts oder des vollendeten ›Seins‹, wie Hölderlin es philosophisch im Hyperion ausdrückte. Ähnlich wie Schiller betrauert Hölderlin den Verlust dieser seligen, festlichen, von den Göttern durchwalteten und gesegneten Welt. Aber er gibt hier einen anderen Grund für das Ende dieser Epoche der Offenbarung der Götter an als Schiller, nämlich (V. 114): »Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.«. Die Epiphanie der Götter und ihre lichtvolle Übermacht muß enden, weil die Menschen ihr auf die Dauer nicht gewachsen sind.9 In diesen Göttertag bezieht Hölderlin – wieder anders als Schiller – Christus ein; er ist in Hölderlins synkretistischem Versuch der letzte und schönste antike Gott, »ein stiller Genius […], welcher des Tags Ende verkündet’« (V. 129 f.) oder mit dem »erlosch der Sonne Tag« (Patmos; erste Fassung, V. 108)10, nämlich der Göttertag. Dieser Synkretismus bereitet Hölderlin allerdings Schwierigkeiten, wie wir noch sehen werden. Zwar hinterließ Christus Brot und Wein als Abendmahlsgaben zum Andenken an ihn und zum Zeichen einer Wiederkehr des ›himmlischen Chores‹ (Brot und Wein, V. 132), wie es antikisierend heißt; aber nun begann die Götternacht, die Hölderlin auch, was Heidegger aufnimmt, ›dürftige Zeit‹ nennt (V. 122). Es ist die Zeit der Abwesenheit der Götter und des göttlichen Lichts. »Der Höchste«, wie Hölderlin in der großen Hymne Patmos (1802) sagt, wendet »sein Angesicht« ab, »daß nirgend ein / Unsterbliches mehr am Himmel zu sehn ist oder / auf grüner Erde« (V. 148–151; H-SW 2,169). Damit also verbirgt sich ›der Höchste‹, der göttliches Licht und Leben spendende Gott, der im Ereignis des Göttertages, aber auch der Verbergung der Götter waltet. Denn es findet nach dem Ende des Göttertages keine Epiphanie einer Gottheit mehr statt; das hesperische Zeitalter ist also ein Zeitalter im wesentlichen der Gottverlassenheit. Dies bedeutet, daß die hesperischen Menschen sich auch nicht selbst finden, da ihnen das göttliche Licht fehlt; sie leben in der Epoche der ›Not und der Nacht‹, des ›Irrsals‹ (Brot und Wein, V. 115 f.)11 und des ›bösen Geistes‹ (Der Einzige; zweite Fassung, V. 69). Solches Böse hebt Hölderlin für die Götternacht mehrfach hervor. Es kommt zustande, wenn die Menschen keine göttliche Orientierung mehr finden, daher sich selbst nicht kennen Mythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte | 133
und verwerfliche Irrwege gehen. Dies alles entsteht und entwickelt sich in der Epoche der Götterferne und der Abwendung des ›Höchsten‹ von den Menschen, und auch die Irrwege sowie Materialismen und Atheismen seiner Zeit dürfte Hölderlin darin mitmeinen. Hölderlin sucht diese Auffassungen nicht zu widerlegen; ohne ihren Vertretern die Verantwortung dafür abzunehmen, stehen sie für ihn vielmehr im Gesamtkontext des geschichtlichen Sich-Ereignens der Götternacht und des Gottheitsentzuges. Aber auch diese Götternacht bleibt nicht ganz ohne Hoffnung. Hölderlin nennt diese ›dürftige Zeit‹ insofern auch ›heilige Nacht‹, als die Dichter »wie des Weingotts«, des Dionysos, »heilige Priester« (Brot und Wein; V. 122–124) in dieser Zeit das Andenken an ihren Gott bewahren und verkünden. Antikisierend wird hier der Abendmahlswein mit der Gabe des Dionysos kontaminiert. Aber auch sonst bleibt in dieser ›dürftigen Zeit‹ eine Erinnerung an die Götter und das Göttliche; ja, in Patmos hebt Hölderlin – eigentlich der Götternacht zum Trotz – sogar hervor: »denn noch lebt Christus« (Patmos; V. 205).12 Solches Gedenken an die ›Himmlischen‹ oder ›Unsterblichen‹ sowie die Zeichen der Erinnerung an sie, wie es Brot und Wein sind, weisen zugleich voraus auf deren Wiederkehr. Eine erneute Ankunft der Götter oder der Gottheit bei den Menschen wird vom gottbegeisterten Dichter vorausgeahnt, der aber zugleich zu große und dann verzehrende Nähe zur Gottheit zu vermeiden hat. Auch in dieser Erwartung einer realen Wiederkehr der Götter oder der Gottheit in der Geschichte unterscheidet sich Hölderlin von Schiller, für den die Götter Geschöpfe der dichterischen Phantasie sind, die die Griechen beseelt haben, die aber erst recht in späterer, reflektierterer Zeit nicht mehr für reale Wesen, sondern nur für Produkte der ästhetischen Einbildungskraft gehalten werden können und daher nur in Kunst und Dichtung weiterleben. Hölderlin dagegen dichtet mythologisch, aber in erhoffter realgeschichtlicher Wiederkunft des ›Brautfests‹ der ›Menschen und Götter‹ (Der Rhein; V. 180)13 oder des großen Festes des Friedens in der neuen Begegnung von Göttern und Menschen. Hierin geschieht eine neue Selbstfindung der Menschen und ein neues Selbstverhältnis der Götter im Angesicht des menschlichen Gegenüber, und zwar im Zustand lichtvollen Friedens oder – mit dem klassischen Hölderlin – vollendeten ›Seins‹. 134 | klaus düsing
2.3 Christentum und idealistisches Denken Während Hölderlin insbesondere in der Friedensfeier einen scheinbar gelungenen Synkretismus von griechischen Göttern und Christus gestaltet, der eigens zu diesem Fest der Allversöhnung gerufen wird und auch dort erscheint unter der Ägide des Gottes des Friedens, äußert Hölderlin in der sehr persönlich bekennenden, nicht vollendeten Hymne: Der Einzige (1801/02 ff.), womit Christus gemeint ist, und in der unvollendeten Madonnenhymne (1802), daß ihm dieser Synkretismus nicht aus innerer Überzeugung gelingt. Auch wenn er Christus unter die Halbgötter mit göttlichem Vater und irdischer Mutter wie Dionysos und Herakles einzuordnen versucht, erklärt er gegen diesen Synkretismus: »Ich weiß es aber, eigene Schuld / ist’s! Denn zu sehr, / o Christus! häng’ ich an dir« (Der Einzige; V.48–50).14 Trotz vieler antikisierender Bestimmungen, die Christus betreffen, z. B. der Charakterisierung des letzten gemeinsamen Abendmahls mit den Jüngern als ›Gastmahl‹, als ›Symposion‹, oder des ›Sohnes des Höchsten‹ als des ›Gewittertragenden‹ (Patmos; V. 78 f.;82),15 bekennt er aus seinem inneren leidvollen Fragen nach dem wahren Gott in der Madonnenhymne (V. 1–3): »Viel hab’ ich dein / und deines Sohnes wegen / gelitten, o Madonna«. Schon in der synkretistischen Einbeziehung von Christus in die antike Götterwelt, erst recht in diesen inneren Zweifeln an der Möglichkeit solcher Einbeziehung und den Fragen nach einer einzigartigen Sonderstellung Christi erkennt man eine Tendenz des späten Hölderlin zum Christentum, die Heidegger in seiner Hölderlin-Deutung ausblendet. Am deutlichsten wird dies in einer kompakten Zusatzbemerkung in Hölderlins späten Sophokles-Anmerkungen (1803), nämlich innerhalb der Bestimmung des Tragischen in den Antigone-Anmerkungen. Ein antiker Gott ist für Hölderlin eine ›Naturmacht‹, die ein unmittelbares, aber zugleich zerstörerisches Verhältnis zu Menschen hat. Während Semele noch, wie Hölderlin in der Feiertagshymne (1799) schildert, die sichtbare Gegenwart des Gottes Zeus in Erwartung höchster mystischer Vereinigungsbeglückung herbeiwünschte, aber in der Begegnung mit ihm vernichtet wurde, sucht Antigone solcher Begegnung auszuweichen, die nur Unglück, Identitätszerstörung und Tod bringt. Denn der griechische Gott, der den Menschen als unmittelbare, unheimliche Macht im Innersten erMythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte | 135
greift, ist »in der Gestalt des Todes gegenwärtig«.16 Hölderlin nimmt hier hinsichtlich der Griechen in entschieden negativer Deutung, die durchaus auch von seinen Erfahrungen in Krankheitsschüben herrührt, ganz allgemein Schillers Bestimmung des Griechischen als des Naturhaften, Naiv-Unmittelbaren im Gegensatz zum modernen, sentimentalisch-reflektierten und damit vermittelten Geistigen auf. Dieser Grundgedanke steht auch hinter der bedeutungsvollen Bemerkung Hölderlins, die eine Abhebung von griechischer Tragik aussagt: »Der Gott eines Apostels ist mittelbarer, ist höchster Verstand in höchstem Geiste«.17 Dieser christliche Gott ist keine antike Naturmacht mehr, die unmittelbar den Menschen ergreift und ihn in der Einswerdung dahinrafft. Er gewährt den Menschen ein sie schonendes und bewahrendes, mittelbares Verhältnis zu ihm als ›höchster Geist‹. Dieses dem sich findenden Menschen bleibende Existenz gewährende Unterschiedsverhältnis des geistigen Gottes zum geistigen Menschen ist nunmehr offenbar das Credo des späten Hölderlin, das detaillierter auszuführen ihm wegen des irreversiblen Fortschreitens seiner Krankheit, der Schizophrenie, versagt war. Damit aber verändert sich seine vorherige synkretistische Mythologieauffassung. Diese Entwicklung Hölderlins über seinen klassischen, ästhetisch-platonistischen Ansatz hinaus zu einer synkretistischen Mythologie und dann zu einer Tendenz zum Christentum kann nun in den Kontext des Idealismus eingeordnet werden.18 Auch dies negiert Heidegger aus noch zu erörternden Gründen. Für den Idealismus wesentlich ist, abbreviativ gesagt, die Konzeption eines fundamentalen oder prinzipientheoretischen Verhältnisses des endlichen, menschlichen Selbstbewußtseins zum Göttlichen oder Absoluten; dieses Verhältnis kann, wie die idealistischen Theorien zeigen, durchaus unterschiedlich bestimmt werden. In Hölderlins synkretistischer, zugleich neuer Mythologie gewinnen Menschen ebenso wie Götter ihr je eigenes, sterbliches oder unsterbliches Selbstbewußtsein durch wechselseitige Beziehung aufeinander in geschichtlichem Durchgang durch Göttertag, Götternacht und Wiederkehr der Götter, in welchem gesamtgeschichtlichen Ereignis letztlich der ›Höchste‹ waltet. In Hölderlins noch späterer, sich tendenziell davon ablösender Auffassung besteht griechische Tragik in der Einswerdung des Menschen und eines Gottes, der in der Gewalt 136 | klaus düsing
seiner unmittelbaren Gegenwart Identität und Existenz des Menschen vernichtet. So sucht Ödipus in Hölderlins Deutung nach dem Bewußtsein seiner Identität, bevor ihn der Gott wirklich ergreift; und so versucht Antigone ihre Identität und Existenz zu bewahren, indem sie die Begegnung mit dem Gott vermeiden will, der sie dann doch ergreift und ihren Tod herbeiführt. Dies ist nach Hölderlin konstitutiv für die antik-griechische Religion. Ein modernes, christliches Gottesverhältnis wahrt dagegen, Existenz und Identität des Menschen schonend, den Unterschied zwischen Gott als ›höchstem Geist‹ und geistigen Menschen. Beide grundlegenden Verhältnisse des Menschen zur Gottheit setzen ein geschichtliches Wirklichsein und ein unverfügbares Sich-zu-verstehen-Geben der Götter oder Gottes in Bezug auf die Menschen voraus. Dieser idealistisch begründete Ansatz kann durchaus in einer idealistischen Religionsphilosophie ausgeführt werden, die prinzipiell etwa derjenigen des späten Schelling ähnlich sein könnte.
3. Heideggers Hölderlin-Deutung und die Seinsgeschichte Diese Mythologie des späten Hölderlin greift Heidegger in seiner Vorlesung über Hölderlin von 1934/35 sowie in den weiteren Vorträgen und Lehrveranstaltungen über Hölderlin und in seinen veröffentlichten Hölderlin-Abhandlungen (ab 1937) auf.19 Sie wird ihm zur Anregung und Präfiguration seiner eigenen Konzeption einer Seinsgeschichte. Nicht um Einzeldeutungen, die durchaus erhellend sein können, sondern um diese Gesamtanschauung in Heideggers Hölderlin-Deutung soll es im folgenden gehen; und dabei werden sich wesentliche Gemeinsamkeiten ebenso wie offene und verdeckte Unterschiede zwischen Hölderlin und Heidegger ergeben.
3.1 Die Natur (Physis) und das ›Heilige‹ in Heideggers Deutung der Feiertagshymne Heideggers philosophische Voraussetzungen seiner HölderlinDeutung liegen in seiner Auffassung vom ›Wesen der Wahrheit‹.20 Schon in Sein und Zeit legte Heidegger dar, daß die AussagewahrMythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte | 137
heit auf Auslegung und auf Entdeckung eines sich von sich her Zeigenden und Erschließenden beruht. So ist Wahrheit als A-letheia: Unverborgenheit des sich von sich her zeigenden Seienden. Dieser Grundgedanke ist im Prinzip phänomenologisch. Wahr ist, was sich von sich her in der Anschauung unverstellt gibt und damit evident, für Heidegger einleuchtend für das Dasein ist. Das notwendige Pendant aber solcher Unverborgenheit und Entbergung des Seienden für ein Verstehen durch das Dasein ist die Verborgenheit und Verbergung als die Un-wahrheit, von der Heidegger – goethisch – erklärt, sie sei »älter als jede Offenbarkeit« (GA 5,193 f.).21 – In diesen Kontext gehört nun Heideggers Begriff der Physis (in den dreißiger Jahren), den er in seinen Hölderlin-Interpretationen verwendet und in seinem ›Physis‹-Aufsatz an Aristoteles’ Begriff der Physis im Unterschied zur Techne darlegt.22 Physis ist das Von-sich-herAufwachsen, allgemeiner: das Von-sich-her-Aufgehen, das allererst ein phänomenologisch unverstelltes, wahres Sich-Zeigen von Seiendem für ein Verstehen des Daseins ermöglicht. Physis ist daher das eigentliche Hervorgehen in die Unverborgenheit des Seienden. Von dieser Auffassung her interpretiert Heidegger in Hölderlins Feiertagshymne (1799), die noch auf der Schwelle zwischen Hölderlins klassischer und später Periode steht, die ›Natur‹. Sie ist nach Hölderlin »die göttlichschöne Natur«, die »über die Götter des Abends und Orients ist« (V. 13; 22).23 Darin liegt noch die ästhetisch-pantheistische Auffassung Hölderlins, die zugleich bereits auf die als real verstandenen Götter bezogen ist; die ›Natur‹ geht freilich noch über die Götter hinaus. Heidegger deutet diese Natur als allgegenwärtige Physis in seinem eigenen Sinne, als »Aufgehen in das Offene« (EHD 56), wie er mit einem Problemterminus Rilkes sagt, als Grundermöglichung allen Sich-Zeigens von bestimmtem Seienden. Auf solche Natur bezieht Heidegger Hölderlins folgende Formulierung: »nach festem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt« (Feiertagshymne, V. 25; vgl. EHD 61 und 61 ff.). Die Natur als Physis ging also aus noch Ursprünglicherem hervor, aus dem Chaos, das nach Heidegger das Heilige selbst ist. Dieses ist das Anfängliche, das in sich unversehrt und ›heil‹, aber zugleich als das fu2si@-Hervorbringende für einzelne Menschen und sogar Göt138 | klaus düsing
ter unnahbar bleibt. Damit ist es griechisch gedachte a4rch2 von zugleich ursprünglich religiös-numinoser Bedeutung. Dies zu nennen, ist Aufgabe des Dichters, wie Hölderlin sagt, »das Heilige sei mein Wort«.24 So dichtet der Dichter das Heilige als das Ursprüngliche, wie der Denker das Sein als Entspringen-Lassen des Seienden denkt. Das Heilige, das wie die aus ihm hervorgehende Natur über den Göttern steht, identifiziert Heidegger mit der strengen Mittelbarkeit des ›Höchsten‹, dem Unterschiedsverhältnis von Mensch und Gottheit, das aber bei Hölderlin, wie gezeigt, in eine andersartige, deutlich spätere Konzeption gehört. Und auch Heideggers Andeutungen von geschichtlichen Phasen des Heiligen, das sich in ursprünglicher Helle oder Lichtung manifestiert, das dann verdunkelt und verkannt wird, das vor allem aber das Kommende ist, nehmen Hölderlins mythologisches Dreiphasenmodell voraus, nämlich: Göttertag, Götternacht und Wiederkehr der Götter. Dieses mythologische Geschichtsmodell auf der Basis des Heiligen ist für Heideggers Hölderlin-Deutung und -Anverwandlung zentral.
3.2 Hölderlins späte Mythologie und Heideggers Deutung und Verwandlung Diese Mythologie des späten Hölderlin hebt Heidegger schon am Ende seines Vortrags von 1936 über Hölderlin und das Wesen der Dichtung ausdrücklich hervor (GA 4,33–48). Dichtung ist, wie Heidegger dort abbreviativ sagt, »Stiftung des Seins« (GA 4,40; 41 ff.),25 und zwar in geschichtlicher Beziehung auf die Götter oder die Gottheit. Darüber heißt es (GA 4,47): »[I]ndem Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet, bestimmt er erst eine neue Zeit. Es ist die Zeit der entflohenen Götter und des kommenden Gottes. Das ist die dürftige Zeit, weil sie in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden.« Alle drei Phasen der Mythologie Hölderlins sind hier erwähnt. Sie werden später von Heidegger mehrfach herangezogen und gedeutet, insbesondere in seiner Interpretation des Gedichts: Andenken (1803), das er in den Gesamtkontext von Hölderlins Spätwerk stellt, und – kürzer, aber prägnanter – im Eröffnungsteil seiner Rilke-Abhandlung Wozu Dichter? Mythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte | 139
Die erste Phase, diejenige des Göttertages, endet, wie Heidegger dort in der Auslegung von Hölderlins Synkretismus hervorhebt, mit »dem Opfertod Christi«;26 und er fügt sogleich Hölderlins Erwähnung der Christus scheinbar ähnlichen anderen Halbgötter Herakles und Dionysos an; eine Sonderrolle Christi, wie sie der späte Hölderlin etwa ab 1802 tendenziell nahelegt, erkennt Heidegger nicht an. Der Göttertag ist die Helle der sich manifestierenden Epiphanie des Heiligen, ontologisch (im Seinsdenken) verstanden: der Anfang der sich ereignenden Wahrheit der fu2si@, des Aufgehens des Seienden. Später sucht Heidegger solches ursprüngliche Verständnis von Seiendem bei den Vorsokratikern. Mit dem Ende des Göttertages beginnt die Götternacht, die Heidegger ausführlicher erörtert, da sie die lange und bis heute fortdauernde »Zeit der Gott-losigkeit« ist (EHD 110). Heideggers Bestimmungen lassen das Nietzschesche Problem des Nihilismus erahnen, das er ebenfalls ausführlich deutet27 und als Bestandteil in seine Auffassung des sich allmählich verschärfenden Seinsentzuges in der Geschichte integriert. Es ist die Zeit des »Fehls Gottes«,28 wie Heidegger mit Hölderlin sagt, nämlich des Fehlens und Nichtmehr-Erscheinens eines Gottes in der Weltgeschichte. Es gibt keinen ›Glanz‹, keine Epiphanie eines Gottes mehr; diese Nacht der Welt ist daher ›dürftige Zeit‹, wie Heidegger, Hölderlins Formulierung akzentuierend, her vorhebt. Diese ist die Zeit der ›Weltnacht‹, die in ihrer Gottvergessenheit schließlich nicht einmal mehr die Abwesenheit Gottes als dessen ›Fehlen‹ bemerkt, ganz so wie die sich intensivierende und bedrohlicher werdende Seinsvergessenheit dieses Ausbleiben eines vom Sein her aufgehenden, sich selbst zeigenden Seienden gar nicht erst mehr bemerkt. Dies ist der sich vollendende Nihilismus, der sich im bloßen Willen zur Macht und im Machbarkeitswahn der universal werdenden Technik ohne jegliches Gewärtigen von fu2si@ (Natur) realisiert und dann – wie Heidegger unter Anspielung auf den Krieg und die eben erst anbrechende Nachkriegszeit betont – ›unermeßliche Not‹, ›namenloses Leid‹ und ›fortwuchernde Friedlosigkeit‹ mit sich bringt. So wird Hölderlins ›Götternacht‹ oder ›dürftige Zeit‹ der ›Weltnacht‹ von Heidegger in seine Lehre vom geschichtlichen Entzug, ja der Verbergung des Seins ontologisierend übertragen (WD 248 f.). Allerdings ist für Heidegger wie für Hölderlin, wenn auch in 140 | klaus düsing
anderer Weise, die Götternacht nicht ganz ohne Hoffnung. Für Hölderlin gelangt »die Spur der entflohenen Götter« zu den ›Götterlosen‹ (Brot und Wein: V. 147 f.) hinab, so daß auch in dieser langen Periode der Weltnacht gleichwohl eine Erinnerung an die ›Himmlischen‹ bleibt; und dies kann, vorgetragen von Dichtern, zum Zeichen neuer Gottesgegenwart werden. Für Heidegger dagegen ist, wie erwähnt, die Nacht das Ursprünglichere gegenüber der Offenbarkeit des neuen Tages; in ihr muß der ›Abgrund‹, wie Heidegger sagt, als Ausbleiben des Grundes ausgehalten werden, bis sich ›vom Abgrund her‹ die ›Weltnacht‹, d. h. die Seinsvergessenheit und Seinsverbergung ›wendet‹, wie er hofft. In Hölderlins Mythologie wird solche erneute Epiphanie der Götter und der Gottheit als ›Brautfest‹ der ›Menschen und Götter‹ (Der Rhein; V. 180) oder in endgültiger Weise als Fest der Allversöhnung der Götter untereinander, wozu auch Christus gehört, und mit den Menschen unter der Herrschaft des Gottes des ›Friedens‹ als des erfüllten Seins dichterisch ausgestaltet. Heidegger interpretiert diesen neuen Göttertag wesentlich zurückhaltender. Er bezieht sich dabei auf den von Hölderlin auch in seiner späteren und späten Zeit gelegentlich genannten ›Äther‹. Davon sagt Heidegger (WD 250): »Das Element dieses Äthers, das, worin selbst Gottheit noch west, ist das Heilige. Das Element des Äthers für die Ankunft der entflohenen Götter, das Heilige, ist die Spur der entflohenen Götter.«29 Die Götter hinterlassen als in der Götternacht ›entflohene‹ noch eine zeichenhafte ›Spur‹, die die Dichter in dieser ›dürftigen Zeit‹ aufweisen. In dieser ›Spur‹ aber waltet, für die meisten unerkannt, wohl aber von Dichtern bemerkt, das Heilige, und dies ist die Grundlage für eine neue ›Ankunft‹ der Götter oder eines Gottes. Auch Heidegger selbst denkt solcher neuen Erscheinung eines Gottes entgegen; und diese ist für ihn – zu dem ersten griechischen – ein anderer Anfang. Dieser mythologische, Hölderlins Erwartung äquivalente Gedanke aber wird von Heidegger ontologisch (im Seinsdenken) begründet. Gemäß Hölderlins Spruch: »Lang ist / die Zeit, es ereignet sich aber / das Wahre« (Mnemosyne; V. 15–17),30 nämlich lange währt die Geschichte der Seinsvergessenheit und Seinsverbergung, erwartet Heidegger in neuer Zukehrung eines oder des Gottes zu den Menschen das Ereignis eines neuen Wahren, einer neuen Seinsentbergung und damit eines neuen lichtvollen Seinsverständnisses Mythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte | 141
der Menschen. Aber diese Utopie wird – bis auf wenige Anspielungen – nicht ausgestaltet in den veröffentlichten Schriften; in den Beiträgen versucht er nähere Bestimmungen hierzu für sein eigenes Verständnis, die er aber nicht veröffentlicht.31 So bleibt die Utopie der Ankunft eines neuen Gottes in Heideggers veröffentlichten Schriften im wesentlichen negativ, offenbar weil das Sein selbst sich zwar indirekt im neuen Gott und in einer neuen Zuwendung der Menschen zu dem von sich her aufgehenden Seienden zu verstehen gibt, aber nicht an und in sich selbst erfaßbar ist. Heidegger folgt hiermit dem gedanklichen Modell negativer Theologie, wie dies dezidierter im Neuplatonismus geschieht.
3.3 Heideggers Ausblendung von Christentum und idealistischem Denken beim späten Hölderlin Heidegger kann bei solcher Deutung und letztlich ontologisierenden Übertragung von Hölderlins später Mythologie in sein eigenes Denken des geschichtlichen Ereignisses von Seinsentbergung, Seinsverbergung und anderem Anfang Hölderlins noch spätere tendenzielle Wendung zum Christentum nicht mehr aufnehmen. Heidegger verharrt bei Hölderlins synkretistischer Mythologie, die er – in Hölderlins Sinne – als grundlegende Geschichte des Verhältnisses der realen Götter zu den Menschen deutet und die ihm zur Präfiguration seiner eigenen Auffassung von der Seinsgeschichte wird. Aber eine christliche Wendung paßt hierzu nicht. Aus dem gleichen Grunde muß Heidegger ablehnen, daß Hölderlins poetische Gedankenwelt zum Deutschen Idealismus gehört. Für ihn ragt die Dichtung des späten, aber auch nur des späten, im wesentlichen nicht des klassischen Hölderlin aus der Geschichte des Idealismus, ja sogar der ganzen, immer stärker seinsvergessenen ›Metaphysik‹ heraus. Dies ist schwerlich zu rechtfertigen. Unbestritten bleibt, daß sich Hölderlins einzigartige lyrische Sprachkraft in durchaus originalen, genialen, auch ungewöhnlichen Bildern und Gedanken äußert; und auch seine Gesamtkonzeption läßt sich in ihrer spezifischen, tiefsinnigen Bedeutung bei Schiller oder Schelling oder Hegel nicht finden. Aber Hölderlins späte Mythologie ebenso wie seine tendenzielle Wendung zum Christentum folgen, 142 | klaus düsing
wie skizziert, dem idealistischen Grundlegungsproblem des Verhältnisses von Identität des Selbstbewußtseins und Göttlichem oder Absolutem und ermöglichen damit eine idealistisch begründete Religionsphilosophie. Der gesamte Ansatz des späten Hölderlin fällt daher keineswegs aus dem Idealismus oder gar der Geschichte der Metaphysik heraus.32
4. Schlußbetrachtung: Seinsgeschichte und Ontologieformen Die Mythologie des späten Hölderlin mit ihrer Geschichte von Göttertag, Götternacht und neuer Epiphanie der Götter oder eines Gottes wird für Heideggers in weitem Sinne ontologische Deutung und Transposition zur Vorgestalt der sich ereignenden Geschichte der Seinsentbergung, der Seinsverbergung und -vergessenheit und eines anderen Anfangs. Faßt man dieses Heideggersche Seinsdenken – nach der sog. ›Kehre‹ – als eine grundlegende Art von Ontologie, die natürlich in ›ontologischer Differenz‹ solches Sein von Seiendem unterscheidet, so lassen sich an ihr folgende Grundformen von Ontologie aufweisen:33 Sie ist zuerst Ereignisontologie. Das Wahre als das Offenwerden des Seins im Seienden für das Verstehen der Menschen ereignet sich in den beschriebenen unterschiedlichen Geschichtsphasen; dies ist die sich ereignende Geschichte des Seins. Solches Wahre ist nicht Substanz. Heideggers Ontologie nach der ›Kehre‹ ist sodann Gegebenheits-, nicht Konstitutionsontologie; die Weisen und Bestimmungen, in denen die Menschen in ihren geschichtlichen Phasen jeweils das Seiende verstehen, werden von ihnen als gegebene erfaßt, nicht als vorhanden gegebene, sondern als vom Wahrheitsereignis ihnen angebotene, die sie frei ergreifen können oder nicht. Die Vorgehensweise hierbei kann, obwohl dies bei Heidegger kaum ausgeführt ist, als phänomenologisch-hermeneutisches Hinnehmen des sich von sich her Zeigenden qualifiziert werden, was zur Ontologieform einer phänomenologisch-hermeneutischen Ontologie führen könnte. Schließlich scheint Heidegger seine Ontologie nach der ›Kehre‹ als eine paradigmatische Ontologie anzudeuten. Dem Sein kommt letztlich ein »Über-maß« zu, ein »Über-maß der Ereignung« (Beiträge; GA 65,249). Das Seiende und das Verständnis des Seienden hängen zwar davon ab, sind aber im Mythologie des späten Hölderlin und Heideggers Seinsgeschichte | 143
Gegensatz dazu maßvoll oder endlich bestimmt und nur deshalb auch als endliche vom Menschen erfaßbar. Dem ›Über-maß‹ der ›Ereignung‹ und des Seins dagegen kommt ein ›Sich-Verbergen‹ zu. Dies entspricht der Gedankenführung einer negativen Theologie im Neuplatonismus, der an das ursprüngliche Eine oder wie bei Proklos: an den ersten Gott als Überseiendes und als Überfülle vom endlichen Seienden her denkt, dieses ursprüngliche Eine, wovon alles ausgeht, aber an sich selbst für undenkbar und unaussagbar hält. Kommt Heidegger diese Ontologieform zu, so ergeben sich, was zum Schluß genannt sei, zwei Probleme. Erstens: Die Bestimmung einer paradigmatischen Ontologie und ihres geschichtlichen Hintergrundes ist metaphysisch; Heidegger aber lehnt Metaphysik als sich verschärfende Seinsvergessenheit ab. Zweitens: Heidegger versucht – wie manche Metaphysiker – Gottesgedanken, die rein philosophisch oder wie bei Hölderlin mythologisch sind, in bloß ontologischen Bestimmungen zu fassen; es ist aber, wie schon Hegel kritisiert, kaum möglich, durch rein ontologische Bestimmungen, auch durch solche, wie sie Heidegger im Auge hat, Gott überhaupt zu denken, wenn dessen Wesen Geist ist.
Anmerkungen
Zu Hölderlins ästhetischem Platonismus und Pantheismus vgl. Klaus Düsing: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel, bes. 101–112. 2 Vgl. zu diesem Wandel Wolfgang Binder: Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus, bes. 18 ff.; ausführlicher dazu Anja Solbach: Seinsverstehen und Mythos. Untersuchungen zur Dichtung des späten Hölderlin und zu Heideggers Deutung, 59 ff., 81 ff. 3 Auch Hegel nahm später in seiner Theorie der ›Kunst-Religion‹ an, daß die Griechen in ihren Götter-Skulpturen die reale Anwesenheit der Götter selbst verehrten, was freilich schon für die klassische Zeit der Griechen offenbar nicht mehr galt. 4 Der Rhein. 8. Strophe, H-SW 2,145. Zu Heideggers Aufnahme dieses Gedankens s. unten Fn 30. 5 H-SW 4,299. Das Fragment ist in Hegels Handschrift niedergeschrieben. Als Verfasser wurden Schelling oder Hölderlin oder Hegel namhaft gemacht. Wenn Hegel nicht der Verfasser ist, müßte es sich um eine Abschrift handeln. Ein dazugehöriges Original wurde trotz vielfältiger Suche seit 1917 nicht aufgefunden. 1
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Vgl. Wolfgang Binder: Hölderlins ›Friedensfeier‹, bes. 302 ff.; ob dieser Gott auch der wiederkehrende Saturn ist, wie Binder darlegt, möge dahingestellt bleiben. 7 Vgl. Schillers Werke, Bd 1,194. 8 H-SW 2,91 ff. (Erste Fassung). Brot und Wein ist oft interpretiert worden; vgl. bes. die beziehungsreiche Inter pretation von Wolfgang Janke: Archaischer Gesang. Pindar – Hölderlin – Rilke. Werke und Wahrheit, bes. 87 ff. 9 Später gibt Hölderlin dafür noch geschichtlich spezifischere Gründe im Verhältnis von Hellas und Hesperien an. Die Griechen gingen aus vom himmlischen ›Feuer‹, der göttlichen Überfülle des Lichts und mußten, um ›sich fassen‹, nämlich einen selbstbewußten Stand gewinnen zu können, Gestaltung, Formung und Kunst ausbilden. Dabei entfernten sie sich immer weiter von ihrem lebendigen Ursprung bis zur Erstarrung, zur unlebendigen Nacht. Dies aber ist der Anfang der Hesperier, die zu erneuter göttlicher Gegenwart streben müssen. Zur näheren Ausführung vgl. Klaus Düsing: Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel, bes. 277–296. 10 H-SW 2,168. In Der Einzige heißt er ›des Hauses Kleinod‹ (H-SW 2,154), nach Patmos: »an dem am meisten / die Schönheit hing« (V. 137 f.). 11 H-SW 2,93, zum folgenden H-SW 2,159. Vgl. auch etwa 169, auch z. B. die heft igen zeitkritischen Verse: »und freigelassen der Nachtgeist, / der himmelstürmende, der hat unser Land / beschwätzet, mit Sprachen viel, unbändigen, und / den Schutt gewälzet / bis diese Stunde« (234). Dieser ›Nachtgeist‹ ist offensichtlich jener ›böse Geist‹. 12 Schon vorher hieß es, als Christus starb (V. 100 f.): »Drum sandt’ er ihnen / den Geist«. 13 Vgl. Bernhard Böschenstein: Hölderlins Rheinhymne; vgl. auch Wolfgang Binder und Alfred Kelletat (Hg.): Hölderlins Friedensfeier; außerdem Wolfgang Binder: Hölderlins Friedensfeier. 14 H-SW 2,154 (erste Fassung). 15 H-SW 2,167, zum folgenden 211. 16 H-SW 5,269. An Casimir Ulrich Böhlendorff schreibt Hölderlin (1802) als eigene Erfahrung vermutlich eines Schizophrenie-Schubs, er könne »wohl sagen«, daß ihn »Apoll geschlagen« (H-SW 6,432). 17 H-SW 5,269. Zu dieser Deutung und zu Hölderlins nicht mehr zu Ende geführter Wendung zum Christentum als Veränderung seiner synkretistischen Mythologie vgl. Klaus Düsing: Christus und die antiken Götter in der Mythologie des späten Hölderlin, bes. 183 ff. 18 Vgl. Klaus Düsing: Christus und die antiken Götter in der Mythologie des späten Hölderlin, 188 f.; weiterhin Klaus Düsing: Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel, bes. 294 ff., ebenso Anja Solbach: Seinsverstehen und Mythos, 20 ff., 90, 191 u. ö. 19 Zu den zahlreichen Interpretationen über Heidegger und Hölderlin sei auf den Forschungsbericht von Anja Solbach verwiesen: Seinsverstehen und 6
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Mythos, 22 ff, zu Heideggers Beginn seiner Hölderlin-Studien und zur entsprechenden Phase seines eigenen Denkens vgl. ebd. 132 ff., auch 13 ff. 20 Vgl. Vom Wesen der Wahrheit (GA 9,177–202). Zur ›Vorbereitung des Denkens für die Hölderlinauslegung‹ durch solche Wahrheitsauffassung vgl. Beiträge zur Philosophie (GA 65), 422 f. 21 GA 5,193 f. Vgl. auch WiM. Vgl. als Hintergrund Mephistos Aussage in Goethes Faust (V.1349 f.): »Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, / ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar«. 22 Vgl. Vom Wesen und Begriff der Fu 2si@ (GA 9,239–301) aus dem Jahr 1939. 23 H-SW 2,118. Vgl. Anja Solbach: Seinsverstehen und Mythos, zur Feiertagshymne 85 ff., zu Heideggers Deutung 189 ff. 24 H-SW 2,118. Diese Grundaussage ist für Heidegger entscheidend. Heidegger betont in den Beiträgen zur Philosophie (GA 65), daß Hölderlin, Kierkegaard und Nietzsche »ihre Götter am innigsten erahnt haben«, daß aber Hölderlin »der am weitesten Voraus-dichtende wurde« (GA 65,204, vgl. auch 401). 25 Vgl. hierzu und auch zu Heideggers Anverwandlung von Hölderlins Mythologie, speziell mit dem Hinweis auf den ›anderen Anfang‹, insbesondere Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, 215–235. 26 WD 248, vgl. im folgenden 248–251. Zur Deutung Hölderlins aus dem Seinsgeschick 252: »Die Ortschaft, in die Hölderlin gekommen, ist eine Offenbarkeit des Seins, die selbst in das Geschick des Seins gehört und aus diesem her dem Dichter zugedacht wird.« 27 Dazu vgl. Edith Düsing: Grundprobleme des Nihilismus. Von Jacobis Fichte-Kritik zu Heideggers Nietzsche-Rezeption, bes. 202–226. Zu Nietzsche in Heideggers Entwicklung vgl. Otto Pöggeler: Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger. 28 WD 248; vgl. Hölderlin: Dichterberuf (zweite Fassung; V. 64; H-SW 2,48). 29 Zum kommenden Gott vgl. Peter Trawny: Der kommende und der letzte Gott bei Hölderlin und Heidegger, 199–220 30 Auch der erwähnte Gedanke in Hölderlins Rheinhymne, daß die Götter die Menschen ›brauchen‹, kehrt – ohne Verweis auf Hölderlin – in der ontologisierten Frage bei Heidegger wieder (GA 5,373): »Wenn aber das Sein in seinem Wesen das Wesen des Menschen braucht?«; vgl. auch Beiträge (GA 65),251. 31 Vgl. hierzu mit erhellenden Hinweisen insbesondere auf Heideggers späteres Verhältnis zum christlichen Gott Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Die ›andere Metaphysik‹ und die Frage nach dem Religiösen in unserer geschichtlichen Gegenwart, bes. 181 ff. – Das kritische Verhältnis des früheren Heidegger zum Christentum wird lehrreich und prüfend dargelegt von FriedrichWilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins und christliche Theologie. 32 Vgl. dazu die Hinweise in Fn 18. 146 | klaus düsing
Zu Heideggers Ontologie-Auffassungen vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Metaphysik und Ontologie in Heideggers fundamentalontologischem und ereignisgeschichtlichem Denken. – Zu den Ontologieformen oder -typen vgl. Klaus Düsing: Grundformen der Ontologie bei Kant und bei Hegel; Ders.: Das Seiende und das göttliche Denken. Hegels Auseinandersetzung mit der antiken Ersten Philosophie. 33
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– Norbert Fischer –
Das Gewagtsein des Menschen Die Rilke-Deutung Heideggers als Spur seines Denkens auf dem Weg der Gottesfrage
Für die Abhandlungen der Holzwege, die Martin Heidegger zwischen 1935 und 1946 verfaßt und 1950 publiziert hat (GA 5), gilt verstärkt das Wort, das im Faksimile der Handschrift des Autors der Gesamtausgabe seiner Schriften vorangestellt ist (GA 1,IV): »Wege – nicht Werke«. Mit Sein und Zeit hatte Heidegger gewiß ein ›opus magnum‹ verfaßt, das wie wenige andere der Philosophiegeschichte den Anspruch erheben kann und erhebt, als Werk betrachtet zu werden.1 Gleichwohl ist auch Sein und Zeit aus äußeren und inneren Gründen ein Fragment geblieben, ein Text, der seit der Erstveröffentlichung 1927 nicht einmal die Hälfte des Gesamtplans darbietet. Der dritte Abschnitt des ersten Teils war systematisch wohl als Höhepunkt des Werkes geplant und hätte gemäß dem ›Aufriß der Abhandlung‹ unter dem Titel ›Zeit und Sein‹ stehen sollen.2 Wie sehr das Fehlen dieses Abschnitts Erwartungen unerfüllt läßt, zeigt sich deutlich, wenn man bedenkt, welche neuen Sichtweisen bereits der Übergang vom ersten zum zweiten Abschnitt von Sein und Zeit eröffnet, nämlich im Schritt von der ›vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins‹ im ersten Abschnitt zum zweiten, der unter dem Titel ›Dasein und Zeitlichkeit‹ steht.3 Die Erwartung an den fehlenden Abschnitt, die der Aufstieg vom ersten zum zweiten Abschnitt weckt, erhöht sich noch, wenn man die knappen Hinweise zum Gedanken der ›Ewigkeit‹ gegen Ende des Textes von Sein und Zeit als Anzeige der Aufgabe des dritten Abschnitts versteht. Diese Hinweise gehören nicht eigentlich zu dem an dieser Stelle verhandelten Zusammenhang, sondern treten als erratischer Block auf. Sie scheinen auf die drängenden Fragen zu verweisen, die Thema des dritten Abschnitts hätte sein sollen.4 Heidegger sagt dort (SuZ 427, Fn1): | 149
»Daß der traditionelle Begriff der Ewigkeit in der Bedeutung des ›stehenden Jetzt‹ (nunc stans) aus dem vulgären Zeitverständnis geschöpft und in der Orientierung an der Idee der ›ständigen‹ Vorhandenheit umgrenzt ist, bedarf keiner ausführlichen Erörterung. Wenn die Ewigkeit Gottes sich philosophisch ›konstruieren‹ ließe, dann dürfte sie nur als ursprünglichere und ›unendliche‹ Zeitlichkeit verstanden werden. Ob hierzu die via negationis et eminentiae einen möglichen Weg bieten könnte, bleibe dahingestellt.« Nicht ausgeschlossen ist es, daß die drei Abschnitte des ersten Teils nicht ohne Analogien zum Stufenweg Augustins konzipiert sind, der über ›foris‹ und ›intus‹ auf ein ›intimum‹ weist, oder auch zu den von Kant aus der Schulphilosophie übernommenen Ideen ›Welt‹, ›Seele‹, ›Gott‹.5 In einem Brief an Max Müller vom 4. November 1947 erklärt Heidegger:6 »Was Sie von der ontologischen Differenz sagen, trifft. Darum spreche ich möglichst wenig davon. Die Gefahr, fehl zu denken, ist hier besonders groß. In der ersten Ausarbeitung des III. Abschnittes des 1. Teils von Sein und Zeit, wo die Kehre zu ›Zeit und Sein‹ sich vollzieht, nannte ich das Gemeinte die ›transzendenzhafte Differenz‹ in Bezug auf die transzendentale (ontologische im engeren Sinn) und die transzendente (theologische) Differenz. Der Titel war eine Verlegenheit wie der ganze damalige Versuch, der mit der onto-theologischen Basis der Metaphysik nicht durchkam. Es sind immer nur seltene und langsame Schritte, die in diesem unbegangenen Feld bisweilen glücken und noch öfters mißglücken.« Ohne die Aussagekraft solcher Strukturparallelen zu hoch anzusetzen, ist festzuhalten, daß Sein und Zeit zwar höchste Ziele als ›Werk‹ hatte, aber faktisch (entgegen dem anfänglichen Vorhaben) als unvollendeter ›Weg‹ vorliegt.7 Es waren nicht nur äußere Gründe, die zum Abbruch der Arbeit an Sein und Zeit geführt haben. Daß Sein und Zeit nur ein ›Teil‹ ist, der zudem nicht einmal die ›erste Hälfte‹ des Gesamtplans bietet, wird seit 1953 nicht mehr eigens vermerkt.8 Der Abbruch hatte auch innere Gründe. Verhindert wurde der 150 | norbert fischer
Abschluß von Sein und Zeit durch die neue denkerische Situation, durch die ›Kehre‹, die nicht nur dieses Werk zum Fragment machte, sondern ›Werke‹ grundsätzlich nicht mehr zuließ, so daß spätere Schriften in Form von Wegen des Denkens auftraten, manche sogar in Form von ›Holzwegen‹, »die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören« (vgl. den Vorspruch in Holzwege, unpaginiert). Die Gottesfrage spielt in Heideggers Denkarbeit auch nach Sein und Zeit implizit und explizit noch eine bestimmende Rolle, teils in Ansätzen zu mehr oder minder deutlichen Verneinungen,9 teils in Versuchen, diese Frage in gesteigerter Form positiv auszuarbeiten und zu beantworten.10 Ausgangspunkt seines Weges im Blick auf die Gottesfrage könnte die frühe, teils überschwenglich geäußerte Gottesgewißheit im Sinne der ›via affirmationis‹ gewesen sein, die in Sein und Zeit zuweilen noch hervorschimmert, aber dort nicht mehr zu einer systematischen Entfaltung gebracht werden konnte, da Heidegger inzwischen von der Unzulänglichkeit der ihm bis dahin möglichen Antworten überzeugt war.11 Denn in Sein und Zeit, beim Scheitern seines ersten großen Anlaufs, im Höhepunkt des dritten Abschnitts, die Gottesfrage zur Sprache zu bringen,12 ereignete sich das Unvorhersehbare und zunächst Unerwünschte, das Heidegger als ›Kehre‹ seines Denkens erfahren hat. In ihr änderte sich zwar die Richtung des Denkwegs, nicht aber die Ausrichtung auf das Ziel, das nun nicht mehr in geradem Zugehen erreichbar war. Selbst seine Ansätze zur Kritik und zur ›Überwindung der Metaphysik‹ kämpfen gewiß nicht gegen die in der Metaphysik verhandelte Sache des Denkens, sondern gegen verfehlte Zugangsweisen.13 Auch nach der ›Kehre‹ blieb die Gottesfrage ein drängendes Thema für Heidegger, jedoch so, daß er sogar Antwortversuche großer Denker (sei es Platons oder Kants) mit teils scharfer Kritik bedachte und in ein Licht tauchte, das den kritisierten Texten nicht immer gerecht wurde.14 Diese Phase von Heideggers Denken mag weithin als ›via negationis‹ zu verstehen sein. Nachdem Heidegger den Weg der Bestreitung betreten hatte, hat er vermutlich bald, aber unter hartnäckiger Beibehaltung des kritischen Potentials der Verneinung, Wege gesucht, um in gesteigerter Weise zur Bejahung zurückkehren und im Sinne der ›via eminentiae‹ von Gott sprechen zu können. Wie Kant hinterfragt er Zugangsweisen, die der Göttlichkeit Gottes abträglich sind, die – Das Gewagtsein des Menschen | 151
wie Kant scharf moniert hatte (KrV B 661) – den »lebendigen«, den ›göttlichen Gott‹ verfehlen. Kants Zugang zum Gottdenken über die Moraltheologie ist ihm verschlossen geblieben, obwohl ihn die Analysen des ›Gewissensrufs‹ in die Nähe des Themas gebracht hatten (SuZ §§ 54–60). Danach suchte er ›Wink und Weisung‹ für das Gottdenken, vor allem aus nicht ›metaphysisch‹ gedachten Texten, auch aus ›vormetaphysischer‹ Zeit, denen er prophetischen Rang zusprach.15 Die Ausrichtung an Texten, die sich nicht als Machwerk denunzieren lassen, sofern deren Anspruch menschliche Einsichten übersteigt, die auf höhere Autoritäten weisen, ist nicht ungeläufig, wie schon die Anerkennung von Überlieferungen zeigt, auf die Platon sich beruft.16 Und Augustinus faßt seinen Weg gestützter Suche in das Leitwort (conf. 11,5): »audiam et intelligam«. Heideggers Versuche treten in neuer Eigenart unter der Devise von ›Dichten und Denken‹ auf. In Der Spruch des Anaximander erklärt er (GA 5,328): »Der Spruch des Denkens läßt sich nur in der Zwiesprache des Denkens mit seinem Gesprochenen übersetzen. Das Denken jedoch ist Dichten und zwar nicht nur eine Art der Dichtung im Sinne der Poesie und des Gesanges. Das Denken des Seins ist die ursprüngliche Weise des Dichtens. In ihm kommt allem zuvor erst die Sprache zur Sprache, d. h. in ihr Wesen. Das Denken sagt das Diktat der Wahrheit des Seins. Das Denken ist das ursprüngliche dictare.« Für Heidegger folgt aus solchen Einsichten die neue Auffassung des Denkens als des Dichtens »der Wahrheit des Seins in der geschichtlichen Zwiesprache der Denkenden« (GA 5,372).17 ›Denken‹ bewirkt nach Heidegger nicht ›Synthesis des Mannigfaltigen‹, die dem Orientierungsstreben oder gar dem ›Willen zur Macht‹ dient, sondern führt Denkende vielmehr ins ›Offene‹. In Der Ursprung des Kunstwerks heißt es (GA 5,59): »Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird. Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung. Das Wesen der Kunst, worin das Kunstwerk und der Künstler zumal beruhen, ist das Sich-ins-Werk-setzen 152 | norbert fischer
der Wahrheit. Aus dem dichtenden Wesen der Kunst geschieht es, daß sie inmitten des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles anders ist als sonst.« Daß die Gottesfrage zum Thema von Heideggers Denken nach der Kehre gehört, könnte bereits seine Kant-Deutung zeigen, die er in unmittelbarem Anschluß an Sein und Zeit publiziert hat.18 Er selbst war jedoch nach Sein und Zeit am Beginn der ›Kehre‹, die zwar eine denkerische Krise war, fatalerweise aber mit dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur zusammenfiel,19 in den Sog von Nietzsches Denken geraten, das er als so ernste Herausforderung auffaßte, daß er vorerst dessen Tiefen durchschreiten mußte, bevor er auch nur Erwägungen anstellen konnte, um jenseits der Gottesverneinung Nietzsches neue Ansätze zu einer Gottesbejahung zu suchen. Sofern jede Verneinung auch dann von der Bejahung lebt, wenn die Kraft geschwunden ist, bejahend zu sprechen, könnte Heidegger schon auf dem Weg von der Bejahung zur Verneinung eine künftige Überbietung der bejahenden und verneinenden Antworten erhofft haben.20 Im Rahmen der Holzwege folgt die Rilke-Auslegung auf die Abhandlung mit dem Titel Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹, in der Heidegger sich der Aufgabe stellt, »Nietzsches Denken als die Vollendung der abendländischen Metaphysik aus der Geschichte des Seins zu begreifen.«21 Seine kritische Deutung der abendländischen Philosophiegeschichte von Platon bis zu Nietzsche oder gar der »Geschichte des Seins« ist bedenkenswert, aber nicht ohne Bedenken vertretbar.22 Im Rahmen einer Einführung in Wozu Dichter? wäre eine pauschale Zustimmung zu Heideggers übergreifenden Deutungen der Geschichte ebenso wie deren pauschale Zurückweisung verfehlt. Dennoch werden gelegentliche Kommentare zu dieser Frage unvermeidlich sein.23 Die folgende Einführung beginnt mit Hinweisen zu Heideggers Diagnose der gegenwärtigen Weltzeit, die an Einsichten des vorausgehenden Textes Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ anknüpft. Heidegger antwortet auf die Frage Wozu Dichter? mit der Suche nach einem Gottdenken, in dem »das Seiende in seinem Sein« nicht mehr metaphysisch als Wille zur Macht gedacht wird.24 In der Not, zu der die Unumgänglichkeit und die Verfehltheit metaphysischen Fragens beDas Gewagtsein des Menschen | 153
züglich seiner höchsten Ziele führt,25 wendet er sich anderen Quellen zu, um Wegweisung zu erlangen. Obwohl ›Ethik‹ und ›Moral‹ nicht explizit als Wege in Betracht gezogen werden, leben ›Wink‹ und ›Weisung‹, die Heidegger auch in Rilkes Dichtung sucht, doch von Anstößen, die implizit eine Ethik voraussetzen, die mit Überlegungen Kants und auch mit Gedanken Meister Eckharts verbunden werden könnten. Beide fordern bekanntlich strengste Reinheit der Gesinnung.26
1. Zu Heideggers Diagnose der gegenwärtigen Weltzeit Die Erläuterung von Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ mündet in die Diagnose und Kritik einer »Metaphysik des Willens zur Macht«, die seit Platon die abendländische Philosophiegeschichte bestimmt habe, aber erst im Denken Nietzsches ausdrücklich zum Vorschein gekommen sei (NWGit 239). Gegen dessen These, schon die »Metaphysik des Willens zur Macht« sei die »Überwindung des Nihilismus«, legt Heidegger »das Denken, das alles nach Werten denkt« (wozu also auch das Denken Nietzsches gehört), allgemein als »Nihilismus« aus, weil die »Auslegung der übersinnlichen Welt, die Auslegung Gottes als der obersten Werte […] nicht aus dem Sein selbst gedacht« sei. Um den tiefsten Grund des Atheismus zu verstehen, fügt er in gallig paradoxer Redeweise hinzu (NWGit 239 f.): »Der letzte Schlag gegen Gott und gegen die übersinnliche Welt besteht darin, daß Gott, das Seiende des Seienden, zum höchsten Wert herabgewürdigt wird. Nicht daß Gott für unerkennbar gehalten, nicht daß Gottes Existenz als unbeweisbar erwiesen wird, ist der härteste Schlag gegen Gott, sondern daß der für wirklich gehaltene Gott zum obersten Wert erhoben wird.« Im Hintergrund dieser Kritik an Nietzsches Thesen zum Nihilismus steht nicht nur Kants Kritik der dogmatischen Metaphysik, sondern auch dessen Grundlegung der praktischen Philosophie. Schon Kant hatte die Kritik der Gottesbeweise und die Erkenntnis der Unerkennbarkeit Gottes nicht als Nachteil für den Gottesglauben gesehen, sondern als Bedingung seiner Möglichkeit.27 Was bei Nietzsche ›Wert‹ heißt, kann auf das bezogen werden, was Kant als ›Mittel‹ 154 | norbert fischer
bezeichnet, im Unterschied zum Sein von Personen, die Kant als »Zwecke an sich selbst« gedacht hat.28 Deren Sein wäre unableitbar und unverfügbar, also kein Gegenstand menschlicher Wertsetzung. Wenn die ›praktische Metaphysik‹ Kants in ihrem Ansatz dem Denken in ›Werten‹ entzogen wäre, könnte das auf eine erstaunliche Nähe zwischen Kants und Heideggers Motiven weisen.29 Immerhin tritt am Ende von Wozu Dichter? ein Motiv in den Vordergrund, das mit der praktischen Philosophie Kants korrespondiert und die angedeuteten Vermutungen stützt.30 Heidegger beginnt die Abhandlung mit Hinweisen auf »das Weltalter, dem wir selbst noch angehören« (WD 248). Seine Erläuterung des Weltalters schließt an Hölderlin an (WD 248–252). Die Wende bezeichnet der »Opfertod Christi«, mit dem in Hölderlins geschichtlicher Erfahrung »das Ende des Göttertages« angebrochen sei (WD 248). Nach dem Entschwinden der »›einigen drei‹, Herakles, Dionysos und Christus«,31 breite die »Weltnacht […] ihre Finsternis aus«, sei das »Weltalter durch das Wegbleiben Gottes, durch den ›Fehl Gottes‹ bestimmt« (WD 248). Die ›Weltnacht‹ wird in zwiespältiger Bedeutung erfaßt. Einerseits steigere sich mit der zunehmenden Verfinsterung das »Abwesen des Grundes« so sehr, daß ungewiß werde, »ob dieser dürftigen Zeit überhaupt noch eine Wende aufbehalten ist«, weil »selbst die Durft des Dürftigen ins Finstere gerät« und »nur noch als der Bedarf erscheint, der gedeckt sein will« (WD 248 f.).32 Heidegger spricht mit Hölderlin auch von »Spuren der entflohenen Götter«, die »oft unscheinbar« seien »und immer die Hinterlassenschaft einer kaum geahnten Weisung« (WD 250 f.). Schon zu Beginn der Studie antwortet Heidegger auf die ihr gestellte Frage und sagt (WD 250): »Dichter sind die Sterblichen, die mit Ernst den Weingott singend, die Spur der entflohenen Götter spüren, auf deren Spur bleiben und so den verwandten Sterblichen den Weg spuren zur Wende«. Auftrag der Dichter sei die Suche nach der Spur der ›Gottheit‹, die er ›das Heilige‹ nennt und als ›Weisung‹ denkt.33 Weil es die Bestimmung der Dichter sei, »singend auf die Spur der entflohenen Götter [zu] achten«, sage »der Dichter zur Zeit der Weltnacht das Heilige« (WD 250 f.). In gewiß beabsichtigtem Anklang an die Epiphanie-Erzählung des Neuen Testaments heißt es: »Deshalb ist die Weltnacht in der Sprache Hölderlins die heilige Nacht« (WD 251). Das Gewagtsein des Menschen | 155
Im Sinne der negativ konnotierten Bedeutung der ›Weltnacht‹ werde das Sein so zum ›Wert‹ herabgewürdigt, daß nicht nur »das Heilige […] als die Spur zur Gottheit« verlorengegangen sei, »sondern sogar die Spuren zu dieser verlorenen Spur […] beinahe ausgelöscht« seien (WD 251). Als gleichsam paradiesisches Ideal, von dem sich der Weltzustand immer weiter entfernt habe, nennt Heidegger »das wesenhafte Zueinander von Erde und Himmel als der Stätte des Brautfestes für Menschen und Götter« (WD 250), einen Zustand, der prälapsarisch zu nennen wäre.34 Ungeachtet der Frage, ob die geschichtliche Einordnung des Weltzustandes angebracht ist, die auf einen vergangenen ›Göttertag‹ zurückweist und ebenso auf einen kommenden vorausweist, kann der gegenwärtige Weltzustand so charakterisiert werden, daß die Menschen in ihm des ›Winks‹ und der ›Weisung‹ bedürfen, da sie nach Augustinus im Zustand der ›temptatio‹ sind, oder, wie Kant erklärt, in der Situation des ›Streits‹, der jedoch ihr Selbstsein allererst ermöglicht.35 Demnach müßte der Zustand der Welt notwendig ein Zustand der ›Nacht‹ sein, damit die ›Welt‹ als der Ort des Seinkönnens des Daseins und seines eigentlichen Ganzseinkönnens gedacht werden kann.36 Ohne diese ›Vergessenheit‹, die in unserem faktischen Nichtwissen zutage tritt und die nach Heidegger »das verborgene Wesen der Dürftigkeit des Dürftigen der Zeit« ist, durchformte die Wahrheit schon immer das Ganze und wäre in allem so gegenwärtig, daß der Sinn des Seins schon offenbar wäre und die Zeit als Zeit gegenüber diesem Vollkommenen nur eine Seinsminderung zur Folge wäre und keinen positiven Sinn haben könnte.37 Demgegenüber gilt, was Rilke in folgenden Versen sagt (SO I 12): »Ohne unsern wahren Platz zu kennen,/ handeln wir aus wirklichem Bezug./ Die Antennen fühlen die Antennen,/ und die leere Ferne trug …«. Heidegger redet in Wozu Dichter?, als habe es den ›Göttertag‹ in ferner Vergangenheit wirklich gegeben, »die Spuren des Heiligen« inzwischen aber »unkenntlich geworden« seien (WD 253). Indem der gegenwärtige Weltzustand als ›Weltnacht‹ begegnet, die von Dürftigkeit bestimmt ist und Klagen im Blick auf das Fehlen Gottes hervorruft, bleibt die Verneinung der Dürftigkeit und der Leiden in der Tat auf den Jubel und auf die Sehnsucht nach wahrem Leben bezogen. Die Verneinung steht auf dem Boden der Bejahung, wie ein Sonett an Orpheus sagt (I 8): 156 | norbert fischer
Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn, die Nymphe des geweinten Quells, wachend über unserm Niederschlage, daß er klar sei an demselben Fels, der die Tore trägt und die Altäre. Sieh, um ihre stillen Schultern früht das Gefühl, daß sie die jüngste wäre unter den Geschwistern im Gemüt. Jubel weiß und Sehnsucht ist geständig, nur die Klage lernt noch; mädchenhändig zählt sie nächtelang das alte Schlimme. Aber plötzlich, schräg und ungeübt, hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt. Jede Rede im Modus der Defizienz lebt von einer unvordenklichen Beziehung zum Positiven. Wo und wie der Ort der Begegnung mit dem Positiven zu denken ist, bleibt aber unergründbar.38 Ob das in der Klage vorausgesetzte Positive sich in einer realen Geschichte ereignet haben muß, ist keineswegs entschieden. Zwar liegt auf der Hand (WD 253): »Dürftig ist die Zeit, weil ihr die Unverborgenheit des Wesens von Schmerz, Tod und Liebe fehlt.« Ob die ersehnte Unverborgenheit einst in der Geschichte – als Göttertag – wirklich war, bleibt ungewiß, wenngleich das Beklagen des gegenwärtigen Zustands voraussetzt, daß der Bezug zu den vollendeten Wirklichkeiten von Leiden, Liebe und Tod doch nicht ganz abgestorben ist.39 Rilke sagt: »Nicht sind die Leiden erkannt,/ nicht ist die Liebe gelernt, und was im Tod uns entfernt,/ ist nicht entschleiert«. Das Sonett an Orpheus (I 19), aus dem die genannten Verse stammen, schließt infolgedessen mit dem (allerdings unbestimmten) Hinweis: »Einzig das Lied überm Land/ heiligt und feiert.« In der faktischen Situation der Unwissenheit und Bedrängnis sucht Heidegger nun »Wink und Weisung« in der Dichtung Rilkes, in der Annahme, Rilke sei »ein Dichter in dürftiger Zeit«.
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2. Zur Auslegung der menschlichen Situation im Blick auf die Gottesfrage Zum Rang von Rilkes Dichtung spricht Heidegger unausgewogen.40 Denn einerseits erklärt er, sie bleibe »in der seinsgeschichtlichen Bahn nach Rang und Standort hinter Hölderlin« zurück (WD 254) und sei zudem »von der abgemilderten Metaphysik Nietzsches überschattet« (WD 264). Andererseits gesteht er ein, daß wir zur »Auslegung der Elegien und Sonette […] nicht vorbereitet« seien, ja sogar »nicht nur nicht vorbereitet, sondern auch nicht berechtigt« (WD 254). Überdies betont er das »Nichtvorhergesehene« der ›improvisierten Verse‹ Rilkes und legt das Gedicht vorsichtig »als eine Einübung des dichterischen Sichbesinnens« aus (WD 256). Er tut das jedoch vor dem Hintergrund der These (WD 256): »Das Sein des Seienden ist der Wille.« Diese These entwickelt er von Leibniz und Nietzsche her im Blick auf deren Begriffe der ›Natur‹ und des ›Lebens‹ und verknüpft sie mit Rilkes Gebrauch der Worte ›Urgrund‹ und ›Sein‹. Die Leichtigkeit dieser Verknüpfung könnte mit einer Fehlschreibung der Heidegger vorliegenden und von ihm benutzten Ausgabe aus dem Jahr 1934 zu tun haben, in der im Anschluß an den Satz, daß »wir dem Urgrund unseres Seins/ nicht weiter lieb« seien, steht: »es wagt uns.«41 Im besseren Text heutiger Ausgaben heißt es: »er wagt uns«, womit als ursprünglich Wagender der »Urgrund unseres Seins« angesprochen ist,42 also eine Instanz, die nicht im sprachlichen Neutrum vergegenwärtigt ist und auch als personale Wirklichkeit erwogen werden kann, die mit einer ›Liebe‹ zu tun haben könnte, die in weitester Entfernung zum ›Willen zur Macht‹ steht. Der Text des von Heidegger zugrundegelegten Gedichtes lautet nach den heutigen, philologisch korrekten Ausgaben (z. B. KA 2,324): Wie die Natur die Wesen überläßt dem Wagnis ihrer dumpfen Lust und keins besonders schützt in Scholle und Geäst; so sind auch wir dem Urgrund unseres Seins nicht weiter lieb; er wagt uns. Nur daß wir, mehr noch als Pflanze oder Tier, 158 | norbert fischer
mit diesem Wagnis gehn; es wollen; manchmal auch wagender sind (und nicht aus Eigennutz) als selbst das Leben ist –, um einen Hauch wagender…. Dies schafft uns, außerhalb von Schutz, ein Sichersein, dort wo die Schwerkraft wirkt der reinen Kräfte; was uns schließlich birgt ist unser Schutzlossein und daß wir’s so in’s Offne wandten, da wir’s drohen sahen, um es, im weitsten Umkreis, irgendwo, wo das Gesetz uns anrührt, zu bejahen. Rilke bezieht die menschliche Situation nicht auf unterscheidbare Weltalter, sondern auf seine eigene Lage, die jedoch von Motiven bestimmt ist, an die Heidegger anknüpft. In den Sonetten an Orpheus heißt es: »Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen,/ wo wir meinten, erst begrüßt zu sein.«43 Heidegger folgt Rilkes Gedanken, indem er sagt (WD 257 f.): »Das Seiende ist, indem es mit dem Wagnis, worein es losgelassen, mitgeht. Das Sein des Seienden ist das Wagnis.« Und er betont (WD 258): »Bliebe das Losgeworfene außer Gefahr, dann wäre es nicht gewagt.« Weil die Natur die Wesen »dem Wagnis ihrer dumpfen Lust« überläßt und »keins besonders schützt«, sind wir so, wie wir sind, – »sind auch wir dem Urgrund unseres Seins nicht weiter lieb«.44 Die »Nichtgeschützten« sind aber als »die Gewagten nicht preisgegeben« (WD 259). Wären »sie dies, dann wären sie gleichwenig gewagt, wie wenn sie geschützt wären.« Also habe der Urgrund uns »in den Gang des Spieles bringen«, »in die Gefahr loslassen« wollen (ebd.). Indem wir vom Urgrund unseres Seins in die Gefahr losgelassen sind, sind wir erst eigentlich das, was wir sind und gemäß unserem Ursprung zu sein haben. Derart ist zu sagen (WD 259): »Das Ungeschütztsein des Gewagten schließt ein Sichersein in seinem Grunde nicht nur nicht aus, sondern notwendig ein. Das Gewagte geht mit dem Wagnis mit.« Heidegger findet in diesem Zusammenhang »eindeutig die Sprache der Metaphysik«, indem er erklärt, daß bei Rilke »das Gewagte jeweils in den Zug zur Mitte bezogen« sei (WD 261). Kritisch vermerkt er, daß Rilke den Bezug von der ›Schwerkraft‹ her denke, die in eine ›Mitte‹ ziehe (WD 260 f.), daß er den Menschen »nicht unmittelbar im Zug und Wind des ganzen Bezuges« wohnen Das Gewagtsein des Menschen | 159
sehe, daß Rilkes Dichtung den ›Gedanken des Offenen‹ verfehle und »von der abgemilderten Metaphysik Nietzsches überschattet« bleibe (WD 264). Dennoch geht seine Deutung im weiteren aber andere Wege.45 Obwohl Heidegger in Rilkes Dichtung zunächst eine Nähe zur Willensmetaphysik erblickt, die im Denken Nietzsches hervorgetreten sei, und ihr das von ihm gesuchte Sehen des ›Offenen‹ abspricht, versucht er, sich dem Verständnis des Offenen mit Hilfe von Rilke-Worten zu nähern. Zunächst aber spitzt er die Charakterisierung der ›Willensmetaphysik‹ zu. In Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ hatte Heidegger zum ›Wollen‹ allgemein erklärt: »Wollen ist Herrseinwollen.«46 Die ›Metaphysik des Willens zur Macht‹ deutet er im Ausgang von Nietzsches Auslegung des Werts als »Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens«.47 Diese Auslegung des Seins als Wert hat nach Heidegger die »Beständigung der Beständigkeit des Bestandes« zum Ziel.48 An diese Auslegung der Willensmetaphysik knüpft Heidegger in Wozu Dichter? an und erklärt, in ihr stelle der »Mensch […] die Welt auf sich zu und die Natur zu sich her« (WD 265); das »hier genannte Wollen« sei »das Her-stellen und zwar im Sinne des vorsätzlichen Sichdurchsetzens der Vergegenständlichung« (WD 266); der »neuzeitliche Mensch« stelle sich »als der sich durchsetzende Hersteller« auf und richte »diesen Aufstand zur unbedingten Herrschaft« ein (WD 266). Als »notwendige Folgen des Wesens der Technik« werden die »moderne Wissenschaft und der totale Staat« gedacht (WD 267).49 Zunächst nimmt Heidegger die Auslegung des Seins als ›Wert‹ im Sinne der Willensmetaphysik zwar als Moment der Aussage von Rilkes Gedicht; danach zitiert er aber doch auch Stellen aus Briefen und aus einem Gedicht Rilkes (Die Könige der Welt sind alt), die geeignet sind, die Sehnsucht nach einer Verabschiedung einer solchen Willensmetaphysik zu befördern.50 Den Ansatz zu einem Wendepunkt findet Heidegger in der »Gefahr, daß der Mensch sein Selbst an das unbedingte Herstellen verliert«, da »der Mensch durch sein Sichwollen in einem wesenhaften Sinn bedroht, d. h. schutzbedürftig« werde (WD 270). Im Ton einer zur Umkehr, zur meta2noia, mahnenden Predigt, die das gottgegebene Selbst zu bewahren anweist, sagt Heidegger (WD 271): »Indem der Mensch 160 | norbert fischer
die Welt technisch als Gegenstand aufbaut, verbaut er sich willentlich und vollständig den ohnehin schon gesperrten Weg ins Offene. Der sich durchsetzende Mensch ist, ob er es als einzelner weiß oder will oder nicht, der Funktionär der Technik.« Er warnt damit vor einer Verharmlosung unserer Situation durch die Meinung, der Mensch könne »das Menschsein für alle erträglich und im ganzen glücklich machen« (ebd.). Dagegen spricht er warnend (WD 272): »Was den Menschen in seinem Wesen bedroht, ist die Meinung, dieses Durchsetzen des Herstellens lasse sich ohne Gefahr wagen, wenn nur daneben noch andere Interessen, vielleicht solche eines Glaubens, in Geltung bleiben.« Ein Glaube, der ›Interessen‹ verfolgt, weist in eine Richtung, die Rilke nicht im Sinne hat, wenn er von unserem Wagnis spricht, in dem wir »wagender sind […], als selbst das Leben ist«, da wir eben »nicht aus Eigennutz« wagender sind, wenn auch nur »um einen Hauch wagender«. Was mit dem Wort ›Hauch‹ gemeint ist, sagt ein Sonett an Orpheus zunächst negativ, nämlich: »nicht Begehr,/ nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes« (SO I 3). Positiv ist mit ihm der »Gesang« gemeint, den nur ›der Gott vermag‹, der Gesang, der ›Dasein‹ ist, das nicht ›verrinnt‹, etwas uns nicht Faßbares, aber dennoch: »Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.« Biblisch vergegenwärtigt sich in diesem Hauch der Geist Gottes. In solchem Hauch, der »nicht Begehr« ist, sucht Heidegger »das Heilige als die Spur der Gottheit«, sucht er »die Spur zum Heiligen«, sucht er »das Heile« (WD 272). Erläuternd fügt er hinzu (WD 274): »Dann wäre Wollen und Wollen nicht sogleich dasselbe.« Mit Rilke sucht er ein Wollen, das »nicht aus Eigennutz um der eigenen Person willen« wagender ist und will (WD 274): »Die Wagenderen […] versuchen weder einen Vorteil zu erlangen, noch ihrer Eigensucht zu frönen.« Nicht das Wollen überhaupt versperrt den Weg zum Heiligen und Heilen, zur Spur Gottes, sondern nur ein Wollen, das der Metaphysik des Willens zur Macht entspricht und in dem »der Mensch sich in das vorsätzliche Sichdurchsetzen festsetzt und sich durch die unbedingte Vergegenständlichung in dem Abschied gegen das Offene einrichtet« (WD 274). Im Sichabsetzen vom Sichdurchsetzen des Menschen findet Heidegger die ›via negationis‹, in der Gott nur in der Verneinung vergegenwärtigt werden kann. Von hier läßt er sich zur ›via eminentiae‹ leiten, das er als das »wagenDas Gewagtsein des Menschen | 161
dere Wagen« denkt, das »wollender als jedes Sichdurchsetzen« ist (WD 275).
3. Zu Heideggers Ausblick auf Rilkes neue Ansätze zum Gottdenken Nach Heidegger führt der Weg, der auf die Spur zum Heilen weist, notwendig über die Inversion der Aktivität, in der sich das Ich nicht durchzusetzen versucht, sondern sich dem Offenen in einem Empfangen öffnet. Denn das »wagendere Wagen des willigen Wollens fertigt nichts an«. Nach Heidegger kann nur das Wagen des Ich, »das wagender wird, insofern es willig ist, […] empfangend vollbringen« (WD 275). Denn das »wagendere Wagen stellt keinen Schutz her«, »schafft uns aber« dennoch »außerhalb von Schutz,/ ein Sichersein« (WD 275). Der Sorge können wir nicht durch unser Wollen enthoben sein, sondern nur insofern, als »das Offene selbst […] sich uns in einer Weise zugekehrt« hat, »daß wir ihm das Schutzlossein zuwenden können, ›um es, im weitsten Umkreis irgendwo,/ wo das Gesetz uns anrührt, zu bejahen‹.« Erst in einer solchen Inversion der Aktivität, in der wir nicht mehr »die Treibenden« sind, in der wir – wie Rilke sagt – »endlich offen und Empfänger« geworden sind,51 kann sich der Raum öffnen, der es uns ermöglicht, zu sehen, daß auch »die Seiten des Lebens, die uns abgekehrt sind […], sofern sie sind, positiv zu nehmen« sind (WD 279). Als diese uns abgekehrte Seite, die »als die andere Seite zum Ganzen des Seienden« gehört, sieht Heidegger bei Rilke den »Tod und das Reich der Toten« hervortreten (WD 279). Gegen das »Sichdurchsetzen der technischen Vergegenständlichung«, das dem zum Ganzen gehörenden Tod nur durch »die ständige Negation des Todes« begegne, sei die »Wendung ins Offene […] der Verzicht darauf, das, was ist, negativ zu lesen«; mit einem Brief Rilkes vom 6. Januar 1923 gesprochen, gelte es also, »›das Wort ›Tod‹ ohne Negation zu lesen‹« (WD 279).52 Der Tod ist im Blick auf die Willenshaltung der ›Metaphysik des Willens zur Macht‹ eine ausgezeichnete Wirklichkeit, die gleichsam etwas Rettendes ist, was der »Vergegenständlichung der Welt durch uns selbst uns versperrt und entzogen bleibt« und uns dennoch »in das Ganze des schon 162 | norbert fischer
Gesetzten« versammelt (WD 280). Angesichts des Todes gibt es nämlich keine Möglichkeit des Sichdurchsetzens mehr: angesichts seiner kann es ein ›Sichersein‹ nur noch geben durch »jenes Wagen, das manchmal wagender ist, als selbst das Leben ist« (WD 281).53 Der Hinweis auf die Wirklichkeit des Todes, die »ohne Negation zu lesen« sei, ist der ›Wink‹, der »in das eigentliche Innere des Herzinnenraumes« führt (WD 284). Er folgt im Anschluß an die Passage aus einem Brief Rilkes vom 13. November 1925 aus Muzot (WD 284 f.): » . . . unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns ›unsichtbar‹ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’or de l’Invisible.‹ (Wir heimsen unablässig den Honig des Sichtbaren ein, um ihn aufzuheben in dem großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren.)« Dieser ›Wink‹, der noch unbestimmt und in kindlich märchenhaften Bildern vergegenwärtigt wird, verlangt nach einer ›Weisung‹, die wirklich auf die Spur des Gesuchten zu führen vermag. Heidegger fragt (WD 285): »Was ist es, was die Wagenderen wagen?« und erklärt zunächst dazu: »Das Gedicht verschweigt, wie es scheint, die Antwort.« Er meint deswegen, dem Gedicht zu Hilfe kommen zu müssen und nimmt dafür »außerdem noch andere Gedichte dafür zu Hilfe« (ebd.). Womöglich ist aber das Verschweigen einer handhabbaren Antwort deren integratives Moment, sofern solches Verschweigen im Blick auf das Gesuchte zu dessen Geheimnischarakter gehört. Um einer Antwort näherzukommen, präzisiert Heidegger zunächst die Frage und sagt (WD 285): »Wir fragen: Was könnte noch gewagt werden, was wagender wäre als selbst das Leben, d. h. das Wagnis selber, d. h. wagender als das Sein des Seienden?« Diese Frage konkretisiert er weiter im Ausgang von Einsichten, die auf Sein und Zeit weisen (WD 286): »Wodurch kann, wenn das Sein das Einzigartige des Seienden ist, das Sein noch übertroffen werden? Nur durch sich selbst, nur durch sein Eigenes und zwar in der Weise, daß es in sein Eigenes eigens einkehrt.«54 Das Gewagtsein des Menschen | 163
Fraglich bleibt indessen, was die Wagenderen wagen, was das Eigene ist, in das die Wagenderen einkehren. Heidegger benennt das Eigene der Wagenderen zunächst unbestimmt und allgemein, indem er sagt (WD 286): »Sie wagen den Bezirk des Seins. Sie wagen die Sprache.« Daraus folgt zwar, daß der Mensch von Natur »als der Sichwollende schon der Sagende ist«. Wie »die Wagenderen es mit der Sprache wagen« müssen, ist jedoch noch nicht klar geworden, sofern das Ziel »die rettende Einigung« ist (WD 287). Um diesem Ziel näher zu kommen, weist Heidegger auf die Gestalt der Engel, wie Rilke sie in den Duineser Elegien vergegenwärtigt hat. Zur Klärung zitiert er wieder aus einem Brief Rilkes (WD 288): »Der Engel der Elegien ist dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen erscheint… Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen.« Ausgangspunkt bleibt, daß der Mensch »als der vorsätzlich Sichdurchsetzende in das Schutzlossein gewagt« ist (WD 289). So gesehen sei er derjenige, der »überall mit den Dingen und den Menschen als dem Gegenständigen« rechne, wobei ihm das »Verrechnete […] zur Ware« werde. Er selbst aber werde als der »ständige Wechsler und Vermittler« schließlich »›der Kaufmann‹«, der nicht mehr »das Eigengewicht der Dinge« kennt und – mit einem Wort Kants gesprochen – ebensowenig dieses Eigene seines Seins wie das Sein der Anderen achtet (WD 289).55 Weil der Übergang »aus dem Bereich des rechnenden Wollens an den Engel« entscheidend ist, fragt Heidegger, wer denn »die Wage vom Kaufmann […] an den Engel« übergehen läßt (290). Seine erste Antwort ist, daß die »Wagenderen es mit dem Sein selbst wagen« und insofern »die Sagenden« sind, sofern sich ein solchen Sagen »eigens in die Sage einläßt« und sofern also »nicht das Gewollte« im Blick ist (WD 291). Diese Antwort ist gleichsam eine offenbarende Verkündigung, der Heidegger Glauben schenkt, so daß er sagen kann (WD 291): »Das zu Sagende dürfte dann jenes sein, was dem Wesen nach in den Bezirk der Sprache gehört. Das ist, metaphysisch gedacht, 164 | norbert fischer
das Seiende im Ganzen. Dessen Ganzheit ist das Unversehrte des reinen Bezuges, das Heile des Offenen, insofern es sich dem Menschen einräumt.« Mit dem »Übergehen der Wage vom Kaufmann an den Engel« sind biblische, theologische und ethische Konnotationen verknüpft, die Heidegger hervortreten läßt, indem er vom ›Tempel‹ spricht und den Kaufmann den ›Wechsler‹ nennt, womit er – obwohl er die beiden Redeweisen nicht aufeinander bezieht – auch auf Jesu Vertreibung der Händler aus dem Tempel anspielt.56 Diese Grundhaltung der neutestamentlichen Verkündigung hat Augustinus aufgenommen, indem er das ›gratis colere‹ und das ›gratis diligere‹ als das Ideal der göttlichen Liebe versteht.57 Auch Meister Eckhart hatte auf diesen Weg gewiesen, indem er das Tun der ›koufliute‹ bedachte.58 Und schließlich kann die Kaufmannsethik als natürlich bedingte Verhaltenslehre auf Grund kluger Maximen, die hypothetische Imperative hervorbringen, im Sinne Kants begriffen werden. Was Kant mit der ›reinen Moral‹ im Sinne hatte, liegt womöglich nicht einfach außerhalb von Heideggers Gesichtsfeld, ist aber noch zu weit entfernt, als daß Heidegger zu dieser Moral so sprechen könnte, wie es aus seinem Fragehorizont heraus sachgemäß wäre. Den gesuchten ›Wink‹ erlangt Heidegger durch den Hinweis auf das ›Sein selbst‹, das nicht vom Vorstellen und Sichdurchsetzen des Menschen bestimmt ist, das also das Sein sein läßt. Die ›Weisung‹ gewinnt er, indem er vom neuzeitlichen Menschen fordert, daß er aufhört, ›der Wollende‹ zu sein. Als Wort für den Ursprung von »Wink und Weisung« steht »der Engel«. Rilke hatte in der ersten Elegie gesagt: »Ein jeder Engel ist schrecklich.«59 So versteht sich Heideggers Wort am Ende der Abhandlung (WD 294): »Unheil als Unheil spurt uns das Heile. Heiles erwinkt rufend das Heilige. Heiliges bindet das Göttliche. Göttliches nähert den Gott.« Mehr als ein Nähern zu erwarten, wäre vermessen und führte gar nicht zu dem erstrebten Ziel. Denn die Gegenwart Gottes in der Welt verdürbe die Möglichkeit des menschlichen Selbstseins. Zu sagen, wie ein ›Reich Gottes‹ gedacht werden könnte, ein ›regnum tecum perpetuum‹,60 ist nicht die Aufgabe von Menschen und erst recht nicht die Aufgabe philosophierender Menschen. Es mag das Höchste der unmittelbaren Gegenwart des Göttlichen in unserer Zeit sein, wenn die Das Gewagtsein des Menschen | 165
»Wagenderen […] die Sänger des Heilen« sind – als »›Dichter in dürftiger Zeit‹« (WD 294).
Anmerkungen
Diesen Anspruch erhebt der Autor implizit im ›Vorwort‹ von SuZ. Dazu vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von ›Sein und Zeit‹. Band 1, hier bes. 1–19. 2 Zum ›Aufriß‹ vgl. SuZ 39 f.; die Umkehrung der Titelwörter des Gesamtwerks deutet auf den Rang des Abschnitts. Die spätere Abhandlung von 1962 unter dem Titel Zeit und Sein (vgl. GA 14, 3–30) ist nicht als Erfüllung des Plans von SuZ gedacht. Das Fehlen dieses Abschnitts in SuZ markiert das Fehlen der Gottesfrage. 3 Es ist der Schritt von der Phänomenologie des Daseins, wie es ›zunächst und zumeist‹ und ›immer schon‹ ist (z. B. SuZ 16), zur Untersuchung der ›Zeitlichkeit‹ als des ›Sinns des Seins des Daseins‹ (z. B. SuZ 325). 4 Vgl. dazu auch den Vortrag, den Heidegger am 26.10.1930 in der Erzabtei St. Martin in Beuron gehalten hat: Des hl. Augustinus Betrachtung über die Zeit. Confessiones lib. XI. 5 Augustinus charakterisiert seinen Weg als einen ›Aufstieg nach innen‹, als »introrsum ascendere« (trin. 12,25); vgl. dazu Norbert Fischer: foris – intus. Im Blick auf Heideggers Abbruch der Arbeit an SuZ vgl. den Hinweis des Herausgebers Friedrich-Wilhelm von Herrmann in GA 2,582, daß Heidegger die erste Fassung des dritten Abschnitts mit dem Titel ›Zeit und Sein‹ »bald nach ihrer Niederschrift verbrannt« hat. Insgesamt sind hier die Arbeiten von Friedrich-Wilhelm von Herrmann zum Denkweg Heideggers heranzuziehen. 6 Vgl. Martin Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente, 15. 7 Aber das ist das ›Schicksal‹ (vgl. KrV A VII) aller philosophischen ›Werke‹, wie auch an der kritischen Philosophie Kants verfolgt werden kann, die – wohl gegen Kants ursprüngliche Erwartung – nach der Ausarbeitung der KrV noch zu neuen Wendungen und Einsichten geführt hat. Immerhin hat Kant schon in KrV gesehen und festgehalten, daß man niemals »Philosophie«, sondern nur »philosophiren« lernen könne (vgl. KrV B 865). 8 Das Publizierte ist nur ein Teil der ›Ersten Hälfte‹ (allerdings der größere). Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von »Sein und Zeit«. Band 1: »Einleitung. Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein«, vgl. IX: »Der siebenten Auflage von SuZ (1953) ist eine kurze ›Vorbemerkung‹ vorangestellt, in der es heißt: ›Die in den bisherigen Auflagen angebrachte Kennzeichnung ›Erste Hälfte‹ ist gestrichen. Die zweite Hälfte läßt sich nach einem Vierteljahrhundert nicht mehr anschließen, ohne daß die erste neu dargestellt würde. Deren Weg bleibt 1
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indessen auch heute noch ein notwendiger, wenn die Frage nach dem Sein unser Dasein bewegen soll.« Geblieben sind stets die Hinweise im ›Aufriß der Abhandlung‹ (SuZ 39 f.). 9 Zur »Verlassenheit des heutigen Menschen« und der Drohung des Atheismus vgl. auch Die Selbstbehauptung der deutschen Universität (GA 16,107– 117), bes.111. 10 Vgl. die Rede vom ›göttlichen Gott‹; OVM (bes. GA 11,77); vgl. aber auch andere Schriften, bes. zur ›Sprache‹. 11 Zu den frühen Äußerungen vgl. den hier vorliegenden Beitrag von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, bes. 31–37. Die Kritik des ontologischen Zugangs zur Gottesfrage bei Descartes (vgl. SuZ 92–95) setzt diese andere, positive Zugangsweise voraus, durch die erst die Schwächen der kritisierten Weisen, von Gott zu sprechen zutage treten konnten. 12 SuZ war der erste große Anlauf, der auch noch durch die AugustinusLektüre angeregt war (vgl. AuN); der Keim des Scheiterns des früheren Gesamtkonzepts ist vorbereitet durch die Erwägungen im sog. ›Natorp-Bericht‹; zum ›Atheismus‹ der Philosophie vgl. GA 62,363; vgl. dazu das Nachwort des Herausgebers Günther Neumann, bes. 438–444; weiterhin Phänomenologie und Theologie; dazu vgl. den hier vorliegenden Beitrag von Günther Pöltner. 13 Vgl. Josef Stallmach: Ansichsein und Seinsverstehen. Neue Wege der Ontologie bei Nicolai Hartmann und Martin Heidegger, bes. 139 zur Spannung zwischen ›Überwindung‹ und ›Verwindung‹ der Metaphysik. 14 Heidegger ging zuweilen in einer Weise gewaltsam vor, der bedächtige Leser kaum folgen werden; z. B. PLW 127: das a l 4 hje staton, 2 das für Heideggers Auslegung unabdingbar ist, fehlt im Text Platons; in der angeblich »gleich wesentlichen Erörterung« (Politeia 484c), wo das Wort vorkommt, ist es keineswegs ›gleich wesentlich‹; weiterhin vgl. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 67,92): »Der Versuch, dem ›Glauben‹ Platz zu machen (Kant), ist nur die letzte Verstrickung in die Metaphysik und ihre Grundlosigkeit.« Vgl. dazu Norbert Fischer: Einleitung (KGkM), 8–10. Heidegger selbst betont, daß es nicht um Kritik der alten Gedanken gehen kann, sondern um die durch den Gang der Geschichte veränderte Auffassung dieser Positionen in der Gegenwart; vgl. GA 65,187 f. 15 Heidegger nimmt dabei Bezug auf dichterisches Sprechen, z. B. bei Novalis und Rilke (dort z. B. SO I 1: »Wink und Wandlung«); ›Wink und Weisung‹ vgl. auch WD 251. ›Wink‹ betrifft womöglich die theoretische Suche, ›Weisung‹ die praktische. Insofern hielte Heidegger sich insgeheim auch an Kants Unterscheidung der theoretischen und der praktischen Philosophie. Auch in den Holzwegen fi ndet sich ein Stück, das Heideggers Wendung zur vormetaphysischen (vorplatonischen) Philosophie dokumentiert (vgl. Der Spruch des Anaximander). Die entscheidende Wende geschieht nach Heidegger durch den Wandel im Wesen der Wahrheit bei Platon (PLW). 16 Dieses Hilfsmittel wird angewandt, weil etwas gesagt werden soll, was Das Gewagtsein des Menschen | 167
Menschen eigentlich nicht selbst sagen können. Auch Parmenides legt die Worte seines Lehrgedichts einer Göttin in den Mund. Damit wird gesagt, daß wir von einer Wahrheit leben, die unsere Kraft übersteigt. Bei Platon vgl. z. B. Menon 81a/b (priesterliche Überlieferung, die auf Anamnesis weist) oder die Diotima-Rede im Symposion 201d–212c. Zu bedenken wäre im Vorfeld solcher Überlegungen ganz allgemein, wie die Dichtung für das Denken wirkt. Diese Wirkung kann Betörendes an sich haben und trügerisch sein, sofern die Schönheit des dichterischen Wortes Vollkommenheit und Wahrheit nur vorspiegelt. Gefährlich könnte es demnach sein, dichterisch verkündeten Texten kanonische Geltung zuzuschreiben. Vgl. Rainer Thurnher: Gott und Ereignis. Am Anfang wird dort berichtet, daß Hölderlin und Nietzsche gleichsam kanonische Bedeutung für Heidegger besessen hätten. Zur Erhellung der womöglich problematischen Wirkung des Kunstschönen im Blick auf Wahrheit seien die großen hymnischen Gedichte Johann Wolfgang Goethes unter den Titeln Prometheus, Ganymed und Grenzen der Menschheit genannt (vgl. HA 1,44 ff.; 46 f.; 146 f.), deren jedes mit Verkündigungscharakter auft ritt, aber so, daß die Inhalte der Verkündigung schwerlich miteinander vereinbar sind. 17 Vgl. dort auch (GA 5,64): »Der dichtende Entwurf kommt aus dem Nichts in der Hinsicht, daß er sein Geschenk nie aus dem Geläufigen und Bisherigen nimmt. Er kommt jedoch nie aus dem Nichts, insofern das durch ihn Zugeworfene nur die vorenthaltene Bestimmung des geschichtlichen Daseins selbst ist.« Vgl. WD 251 f.: »Der Dichter denkt in die Ortschaft, die sich aus derjenigen Lichtung des Seins bestimmt, die als der Bereich der sich vollendenden abendländischen Metaphysik in ihr Gepräge gelangt ist. Hölderlins denkende Dichtung hat diesen Bereich des dichtenden Denkens mitgeprägt. Sein Dichten wohnt in dieser Ortschaft so vertraut wie kein anderes Dichtertum zu seiner Zeit.« Weiter WD 254: »Zu einer Auslegung der Elegien und Sonette sind wir nicht nur nicht vorbereitet, sondern auch nicht berechtigt, weil der Wesensbereich der Zwiesprache zwischen dem Dichten und dem Denken nur langsam erkundet, erreicht und durchdacht werden kann. Wer möchte sich heute anmaßen, im Wesen der Dichtung so gut wie auch im Wesen des Denkens einheimisch zu sein und dann noch stark genug, um das Wesen beider in die äußerste Zwietracht zu bringen und so ihre Eintracht zu stiften?« Schließlich WD 256: »Daß freilich Dichten auch die Sache eines Denkens sei, müssen wir in diesem Weltaugenblick erst lernen.« 18 Bemerkenswert ist, wie sehr Heidegger die Gottesfrage als Zentrum der Philosophie Kants sieht, was zur Zeit der Publikation von Kant und das Problem der Metaphysik nicht selbstverständlich war (vgl. KPM, bes. 205–218). 19 Von dieser geschichtlichen Situation aus läßt sich Heideggers These umso leichter verstehen, daß »der Glanz der Gottheit […] in der Weltgeschichte erloschen« ist (WD 248). 20 WiM 6: »Gibt es am Ende ein Suchen ohne jede Vorwegnahme, ein Suchen, dem ein reines Finden zugehört?« Vgl. dazu SO I 8, SO II 5. 168 | norbert fischer
Vgl. die ›Nachweise‹ (GA 5,376); vgl. auch den Beitrag von Johannes Brachtendorf im vorliegenden Band. 22 Vgl. z. B. PLW 142: »Platons Denken folgt dem Wandel des Wesens der Wahrheit, welcher Wandel zur Geschichte der Metaphysik wird, die in Nietzsches Denken ihre unbedingte Vollendung begonnen hat. Platons Lehre von der ›Wahrheit‹ ist daher nichts Vergangenes. Sie ist geschichtliche ›Gegenwart‹, dies aber nicht nur als historisch nachgerechnete ›Nachwirkung‹ eines Lehrstückes, auch nicht als Wiedererweckung, auch nicht als Nachahmung des Altertums, auch nicht als bloße Bewahrung des Überkommenen. Jener Wandel des Wesens der Wahrheit ist gegenwärtig als die längst gefestigte und daher noch unverrückte, alles durchherrschende Grundwirklichkeit der in ihre neueste Neuzeit anrollenden Weltgeschichte des Erdballs.« 23 Zu beachten sind Hinweise, wie Heidegger sie in Besinnung gibt; z. B. Mein bisheriger Weg, bes. GA 66,415 f.; vgl. auch Metaphysik und Nihilismus; dort spricht er zur Bedeutung seines Kantbuches (KPM) und sagt (GA 67,101), Kant mache nur »die Art und die Grenze der Metaphysik […] zur Frage; niemals die Metaphysik selbst.« Dies könnte ein Irrtum sein, der auch auf der Nichtbeachtung der praktischen Philosophie Kant beruht. Aus ihr resultiert womöglich auch die Irrigkeit der schon erwähnten, apodiktisch gemachten Aussage (ebd. 92): »Der Versuch, dem ›Glauben‹ Platz zu machen (Kant), ist nur die letzte Verstrickung in die Metaphysik und ihre Grundlosigkeit.« 24 Vgl. dazu insgesamt NWGit, hier 220. 25 Insoweit stimmt Heidegger der grundlegenden Diagnose Kants zur Situation der Metaphysik in KrV A VII zu. 26 Bei Meister Eckhart ist die Kritik der »koufl iute« zu beachten; Predigt 1 (Deutsche Werke I, 6,6–7,5). Vgl. dazu Norbert Fischer: Meister Eckhart und Augustins ›Confessiones‹, bes. 208 mit Fn 47. 27 U. a. KrV B XXX; KpV A 265; vgl. noch einmal die scharfe Zurückweisung Augustins, die sich gegen den Anspruch richtet, Gott begreifen zu können (s. 117,5): »De deo loquimur, quid mirum, si non comprehendis.« 28 GMS BA 65 f.; das Verbot, Personen (sich selbst und Andere) als Mittel zu gebrauchen, müßte, wenn man so reden dürfte, auch für Gott gelten; vgl. KpV A 237: »Daß in der Ordnung der Zwecke der Mensch (mit ihm jedes vernünft ige Wesen) Zweck an sich selbst sei, d.i. niemals blos als Mittel von jemanden (selbst nicht von Gott), ohne zugleich hiebei selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden, daß also die Mensch heit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse, folgt nunmehr von selbst, weil er das Subject des moralischen Gesetzes, mithin dessen ist, was an sich heilig ist, um dessen willen und in Einstimmung mit welchem auch überhaupt nur etwas heilig genannt werden kann.« 29 Vgl. Norbert Fischer: Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft. Im Blick auf Nietzsches Metaphysik argumentiert Heidegger gelegentlich in dem Stil, in dem Kant den Dogmatismus der Metaphysik bekämpft hatte; vgl. 21
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Nietzsche I; GA 6.1,326–331; zur prinzipiel len Schwäche von ›Gottesbeweisen‹ 327. Vordergründig relativiert er damit »Nietzsches Beweis der Wiederkunft slehre«, läßt aber doch ›Platz‹ zur Annahme auch dieses Glaubens. 30 Vgl. WD 290; hier läge der Kontext von Meister Eckharts Predigt 1 nahe (vgl. oben Fn 26). 31 Zur Bedeutung Christi für Hölderlin vgl. den Beitrag von Klaus Düsing im vorliegenden Band. 32 Sofern der Weltzustand wesenhaft durch ›Nacht‹ bestimmt ist (durch das Fehlen des Gött lichen und der Gegenwart seiner Wahrheit), ist diese Frage im christlichen Sinn die Sache der Hoff nung und eines Glaubens an ein ›regnum tecum perpetuum‹ (conf. 11,3) oder an ein ›Reich Gottes‹; z. B. RGV B 141 = AA 6,101: »Der Wunsch aller Wohlgesinnten ist also: ›daß das Reich Gottes komme, daß sein Wille auf Erden geschehe‹.« Es kann im christlichen Sinn nur um eine neue, ganz andere Welt gehen, die aber die faktische ›Nachtwelt‹ als Vorspiel benötigt. 33 Die Weisung lautet also: Suche nach der wahren Spur der wahren Gottheit! Diese Suche ist das im zehnten Buch der Confessiones verfolgte Ziel Augustins; dazu Aurelius Augustinus: SwL, auch die Einleitung des Hg., bes. XIX–XXX . 34 Vgl. Emil Kettering: Nähe. Das Denken Martin Heideggers. Zum ›Geviert‹, das ein Beziehungsgeflecht bezeichnet, nicht Einheit im Einen vgl. WD 250: »der Gott der Rebe verwahrt in dieser und in deren Frucht zugleich das wesenhafte Zueinander von Erde und Himmel als der Stätte des Brautfestes für Menschen und Götter«. Mit dem Wort ›Brautfest‹ ist auch eine Art paradiesischer Unschuld angedeutet. 35 Vgl. WD 252; zum Zustand der ›temptatio‹ gehören nach Augustinus ›ignorantia‹ und ›difficultas‹; lib. arb. 3,52 f.; vgl. auch retr. 1,9,6. Zur positiven Bedeutung des Nichtwissens vgl. auch KpV A 264–266. 36 Diesen Gedanken entfaltet Heidegger selbst mit der Auslegung der ›Existenz‹ als dem ›Seinkönnen‹, das durch Unbestimmtheit und die Notwendigkeit des freien Seinsvollzugs charakterisiert ist vgl. z. B. SuZ 86, 144–147. 37 Die Vergessenheit (Lh j 2 h) spielt schon bei Platon eine konstitutive Rolle für die Genese des faktischen Menschseins (vgl. Politeia 621c). Wenn wir das Wesentliche wüßten und im Bewußtsein der Gegenwart Gottes lebten, wären endliches Selbstsein und zurechenbare Entscheidung durch endliche Wesen nicht möglich. 38 Vgl. conf. 10, 37: »ubi ergo te inveni, ut discerem te? neque enim iam eras in memoria mea, priusquam te discerem. ubi ergo te inveni, ut discerem te, nisi in te supra me? et nus quam locus, et recedimus et accedimus, et nusquam locus.« Im Gang des zehnten Buches stellt Augustinus dann in 38 das Ereignis der ›Inversion der Aktivität‹ dar, die – wie er sagt – zum blitzhaft (plötzlich: e x4 aífnh@; vgl. Politeia 515c) geschehenden Finden Gottes führt, das nach Augustinus aber mühsam auf das Leben bezogen werden muß (vgl. 10,40–66). 170 | norbert fischer
Vgl. auch Rilke: Duineser Elegien (Die fünfte Elegie, V. 73): »Wo, o wo ist der Ort – ich trag ihn im Herzen –«. 39 Diese Einsicht wäre ein Argument für eine Art von Anamnesis-Theorie (die auch Platon nicht dogmatisch vorträgt) – oder für Augustins Auslegung von Genesis 1,27 f.; vgl. conf. 1,1: »quia fecisti nos ad te«. 40 Heideggers Unmut gegen Rilke rührt nach Auskunft von Friedrich-Wilhelm von Herrmann von einer Arbeit von J.F. Angelloz her (L’évolution spirituelle du poéte, z. B. 251, 322 f., 335), vgl. dazu Natalie Knapp: Herz-Raum-Geschehen im Augenblick. Erfahrungen mit dem Wesen des Menschen in der Begegnung von Dichten und Denken (Heidegger – Derrida – Rilke), 176: »Seit J.F. Angelloz in seiner Rilke Biographie von 1936 behauptet hat, Heidegger habe gesagt, daß Rilkes poetisches Werk die gleichen Gedanken beinhalte wie sein denkerisches Werk, entstanden viele Interpretationen, die den Denker in die Nähe des Dichters rückten, ohne die Unterschiede zwischen beiden zu berücksichtigen.« 41 Heidegger ist jedoch genau im Zitieren des Fehlerhaften, das auf die Fassung in der Ausgabe Späte Gedichte (Insel: Leipzig 1934, 80) zurückgeht. Zu beachten ist auch Eckhart Heft rich: Die Philosophie und Rilke, bes. 109–132. Hier eine Aufl istung der Unterschiede: Die Hauptabweichung (V. 5): »er wagt uns« (KA 2,324): bei Heidegger (GA 5,277): »es wagt uns« (statt ›er‹ hier: ›es‹: nicht kursiv). Weitere Unterschiede: V 3.: nach ›Geäst‹ bei Heidegger Komma (Rilke: Doppelpunkt); V. 5: Rilke: ›unseres‹; Heidegger: ›unsres‹; V. 8: Rilke ohne Komma am Ende; Heidegger setzt ein Komma; V. 9: Rilke: »Leben ist –,«; Heidegger: »Leben ist,«; V. 10: Rilke: »wagender ….«; Heidegger: »wagender…« (nur drei Punkte); V. 11: Rilke: »dort wo«; Heidegger: »dort, wo«; V. 12: Rilke: am Ende kein Komma (»birgt«); Heidegger: »birgt,«; V. 13: Rilke: »wir’s«; Heidegger: »wirs«; V. 14: Rilke: »in’s«, »wir’s«; Heidegger: »ins«, wirs«. 42 Z. B. KA 2,324; vgl. dazu KA 2,815 f., bes. 816: »Die Romanfigur des Malte Laurids Brigge ist das Beispiel für eine solche Steigerung des Wagnisses, und zwar mit dem Versuch, sich ungeschützt dem Risiko der menschlichen Existenz auszusetzen, ohne den Rückhalt, den das Leben (oder die Kunst) etwa zu geben vermöchte.« 43 SO II 23; wir, die wir nach dem erfüllten Augenblick suchen, müssen uns gestehen (ebd.): »So Entzognes ist am meisten dein.« Also gilt für uns: »Bang verlangen wir nach einem Halte,/ Wir zu Jungen manchmal für das Alte/ Und zu alt für das, was niemals war.« Gleichwohl endet das Gedicht mit folgenden Versen: »Wir, gerecht nur, wo wir dennoch preisen,/ Weil wir, ach der Ast sind und das Eisen/ Und das Süße reifender Gefahr.« 44 Womöglich sind wir ihm zwar ›lieb‹, aber nicht »weiter lieb« (er nimmt uns das ›Existieren‹ nicht ab): wahre Liebe will das Selbstsein des Geliebten, was Heidegger betont hat: »amo: volo, ut sis«. Dazu vgl. Norbert Fischer: »Deum et animam scire cupio«.Zum bipolaren Grundzug von Augustins metaphysischem Fragen, 91 f. Zwar schützt der Urgrund unseres Seins kein Wesen Das Gewagtsein des Menschen | 171
›besonders‹; zwar hat er uns »nicht weiter lieb« (wie ein Liebender, der alles Schwierige vom Geliebten abhalten will). Die größere Liebe regt das Hervorgebrachte aber zu freiem Selbstsein an. 45 Die hier zugrundegelegte Denkfigur ist auf den »Urgrund unseres Seins« zu beziehen, wie Augustinus ihn in den Confessiones entfaltet; Leitworte wären (conf. 1,1): »tu excitas«; »inquietum cor nostrum«; zwar sagt Augustinus (conf. 11,3): »qui securus curam nostri geris«; dennoch fi nden wir Ruhe erst am Ende der Zeit (conf. 13,51): »sabbato vitae aeternae«. Rilke betont den Abstand Gottes zum Geschöpf vgl. SO II,16: »Selbst die reine, die geweihte Spende/, nimmt er anders nicht in seine Welt/, als indem er sich dem freien Ende/ unbewegt entgegenstellt.« 46 NWGit 216; vgl. ebd.: »Der so verstandene Wille ist auch im Willen des Dienenden.« Das ›Offene‹ fordert Verzicht auf das ›Herr-seinwollen‹, Verzicht auf unsere Deutung der Welt: es fordert eine Inversion der Aktivität. 47 NWGit 210; Heidegger bietet die genaue Interpretation jedes Wortes, gleichsam ›ad litteram‹ (NWGit 210–215). 48 NWGit 239. ›Beständigung‹ ist ein mehrfach vorkommendes Grundwort der Holzwege; die Flüchtigkeit des Zeitlichen zeigt sich so indirekt auch als ein Problem Heideggers. 49 Das ist ein Bezug auf die nationalsozialistische Diktatur; vgl. die beiden Bände Alfred Denker; Holger Zaborowski (Hgg.): Heidegger und der Nationalsozialismus. 50 Vgl. die Zitation von Briefstellen WD 268 f. Nach Rilke hat menschliches Verhalten grundsätzlich und unvermeidlich zwei Seiten: einerseits sind wir ›die Treibenden‹ (SO I,22); andererseits geht es darum, daß wir ›offen werden und Empfänger‹ (SO II,5). Das Zweite ist dabei nicht ohne das Erste möglich. 51 Vgl. SO I,22: »Wir sind die Treibenden./ Aber den Schritt der Zeit,/ nehmt ihn als Kleinig keit/ im immer Bleibenden.« Und SO II,5: »Wir, Gewaltsamen, wir währen länger./ Aber wann, in welchem aller Leben,/ sind wir endlich offen und Empfänger?« Nach Rilke gehören beide Seiten zum Menschsein; am Ende allerdings ist es für uns unvermeidlich, uns dem Nichtverfügbaren empfangend zu öff nen. 52 Vgl. WD 279: »Die Wendung in das Offene ist der Verzicht darauf, das, was ist, negativ zu lesen. Was aber ist seiender und d. h., neuzeitlich gedacht, gewisser als der Tod? Der angeführte Brief vom 6. Januar 1923 sagt, es gelte, »das Wort ›Tod‹ ohne Negation zu lesen.« 53 In diesem Kontext erläutert Heidegger noch einmal den von ihm gesehenen und als geschickhaft behaupteten Wesenszug der neuzeitlichen Metaphysik, erwähnt aber auch (WD 282): »Fast gleichzeitig mit Descartes entdeckt Pascal gegenüber der Logik der rechnenden Vernunft die Logik des Herzens. Das Innen und das Unsichtbare des Herzraumes ist nicht nur innerlicher als das Innen des rechnenden Vorstellens und darum unsichtbarer, sondern es reicht zugleich weiter als der Bereich der nur herstellbaren Gegenstände.« Mit 172 | norbert fischer
Pascal knüpft Heidegger an Augustinische Gedanken an und sieht in ihnen zugleich einen vorausgehenden Hinweis auf Gedanken Rilkes. Vielleicht handelt es sich aber nicht um ein zufälliges Geschick, das sich geschichtlich da und dort ereignet, sondern um eine stets wirksame Zwiespältigkeit menschlichen Wollens, der wir in keiner geschichtlichen Situation entkommen können (gegen die Möglichkeit objektivierender Auslegungen der Rede vom ›Göttertag‹ und der ›Weltnacht‹). 54 Das scheint ein Anklang an die Idee ›eigensten‹ oder ›eigentlichen Selbstseinkönnens‹ des Daseins zu sein, wie Heidegger sie in SuZ entfaltet hat; vgl. dort schon 175, dann 267–269, 273–275, 294, 298, 307, 316, 322 f. Wenn die fast übergroße Bedeutung dieser an göttliches Selbstsein gemahnenden Idee, die für Menschen immer nur ein unerreichbares Ideal bleibt, auch noch für den späteren Heidegger Bedeutung behalten hätte, untermauerte dies die erwähnte Hypothese, daß Heideggers Denken nach der Kehre als Ringen um den intendierten Inhalt des geschriebenen, aber nach der Niederschrift verbrannten dritten Abschnitts des ersten Teils von SuZ verstanden werden kann. 55 ›Achtung‹, die sich nach Kant »jederzeit nur auf Personen« bezieht (vgl. KpV A 135), könnte ins Lateinische mit ›caritas‹ (reine, nicht selbsüchtige Liebe) zurückübersetzt werden. 56 Vgl. Joh 2,13–22. 57 Die Ideen des ›gratis colere‹ und des ›gratis diligere‹ spielen für Augustinus eine zentrale, zu wenig beachtete Rolle. Er zeigt sich so als ›doctor caritatis‹, einer gleichsam göttlichen Liebe. Zum ›gratis colere‹ vgl. z. B. conf. 10,32: »absit, domine, absit a corde servi tui, qui confitetur tibi, absit, ut, quocumque gaudio gaudeam, beatum me putem. est enim gaudium, quod non datur impiis, sed eis, qui te gratis colunt, quorum gaudium tu ipse es. et ipsa est beata vita, gaudere ad te, de te, propter te: ipsa est et non est altera.« Zu ›gratis diligere‹ vgl. z. B. conf. 6,26 (zur nicht berechnenden Liebe von Menschen); vgl. auch civ. 1,9: »humanus animus sit probatus et cognitus, quanta virtute pietatis gratis deum diligat.« 58 Z. B. Predigt 1 (vgl. oben Fn 26). 59 Vgl. Die erste Elegie, V. 7; zur Erläuterung vgl. Rilkes Selbstaussagen; zusammengestellt in KA 2, 592–605, bes. die Hinweise in einem Brief an Gräfi n Mirbach, KA 2,603. 60 Vgl. conf. 11,3; in dieser überschwenglichen Hoff nung, die alles menschliche Vorstellen übersteigt, aber doch als in allen Menschen wirkende Sehnsucht verstanden werden kann, wäre das Ziel der Hoff nung mit der Entflüchtigung des Zeitlichen verbunden; vgl. dazu Norbert Fischer: »Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes.
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– Rainer Thurnher –
Heideggers Distanzierung von der metaphysisch geprägten Theologie und Gottesvorstellung
1. Religiös motivierte Kritik in Heideggers frühem Schaffen Heidegger war durch seine Herkunft, Sozialisation und Ausbildung mit der durch die abendländische Metaphysik geprägten katholischchristlichen Dogmatik bestens vertraut. Von 1909 bis 1911 hatte er katholische Theologie studiert, ehe er zur Philosophie überwechselte. Angewiesen auf ein von kirchlicher Seite vergebenes Stipendium durchlief Heidegger den Ausbildungsgang für konfessionell gebundene Kandidaten. Dieser sah in erster Linie die intensive Beschäftigung mit der antiken Philosophie und der mittelalterlichen Scholastik vor. Von einem katholischen Philosophen wurde erwartet, daß er den Thomismus bedingungslos als verbindliche Wahrheit anerkennt und zur Grundlage seiner geistigen und religiösen Orientierung macht. Im erhitzten Klima konfessioneller und ideologischer Auseinandersetzungen jener Jahre bedeutete dies zugleich eine klare Frontstellung gegen den Protestantismus, aber auch die Abwehr ›modernistischer‹ Tendenzen des Geisteslebens. Zu solchem Parteigängertum fand sich Heidegger indes immer weniger bereit. Begierig nahm er schon während der Studienjahre vieles in sich auf, was an neueren geistigen Tendenzen verfügbar war, wie er sich alsbald auch intensiv mit Luther und der protestantischen Religionsphilosophie beschäftigte.1 Veranlaßt oder jedenfalls bestärkt durch die Lektüre Diltheys lernte er die Scholastik als historische Erscheinung begreifen. Ihre Wiederholbarkeit, ja mehr noch: ihre Wiederholungswürdigkeit wurde ihm dadurch fragwürdig, und zwar auch und gerade in religiöser Hinsicht. Bereits Dilthey war der Auffassung gewesen, daß das Aristotelische Denken Naturmetaphysik sei,2 gewonnen im Hinsehen auf | 175
die äußere, gleichförmig bewegte und als Hierarchie der Formen ahistorisch sich darstellende Wirklichkeit, wodurch sie in einem Gegensatz steht zum lebendigen Glauben, der als inneres Ringen sich vollzieht und Entscheidungen und Zäsuren im geschichtlichen Lebensvollzug erheischt. Die Durchdringung christlichen Glaubens mit griechischer Philosophie, wie wir sie bei den Kirchenvätern und in der Scholastik finden, hatte daher ein problematisches Mischgebilde entstehen lassen, das weder einer genuin philosophischen noch einer genuin christlichen Tendenz gerecht wird. Heidegger übernimmt diese Auffassung. Schon in Notizen, die zwischen 1917 und 1919 entstanden sind,3 spricht er im Hinblick auf das Christentum vom »verheerenden Einfluß« (GA 60,326) der »Naturmetaphysik des Aristoteles und des Mittelalters« (GA 56/57, 27). Von »schlechter Natur-Metaphysik« (GA 60, 317; vgl. 313) ist die Rede, wenn Heidegger in jenen Jahren auf Aristoteles zu sprechen kommt.4 Gott wird in der Aristotelischen und von Aristoteles beeinflußten Metaphysik zu einem das Naturganze abschließenden Prinzip, zu etwas in theoretischer Einstellung Veräußerlichtem, dessen man sich schlußfolgernd vergewissern kann. Die »Stellung zu Gott« wird so »ontisch« aufgefaßt »als Sein neben bzw. ›unter‹ einem (absoluten) Sein«. Ausgeblendet wird dabei »[u]nser erlebnismäßiges Verhalten zu Gott – das primäre, weil in uns gnadenhaft aufquellende« – dieses allein wäre »richtunggebend für die spezifisch religiöse Konstituierung ›Gottes‹« (GA 60,324).5 Im sogenannten ›Natorpbericht‹6 von 1922 heißt es ganz ähnlich (GA 62,389 f.): »Die Idee des Göttlichen ist […] für Aristoteles nicht in der Explikation eines in religiöser Grunderfahrung zugänglich gewordenen Gegenständlichen erwachsen, das jeῖon ist vielmehr der Ausdruck für den höchsten Seinscharakter, der sich in der ontologischen Radikalisierung der Idee des Bewegtseienden ergibt. […] das Seiende in Bewegung, und die bestimmte ontologische Explikation dieses Seienden sind die Motivquellen für die ontologischen Grundstrukturen, die späterhin das göttliche Sein im spezifisch christlichen Sinne (actus purus) […] und damit zugleich das Seinsverhältnis Gottes zum Menschen selbst entscheidend bestimmen. Die christliche Theologie und die in ihrem Einfluß stehende philosophische ›Spekulation‹ […] sprechen in erborgten, ihrem eigenen Seinsfelde fremden Kategorien.« 176 | rainer thurnher
Reine Manifestationen einer unverfälschten religiös-christlichen Tendenz wird man daher am ehesten dort erwarten dürfen, wo entweder die Berührung des Glaubens mit der griechischen Philosophie noch kaum stattgefunden hat, wie im Urchristentum, oder wo große Gestalten und Bewegungen des Glaubens in Opposition getreten sind zur philosophisch überformten christlichen Dogmatik. In diesem Sinne ist Heideggers intensive Auseinandersetzung jener frühen Jahre zu verstehen mit den Paulusbriefen, mit Augustinus, der Mystik, Duns Scotus, Luther und Kierkegaard. Luther hat nach Heidegger die Notwendigkeit eines Abrückens vom Aristotelismus richtig erkannt (GA 60,97): »Die Hinwendung zu Gott ist primär. […] Für die Explikation ergibt sich die Aufgabe, den Sinn der Gegenständlichkeit Gottes zu bestimmen. Es ist ein Abfall vom eigentlichen Verstehen, wenn Gott primär als Gegenstand der Spekulation gefaßt wird. Das ist nur einzusehen, wenn man die Explikation der begrifflichen Zusammenhänge durchführt. Dies ist aber niemals versucht worden, weil die griechische Philosophie sich in das Christentum eingedrängt hat. Nur Luther hat einen Vorstoß in dieser Richtung gemacht, und von daher ist sein Haß gegen Aristoteles erklärlich.«7 An anderer Stelle heißt es (GA 60,310): »In Luther bricht eine […] originale Form der Religiosität auf«, daher sind »Glauben und Glauben […] im Protestantismus und Katholizismus grundverschieden. Noetisch und noematisch auseinanderfallende Erlebnisse. […] Das ›Für-wahr-Halten‹ des katholischen Glaubens ist ganz anders fundiert als die fiducia der Reformatoren.«8 Eine vergleichbare religiös motivierte Achtsamkeit auf die Innensphäre des Lebens zeichnete nach Heidegger bereits die mittelalterliche Mystik aus (vgl. GA 1, 205 f.; GA 60,314). Ihr sei bewußt gewesen, daß Gottes Gegenwart sich nur einstellt – Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von einer »Konstitution des Gotteslebens« und von »Gottesgeburt« –,9 wenn der Mensch ihm in der »Seelenburg« eine »Stätte« und »Wohnung« bereitet,10 wozu ›innere Sammlung‹ gehört, »mystische Stille« und »Schweigen«,11 »Entmannigfaltigung«12 und »Abgeschiedenheit«.13 Die Mystik trat bereits als Gegenbewegung gegen die Scholastik hervor und hat Luther damit den Boden bereitet; sie gab ihm »eine Welt der inneren Erfahrungen und wies ihn auch den methodischen Weg, sie zu gewinnen und zu steigern«.14 Heideggers Distanzierung … | 177
2. Der metaphysische Gottesbegriff im Lichte der Seinsfrage Bisher haben wir von Heideggers Frühzeit gesprochen, die seinem Denken von Sein und Zeit und erst recht seinem späteren, seinsgeschichtlichen Denken, seinem sogenannten ›Ereignisdenken‹ noch vorausliegt. In dieser Frühzeit war Heideggers Auseinandersetzung mit dem tradierten Gottesbegriff und der metaphysisch bestimmten Dogmatik noch primär religiös motiviert; sie erfolgte anfänglich wohl im Interesse der Wahrung und Vertiefung seiner eigenen Religiosität. Alsbald hat Heidegger sich jedoch selbst als Philosoph begriffen und die Auffassung vertreten, daß philosophisches Engagement die Bereitschaft zu einem radikalen In-Frage-stellen erfordere, die mit der Haltung des Gläubigen sich nicht verträgt; daß hier eine Entscheidung unumgänglich sei, die dem Philosophen – mindestens vorübergehend – eine Distanz zum Glauben abnötigt.15 Als Denker stellt Heidegger die Frage nach dem Sinn bzw. nach der (geschichtlichen) Wahrheit von Sein. Man darf sich indes Heideggers Seinsfrage nicht als etwas überaus Kompliziertes oder Abgehobenes vorstellen. Vielmehr geht es in ihr um etwas sehr Einfaches, das zugleich lebensnah und grundlegend für uns ist. Es geht um das Vorverständnis, das wir von einzelnen Gegebenheiten, von diesem oder jenem Seienden haben. Wann immer wir uns vorstellend oder sprechend auf etwas beziehen, wann immer wir mit etwas umgehen und zu schaffen haben, wann immer uns etwas angeht und betroffen macht, ist von diesem Etwas ein Vorverständnis im Spiel. Dieses Vorverständnis kann angemessen, adäquat sein; dann zeigt sich das Seiende ursprünglich, dann kann es als Sich-zeigendes, als Phänomen sich entfalten und zur Geltung bringen. Ist unser Vorverständnis hingegen unangemessen, inadäquat, was nach Heidegger zumeist der Fall ist, dann zeigen sich uns die Gegebenheiten zwar auch, aber nicht ursprünglich, sondern verstellt und im Modus des Scheins.16 So sieht Heidegger seine Aufgabe darin, in immer neuen Anläufen mit dem inadäquaten Vorverständnis, das überall im Spiel ist, sich auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung schließt insbesondere den kritischen Blick auf die abendländische Metaphysik mit ein. In Sein und Zeit vollzieht sie sich unter dem Titel einer »Destruktion der Geschichte der Ontologie« (SuZ 19 und passim), späterhin als »Verwindung der Me178 | rainer thurnher
taphysik«, als »Schritt zurück in den Grund der Metaphysik« (vgl. GA 9,365.352.343; GA 11,58–60). Diese Auseinandersetzung ist für Heidegger deshalb unumgänglich, weil unser Vorverständnis, das jetzt und hier im Spiel ist, von langer Hand aus eben dieser Tradition stammt. Zur Metaphysik gehört nun für Heidegger auch ein bestimmtes Gottesbild, ein Vorverständnis des Göttlichen. Die Metaphysik als solche hat ein bestimmtes Baugefüge, das Heidegger als Onto-Theologie bezeichnet. Metaphysik ist Onto-Theologie, indem sie alles Seiende auf Gott als Schöpfer und Urgrund bezieht und zurückführt. Indem Heidegger sich mit der Metaphysik kritisch auseinandersetzt, schließt diese Auseinandersetzung notwendig auch eine Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Gottesbegriff ein. Für unsere Thematik interessant ist dabei die Frage, zu welchem Gegenparadigma, was unser Vorverständnis von Gott betrifft, Heidegger auf diesem Wege kommt. Dies wollen wir uns im folgenden näher ansehen. Wenn wir Heideggers Kritik der durch die Metaphysik bestimmten theologischen Grundkonzeption analysieren, so zeigt sich, daß Heidegger auch hier – wie in seiner kritischen Distanznahme zur Metaphysik überhaupt – bei dem im Rahmen des metaphysischen Denkens nicht mehr zum Problem gemachten Primat des Logos ansetzt. Gilt für die Metaphysik der Logos als der ausschließliche Zugang zur Wahrheit des Seienden und im besonderen zur Erkenntnis Gottes, so macht Heidegger auch in diesem Zusammenhang geltend, daß der Logos unvermerkt eine Selektion und bestimmte Strukturierung seiner Inhalte zur Folge hat und somit keineswegs als ein neutrales Medium des Erkennens und der Darstellung gelten darf. Der Logos ist für Heidegger in seiner ursprünglichen Bedeutung ›versammelndes Vorliegenlassen‹ (OVM; GA 11,65). Ihm gegenüber stellt sich, wie Heidegger meint, alles Seiende als ein einheitlich Vorliegendes und im Vorliegen Bestimmbares und Explizierbares dar. Der Logos verlangt aber zugleich, daß das Vorliegende auf eine mögliche Einheit hin gesammelt und zu einer Totalität zusammengenommen wird. Dies wird erreicht, indem das Seiende den an ihm abhebbaren Bestimmungen entsprechend nach geeigneten Gesichtspunkten geordnet wird, so daß es sich als ein geordneter Zusammenhang (ordo entium, analogia entis) darstellt. Der ZusamHeideggers Distanzierung … | 179
menhang wiederum motiviert die Suche nach Abhängigkeiten. Erst wenn sich das eine jeweils als im anderen gegründet darstellen läßt und so das Ganze auf einen letzten, alles gründenden Grund verweist, erfährt der im Logos angelegte Vorgriff auf Einheit seine Erfüllung. So ist im Logos selbst die Tendenz auf so etwas wie ›Grund‹ und ›Begründung‹ ursprünglich angelegt. Die für die Metaphysik charakteristische Einheit von Ontologie und Theologie hat für Heidegger daher ihren Ursprung darin, daß am Beginn der Metaphysik Offenbarkeit sich als Lo2go@ ereignet, daß »[…]das Sein […] seit der Frühe seiner Entbergung im Gepräge des Logos, des gründenden Grundes das Denken als Begründen in seinen Anspruch nimmt« (OVM; GA 11,65). Die Metaphysik ist Onto-theologie, weil ihre Ontologie und ihre Theologie von vornherein unter dem Diktat des Logos stehen (OVM; GA 11,66): »Sie stehen dem Lo2go@ Rede und sind in einem wesenhaften Sinne Lo2go@-gemäß […] Die Metaphysik ist sachgemäßer und deutlicher gedacht: Onto-Theo-Logik.« Als Onto-logik denkt die Metaphysik das Sein in einer unbestimmten und allgemeinen Weise als ein Vorliegen, als bloße Vorhandenheit und reine Präsenz (ou4sía, parousía). Als Theologik führt sie dieses Sein des Seienden auf die Wirksamkeit des höchsten Seienden innerhalb des von ihr vorgestellten Ordnungszusammenhangs zurück. So denkt die Metaphysik »das Sein des Seienden sowohl in der ergründenden Einheit des Allgemeinsten, d. h. des überall Gleich-Gültigen, als auch in der begründenden Einheit der Allheit, d. h. des Höchsten über allem« (OVM; GA 11,66; vgl. dort auch 74 f. und 76). Weil der Logos für die Metaphysik die Offenbarkeit von allem verbürgt und dieser von seinem Wesen her auf Einheit und Grund tendiert, zeigt sich in seinem Licht das Sein als das Allgemeinste und wird dieses als Allgemeinheit vorgestellte Sein zugleich, so als wäre es selbst ein Seiendes, aus einem Seienden erklärt. Als der letzte Grund des Seins kommt dabei nur jenes Seiende in Betracht, das in dem vorgestellten Ordnungsgefüge als das höchste Seiende, als summum ens, zu denken ist (dazu PLW; GA 9,235 f.; vgl. GA 10,184): »Diese höchste und erste Ursache wird von Platon und entsprechend von Aristoteles to1 jei/on, das Göttliche genannt. Seit der Auslegung des Seienden als i4de2a ist das Denken auf das Sein des 180 | rainer thurnher
Seienden metaphysisch, und die Metaphysik ist theologisch. Theologie bedeutet hier die Auslegung der ›Ursache‹ des Seienden als Gott und die Verlegung des Seins in diese Ursache, die das Sein in sich enthält und aus sich entläßt, weil sie das Seiendste des Seienden ist.« Mit dem genannten Ansatz hat sich diese Theologie bereits in wesentlichen Punkten festgelegt; nämlich dahingehend festgelegt, worin das Wesen, die Göttlichkeit dieses Gottes bestehen soll. Der metaphysische Gott ist als das summum ens (als das oberste Seiende in einem vorgestellten Ordnungsgefüge alles Seienden) das »Seiendste« unter allem Seienden. Er ist bestimmt als das ens realissimum, als plenitudo essendi (vgl. OVM; GA 11, 75). Dies bedeutet, daß Gott jenes Seiende ist, das den vorausgesetzten Sinn von Sein in der reinsten Weise verkörpert. Weil aber im Horizont des logosbestimmten metaphysischen Vorstellens Sein sich als Anwesenheit (als Präsenz für die re-präsentatio) bestimmt hat, denkt die Metaphysik Gott als jenes Wesen, das als schlechthinnige Anwesenheit jedes Abwesen von sich ausschließt. Als absolute Anwesenheit ist er das, worauf das metaphysische Vorstellen jederzeit zurückkommen kann. Weil Präsenz schlechthin, ist er jederzeit re-präsentierbar und als Grund verfügbar. Gott ist ferner bestimmt als causa prima. Damit ist vorausgesetzt, daß Gott als causa causarum zugleich der Grund alles Ursacheseins überhaupt ist. So erscheint der metaphysische Gott als Garant der Gültigkeit des Satzes vom Grund. Dessen Herrschaft ist derart von langer Hand durch das metaphysische Vorstellen befestigt und sanktioniert (vgl. GA 10,43). Als erste Ursache ist Gott zugleich bestimmt als jene Ursache, die ihrerseits nicht mehr verursacht sein kann, sondern als absolute Ursache zugleich Ursache ihrer selbst ist (GA 11,77; vgl. GA 7,44) : »[…] [der] Grund selbst [bedarf] aus dem von ihm Begründeten her der ihm gemäßen Begründung, d. h. der Verursachung durch die ursprünglichste Sache […]. Dies ist die Ursache als die Causa sui. So lautet der sachgerechte Name für den Gott in der Philosophie.« Die metaphysische Bestimmung Gottes als causa prima zusammen mit einer Verengung des Ursachebegriffs, in der das Verursachen einseitig als ein facere und efficere erscheint,17 hat nach Heideggers Auffassung der philosophischen Theologie den Eingang Heideggers Distanzierung … | 181
in die christliche Glaubensdogmatik erleichtert, da sich durch den biblischen Schöpfungsbericht in diesem Punkt scheinbar eine gemeinsame Basis und, wenn man so will, rückwirkend eine Bestätigung des Denkens durch die Offenbarung ergab (vgl. GA 5,14 f.; GA 6.2,377 f.). Nichtsdestoweniger sieht Heidegger in der christlichen Deutung des Seienden als ens creatum primär einen philosophischen Vorgang, d. h. ein menschliches Entsprechen gegenüber einem ›Geschick des Seins‹. In dessen Rahmen bildet diese Seinsauslegung (ens = ens creatum) nur einen epochalen Abschnitt, der mit der herrschend werdenden Auffassung des Seins als Subjektität bzw. Objektität für ein Subjekt zu Ende gegangen ist (vgl. GA 40,202; GA 5,65. 90.100; GA 6.2,429; GA 10,117). Innerhalb der metaphysischen Bestimmung Gottes erscheint dieser schließlich als summum bonum, als oberster Wert und Wertgarant. Dies ist dann der Fall, wenn die metaphysisch vorgestellte Ganzheit des Seienden als eine Rangordnung, als Ordnung nach dem Grad der Werthaftigkeit, aufgefaßt wird. Diese verlangt einen Abschluß in einem Wesen, das in einem absoluten Sinne als werthaft und als Quelle aller Werthaftigkeit zu denken ist.
3. Problematische Implikationen metaphysischer Onto-Theologie Wenden wir uns nun Heideggers Kritik der metaphysisch geprägten Theologie zu. Diese erfolgt vornehmlich unter zwei Gesichtspunkten. Einmal stellt Heidegger diese Theologie in ihrer Intention als Theologie in Frage und zum anderen sieht er in ihr nicht nur eine Auswirkung metaphysischer Seinsvergessenheit, sondern zugleich deren Bekräftigung und Vehikel. Zum ersten Kritikpunkt: Ihre eigentliche Intention verfehlt die metaphysische Theologie, weil sie sich damit begnügt, ihren Gott als Inhalt des bestimmenden Denkens und Vorstellens zu vermitteln. Die Dimension der lebendigen Begegnung von Gott und Mensch hingegen ist in ihr vernachlässigt. In diesem Sinne ist der Gott der Philosophen von vornherein ein toter Gott, eine Abstraktion. In seinen Bestimmungen als causa prima und summum bonum ist der »lebendige Gott«, der Gott der »lebendigen Anwesenheit« (NWGit 240), zu dessen Möglichkeiten das Erscheinen und Sich-Entziehen, 182 | rainer thurnher
das Sich-Vorenthalten und Sich-Verschenken wesenhaft gehört, verfehlt. Daß für Heidegger die Epiphanie und ihr Gegenwesen, der Entzug, in entscheidender Weise zur Göttlichkeit des Gottes gehört, zeigt u. a. folgende Stelle aus Die Kunst und der Raum (GA 13,206; vgl. GA 5,27–31): »Räumen ist Freigabe der Orte, an denen ein Gott erscheint, der Orte, aus denen die Götter entflohen sind, Orte, an denen das Erscheinen der Göttlichen lange zögert.« Dem Zusammenhang zwischen diesem Epiphanie-Begriff und Heideggers Auslegung der A-letheia als Ort der Lichtung kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Verwiesen sei lediglich auf jene Stelle im Humanismusbrief, wo es heißt, daß »im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter […] in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins« (GA 9,330 f.; vgl. ebd. 338, 351; weiterhin GA 6.2, 21). Der Gott, der in der Epiphanie und im Entzug gleichermaßen als der ›Unzugangbare‹(GA 9,46) und als der ›Un-geheuere‹ (GA 9,356; GA 10,21) empfunden wird, ist ein anderer als der Gott der Metaphysik (OVM; GA 11,77). : »Zu diesem Gott [sc. der Metaphysik] kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.« Der »Gott der Philosophie«, der »Gott als Causa sui« ist nicht der ›göttliche Gott‹ (ebd.). Ebenso ist der »Gott als Wert gedacht, und sei es der höchste, […] kein Gott.« (GA 13,153). In der Kennzeichnung Gottes als Wert sieht Heidegger »eine Herabsetzung des Wesens Gottes«; sie ist für ihn »Blasphemie« (GA 9,349). Indem die Ontotheologie das Wesen Gottes verfehlt und verkennt und indem sie sich, anstatt die Möglichkeit der Begegnung von Gott und Mensch im Auge zu behalten, mit der vorstellungsmäßigen Verfügbarkeit einer Abstraktion begnügt, betreibt sie für Heidegger von langer Hand die Verschleierung und Entfremdung dessen, was seiner Ansicht nach als das wahrhaft Göttliche anzusehen wäre. Der Säkularisierungsprozeß, der die ›Entzauberung der Welt‹ (Max Weber) den ›Tod Gottes‹ (H. Heine, G.W.F. Hegel, Fr. Nietzsche) brachte, ist für Heidegger kein Vorgang, der von außen Heideggers Distanzierung … | 183
kommend die Metaphysik und Religion traf, sondern nur der Austrag dessen, was in der Metaphysik und ihrer Theologie als Möglichkeit bereits angelegt war (NWGit 239 f.): »Der letzte Schlag gegen Gott und gegen die übersinnliche Welt besteht darin, daß Gott, das Seiende des Seienden, zum höchsten Wert herabgewürdigt wird. Nicht daß Gott für unerkennbar gehalten, nicht daß Gottes Existenz als unbeweisbar erwiesen wird, ist der härteste Schlag gegen Gott, sondern daß der für wirklich gehaltene Gott zum obersten Wert erhoben wird. Denn dieser Schlag kommt gerade […] von den Gläubigen und deren Theologen, die vom Seiendsten alles Seienden reden, ohne je sich einfallen zu lassen, an das Sein selbst zu denken, um dabei inne zu werden, daß dieses Denken und jenes Reden, aus dem Glauben gesehen, die Gotteslästerung schlechthin ist, falls sie sich in die Theologie des Glaubens einmischen.« Dieser Theologie gegenüber faßt Heidegger nicht eigentlich die Kritik, sondern zuvor noch die Zurückhaltung und Abstinenz18 als den ersten und entscheidenden Schritt auf, um dem wahren Göttlichen, wie er es versteht, wiederum näherzukommen (OVM; GA 11,63): »Wer die Theologie, sowohl diejenige des christlichen Glaubens als auch diejenige der Philosophie, aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es heute vor, von Gott im Bereich des Denkens zu schweigen. Denn der onto-theologische Charakter der Metaphysik ist für das Denken fragwürdig geworden«. Er sagt dort weiter (77): »Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher. Dies sagt nur: Es ist freier für ihn, als es die Onto-Theo-Logik wahrhaben möchte.« Wir kommen damit zum zweiten Gesichtspunkt der Kritik Heideggers an der metaphysischen Onto-theologie. Heidegger geht es nicht allein darum, darauf hinzuweisen, daß mit dem ›Gott der Philosophie‹ der ›göttliche Gott‹ verfehlt ist, sondern er will zugleich deutlich machen, daß der metaphysisch gedachte Gott im Grunde nur die Hypostasierung einer bestimmten, einseitigen und epochalgeschichtlichen Seinsauffassung ist. Indem diese gewissermaßen im Höchsten verankert wird, erfährt sie in systemimmanenter Weise eine Verabsolutierung und Sanktionierung, so daß die Frage nach 184 | rainer thurnher
ihrer Herkunft und Berechtigung unterbleibt (GA 7,27; Herv. R. Th.): »In welcher Weise auch immer das Geschick der Entbergung walten mag, die Unverborgenheit, in der alles, was ist, sich jeweils zeigt, birgt die Gefahr, daß der Mensch sich am Unverborgenen versieht und es mißdeutet. So kann, wo alles Anwesende sich im Lichte des Ursache-Wirkung-Zusammenhangs darstellt, sogar Gott für das Vorstellen alles Heilige und Hohe, das Geheimnisvolle seiner Ferne verlieren. Gott kann im Lichte der Kausalität zu einer Ursache, zur causa efficiens, herabsinken. Er wird dann sogar innerhalb der Theologie zum Gott der Philosophen, jener nämlich, die das Unverborgene und Verborgene nach der Kausalität des Machens bestimmen, ohne dabei jemals die Wesensherkunft dieser Kausalität zu bedenken.« Denn es sind die metaphysisch denkenden »Theologen, die vom Seiendsten alles Seienden reden, ohne sich je einfallen zu lassen, an das Sein selbst zu denken […]« (NWGit 240). Die OntoTheologie erzeugt also, indem sie das auf eine bestimmte Weise vorgestellte Sein auf das (diesem Seinsbegriff nach) höchste Seiende gründet, den Schein eines unbedingten und universalen Geltungsanspruchs desselben. So unterbindet sie die Frage nach dem Woher dieses Seinsbegriffs, d. h. sie verstellt den Blick auf das Geschick des Seins selbst, dem alle epochalen Seinsprägungen, wie Heidegger meint, entspringen. So sieht er also die metaphysische Theologie in einem denkbar engen Zusammenhang mit der Seinsvergessenheit, insofern sie nicht nur aus dieser hervorgeht, sondern zugleich deren Herrschaft festigt und perpetuiert. Überwindung der Seinsvergessenheit würde bedeuten, »das Sein in seiner Wahrheit zu sagen, statt es wie ein Seiendes aus Seiendem zu erklären« (GA 9,335; vgl. GA 10,100; GA 40,8 f.). Das Sein als solches, d. h. das Sein als jenes, das sich in epochalen Prägungen zuschickt und darin zugleich in seinem Wesen als Geschick entzieht, bleibt in der Metaphysik, sofern sie Ontotheologie ist, notwendig verstellt. Erst der »Schritt zurück« aus der Metaphysik vermag nach Heidegger diese als Onto-theologie und damit als Seinsvergessenheit zu denken und so das Sein selbst im Reichtum seines Wesens als das in aller Seinsvergessenheit für das Ereignis »Aufgesparte« in den Blick zu bringen.
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4. Heideggers Gegenparadigma Damit haben wir die wesentlichsten Punkte der Kritik Heideggers an der metaphysischen Theologie zusammengefaßt und sind so in der Lage, gezielt nach seinem theologischen Gegenparadigma zu fragen. Denn dies dürfte aus den bisherigen Ausführungen ersichtlich geworden sein, daß es Heidegger nicht darum geht, die metaphysisch bestimmte Theologie zu korrigieren. Seine Kritik zielt vielmehr auf eine Dekomposition oder Destruktion derselben ab, um auf diese Weise die Möglichkeit für eine gewandelte Sicht des Göttlichen zu gewinnen. Wie sieht nun dieses Gegenparadigma zur Onto-theologie aus? Es hat sich gezeigt, daß Heidegger die metaphysisch bestimmte Theologie als Onto-Theo-Logik begreift und sie darauf zurückführt, daß für sie der Logos (als ›versammelndes Vorliegenlassen‹, als das in der Aussage und in Aussagenzusammenhängen aufweisende und begründende Bestimmen) den primären Zugang zu Gott und zum Seienden im Ganzen darstellt. Heideggers Abwendung von der Metaphysik setzt, wie sich durch eine Analyse bestimmter Schlüsselstellen19 aus Sein und Zeit zeigen ließe, damit ein, daß er im Logos ein abkünftiges und fundiertes Phänomen sieht, das zur Erfüllung seiner Funktion eine primäre Erschlossenheit des Seienden im Ganzen bereits voraussetzt. Die anfängliche Eröffnung vollzieht sich nach Heidegger in der Befindlichkeit, in der sich dem Menschen jeweils vorgängig sein »Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen« (GA 9,110), seine je konkrete, geschichtlich bestimmte Welt als das »Wovor der Geworfenheit bzw. als Woran der Überlassenheit« (SuZ 365) ursprünglich in gewisser Weise enthüllt hat. Alles Verstehen und Auslegen bewegt sich bereits auf dem Boden des durch die Befindlichkeit primär Erschlossenen. So werden wir davon auszugehen haben, daß Heidegger auch dort, wo es um Gott und um das Göttliche geht, im Gegenzug gegen die metaphysische Theologie bei der Befindlichkeit ansetzt. Dies bedeutet: Wir müssen bei Heidegger, statt nach einer Theologik, also nach einem Zusammenhang von Aussagen über Gott, zu suchen (was gänzlich erfolglos wäre), unseren Blick auf eine Hermeneutik der Befindlichkeit gegenüber dem jeῖon richten. Man hat sich also 186 | rainer thurnher
die Frage vorzulegen, wie Heidegger die Befindlichkeit, in der sich der Gottesbezug des Menschen bekundet, auslegt. Setzt sich aber ein derartiger Interpretationsansatz nicht dem Vorwurf aus, Heidegger von vornherein eine irrationalistische Gefühlstheologie unterstellen zu wollen? Einem solchen Einwand ist jedoch entgegenzuhalten, daß er von Voraussetzungen und Maßstäben ausgeht, deren Problematik gerade die Heideggersche Metaphysikkritik aufzudecken bestrebt war. Wenn es zutrifft, daß die Ratio kein neutrales Medium der Wahrheitserschließung ist, sondern einen Vorgriff darauf beinhaltet, wie sich das Seiende in ihr darzustellen vermag, verliert der Vorwurf des Irrationalismus in diesem Zusammenhang seine Bedeutung. Ebenso könnte mit dem Ausdruck ›Gefühlstheologie‹ nur dann ein berechtigter Einwand vorgebracht worden sein, wenn von vornherein feststünde, daß Befindlichkeiten bezüglich der Erschließung des Seienden notwendig blind oder verstellend sind. Das Gegenteil ist für Heidegger der Fall; für ihn ist, »was wir […] Gefühl oder Stimmung nennen, vernünftiger, nämlich vernehmender, weil dem Sein offener als alle Vernunft, die, inzwischen zur ratio geworden, rational mißdeutet wurde« (GA 5,9). Die Befindlichkeit zeigt, so Heidegger, die »Zugehörigkeit des Menschen zu dem, worauf sein Wesen gestimmt ist. Ge-stimmt bleibt der Mensch auf das, von wo her sein Wesen be-stimmt ist« (GA 10,75; vgl. GA 9,110. 192 f. und 166). Die Grundgestimmtheit, von der Heidegger in seinem theologischen Gegenparadigma ausgeht, ist die Betroffenheit durch die Gottferne, also das Empfinden des Entzugs des Göttlichen, das Gefühl des Leergelassenseins und der Heimatlosigkeit. Das gegenwärtige Weltalter gilt ihm als »dürftige Zeit«, die »in einem gedoppelten Mangel und Nicht steht: im Nichtmehr der entflohenen Götter und im Nochnicht des Kommenden« (GA 4,47; vgl. GA 5,169; GA 9,338 f. und 351 ff.). So ist die Heideggersche Theologie in ihrem Ansatz eine Theologie der Gottferne und des Todes Gottes. Nietzsche und Hölderlin sind aus diesem Grund seine eigentlichen theologischen Gewährsmänner. In ihrem Werk findet Heidegger die Theologie, die der Zeit entspricht, ausgedrückt, und die überragende Präsenz von Nietzsche und Hölderlin in Heideggers Denken verdankt sich nicht zuletzt diesem Umstand. Die Dicta Nietzsches, ›Gott ist tot‹, ›die Heideggers Distanzierung … | 187
Wüste wächst‹, ›weh dem, der keine Heimat hat‹, oder Hölderlins Rede vom ›Orcus‹, in dem ›wir wandeln‹, von der ›Fremde‹, den ›entflohenen Göttern‹ und dem ›Fehl heiliger Namen‹ sind für Heidegger Topoi von nahezu kanonischer Geltung, auf die er sich immer wieder bezieht. Entscheidend für das Verständnis des Heideggerschen Gegenparadigmas ist, daß seine Hermeneutik der Gottferne nicht mit einer Entscheidung für den Atheismus verwechselt werden darf. Theismus und Atheismus sind für Heidegger gleichermaßen Teile einer Alternative, die für ihn keine Bedeutung hat (vgl. GA 9,352 und 159 Anm.), und zwar deswegen, weil sie sich nur im Rahmen der Theo-logik stellt. Eine Entscheidung in der Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz eines göttlichen Wesens kann, wenn sie nicht rein dezisionistisch sein soll, nur im Rahmen eines vorauszusetzenden Urteils- und Begründungszusammenhangs erfolgen. Damit beinhaltet aber die Alternative von Theismus und Atheismus auch bereits eine bestimmte Festlegung in Hinblick auf den Seins- bzw. Zeitigungscharakter des Göttlichen. Im Horizont des Logos ist der Zeitcharakter des Intendierten stets der der reinen Präsenz bzw. Absenz. Im Urteil kann nur die (zeitlich begrenzte oder überzeitliche) bloße Präsenz bzw. Absenz in der Bejahung bzw. Verneinung zum Ausdruck gebracht werden (vgl. GA 40,201 f.). Die in der Empfindung sich ausdrückende Präsenz und Absenz hingegen hat einen gänzlich anderen phänomenalen Zeitcharakter. Die empfundene Präsenz (z. B. als Erfüllung oder als Bedrängnis) ist nicht denkbar ohne einen Horizont der Absenz. Das Jetzt-Hier ist in diesen Fällen durchdrungen vom gefühlsmäßigen Ausdruck des Zuvor-Nicht und des Dereinst-Vielleicht-Nichtmehr. Ebenso ist die empfundene Absenz (z. B. als Entzug oder als Befreiung) unmittelbar auch Empfindung hinsichtlich des Zuvor-Ja und des Dereinst-Vielleicht-Doch- Wieder. So ist, um ein Beispiel zu geben, Befreiung als ein Modus positiv empfundener Absenz wesenhaft zugleich der als Schrecken empfundene Nachklang eines vormals Bedrängenden sowie Angst vor dessen möglicher Wiederkehr. Entzug als negativ empfundene Absenz ist immer gepaart mit den Empfindungen wehmütiger Erinnerung (›Heimweh‹) einerseits und Hoffnung bzw.Erwartung oder Sehnsucht andererseits. Alle diese qualitativen Zeitcharaktere vermag das Urteil in sei188 | rainer thurnher
nen dürftigen Modi bloßer Bejahung oder Verneinung nicht auszudrücken. Es stellt in dieser Hinsicht eine erbarmungslose Reduktion und Nivellierung des in der Empfindung sich Ausdrückenden dar. In diesem Sinne ist für Heidegger alles ›Nein‹ gegenüber dem ›Nicht‹ und dem ›Nichten‹ ein abkünftiges Phänomen (GA 9,359): »Was nichtet, lichtet sich als das Nichthafte. Dieses kann im ›Nein‹ angesprochen werden. Das ›Nicht‹ entspringt keinesfalls aus dem Nein-sagen der Negation. Jenes ›Nein‹, das sich nicht als eigenwilliges Pochen auf die Setzungskraft der Subjektivität mißdeutet, […] antwortet auf den Anspruch des gelichteten Nichtens. Alles Nein ist nur die Bejahung des Nicht. Jede Bejahung beruht im Anerkennen.« Auf den hier zu behandelnden Zusammenhang bezogen bedeutet dies, daß eine Theologie der Gottferne und des Entzugs des Göttlichen etwas grundsätzlich Anderes, Ursprünglicheres und in seinen Perspektiven Offeneres ist, als der Atheismus. Der Atheismus verhält sich zur Theologie der Gottferne wie das Nein zum Nicht. Dieser gehört in die Theologik und verneint die Existenz Gottes. Jene hingegen hat die Hermeneutik eines bestimmten Entzugs, nämlich des Sich-Entzogen-Habens des Göttlichen zum Ausgangspunkt, von dem aus sie sowohl zurück auf ein Dagewesensein, hin auf ein Fehlen in der Gegenwart und voraus auf eine mögliche Ankunft blickt. In diesem Sinne sagt Heidegger in einem von ihm selbst veröffentlichten Brief an einen Studenten der Theologie (GA 7,185; vgl. ebd. 132; GA 4,178 und 169 f.): »Der Fehl Gottes und des Göttlichen ist Abwesenheit. Allein, Abwesenheit ist nicht nichts, sondern sie ist die gerade erst anzueignende Anwesenheit der verborgenen Fülle des Gewesenen und so versammelt Wesenden, des Göttlichen im Griechentum, im Prophetisch-Jüdischen, in der Predigt Jesu. Dieses Nicht-mehr ist in sich ein Noch-nicht der verhüllten Ankunft seines unausschöpfbaren Wesens.«
5. Wege der Besinnung Aus dieser Struktur ergeben sich, wie abschließend skizziert werden soll, die Möglichkeiten des Fragens, die Wege der Besinnung und die Aufgaben, die dieses theologische Paradigma mit Inhalt erfüllen können. Heideggers Distanzierung … | 189
So liegt in dem Paradigma einmal die Aufgabe angelegt, die Spuren des Göttlichen zu suchen, zu sichern und zu deuten; die Aufgabe, aus ihnen das Wesen des Göttlichen zu erahnen und so auch den Verlust zu ermessen und auf diese Weise den Entzug als Entzug näher zu bestimmen. Alles was, metaphorisch gesprochen, mit der Frage nach ›Heimat‹ und dem ›Wesen der Heimatlosigkeit‹ bei Heidegger zu tun hat, scheint hierher zu gehören. Hinsichtlich dieser Frage ist es jedoch nicht eigentlich der Denker, der das Wort hat, sondern der Dichter, wenngleich der Denker auf ihn hört und sich auf ihn berufen kann. 20 Entscheidend ist weiters die Frage, wie der Entzug des Göttlichen in der Gegenwart zu verstehen ist. Für Heidegger ist es die Seinsvergessenheit, die dazu führte, daß der Mensch sich am Göttlichen versehen mußte. So hat sich der ungöttliche Gott der Metaphysik, der Gott des vorstellenden Denkens, bildlich gesprochen, allmählich vor den ›göttlichen Gott‹ geschoben, so daß diesem ein Erscheinen versagt war. Der ›göttliche Gott‹ hat sich dem Menschen entzogen. Zugleich ist aber im Zuge der seinsgeschichtlichen Entwicklung auch der metaphysische Gott verblaßt. Der Gott der Metaphysik und die übersinnliche Welt des Platonismus haben in der säkularisierten Wirklichkeit der technisch verstandenen und eingerichteten Welt ihre Bedeutung und bestimmende Kraft eingebüßt. Es zeigt sich also, daß für Heidegger der Entzug des Göttlichen in der Gegenwart, die Gottferne der Gegenwart, nicht das Resultat eines einfachen Vorgangs ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis zweier sich überlagernder und ineinandergreifender Entwicklungen. Mithin wird auch deutlich, daß die Unterscheidung zwischen dem ›göttlichen Gott‹ und dem ›Gott der Metaphysik‹, wie sie sich aus Heideggers Kritik der Onto-theologie ergeben hat, für sein theologisches Gegenparadigma von tragender Bedeutung ist. Die Unterscheidung macht es Heidegger u. a. möglich, Hölderlins Rede von den ›entflohenen Göttern‹ auf den ›göttlichen Gott‹, Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ hingegen auf den ›Gott der Metaphysik‹ zu beziehen. Das Ereignis des Todes Gottes und die Erfahrung des Nihilismus erscheinen daher für Heidegger keineswegs in einem rein negativen Licht. Man darf nicht übersehen, daß sich Heideggers Nihilismusdeutung von der gängigen Nihilismuskritik wesentlich unterscheidet. Ausdrücklich wendet sich Heidegger mehrfach ge190 | rainer thurnher
gen die Auslegung des Nihilismus als Niedergang des Platonismus und als ›Verlust der Mitte‹. Für Heidegger ist der Nihilismus nicht das Ende einer großen Epoche, sondern »eine schon lange währende geschichtliche Bewegung […], deren Wesensgrund in der Metaphysik selbst ruht« (GA 5, 221). Im Nihilismus der Gegenwart enthüllt sich lediglich jener Grundzug der Seinsvergessenheit, der den Platonismus als solchen und die gesamte Bewegung der Metaphysik seit ihren Anfängen durchzieht.21 Die Empfindung der Gottferne wird so für Heidegger zum Anstoß, jenes »Enteignis« in seiner Herkunft zu bedenken, das nicht nur Gott, sondern alles Seiende in der Weise betrifft, daß ihm ein Erscheinen in seiner Ursprünglichkeit und Fülle versagt ist. In dieser Weise wird aber das Enteignis selbst zu einem einzigartigen Verweis auf das Geschick des Seins und auf die Möglichkeit anfänglicher Ereignung. Die Erfahrung der Gottferne nimmt das Denken in Anspruch, den metaphysischen Gott als solchen und damit die Metaphysik in ihrem Wesensbau als Ontotheologie und in ihrem Grundzug als Seinsvergessenheit zu begreifen. Ein Denken aber, das die Seinsvergessenheit als Seinsvergessenheit erfährt, ist auf dem Weg zu deren Verwindung und blickt voraus auf das »Ereignis« (WD 313): »Unheil als Unheil spurt uns das Heile. Heiles erwinkt rufend das Heilige. Heiliges bindet das Göttliche. Göttliches nähert den Gott.« Im Sich-lichten des Seins als ›Ereignis‹ ist für Heidegger das InsEigene-Kommen Gottes mitbeschlossen, insofern er ›Ereignis‹ als Ereignis des ›Gevierts‹ denkt, in dem Himmel und Erde, die Himmlischen und die Sterblichen in eine angemessene Weise des Zueinander und damit in ihr Eigenes finden sollen. So wird aus dieser Gegenwendung gegen die metaphysische Theologie also auch jene unübersehbare adventistische Grundhaltung verständlich, welche Heidegger mit Hölderlin verbindet (vgl. insbes. GA 4,172 ff.). Der Tod Gottes ist der Tod des metaphysischen Gottes. Insofern der Gott der Metaphysik aber den ›göttlichen Gott‹ verstellt hat, bedeutet der Tod Gottes die Möglichkeit, daß der Blick auf den in die Ferne gerückten ›göttlichen Gott‹ wiederum frei wird22 und daß dieser im ›Ereignis‹ sich zeitigt. In den Aufzeichnungen aus der Werkstatt schreibt Heidegger (GA 13,153): »Vergessen wir nicht zu früh das Wort Nietzsches aus dem Jahr 1886: ›Die Widerlegung Gottes – eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt.‹ Dies sagt Heideggers Distanzierung … | 191
für das sinnende Denken: Der Gott als Wert gedacht, und sei es der höchste, ist kein Gott. Also ist der Gott nicht tot. Denn seine Gottheit let.«
Anmerkungen 1 Vgl. Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1957,
jetzt in: GA 1, 55 f. (aufgenommen in das Vorwort zur ersten Ausgabe der ›Frühen Schriften‹ (1972) hier 56); vgl. ferner: GA 63,5. 2 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, 250–267. 3 Es handelt sich dabei um Vorarbeiten zu einer für das Wintersemester 1919/20 unter dem Titel Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik angekündigten, aber nicht abgehaltenen Vorlesung, die in den Band Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60,300–337 aufgenommen wurden. Zur Datierung der Texte vgl. Alfred Denker: Historical Dictionary of Heidegger’s Philosophy, 249 f. 4 Dies änderte sich um 1921, nachdem Heidegger sich Aristoteles erneut zugewandt hatte, im Original nunmehr und auf breiter Basis, und dabei auf Abhandlungen stieß, die sich als phänomenologische Untersuchungen zu Kernthemen der Hermeneutik der Faktizität auffassen ließen, wie etwa das VI. Buch der Nikomachischen Ethik mit seiner Behandlung der Phronesis, in der Zeitlichkeit und Durchsichtigkeit des Lebensvollzugs zu erkennen waren (vgl. GA 19,48–64; GA 62,376–386), oder die Rhetorik, die sich als »Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins« und als Phänomenologie der Befi ndlichkeiten (SuZ 138) lesen ließ. 5 Vgl. GA 60,327; ferner ebd. 320: »Gott in die Sphäre des Wissens gestellt als Grund des Erkennens und Erkannten ist nicht dasselbe wie des Frommen Art, Gott zu haben und um ihn zu wissen.« 6 Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation). Ausarbeitung für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (Herbst 1922). Mittlerweile abgedruckt als Anhang III in GA 62: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik. 7 Hervorh. R. Th .; vgl. auch GA 61,7; GA 58,205; GA 60,281 f. 8 Aus demselben Grund ist für den frühen Heidegger auch die protestantische Religionsphilosophie der katholischen vorzuziehen. Sie baut – an Luther anknüpfend und veranlaßt durch Kants Metaphysikkritik – »die Dogmatik auf die persönliche Gewißheit des religiösen Lebens auf« (GA 60,22). 9 Vgl. GA 60,309; vgl. ebd. 307.324.333.336. 10 GA 60,336 f.; vgl. ebd. 317 f. 11 GA 60,336. 192 | rainer thurnher
GA 60,316 ff. Ebd. 318; vgl. 304.308 f.314. 336. 14 Zustimmendes Zitat Heideggers aus Johannes Ficker (Hg.): Anfänge historischer Bibelauslegung, LXXXIII, in: GA 60,309. 15 Vgl. dazu insbes. GA 61,2,195 ff.; GA 9,66; GA 60,173; GA 64,107. 16 Vgl. SuZ 222: »Das Aufgehen im Man bedeutet die Herrschaft der öffentlichen Ausgelegtheit. Das Entdeckte und Erschlossene steht im Modus der Verstelltheit und Verschlossenheit durch das Gerede, die Neugier und die Zweideutigkeit. Das Sein zum Seienden ist nicht ausgelöscht, aber entwurzelt. Das Seiende ist nicht völlig verborgen, sondern gerade entdeckt, aber zugleich verstellt; es zeigt sich – aber im Modus des Scheins.« Der »Zugang zum Phänomen« ist daher nur möglich im kritisch sichtenden »Durchgang durch die herrschenden Verdeckungen« (SuZ 36; vgl. SuZ 129 und 67). 17 Heidegger führt diese Verengung auf den Übersetzungsvorgang des griechisch Gedachten in die Römische Philosophie und deren Vorstellungshorizont zurück. Vgl. GA 7,43; GA 6.2,375 ff. 18 Vgl. dazu Rainer Thurnher: Bemerkungen zu Heideggers theologischer Abstinenz vor der ›Kehre‹. 19 Um dies aufzuzeigen bedürfte es an dieser Stelle einer eingehenden Interpretation des Kapitels ›Die existenziale Konstitution des Da‹ in Sein und Zeit (SuZ 134–166). Diese hätte aufzuzeigen, inwiefern in Heideggers existenzialer Interpretation von Befindlichkeit, Verstehen und Rede die im metaphysischen Denken kanonisch gewordene Rangordnung der ›seelischen Vermögen‹, i. e. Denken, Wollen und Fühlen, eine Umkehrung erfährt. Die Offenheit des ›Da‹ konstituiert sich dabei primär in der Befi ndlichkeit und im Verstehen, während der Logos als Aussage diese primäre Erschlossenheit je schon voraussetzt; vgl. insbes. SuZ 157,161,226; vgl. ferner Rainer Thurnher: Martin Heidegger, bes. 223–225. 20 Vgl. WD 251: »Dichter sein in dürft iger Zeit heißt: singend auf die Spur der entflohenen Götter zu achten«; WD 294: »[die Dichter] bringen den Sterblichen die Spur der entflohenen Götter in das Finstere der Weltnacht.«; vgl. ferner GA 9,311 f.; GA 4,42. 21 Vgl. dazu Rainer Thurnher: Diagnose und Verwindung des Nihilismus bei Martin Heidegger. 22 Mit diesen Ausführungen sollte nicht zuletzt deutlich gemacht werden, daß es Heidegger um ein von den metaphysischen Implikationen nicht mehr belastetes Vorverständnis der Göttlichkeit Gottes geht. Es gilt, wie ich meine, zu beachten, daß sich Heideggers Äußerungen im Bereich philosophischer Kritik und philosophischen Vor-Denkens bewegen. Aus diesem Grund scheint mir jede gegenständliche Interpretation seiner theologischen Aussagen verfehlt zu sein. Heidegger geht es auch dort, wo seine Sprache das Gegenteil nahezulegen scheint, weder um neopaganistische Schwärmerei noch gar um die Verkündigung einer neuen Religion. Die Titel ›Gott der Philosophie‹ und 12 13
Heideggers Distanzierung … | 193
›göttlicher Gott‹ (bzw. ›letzter Gott‹) beziehen sich nicht unmittelbar auf irgendwelche Wesenheiten, sondern bezeichnen Möglichkeiten menschlichen Vorverständnisses in Hinblick auf das Göttliche. Eine »Kritik der Theologie«, so sagt Heidegger ausdrücklich, ist nicht gleichzusetzen mit einer »Kritik des Glaubens […], dessen Auslegung die Theologie sein sollte« (NWGit 203).
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– Albert Raffelt –
Martin Heidegger und die christliche Theologie Eine Orientierung mit Blick auf die katholische Rezeption
1. Heideggers theologische Herkunft Man muß sich immer wieder klarmachen, daß Martin Heideggers Bildungsgang eine stark kirchliche Prägung hat: die Bedeutung des Pfarrers, des kleinen Seminars, das kurze Jesuitennoviziat, das Theologiestudium in Freiburg … Auch die Absichten des nun für die Philosophie entschiedenen Privatdozenten gehen ja zunächst in Richtung Theologie. Husserl sucht Heidegger zur Religionsphänomenologie hin zu orientieren. Schließlich bedeutet der Bruch mit dem kirchlichen Lehrsystem auch noch keinen Bruch mit der Theologie als solcher.1 Inzwischen ist dieser Weg Heideggers intensiv aufgearbeitet worden.2 Es ist fast unvermeidlich, Heideggers Diktum »Herkunft aber bleibt stets Zukunft« zu zitieren (UzS 96).
2. Heideggers Anziehungskraft für Theologen Sieht man auf die Bibliographie der Sekundärliteratur, so fällt auf, daß schon Heideggers frühe Arbeiten in theologischen Zeitschriften rezensiert werden.3 Die Franziskaner interessieren sich für (Pseudo-) Duns Scotus, aber auch der Dogmengeschichtlicher Reinhold Seeberg auf evangelischer Seite rezensiert Heidegger. Nach Erscheinen von Sein und Zeit wächst das Interesse schnell an. Heinrich Barth schreibt über Heidegger in der Zeitschrift der ›Dialektischen Theologie‹ Zwischen den Zeiten, der Jesuit Erich Przywara wird auf Heidegger ebenso aufmerksam wie der katholische Philosoph Peter Wust. Daß Rudolf Bultmann schon 1928 einen Heidegger-Artikel in der Enzyklopädie Die Religion in Geschichte und Gegenwart schreibt – über den noch nicht 40jährigen, dessen Sein und Zeit gerade erst | 195
erschienen war –, dürfte ungewöhnlich sein. Sein Fazit dort: »H.s Arbeit hat weder theologische noch weltanschauliche Absichten; wohl aber liegen in ihr Ansätze, die für eine ontologische Grundlegung der Theologie als Wissenschaft fruchtbar sind«.4
3. Die frühe protestantische Rezeption Zur inhaltlichen theologischen Heidegger-Rezeption fällt jedem Beobachter zunächst Rudolf Bultmann ein. Es ist die spektakulärste Adaptation, die zudem die aufsehenerregendsten Folgen in der Theologie hatte. Es ist aber auch die meistbearbeitete,5 weshalb wir sie hier nicht darstellen wollen, obwohl konkrete Textinterpretationen hier auch heute noch Überraschungen liefern.6 1924 war auch Paul Tillich an der Universität Marburg. Auch bei ihm ist eine Heidegger-Rezeption festzustellen. Das gilt wohl vor allem hinsichtlich des Bedenkens der Seinsfrage bis in die Systematische Theologie Paul Tillichs, wobei die Theologie gewissermaßen als Antwort auf die Leerstelle der »existentialistischen« Philosophie (Sartre eingeschlossen) gesehen wird.7 Ich möchte aber hier diese schon verschiedentlich dargestellten Rezeptionslinien ausblenden, ebenso wie die von Bultmann ausgehende exegetische – wofür vor allem Heinrich Schlier (und damit natürlich auch noch ein Stück ›katholischer‹ Rezeption) zu nennen wäre –8 wie die weiterführende Rezeption in der hermeneutischen Theologie von Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling, von wo aus die Linie bis zu Eberhard Jüngel zu ziehen wäre.
4. Die erste katholische Reaktion Die katholische Heidegger-Rezeption ist demgegenüber wesentlich unspektakulärer. Sie beruht auch auf anderen Bedingungen. Eine so direkte Übernahme in die eigentlich theologische Arbeit war von der schultheologischen Organisation der katholischen Theologie aus gar nicht möglich. Die philosophische Normierung der katholischen Theologie seit Aeterni patris Leo XIII. (1879; vgl. DH 3135–3140) und vollends seit den Entscheidungen unter dem für die 196 | albert raffelt
Theologie so problematischen Pontifikat von Pius X. – vom jungen Heidegger giftig kommentiert –9 machte es außerordentlich schwierig, ein genuines philosophisches Denken im Gespräch mit der Gegenwartsphilosophie im katholischen Raum durchzuführen.10 Als Beobachter der geistigen Situation der Zeit hat Erich Przywara als erster renommierter katholischer Theologe Heidegger in seiner Bedeutung auch für die Theologie wahrgenommen.11 Przywara ist ein aufmerksamer Beobachter der geistesgeschichtlichen Situation, selbst – was die neuere Philosophie angeht – von der Phänomenologie geprägt, aber kein Fachtheologe. Sein eruptives Philosophieren ist voll von Anregungen, wie aus der nächsten (Halb-) Generation vor allem Hans Urs von Balthasar12 wie Karl Rahner13 bezeugt haben. Die Priorität der ersten systematischen Arbeit aus katholischer Sicht über Heidegger hat Alfred Delp SJ mit seiner – auf einen Buchbeitrag für eine Publikation seines Lehrer Bernhard Jansen SJ zurückgehenden14 – Arbeit Tragische Existenz. Zur Philosophie Martin Heideggers.15 Delp ordnet Heideggers Philosophie in die existentielle Situation (»Not der Zeit«) ein und sieht sie in einer von Luther und Kant16 ausgelösten Bewegung der Subjektivierung, des Auseinanderreißens der Vernunft (theoretische / praktische) und des Antirationalismus eingeordnet. Sie schließt den Menschen in seiner Endlichkeit ein, ist so »tragischer Finitismus« (ebd. 131). Heideggers Philosophie wird letztlich auf ihre weltanschauliche Wirkung reduziert – plakativ mit einer Zitation von Hans Naumanns Germanischer Schicksalsglaube (1934) –,17 als thetische Aussage gelesen, und hat für Delp ihre philosophische Aufgabe verfehlt, trotz der in ihr enthaltenen positiven methodischen Impulse (vgl. ebd. 128 ff.). Delp sagt (143): »So bliebe jetzt nur noch übrig, eine neue ›Analytik des Daseins‹ zu unternehmen, eine Analytik des gesund endlichen Daseins und dann auch eine Analytik des gläubigen Daseins«.18 Hans Urs von Balthasar hat in seiner magistralen germanistischen Dissertation Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen (1937–1939)19 Heidegger umfangreich in Gegenüberstellung zu Rilke interpretiert.20 In Kurzform hat er zudem Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus dargestellt. Dieser Aufsatz enthält eine Gegenüberstellung von griechischem Denken als »Entfaltung der Sphäre des Allgemeinen und Martin Heidegger und die christliche Theologie | 197
Wesenhaften« (5), gegen das die christliche Betonung des Partikulären ankämpfen mußte (6): »Und so möchte es scheinen, daß der lange Kampf zwischen griechischem und christlichem Geist, der die Jahrhunderte der christlichen Denkgeschichte ausfüllt und der ein Kampf um die Rechte des Partikulären gegenüber der Alleinherrschaft des Allgemeinen war, schließlich folgerichtig zu Heidegger führen mußte, daß dieser also, in einem gewissen Sinn, den Durchbruch des unterscheidend Christlichen im Denken darstellte.« Dagegen steht das ›gegenchristliche Gesicht‹ (6) der Heideggerschen Philosophie, »daß sie die Säkularisierung christlicher Gedanken ist mit der Bestrebung, die Welt neuerdings in sich zu schließen und absolut zu setzen« (6). Und so erklärt sich das knappe Fazit (8): »Wir sagen gegen Heidegger: Endlichkeit ist als solche nicht gleichbedeutend mit Vollkommenheit«, es gibt eine »gute Endlichkeit« analog der guten und schlechten Unendlichkeit (ebd.): »Durch seine Absolutsetzung der Endlichkeit und des Nichts war Heidegger gezwungen, dieses ›Absolute‹ auf jenen Wegen sichtbar werden zu lassen, die den Menschen auf seine Endlichkeit zurückwerfen, ihn in sie verschließen: durch die reine Erfahrung der Angst, der Sorge, des Todes.« Es ist letztlich eine weltanschauliche Kritik Heideggers, die zudem bei aller Breite der Kenntnisse, die sich in der großen Darstellung in der Apokalypse der deutschen Seele zeigt, Heidegger doch auf einen inhaltlichen Standpunkt reduziert und die so gedeutete Philosophie natürlich ablehnt.21 Im folgenden möchte ich Beispielen nachgehen, die m.E. zeigen, wie Heideggers Philosophie im eigentlich theologischen – nicht nur philosophischen – Denken in der katholischen Theologie Auswirkungen hatte, die nicht so an der Oberfläche liegen, aber dennoch gewichtig sind. Daß alle Beispiele aus dem Freiburger Umkreis stammen, ist m. E. weniger verwunderlich.
5. Erstes Beispiel: Karl Rahner – bewußte und unbewußte Abhängigkeit Karl Rahners Bezug zu Heidegger ist einerseits einfach zu benennen. Er studierte als Promovend 1934–1936 in Freiburg und sagte später selber, »daß er zwar viele gute Schulmeister des mündlichen 198 | albert raffelt
Wortes hatte, aber nur einen, den er als seinen Lehrer verehren kann, eben Martin Heidegger«.22 Die emphatische Aussage wird aber in verschiedenen Äußerungen folgendermaßen präzisiert, etwa 1981 (SW 31,306): »Ich würde auch sagen, daß ich Heidegger für das verpflichtet bin, was in meiner Theologie ein bißchen an Philosophie enthalten ist; aber daß das eigentlich Theologische, die eigentlich theologische Gegenständlichkeit und Aufgabe so sehr von Heidegger beeinflußt und abhängig ist, das möchte ich eigentlich bezweifeln.« Berechtigung und Grenze dieser Aussage sind zu befragen; denn die Beziehung im einzelnen ist etwas komplizierter. Sie ist in (mindestens) zwei Phasen zu unterteilen: das direkte Schüler verhältnis mit der Rezeption des damaligen Heideggerschen Denkens und spätere sachliche Parallelen, die z. T. aus dieser Herkunft, z. T. vielleicht auch durch Informationen über Heidegger, vor allem aber aus dem selbständigen Weiterdenken Rahners zu deuten sind. Rahner bezieht sich grundlegend auf den Heidegger im Umkreis von Sein und Zeit. Allerdings hat er spätere Publikationen und Vorträge durchaus wahrgenommen, wie unten noch zu sehen ist. Die gemeinsame Studienzeit mit Johann Baptist Lotz SJ in Freiburg und die Promotionsabsicht bei Martin Honecker wurde nicht von diesem, sondern von Martin Heidegger sachlich geprägt, so daß auch ein intendierter Wechsel während des philosophischen Studiums zu Nicolai Hartmann nicht vollzogen wurde. Der Einfluß Heideggers ist nicht nur bei den beiden Jesuiten, sondern auch bei den gleichzeitig bei Heidegger studierenden Kommilitonen Max Müller und Gustav Siewerth deutlich, so daß Erich Przywara SJ von einer katholischen Heidegger-Schule sprach. Rahners als Dissertation dann wegen der Einwände Honeckers nicht eingereichte Arbeit Geist in Welt ist eine Thomas-Interpretation im Gespräch mit der nachkantianischen Philosophie. Sie zeigt einerseits die Schwierigkeit der innerkirchlichen Positionierung, indem am Maßstab des Thomas die eigene Position dargestellt werden mußte,23 anderseits Rahners Bemühen um einen genuinen denkerischen Zugriff. Geist in Welt ist seinerseits von der Thomas-Deutung der französischsprachigen Jesuiten Pierre Rousselot und Joseph Maréchal abhängig. Eine Interpretation bloß aus dieser Richtung verkennt aber den Eigenbeitrag, der seinerseits Heidegger rezipiert. Martin Heidegger und die christliche Theologie | 199
Die Überarbeitung des Werkes durch Johann Baptist Metz hat dies verunklart. Sie liest Geist in Welt von der Position Emerich Coreths aus. Der Einsatz bei der Seinsfrage wird zum transzendentalen Ausgangspunkt der Frage an sich. Metz[-Rahner] schreibt (SW 2,54): »Der Mensch fragt. Dies ist ein Letztes und Irreduktibles. Die Frage im menschlichen Dasein ist nämlich jenes Faktum, das sich absolut verweigert, durch ein anderes Faktum ersetzt, auf ein anderes Faktum zurückgestellt und so selbst noch einmal in seiner Abkünftigkeit und Vorläufigkeit entlarvt zu werden«. Die erste Auflage beginnt diesen Abschnitt jedoch folgendermaßen: »Jede Frage hat ein Woher ihres Beginnens. Also auch die metaphysische Frage. Aber damit sind wir schon mitten in der Fraglichkeit der metaphysischen Frage. Denn von woher sollte solches Fragen seinen Gang antreten […]. So kann die Metaphysik den Anfang des Fragens nur im Fragen selbst nehmen, in der Notwendigkeit des Fragens nach dem Sein im Ganzen.«24 Max Müller hat Rahners Arbeit als »eine ›existential-anthropologische‹ Deutung der menschlichen Erkenntnis bei Thomas« (29)25 gekennzeichnet und die Differenz zum damaligen – bzw. späteren! – Denken Heideggers herauszuarbeiten versucht. Er schreibt, um den Gegensatz klar zu machen (29): »Es ging Heidegger [damals] nicht um die Konstruktion eines immer gleichen apriorischen Vor-Entwurfs für jedes innerweltliche und eventuell auch überweltliche ›a posteriori‹ wie in der Lichtlehre der klassischen Metaphysik, wo das unveränderliche ›lumen naturale‹, als ›lumen intellectus agentis‹ zur Struktur und Natur des Menschen gehörig, Raum schafft für jede wie immer auch geartete Erfahrung. In seiner ›Seinsgeschichte‹ geht es Heidegger nicht um Natur, Struktur oder Wesenheit, sondern um das je neue Ur-‹Ereignis‹, aus welchem die Menschlichkeit des Menschen hervorging und je neu hervorgeht.« Das mag so stehen bleiben. Rahner ist sicher von dem Heidegger von Sein und Zeit und den Vorlesungen und Seminaren von WS 1934/35 bis SS 1936 beeinflußt.26 Daß Rahner die Bedeutung der Hölderlin-Vorlesung für Heideggers weiteren Weg nicht gesehen haben mag und vielleicht auch nicht die kritischen Brüche bei Heidegger in diesem Zeitraum, braucht nicht bestritten zu werden. Allerdings 200 | albert raffelt
ist im genannten Kontext doch eine größere Nähe zu Heidegger geblieben, als Müller suggeriert, wie sich noch zeigen wird. In Geist in Welt selbst taucht der Name Heideggers nur in der Einleitung auf mit dem Hinweis, daß eine »ausdrückliche, eingehende Konfrontierumg der modernen Philosophie von Kant bis Heidegger mit Thomas« in dem Buch nicht geleistet werden soll (SW 2,14). Eine genauere Analyse der Arbeit zeigt aber in der Terminologie wie im sachlichen Argumentieren, daß der Heidegger zumindest bis zur Freiburger Antrittsvorlesung vielfach im Hintergrund steht.27 Rahners Beschäftigung mit Heidegger war sehr intensiv; es ist nachweisbar, daß er sogar die frühen Gedichte kannte und daß er Vorlesungsnachschriften Dritter studiert hat (vgl. SW 2,XXIX). Eine direkte Heidegger-Deutung hat er in dem Aufsatz Introduction au concept de philosophie existentiale chez Heidegger 1940 vorgelegt. Sie ist eine der ersten selbständigen Darstellungen Heideggers in Frankreich.28 Die Arbeit ist eine Erläuterung der Heideggerschen Philosophie von Sein und Zeit bis zu den ersten Freiburger Jahren. Rahner geht am Schluß auf die Unbestimmtheit der Gottesfrage im Denken Heideggers ein. Bemerkenswert ist, daß er die Tendenz der Philosophie Heideggers positiv offenhält. Das unterscheidet ihn auch von der sonstigen damaligen katholischen Rezeption. Er stellt die damaligen Möglichkeiten als Alternative dar (SW 2,344 f.): »Wir haben am Beginn dieser Darstellung darauf verzichtet, ihr die Gestalt einer Konfrontation des Existenzialismus mit anderen Systemen zu geben. Um so weniger wollen wir ihn hier vom christlichen Standpunkt aus kritisieren. Es genügt uns, weiter oben angedeutet zu haben, wie seine letzte – noch nicht bekannte – Option für Gott oder für das Nichts ihm entweder einen radikal atheistischen oder zutiefst religiösen Sinn geben kann: Wenn radikaler Atheismus – wie zu fürchten – das letzte Wort dieser Anthropologie ist, muß Endlichkeit, Nichts auch das letzte Wort der künftigen Ontologie sein. Einer solchen Philosophie könnte man in diesem Fall als Motto die Worte aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse geben: ›Für das Nichts Gott opfern – dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart: wir alle kennen schon etwas davon. – ‹, in der geheimen Versuchung, Martin Heidegger und die christliche Theologie | 201
daß wir von Natur aus die Finsternis dem Licht vorziehen, dennoch wohl wissend, daß es zugleich größere Freude und größeren Heroismus inmitten des Mysteriums der Grausamkeit, das heute apokalyptische Ausmaße annimmt, gibt, die Sache Gottes zu ergreifen, der der Unendliche und das Endziel seines Geschöpfs ist. Zutiefst religiöser und christlicher Sinn, wenn im letzten Stadium dieser Analytik das erste a priori der menschlichen Transzendenz sich als die Unendlichkeit des Absoluten offenbart, wenn das wirkliche Geschick des Menschen dann eine Wahl zwischen dem ewigen Tod und dem ewigen Leben vor Gott würde und nicht eine bloße Entschlossenheit zum Nichts. Den Menschen von der reinen Idee zu lösen und ihn in seine eigene Existenz und die Geschichte zu werfen, wie es Heidegger tut, hieße dann, ihn im Grunde vorzubereiten und im Voraus aufmerksam zu machen auf die – historische und existentielle – Tatsache einer göttlichen Offenbarung, ihn für den ›Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs‹ zu öffnen, das ›vernommene, beschaute und – von den Händen der Menschen – berührte Wort des Lebens, Jesus von Nazareth‹.« Mag der Zugriff von einem Theologen von Heidegger aus gesehen zu direkt formuliert sein, so ist der letzte Satz – »Den Menschen von der reinen Idee zu lösen und ihn in seine eigene Existenz und die Geschichte zu werfen« – doch auch in der Sicht Heideggers bemerkenswert. Er wäre lesbar auf dem Hintergrund von Heideggers Vorlesung Phänomenologie und Theologie und ließe die Theologie gegenüber der Phänomenologie ihre Aufgabe tun – mit FriedrichWilhelm von Herrmann formuliert: »Je radikaler die hermeneutisch-phänomenologische Aufschließung des Daseins sich vollzieht, je ursprünglicher die Endlichkeit des Daseins offengelegt wird, desto vernehmbarer wird der aus der Offenbarung ergehende Anruf an die selbsthaft verfaßte Existenz.«29 Bemerkenswert dürfte auch sein, daß die positive Alternative in Rahners Heidegger-Deutung mit dem Schluß seines eigenen Programms in Geist und Welt übereinstimmt (SW 2,300): »Und wenn 202 | albert raffelt
Christentum nicht Idee ewigen, immer gegenwärtigen Geistes ist, sondern Jesus von Nazareth, dann ist des Thomas Metaphysik der Erkenntnis christlich, wenn sie den Menschen zurückruft in das Da und Jetzt seiner endlichen Welt, da auch der Ewige in sie einging, damit der Mensch ihn finde.«30 Sieht man in die Arbeiten der ersten Arbeitsphase Karl Rahners, so kann man gelegentliche ›Heideggerismen‹ der Terminologie konstatieren. Rahner hat sie zum Teil bei Wiederabdrucken eliminiert.31 Bei manchen theologischen Themen – etwa der Theologie des Todes – könnte man nach Bezügen suchen (im übrigen wohl eher in Lehrveranstaltungen, soweit dokumentiert, als in den Publikationen). Rahners späte Bemerkung »Heidegger hat in einer Sprache gesprochen, die zum Teil durchaus auch in einer Theologie verwendet werden kann« (SW 31,307), legte eine solche Suche nahe. Doch sollen statt dessen zwei andere Punkte betrachtet werden. Karl Lehmann hat gesprächsweise schon früher darauf hingewiesen, daß Rahners großer Aufsatz – es handelt sich um drei Vorlesungen – Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie aus der Przywara-Festschrift von 1959 eine Nähe zum späteren Heidegger zeige. Die Themenauswahl für die Festschrift ist inhaltlich gesehen nicht zufällig, ist doch Przywara der große Interpret des Lateranense IV. mit seiner Spitzenaussage »quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo nominis« (DH 806). Aber auch auf einen formalen Aspekt soll hingewiesen werden. Rahner sieht seine Arbeit auch als einen Versuch an, die Dogmatik nicht »als eine sehr komplizierte Sammlung von willkürlich verfügten Sätzen« erscheinen zu lassen, die dem Menschen von heute suspekt erscheinen müssen, sondern die Glaubenslehre als ein »geheimnisvoll Einfaches von unendlicher Fülle« darzustellen (SW 12,101 f.). In einem Interview von 1965 sieht er genau in dieser Fähigkeit etwas bei Heidegger Gelerntes (SW 31,7/9): »einen Stil zu denken und zu forschen, einen Stil, der sich als überaus wertvoll erwiesen hat. Dieser Stil kann beschrieben werden als ein Verfahren oder eine Annäherungsmethode, aufgrund deren man dogmatische Wahrheiten nicht untersucht als bloß Martin Heidegger und die christliche Theologie | 203
evidente Gegebenheiten, die aus den positiven Quellen resultieren, sondern man bemüht sich, eine Synthese zu schaffen. Man nimmt die verschiedenen dogmatischen Lehrsätze und führt sie zurück auf gewisse fundamentale Prinzipien. Auf diese Weise wird eine innerlich kohärente Gestalt dogmatischer Wahrheiten begründet. Der moderne Mensch wird somit fähig, die Ordnung und Harmonie in den geheimnisvollen Wahrheiten von Kirche und Christentum zu durchschauen.« Doch gibt es in unterschiedlicher Sprachgestalt hier auch eine sachliche Nähe zu Heidegger, Rahner destruiert den extrinsezistischen Begriff der mysteria in der Schultheologie im Sinne von noch unverstandenen Sätzen und sucht die »ratio« selbst »als Vermögen des Anwesenlassens des Geheimnisses schlechthin« zu bestimmen (SW 12,105): »Wie, wenn das Geheimnis gar nicht als das bloß Vorläufige, sondern als das Ursprüngliche und Bleibende verstanden werden muß, so sehr, daß das Geheimnislose, das Übersehen des Geheimnisses, das Sichherumtreiben im scheinbar Durchschauten und Begriffenen sich als das Vorläufige zeigt, das vergeht vor der immer radikaleren Enthüllung des bleibenden Geheimnisses als eines solchen vor der endlichen Vernunft.« Die Nähe zu Heidegger läßt sich nun auch philologisch durch die elektronisch publizierten Seminar-Nachschriften von Otto Schärpf SJ belegen, hier das Seminar über das Geheimnis von 1957/58.32 Rahner verweist auf den ›letzten Vortrag Heideggers vom Juli dieses Jahres‹.33 Es ist der Festvortrag zum 500jährigen Bestehen der Universität Freiburg Der Satz der Identität vom 27. Juni 1957. Rahner »zitiert« daraus, daß »der Grund für den Menschen der Abgrund sei«.34 Es soll natürlich keine Identität der Aussagen behauptet werden. Es wird damit keine »wilde Heideggerei in die Dogmatik hinein getragen«, wie Rahner anderswo sagt,35 wohl aber läßt sich eine Nähe feststellen. Zunächst ohne philologische Absicherung arbeiten wir, wenn wir nun den Grundkurs des Glaubens (als Buch 1976) in Blick nehmen. Dennoch meine ich, an diesem zusammenfassenden Werk Rahners deutliche Anstöße von Heidegger ausmachen zu können.36 204 | albert raffelt
Mir fiel dies besonders bei neuerlicher Lektüre der ersten Gänge dieses Werkes auf, in denen die Anthropologie aus Hörer des Wortes bzw. des auf Transzendenz angelegten Menschen entwickelt wird. Heideggers Analysen der Befindlichkeit und Gestimmtheit kommen einem hier sofort in den Sinn. Falls es dafür doch einen philologischen Beleg gibt, so ist er im Artikel Befindlichkeit im Kleinen theologischen Wörterbuch zu finden, das Rahner mit Herbert Vorgrimler zusammen veröffentlicht hat, wobei die Anteile nicht immer zu scheiden sind. Der Artikel lautet (KTW 45; SW 17/1,499): »Befindlichkeit ist ein Begriff in M. Heideggers Philosophie, der das Vor-sich-selbst-gebracht-Sein des menschlichen Daseins, ein ›gestimmtes‹ Sichbefinden bezeichnet, nicht die Reflexion über das Sich-Vorfinden, u. darum weder ein Gefühl noch eine Stimmung, sondern eine Grundverfassung, gekennzeichnet durch ›Geworfenheit‹ u. ›In-der-Welt-Sein‹, aussagt. Das mit diesem dem biblischen Begriff des ›Herzens‹ verwandten Begriff Gemeinte ist für die kath. Theologie bedeutsam, weil damit erkannt u. ausgesagt ist: Wenn der Mensch mit der Reflexion über seine Geschichtlichkeit ansetzt, ›befindet‹ er sich bereits als Person, die mit ihrer Subjektivität auch schon ihre Freiheit vollzogen hat. Spätere Reflexionen (z. B. über den Glauben, über das Gewissen, über die Erfahrung der Gnade), Entscheidungen u. Verhaltungen können diese Grundentscheidung nie adäquat reflektieren bzw. aufheben, erst recht nicht zwischen Subjekt u. reflektiertem Subjektsvollzug adäquat unterscheiden.« Daß der Bezug zum eigenen Denken Rahners nicht willkürlich ist, zeigt eine genauere Durchsicht dieses Wörterbuchs. Der Begriff taucht nicht nur bei ›Heideggerschen‹ Lemmata wie Angst auf, sondern findet sich in zentralen Artikeln wie Anthropologie, Existentialethik oder dem typischen Rahner-Eintrag Formalobjekt, übernatürliches oder pointiert – und den Grundkurs-Eindruck bestätigend – im Artikel Gottesbeweis (KTW 148; SW 17/1,608 f.): »Der einzelne Mensch erfährt diese unentrinnbare Grundverfassung seines geistigen Daseins in der je individuellen Grundbefindlichkeit (→ Befindlichkeit) seines Daseins: als ungreifbar Martin Heidegger und die christliche Theologie | 205
lichte Helle seines Geistes, als Ermöglichung der absoluten Fraglichkeit, die der Mensch sich selber gegenüber vollzieht u. in der er sich selbst radikal übergreift, in der nichtigenden Angst (die etwas anderes ist als gegenständliche Furcht), in der Freude, die keinen Namen mehr hat, in der sittlichen Verpflichtung, in der der Mensch wirklich von sich abspringt, in der Erfahrung des Todes, in der er um seine absolute Entmächtigung weiß: in diesen u. vielen anderen Weisen der transzendentalen Grunderfahrung des Daseins west an (ohne ›geschaut‹ zu werden), was alles ist (u. darum erst recht Person) u. was der Mensch als den Grund seines geistigen Daseins erfährt, ohne sich selbst, den Endlichen, mit diesem Grund identifizieren zu dürfen.« Daß damit Heideggersche Anstöße auch direkt in höchst traditionelle theologische Themen eindringen, zeigen etwa die Artikel Paradies und Sünde oder Wissen Christi.37 Der Befund ließe sich von anderer Seite durch die Seminarmitschriften von Otto Schärpf bestätigen. Im mündlichen Vortrag fällt der Name Heidegger manchmal beiläufig. In unserem Zusammenhang der Transzendenzerfahrung – um den Rahnerschen Begriff zu verwenden – etwa im Seminar über Natur und Gnade 1956/57. Es ist schon an sich erstaunlich, daß Befindlichkeit in einem ›theologischen Wörterbuch‹, noch dazu in einem ›kleinen‹, enthalten ist, wo es doch als Begriff in der monumentalen TRE nicht einmal im Sachregister auftaucht – und auch für die RGG3 und RGG4 gilt dieser Befund, was merkwürdig ist, da zumindest die von der ›hermeneutischen Theologie‹ nach Bultmann geprägte dritte Auflage doch hier ebenfalls Bezüge hätte. Es ist bekannt, daß das KTW im ersten Teil auf Artikeln des LThK2 basiert. Und hier kommen wir tatsächlich noch einen Schritt weiter. Der Artikel von Johann Baptist Metz bietet nun nicht nur einen Heidegger-Hinweis, sondern fragt auch nach dem Ort des Phänomens in einer »thomist. Anthropologie«.38 Als Fazit: Ich möchte die These wagen, daß Rahners Anthropologie ganz wesentliche Anstöße von Heidegger empfangen hat. Rahner hat sie allerdings in höchst selbständiger Weise verarbeitet, so daß auch die Sparsamkeit der Belege sich erklärt. Und selbstverständlich kommen andere Quellen, etwa aus der geistlichen Tradition, 206 | albert raffelt
z. B. aus patristischen und mittelalterlichen Theologien oder aus den Schriften des Ignatius von Loyola hinzu. Aber strukturierende Elemente dürften doch auf den Einfluß Heideggers zurückzuführen sein. Die lexikalische Tradition im Umkreis Rahners ist im übrigen bedeutsamer, als es zunächst scheinen mag, da sie den Sachverhalt bis in Quisquilien der Theologie aufzeigt. Rahners Aussage, daß er hier inhaltlich nichts von Heidegger übernehmen konnte, sondern bei ihm eine gewisse Art zu denken gelernt habe, ist zwar richtig, aber insofern zu differenzieren, als dieses Denken eben dann auch spezifisch theologische Sachverhalte betrifft.
6. Zweites Beispiel: Bernhard Welte – der Phänomenologe des Heiligen Die Beziehung Bernhard Weltes zu Heidegger ist direkter als die Rahners. Die gemeinsame Meßkircher Herkunft bedeutet zeitlebens eine menschliche Verbindung. Welte stellt sich viel direkter als Rahner in die Denkbewegung Heideggers und ist wesentlich von ihm geprägt. Im Gegensatz zu Rahner – sieht man von dessen frühem Aufsatz ab – publiziert er auch vielfältig zu Heidegger. Geht man von den Publikationen Weltes zu Heidegger aus, so beginnt die Reihe kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.39 Drei Fragestellungen seien angesprochen: Die grundlegende Heidegger-Interpretation Weltes und Weltes eigene Phänomenologie des Heiligen; die Bemühungen um die Gottesfrage im Denken Heideggers, und schließlich die Bedeutung Heideggers für Weltes eigene Theologie, exemplifiziert an seinen christologischen Versuchen.
6.1 Weltes grundlegende Sicht Heideggers In seinem Aufsatz Die Lichtung des Seins hat Welte schon 1948 die Grundlinien seiner Heidegger-Interpretation deutlich gemacht (GS 2/2,105–119). Der Aufsatz richtet sich zum einen gegen damals gängige Vorurteile, wie den des ›Existentialismus‹, er insistiert auf der fundamentalontologischen Absicht Heideggers und seiner phänomenologischen Methode und interpretiert insbesondere die im kaMartin Heidegger und die christliche Theologie | 207
tholischen Raum so stark ›weltanschaulich‹ interpretierten Begriffe der Angst und des Nichts. Es ist die bei weitem positivste Darstellung und Aufnahme Heideggers innerhalb der katholischen Theologie und Philosophie dieser Zeit.40 Bei Welte fehlt völlig die sonst fast durchgängige ›weltanschauliche‹ Interpretation Heideggers. In seinen ersten großen Sammelband Auf der Spur des Ewigen hat Welte den Aufsatz Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (1964) mit aufgenommen (vgl. dort 262–276). Er ist zum einen wiederum eine grundsätzliche Einführung in die Fragestellung Heideggers von Sein und Zeit an, zum anderen sucht er der Frage nach Gott auf dem Weg Heideggers nachzugehen. Die Interpretationsrichtung ist – wie immer bei Welte – positiv. Die Anknüpfungspunkte für den Theologen sieht er im Bereich des Heiligen (EHD 27; bei Welte 275): »Das Heilige zwar erscheint. Der Gott aber bleibt fern.« Die Metaphysikkritik bzw. die Kritik der Ontotheologie wird positiv referiert (276): »Wir sehen also, Heideggers Frage nach Gott ist die Frage nach dem göttlichen Gott. Sie ist als diese Frage zu gleich mehr als eine Frage. Sie ist ein Versuch, in der seinsgeschichtlichen Zeit des Fehls Gottes das Denken für die mögliche Ankunft des göttlichen Gottes freizuhalten und zugleich einen Schritt der Vorbereitung für die mögliche Ankunft zu tun. Der vorbereitende Schritt ist das Denken in die Lichtung des Seins.« Einen weiteren Hinweis findet Welte in Heideggers damals gerade gehaltenem Vortrag Zeit und Sein mit dem Wort: »Es gibt Sein« (276). – Welte hat diesen Aufsatz teilweise revoziert und später statt dessen einen Text Gott im Denken Heideggers publiziert,41 der eine gewisse Approbation Heideggers in seinem Brief vom 13. August 1974 erfahren hat: »Ich habe keine Bedenken zu Ihrem Text« – und weiter: »Seit Jahren lehne ich ein Interview über mein Denken grundsätzlich ab. Doch in diesem Fall gibt es einen vollgültigen Ersatz: Ihren eigenen Text und die Art ihres Mitdenkens.«42 Der Text ist nochmals vorsichtiger hinsichtlich des Redens von Gott im Sinne Heideggers. Es wäre vom Theologen aus zu fragen, ob solche Vorsicht sachlich nachvollziehbar ist. Immerhin scheint sie die Intention Heideggers zu treffen, und der Text ist ja eine Interpretation Heideggers, nicht direkt das Denken Weltes. Wie Welte 208 | albert raffelt
Heideggersche Anregungen auf eigene Verantwortung aufnimmt, zeigt sich in seinen religionsphilosophischen Arbeiten.
6.2 Weltes Phänomenologie des Heiligen Weltes Religionsphilosophie ist ganz offensichtlich durch Heideggersche Anstöße grundgelegt. Sie ist immerhin auch als solche von Heidegger seinerseits positiv wahrgenommen worden. Wenn Heidegger im Mai 1946 Rahners Hörer des Wortes liest, schreibt er dazu an Welte: »Es ist seltsam dialektisch und in der Auseinandersetzung mit Hegel noch nicht durchgekommen. Im Grundansatz schön, aber noch zu wenig einfach, zu wenig unmittelbar, was gerade ihren Vortrag so wertvoll macht«.43 Es ist leider nicht gesagt, um welchen Vortrag es sich handelt. Vielleicht ist es der Vortrag über Die Glaubenssituation der Gegenwart, in dem sich Welte auf Heidegger hinsichtlich des existenziellen Glaubens beruft, der vor das Geheimnis führt, »das, indem es uns in Anspruch nimmt, alles sonst Erfahr- und Denkbare überwiegt und zu Boden schlägt.«44 Es ist in jenen Jahren aber wohl vor allem das Bedenken des Heiligen, in dem Welte sich Heidegger sowohl anschließt als auch seine eigene Phänomenologie des Heiligen entwickelt. Ersteres zeigt sich deutlich in den laut der Edition aus der Zeit um 1949 stammenden skizzenhaften Bemerkungen zum Seinsbegriff Heideggers,45 auch in den beiden Aufsätzen zur Gottesfrage bei Heidegger, letzteres in den Vorlesungen des Dies Universitatis 1948/40 »Das Heilige in der Welt und das christliche Heil.«46 Die Vorträge umfassen den Ansatz einer Zeitanalyse über den Ausfall des Heiligen, den auf dem Amsterdamer Philosophenkongreß 1948 vorgetragenen Abschnitt über die ontologischen Grundlagen des Heiligen,47 der in einer phänomenologischen Analyse des – in Weltes Terminologie – »Seinsbewußtseins« (241), der »Fragwürdigkeit« (241), der dem Weltbewußtsein zugrundeliegenden »Maßes« (242), des »Entwurfs« (243) und des »Kanons des Verstehens« (243), schließlich des »Geheimnisses« (247) als des zugleich Unberührbarsten und Konnaturalsten besteht, was zusammenfassend zu der Aussage führt: »versucht man die auseinanderstrebenden Momente als eines Martin Heidegger und die christliche Theologie | 209
zu sehen: das unvergleichlich abdrängende und das unvergleichlich innerste, darum hinreißendste Geheimnis, dann erkennt man: hier ist Heiliges als Heiliges. Hier erwächst uns die Phänomenalität dessen, was das Wort heilig je auszudrücken versucht hat«.48 Die Weiterführung über die Erscheinungsweisen des Heiligen in der Welt, seine Wesensdifferenz und die geschichtliche Erfahrung lassen wir hier einstweilen aus. Nicht zufällig haben die drei namhaften Welte-Schüler und -Habilitanden Bernhard Casper, Klaus Hemmerle und Peter Hünermann ihm zum 60. Geburtstag den Band Besinnung auf das Heilige zusammengestellt und gewidmet. Man könnte auch Weltes m. E. schönstes Buch Heilsverständnis49 auf seine Heidegger-Implikationen befragen – besonders die Interpretation von Tod und Schuld –, seine Religionsphilosophie – etwa die Interpretation des »Nichts« – oder seine – auch im brieflichen Kontakt mit Heidegger von diesem positiv besprochene Meister Eckhart-Interpretation.50 Doch wollen wir hier die Spur noch etwas weiter in die Herzmitte der Theologie verfolgen, weil dieser Einfluß hinsichtlich möglicher Anstöße Heideggers m.W. bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist.
6.3 Weltes christologische Aufsätze Wenn Rahner in einem Interview 1965 Welte unter die wichtigsten Theologen seiner Zeit in Deutschland zählt,51 so dürfte der große christologische Aufsatz in dem Chalkedon-Sammelwerk zum Konzilsjubiläum einer der Gründe sein, den Rahner sehr häufig zitiert hat. Abschließend für Weltes Bemühungen um die Christologie ist aber auf den zwanzig Jahre jüngeren Aufsatz von 1973 Die Krisis der dogmatischen Christusaussagen zu verweisen (GS 4/2,105–130). Er ist eines der wenigen Beispiele, wo ein katholischer Theologe eine Kernaussage des Christentums direkt mit Heideggerschen Denkmitteln angeht. Welte sieht die Krisis der christologischen Aussagen im Paradigmenwandel, der das griechisch-metaphysische Denksystem der alten Konzilien abgelöst hat. Für ihre geschichtliche Aufgabe haben diese Konzilien eine notwendige Aufgabe geleistet, aber ihre Aussagen sind »was das in ihnen verwendete Denksystem und also ihren formalen Ansatz angeht, gleichfalls geschichtlich 210 | albert raffelt
relativ, wenn sie auch unbedingte Geltung beanspruchen müssen hinsichtlich dessen, um was es da geht.«52 Ein innertheologischer Grund kommt durch die exegetische christologische Arbeit hinzu, die viel reicher ist als der Kontext der konziliaren Sprache. Wir gehen gleich zu Weltes These über. Sie lautet (GS 4/2,124): »In Nikaia kam das Seinsverständnis der abendländischen Metaphysik in der Theologie zur Herrschaft, während das in der Bibel vorherrschende Seinsverständnis ursprünglich vormetaphysischer Natur war und am ehesten vom Begriff des Ereignisses her deutbar scheint.« Von hier aus postuliert Welte die Notwendigkeit einer »›Verwindung‹ der klassischen Christologie« (GS 4/2,128), einer »Rückübersetzung der dogmatischen Aussagen auf die Ebene der biblischen Rede« (GS 4/2,129), eine Lektüre der Homoousios-Aussage als eine solche, »die eigentlich das Ereignis Jesu meint, das Eine, in dem sich konkret ein ganzer Mensch ereignete und zugleich damit der lebendige und erlösende Gott« (GS 4/2,130).53 Weltes Versuch bewegt sich auf einer dogmatischen Metaebene, die in der konkreten Hermeneutik des Dogmatikers umzusetzen wäre. Nun klingt der letzte Zielsatz für den Beobachter der neueren Christologie nicht so neu, wie es zunächst scheint. Eher ist es die Direktheit, mit der Heideggersche Philosophoumena oder Begrifflichkeiten eingesetzt werden. Aber man sollte sich an Weltes früheren Chalkedon-Aufsatz zurückerinnern.54 Er hält sich – zumindest scheinbar – ganz innerhalb der metaphysischen Sprache des hier gefeierten 4. ökumenischen Konzils. Aber Welte macht auch hier schon darauf aufmerksam, daß »die Problematik des modernen Denkens« hinter seinen Überlegungen steht (GS 4/2,133). Schon der Eingangssatz ist bezeichnend (GS 4/2, 131): »Die Väter von Chalkedon sprachen über Jesus, wie er im Horizonte der geschichtlichen Erfahrung begegnet und auf dem Grund dieser Erfahrung im Lichte des Glaubens bedeutsam wird.« Damit kommt Welte seinen später thetisch ausgesprochenen Forderungen schon hier sehr nahe. Sein Vorgehen in dem genannten Aufsatz besteht darin, die Kategorien der konziliaren Aussagen zu hinterfragen, näherhin den Natur-Begriff zu untersuchen. Die Argumentation sucht thomanische Aussagen für den Zielpunkt der Interpretation zu nutzen, der lautet (GS 4/2,136): »Die Offenheit als ›esse omnia alia‹ erweist sich als unsere Natur, wenn wir als Natur das ursprüngliche und wesentliche Sein verstehen, das als solches Martin Heidegger und die christliche Theologie | 211
alle Gestalten des φύεσθαι[,] des Aufgehens zur Aktualität bestimmt.« Die christologische Pointe wird in den Abschnitten »Die partizipative Einheit des menschlichen Seins mit dem göttlichen als Grund für die menschliche fu2si@« bzw. »[…] u3po2stai@« ausgearbeitet (GS 4/2,139–144). Darauf und auf die Differenz in diesen Aussagen ist hier nicht mehr einzugehen. Erreicht werden soll der Gedanke der Offenheit der menschlichen Natur für die hypostatische Vereinigung (GS 4/2,151). Die Übersetzung in die Ebene biblischen Sprechens und des Ereignisses ist bei Welte auch hier schon angezielt (GS 4/2, 158): »Freilich erscheint im Bilde des Evangeliums zunächst nicht so sehr die Einheit als das Gegenüber und auf dem Grunde des Gegenüber dann zunächst nicht die Unwandelbarkeit des Grundes, sondern die Ereignishaftigkeit im Vollbringen des Verhältnisses Jesu zu Gott.« Die restlichen Aussagen des Aufsatzes suchen dies weiterzuführen und zu aktualisieren. Ich lese diesen Aufsatz eigentlich als ein erstes konkretes Stück der Ausarbeitung des später nur als Programm formulierten. Es ist nun nicht ohne Hintersinn, daß gerade dieser Aufsatz, der – wiewohl mit Thomas-Zitaten geschmückt – m. E. wesentliche Anregungen Heidegger verdankt, die viel später erst offengelegt werden, für Karl Rahners sog. »transzendentale Christologie« wichtig wurde. Er zitiert den Aufsatz mehrfach und identifiziert sich mit dem Gedankengang.55 Weltes Forderung nach einem Paradigmenwechsel der Christologie ist in verschiedenen neuen Entwürfen – jedenfalls der Absicht nach – vollzogen worden, bei Rahner in der für ihn typischen systematischen Durchdringung der Schultheologie, dann in den Christologien von Edward Schillebeeckx u. a. Das hat nicht in jedem Fall mit Heidegger zu tun (bei Schillebeeckx z. B. sicher nicht) und mischt sich auch da zudem mit anderen Einflüssen. Wohl gilt dies aber für den christologischen Entwurf des WelteSchülers Peter Hünermann. Er bezieht sich sowohl direkt auf Welte als auch im Abschnitt Der Umbruch von der ontotheologisch verfaßten zur geschichtlichen Christologie seines Buches auf Heidegger.56 Es war verblüffend für mich, daß gerade in der Christologie innerhalb der katholischen Theologie solch eine Spur von Heidegger her zu verfolgen ist. Sie beginnt beim Schlußsatz von Rahners Geist in Welt und seinem frühen Heidegger-Aufsatz mit der möglichen Pointe Heideggerschen Denkens, den Menschen zu öffnen für den »Gott 212 | albert raffelt
Abrahams, Isaaks und Jakobs«, das »vernommene, beschaute und – von den Händen der Menschen – berührte Wort des Lebens, Jesus von Nazareth«, geht weiter über die Durchdringung einiger Sachthemen – etwa die Frage des Selbstbewußtseins Jesu – und führt bis zu diesem noch relativ neuen Entwurf Hünermanns über die genannten Interpretationen Weltes wie Rahners.
7. Drittes Beispiel: Karl Lehmann – Wissenschaftliche Distanz und Rezeption Karl Lehmann ist ein Beispiel für eine Heidegger-Rezeption sozusagen der dritten Generation. Die erste sind die gleichaltrigen wie Przywara, Bultmann und Tillich; die zweite Generation der Rahner, Welte, Balthasar, Delp (um jetzt bei den katholischen Theologen zu bleiben) beginnt ihre wissenschaftliche Arbeit in den 30er Jahren. Karl Lehmanns große Heidegger-Arbeit ist 1961 verfaßt. Parallel zu ihm wird man die etwas älteren Klaus Hemmerle, Bernhard Casper und Peter Hünermann zu nennen haben, wobei die ersten beiden für die Religionsphilosophie beigezogen werden könnten, während Hünermann in die Dogmatik wechselte. Lehmanns Heidegger-Interpretation ist von großer Komplexität. Schon der Umfang seiner philosophischen Dissertation Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers (1962)57 zeigt, daß hier nicht nur ein Schularbeit vorgelegt wird. Die Dissertation ist im Grund eine Bestandsaufnahme der damaligen (kontinentalen) Philosophie im Blick auf Heidegger. Das Klima, in dem Heidegger rezipiert wird, ist anders als in der vorigen Generation. Es ist jetzt nicht mehr die direkte Schülerschaft wichtig. Heidegger ist bereits einer der Klassiker der Philosophie. Die Erfahrung der Lehrveranstaltungen Lehmanns zeigt, daß hier in der Dogmatik eine Philosophie vorausgesetzt wurde, die von der Phänomenologie geprägt war und auf dem Hintergrund des Denkens von Husserl bis Heidegger samt deren Schülern, also von Gadamer bis Levinas (auch dieser war schon im Blick, bevor er modisch wurde) ihre Theologie erarbeitete, wobei allerdings auch die Wirklichkeitserfassung Hegels nicht ausgelassen werden sollte. Fragen wir nach der theologischen Heidegger-Rezeption, so ist sie bei Lehmann eingegangen in das – als Ganzes durch den BeMartin Heidegger und die christliche Theologie | 213
rufsweg bedingt nicht durchgeführten – Projekt einer Fundamentalhermeneutik der christlichen Theologie. Die Mainzer Antrittsvorlesung gab davon erste Vorstellungen: Die dogmatische Denkform als hermeneutisches Problem. Als Stichwort hieraus würde ich »Wirklichkeitserfahrung« ziehen (47). Heideggers phänomenologische Analysen und die der nächsten Generation (Heinrich Rombach z. B.) haben hier auflockernd gewirkt. Das geht m.E. bis in die Studien zur Sakramententheologie hinein, die für damalige – und wohl auch heutige – Verhältnisse darin eine große Wirklichkeitssättigung hatten, daß sie die anthropologischen Wissenschaften mit einbezogen – wenn man an Heidegger/Binswanger u.ä. denkt, auch eine Parallele. Ein anderes Beispiel ist Karl Lehmanns Aufsatz Zur Frage nach dem ›Wesen‹ der Erscheinungen des Herrn. Thesen zur hermeneutisch-theologischen Struktur der Ostererzählungen. Hier wird Heidegger nicht genannt, aber die Fragen nach dem »Wirklichkeitsstil« (ebd. 305) der Erscheinungen, nach einer angemessenen Deutung der »Osterereignisse«, die Differenzierung der theologischen Fragestellung, »die zumeist nur eindimensional auf den Charakter der Faktizität ausgerichtet ist, die anderen Dimensionen aber, welche übrigens von solcher ›Tatsächlichkeit‹ gar nicht ablösbar sind, abblendet und dieser gar nicht mehr ansichtig werden kann« (ebd. 306), ist ein Beispiel der nicht geschriebenen Fundamentalhermeneutik des christlichen Glaubens, die Wesentliches der Phänomenologie und Heidegger verdankt. Wir kommen hier – lexikalische Arbeiten (Hermeneutik, Erfahrung etc.) wären noch zu nennen – auf ein Terrain, das es nicht mehr erlaubt, so direkt von Einflüssen zu sprechen bei allen Zitationen. Es ist wohl eher eine Form Freiburger Theologie,58 die ganz wesentlich durch das mitgeprägt wurde, was hier im 20. Jahrhundert an Philosophie geleistet wurde.
8. Fazit Man kann in der katholischen Heidegger-Rezeption keine solchen spektakulären Ergebnisse ermitteln, wie sie auf evangelischer Seite seit Bultmann zu verzeichnen sind. Die Spuren sind hintergründi214 | albert raffelt
ger. Eine direkte Schülerschaft in der Theologie gibt es wohl nicht, auch nicht bei Welte, der Heidegger am nächsten steht. Aber die Anregungen, die die katholische Theologie von Heidegger erfahren hat, sind dennoch substantiell und tiefgreifend. Sie haben Spuren im Bedenken der Mitte der christlichen Theologie gelassen, die die Erneuerung der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert wesentlich geprägt haben.
9. Ende der theologischen Heidegger-Rezeption? Das Ende ist schon anderswo konstatiert worden: »Beiden Linien [der Heidegger-Rezeption; gemeint ist die transzendentale Erneuerung der Theologie durch Rahner und die Rückführung in die philosophia perennis durch J. B. Lotz] ist freilich gemeinsam, daß sie von der neueren Theologie um die Wende zum 21. Jahrhundert kaum noch weitergeführt worden sind.«59 Man kann aber auch eine andere Deutung vornehmen: Auch wenn es keine schulmäßige Rahner- (und Welte-)Rezeption gibt, ist doch eine Erneuerung der katholischen Theologie durch sie für die nächste Generation prägend geworden, sind viele Theologoumena auch ohne ihre Namen präsent, sind durch Heideggersche Anstöße mitgeprägte Denkformen Gemeingut geworden. Heidegger selbst ist kein Gegenwartsphilosoph. Er gehört zu den Klassikern, auf die zurückgegriffen wird – oder auch nicht zurückgegriffen wird; man wird auch nach den philosophiegeschichtlichen Kenntnissen mancher in der jüngeren Theologengeneration fragen dürfen… Was die katholische Philosophie anbelangt, so ist sie in ihrer traditionellen Schulform nicht mehr existent. Die Theologenausbildung – für die entsprechende Lehrstühle, z. T. durch Konkordatsbindung gesichert – wird nicht mehr von einer neuscholastischen Lehre getragen. Dies gilt auch für die durch die transzendentale Thomistenschule erneuerte Philosophie. Wenn es nun schon keine Leitphilosophie mehr gibt, so gibt es doch Orientierungen. Das Denken von Emmanuel Levinas ist ein solcher Bezugspunkt in der gegenwärtigen Theologie und die Theologie ist auch im Gespräch mit den postmodernen Denkern wie Vattimo oder Derrida u.a. – und damit wäre man allemal wieder in Martin Heidegger und die christliche Theologie | 215
Traditionslinien, die auch wesentlich von Heidegger bestimmt sind. Die Bezüge lassen sich bis in Lehrbücher nachverfolgen60
Anmerkungen
Vgl. den berühmten, von Albert Junghanns entdeckten Brief Heideggers an Engelbert Krebs vom 9. Januar 1919, in dem er schreibt, das ihm »das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar« geworden sei »nicht aber das Christentum und die Metaphysik«, zuletzt abgedruckt in HeideggerJahrbuch 1 (2004), S. 67 f. 2 Vgl. etwa Alfred Denker, Hans-Helmuth Gander, Holger Zaborowski (Hg.): Heidegger-Jahrbuch 1: Heidegger und die Anfänge seines Denkens. 3 Vgl. dazu die entsprechenden Angaben auf den Heidegger-Seiten der Universitätsbibliothek Freiburg i.Br.: . 4 RGG 2 2,1687–1688, hier 1688. Der Text stammt im wesentlichen von Martin Heidegger selbst, vgl. Konrad Hammann: Rudolf Bultmann. Eine Biographie, 198 (Anm. 367). 5 Vgl. noch jüngst Otto Pöggeler: Philosophie und hermeneutische Theologie. Heidegger, Bultmann und die Folgen. Als Übersicht Matthias Jung: Heidegger und die Theologie. Konstellationen zwischen Vereinnahmung und Distanz. Was die katholische Heidegger-Rezeption anbelangt, so ist aber die eigentlich theologische Komponente in beiden Arbeiten ausgespart zugunsten der philosophischen – wenn man bei Rahners frühen philosophischen Arbeiten nicht die theologische Sinnspitze als ausreichend für eine ›theologische Rezeption‹ ansieht. 6 Vgl. neuerdings Konrad Hammann: Die Entstehung von Bultmanns Jesus-Buch. 7 Vgl. Paul Tillich: Systematische Theologie. Bd. 1, bes. 195–199; vgl. auch Bd. 1,220–225; Bd. 2,16 f.; vgl. dazu etwa auch Kurt Plachte: Das Seinsdenken und die Gottesfrage. 8 Vgl. dazu auch Karl Lehmann: Heinrich Schliers Begegnung mit Martin Heidegger. Ein lehrreiches Kapitel im Verhältnis Philosophie – Theologie. 9 An Engelbert Krebs am 19. Juli [?] 1914: »Vielleicht könnten Sie als ›Akademiker‹ noch ein besseres Verfahren beantragen, daß sämtlichen Leuten, die sich einfallen lassen, einen selbständigen Gedanken zu haben, das Gehirn ausgenommen und durch ›italienischen Salat‹ ersetzt wird«. Publiziert in: Heidegger-Jahrbuch 1, 62. Es geht um das Motu proprio »Doctoris angelici« vom 29. Juni 1914. 10 Die Kommentierung des »Dekrets der Hl. Studienkongregation« vom 27. Juli 1914 im »Denzinger« macht die Situation noch Jahrzehnte später deut1
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lich, indem die Relativierung des (geringeren) Verpfl ichtungsgrades dieses Dokuments mit einem Brief des nächsten [!] Papstes, Benedikt XV., vorgenommen (vgl. DH 3601–3624, 907 f.) und die weitere Entwicklung durch die Nennung der entsprechenden Dokumente Pius XI. und Pius XII. bis zum Dekret »Optatam totius« des Zweiten Vatikanischen Konzils dokumentiert wird, nach dem nur noch die »theologischen Fächer […] mit dem heiligen Thomas als Meister […] spekulativ tiefer zu durchdringen sind« (Nr. 16), die phi losophische Ausbildung (Nr. 15) aber nicht mehr auf ein System festgelegt, wohl aber »auf das stets gültige philosophische Erbe«, das jedoch nicht genauer umschrieben wird. 11 Vgl. Erich Przywara: Drei Richtungen der Phänomenologie, vgl. Ders.: Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922–1927. Bd. 1,304 f.; ausführlicher Ders.: Augustinisch. Ur-Haltung des Geistes, 81 ff., vgl. dort 83 über die »Vorliebe, mit der Heidegger für seine Existential-Phänomene ethisch gewendete religiöse Worte wählt, und auch diese so, daß fast alle tieferen ethischen Probleme christlicher Theologie mit-einfl ießen.« Der Text war ursprünglich die Einleitung zu Erich Przywara: Augustinus. Die Gestalt als Gefüge (das Zitat 84). 12 Hans Urs von Balthasar: Erich Przywara. 13 Vgl. Rahners Würdigung in SW 22/2, 667–673. 14 Bernhard Jansen: Aufstiege zur Metaphysik heute und ehedem. 15 Die Arbeit Delps wird ausführlicher analysiert bei Richard Schaeffler: Frömmigkeit des Denkens? Martin Heidegger und die katholische Theologie, 48 ff.; Schaeffler behandelt allerdings nicht die konkrete Aufnahme Heideggers in der katholischen Theologie. So ist keiner der unten behandelten Texte bei ihm genannt. – Als weitere Arbeit, die unserem Thema nahesteht, wäre zu nennen: Joseph Möller: Existenzialphilosophie und katholische Theologie. Sie ist eine Darstellung der Existenzialphilosophie Heideggers und konfrontiert diese im zweiten Teil mit dem theologischen Denken, wobei einerseits die theologischen Implikationen Heideggers genannt, anderseits die Notwendigkeit der theologischen Antwort auf die von Heidegger gestellte Frage nach der »Ganzheit mensch lichen Seins« (214) betont wird. Die reale Rezeption der Philosophie Heideggers in der katholischen Theologie ist auch hier nicht im Blick. 16 Die Buchfassung relativiert die Einordnung Kants in einer Anmerkung immerhin (45), aber das Klischee ist für die ganze Konstruktion doch bleibend bestimmend, vgl. 132. 17 Vgl. ebd. 123 f.: »Wir gehen nun mit keiner anderen Haltung aus dem germanischen Mythos hervor als aus der Heideggerschen Philosophie, nicht mit einem guten oder schlechten Gewissen, nicht mit Reue oder Sündengefühl, mit Selbstzufriedenheit oder Vorsatz zur Besserung, sondern nur mit dem Bewußtsein von unserer Existenz als einer schicksalhaften Gegebenheit und Geworfenheit. […] einer Haltung, in der der Mensch […] mit Größe und Gefaßtheit untergeht.« Martin Heidegger und die christliche Theologie | 217
Alfred Delp verweist hierfür auf Erich Przywara: Christliche Existenz; Georg Feuerer: Ordnung zum Ewigen. Der Mensch in der religiösen Wirklichkeit seines Lebens. Wie sehr diese Bücher zwar dem Zeitgeist entsprechend auch »existenzphilosophische« Anklänge haben, trotzdem aber weit entfernt vom Denken Heideggers sind, zeigt etwa der Abschnitt über die »Sorge« bei Feuerer, 162 ff. 19 3 Bde., hier Bd. 3, 139–315: Heidegger und Rilke. 20 Hans-Urs von Balthasar zitiert 193 für ihre »Begegnung« nach JosephFrançois Angelloz: Rainer Maria Rilke. L’évolution spirituelle du poète. 322, den angeblichen Ausspruch Heideggers: »In den Duineser Elegien drückt Rilke poetisch dieselben Gedanken aus, die ich in meinen Schriften niedergelegt habe«. 21 Der Abschnitt »Martin Heidegger« in Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit : Eine theologische Ästhetik. Bd. 3/1: Im Raum der Metaphysik, 769–787 ist schwierig auf Balthasars eigene Theologie zu beziehen. Das Zitatenmosaik aus allen Phasen des Heideggerschen Werkes seit Sein und Zeit bemerkt unter dem Rahmen »Antike Vermittlung« einerseits, daß »das Verhältnis des sich offenbarenden Seins zum gelassen-empfangenden Dasein in urbiblischen Kategorien gedacht« wird (777), »der biblische Begriff der δόξα eingeholt und für das Sein in Anspruch genommen« wird (780), »daß Heideggers Ansatz in der Neuzeit der fruchtbarste für eine mögliche Philosophie der Herrlichkeit bleibt« (786), anderseits verbleibt Heidegger für Balthasar »innerhalb des Horizonts griechisch-essentialen, ja sogar naturalistischen Denkens« (785). Das ist m.E. schwierig nachvollziehbar. Die recht positive Sicht des späten Heidegger ist bemerkenswert, ob sie Auswirkungen in Balthasars Herrlichkeit und seiner Theodramatik hat, müßte differenziert untersucht werden. 22 Vgl. den 1969 gesprochenen Fernsehbeitrag: [Martin Heidegger im Zeugnis von] Karl Rahner, SW 22/2, 684. Vgl. auch in der Verteidigung von Johann Baptist Metz den Leserbrief Angemessene Kategorien für christliches Selbstverständnis (1962; SW 12,561): »Ich saß vor gut 25 Jahren zwei Jahre lang im Seminar von Martin Heidegger. Und ich bin auch heute noch dem großen Philosophen dankbar für das, was ich bei ihm gelernt habe.« In SW 31 fi nden sich weitere Äußerungen, z. B.: 1965: 7/9; 1978: 179; 1980: 247 f.; 1984: 343, 357 f., 375. – Konstante in der Selbsteinschätzung ist wohl ein großer Respekt gegenüber Heidegger, eine anerkannte, im Umfang nicht so deutlich gesehene formale Beeinflussung und die strikte Aussage, daß in theologischen Zusammenhängen von Heidegger »inhaltlich« nichts übernommen werden konnte. 23 Daß andere ›Neuerer‹ sich zur Erweiterung des katholischen Denkens an alternative, aber kirchlich anerkannte Positionen hielten, zeigt den Stil Rahners, die Problematik am schwierigsten Punkt in den Griff zu nehmen. Zu vergleichen wäre in der nächsten Generation etwa Joseph Ratzingers Start über Augustinus und Bonaventura. 24 Vgl. SW 2,55 f. mit den editorischen Anmerkungen 468 f. Leider ist bei 18
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diesem Text noch nicht der Paralleldruck wie in SW 4 vorgenommen worden. Er wäre nur für wenige Textstücke nötig, da die Überarbeitung ansonsten sehr zurückhaltend ist. 25 Max Müller: Zu Karl Rahners ›Geist in Welt‹. Der Artikel ist allerdings hinsichtlich der Frage nach Heideggers Stellung zu Geist in Welt insofern unzutreffend, als dieser die nicht eingereichte Dissertation kaum gesehen haben kann vor der Buchveröffentlichung. Daher ist die Konklusion hinfällig: »Es sollte […] nur angedeutet werden, warum für Rahner die Unterstützung Heideggers für seine geniale Dissertation ausblieb […]«. 26 Vgl. die Dokumentation in SW 2,XVII f., XXII. 27 Vgl. dazu Albert Raffelt: Geist in Welt. Einige Anmerkungen zur Interpretation, bes. 62–67. Zu Hörer des Wortes wäre eine eigene Analyse nötig. In der Originalfassung – in der Bearbeitung durch J. B. Metz anonymisiert – fi ndet sich eine Kritik des Heideggerschen Vorgriffs auf das Nichts (SW 4,94–98). Bemerkenswert ist, daß Bernhard Welte schon in seiner Habilitationsschrift (1949) das Heideggersche Nichts unter dem Titel »Nichts-Zwingendheit« der Transzendenz positiv aufnimmt. Vgl. Bernhard Welte: GS 2/3, 67, auch 73. 28 Vgl. etwa vorher neben einigen Übersichten und Hinweisen Georges Gurvitch: Les tendances actuelles de la philosophie allemande, 207–234; Jean Wahl: Vers le concret; Alphonse de Waelhens: Existence concrète et nihilisme dans l’œuvre de M. Heidegger; vgl. auch Marie-Dominique Roland-Gosselins Rezension von Sein und Zeit in der Revue des sciences philosophiques et théologiques. 29 Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins und christliche Theologie, 307. 30 Zitiert nach der 1. Auflage; Johann Baptist Metz ergänzt »… ihn und in ihm noch einmal sich selber fi nde.« 31 »Geworfenheit« wäre ein solcher Fall. In Hörer des Wortes zehnmal, in der Neubearbeitung nur noch einmal vorkommend, vgl. auch zur Sache den Editionsbericht SW 10,XIV. – Interessant ist die ein wenig spinöse Bemerkung Henri de Lubacs zu Rahners Artikel über die Gnadenlehre der »nouvelle théologie«: »Was Rahner mir entgegenhielt oder vielmehr glaubte, mir entgegenhalten zu müssen, entsprach übrigens dem, was ich selber dachte, abgesehen von der Beimischung Heideggerschen Vokabulars, das mir in einer Studie über die scholastische Tradition weder nötig noch opportun erschien.« Vgl. Henri de Lubac: Meine Schriften im Rückblick, 191. 32 Die Mitschriften beruhen auf Stenogrammen. Sie haben insofern durchaus hohe Authentizität, allerdings sind viele Fehler (Hörfehler, falsche Personenkennzeichnungen etc.) enthalten. Otto Schärpf bearbeitet seine Editionen laufend, so daß die hier gemachten Angaben nur für den Stand Juli 2010 gelten. Die Texte fi nden sich unter . 33 Möglicherweise Hörfehler? 34 Heidegger sagt vom Satz der Identität (GA 11,48): »Aus diesem Satz Martin Heidegger und die christliche Theologie | 219
im Sinne einer Aussage ist unterwegs ein Satz geworden von der Art eines Sprunges, der sich vom Sein als dem Grund des Seienden absetzt und so in den Abgrund springt. Doch dieser Abgrund ist weder das leere Nichts noch eine fi nstere Wirrnis, sondern: das Er-eignis.« – Rahner kommt sodann auf das Wahrheitsverständnis Heideggers zu sprechen. Sein Aufsatz Über das Geheimnis (1961) faßt das Gesagte in knapperer Form zusammen und wäre auch heranzuziehen (SW 12,136–146). 35 Mitschrift Otto Schärpf: Theologische Anthropologie (1959),52. 36 Daß hier auch Texte des großen Geheimnis-Aufsatzes aufgenommen werden, weisen die editorischen Anmerkungen SW 26,548 f. nach. Dafür gilt immerhin das oben Gesagte. 37 In dem für diese Fragestellung grundlegenden und epochemachenden Aufsatz Dogmatische Erwägungen über das Wissen und Selbstbewußtsein Christi (1962), (SW 12,335–352) fehlen direkte Hinweise auf Heidegger. Man lese aber 340 f. über die Grundbefi ndlichkeit des geistigen Subjekts und über die »Positivität des Nichtwissens«. 38 Auch LTh K 3 enthält das Lemma. Allerdings ist bedauerlich, daß Johann Ev. Hafner die Sache nun wieder auf Heidegger und die Philosophie von Scheler bis Rombach beschränkt. 39 Vgl. die Texte in Martin Heidegger – Bernhard Welte: Briefe und Begegnungen, sowie Bernhard Welte: Denken in Begegnung mit den Denkern II: Hegel, Nietzsche, Heidegger. Die zahlreichen sonstigen Bezüge lassen sich in den Gesammelten Schriften durch den Registerband auffi nden. 40 Max Müller wäre etwas später auch zu nennen mit Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart. 41 GS 2/2,156–178. 42 Martin Heidegger – Bernhard Welte: Briefe und Begegnungen, 37. 43 Martin Heidegger – Bernhard Welte: Briefe und Begegnungen, 12. 44 Jetzt GS 4/1,197–229, hier 217. 45 GS 2/2,120–126, hier insbesondere 124–126. 46 GS 4/1,230–271. 47 Die französische Fassung auch in GS 3/2,106–109. 48 GS 4/1,247. 49 Jetzt in GS 4/115–183. Vgl. dazu auch César Lambert – Enrique Muñoz: Martin Heidegger und Bernhard Welte. Der Heideggersche Begriff des Daseins und seine Aufnahme bei Welte. 50 Die einschlägigen Publikationen jetzt in GS 2/1. 51 Karl Rahner: SW 31: Im Gespräch über Kirche und Gesellschaft. Interviews und Stellungnahmen, 13: »Gestatten Sie mir, namentlich zwei Theologen zu nennen, die als stellvertretend für diesen neuen Geist in Deutschland gelten. Einer davon ist mein Freund Bernhard Welte […]«. 52 GS 4/2,109. Auf den zweiten für die Krisis bedeutsamen Gedanken der Nichtintegration der zwei Festkreise (Ostern, Weihnachten), die nach Welte 220 | albert raffelt
zur Ausbildung der Scheidung von Christologie und Soteriologie führte, brauchen wir hier nicht genauer einzugehen. 53 Ähnliche Gedankenreihe enthält der etwas spätere Aufsatz Jesus Christus und die Theologie. In: GS 4/2,87–104. 54 Zunächst unter dem Titel Homoousios hemin (1954), jetzt in: GS 4/2,131– 162. 55 Prominent etwa im großen Geheimnis-Aufsatz, SW 12,131. – Vergleicht man Rahners Aufsatz in dem gleichen Chalkedon-Sammelwerk (jetzt SW 12,261–301: Probleme der Christologie von heute) mit seinem späteren Text Zur Theologie der Menschwerdung (SW 12,309–322), so liegt es nahe, einen direkten Einfluß Weltes anzunehmen. Im ersten Aufsatz fragt Rahner nach der Möglichkeit einer »transzendentale[n] Deduktion einer Christus-Gläubigkeit« (289). Die Möglichkeit einer »transzendentalen Christologie« bedenkt Rahner dann im Grundkurs des Glaubens (SW 26,199 ff.) und baut dort den zweiten Aufsatz in den Gedankengang ein (SW 26,204 ff.). Welte war hier vorangegangen. 56 Peter Hünermann: Jesus Christus, Gottes Wort in der Zeit. Eine systematische Christologie, 342–357. 57 Die Arbeit wurde erst im Jahre 2000 digital veröffentlicht: . In 2. korrigierte Version 2003; gleichzeitig als Buchausgabe. 58 Es ist sicher auff ällig, daß der Freiburger Strang in der katholisch-theologischen Rezeption Heideggers zentral ist. Das wäre auch durch ausländische Freiburger Studenten, die in anderen Weltgegenden wirken bzw. gewirkt haben, weiter zu belegen. 59 Matthias Jung: Heidegger und die Theologie. Konstellationen zwischen Vereinnahmung und Distanz, 479. 60 Vgl. als Beleg etwa Christoph Böttigheimer: Lehrbuch der Fundamentaltheologie. Die Rationalität der Gottes-, Offenbarungs- und Kirchenfrage.
Martin Heidegger und die christliche Theologie | 221
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IV. Siglen von Schriften Heideggers
AuN BH EHD EWiM Nihilismus NWGit OVM PLW SuZ ÜM UzS WD WiM WS ZS
Augustinus und der Neuplatonismus (GA 60) Brief über den Humanismus (GA 9) Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4) Einleitung zu: Was ist Metaphysik? (GA 9) GA 6.2, 301–361 (in: Nietzsche II). Nietzsches Wort: ›Gott ist tot‹ (GA 5) Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik (GA 11) Platons Lehre von der Wahrheit (GA 9) Sein und Zeit (GA 2) Die Überwindung der Metaphysik (GA 67) Unterwegs zur Sprache (GA 12) Wozu Dichter (GA 5) Was ist Metaphysik? (GA 9) Der Weg zur Sprache (GA 12) Zur Seinsfrage (GA 9)
Literaturverzeichnis | 235
V. Weitere Siglen
an. quant. conf. DH GMS GS H-SW HA KA KGkM KMR KpV KrV KSA KTW lib. arb. LTh K MPP: NF RGG RGV s. S.c.g. SO I SO II sol. S.th. SW SwL TRE ver. VD
Augustinus: De animae quantitate Augustinus: Confessiones Denzinger-Hünermann (Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declarationum) Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Welte: Gesammelte Schriften Hölderlin: Sämtliche Werke Goethe: Hamburger Ausgabe Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe Fischer (Hg.): Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik Fischer (Hg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie Kant: Kritik der praktischen Vernunft Kant: Kritik der reinen Vernunft Nietzsche: Kritische Studienausgabe Rahner/Vorgrimler: Kleines theologisches Wörterbuch Augustinus: De libero arbitrio Lexikon für Theologie und Kirche Descartes: Meditationes de prima philosophia Nietzsche: Nachgelassene Fragmente (KSA 7–13) Die Religion in Geschichte und Gegenwart Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Augustinus: sermones Thomas von Aquin: Summa contra gentiles Rilke Sonette an Orpheus I Rilke: Sonette an Orpheus II Augustinus: Soliloquiorum libri duo Thomas von Aquin: Summa theologiae Rahner: Sämtliche Werke Augustinus: Suche nach dem wahren Leben. Confessiones X / Bekenntnisse 10; hg. von Norbert Fischer Theologische Realenzyklopädie Thomas von Aquin: Quaestio disputata de veritate Nikolaus von Kues: De visione dei (In: Philosophisch-theologische Schriften, Bd. 3, 93–219)
236 | Literaturverzeichnis
Namenregister
Angelloz, Joseph-François 171, 218 Anselm von Canterbury 18, 27 Arendt, Hannah 29 Aristoteles, Aristotelismus, aristotelisch 35, 37, 47–51, 63 ff., 67, 76, 87, 114, 116 f., 122, 138, 175 ff., 180, 192, Augustinus, Augustin 7 f., 16, 18, 21–24, 26, 28 f., 36 f., 49, 51 ff., 57–64, 66 f., 108, 111, 114, 126 f., 150, 152, 156, 165 ff., 169–173, 177, 217 f.
Delp, Alfred 197, 213, 217 f., Denker, Alfred 172, 192, 216 Derrida, Jacques 171, 215 Descartes, René; cartesianisch 19 f., 27, 121 f., 167, 172 Dilthey, Wilhelm 53, 175, 192 Düsing, Edith 146 Düsing, Klaus 144 f., 147, 170
Balthasar, Hans Urs von 197, 213, 217 f. Barth, Karl 26 Barth, Heinrich 195 Becker, Oskar 63 f. Benedikt XVI. (Papst) 217 Bernhard von Clairvaux 32 f., 53 Binder, Wolfgang 144 f. Binswanger, Ludwig 214 Böhlendorff, Casimir Ulrich 145 Bonaventura 53, 218 Böschenstein, Bernhard 145 Böttigheimer, Christoph 221 Brachtendorf, Johannes 169 Bultmann, Rudolf 45, 195 f., 206, 213 f., 216
Feuerer, Georg 218 Ficker, Johannes 193 Fischer, Norbert 24 f., 27, 29, 68, 166 f., 169, 171, 173 Fuchs, Ernst 196
Casper, Bernhard 67, 210, 213 Coreth, Emerich 200 Coriando, Paola-Ludovica 12, 103, 235
Ebeling, Gerhard 196 Esposito, Costantino 67 f.
Gadamer, Hans-Georg 213 Gander, Hans-Helmuth 216 George, Stefan 15, 26 Goethe, Wolfgang von 11, 16, 146, 168 Gurvitch, Georges 219 Hafner, Johann Ev. 220 Hammann, Konrad 216 Heft rich, Eckhart 171 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 53, 129, 142, 144 f., 147, 183, 209, 213, 220 Heine, Heinrich 183 Hemmerle, Klaus 210, 213 | 237
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 20, 28, 45, 68 f., 87 ff., 103, 127, 146 f., 166 f., 171, 202, 219 Hölderlin, Friedrich 22, 42 ff., 48, 100, 129–146 Honecker, Martin 199 Hünermann, Peter 210, 212 f., 221 Husserl, Edmund 45, 49 ff., 195, 213
Maréchal, Joseph 199 Meister Eckhart 53, 154, 165, 169 f., 210 Möller, Joseph 217 Müller, Max 11, 14, 24 f., 38, 45, 150, 166, 199 ff., 219 f. Müller-Lauter, Wolfgang 126 Muñoz, Enrique 220
Ignatius von Loyola
Natorp, Paul 25 Naumann, Hans 197 Neumann, Günther 167 Nietzsche, Friedrich 12, 14, 20 ff., 25, 27 f., 43, 89, 100, 105–108, 118–127, 140, 146, 153 f., 158, 160, 168 ff., 183, 187, 190 f., 201, 220 Nikolaus von Kues 17 Novalis 167
207
Janke, Wolfgang 145 Jansen, Bernhard 197, 217 Jaspers, Karl 56, 67 Johannes (Pseudo-) Duns Scotus 31, 177, 195 Jung, Matthias 216, 221 Jüngel, Eberhard 196 Junghanns, Albert 216 Kamlah, Wilhelm 25 Kant, Immanuel 7 f., 12 f., 19–22, 24 f., 27 ff., 94, 102, 147, 150–156, 164–169, 173, 197, 199, 201, 217 Kelletat, Alfred 145 Kettering, Emil 170 Kierkegaard, Sören 53, 146, 177 Knapp, Natalie 171 Krebs, Engelbert 33 f., 45, 50, 67, 216, 226 Lambert, César 220 Lehmann, Karl 45, 68, 203, 213 f., 216 Leibniz, Gottfried Wilhelm 158 Leo XIII. (Papst) 196 Levinas, Emmanuel 7, 25, 27, 213, 215 Lorenzen, Paul 25 Lotz, Johann Baptist 199, 215 Lubac, Henri de 219 Luther, Martin 51, 53, 87, 175, 177, 192, 197 238 | Namenregister
Parmenides 106, 108, 123, 168 Pascal, Blaise 29, 172 f. Paulus (Apostel) 49, 51–56, 67, 177 Petri, Elfride 31 f. Pius X. (Papst) 197 Pius XI. (Papst) 217 Pius XII. (Papst) 217 Plachte, Kurt 216 Platon, Plato, Platonismus 12 ff., 17 f., 25, 29, 35, 43, 64, 106, 112 ff., 117, 123, 130 f., 136, 142, 144, 151–154, 167–171, 180, 190 f. Pöggeler, Otto 67, 146, 216 Pöltner, Günther 167 Proklos 144 Przywara, Erich 195, 197, 199, 203, 213, 217 f. Raffelt, Albert 24, 219 Rahner, Karl 14 f., 25, 45, 197–207, 209 f., 212 f., 215–221 Ratzinger, Joseph 218 Rilke, Rainer Maria 7, 16, 23,
26, 29, 43 f., 138 f., 145, 149, 153 f., 156–165, 167, 171 ff., 197, 218 Ritschl, Albrecht 53 Roland-Gosselin, Marie-Dominique 219 Rombach, Heinrich 214, 220 Rousselot, Pierre 199
Tauler, Johannes 53 Thomas von Aquin, thomistisch 18, 25, 64, 108 f., 111, 114 f., 126, 199, 200 f., 203, 206, 211 f., 217 Thurnher, Rainer 168, 193 Tillich, Paul 196, 213, 216 Trawny, Peter 146
Schaeffler, Richard 217 Schärpf, Otto 204, 206, 219 f. Scheler, Max 220 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 137, 142, 144 Schillebeeckx, Edward 212 Schiller, Friedrich 130, 132 ff., 136, 142, 145 Seeberg, Reinhold 195 Siewerth, Gustav 199 Skowron, Michael 126 Solbach, Anja 144 ff. Solignac, Aimée 29 Spinoza, Baruch de 131 Stallmach, Josef 167 Stegmaier, Werner 126
Vattimo, Gianni 215 Vetter, Helmuth 87 Van Fleteren, Frederick 68 Vorgrimler, Herbert 205 Wagner, Richard 121 Waelhens, Alphonse de 219 Wahl, Jean 219 Weber, Max 183 Welte, Bernhard 12, 24, 45, 207–213, 215, 219 ff. Wust, Peter 195 Zaborowski, Holger
172, 216
Namenregister | 239