Die Gesellschaft des langen Lebens: Soziale und individuelle Herausforderungen 9783839434260

A society in which people live longer is a diverse society. This volume makes exemplary facets of the diversity of age a

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German Pages 284 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Forschen in einer Gesellschaft des langen Lebens. Eine Einleitung
DISKURSE UND PARADIGMEN DER GESELLSCHAFT DES LANGEN LEBENS
Die Idee einer Kritischen Sozialgerontologie
Schöne neue Alterswelt? Zum ideologischen Charakter des Active Ageing
Bildung im Alter. Zwischen Aufbruch und Abschied
SELBSTÄNDIGKEIT IM ALTER – PERSPEKTIVEN UND KONTROVERSEN
AktivDaheim – Spielerische Förderung von Menschen mit Demenz durch Multimodales Training und Intelligente Interaktion
Ein Tablet für Herrn Wolf. Nutzer*innenbeteiligung in Innovationsprozessen am Beispiel altersgerechter Technologien
Seniorinnen und Smartphones bzw. Tablets. Anforderungen an Usability, Funktionalitäten, Bildungsangebote, Kaufberatung & Support
Pflicht zur Wahrheit, Pflicht zur Lüge? Ethische Fragen in der Demenzpflege
Alt, psychisch krank und das Leben zu Hause gut weiter entwickeln – ein Widerspruch?
MÖGLICHKEITEN IM ALTER, FÜR DAS ALTER UND DURCH DAS ALTER
„[…] die Zeit war schweigend in mir stehen geblieben“ Psychoanalyse und Altern
Wie können wir mit von Demenz betroffenen Menschen „Im-Gespräch-Bleiben“ und den „Kampf um die Wahrheit“ vermeiden?
Lebensplanungen für das Alter(n). Soziologische Perspektiven
Mainstreaming Ageing in der Erwachsenenbildung. ErwachsenenbildnerInnen vor neuen Herausforderungen
Die Leiblichkeit des Menschen in einer Pädagogik des Alters
DIVERSITÄT UND SELBSTBESTIMMUNG – GEFÄHRDUNGEN IM ALTER
Autonomie und Freiheit als Menschenrechte im Alter? Aktuelle Rechtsprechung im Hinblick auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Pflegeeinrichtungen nach HeimAufG – Eine kritische Würdigung
Grad der Pflegeabhängigkeit von kontinenten und inkontinenten Pflegeheimbewohnerinnen
Altersarmut von Frauen in Österreich
Die Vielfalt des Alters und Alterns in österreichischen Alten- und Pflegeheimen
Diversität im Alter. Intersektionale Perspektiven auf Alter und sexuelle Orientierung
Autorinnen und Autoren
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Die Gesellschaft des langen Lebens: Soziale und individuelle Herausforderungen
 9783839434260

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Claudia Stöckl, Karin Kicker-Frisinghelli, Susanna Finker (Hg.) Die Gesellschaft des langen Lebens

Gesellschaft der Unterschiede | Band 35

Claudia Stöckl, Karin Kicker-Frisinghelli, Susanna Finker (Hg.)

Die Gesellschaft des langen Lebens Soziale und individuelle Herausforderungen

Gedruckt mit Unterstützung von: Universität Graz, Land Steiermark, Fonds Gesundes Österreich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3426-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3426-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Forschen in einer Gesellschaft des langen Lebens. Eine Einleitung

Claudia Stöckl, Karin Kicker-Frisinghelli & Susanna Finker | 9

DISKURSE UND P ARADIGMEN DER DES LANGEN L EBENS

GESELLSCHAFT

Die Idee einer Kritischen Sozialgerontologie

Anton Amann | 17 Schöne neue Alterswelt? Zum ideologischen Charakter des Active Ageing

Andreas Stückler | 29 Bildung im Alter. Zwischen Aufbruch und Abschied

Claudia Stöckl | 45

S ELBSTÄNDIGKEIT IM ALTER – P ERSPEKTIVEN UND KONTROVERSEN AktivDaheim – Spielerische Förderung von Menschen mit Demenz durch Multimodales Training und Intelligente Interaktion

Lucas Paletta, Manuela Künstner, Mariella Panagl, Josef Steiner, Alexander Lerch, Marianne Lerch, Philipp Lefkopoulos & Maria Fellner | 57 Ein Tablet für Herrn Wolf. Nutzer*innenbeteiligung in Innovationsprozessen am Beispiel altersgerechter Technologien

Cordula Endter | 75

SeniorInnen und Smartphones bzw. Tablets. Anforderungen an Usability, Funktionalitäten, Bildungsangebote, Kaufberatung & Support

Dorothea Erharter | 93 Pflicht zur Wahrheit, Pflicht zur Lüge? Ethische Fragen in der Demenzpflege

Johanna Zeisberg | 109 Alt, psychisch krank und das Leben zu Hause gut weiter entwickeln – ein Widerspruch?

Gerhard Hermann, Manuela Gallunder & Günter Klug | 121

MÖGLICHKEITEN IM ALTER, FÜR DAS ALTER UND DURCH DAS ALTER „[…] die Zeit war schweigend in mir stehen geblieben“ Psychoanalyse und Altern

Bettina Rabelhofer | 139 Wie können wir mit von Demenz betroffenen Menschen „Im-Gespräch-Bleiben“ und den „Kampf um die Wahrheit“ vermeiden?

Ingrid Enge | 149 Lebensplanungen für das Alter(n). Soziologische Perspektiven

Verena Köck | 157 Mainstreaming Ageing in der Erwachsenenbildung. ErwachsenenbildnerInnen vor neuen Herausforderungen

Alexandra Edlinger | 173 Die Leiblichkeit des Menschen in einer Pädagogik des Alters

Karin Kicker-Frisinghelli | 185

DIVERSITÄT UND SELBSTBESTIMMUNG – G EFÄHRDUNGEN IM ALTER Autonomie und Freiheit als Menschenrechte im Alter? Aktuelle Rechtsprechung im Hinblick auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Pflegeeinrichtungen nach HeimAufG – Eine kritische Würdigung

Tanja Wurm | 199 Grad der Pflegeabhängigkeit von kontinenten und inkontinenten PflegeheimbewohnerInnen

Manuela Mandl & Christa Lohrmann | 217 Altersarmut von Frauen in Österreich

Margareta Kreimer | 231 Die Vielfalt des Alters und Alterns in österreichischen Alten- und Pflegeheimen

Daniela Wagner | 247 Diversität im Alter. Intersektionale Perspektiven auf Alter und sexuelle Orientierung

Bärbel Susanne Traunsteiner | 263 Autorinnen und Autoren | 277

Forschen in einer Gesellschaft des langen Lebens Eine Einleitung C LAUDIA S TÖCKL , K ARIN K ICKER -F RISINGHELLI & S USANNA F INKER

Seit einigen Jahren ist klar: wir haben uns darauf einzustellen, dass wir länger leben werden als frühere Generationen es erwarten konnten; wir werden dabei tendenziell länger bei guter Gesundheit sein, aber auch mit Einbußen und Einschränkungen zu leben haben. Die Gestaltung dieser neuen Realitäten ist ausständig und für die Gesellschaft als Ganze wie auch für Individuen und Gruppen noch auszuhandeln. Mit diesen Prognosen stellen sich individuelle, soziale, politische, ökonomische und auch kulturelle Fragen. Diese machen auf der einen Seite unterschiedliche Chancen und Möglichkeiten sichtbar, benennen aber auf der anderen Seite auch Risiken, Gefährdungen und Probleme, die jeweils mit den Phänomenen der zunehmenden Langlebigkeit und dem demografischen Wandel verbunden werden. Letztlich geht es um Fragen der Gestaltbarkeit und Gestaltung einer Gesellschaft des langen Lebens. Fragen der Alter(n)sforschung betreffen daher nicht nur Alte oder das Alter, sondern tangieren auch das gesamte soziale Gefüge einer Gesellschaft, das Verhältnis der „Generationen“ ebenso wie familiäre Beziehungen, institutionelle Settings oder generationale Selbstverständlichkeiten. Diese Realität fordert auch Forschung heraus, ihre (kritischen) Blickwinkel neuerlich auszurichten und sie mehr denn je und mehr als in anderen Feldern der Gesellschaft zur Diskussion und zur Verfügung zu stel-

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len. Daher verstehen wir Forschen in einer Gesellschaft des langen Lebens auch als Forschen für diese Gesellschaft. Es gehört zu den wesentlichsten Erkenntnissen der Alter(n)sforschung, dass Altern als Prozess und das Alter als Lebensphase sehr heterogene und komplexe Phänomene sind (vgl. Wahl/Heyl 2015). Die Heterogenität ergibt sich u.a. aus sehr unterschiedlichen Gegebenheiten, sozialen Zuschreibungen und aus zunehmend individualisierten Wahlen der eigenen Lebensführung. Die Komplexität entsteht aus der mannigfachen Verflechtung der verschiedenen Ebenen, auf denen Alter(n) erlebt oder sichtbar wird: psychische und physische Erscheinungen, biografische Deutungen, soziale Konstruktionen, kulturelle Rahmen etc. Die Umstände der Modernisierung, Ent-traditionalisierung und Individualisierung in westlichen Gesellschaften (vgl. Beck 2000) tragen dazu bei, dass die Möglichkeiten für Entscheidungen, die Spielräume für individuelle, lokale und regionale Gestaltung so groß sind wie kaum je zuvor. Gleichzeitig nehmen in den aktuell alternden Gesellschaften auch Restriktionen und Gefährdungen zu. Sie ergeben sich bspw. aus ökonomischen Zwängen oder sozialen (Leistungs-)Erwartungen und betreffen Realitäten des Alterns, in denen Menschen besonders schutzlos ausgesetzt, besonders verletzlich und besonders auf soziale Beziehungen angewiesen sind. Beides ist zur Kenntnis zu nehmen, differenziert zu analysieren und jeweils auszulegen: weder ungebrochener Optimismus noch auf der ‚Normativität des Faktischen‘ aufruhender Pessimismus sind angebracht. Vielmehr bedarf es der permanenten Auslotung verschiedener, nicht immer vereinbarer Positionen, um eine realistische Einschätzung der Wirklichkeiten wie der Gestaltungsspielräume zu ermöglichen. Schon hieraus wird deutlich, dass Wissenschaft in diesem Feld der sozialen Realitäten sehr vielfältige Rollen spielen kann: von der distanzierten Analyse bis zur engagierten und advokativen Praxis scheint ein breites Spektrum möglich zu sein. Alter(n)sforschung steht dabei immer im dialektischen Spannungsverhältnis zwischen der Stabilisierung und Kritik der Verhältnisse und Realitäten, die sie beschreibt und analysiert. Denn Wissenschaft ist – unabhängig von der wissenschaftstheoretischen Positionierung – immer gesellschaftliche Tätigkeit und damit Teil der gesellschaftlichen Realitäten, mit denen sie sich befasst. Diese Dialektik ist nicht auflösbar, sie kann bloß benannt und reflektiert werden, um die Chancen und Ri-

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siken der wissenschaftlichen Deutungsangebote selbst sichtbar zu machen und erneut zur Diskussion zu stellen. Der vorliegende Band gliedert sich in vier Teile: Er stellt erstens Diskurse und Paradigmen der alternden Gesellschaft kritisch zur Diskussion – in einem Beitrag von Anton Amann, der sehr grundsätzlich die soziale Konstruktion der ‚alternden Gesellschaft‘ in den Blick nimmt im Verhältnis zur wissenschaftlichen Forschung in diesem Gebiet, die er als kritische Sozialgerontologie entwirft. Andreas Stückler hinterfragt die gängig gewordenen Bilder vom aktiven Altern und nähert sich ihnen in ideologiekritischer Absicht. Claudia Stöckl widmet sich dem Lebenslangen Lernen als einem Schlüsselkonzept der alternden Gesellschaft und stellt bildungswissenschaftliche Alternativen vor. Der zweite Teil behandelt das Thema Selbständigkeit im Alter. Selbständigkeit im Alter betitelt eine kaum zu überschätzende Bandbreite und Vielfalt an Zugängen in der gegenwärtigen Alter(n)sforschung. Sie unterscheiden sich teils sehr grundsätzlich in ihrem Verständnis von Selbständigkeit im Relationengeflecht von Selbstbestimmung, Unterstützung, Sicherheit, Verantwortung und Kontrolle. Die in dieser Rubrik versammelten Beiträge spiegeln die gesamte Bandbreite wider: von Beispielen aus dem Bereich der förderstrategisch forcierten angewandten AAL-Forschungen, die Selbständigkeit mit Hinblick auf Sicherheit und Kontrolle thematisieren, im Beitrag von Lucas Paletta et al., über kritisch-skeptischen Perspektiven im Beitrag von Cordula Endter, die paternalistische Facetten in diesem Feld identifiziert und auf forschungsdynamische Eigenheiten hinweist, bis hin zu Anforderungen, die Smartphones bzw. Tablets erfüllen müssen, um Seniorinnen und Senioren in ihrer Selbständigkeit zu unterstützen im Beitrag von Dorothea Erharter; von ethischen Überlegungen über Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Namen der Förderung von Selbständigkeit im Beitrag von Johanna Zeisberg bis hin zu unerwarteten Möglichkeiten, die Gerhard Hermann, Manuela Gallunder und Günter Klug in ihrem Beitrag aufzeigen. Sie machen sichtbar, wie auch in prekären Lebenslagen wie psychischer Erkrankung Selbständigkeit im Alter unterstützt und verwirklicht werden kann. Drittens stehen Möglichkeiten im Alter, für das Alter und durch das Alter im Fokus. Sie regen dazu an, einen neuerlichen Blick auf und hinter allzu gewohnte und daher unhinterfragte Restriktionen zu werfen, die mit dem Alter gemeinhin verbunden werden. Bettina Rabelhofer zeigt anhand der

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Psychoanalyse im Alter neue Möglichkeiten im Alter: Was Freud zunächst für unmöglich hielt, musste er in seiner eigenen Alterserfahrung revidieren und zeigt sich heute in der Alterspsychoanalyse als durchaus gangbare Option. Möglichkeiten für das Alter hängen stark von sozialen Faktoren ab, denn Qualitäten und Formen des Umgangs mit alternden und alten Menschen bestimmen, welche Phänomene des Alterns überhaupt sichtbar und erfahrbar werden. Die Denk-Voraussetzungen und Vorannahmen, die sich im praktischen Umgang mit alten Menschen manifestieren, formieren die Realitäten, die sich als Alterserscheinungen zeigen. In diesem Rahmen eröffnet Ingrid Enge Perspektiven, auf deren Basis man mit von Demenz betroffenen Menschen im Gespräch bleiben kann. Prospektiv untersucht Verena Köck die Möglichkeitsräume im Sinne von Zukunftsentwürfen. Auch hieraus lassen sich Einsichten über das Alter in Relation zu den imaginierten und in die Zukunft projizierten Vorstellungen gewinnen. Möglichkeiten durch das Alter markieren das Alter als Innovationsfaktor in verschiedenen Feldern. Durch die Erfahrungen der Lebensphase Alter erfahren wir etwas über das Menschsein im Allgemeinen, denn im Alter zeigen sich anthropologische und existenzielle Aspekte des Menschseins in besonderer Radikalität (vgl. Rentsch 2012). Der Blick auf das Alter bietet so auch für Disziplinen wie die Pädagogik eine Möglichkeit, ihre Selbstverständlichkeiten und Grundlagen zu relativieren und in ihrer normativen Grundiertheit zu durschauen. Dies ermöglicht adäquate Angebote für ältere Menschen, wie Alexandra Edlinger am Beispiel des Mainstreaming Ageing in der Erwachsenenbildung zeigt, und Karin Kicker-Frisinghelli am Stellenwert der Leiblichkeit in einer Pädagogik des Alters verdeutlicht. Es ergeben sich gleichzeitig auch neue Perspektiven auf die gesamte Lebensspanne. Schließlich thematisiert der abschließende Themenblock viertens Gefährdungen im Alter mit Blick auf Diversität und Selbstbestimmung. Tanja Wurm untersucht anhand der aktuellen Rechtssprechung zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen das Menschenrecht auf Autonomie und Freiheit im Alter. Manuela Mandl und Christa Lohrmann thematisieren Inkontinenz durch ihren engen Zusammenhang zu höhergradigen Pflegebedarfen als gefährdenden Faktor für die Selbstbestimmung im Heim. Margareta Kreimer stellt das doppelt marginalisierte Thema Altersarmut von Frauen in Österreich in den Mittelpunkt und untersucht sozialpolitische Implikationen. Daniela Wagner thematisiert für die Lebenswelt Altenheim das Verhältnis zwischen Alters- und Kulturstereotypen und den Realitäten, die sie abzu-

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bilden vorgeben. Bärbel S. Traunsteiner legt schließlich den intersektionalen Fokus auf mehrfach diskriminierte und in ihrer selbständigen Lebensgestaltung strukturell beschränkte Personengruppen und gibt Einblicke in unterbelichtete Facetten von Diversität im Alter. Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer interdisziplinären Tagung in Graz (Forum Age/ing Graz 2015), die eine Zusammenschau verschiedener Forschungen zum Alter(n) und einen Transfer in die institutionelle und gesellschaftliche Praxis angestrebt hat. Die Beiträge spiegeln ein breites Spektrum an Positionen innerhalb der Alter(n)sforschung wieder. So stehen letztlich auch unvereinbare Positionen bei einander und einige Beiträge vertreten Standpunkte und Argumente, die in anderen ausdrücklich kritisiert werden. Diese Divergenzen offen zu legen, verstehbar und nachvollziehbar zu machen, sie aber nicht zu glätten, ist ein Anliegen des vorliegenden Bandes. Damit ermöglicht und wünscht er eine kritische Auseinandersetzung und Urteils-Bildung auf engstem Raum und macht die vielfältigen, aber auch kontroversen Tendenzen innerhalb der Alternswissenschaft sichtbar. Die beitragenden Autorinnen und Autoren befinden sich auf unterschiedlichen Qualifikationsstufen. So finden sowohl Arbeiten und Anliegen von NachwuchswissenschaftlerInnen Gehör, wie auch etablierte FachvertreterInnen zu Wort kommen. Diese Perspektivenvielfalt, die zugleich die impliziten intergenerationellen Beziehungen in der Wissenschaft zutage treten lässt, fördert die Verschränkung von Anliegen und Ergebnissen der Alter(n)sforschung mit ihrer eigenen (Forschungs-)Praxis. Die Zusammenführung von Beiträgen unterschiedlicher Disziplinen und die Vielfalt der Zugänge bringt mit sich, dass insbesondere das Verständnis von Wissenschaft in ihrem Verhältnis zu politischen, gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen und ihr Verhältnis zur beschriebenen und analysierten Realität, in den verschiedenen Beiträgen je unterschiedlich aufgefasst wird. Auch daraus können sich kontrastierende Einschätzungen ergeben. Unser Dank gilt an dieser Stelle dem Land Steiermark, dem Fonds Gesundes Österreich und der Karl-Franzens-Universität Graz für die finanzielle Unterstützung, die diesen Band und die ihm vorausgegangene Tagung Forum Age/ing Graz 2015 möglich gemacht hat. Aber auch den umsichtigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bei transcript sei ausdrücklich für ihren Beitrag am Zustandekommen dieses Bandes gedankt. Bleibt noch der inte-

14 | CLAUDIA STÖCKL, K ARIN K ICKER -F RISINGHELLI & S USANNA FINKER

ressierten Leserschaft aus den unterschiedlichen Sphären von Wissenschaft, Praxis, Politik und Kultur eine anregende und herausfordernde Lektüre zu wünschen – für eine Gesellschaft des langen Lebens.

L ITERATUR Beck, Ulrich (2000): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Rentsch, Thomas (2012): Rentsch, Thomas (2012): Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit. In: Rentsch, Thomas/Vollmann, Morris (Hg.): Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen. Stuttgart: Reclam, S. 189–206. Wahl, Werner/Heyl, Vera (2015): Gerontologie. Einführung und Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer.

Diskurse und Paradigmen der Gesellschaft des langen Lebens

Die Idee einer Kritischen Sozialgerontologie1 A NTON A MANN

1. V ORKLÄRUNGEN ZU DEN B EGRIFFEN „K RITIK “ UND „W ISSEN “ Jede Wissenschaft, die gesellschaftliche Verhältnisse analysiert, steht in der Versuchung, das was sie beobachtet, einfach zu beschreiben und es dabei zu belassen. Nach einer alten philosophischen Sentenz bescheidet sie sich damit bei der Frage nach dem Wie und suspendiert jene nach dem Weshalb. Nehmen wir ein Beispiel: Die statistische Darstellung von Armutsgefährdungsquoten für einzelne Gruppen – ein wesentlicher Teil jedes Sozialberichts – sagt, auch wenn ihr noch so raffinierte Berechnungsprozeduren zugrunde liegen, nichts über folgende Fragen aus: weshalb die Gesellschaft unvermeidlich immer wieder Armut produziert; weshalb eine Minorität ungehindert immer reicher wird; weshalb unter den von Armut Gefährdeten sich immer auch solche finden, die ohnehin arbeiten? In einer einfachen Formulierung halte ich einmal fest, dass nur die Frage nach dem Weshalb das Tor zur Kritik aufstößt. Seinem griechischen Wortstamm nach kommt Kritik von krinein her: scheiden, trennen, bedeutet also das Urteilen über Denken und Handeln aus einem Bezugspunkt heraus, der für verbindlich gehalten wird, der aber

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Dieser Text ist eine ergänzte Version der Vortragsunterlage, der Charakter des gesprochenen Worts wurde beibehalten.

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nicht individuell beliebig sein kann. Wenn ich diesen Gedanken etwas verallgemeinere, heißt Kritik, aufmerksam und prüfend auf alles Wissen hinzusehen, das öffentlich verbreitet und vertreten wird, heißt Einspruch erheben, wenn etwas von diesem Bezugspunkt aus als unerwünscht oder falsch erscheint. Wissenschaft hat so zu handeln, indem sie vor allem zwei Aufgaben erfüllt: Vom jeweils neuesten Stand des Wissens aus zu urteilen und methodisch sauber zu verfahren – dafür gilt sie ja als Wissenschaft. Diesem Programm stehen immer wieder verschiedenste Umstände entgegen: verfestigte Meinungen, widerstreitende Wertauffassungen, Machtund Herrschaftsansprüche, individuelle Bequemlichkeit etc. Wir müssen uns daher darüber klar werden, was in der Wissensproduktion und Wissensverbreitung abläuft und welche Formen Wissen in seinen verschiedensten Ausprägungen annimmt. Ich will das hier an einem Thema skizzieren, das in den Bereich der Sozialgerontologie gehört: den sogenannten Altersbildern. Altersbilder sind Bilder vom Alter, die wir in unseren Köpfen tragen. Die „hilfebedürftigen Alten“, die „reisefreudigen Älteren“, der „Greis“, „eingeschränkt produktive ältere Arbeitskräfte“, das „unerotische und asexuelle Alter“ sind Stichworte, hinter denen bestimmte Bilder vom Alter stehen. Zugleich sind sie Ordnungsvorstellungen, die mit einer bestimmten Semantik versehen werden. Sie bestimmen unsere Wahrnehmungen und leiten unser Handeln und sie verändern sich in der Zeit. Wir verständigen uns mit Hilfe dieser Bilder und sprechen unter ihrem Diktat über das Alter und wir beurteilen es – unser eigenes und das der anderen. Die zentrale Frage jedoch ist: Was wird mit den Bildern des Alters kommuniziert? Um darauf eine Antwort zu erhalten, müssen wir die Arten und Weisen betrachten, in denen zu verschiedenen Zeiten über das Alter gesprochen wurde, wir müssen also die Altersdiskurse unter die Lupe nehmen, wie das z.B. Gerd Göckenjan in Deutschland getan hat (Göckenjan 2000). Wenn wir die Diskurse analysieren, sehen wir, dass Alter nie für sich thematisiert wird, sondern immer nur im Kontext anderer Themen. Was wird unter Diskurs verstanden? Diskurse sind Formen einer verständnisorientierten Kommunikation. Sie sind öffentlich bzw. veröffentlicht und stellen damit eine Sprech- und Denkpraxis dar. Zeitungsleser und -leserinnen, die das Gelesene zur eigenen Anschauung machen, sind Legion. In dieser Sprech- und Denkpraxis werden systematisch die Dinge erzeugt, von denen gesprochen wird. Die Gesamtheit der Diskurse folgt zu bestimmten Zeiten Regeln und Prinzipien, die festlegen, wie überhaupt ge-

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sprochen und gedacht werden kann, was jeweils als wahr oder falsch gilt. Dass die genannte Sprech- und Denkpraxis systematisch die Dinge erzeugt, von denen gesprochen wird, fällt unter den Begriff der sozialen Konstruktion von Weltbildern. Wir benützen Ideen und Konstruktionen, um Ordnung in die Flut der Erscheinungen zu bringen. Diese einverleibten geistigen Schemata erzeugen relativ verfestigte Vorstellungen, mit deren Hilfe die Gegenwart Sinn annimmt und andere Menschen verstehbar werden. Die ständige Konstruktion, Verbreitung und Wiederholung solcher Ordnungsvorstellungen senken sich tief in unsere Vorstellungen von der Welt, sie nehmen den Charakter sozialer Tatsachen an (ganz im Sinn der faits sociaux bei Émile Durkheim), an denen wir unser Handeln orientieren. Diese gedanklichen Konstruktionen sind „soziale“ Konstruktionen. Sie werden entwickelt, die Menschen diskutieren über sie, eignen sie sich an und kommen zu gleichen oder ähnlichen Auffassungen über eine Sache, sodass relativ feste Überzeugungen entstehen. Über die Medien werden sie verbreitet, wiederholt und bestätigt. So werden diese Konstruktionen selbst zu sozialen Tatsachen. Wilhelm Jerusalem hat das als einer der ersten dargetan, Georg Simmel ebenfalls. Wie eine Sache gesehen wird, so ist sie. Je stärker nun diese Überzeugungen sind, desto mehr immunisieren sie sich gegen Informationen und Wissen, durch die sie erschüttert oder widerlegt werden könnten. In dieser Situation wird vielfach gar nicht mehr nach oppositionellem Wissen gesucht. Es entsteht ein festes „Weltbild“, ausdrückbar als: Ich habe meine Meinung, verwirren Sie mich nicht mit Tatsachen. Nun kann von diesen Überlegungen eine Brücke zur kritischen Wissenschaft geschlagen werden. Auch wissenschaftliches Wissen besteht aus Konstruktionen, wenn auch meist aus theoretisch komplexeren als die Alltagskonstruktionen es gemeinhin sind, und dieses Wissen ist dadurch gekennzeichnet, dass es meist unter strengen methodischen Regeln zustande gekommen ist. Eine kritische Wissenschaft hat daher einerseits darauf zu achten, wie gut ihre gedanklichen Konstruktionen mit der Realität übereinstimmen, und andererseits danach zu fragen, was es bedeutet, dass sie Teil jener Gesellschaft ist, die sie untersucht. Mit den Worten von Jürgen Habermas hätte sie eine Erklärung der Gesellschaft zu leisten, die so umfassend ist, dass sie sich auch noch sowohl auf den Entstehungs- wie auf den Begründungszusammenhang der Theorie erstreckt (vgl. Habermas 1971, S. 9). Diesen Gedanken hatte Giambattista Vico in der Scienza Nuova schon vorgeahnt und

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Karl Marx dann in seiner Politischen Ökonomie ausformuliert. Soweit einige Bemerkungen zur Grundorientierung. Wenn nun unter diesen Voraussetzungen eine Kritische Sozialgerontologie ins Auge gefasst wird, müssen drei Ebenen der Kritik berücksichtigt werden.

2. G ESELLSCHAFTSTHEORETISCHE K RITIK Forschungsansätze, die bisher in der Sozialgerontologie ausdrücklich als kritisch zu verstehende genutzt worden sind, finden sich im Rahmen der Politischen Ökonomie (hauptsächlich in England und Deutschland), der feministischen Tradition (hauptsächlich in den USA und Deutschland), und der Macht- und Herrschaftskonzeptionen (hauptsächlich England und USA). In ihnen ist vorherrschend die Ebene der Gesellschaftskritik in Angriff genommen worden, und zwar mit spezifischen Bezügen auf das Altern und Alter. Nun möchte ich diesen Gedanken konkretisieren und mir dabei eine alte, schon seit der Entstehung der Sozialwissenschaften bekannte Einsicht zunutze machen: Über Gesellschaft wurde immer schon unter dem Aspekt der Ordnung und unter dem Aspekt der Befreiung nachgedacht, im ersten Fall auf Bewahrung des Bestehenden gerichtet, im zweiten auf Änderung oder „Erlösung“. Das Befreiungsdenken wollte die tatsächliche Abschaffung von Gewalt, Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung, Benachteiligung und Verhinderung von Selbstbestimmung, das Ordnungsdenken wollte meist nicht einmal anerkennen, dass diese Begrifflichkeit den bestehenden Verhältnissen angemessen sei. Dieser Einsicht ist eine zweite hinzuzufügen: Altersfragen können nicht sinnvoll beantwortet werden, wenn wir nur das Alter allein im Auge haben, es muss in seinen sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontexten gesehen werden. In diesem Rahmen greife ich nun ein Bespiel heraus. Die Globalisierung und die Politisierung des Alters Im Sinne der bisher angestellten Überlegungen lässt sich das Thema der Globalisierung als geeignetes Beispiel heranziehen. Globalisierung ist einerseits ein weltweit voranschreitender Prozess hauptsächlich wirtschaftlichen, informationstechnologischen und politischen Zuschnitts und anderer-

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seits ein Begründungs- und Rechtfertigungsmodell für diesen Prozess und seine Folgen selbst (vgl. Amann 2008). Als ökonomisches Programm verfolgt sie das Ziel, ein global standardisiertes Wirtschaftssystem durchzusetzen. Als internationaler politischer Prozess heißt Globalisierung eine Umschichtung politischer Machtzentren und ein Rückgang nationalstaatlicher Gestaltungsfreiheiten (vor allem im wirtschafts- und sozialpolitischen Zusammenhang). Der Diskurs über die Globalisierung könnte also auch als wissenschaftlich verbrämter Diskurs gelten, ein rein wissenschaftlicher war er jedenfalls nie. Dabei ist mehr als auffällig: Die zunehmende Einmischung in die weltweite Debatte und zunehmende Bestimmung der wichtigsten Agenden über Arbeit, Altersversorgung, Gesundheit und Pflege durch die OECD, WTO, WB, IMF und EU. Der Diskurs ist außerdem ein ökonomistischer Diskurs, indem die neoliberalistische Theorie sich anheischig macht, mit einigen wenigen ökonomischen Faktoren die Entwicklung der gesamten Gesellschaft erklären zu wollen (vgl. Amann/Ehgartner/Felder 2010). Bereits 1994 hatte die Weltbank ein Dokument herausgegeben Averting the Old Age Crisis, das die Politisierungsdiskussion zentral initiierte, 2001 folgte die Central Intelligence Agency (CIA) mit einem Bericht, der auf eine Neuformung der geopolitischen Landschaft unter demografischer Perspektive angelegt war, und schließlich trug auch die Publikation The Global Retirement Crisis des Zentrums für Strategische und Internationale Studien noch ihren Teil zur Debatte bei (Central Intelligence Agency 2004; Jackson 2002; World Bank 1994). Der Kern aller Berichte ist die Vorstellung, dass das Altern der Bevölkerungen ein weltweites Problem darstellt, das eine wachsende Bürde für die nationalen Volkswirtschaften bedeutet. Gegenwärtig bringen der Internationale Währungsfonds und die US Notenbank (Federal Reserve System) diese Argumentation neuerlich in Schwung, indem sie in einer Studie behaupten, dass die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ins Leere laufe und das Wirtschaftswachstum international weiter gebremst werde, weil die Gesellschaften überalterten („Der Standard“ vom 17. September 2015); die Argumentation ist relativ simpel: Die Alterung der Bevölkerung infolge des Geburtenrückgangs würde die produktiven Kräfte in der Wirtschaft ausdünnen (Ältere sind nicht mehr innovativ und leistungsfähig) und der Konsum würde zurückgehen. Es ist dies eine Argumentation, die wir seit dem Erstarken des Neoliberalismus kennen und die, wenn schon nicht völlig falsch, so doch brachial einseitig ist.

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Hier geht es um die Konstruktion der Vorstellung von Altern und Alter als globaler Belastung. Die wichtigste soziale Konstruktion, international bereits durchgesetzt und akzeptiert, sodass sie den meisten bereits als unabänderliche soziale Tatsache erscheint, ist die Belastung der nationalen Budgets durch die Alten. Drei Gesichtspunkte lassen sich hier unterscheiden: • • •

Der Einfluss der Globalisierungsvorstellungen auf die Ideen, die beschreiben sollen, wie und was das Alter ist. Die neue Konstruktion des Alters als eine besondere Form des „Risikos“. Der Einfluss der Globalisierungstendenzen und -vorstellungen auf globale Ungleichheiten im Alter (vgl. Phillipson 2006, S. 46f.) mit verschärfter Ungleichstellung der Frauen.

Dieser komplexe, von mächtigen Einrichtungen gespeiste, von der Wirtschaft, Teilen der Wissenschaft und von der Politik immer wieder mitgestaltete und vom Neoliberalismus pointierte Diskurs hat zu einer definitiven, neuen Weltsicht geführt, die die Rahmenbedingungen für die weiteren Politiken des Alters abgeben. Als zentrale Botschaft kann mit Bezug auf viele Darstellungen gelten: • •

• •

Wegen des Alterns der Bevölkerungen werden die Nationalstaaten die Bürde der Kosten nicht mehr tragen können. Wegen des Alterns der Bevölkerungen gehen die Produktivität der Arbeit, die Innovationsfähigkeit in der Entwicklung und damit das Wirtschaftswachstum zurück. Sowohl im Pensions- wie im Gesundheits- und Pflegewesen muss Eigenvorsorge und individuelle Verantwortung forciert werden. Die Pensionssysteme müssen auf Pensionsfonds umgebaut werden, weil nur dort die Renditen so hoch sind, dass die sinkenden Beitragsleistungen kompensiert werden können.

Was ist diesem Diskurs entgegen zu halten? Dass die Belastung der künftigen Sozialbudgets wahrscheinlich nicht so stark durch die Zunahme der Älteren bestimmt werden wird wie durch die sinkenden Steuer- und Beitragseinnahmen aufgrund des Strukturwandels der Beschäftigungsverhältnisse (prekäre Arbeitsverhältnisse, Minijobs, Niedriglohnstrategien, Teilzeitbe-

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schäftigung, Kurzarbeit und schließlich weltweit steigende Arbeitslosigkeit); dass die Privilegienstruktur im Pensionssystem erhebliche Kosten verursacht (2013 betrug die durchschnittliche ASVG-Pension 1.079 €, die durchschnittliche Pension eines Pensionisten eines Sozialversicherungsträgers 3.150 €), dass also im System selbst Korrekturen nötig wären; dass die meisten Zuschreibungen an die älteren Arbeitskräfte, wie z.B. weniger innovativ, weniger produktiv, leistungsgemindert, gesundheitlich eingeschränkt und lernabstinent so allgemein, wie sie vorgebracht werden, empirisch nicht bewiesen sind, wissenschaftlich gesehen also fragliche Annahmen bzw. Aussagen darstellen; dass die Älteren einen erheblichen Beitrag zum Funktionieren des sozialen und kulturellen Systems leisten, ohne das die Wirtschaft schlicht nicht funktionieren könnte. Den Zustand einer Gesellschaft einzig und allein aus der Perspektive von fiskalisch definierten Geldflüssen zu betrachten, ist kurzsichtig; wenn damit auch noch die Zukunft prognostiziert werden soll, ist diese Geisteshaltung bedenklich. Zwischen 10 % und 15 % aller Geldflüsse, die im Weg über den Generationenvertrag von den Jüngeren an die Älteren fließen, kommen in der Form informeller Zuwendungen zurück (Erbschaften sind hier nicht berücksichtigt). Außerdem geben Ältere für die Jüngeren familiäre, soziale etc. Unterstützung, ohne die diese ihr Leben häufig nicht meistern oder ihren Lebensstandard nicht halten könnten (im Jahr 2005 leisteten unter den über 60Jährigen in Österreich z.B. 30 % mehr als 30 Stunden Enkelbetreuung pro Monat, über 40 % mehr als 30 Stunden Pflege im Monat). Ältere Menschen tragen als Großeltern, Freunde und Bekannte, als im sozialen und kulturellen Leben Engagierte, als sich Mitfreuende und Mitleidende, als jene, die von früher erzählen können, zur Entwicklung und Veränderung der Gesellschaft ebenso bei, wie alle anderen Altersgruppen. Ohne die älteren Menschen, diese Perspektive ist der rein ökonomistischen entgegen zu halten, könnte die Gesellschaft zusperren, weshalb werden sie also zu Sündenböcken gestempelt? Der Hinweis sei wiederholt: Hier geht es um Definitionen, um Bewertungen, es geht um einen Kampf der Konstruktionen. Wer immer wieder die Pensionsreform einfordert, ohne an andere Systeme zu denken, folgt ebenso einer naiven Konstruktion wie jemand, der alle Probleme auf das Gewinnstreben schiebt. Eine Sozialgerontologie, die sich als kritisch versteht, muss solche und alle anderen Diskurse immer wieder darauf hin untersuchen, wer sie kon-

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struiert, wer sie durchsetzt, und wer aus ihrer Verbreitung Nutzen zieht – also Macht- und Herrschaftskritik üben.

3. W ISSENSCHAFTSKRITIK Auf dieser zweiten Ebene liegt der Schwerpunkt auf der kritischen Betrachtung der Rolle der Wissenschaft und der Wirkungen ihres Tuns für die Gesellschaft – und hier muss leider gesagt werden, dass diese Ebene recht selten zum Gegenstand der Analyse wird. Das muss betont werden, weil Kritik auch darauf ausgerichtet werden muss, nicht einfach durch Analyse sichtbar zu machen, was ohnehin geschieht, sondern bewusst zu halten, was wir tun, wenn wir planen und gestalten, gleichviel, ob mit Bewusstsein oder blindlings und ohne Besinnung (Jürgen Habermas). Der Gedanke lässt sich auf die verschiedensten Probleme anwenden, von fachbornierter Betrachtungsweise des Alterns und seiner Folgen bis zu übersimpler Ergebnisdarstellung zwecks mediengerechter Selbstinszenierung. Auch hier greife ich wieder ein Bespiel heraus. Anwendungsforschung und einige ihrer Fallen Ein erheblicher Teil sozialgerontologischer Anwendungsforschung in Österreich und in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, steht im Kontext organisatorischer Verwertung durch Sozialbürokratie und Politik, ohne sich als Teil des Wissenschaft-Technik-Bürokratie-Komplexes zu verstehen und dies im eigenen Tun mit zu reflektieren. Es ist dies die bekannte und auch bemängelte indifferente Rolle der Sozialwissenschaften gegenüber der gesellschaftlichen Praxis. Schon in den 1960er Jahren wurde überlegt, dieser Situation dadurch zu entgehen, dass die Forschung ihre eigenen Wirkungen für diese Praxis zu analysieren, selbst zu einer dauernden Aufgabe machen könne. Diese Forderung ist jedenfalls bis heute kaum eingelöst. Trotzdem ist es nachvollziehbar, dass eine Kritische Sozialgerontologie, gewissermaßen als zweiten Impetus, diese Aufgabe mit im Auge haben muss, und zwar im Versuch, die eigenen Empfehlungen und Interpretationen in den Kontext von möglichen Wirkungszusammenhängen zu stellen. Ich will dies an einem kurzen und durchaus bedenklichen Beispiel erläutern. Rolf Heinze und Gerd Naegele haben zum Thema der Gestaltung

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des Altersstrukturwandels durch wissenschaftliche Politikberatung in Deutschland in einer systematischen Skizze auch die Wirkungen wissenschaftlicher Expertise im Zusammenhang von Politik, Wissenschaft und Verwaltung hervorgehoben (vgl. Heinze/Naegele 2013). Insbesondere dürfte hier in den letzten Jahren eine prekäre Tendenz wirksam geworden sein, in der wissenschaftliche Expertise zunehmend zur Liebedienerei an kurzfristigen, politischen Interessenkonstellationen verkommt und dadurch aktueller Reformbedarf bei den beteiligten Organisationen verschleiert wird, was letztlich negativ auf die Forschung selbst zurückschlägt (Heinze/Naegele 2013, S. 88). Es ist dies der Kern der hier geforderten Kritikfähigkeit überhaupt, weil der mangelnde Blick auf größere Zusammenhänge und das Vereinnahmtwerden durch Politik und Medien den herrschenden Interessen nur entgegenkommen kann, indem diese nicht selbst zum Gegenstand der Analyse werden. Weshalb z.B. in den letzten Jahrzehnten das Argument mangelnder Finanzierbarkeit höchst unterschiedlicher Systeme der Vorsorge und Versorgung im Alter zum zentralen Topos werden konnte, wäre ja zuallererst ein der kritischen Betrachtung würdiges Thema für die Wissenschaft, wobei als Hypothese vorauszusetzen ist, dass genau das systeminterne Kostenargument (z.B. für Renten und Pflege) eben nicht die letzte Ursache dieser Entwicklung birgt. Nicht zuletzt berührt dieses Beispiel das alte Thema des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis. Hier sei angemerkt, dass dabei wohl auch ein falsch verstandener, nämlich verabsolutierter Pragmatismus mit am Werk ist, in dem zum Kriterium von Erkenntnis deren praktische Verwertbarkeit erhoben wird, was nichts anderes heißt, als diese Erkenntnis auf die bestehenden Verhältnisse zu vereidigen (Theodor W. Adorno). Wenn ich mich nicht täusche, hängt genau damit der verbreitete Aktionismus zusammen, der anstelle der Geduld getreten ist, und sich z.B. im rasanten Neubau von immer mehr Altenpflegeheimen niederschlägt und der im hergestellten Objekt zugleich seine Leistung sehen will.

4. K RITIK

AN

F ORSCHUNGSERGEBNISSEN

Während Gesellschaftskritik auf Herrschaftskritik (erste Ebene) und Wissenschaftskritik auf Erkenntniskritik (zweite Ebene) hinausläuft, geht es auf dieser dritten Ebene um Methodologiekritik. Das meint mit anderen Worten

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die dauernde Prüfung der Zusammenhänge zwischen Theorie, Methode und Empirie. Es scheint dies auf den ersten Blick ein innerwissenschaftliches Geschäft zu sein, doch zeigt die Erfahrung, dass Veränderungen in wissenschaftlichen Konzeptionen unabhängig von gesellschaftlichen Kontexten selten vorkommen und deshalb auch die alte Trennung zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsforschung in ihrer Radikalität nicht mehr aufrecht zu erhalten ist (vgl. Nowotny/Gibbons/Limoges/Schwartzman/ Scott/Trow 1994). Revisionen Die Revision der alten These vom unvermeidlichen Leistungsverfall im Alter z.B. ist möglich geworden durch Änderungen in den Konzeptionen der Intelligenz und Änderungen in Testanlage und Testaufbau bei Intelligenzmessungen; initialisiert wurden diese Änderungen vor allem durch den offensichtlichen Widerspruch zwischen diesen Forschungsergebnissen und der Alltagspraxis, der die Forschenden zum Handeln zwang. In den 1990er Jahren noch – ein weiteres Beispiel – galt die Befragbarkeit älterer Menschen in Alters- und Pflegeheimen zu ihrer Lebensqualität, insbesondere wenn diese Menschen leicht oder mittelmäßig demenziell verändert sind, als nahezu unmöglich. Nun lässt sich zeigen, dass eine Reihe von Instrumenten, die vor zehn Jahren noch in Pflegeheimen eingesetzt wurden, trivialsten Standards der Sozialforschung nicht zu genügen vermochte. Zudem wurden spezifische Aspekte bei der Befragung betagter Menschen zu wenig oder nicht berücksichtigt. Eine der methodologisch bedenklichen Vorannahmen äußerte sich darin, dass die Ziele und Kategorisierungen der Träger, der medizinischen Experten und Expertinnen der Pflegeheime und der Versicherer gleichgesetzt werden mit den Bedürfnissen und Erwartungen der Bewohnerinnen und Bewohner. Zweifel und Unzufriedenheit in der Praxis haben mit dazu beigetragen, dass subtilere Befragungs- und Beobachtungsprozeduren entwickelt wurden. Heute sind Befragungen zur Lebensqualität in Pflegeheimen eine Selbstverständlichkeit. Mit diesen kurzen Hinweisen sollte hinlänglich klar geworden sein, dass selbst in die der Forschung abverlangten und vermeintlich internen Methodologiekritik die ersten beiden Ebenen als Kontext mit hereinspielen. Für eine Kritische Sozialgerontologie bleiben die drei Ebenen untrennbar miteinander verbunden.

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5. F AZIT Es will mir scheinen, dass in diesem Thema zugleich zwei philosophisch treibende Fragen leben. Um handeln zu können, muss man voraussetzen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein soll, und dass man sie ändern kann; damit man sie aber ändern kann, bedarf es der Einsicht und des Erkennens, also der Theorie. Die zwei treibenden Fragen sind daher, welchen Werten und Zielen nachgestrebt und auf welchen Wegen und unter welchen Bedingungen das geschehen soll (Vilém Flusser). Das wäre gewissermaßen die ausstehende Fortsetzung zum heutigen Thema und ein Verweis auf den eingangs genannten Bezugspunkt jeder Kritik. Ein eigener Vortrag, der aus meiner Sicht den Titel tragen müsste: Weshalb gelingt es nicht, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es allen älteren Menschen ermöglichen, ein selbständiges und von Sinn erfülltes Leben zu führen?

L ITERATUR Amann, Anton (2008): Nach der Teilung der Welt. Logiken globaler Kämpfe. Wien: Braumüller. Amann, Anton/Ehgartner, Günther/Felder, David (2010): Sozialprodukt des Alters. Über Produktivitätswahn, Alter und Lebensqualität. Wien: Böhlau. Central Intelligence Agency (2001): Long-Term Global Demographic Trends: Reshaping the Geopolitical Landscape. Online verfügbar unter: https://www.cia.gov/library/reports/general-reports-1/Demo_Trends_ For_Web.pdf (2015-12-09). Der Standard vom 17.09.2015 „Wirtschaft braucht Kinder und Zuwanderung“. Online verfügbar unter: http://derstandard.at/2000022327927/ Wirtschaft-braucht-Kinder-und-Zuwanderung (2016-01-12). Gibbons, Michael/Limoges, Camille/Nowotny, Helga/Schwartzman, Simon/Scott, Peter/Trow, Martin (1994): The new production of knowledge. The dynamics of science and research in contemporary societies. London: Sage Publications. Göckenjan, Gerd (2000): Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters. Frankfurt/M: Suhrkamp.

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Habermas, Jürgen (1971): Theorie und Praxis. Frankfurt/M: Suhrkamp. Heinze, Rolf G./Naegele, Gerhard (2013): Gestaltung des Altersstrukturwandels durch wissenschaftliche Politikberatung? In: Kolland, Franz/ Müller, Karl H. (Hg.): Alter und Gesellschaft im Umbruch. Festschrift für Anton Amann. Wien: Ed. Echoraum, S. 87–105. Jackson, Richard: The Global Retirement Crisis. Online verfügbar unter: csis.org/files/media/csis/pubs/global_retirement.pdf (2015-12-09). Phillipson, Chris (2006): Aging and Globalization: Issues for Critical Gerontology and Political Economy. In: Baars, Jan/Dannefer, Dale/ Phillipson, Chris/Walker, Alan (Hg.): Aging, Globalization and Inequality. The New Critical Gerontology. Amityville: Baywood Publishing, S. 43–58. World Bank (1994): Averting the old age crisis. Online verfügbar unter: http://www-wds.worldbank.org/external/default/WDSContentServer/W DSP/IB/1994/09/01/000009265_3970311123336/Rendered/PDF/multi_ page.pdf (2016-01-12).

Schöne neue Alterswelt? Zum ideologischen Charakter des Active Ageing A NDREAS S TÜCKLER

Active Ageing ist in den letzten Jahren sowohl alterspolitisch als auch gesamtgesellschaftlich zu so etwas wie der dominanten „Denkform des Alters“ (Göckenjan 2000, S. 362) avanciert. 2012 wurde von der Europäischen Kommission bereits das „Europäische Jahr für aktives Altern“ ausgerufen. Seine Attraktivität verdankt dieses Konzept vor allem der Suggestion eines allumfassenden – sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen – Nutzens: Einerseits wird mit einem ‚aktiven Altern‘ die Mobilisierung bislang brachliegender produktiver Potenziale älterer Menschen verbunden, die es gerade angesichts des demografischen Wandels gesellschaftlich zu nutzen und zu verwerten gilt. „Active ageing“, so heißt es etwa in einer Definition der OECD, „refers to the capacity of people, as they grow older, to lead productive lives in society and the economy“ (OECD 2000, S. 126). Praktisch bedeutet das in erster Linie „adopting healthy life styles, working longer, retiring later and being active after retirement“ (Europäische Kommission). Andererseits – und darüber hinaus – verspricht das Active Ageing auch eine stärkere gesellschaftliche Integration und Teilhabe älterer Menschen in und an der Gesellschaft und eine höhere Lebensqualität gerade durch die Möglichkeit fortgesetzter, sinnstiftender Aktivität im Alter. Demnach beschreibt Active Ageing vor allem einen „process of optimizing opportunities for health, participation and security in order to enhance quality of life as people age“ (WHO 2002, S. 12). Nicht zuletzt werden dabei

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auch ganz allgemein eine Verbesserung des gesellschaftlichen Altersbildes und die Bekämpfung von Altersdiskriminierung angestrebt.1 Von einem ‚aktiven Altern‘ – so lautet jedenfalls die politisch vermittelte Botschaft – profitieren also letztendlich alle: Die Gesellschaft als solche profitiert davon, weil sie auf diese Weise produktive Potenziale erschließen kann, die ihr im Zuge des demografischen Wandels gerade auszugehen drohen. Aber auch die älteren Menschen selbst, weil sie aus ihrer weitgehenden sozialen Marginalisierung befreit werden und auch im Alter die Möglichkeit haben, aktiv zu sein und an der Gesellschaft zu partizipieren, was sich wiederum positiv auf die Lebensqualität als solche auswirkt: Active Ageing sozusagen als „win-win-Situation“ (Dyk 2009, S. 316). Dieses ‚win-win-Versprechen‘ zieht sich praktisch wie ein roter Faden auch durch die gesamte jüngere alterswissenschaftliche Literatur. Besonders hervorzuheben sind hier vor allem die seit 1993 von der deutschen Bundesregierung in Auftrag gegebenen und von einer wissenschaftlichen ExpertInnenkommission verfassten Altenberichte, in denen ein ‚aktives Altern‘ sukzessive zur zentralen Strategie sowohl zur Lösung der anstehenden demografischen ‚Herausforderungen‘ als auch hinsichtlich einer Verbesserung gesellschaftlicher Altersbilder und einer Erhöhung von Lebensqualität im Alter aufgebaut wurde (vgl. insbesondere BMFSFJ 2001, 2006, 2010). Gerade diese auffällig harmonische und widerspruchsfreie Art und Weise, wie hier zwei im Grunde zunächst völlig konträre (oder jedenfalls nicht notwendigerweise übereinstimmende) Positionen und Interessenlagen im Active Ageing zusammengehen (sollen) – nämlich das konkrete Lebensinteresse älterer Menschen auf der einen, das gesellschaftliche Bestandserhaltungsinteresse vor dem Hintergrund kapitalistischer Wachstums- und Produktivitätszwänge und demografischem Wandel auf der anderen Seite – erweist sich aber bei genauerer Betrachtung als ausgesprochen merkwürdig und deutet meines Erachtens auf einen hoch problematischen ideologischen Charakter des Active-Ageing-Konzepts und der von ihm beschworenen schönen neuen Alterswelt hin.

1

So behauptet etwa Alan Walker, gegenwärtig einer der gewichtigsten wissenschaftlichen Stichwortgeber europäischer Alterspolitik: „Age discrimination is the antithesis of active ageing“ (Walker 2002, S. 128).

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In diesem Beitrag sollen daher einige ideologiekritische Überlegungen zum Active Ageing angestellt werden. Diese entfalten sich im Folgenden entlang von drei Punkten, die zum einen konzeptuelle Aspekte, zum anderen den politisch-ökonomischen Kontext des Active Ageing betreffen, und an denen sich der ideologische Charakter des für das Active Ageing konstitutiven win-win-Versprechens erweisen soll. Es wird dabei argumentiert, dass diese win-win-Rhetorik eine hauptsächlich ideologische Legitimationsfunktion für eine umfassende politische Neuregulierung des Alter(n)s unter den Prämissen von Neoliberalismus und demografischem Wandel erfüllt, die weniger mit einer Erhöhung von ‚Lebensqualität‘ im Alter verbunden ist, als vielmehr mit einer Reihe von normativen Zwängen, (neuen) sozialen Ein- und Ausschlüssen und sogar ganz neuen Formen der Altersfeindlichkeit und Altersdiskriminierung.

1. Z UR NEOLIBERALEN R ATIONALITÄT A CTIVE A GEING

DES

In der Auseinandersetzung mit dem neuen alterspolitischen (und alterswissenschaftlichen) Paradigma des Active Ageing ist es zunächst einmal erforderlich, sich vor Augen zu halten, dass sich darin eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz einer umfassenden politischen Altersaktivierung widerspiegelt. Diese stellt selbst wiederum nur einen Sonderfall der Aktivierung dar, d.h. das ist durchaus nicht die einzige Form von Aktivierungspolitik, die derzeit betrieben wird, sondern diese fügt sich ein in einen wesentlich größeren politischen Zusammenhang, in dem nämlich die staatliche Politik und insbesondere der Sozialstaat sukzessive umstellt vom Modus der Versorgung und der sozialen Sicherung eben auf den Modus der Aktivierung. War diese Aktivierung zunächst auf Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen beschränkt, die damit einem immer rigideren Kontroll- und Disziplinierungsregime unterworfen werden, das bis hin zu staatlicher Zwangsarbeit zu gehen scheint (in Deutschland prominent Hartz IV mit seinem System der ‚Ein-Euro-Jobs‘), so greift diese nun, auf spezifische Weise, auch auf die Alten, auf die PensionistInnen und RentenbezieherInnen über (vgl. Lessenich 2009). Diese sozialstaatliche Umstellung ist im Prinzip gleichbedeutend mit einem sukzessiven Abbau sozialstaatlicher Leistungen, und dementsprechend sollen diejenigen, die hauptsächlich sol-

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che Leistungen beziehen, stärker in die Pflicht genommen und zur Verantwortung gezogen werden. Dieser Rückbau des Sozialstaats ist selbst wiederum nur ein Teilmoment einer umfassenderen politisch-ökonomischen (Krisen-)Tendenz im Zusammenhang mit fortschreitenden neoliberalen Restrukturierungen, die ihre wesentlichen Ursachen haben einerseits in einem im Prinzip seit den 1970er Jahren stagnierenden oder jedenfalls stetig schwieriger zu realisierenden Wirtschaftswachstum in praktisch allen westlichen Industrieländern (im Verbund mit einer rapide zunehmenden Staatsverschuldung) und andererseits – aber auch unmittelbar damit zusammenhängend – in der Herausbildung eines globalen und von der Realökonomie völlig entkoppelten Finanzmarkts, auf dem sich die Kapitalverwertung seither, in Ermangelung anderer rentabler Investitionsmöglichkeiten, praktisch nur noch virtuell in einer historisch beispiellosen, spekulativen Finanzblasen-Ökonomie vollzieht (vgl. Kurz 2005). Die daraus resultierenden neoliberalen Transformationen schlagen sich insbesondere in einer fortschreitenden Privatisierung und seither immer wieder beklagten Ökonomisierung verschiedenster gesellschaftlicher, auch ursprünglich marktferner Bereiche nieder, wie z.B. der Bildung oder auch des Gesundheits- und Sozialwesens. Alle diese Bereiche werden zusehends entlang von ökonomischen KostenNutzen-Kalkülen umgestellt. Eben dies ist im Wesentlichen auch der – an dieser Stelle freilich nur sehr grob und kursorisch referierte – gesellschaftliche Kontext, in dem sich der politische Prozess der Altersaktivierung, mit tatkräftiger Unterstützung der Wissenschaft, maßgeblich abspielt. Das heißt, was in den letzten Jahren alterswissenschaftlich und alterspolitisch als Active Ageing verhandelt wird, all das ist eben zunächst einmal in diesem politisch-ökonomischen Zusammenhang zu betrachten, quasi als Element einer neoliberalen Regierungstechnik, mit der im Rahmen entsprechender (sozial)staatlicher Umstrukturierungen und vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und einer absehbaren Unfinanzierbarkeit staatlicher Pensions-, Gesundheits- und Sozialsysteme auch das Alter(n) umstrukturiert, d.h. neu reguliert und politisch gesteuert werden soll. Aus dieser Perspektive erscheinen aber natürlich gerade die individuellen Nutzenaspekte, die das Active Ageing so stark betont und die praktisch seine zentrale Legitimationsgrundlage darstellen, in einem etwas anderen Licht. All die positiven Postulate von Teilhabe, Inklusion und höherer Lebensqualität durch ein ‚aktives Altern‘ werden vor diesem Hintergrund eigentlich allesamt ideologisch. Denn weder auf die Partizipationsbedürfnisse

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noch auf die Lebensqualität älterer Menschen kommt es hier primär an. Das mag schon alles auch irgendwie eine Rolle spielen – und es ist wahrscheinlich den meisten WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen, die ein ‚aktives Altern‘ propagieren, durchaus zu glauben, dass es ihnen auch (und vielleicht sogar in erster Linie) um die Lebensqualität älterer Menschen geht2 – aber mit Blick auf den politisch-ökonomischen Kontext des Konzepts und die Rolle, die ihm gesellschaftlich zukommt, ist das im Grunde alles sekundär. Primär geht es um die Instandhaltung und nachhaltige Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse unter politisch und ökonomisch verschärften neoliberalen Prämissen und im Angesicht einer im Zuge des demografischen Wandels schrumpfenden und zugleich ‚alternden‘ Bevölkerung. Es ist daher im Übrigen wohl auch alles andere als ein Zufall, dass der historische Zeitpunkt der Formierung des gesellschaftlichen und insbesondere wissenschaftlichen Diskurses rund um das ‚aktive Altern‘ ziemlich genau mit der ‚neoliberalen Wende‘ in den 1980er Jahren zusammenfällt, in der die aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Transformationen ursächlich wurzeln und in deren Zuge auch der demografische Altersstrukturwandel mehr und mehr politisch zu Bewusstsein kam. Erst unter diesen Prämissen ist ein ‚aktives Altern‘ überhaupt politisch und ökonomisch interessant ge-

2

Überhaupt ist die vorliegende Ideologiekritik am Active Ageing nicht so (miss) zu verstehen, dass hier die Altersaktivierung, quasi herrschaftsfunktionalistisch, als ‚böswillige‘ Strategie einer herrschenden politischen und technokratischen Elite decouvriert werden soll. Vielmehr – und ganz im Gegenteil – geht es darum, den Zusammenhang zwischen politisch-ökonomischen Verhältnissen und aktuellen alterspolitischen Tendenzen herauszuarbeiten. Das Ideologische des Active Ageing besteht dabei gerade in der Vernebelung eben dieses Zusammenhangs, und diese vollzieht sich, obwohl oder vielmehr gerade weil die Urheber und Fürsprecher des Konzepts mitunter auch ganz andere Intentionen haben als sie letztlich damit an Effekten realisieren. Die Ideologie besteht mithin in der Diskrepanz zwischen dem, was das Active Ageing zu sein und zu bewirken beansprucht (und was ihre Urheber subjektiv damit verbinden mögen), und seiner objektiven Rolle als politischem Steuerungsinstrument vor dem Hintergrund von Neoliberalismus und demografischem Wandel und daraus resultierenden politischen Sachzwängen.

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worden – und nicht nur interessant, sondern mittelfristig sogar absolut systemrelevant.3 Die durch und durch neoliberale Rationalität des Active Ageing erweist sich nicht zuletzt auch durch die Verwandtschaft altersbezogener Aktivitäts-, Produktivitäts- und Potenzialdiskurse mit zahlreichen anderen neoliberalen Diskursen, die sich im Active Ageing auf spezifische Weise zu einem neuen gesellschaftlichen Altersdiskurs verdichten. Die gegenwärtigen Ökonomisierungs- und sozialpolitischen Aktivierungstendenzen gehen bekanntlich einher mit zunehmenden Selbstverantwortlichkeits- und Flexibilisierungsanforderungen, die im fortschreitenden Rückzug des (Sozial-) Staates und einer allgemeinen Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen im Neoliberalismus begründet liegen. Den Menschen wird unter diesen Prämissen eine immer höhere Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität sowie eine ständige Selbstoptimierung abverlangt, eine stetige und unausgesetzte Planung der eigenen Karriere- und Lebensentwürfe, bei der praktisch nichts dem Zufall überlassen werden darf und man im wahrsten Sinne des Wortes zu so etwas wie einem Unternehmer und Manager seiner selbst werden muss. Ulrich Bröckling (2007) hat das in seiner Abhandlung über das „unternehmerische Selbst“ recht instruktiv als die hegemoniale Subjektivierungsform im Neoliberalismus dargestellt. Die neoliberale Ökonomisierung geht also schließlich so weit, dass immer mehr Lebensbereiche ebenfalls zunehmend einer strengen Kosten-NutzenRechnung unterworfen werden (müssen). Und das ist ein Prozess, der auch am Alter nicht spurlos vorbei geht. Unter der Hegemonie des Active Ageing wird auch das Alter(n), wie tendenziell das ganze Leben im ‚flexiblen Kapitalismus‘, zu einem individuellen Projekt, das jeder einzelne Mensch

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Ob und inwieweit entsprechende politische Active-Ageing-Programme und Maßnahmen zur Lösung der mit dem demografischen Wandel assoziierten Probleme taugen, steht dabei freilich auf einem ganz anderen Blatt. Wie z.B. der politisch angestrebte längere Verbleib in der Erwerbsarbeit zwecks nachhaltiger Finanzierung des Pensionssystems beim langfristigen Trend zum fortgesetzten Arbeitsplatzabbau und angesichts ständig steigender Arbeitslosigkeit praktisch realisierbar sein soll, ohne dabei auf Kosten anderer Segmente der Erwerbsbevölkerung (insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen) zu gehen, erscheint aktuell mehr als fraglich.

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selbstverantwortlich zu managen hat. ‚Aktives Altern‘ wird zu einem neuen gesellschaftlichen, altersbezogenen Ideal, auf das jeder Mensch selbstverantwortlich und auch im eigenen Interesse hinzuarbeiten hat, das er entsprechend zu planen und dabei auch seinen Körper entsprechend zu formen und zu bearbeiten hat (vgl. dazu Schroeter 2009). So flexibel, aktiv und selbstverantwortlich, wie der neoliberale Mensch sein Leben meistern soll, so soll er auch sein Altern meistern. Active Ageing repräsentiert mithin das neue Altersbild des neoliberalen Zeitalters, es ist geradezu Teil eines „neuen Geistes des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2006) – eines Kapitalismus, der in dem Maße, wie Wachstums- und Produktivitätszwänge immer weiter steigen (und die kapitalistischen Ökonomien in immer schwerwiegendere ökonomische, soziale und ökologische Krisen treiben), auch den Menschen immer noch mehr Leistungsfähigkeit und Produktivität abverlangen muss, um sich selbst „knirschend, stöhnend“ (Adorno) am Leben zu erhalten. In diesem Sinne soll der flexible, selbstverantwortliche, aktive, neoliberale Mensch, wenn er denn schon altern muss, es wenigstens aktiv tun, um so lange wie er nur kann als vernutzbare Humanressource zur Verfügung zu stehen, zumindest aber der Allgemeinheit nicht als Kostenfaktor zur Last zu fallen.

2. I NDIVIDUALISIERUNG DES ALTER ( N ) S Die neue, neoliberale „Denkform“ des Alters, wie sie im Active Ageing Gestalt annimmt, mit ihren ausgeprägten Selbstverantwortlichkeits-, Flexibilitäts- und Aktivitätsanrufungen geht wiederum einher mit einer radikalen Individualisierung des Alter(n)s. Das Active-Ageing-Konzept formuliert im Prinzip einen äußerst breiten Katalog von Maßnahmen und Strategien (um deren Konzeption und/oder ‚evidenzbasierte‘ Prüfung (‚good practice‘) sich ein beträchtlicher Teil der einschlägigen (sozial)gerontologischen Forschung hauptsächlich dreht), wie älterwerdende Menschen sich bzw. ihr Leben im Alter optimieren und insbesondere Altersrisiken minimieren, d.h. altersbedingte Gesundheitsrisiken und mit dem Alter potentiell einhergehende finanzielle und soziale Risiken reduzieren können (z.B. durch Prävention, körperliche Fitness, gesunde Ernährung, finanzielle Altersvorsorge, fortgesetzte berufliche/ehrenamtliche Aktivität usw.). Abgestellt wird dabei mehr oder weniger explizit, aber durchgehend auf die individuelle

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Eigenverantwortung der Alternden. Das heißt, jede und jeder ist nach dieser Logik – ausgesprochen oder unausgesprochen – für den Verlauf seines Alternsprozesses individuell zuständig und daher auch selbst verantwortlich (vgl. auch Rudman 2006). Nun wäre freilich ein solcher Selbstverantwortlichkeitsdiskurs des Alter(n)s für sich selbst genommen noch nicht zwangsläufig problematisch. Für seinen eigenen Alternsprozess selbst die Verantwortung zu übernehmen und etwa durch einen möglichst gesunden Lebensstil, eine gesunde Ernährung etc. dazu beizutragen, dass der Alternsprozess so gut wie möglich verläuft, dürfte wohl in der Regel unmittelbar im Interesse eines jeden alternden Menschen liegen. Auch sind Werte wie Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung per se alles andere als negativ, sondern ganz im Gegenteil sehr positive und erstrebenswerte Dinge. Jedoch werden sie höchst problematisch in einer derart von materieller und sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft wie der unseren, in der die Ausgangslagen und individuellen Voraussetzungen für ein gesundes und aktives Altern schon von vornherein extrem ungleich verteilt sind. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Studien, die eindeutig nachweisen, dass Personen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, also mit niedriger Bildung und niedrigem Einkommen, eine ungleich geringere Wahrscheinlichkeit haben, bis ins höhere Alter hinein gesund zu bleiben (vgl. Lampert 2000). Sie haben daher bereits an sich auch eine deutlich niedrigere Lebenserwartung (vgl. Lampert/Maas 2002). Besonders seit der neoliberalen Wende hat diese soziale Ungleichheit der Lebenserwartung offenbar ganz massiv zugenommen (vgl. Olshansky et al. 2012). Im Klartext heißt das: Je höher der sozioökonomische Status einer Person, desto höher die Chance gesund und ‚aktiv‘ zu altern. Nichtsdestoweniger beansprucht das Active Ageing für alle Menschen gleichermaßen Geltung und erklärt sie unabhängig von ihrem sozialen Status für den eigenen Alternsprozess verantwortlich. Das ist durchaus nicht bloß ein ohne weiteres zu behebender blinder Fleck, sondern hat innerhalb der neoliberalen Logik des Konzepts System: Active Ageing geht normativ vom erfolgreichen Selbstunternehmer-Subjekt und nicht von den (derzeit immer mehr werdenden) sozialen VerliererInnen aus, was nicht zuletzt am Lebensstilkonzept abgelesen werden kann, das es den Alternden verordnet: gesunde Ernährung, Fitness, bürgerschaftliches Engagement, private Altersvorsorge etc. Im Prinzip legt Active Ageing also durchgängig Lebensstilkonzepte des gehobenen Mittel-

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stands zugrunde.4 Sein Leitbild sind konsumorientierte, bildungsorientierte, karriereorientierte, gut situierte Menschen, die einen entsprechend aktiven Lebensstil pflegen, sich hauptsächlich über ihren Beruf und über Konsum definieren und deren Habitus es auch entspricht, ein privates ‚Finanzmanagement‘ zu betreiben und ganz gezielt für die Zukunft vorzusorgen (einmal ganz davon abgesehen, dass private Altersvorsorge das Vorhandensein ausreichender finanzieller Mittel voraussetzt, die veranlagt werden können, also schon per se eine schichtspezifische Angelegenheit ist). Und dieser Mittelschicht-Lebensstil wird im Kontext des Active Ageing quasi zur gesellschaftlichen Norm erklärt, ohne Rücksicht darauf, dass das eine Norm ist, die bereits aus Gründen, die mit der Struktur kapitalistischer Gesellschaften gegeben sind, bei weitem nicht von allen Menschen erreicht werden kann. Für die gehobene Mittelschicht dürfte das neue Altersbild des ‚aktiven Alterns‘ tatsächlich, zumindest teilweise, neue Freiräume im Alter eröffnen, durch die Möglichkeit einer längeren beruflichen Aktivität, durch ehrenamtliches Engagement, durch Weiterbildung usw. Das entspricht ja auch weitestgehend deren Lebensstil. Aber für Angehörige niedriger sozialer Schichten bedeutet eine solche, an der gehobenen Mittelschicht orientierte Altersnorm potentiell zusätzliche Zwänge und zusätzliche Benachteiligungen zu denen, die ihnen aufgrund ihrer sozialen Lage ohnehin schon das Leben recht schwer machen. Das ganze hat im Übrigen auch geschlechtsspezifische Implikationen: Frauen haben aufgrund von Reproduktionstätigkeiten, die ja trotz ‚Gleichstellung‘ nach wie vor hauptsächlich von ihnen übernommen werden (Haushalt, Kindererziehung, insbesondere Altenpflege), ebenfalls Nachteile in dieser Hinsicht – erst recht, wenn sie, wie das längst der Normalfall ist, erwerbstätig sind und durch Arbeit und Haushalt im Grunde doppelt belastet sind. Viele Frauen haben daher z.B. deutlich weniger Kapazitäten mit Blick auf die für ein ‚aktives Altern‘ erforderliche Selbstsorge als etwa Männer (vgl. Holstein 1999). Dabei wirkt es sich freilich zusätzlich nach-

4

Deshalb finden manche VertreterInnen der Gerontologie auch nichts dabei, neben Konzepten eines „aktiven“ und „gesunden Alterns“ auch solche eines „erfolgreichen Alterns“ zu kreieren (vgl. prominent Rowe/Kahn 1997). Der erfolgreiche Selbstunternehmer verkörpert nun einmal das Menschenbild nicht nur der neoliberalen Politik, sondern eben auch der Gerontologie.

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teilig aus, wenn zur geschlechtsspezifischen Benachteiligung auch solche entlang der ethnischen oder der Schichtzugehörigkeit hinzukommen. Insofern betreibt die Active Ageing-Programmatik, genau betrachtet, im Endeffekt aber nur die Privilegierung bereits Privilegierter und die weitere Marginalisierung ohnehin gesellschaftlich marginalisierter Menschen und Bevölkerungsgruppen (vgl. ähnlich auch Holstein/Minkler 2003, S. 792). Die fortschreitende Individualisierung des Alter(n)s geht einher mit einer Ausblendung sozialer Faktoren, die den Alternsprozess der Menschen recht maßgeblich bestimmen und die dafür sorgen, dass nicht alle Menschen die gleichen Chancen und Möglichkeiten haben, ihren Alternsprozess im Sinne eines ‚aktiven Alterns‘ zu beeinflussen und entsprechend gesund und aktiv alt zu werden. Und ein Konzept bzw. eine Alterspolitik, die solche unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen und sozialen Ungleichheiten einfach negiert und darüber hinaus auch noch die Verantwortung über ‚Erfolg‘ und ‚Misserfolg‘ des Alterns den einzelnen alternden Menschen überträgt, ungeachtet ihrer privilegierten oder nachteiligen Ausgangslagen, wäre eigentlich gerade auch vonseiten der Alterswissenschaft wesentlich kritischer zu betrachten als das gegenwärtig überwiegend der Fall ist.

3. D IE

IDEOLOGISCHE

AUFWERTUNG DES ALTERS

Der dritte Punkt, der in diesem Beitrag erörtert werden soll, zielt auf den ideologischen Lebensnerv des Active-Ageing-Konzepts, nämlich auf seinen Anspruch, zu einer Verbesserung gesellschaftlicher Altersbilder beizutragen. Mit dem Active Ageing wird ja, wie eingangs erwähnt, sehr lautstark auch der Anspruch erhoben, durch ein die Aktivität und Vitalität älterer Menschen betonendes und förderndes Alterskonzept die traditionell vorherrschenden negativen, defizitorientierten Altersbilder zu überwinden, in denen das Alter vorwiegend konnotiert wird mit Pflegebedürftigkeit und körperlichem und geistigem Verfall – ein Anspruch, der auf den ersten Blick in gewisser Weise auch erfüllt wird. Es ist ja heute tatsächlich so, dass das Alter gesellschaftlich mehr als je zuvor unter dem Gesichtspunkt der Aktivität, der Produktivität und der Potenziale und Kompetenzen älterer Menschen wahrgenommen wird. Vor allem medial wird mittlerweile fast unaufhörlich das Bild von den fitten, vitalen und aktiven Alten vermittelt. Insofern könnte man also zunächst einmal durchaus sagen: mission accom-

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plished. Wenn man allerdings etwas genauer hinsieht, dann lässt sich meines Erachtens erkennen, dass es mit diesem neuen positiven Altersbild nicht allzu weit her ist. Das Active Ageing ist ja sehr stark gekoppelt an die Vorstellung von den sogenannten „jungen Alten“, wie sie in den letzten Jahren recht populär geworden sind (vgl. ausführlicher Dyk/Lessenich 2009) und etwa auch in der soziologischen Differenzierung zwischen drittem und viertem Lebensalter zum Ausdruck kommt (vgl. Laslett 1995). Das sind quasi jene alten Menschen, die im Grunde von ihrem körperlichen Allgemeinzustand und ihrem Lebensstil und dementsprechend auch von ihrem Aktivitätspotenzial her ‚noch gar nicht so alt‘ sind. Das ist gewissermaßen die Kernbotschaft des Active Ageing: Dass das Alter eben nicht unmittelbar mit dem Verlust von Aktivität und Produktivität einhergeht, wie das lange Zeit mit dem Alter assoziiert wurde und auch heute noch z.B. vonseiten des Arbeitsmarkts signalisiert wird, wo man/frau mit 50 in vielen Branchen praktisch als unvermittelbar gilt und sprichwörtlich zum alten Eisen gerechnet wird. Solche Einstellungen sollen mit dem Active Ageing, jedenfalls dem Anspruch nach, überwunden werden. Alt im wörtlichen Sinne ist man nach dieser Logik eigentlich erst im vierten Lebensalter, wenn altersbedingte körperliche und kognitive Einschränkungen dazu führen, dass Menschen zunehmend hilfsund pflegebedürftig werden. Aber das ist eben eine Phase des Lebens, die den Großteil der Menschen erst in einem relativ hohen Alter betrifft, oft erst mit 80 aufwärts. Entsprechend ist die gängige Assoziation des Alters mit Pflegebedürftigkeit und Tod ein defizitäres Bild, das bei weitem nicht auf alle älteren Menschen in ihrer Gesamtheit zutrifft, und schon gar nicht in dem Alter, in dem für gewöhnlich bereits die Zuordnung zu den ‚Alten‘ stattfindet (nämlich bereits ab 50, 60). Die Verbesserung des Altersbildes, die mit dem Active-Ageing-Konzept anvisiert ist, besteht also im Wesentlichen darin, diese traditionelle, defizitorientierte Vorstellung vom Alter aufzubrechen, indem deutlich gemacht wird, dass diese negativen Alterszuschreibungen, dieses negative Altersbild eben gerade kein Bild ist, das allen älteren Menschen entspricht und streng genommen sogar nur auf eine Minderheit von ihnen zutrifft, nämlich auf hochaltrige Pflegebedürftige. Soweit jedenfalls die zentrale Argumentationslinie, die zweifellos eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen kann – wenn dabei nicht als eine Verbesserung des gesellschaftlichen Altersbildes ausgegeben würde, was im Grunde genommen gar keine ist. Denn was dabei ja gerade nicht in Frage

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gestellt wird, ist die Defizitperspektive auf das Alter, die vom Standpunkt des Active Ageing vorgeblich so heftig kritisiert wird. Daran wird eigentlich gar nicht gerüttelt, sondern in Frage gestellt wird lediglich die empirische Gültigkeit dieser Defizitperspektive für die Gruppe der sogenannten ‚jungen Alten‘ (vgl. auch Dyk 2009, S. 323). Für diese soll dieses negative Altersbild nicht gelten, denn die sind ja eigentlich noch gar nicht so alt, dass dieses Altersbild für sie tatsächlich Geltung beanspruchen könnte. Mit einer solchen zunächst durchaus berechtigten und richtigen Klarstellung verschwindet aber natürlich nicht an sich schon das beklagte negative Altersbild, sondern dieses wird bloß ins noch höhere Lebensalter, nämlich in die Hochaltrigkeit, verlagert. Lediglich für die ‚jungen Alten‘ gilt dieses negative Altersbild nicht mehr, für diese gelten stattdessen weiterhin die Normen des mittleren Lebensalters von Leistung, Produktivität, Aktivität und Jugendlichkeit, und all das gilt es im Sinne eines ‚aktiven Alterns‘ im Alter auch aufrechtzuerhalten. Das heißt, die ganzen negativen Assoziationen des Alters sind durchaus nicht außer Kraft gesetzt, sie beschränken sich bloß auf das vierte Lebensalter der quasi ‚wirklich alten‘, beim besten Willen nicht mehr aktivierbaren, pflegebedürftigen Alten – ein Lebensalter bzw. eine Daseinsform, die man gerade auch dank eines ‚aktiven Alterns‘ hoffentlich erst ganz spät oder möglichst nie erreicht.5 Auf diese Weise erfährt das gesellschaftliche Altersbild aber in Wahrheit nicht nur keine Aufwertung, wie eigentlich beabsichtigt, sondern es wird im Grunde sogar noch zusätzlich abgewertet. Mehr noch: In seiner stetigen Propagierung jugendlicher Aktivität erfüllt das Active Ageing eigentlich den Tatbestand eines Anti-Ageing-Programms. Das Alter ist mehr denn je etwas, das man möglichst lange zurückdrängt und bekämpft. Insofern ist das Altersbild des Active Ageing alles andere als ein positives Altersbild. Sondern ganz im Gegenteil: Mit seiner Beschwörung von Aktivität und all den anderen Normen des mittleren Alters, die quasi ins Alter hinein verlängert werden und damit den Menschen praktisch die Erhaltung ewiger Jugend abverlangen, ist es im

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Deshalb steht auch neben dem oben erwähnten positiven Bild von den ‚jungen Alten‘ in der medialen Inszenierung immer schon ein zutiefst negatives Bild von Hochaltrigen als Pflegebedürftige und Gebrechliche. Das mediale Altersbild polarisiert also, spaltet sich quasi auf in ‚junge aktive‘ und ‚alte pflegebedürftige‘ Alte (vgl. Willems/Kautt 2002).

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Prinzip sogar noch ein wesentlich negativeres und altersfeindlicheres Altersbild als das, das damit überwunden werden soll.6

F AZIT Im vorliegenden Beitrag sollte entlang von drei überwiegend konzeptuelle Aspekte betreffenden Kritikpunkten der ideologische Charakter aktuell dominanter Active-Ageing-Programme veranschaulicht werden. Der ideologische Charakter besteht dabei, so die Argumentation, vor allem darin, dass zentrale Prämissen und Ansprüche wie auch die Legitimation des Konzepts auf problematischen, grob verzerrten Annahmen und Unterstellungen über die politische Funktion des Active Ageing beruhen. Die Programmatik verdankt ihre Legitimation hauptsächlich positiven Postulaten hinsichtlich der Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe, der Erhöhung der Lebensqualität älterer Menschen und der Verbesserung gesellschaftlicher Altersbilder, hinter denen die primäre Funktion des Active Ageing im Kontext neoliberaler Restrukturierungen und des demografischen Wandels gerade zum Verschwinden gebracht wird. Mögen Fragen der Partizipation und der Lebensqualität in diesem Zusammenhang auch nicht völlig irrelevant sein, so sind sie doch für das Konzept als solches bloß sekundär. Dies zeigt sich vielleicht besonders schlagend daran, dass das Active Ageing eine an Lebensstilkonzepten des gehobenen Mittelstands orientierte allgemeine Altersnorm installiert, die praktisch, als Maßstab entsprechender sozialpolitischer Maßnahmen und ‚Anreizsysteme‘, nur auf eine zusätzliche Benach-

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Dieses Phänomen der Verlängerung bzw. Verlagerung von Normen des mittleren Lebensalters ins höhere Alter wird speziell in der angelsächsischen Gerontologie unter dem Begriff „age imperialism“ diskutiert und als neue Form der Altersdiskriminierung kritisiert (vgl. u.a. Biggs 2004). Dieser Befund ist angesichts des hier Gesagten zu unterstreichen. Allerdings neigen KritikerInnen des „age imperialism“ selbst in problematischer Weise dazu, der ‚Kolonisierung‘ des Alters durch Normen des mittleren Lebensalters die unbedingt zu verteidigende eigene Dignität des Alters als einer eigenständigen Lebensphase entgegenzustellen. Damit verfallen sie tendenziell einer Ontologisierung und Naturalisierung des Alters, die selbst kritisch zu hinterfragen ist.

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teiligung, Marginalisierung und damit letztlich gerade auch Minderung der ‚Lebensqualität‘ sozial ohnehin marginalisierter Bevölkerungsgruppen (Angehörige der Unterschicht, MigrantInnen, Frauen etc.) hinauslaufen kann. Generell spiegelt sich im Active-Ageing-Konzept eine weitreichende Naturalisierung und Ontologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse wieder, die in der Gegenwart geprägt sind von einer zunehmenden gesellschaftlichen Entsolidarisierung, einem Rückbau sozialstaatlicher Strukturen und einer radikalen Individualisierung sozialer Ungleichheit. Die Altersaktivierung fügt sich damit ein in den umfassenden Prozess einer fortschreitenden Prekarisierung von Lebensverhältnissen im Spätkapitalismus. Dabei nimmt das Active Ageing – entgegen vollmundig erhobener Ansprüche – sogar den Charakter eines Anti-Ageing-Programms an: Die Verhältnisse im neoliberalen Kapitalismus erfordern selbstverantwortliche, flexible, anpassungsfähige, aktive Subjekte, die möglichst bis ins hohe Alter als gesellschaftlich vernutzbare Humanressource verfügbar bleiben, zumindest aber der Gesellschaft, angesichts zunehmend unfinanzierbarer Pensions- und Pflegesysteme, nicht als Unproduktive und Pflegebedürftige zur Last fallen. Aktiv altern bedeutet in diesem Sinne, so lange wie möglich nicht zu altern. Auch die diskursive ‚Aufwertung‘ des Alters erweist sich somit letztlich bloß als Ideologie im Dienste der neoliberalen Altersaktivierung.

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Bildung im Alter Zwischen Aufbruch und Abschied C LAUDIA S TÖCKL

Wir leben, arbeiten und forschen in einer alternden Gesellschaft, geprägt von Herausforderungen des demografischen Wandels und gekennzeichnet durch verschiedene Mechanismen und Technologien des marktförmigen Denkens. Zu dieser diskursiven Selbstbeschreibung tritt gegenwärtig eine andere hinzu: die Wissensgesellschaft. Bildung im Alter zeigt sich als Thema, wenn man beide Beschreibungen zusammen denkt, denn in einer Wissensgesellschaft gilt Lebenslanges Lernen als ein Schlüsselkonzept (vgl. Kahlert 2010, S. 151f.). Wissen wird als wesentlicher Produktions- und damit Wirtschaftsfaktor behandelt. Daher bezog sich lebenslanges Lernen zunächst primär auf das Erwerbsleben. Da das Leben in einer Gesellschaft des langen Lebens de facto über das Erwerbsleben hinaus reicht, hat sich auch das Konzept des lebenslangen Lernens über die Phase der Erwerbstätigkeit hinaus verlängert. Es ist daher kein Zufall, dass lebenslanges Lernen auch im Konzept des active ageing eine zentrale Rolle spielt (vgl. WHO 2002). Das Konzept des lebenslangen Lernens folgt der Vorstellung, die schon von Aristoteles herrührt, dass Lernen aus lauter positiven und aufeinander folgenden, aufeinander aufbauenden Schritten vor sich gehe (vgl. Koch 2005, S. 102). Lernen erscheint als Praxis und als Aktivität und meint ein positives Tun: ein Hinzusetzen, Hinzufügen, eine „Erweiterung, Vermehrung und Bereicherung unseres Wissens, Könnens und unseres Verhaltensrepertoirs“ (Koch 2005, S. 89). Wenn wir an Handlungen denken, denken wir daran, dass wir etwas tun; wir denken selten daran, etwas nicht zu tun

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oder nichts zu tun. Im Aktivitäts-Paradigma muss auch noch das Nichtstun als Aktivität markiert werden. Lutz Koch nennt dieses Verständnis das „‚positivistische‘ Missverständnis“ von Praxis (Koch 2005, S. 88). In diesem positiven Sinne setzen active ageing und lifelong learning auf LernAktivität. Innerhalb dieser Diskurse, die Leben und Lernen als Praxis verstehen und diese als positive Aktivität (miss)verstehen, manifestiert sich ein bestimmtes Verständnis des handelnden Selbst – oder man könnte auch sagen: ein bestimmtes Selbst-Verständnis von Personen. Jan Masschelein (2002) hat dieses Selbst-Verständnis und den damit verbundenen Horizont als das „autonome Selbst“ beschrieben, in Anlehnung an das Konzept des ‚unternehmerischen Selbst‘, das Ulrich Bröckling geprägt hat (vgl. Masschelein 2002, S. 197): Das „autonome Selbst ist ein Selbst, das nach Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Selbstrealisierung strebt [...]. Individuen werden mit einem Regime von Subjektivierungen konfrontiert, indem sie nicht nur frei sind zu wählen, sondern indem ihnen diese Freiheit auferlegt wird: es wird von ihnen erwartet, dass sie ihr Leben in Termini von Wahlen verstehen und leben. Sie sollen ihre Vergangenheit verstehen und ihre Zukunft träumen als Ergebnis von bereits vollzogenen oder noch zu vollziehenden Wahlen. Und sie sollen diese Wahlen als die Verwirklichung und Ausdruck ihrer Persönlichkeit, als Realisierung ihrer Potentiale und Befriedigung ihrer Bedürfnisse begreifen“ (Masschelein 2002, S. 197).

Das reflexive Sich-selbst-Verstehen wird zu einer selbstverständlichen, d.h. weitgehend automatisierten und unhinterfragten Prozedur, in der sich eine Person als ‚Individuum‘ konstituiert und fixiert. Diese Prozedur des Sichselbst-Verstehens erlaubt „Selbsterkenntnis und Selbstkontrolle“. Sie bringt „Techniken und Instrumente“ mit sich, „um sich selbst zu erforschen, sich zu verantworten, sich zu verstehen, sich selbst zu ‚monitoren‘, an sich selbst zu arbeiten, d.h. um Lernen zu lernen, damit das eigene Potential entfaltet und ausgenützt wird, die höchst individuellen Bedürfnisse befriedigt werden und das persönliche Glück erreicht wird“ (Masschelein 2002, S. 198f.). Mit der Vorstellung, das Leben sei ein „Projekt“, sind also nicht nur Techniken der Erkenntnis, Kontrolle und Hervorbringung des autonomen

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Selbst verbunden, sondern auch die Vorstellung, dass dieses Selbst zu optimieren sei. Lernen erscheint als Selbstoptimierungstechnik:1 „Die Botschaft ist immer wieder: arbeite an dir selbst, emanzipiere dich, sei mündig, überwinde deine Abhängigkeiten, entfalte dein Potential, wähle deine Lebensform! Es geht also nicht länger um Subjekte mit Pflichten und vor allem nicht mit Verpflichtungen, sondern um solche mit Rechten und Wahlmöglichkeiten“ (Masschelein 2002, S. 199).

Diese Erfahrungen und Selbsterfahrungen, diese Zuschreibungen und Ansprüche, an denen wir uns messen und gemessen werden, sind allerdings irritationsanfällig. Denn als Menschen machen wir unweigerlich auch die Erfahrung, nicht wählen zu können, unmündig und abhängig zu sein: Krankheit, Jobverlust, Tod, das Zerbrechen von Familien und Träumen, etc. Zwar bemühen wir uns, diese Erfahrungen gering zu halten und so gut es geht die Kontrolle zu bewahren, indem wir vorsorglich handeln, strategisch überlegen, uns absichern etc.; dennoch gibt es auch im Paradigma des autonomen Selbst einen ‚Rest‘, der nicht rationalisiert und transparent gemacht und in Dienst genommen werden kann. In dieser Rest-Erfahrung wird erlebbar, dass wir als Personen nicht Grund unserer selbst sind, und – philosophisch gesprochen – „was es bedeutet, geboren zu sein“ (Masschelein 2002, S. 201). Das autonome Individuum, das sich selbst entwirft und realisiert, ist nach Masschelein nicht unmittelbar oder ursprünglich gegeben. Wir erleben uns nicht von allem Anfang an als ‚Akteure‘ unseres Lebens. Vielmehr ist das autonome Subjekt durch bestimmte soziale Techniken produziert, die es sich im Laufe seines Lebens aneignet. Das so hergestellte Individuum versucht, die Störungen restlos zu beseitigen, was ihm aber nicht gelingen kann. Denn wir können die Welt, uns selbst und andere zwar objektivierend betrachten und beobachten, uns aber dennoch nicht vollständig gegenüber stellen. Wir bleiben Leib und in der (sozialen) Welt verhaftet, sind immer

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Real stellt sich Lernen im Kontext des Lebenslangen Lernens allerdings für viele Menschen nicht als Mittel der Selbstoptimierung heraus, um mehr Möglichkeiten oder mehr Träume zu realisieren, sondern als Mittel, um die permanenten Gefährdungen der Existenzgrundlage abzuwehren.

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involviert und damit auch betroffen (vgl. Rehbock 2011, S. 19). Betroffenheit wiederum ist etwas, das uns widerfährt; wir wählen sie nicht, wir produzieren sie nicht, wir können ihr nicht ausweichen, sondern wir werden angesprochen von wo anders her und wir können uns zunächst nicht entziehen. Wie Masschelein betont, ist diese produzierte Realität von autonomen Individuen auch der Hintergrund und der Rahmen für die gegenwärtige Pädagogik – sowohl was die Gestaltung und Konzeptionierung der pädagogischen Praxen betrifft, als auch in der pädagogischen Theoriebildung. Der sich selbst organisierende, entsprechend seinen Bedürfnissen, Vorlieben und Bedarfen aus Angeboten wählende Lerner ist das Ideal und zugleich die handlungsleitende Norm in der gegenwärtigen Pädagogik. Dies gilt auch im Kontext der Geragogik, die sich mit älteren Lernenden befasst. In der Geragogik gibt es aber auch ein Bewusstsein dafür, dass das selbstbestimmte und selbstorganisierte Lernen keine Selbstverständlichkeit ist, sondern einen Anspruch darstellt, der ältere Menschen auch überfordern und von Lernaktivitäten ausschließen kann (vgl. Bubolz-Lutz et al. 2010,S. 144–146). Wenn das selbstbestimmte und selbstorganisierte Lernen zwar als ein handlungsleitendes Ideal angenommen wird, es Lernende im Alter real aber überfordern kann, dann lässt sich in zwei Richtungen weiter denken: Ältere Menschen müssen dazu befähigt und dabei unterstützt werden, ihre Lernbedürfnisse selbstorganisiert in vorbereiteten Umwelten zu befriedigen. Auch sie sollen sich die Kompetenz des selbstorganisierten Lernens aneignen, um vom längst etablierten System der Selbstoptimierung nicht ausgeschlossen zu sein. Alternativ könnte man die Angemessenheit dieses Anspruchs hinterfragen und die Hintergründe und Grenzen des Konzepts thematisieren. Das werde ich im Folgenden tun.

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Masschelein hat diesen menschlichen Erfahrungen, die auf „Unmündigkeit, Abhängigkeit, Nicht-(wählen)-Können, Verpflichtetsein verweisen“ und die im Blick auf das autonome Subjekt nicht sichtbar werden, den Namen „Kindheit“ gegeben:

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„Der Name ‚Kindheit‘ verweist [...] auf eine unverfremdbare Unbestimmtheit oder Indeterminiertheit, wie auf eine unaufhebbare Abhängigkeit, Verbundenheit und Verletzbarkeit, d.h. auf eine unaufhebbare Unmündigkeit, ‚Kindheit‘, die nicht vorbeigeht, die keine vorbeigehende und hinter sich zu lassende Zeit ist, sondern eine immer währende ‚Zeit der Möglichkeiten‘ [...], die sich gerade auch dem Selbst entzieht“ (Masschelein 2002, S. 201).

Man könnte diesen Erfahrungen aber auch den Namen ‚Alter‘ geben. Das werde ich im Folgenden erläutern und dazu auf Überlegungen von Thomas Rentsch zurückgreifen. Thomas Rentsch stellt das Altern als ‚Werden zu sich selbst‘ vor (Rentsch 2012). Indem wir altern, werden wir zu der Person, die wir selbst sind. Anders als auf den ersten Blick sichtbar, ist dieses Werden aber nicht selbstläufig, sondern eine ständige „Interpretationsaufgabe“ (Rentsch 2012, S. 194). Das heißt, wir selbst interpretieren unser Leben und geben ihm Sinn, indem wir unsere Identität entwickeln und bewahren, indem wir unsere Identität aber auch bewähren müssen (vgl. ebd.). Diese Interpretationen unserer selbst bewegen sich nun einerseits in den erläuterten Diskursrahmen und sind andererseits nicht total von ihnen bestimmt. Außerdem sind wir dazu geneigt anzunehmen, dass die Identitäts- und Interpretationsaufgabe des ‚Werdens zu uns selbst‘ eine zutiefst persönliche und individuelle – autonome – Angelegenheit ist. Thomas Rentsch dagegen erinnert uns daran, dass wir nur in kommunikativer und sozialer Praxis, in unserem gemeinsamen Leben mit anderen zu uns selbst werden. Deshalb ist das ‚zu uns selbst Werden‘ kein glatter, bruchloser, ungefährdeter Vorgang. Das Leben und Werden ist brüchig und fragil – und zwar nicht erst im sogenannten Alter, sondern immer schon, wie Rentsch betont: „Es ist falsch zu denken, daß die Alten und sehr Alten gleichsam wie ein exotischer Stamm fremd inmitten ansonsten nur junger, unbeschwerter, kerngesunder, in Liebe, Glück und Konsum schwelgender Menschen leben. Dieses […] Zerrbild verkennt, daß die Verletzlichkeit, die Leidbedrohtheit und Schutzlosigkeit, die existentielle Fragilität alle Phasen des menschlichen Lebens wesentlich prägen“ (ebd., S. 197f.).

Die kontrastierende Gegenüberstellung von Freiheit oder Autonomie auf der einen und Angewiesenheit, Bedürftigkeit, Abhängigkeit auf der anderen Seite muss mit philosophischem und anthropologischem Blick auf die

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menschliche Existenz als Überspitzung und Verzerrung gekennzeichnet werden. Damit verliert auch die Differenzierung von Lebensaltern, die auf diesem ausschließenden Kontrast von Selbstbestimmung/Aktivität und Abhängigkeit/Bedürftigkeit beruht, ihre Basis. Und dennoch: Mit zunehmendem Alter wird diese menschliche Grundsituation radikaler (vgl. ebd., S. 198). Einerseits drängt sich der Körper mit zunehmendem Alter mehr in den Mittelpunkt, wird thematisch, wo er früher – solange er einwandfrei funktionierte und zur Verfügung stand – nur selbstverständliches Instrument, Medium und Horizont unserer Aktivitäten war. Andererseits drängt sich auch die Zeit mit zunehmendem Alter mehr und mehr thematisch auf – und hier vor allem die Erfahrung, dass sie unwiederbringlich vergeht (vgl. ebd., S. 200). Mit zunehmendem Alter wird das ‚Werden zu uns selbst‘ also immer deutlicher als gebrochen und gefährdet sichtbar und erlebbar. Die Brüche lassen sich weniger leicht kompensieren oder überdecken. Das Zerrbild des autonomen Individuums, von dem die Rede war, bröckelt. Das heißt, was wir als ‚Norm‘ des menschlichen Lebens tagtäglich spüren, das produktive und autonome Erwachsenenalter, an dem wir sowohl Kinder als auch Alte messen, lebt von der kollektiven und individuellen Verdrängung der Fragilität des Lebens. Wir leben, lernen und arbeiten die meiste Zeit sozusagen ‚selbstvergessen‘. Wir klammern unsere körperlichen Bedürfnisse aus und wir klammern unsere Hinfälligkeit aus, die Endlichkeit unseres Lebens, wir klammern unser permanentes Altern aus. Für die Herstellung solcherart ‚autonomer‘ Subjekte haben sich Prozeduren entwickelt und Institutionen, die diese Prozeduren vermitteln. Diese Prozeduren werden angeeignet in der Vorstellung, unsere subjektive Autonomie zu fördern. Mit zunehmendem Alter greifen sie nicht mehr. Das Ausblenden der Endlichkeit und Fragilität gerät an seine Grenzen, weil sich die Erfahrungen der Endlichkeit aufzudrängen beginnen – oder weil das Kompensieren zu viel Kraft erfordert. Dass sich die menschliche Grundsituation im Alter „radikalisiert“, wie Thomas Rentsch betont, ist unter anderem dem Kontrast geschuldet, der sich zwischen dem idealisierten Zerrbild des autonomen Menschen und der erlebten leiblichen und geistigen Unverfügbarkeit des Lebens einstellt. Dieser erlebte Kontrast wird umso deutlicher, je selbstverständlicher und lückenloser das Idealbild für die Realität gehalten wird, sodass die Normalität der menschlichen Existenz schließlich als Abweichung erlebt wird.

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ABSCHIEDLICHE B ILDUNG Während gegenwärtig das lebenslange Lernen als der Schlüssel zur alternden Wissensgesellschaft gesehen wird, zeigt gerade der Blick auf das Alter und das Altern sehr deutlich die Grenzen der Konzepte auf, die (lebenslanges) Lernen als positiv aufbauenden Prozess vorstellen. Erfahrungen der Angewiesenheit nötigen uns dazu, Gewohntes zu hinterfragen und zu verabschieden. Das betrifft auch unsere Vorstellungen und unser ‚Wissen‘ über uns selbst, unsere Identität. Dabei geht es nicht um ein immer weiter sich aufbauendes Wissen, um permanentes Dazulernen, vielleicht noch um ein Umlernen, das als Überschreiben des Alten codiert ist. Die Irritationen fordern dazu auf, das Alte, für wahr Gehaltene zu verabschieden, die Gewohnheiten des Lebens und des Denkens zur Disposition zu stellen. Solches Lernen nennt Lutz Koch ‚negatives‘ Lernen. Es ist ein Lernen, das dem Bestand des ‚Wissens‘ zunächst etwas wegzunehmen scheint. Es wird, im Gegensatz zum ‚positiven‘ Lernen, wo immer wieder Facetten hinzutreten, sich aufschichten, ergänzen, überschreiben und stetig aufbauen (vgl. Koch 2005, S. 88), etwas abgezogen – ein Leerraum entsteht. Eingangs habe ich beschrieben, dass das lebenslange Lernen einer positiven Logik folgt. Diesem lässt sich ein negatives Lernen hinzu stellen (vgl. Koch 2005). Negatives Lernen hat zwei Seiten: die eine bezieht sich auf den Inhalt des Wissens oder des Lernens: auf die Sache, die gelernt und gewusst wird. Lernen kann dem Wissen oder Können einer Person etwas hinzufügen, es erweitern (positives Lernen). Was vorher nicht gewusst wurde, wird nun gewusst. Allerdings könnte es sein, dass man nur glaubt, dies zu wissen. Es könnte sich auch um falsches Wissen handeln. Aus irgendeinem Grund beginnt man zu zweifeln, ob das, was bisher für wahr gehalten wurde, tatsächlich wahr ist. Was dabei gelernt wird, ist nichts Positives. Es ist kein Hinzulernen, sondern dem bisherigen Wissen, dem bisherigen Gewohnten wird etwas abgezogen, es wird ihm die Gewissheit entzogen. Auf diese Weise entsteht eine Offenheit und ein neuer Lernanlass (vgl. ebd., S. 102). Die andere Seite dieses negativen Lernens bezieht sich auf die Erfahrung, die die Person über sich selbst macht: „dass nämlich sein anfängliches Wissen nicht standhält“ (ebd., S. 102). Negative Erfahrung ist die Erfahrung, dass wir nicht diejenigen sind, für die wir uns hielten: z.B. autonom und selbstbestimmt. In der Erfahrung des negativen Lernens wer-

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den wir selbst, wird unser Denken zum Thema und unserem Selbstverständnis wird die Selbstverständlichkeit entzogen (vgl. ebd., S. 102). Die Erfahrung des Irrtums ist keine bewusst gewählte oder bewusst aufgesuchte Erfahrung: Sie befällt uns. Den Irrtum zu überwinden, bedeutet nun nicht nur die Korrektur des Irrtums, d.h. positives Lernen. Lernen bedeutet hier auch, das Vertraute, Bekannte, Gewohnte zu verlassen und zu verabschieden. Damit gewinnt negatives Lernen, das Verlernen und Verlassen auch eine Bedeutung im Sinne von Bildung (vgl. ebd., S. 103). Negatives Lernen ist also ein Lernen, das von Irritationen, Enttäuschungen und Entfremdungen lebt, die wir nicht herstellen, sondern die uns überkommen. Diese Facette allerdings wird im lebenslangen Lernen völlig zugedeckt von der positivistischen Auffassung von Lernen als einem positiven Tun. Der Bildungsdiskurs im Alter folgt fast ausschließlich einer Aufbruchsrhetorik. Er bringt Bilder des immer wieder aufbrechenden Lebens, bezieht sich aber gleichzeitig auf das Alter(n) als eine Lebensrealität, in der das gewohnte Leben immer deutlicher ‚aufbricht‘, also zerbricht‘ (vgl. Arnold 2006, S. 20). Die Aufbruchsrhethorik überblendet die Abschiedserfahrungen. Daher ist dieses negative Lernen besonders in ‚brüchigen‘ existentiellen Lagen zentral. Diese Brüchigkeit wird im Alter zwar häufiger und radikaler, ist dem Alter aber nicht vorbehalten. Bildung im Alter braucht Raum und Aufmerksamkeit für negative Erfahrung und ‚negatives Lernen‘. Gerade nicht mit der Intention der Selbstoptimierung und Selbstführung, sondern in der Erfahrung des Ausgeliefertseins, in der Erfahrung der Fremdheit im Eigenen. Diese Erfahrungen sind nicht hintergehbar. Sie lassen sich nicht aufheben in Technologien des Selbstmanagements, die dann noch darauf hinaus laufen, dass selbst das Sterben noch zu ‚lernen‘ sei. Es geht also gerade nicht um ‚Loslassen‘, als eine neuerliche Technik unter anderen Techniken, sondern um Freiräume für Bildung, in denen menschliche Erfahrungen zur Sprache kommen und geteilt werden können und in denen sie nicht sozial- und psychotechnologisch überformt und damit übergangen werden. Noch einmal ist zu betonen, dass es im gesamten Lebenslauf die Möglichkeiten oder das Risiko gibt, Angewiesenheit zu erleben und sich als unhintergehbar abhängig zu erfahren – eben als ‚geborene Existenz‘. Dies ist kein Spezifikum der Lebensphase Alter. Allerdings zeigt sich die Fragilität und Verletzlichkeit der menschlichen Existenz in der Auseinandersetzung

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mit dem Alter besonders deutlich. Umgekehrt ist die pädagogische Konsequenz, der Negativität im Lernen mehr Raum zu geben, auch auf andere Lebensphasen zu übertragen, um der ‚Kindheit‘ als einer nicht abzuschüttelnden menschlichen Erfahrung gerechter zu werden.

L ITERATUR Amann, Anton (2008): Nach der Teilung der Welt. Logiken globaler Kämpfe. Wien: Braunmüller. Arnold, Rolf (2006): Abschiedliche Bildung. Anmerkungen zum erwachsenenpädagogischen Verschweigen des Todes. In: REPORT Literaturund Forschungsreport Weiterbildung 29 (3), S. 19–28. Online verfügbar unter: www.die-bonn.de/doks/arnold0602.pdf (2016-02-29). Bubolz-Lutz, Elisabeth/Gösken, Eva/Kricheldorff, Cornelia/Schramek, Renate (2010): Geragogik. Bildung und Lernen im Prozess des Alterns. Das Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer. Kahlert, Heike (2010): Bildung und Erziehung: Transformationsprozesse sozialer Ungleichheit? In: Engelhardt, Anina/Kajetzke, Laura (Hg.): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme. Bielefeld: transcript, S. 141–157. Koch, Lutz (2005): Eine pädagogische Apologie des Negativen. In: Benner Dietrich (Hg.): Erziehung – Bildung – Negativität. Weinheim: Beltz (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 49), S. 88–104. Masschelein, Jan (2002): Die Erosion des pädagogischen Denkens als ein Vergessen der Kindheit. In: Reichenbach, Roland/Oser, Fritz (Hg.): Die Psychologisierung der Pädagogik. Übel, Notwendigkeit oder Fehldiagnose. Weinheim: Juventa, S. 198–209. Rehbock, Theda (2011): Personsein in Grenzsituationen. Anthropologische Kritik der Medizin und Medizinethik. In: Ethik in der Medizin 23, S. 15–24. DOI: 10.1007/s00481-010-0110-z Rentsch, Thomas (2012): Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit. In: Rentsch, Thomas/Vollmann, Morris (Hg.): Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen. Stuttgart: Reclam, S. 189–206.

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WHO World Health Organisation (2002): Active Ageing. A Policy Framework. Madrid. Online verfügbar unter: http://www.who.int/ageing/ active_ageing/en/ (2016-02-02).

Selbständigkeit im Alter – Perspektiven und Kontroversen

AktivDaheim – Spielerische Förderung von Menschen mit Demenz durch Multimodales Training und Intelligente Interaktion L UCAS P ALETTA , M ANUELA K ÜNSTNER , M ARIELLA P ANAGL , J OSEF S TEINER , A LEXANDER L ERCH , M ARIANNE L ERCH , P HILIPP L EFKOPOULOS & M ARIA F ELLNER

E INFÜHRUNG Aktuellen Schätzungen zufolge leben in Österreich 130.000 Personen mit Demenz, aufgrund eines kontinuierlichen Altersanstiegs in der Bevölkerung wird sich dieser Anteil bis zum Jahr 2050 verdoppeln (vgl. Höfler et al. 2015). Die adäquate und hinreichende Betreuung, speziell im eigenen Wohnumfeld, ist eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen, für die auch technische Lösungen gesucht werden. Bisherige Lösungen fokussieren auf die Stimulierung kognitiver Prozesse, die Berücksichtigung des Bewegungsapparates wird marginalisiert, Demenzerkrankungen können bestenfalls aufgehalten werden. Ziel des Projekts AktivDaheim ist die Entwicklung eines Serious Game für Menschen mit Demenz, das multimodale Trainingsfunktionalitäten innovativ integriert. Die Multimodalität ist einerseits durch die Anwendung von Multikomponenten-Interventionen bestimmt, die kognitive, physische, sensomotorische und soziale Stimulationen für die gezielte Demenztherapie erzeugen, andererseits durch die Anwendung mit multisensorischen Diagnosetools. Wissenschaftliche Studien (Graessel et al. 2011; Korczak et al. 2013; Luttenberger et al. 2012) haben bewiesen, dass Multikomponenten-

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Interventionen vermehrte motorische und soziale Aktivität den mentalen Fortschritt einer Demenzerkrankung stark positiv beeinflussen kann, ein zentrales Problem jedoch die tägliche Motivation zum Üben darstellt.

D EMENZ UND M ULTIMODALE T RAININGSANWENDUNGEN Die Therapie der Demenz sollte, aktuellen Forschungsresultaten folgend, stets einen Gesamtbehandlungsplan umfassen (vgl. Deuschl/Maier 2009; vgl. Förstl/Kleinschmidt 2011). Dieser beinhaltet pharmakologische und nicht-pharmakologische therapeutische Maßnahmen im weitesten Sinne und involviert verschiedenste Professionen: Medizin, Gesundheits- und Krankenpflege, Heimhilfe, Besuchsdienste, Ergotherapie, Physiotherapie, Psychologie und Psychotherapie, Diätologie, Musiktherapie, Logopädie etc. In Bezug auf die kognitive Funktion zeigen sich durch kognitives Training kurzfristige, signifikant positive Effekte bei gesunden älteren Personen und Personen mit MCI (Mild Cognitive Impairment), einzelne Studien ergeben sogar Hinweise auf langfristige positive Konsequenzen (vgl. Barnes et al. 2013). Mangelnde Bewegung ist laut Norton et al. (2014) der Risikofaktor, der den meisten vermeidbaren Alzheimer-Demenz-Fällen zugrunde liegt. In der österreichischen Leitlinie Besser Leben mit Demenz (vgl. Dorner et al. 2011) sowie der deutschen S3-Leitlinie Demenzen (vgl. Deuschl/Maier 2009) wird regelmäßige körperliche Aktivität zum Erhalt der Alltagsfunktionen, Beweglichkeit und Balance empfohlen und als Methode zur positiven Beeinflussung der funktionellen Leistungsfähigkeit bei Personen mit leichter/mittelschwerer Demenz identifiziert. Bewegung und ein aktives intellektuelles und soziales Leben werden zur Primärprävention einer späteren Demenz empfohlen. Bezüglich des Einflusses der Bewegung gibt es Hinweise auf langfristig niedrigere Schweregrade späterer Demenzerkrankungen bei älteren Personen durch individualisierte Einzelprogramme zur körperlichen Bewegung (vgl. Barnes et al. 2013). Bei vielen Demenzformen kommt es neben den neuropsychologischen Veränderungen im Verlauf der Erkrankung früher oder später zur Entwicklung von Bewegungsstörungen. Diese äußern sich zunächst in Problemen bei komplexen Bewegungsabläufen. Aktivitäten des täglichen Lebens bereiten Schwierigkeiten und Demenzkranke sind zunehmend auf Hilfestel-

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lung angewiesen. 80% der Demenzbetroffenen werden zu Hause betreut; unter ihnen herrscht größtenteils massiver Bewegungsmangel, zudem ist das Gesamtaktivitätsniveau generell niedrig. Eine umfassende Motivation zur Aktivitätssteigerung wird deshalb fundamental gefordert. Bereits leichte Einschränkungen alltagspraktischer Fähigkeiten können dazu führen, dass Menschen mit Demenz ihre Aktivitäten verringern. Studien beschreiben zudem die Verschlechterung von Balancefähigkeit und Gehfähigkeit älterer Menschen mit Demenz (vgl. Allan et al. 2009; Kearney et al. 2013). Physiotherapie ist daher zum Erhalt der alltagspraktischen Fähigkeiten und zum Erhalt von Balance- und Gehfähigkeit wichtig. Ein wesentlicher Aspekt ist hier die Verhinderung von Stürzen und Sturzfolgen: Verglichen mit Personen ohne Demenz haben Menschen mit Demenz ein beinahe achtfaches Risiko zu stürzen und sturzbedingte Verletzungen zu erleiden. Es gibt Hinweise, dass körperliches Training den kognitiven Abbau verlangsamt und sogar die kognitive Leistungsfähigkeit erhöhen kann (vgl. Christofoletti et al. 2008). Auf das Verhalten und die Stimmung zeigen MultikomponentenInterventionen, mit umfassendem Anteil an körperlichem Training, positive Effekte im Community-Setting sowie Hinweise auf positive Effekte im Setting Pflegeheim.

S TATE - OF - THE - ART TECHNISCHER ASSISTENZSYSTEME Bestehende technische Assistenzlösungen fokussieren ausschließlich auf Angebote zum kognitiven Training und vernachlässigen dadurch zahlreiche Aspekte, die in Multikomponenten-Interventionen in Betracht gezogen werden. ‚Kognitive Spiele‘ beschäftigen sich vorrangig mit der Fähigkeit der NutzerInnen zur Gedächtnisbildung, der Aufmerksamkeit bezüglich wichtiger Informationen, Textverständnis, der Bewältigung von Herausforderungen der visuellen Wahrnehmung und Entscheidungsfindungen. Der folgende Überblick stellt aktuelle kognitive Spiele und Trainingsprogramme mit ihren charakteristischen Funktionalitäten vor: Lumosity ist eine Homepage für On-line Gehirntraining mit einer großen Anzahl von Spielen, die sich mit kognitiven Kapazitäten beschäftigen: Gedächtnis, Leistungstraining, Aufmerksamkeit, und Problemlösefähigkeit. Lumosity Spiele wurden in diversen neurowissenschaftlichen Forschungs-

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programmen über Demenz eingesetzt. Cogmed ist ein kommerzielles Gehirn-Trainings-Programm, das ausgehend von umfangreichen Recherchen und Methoden der schwedischen Karolinska Universität entwickelt wurde. Cogmed hat eine proprietäre Metrik für die BenutzerInnen-Leistung, die auf einem Gesamtergebnis der Cogmed Übungen basiert. Die Wirkung der von Cogmed entwickelten Übungen ist jedoch umstritten. Dakim bietet eine kommerzielle Lösung für die Gehirn-Fitness von SeniorInnen an, sowie eine integrierte Touchscreen-Systemlösung, die die neueste Dakim Spielsoftware regelmäßig herunterlädt. Dieser Ansatz ist eine sinnvolle Anpassung für ältere SeniorInnen, die sich mit der Maus unwohl fühlen. CogniFit ist eine Gehirn-Fitness-Technologie, die kognitive Fähigkeiten bewertet und Online-Trainingsmechanismen anbietet. CogniFit misst Gedächtnis, visuelle Wahrnehmung, Reaktionszeit, geteilte Aufmerksamkeit, Hand-AugeKoordination, Arbeitsgedächtnis und andere kognitive Fähigkeiten. Mehrere Forschungsarbeiten verweisen auf die Wirksamkeit von CogniFit durch kognitives Training (vgl. Korczyn et al. 2007; Shatil et al. 2010). Das Gehirntraining-Spiel Brain Age von Nintendo wurde auf der Grundlage der bisherigen Ergebnisse der Studie von Kawashima et al. (2005) entwickelt, die die Wirkung des Vorlesens und der mathematischen Betätigung auf ältere Menschen mit der Diagnose Demenz untersucht. KiMentia ist eine Windows-Anwendung für die kognitive Stimulation für Menschen mit Demenz, die sich die spielerischen Möglichkeiten einer technischen „Kinect“Umgebung zunutze macht, welche speziell die Mobilität der NutzerInnen in den Mittelpunkt stellt. Das Tool konzentriert sich auf therapeutische Aspekte, psychische und körperliche Betätigung zur gleichen Zeit durchzuführen. Mit dem Paradigma eines Serious Games als therapeutisches Werkzeug zur Demenzbehandlung beinhaltet das eMotiva Projekt eine Sammlung kognitiver Spiele bei Demenz, um Aufmerksamkeit, Gedächtnis und andere kognitive Prozesse zu stimulieren und um die Motivation der Patientin oder des Patienten ständig aufrecht zu halten. In den letzten Jahren wurden im erweiterten Kontext von „Demenz-bezogenen Serious Games“ zielgruppenspezifische Spiele entwickelt, die kognitive sowie physische Aspekte in Betracht ziehen, wenn auch die sozialen und emotionalen Aspekte der Krankheit eher vernachlässigt werden. Die österreichische Firma The Brain Company GmbH bietet die spielerischen Komponenten memofit für Gedächtnistraining und memocare für die Organisation von Terminen, stimulierende

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Übungen zur Stärkung des Gedächtnisses, des Selbstbewusstseins und der Sicherheit und die psycho-soziale Betreuung in der Gruppe an. Einige internationale Forschungsprojekte haben sich im europäisch geförderten Programm „AAL-JP“ (active ambient living – joint programme) mit der Thematik Demenz und Serious Games auseinandergesetzt: die Projekte M3W1, Aladdin2, DEM@CARE3 und Safemove4, BEDMOND5 zur Erkennung von Verhaltenstendenzen als Basis zur Früherkennung und Behandlung von neurodegenerativen Krankheiten, CCE6 zur vernetzten Pflege für ältere Menschen mit Demenz, ROSETTA7 mit kameragestützter Verhaltensauswertung, Beratung und Dienstleistungen für Verhaltensanalysen, CONFIDENCE8 für Community-basierte Mobilitätssicherung mit einem Assistenzdienst für Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenz, CAREBOX9 für sensor-basierte Plug&Play Überwachungs- und Schutzsysteme für die Unterstützung von Demenzkranken im eigenen Wohnumfeld, GAMEUP10 für Serious Game gestützte Mobilitätsschulung und Motivation von SeniorInnen, SILVERGAME11 als Multimedia-Projekt zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe älterer Menschen und ALFA12 mit visueller Stimulation zur Aktivierung von Alzheimer-PatientInnen, interaktivem Programm und assistierender Bewegungs-Überwachung. Das FP7-ICT Projekt DEM@CARE beinhaltet die Entwicklung eines integrierten, kompletten Systems für Menschen mit Demenz, medizinische Fachkräfte und Pflegepersonal. Ziel ist es, eine multiparametrische Überwachung der täglichen Aktivitäten, des Lifestyles und des Verhaltens zu entwickeln, in Kombina-

1

http://www.aal-europe.eu/projects/m3w/

2

http://www.aal-europe.eu/projects/alladin/

3

http://www.demcare.eu/

4

http://www.safemove-project.eu/

5

www.bedmond.eu

6

http://www.aal-europe.eu/projects/cce/

7

www.aal-rosetta.eu

8

www.salzburgresearch.at/projekt/confidence/

9

http://www.innovatedementia.eu/en

10 http://www.gameupproject.eu/ 11 http://www.aal-europe.eu/projects/silver-game/ 12 http://www.aal-europe.eu/projects/alfa/

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tion mit medizinischen Daten, um KlinikerInnen ein umfassendes Bild vom Zustand der Person und den Fortschritten zu schaffen, ohne dass diese physisch anwesend sein müssen. In der österreichischen Projektlandschaft gab es zahlreiche Unternehmungen, insbesondere im Förderprogramm benefit des BMVIT, zur Assistenz von Menschen mit Demenz. Das Projekt SafeMotion13 entwickelte 2015 ein neuartiges, integriertes mobilitätssicherndes Assistenzsystem für Demenzkranke der mittleren Demenzstufe. Das System passt sich an die Bedürfnisse von Demenzkranken sowie deren unmittelbares Umfeld durch Einsatz eines adaptiven Regelsystems an, sodass eine optimale Unterstützung im Alltag erreicht werden kann. Das Projekt Lebensnetz14 strebte in der Form eines Serious Game an, das geistige, körperliche und soziale Wohlbefinden auf der Basis der Resultate der Reminiszenzforschung zu verbessern bzw. zu erhalten. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die in zahlreichen Projekten entwickelten Technologien zur Bereicherung zahlreicher, jeweils unterschiedlicher Aspekte anregen. Das hier vorgestellte Projekt AktivDaheim hat das Potential, den Stand des Wissens durch den Fokus auf die integrativen Komponenten eines Multikomponenten-Trainings und die zugehörigen verschiedenen Stimulationen zu erweitern.

ASSISTENZSYSTEM A KTIV D AHEIM Gesamtziel von AktivDaheim ist die Entwicklung einer flexiblen, personalisierbaren und kostengünstigen technischen Gesamtlösung für multisensorgestütztes Multikomponenten-Training, in welcher kognitives, bewegungsorientiertes und soziales Training, als Assistenzlösung für angehörige Pflegende angeboten wird. Die Zielgruppe sind professionelle Hilfskräfte, die sehr interessiert daran sind, die tägliche Motivation der Demenzbetroffenen durch eine Gesamtaktivierung aufrecht zu erhalten und damit ihren KlientInnen so lange wie möglich das Leben in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen. Die einzelnen Projektziele umfassen:

13 http://www.aal-europe.eu/projects/alfa/ 14 http://lebensnetz.at/about/

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Entwicklung einer assistiven Serious Game Lösung zur Motivation der Menschen mit Demenz zu Trainingsdurchführung und zur gesteigerten psychologischen Akzeptanz der täglichen, umfassenden Aktivierung der BenutzerInnen und als zentrale Hilfestellung zur Strukturierung des Tagesablaufs. Entwicklung einer interaktiven Systemplattform mit Ein- und Ausgabe Terminal und interaktiver Matte zur Implementierung eines multimodalen Trainingskonzepts. Der Beitrag des Bewegungstrainings als konstruktive und stimulierende Ergänzung zu kognitiven Trainingskomponenten unterstützt insbesondere die physische Beweglichkeit und Muskelaktivität. Die Einbeziehung und Aufrechterhaltung der sozialen Inklusion wird darüber hinaus im Gruppentraining spielerisch manifestiert. Entwicklung von Trainingseinheiten mit audiovisuellen Medien (Musik, Videos, Bildmaterial und Sprachausgabe) zur multisensorischen Anregung und Motivation. Entwicklung einer Schnittstelle mit Wochenplanung für angehörige Laien zur Qualitätssicherung der Pflege im eigenen Wohnumfeld. Entwicklung einer umfassenden und individuell abwechslungsreichen Toolbox für die Personalisierung des Trainingsprogramms, um eine optimal angepasste und motivierende Assistenztechnologie zu schaffen. Entwicklung einer umfangreichen Wirksamkeitsanalyse mit integriertem Echtzeit-Aufmerksamkeits-, Humanfaktoren-, Mess-, Monitoringund Analysesystem und drahtloser Datenübertragung zur automatisierten Online-Erfassung und Auswertung der Datenströme für modellbasierte Rückschlüsse auf den aktuellen Zustand der Demenzbetroffenen.

Durch aktuelle Messungen mit integriertem Eye-Tracking, Bewegungssowie Biosignal-Sensorik wird eine umfassende, vertiefte und kontinuierliche Beurteilung des kognitiven, motorischen, und emotionalen Zustands ermöglicht, sodass das Pflegepersonal Trainingsprogramme sensitiver und gezielter auf die Zielgruppe abstimmen kann. AktivDaheim wird eine Fülle von Daten über tägliche Einzelheiten und Varianzen in der kognitiven Leistung liefern, sowie einen für langfristige Wirkungsverschiebungen repräsentativen Datensatz zur Verfügung stellen.

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Gerontologisches Konzept und Training von Demenzbetroffenen – Grundlagen für AktivDaheim Geriatrische PatientInnen mit leicht- bis mittelgradiger Demenz haben andere Zielsetzungen im Training als SeniorInnen ohne Demenz. Es gibt eine Kaskade, die zu einer erhöhten Pflegebedürftigkeit führt. Bewegungsmangel hat meist Übergewicht zur Folge, das zu einer weiteren Abnahme der Aktivitäten und damit zu geringeren körperlichen Fähigkeiten und Belastbarkeiten führt. Aus der täglichen Praxis des Trainingspersonals mit älteren PatientInnen ist bekannt, daß sich diese durch die geringeren Belastbarkeiten ‚alt‘ fühlen, die Motivation wird noch geringer, es kommt zu einer Abnahme der Muskelmasse und damit zu Schwächezuständen. Das Trainingsund Bewegungskonzept kann, auch dank der Anwendung moderner Technik mit dem Tablet-PC in AktivDaheim, frühzeitig diesen Kreis durchbrechen und den weiteren Verlust der Autonomie verlangsamen. Durch Bewegung kommt es zu einer Verbesserung von Lernen und Gedächtnis, wodurch dem kognitiven Abbau vorgebeugt wird. Zusätzlich wird die Koordination gefördert und die Sturzneigung reduziert. Es kommt zu einem positiven Effekt bei Depressionen. Wichtig ist das jeweilige, individuell abgestimmte Trainingskonzept, dessen Erfolg durch objektive Tests kontrolliert und damit nach Re-Evaluierung angepasst werden kann. Ziel des Projekts AktivDaheim ist es, mit dem Trainingskonzept des Sozialvereins Deutschlandsberg – Gem MAS an! (MAS für Motivieren, Aktivieren, Stärken) – vorhandene Ressourcen und Fähigkeiten der jeweiligen Personen zu erkennen und diese so lange wie möglich zu erhalten. Das Angebot umfasst Beratung, Betreuung und Training für Menschen mit Demenz und ihre begleitenden Angehörigen. Die Zielgruppe sind Menschen mit Schwerpunkt ‚Alzheimer Typ‘, die zu Hause oder in einer Betreuungseinrichtung leben, sowie für pflegende, begleitende Angehörige. Die Inhalte der jeweiligen Trainingseinheiten stehen jeweils unter einem bestimmten Thema. Das Training erfolgt in Abstimmung auf das jeweilige Demenzstadium, das durch sogenannte Reisberg-Skalen eingeordnet wird. Die Reisberg-Skalen (Reisberg et al. 1989) bestehen aus: Global Deterioration Scale (GDS), Brief Cognitive Rating Scale (BCRS) und Functional Assessment Staging (FAST). Sie wurden von Reisberg entwickelt, um eine Schweregradeinstufung von Demenzen bei älteren Menschen zu ermöglichen. Empfohlen wird eine kombinierte Anwendung von GDS und BCRS. Dies ist in-

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sofern sinnvoll, da in den jeweiligen Stadien unterschiedliche Bedürfnisse und Ressourcen vorhanden sind. In Bezug auf die Übungen ist wichtig: Je höher das Stadium, desto mehr werden die Sinne miteinbezogen, desto geringer sind Schwierigkeitsgrad und Intensität der Übungen aufgrund der kürzeren Aufmerksamkeitsspanne. Das Stadien-spezifische retrogenetische Training (SSRT) ist ein globales Stimulationsprogramm, das auf der Theorie der Retrogenese (vgl. Reisberg et al. 1982) basiert. Kernpunkte des Trainings bilden Übungen zur Stimulation der kognitiven Funktionen sowie Übungen zur Erhaltung der körperlichen Fähigkeiten. Da die Bedürfnisse in den verschiedenen Stadien variieren, ist ein profundes Wissen über die Stadien der Erkrankung und die damit zusammenhängenden psychologischen Merkmale essentiell. Sowohl Methoden des Gedächtnistrainings als auch die Förderung der ADL (Activities of Daily Living) Funktionen und ganzheitliche Methoden (soziale und Wahrnehmungsspiele) bilden die Trainingsgrundlage. Die Methodenvielfalt erlaubt eine individuelle Abstimmung auf KlientInnen und ist vor allem auf ihre Bedürfnisse und Interessen ausgerichtet. Konkrete therapeutische Ziele sind: • • • • • • • • •

die Verbesserung der Lebensqualität Aktivierung und Stärkung der psychischen und physischen Funktionen Vermittlung von Erfolgen Förderung von Autonomie und Selbstwert Förderung des Zugehörigkeitsgefühls innerhalb einer Gruppe Vermeidung von Isolation Ermöglichung eines möglichst langen Verbleibs in der gewohnten Umgebung Entlastung der pflegenden Angehörigen Einleitung frühzeitiger psychosozialer Unterstützungsmaßnahmen

Kognitives Training und Stimulierung können die kognitive und funktionelle Leistungsfähigkeit länger aufrechterhalten, führen zur Verbesserung von Lebensqualität und zur Verringerung von Verhaltensauffälligkeiten der Erkrankten. Angehörigenberatung und Schulung kann die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Angehörigen verbessern; die Institutionalisierung der Personen mit Demenz ‚Alzheimer‘ verzögert sich dadurch. Nichtmedikamentöse Interventionen durch Training und Angehörigenbetreuung

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erzielen einen ähnlichen Effekt wie Medikamente. Die Kombination von Medikation und Training erscheint dabei am wirkungsvollsten. Die individuelle Gestaltung der einzelnen Trainingseinheiten obliegt, solange das Grundprinzip und die Qualität gewahrt bleiben, den jeweiligen TrainerInnen. Das Gruppentraining wird mit 3 bis 6 Personen je nach Schweregrad der Demenz durchgeführt. Die Dauer des Trainings beträgt 2 Stunden. Bei Personen, die sich in einem höheren Stadium der Demenz befinden, wird der Schwerpunkt vermehrt auf Wahrnehmungsförderung, Bewegungsübungen, Aktivitäten des täglichen Lebens und Spiele/Kreatives gelegt. Die Gedächtnisförderung (Langzeitgedächtnis/Biografie-Arbeit/ Erinnerungsgespräche) wird ebenfalls in das Training einbezogen. Typische Inhalte des MAS Trainings sind Gedächtnisförderung (Aktivierung KurzLangzeitgedächtnis), Wahrnehmungsförderung (alle 5 Sinne ansprechend), Körperliche Aktivierung (Gangschulung, Koordination, Muskelaufbau, Gleichgewicht), Förderung der Aktivitäten des täglichen Lebens (Einkaufsliste erstellen, Anziehübung, Schreibförderung), sowie Kreatives (Lieder, Memory, Puzzle, Karten-Sprachspiele, Rätsel, Domino etc.). Neben den gezielt angewendeten Übungen für Demenzpatienten, haben die Interventionsmaßnahmen den Schwerpunkt auf der Kombination von geistigen und körperlichen Übungseinheiten, die mit Hilfe des Tablet-PCs in der Folge durchgeführt werden können. Das Übungsprogramm wird zuerst mit Unterstützung einer Trainerin oder eines Trainers, später, nach einer vorangehenden Einübungsphase, auch selbstständig durchgeführt. Die Trainerin oder der Trainer kann aus einem Übungspool mit 3 verschieden Schwierigkeitsstufen und aus 8 verschiedenen Bewegungskategorien auswählen und ein Trainingsprogramm erstellen. Des Weiteren sind die Übungen nach Schwierigkeitsgrad 1, 2 oder 3 bewertet, damit sie auf die Fähigkeiten der KlientInnen abgestimmt werden können. Bewegungskategorien sind: Gleichgewicht, Koordination, Kraft, Gangschule, Spiel, Sensomotorik, Mobilisation und Ausdauer. Bewegungstraining Bewegungstraining mit dem Tablet-PC wird in AktivDaheim in der Form einer praktischen Anwendung wie folgt durchgeführt: Aus den verschiedenen Bewegungskategorien wird zunächst vom Trainer ein Trainingsprogramm für jede Klientin und jeden Klienten zusammengestellt. Dabei wer-

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den das Stadium der Demenz und der Fitnesszustand berücksichtigt. Aus dem gesamten Übungspool (Bewegungskategorien) werden die einzelnen Übungen, ähnlich wie man Lieder zu einer Playlist zusammenstellt, zu einer „Exercise-List“ kombiniert, was insgesamt das Trainingsprogramm für die Klientin oder den Klienten ergibt. Die Klientin oder der Klient startet das Trainingsprogramm, am Bildschirm wird die Übung als Video vorgeführt und exakt erklärt. Zusätzlich wird eine bestimmte Wiederholungszahl vorgegeben. Die Klientin bzw. der Klient übt mit dem Darsteller des Videos zeitgleich und wird zusätzlich akustisch angeleitet und motiviert. Serious Game Lösung und Interaktives Multimodales Training Eine wesentliche Innovation wird durch die integrierten, multimodalen Trainingseinheiten erreicht. Dabei sind die kognitiv orientierten Aufgaben nicht von den Bewegungsaufgaben getrennt, sondern sind direkt in einem funktionalen Zusammenhang für die BenutzerInnen zu erledigen. Eine Interaktionsmatte leistet dabei eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der Interaktionsmuster, der Analyse und des Feedbacks. Die Erledigung der Gesamtaufgabe – mit kognitiven, auditiven, visuellen, sozialen und sensomotorischen Aspekten – ist im Fokus und wird durch das Serious GameKonzept durch die Motivation, Ziele für die Punktevergabe zu erreichen, integriert. AktivDaheim verfolgt einerseits als Gruppenspiel die soziale Integration und Aufrechterhaltung der sozialen Netzwerke und Fähigkeiten, andererseits als Therapiespiel zuhause einen positiv erlebbaren Leistungsvergleich mit Gleichgesinnten in Form eines Rankings. Das Spiel ist sowohl stationär als auch ortsungebunden für Einzel- und Gruppentherapie personalisiert anwendbar. Human Factors Analysen In den letzten Jahren haben durch die fortschreitende Miniaturisierung in der Sensorik zunehmend tragbare Messinstrumente Eingang in die Forschung und Produkte im Bereich Human Factors gefunden (Muro-de-laHerran et al. 2014; Tamsin 2015). Mobile Eye Tracking Systeme wurden bisher vor allem in der Marktforschung, in der Sicherheitsforschung und für Usability Studien verwendet (vgl. Paletta et al. 2014). AktivDaheim be-

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schreitet vollständig innovative Pfade durch die Anwendung von tragbaren Biosignalsensoren (vgl. Paletta et al. 2015) für gezielte Studien in der realen Trainingsumgebung, sowie durch in der Plattform integrierte EyeTracking Messtechnologie. In AktivDaheim erforschen wir die Korrelation zwischen Aufmerksamkeits- und Bewegungsdaten, direkt durch die Untersuchung der sensomotorischen Interaktion der BenutzerInnen mit der Plattform und können die Konzentration, den Stress und die Akzeptanz des Trainingssystems allgemein und der konkreten Übungen im speziellen, sowie die Kernparamater, die für die Bestimmung der Demenzerkrankung relevant sind, direkt aus den Sensordaten in der Interaktion bestimmen. Durch die drahtlose Übertragung der Informationen von Eye-Tracking und Biosignaldaten wird es möglich sein, kontinuierlich Rückschlüsse auf den aktuellen physischen und psychischen Zustand der NutzerInnen zu ziehen. Dadurch kann das Training auf die einzelnen NutzerInnen individuell abgestimmt werden, um sie entsprechend ihrer persönlichen Belastbarkeit an ihr maßgeschneidertes Trainingsszenario heranzuführen. Personalisierte Wochenplanung und Empfehlungssystem AktivDaheim entwickelt eine umfassende und individuell abwechslungsreiche Toolbox für die Personalisierung des Trainingsprogramms (Abbildung 1). Derzeit ist ein interaktives Bewegungs- und Wissensspiel am Markt, wobei die Wissenskomponente mit täglicher Bewegung in Zusammenhang gebracht wird. Es wird die spielerische Darstellung genutzt, erworbenes Wissen möglichst effizient zu festigen. Die konkreten Trainingsinhalte werden im Zuge des geförderten Projektes AktivDaheim gemeinsam mit den pflegewissenschaftlichen Partnern, Betroffenen und Trainern bzw. Ärzten erarbeitet werden. Einige Studien zeigen bereits, dass die Akzeptanz von modernen Kommunikationsmitteln bei dieser Zielgruppe immer stärker zunimmt. Beispielsweise haben über 90 % der Generation 60+ ein Handy, fast ein Drittel davon telefoniert via Smartphone (A1 Telekom Austria 2014). Das bedeutet, dass die künftigen NutzerInnen auch lernen werden, mit interaktiven Inhalten und neuen Kommunikationsformen zu arbeiten und zu spielen.

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Abbildung 1: Wissens- und Bewegungselemente beim Serious Game AktivDaheim

Quelle: FameL GmbH

Erfahrungsgemäß sind mit Demenz lebende Menschen sehr ehrgeizig bei der Umsetzung ihrer Übungen und auch sehr lernwillig. AktivDaheim soll eine Interaktions-Plattform werden, die eine beinahe unbegrenzte Anzahl an Übungen, Themen, Texten, Geschichte und Liedern beinhaltet, um zu gewährleisten, dass der Zielgruppe eine spannende und zielorientierte Wissens- und Übungsdatenbank zur Verfügung steht. Folgende Inhalte sollen in die Interaktions-Plattform einfließen: •

• • • • • •

Gedächtnis- und Erinnerungstrainings (eigene Geschichte – Personalisierung, geschichtliche Ereignisse wie technische Fortschritte, Währungswechsel, etc.) Merkspiele (Memory) Interaktive Zuweisungen (Bilder, Formen, Farben, Inhalte) mittels Drag & Drop Ergänzungen von Texten, Bildreihen, Sprüchen, etc. Suchspiele (Fehler finden, etc.) Körperliches Aktivierungstraining: Einfache körperliche Übungen bis hin zu Muskelaufbautraining (abhängig von der Demenzstufe) Für die Prävention bzw. Austestung der möglichen Neigung zur Demenz wird mit ExpertInnen ein eigenes inhaltliches Tool zusammengestellt werden, das alle Themen im Überblick umfasst und so frühzeitig auf eventuelle Krankheitsmerkmale hinweist.

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Das Backend unterstützt dabei die TrainerInnen bei der Arbeit. Diese können neben den schon erwähnten einfachen Fragen auch Spiele anlegen. Dabei suchen sie sich ein Spielprinzip aus und können dieses dann mit Inhalten befüllen, wie zum Beispiel mit Bildern (Memory) oder einem Bild (Verschieberätsel). Die komplette Logik des Spielablaufs wird dann von der Plattform und der Software auf dem Endgerät bereitgestellt.

C ONCLUSIO UND AUSBLICK Die Systemplattform AktivDaheim – mit Tablet-PC und Serious Game zur spielerischen Motivation, tägliche Übungen mit einem multimodalen Trainingsprogramm durchzuführen – bietet neue Möglichkeiten für nachhaltig applizierte Diagnose- und Behandlungsverfahren, unter kontinuierlichem Monitoring der Humanfaktoren, die für Demenzbetroffene charakteristisch sind.

L ITERATUR A1 Telekom Austria (Hg.) (2014): A1 Seniorenstudie zu Internet, Handy & Co. Online verfügbar unter: http://www.a1.net/newsroom/2014/03/omaund-opa-sind-internet-fit/ (2016-06-17). Allan, Louise M./Ballard, Clive G./Rowan, Elise N./Kenny, Rose Anne (2009): Incidence and prediction of falls in dementia: a prospective study in older people. In: PLoS One 4 (5), S. 5521. DOI: 10.1371/ journal.pone.0005521 Barnes, Deborah/Santos-Modesitt, Wendy/Poelke, Gina/Kramer, Arthur F./ Castro, Cynthia M./Middleton, Laura E./Yaffe, Kristine (2013): The Mental Activity and eXercise (MAX) trial: a randomized controlled trial to enhance cognitive function in older adults. In: JAMA Internal Medicine 173 (9), S. 797–804. DOI: 10.1001/jamainternmed.2013.189 Christofoletti, Gustavo/Oliani, Merlin Mercia/Gobbi, Sebastião/Stella, Florinda/Bucken Gobbi, Lilian Teresa/Canineu, Paulo Renato (2008): A controlled clinical trial on the effects of motor intervention on balance and cognition in institutionalized elderly patients with dementia. Clini-

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A KTIV D AHEIM – S PIELERISCHE F ÖRDERUNG

VON

M ENSCHEN

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Ein Tablet für Herrn Wolf Nutzer*innenbeteiligung in Innovationsprozessen am Beispiel altersgerechter Technologien C ORDULA E NDTER

1. ALTERSGERECHTE T ECHNIK UND DAS L EITBILD VON S ELBSTBESTIMMUNG IM ALTER Seit drei Wochen liegt auf dem Wohnzimmertisch von Frau Schneider dieses flache, silberfarbene Gerät, das immer dann piept, wenn Frau Schneider etwas vergisst, zum Beispiel die Fenster am Vormittag zu schließen, weil es am Nachmittag regnen und sie dann beim Arzt sein wird. Natürlich kann dieses, Frau Schneider an eine Schiefertafel aus ihrer Grundschulzeit erinnernde, Gerät noch viel mehr. Es schaltet das Licht im Flur an oder aus, den Herd in der Küche, die Heizung im Bad. Es meldet verpasste Anrufe oder erinnert an Geburtstage, Friseurtermine etc. Kurzum, es kennt sich bestens aus in Frau Schneiders Alltag und weil das so ist, wird das Gerät in den nächsten Jahren, in denen Frau Schneider immer mehr vergessen wird, woran sie sich eigentlich erinnern möchte, zahlreiche Aufgaben in ihrem Alltag übernehmen und Frau Schneider wird, ohne auf kostspielige Betreuung eines Pflegedienstleisters oder die Präsenz einer oder eines Familienangehörigen angewiesen zu sein, in ihrer Wohnung bleiben können.

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Dieses kurze Szenario1 skizziert beispielhaft Nutzungsmöglichkeiten sogenannter „altersgerechter Assistenzsysteme“ (BMBF 2013), die auch unter dem Namen Ambient Assisted Living (AAL) firmieren und in Deutschland maßgeblich durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert werden. Die seit 2008 laufende Förderung ist mit dem Ziel verknüpft, der wachsenden Zahl älterer Menschen ein selbstbestimmtes Leben im eigenen Zuhause, optimale Gesundheitsversorgung und soziale Teilhabe durch technische Assistenz zu ermöglichen. Diese Zielsetzung verknüpft die Entwicklung smarter Technologien mit der demografischen Veränderung der Gesellschaft: Während eine große Zahl an Personen sowohl aktuell als vor allem auch zukünftig ein zunehmend höheres Lebensalter bei gleichzeitig langanhaltender körperlicher und mentaler Fitness erreichen, ist die Geburtenrate rückläufig. Daraus ergibt sich perspektivisch ein höherer Betreuungsbedarf für eine wachsende Zahl älterer Menschen, bei gleichzeitigem Mangel an Pflegekräften. Das heißt, die demografischen Veränderungen der Bevölkerungsstruktur adressieren zunehmend die Frage nach wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge vor allem in Hinblick auf Renten- und Pflegeleistungen. Dies spiegelt sich auch im Diskurs um den demografischen Wandel wider (vgl. hierzu kritisch Dyk/Lessenich 2009). Die Förderung assistiver Technologien ist in diesen Diskurs eingebettet, denn die dahinterliegende Hoffnung zielt darauf ab, der wachsenden Zahl (pflegebedürftiger) älterer Menschen mittels technischer Innovationen einen längeren und selbständigen Verbleib in der eigenen Wohnung zu ermöglichen. So heißt es denn auch in der Bewerbung von AAL, dass mittels dieser Technologien ein längeres Leben im eigenen häuslichen Kontext möglich wird (vgl. MTIDW). Implizit eingelagert ist diesem Versprechen zugleich die Idee, dass der Verbleib im eigenen Zuhause und eine Versorgung durch assistive Technologien den Bedarf an menschlichen Pflegekräften und die Versorgung in stationärer Pflege reduzieren und die Inanspruchnahme dieser vermeintlich kostenintensiveren Pflegeformen hinaus zögern kann.

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Die Konkretisierung möglicher Anwendungen von AAL in Form eines Szenarios entspricht dem häufig in der Usability angewendeten Verfahrens des szenariobasierten Designs.

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Zu fragen ist dann, inwieweit solche Vorstellungen die Lebensphase ‚Alter‘ unter einen neuen Optimierungsdruck stellen (vgl. Endter 2016)2, wenn es beispielsweise auf der Website zum Forschungsprogramm „Mensch-Technik-Interaktion im demografischen Wandel“ (MTIDW) heißt: „Intelligente Technologien begegnen uns im Alltag immer häufiger. Sie unterstützen Menschen aller Generationen und helfen vor allem Älteren, ihr Leben selbstbestimmt und mobil zu gestalten“ (MTIDW). Dazu sollen AAL-Technologien alltägliche Abläufe vereinfachen, situationsabhängig Orientierungs- und Unterstützungsangebote bereitstellen und intuitiv Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Handlungen erkennen, adaptieren und unaufdringlich unterstützen (vgl. Lindenberger et al. 2011). Entscheidend für die Entwicklung der Geräte ist dabei die Passung mit den Bedürfnissen und Erwartungen ihrer Nutzer*innen. Diese werden beispielsweise durch Bedarfsanalysen zu Beginn der Entwicklung erhoben und in Nutzer*innen-Tests im Laufe der Entwicklung überprüft.3 Im Folgenden geht es darum, wie Nutzer*innenbeteiligung konkret in den Projekten hergestellt wird, welche Interessen damit verbunden sind und wie Alter in der Praxis der Beteiligung ko-konstruiert wird. Leitend ist dabei die Annahme, dass die Beteiligung von Nutzer*innen den Projektablauf destabilisiert. Das heißt, die Beteiligung kennzeichnet einen unsicheren Moment im Verlauf der Entwicklung, zum einen weil die älteren Nutzer*innen aufgrund ihres Alters für die meist jüngeren Projektmitarbeiter*innen eine unbekannte ‚Grauzone‘ darstellen, zum anderen weil die Projekte einem stark reglementierten Zeitplan folgen, in dem die einzelnen Arbeitspakete, deren Durchführung und die dafür entsprechenden Verantwortlichkeiten bereits

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Sowohl Silke van Dyk und Stephan Lessenich (2009, sowie zusammen mit Tina Denninger und Anna Richter 2014 und 2010) als auch Klaus Schroeter (2000) betonen immer wieder, dass die soziopolitische Rede von den Potentialen des Alters wie beispielsweise in den Altenberichten der Bundesregierung (vgl. z.B. BMBFSFJ 2006) kritisch vor dem Hintergrund einer Aktivierung des Alter(n)s im Sinne einer neoliberal gefärbten Eigenverantwortlichkeit und einem Rückzug des Staates aus seiner wohlfahrtsstaatlichen Verantwortung zu lesen ist.

3

Diese Formen der Beteiligung entsprechen dem DIN-Norm (DIN EN ISO 9241210) geprüften Ansatz des user-centered Design, welcher auch für BMBF geförderte AAL-Projekte verpflichtend ist.

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zu Antragsbeginn festgelegt sind. Die Einbindung von Nutzer*innen muss folglich kontrolliert und reguliert werden, um die Einhaltung des Zeitplans sicher zu stellen. Die sich daraus ergebenden Praktiken der Einbindung, Kontrolle und Regelung verstehe ich als Praktiken der Stabilisierung, in denen die Akteur*innen des Netzwerks versuchen, den neuen Akteur „Nutzer*innen“ in das bestehende Netzwerk erfolgreich einzubinden. Diese im Anschluss an Jeanette Pols bezeichneten „fitting activities“ (Pols 2012) sind zugleich machtvolle Praktiken, die auf das reibungslose Funktionieren des Projekts abzielen. Im Folgenden werde ich mich deshalb zuerst mit dem Forschungskontext altersgerechter Technologien und ihrer Ziele auseinandersetzen, um dann an einem konkreten Fallbeispiel die Nutzer*innenbeteiligung zu kontextualisieren und kulturanthropologisch zu verstehen.4

2. U SERS MATTER – N UTZER * INNENBETEILIGUNG UND DIE F RAGE DER S TABILITÄT Ich sitze mit Herrn Wolf5 an einem Wohnzimmertisch. Der Wohnzimmertisch gehört zur Ausstattung des Labors, in welchem EASY-Talk auf seine Nutzer*innenfreundlichkeit und Gebrauchstauglichkeit (Usability) getestet wird. Dazu wurde ein Wohnraum nachgebildet, der den Testpersonen den

4

Die folgenden Ausführungen beruhen auf meiner Feldforschung in verschiedenen AAL-Projekten in Deutschland, welche von März 2013 bis November 2014 stattfand und die empirische Grundlage für mein Dissertationsprojekt bildet (siehe dazu auch Endter 2015). Im Rahmen des Artikels konzentriere ich mich auf ein Projekt, das eine Kommunikationsplattform für ältere technikferne Nutzer*innen gestaltet hat. Die teilnehmende Beobachtung fand während der UserTests von Mai bis Juli 2013 statt. Die Zitate entstammen meinen Feldnotizen, die ich während der Beobachtungen anfertigte. Tonaufnahmen waren nicht möglich. Sowohl Herr Wolf als auch Frau Haase und Herr Schreiner waren beteiligte Akteur*innen in diesem Projekt. Weitere Akteur*innen wie das Labor, das technische Gerät, das Programm, weitere Mitarbeiter*innen etc. können hier nicht detaillierter erwähnt werden, spielen aber innerhalb meiner Forschung eine virulente Rolle und sollen im Folgenden stets mitgedacht werden.

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Sowohl die Personen- als auch der Projektname wurden pseudonymisiert.

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Eindruck vermitteln soll, sie befänden sich in einer ihnen vertrauten Wohnatmosphäre. Neben dem Wohnzimmertisch sollen eine Couchgarnitur, eine Stehlampe, eine Topfpflanze sowie eine Blumenvase eine wohnzimmerähnliche Situation herstellen. Herr Wolf ist Ende sechzig und das erste Mal im Test-Labor. Er hat sich auf eine Anzeige gemeldet, die im kostenlosen Anzeigenblatt in seinem Bezirk annonciert war. Gerade die neue Technik hätte ihn interessiert, berichtet er der Studienleiterin, Frau Haase, zur Begrüßung. Nach einer kurzen Information über die Studie und den Ablauf der Testung stellt Frau Haase ihm die basalen Bedienfunktionen des Tablets vor, an welchem die Testungen durchgeführt werden, und erhebt seine Vorerfahrungen im Umgang mit dem Computer über einen Testbogen. Voraussetzung für die Teilnahme an der Testung ist neben einem Lebensalter über 60 Jahre, dass die Testperson bisher weder ein Smartphone noch ein Tablet benutzt hat. Die Studienleiterin erzählt später, dass es „gar nicht so leicht war, da überhaupt passende Probanden zu finden“ (Feldtagebuch, Mai 2013). Dann beginnen Frau Haase und Herr Wolf mit der Testung, in welcher Herr Wolf verschiedene Aufgaben auf dem Tablet absolvieren muss, um im Anschluss jeweils sein Lösungsverhalten und die Gestaltung der App zu bewerten. Herr Wolf ist gerade dabei, die erste Aufgabe anzugehen. Er ist dazu nah an den Tisch herangerückt und hat das Tablet vor sich auf den Tisch abgelegt. Zuvor hat er mehrmals versucht, das Gerät in der Hand zu halten und gleichzeitig zu bedienen, aber entweder kann er dann die Darstellungen auf dem Bildschirm nicht mehr ausreichend gut erkennen oder die Berührung mit dem Finger verfehlt ihr Ziel, weil die andere Hand Mühe hat das Gerät ruhig zu halten. „Da muss man ja Angst haben, dass es einem aus den Fingern rutscht“, kommentiert Herr Wolf seinen Versuch, für sich und das Gerät die richtige Position am Wohnzimmertisch zu finden. Aber auch auf der Tischplatte liegt es nicht gut. Herr Wolf nimmt sein Brillenetui zu Hilfe, um das Gerät darauf abzulegen. Dabei hält er weiterhin mit der linken Hand den unteren Rand des Gehäuses fest, damit das Gerät nicht vom Brillenetui rutscht, um mit der rechten Hand mit der Lösung der Aufgabe zu beginnen: Herr Wolf soll sich mittels der App mit einem Bekannten zum Spazierengehen verabreden, indem er die Verabredungsfunktion benutzt, um sich schnell und zu jeder Zeit mit seinen Familienangehörigen, Freund*innen oder Bekannten verabreden zu können, so die Idee von EASY-Talk – vorausgesetzt die Familienangehörigen, Freund*innen oder Bekannte verfügen auch über das Programm und die nötige Infrastruktur.

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„Eigentlich würde ich jetzt ja einfach anrufen“, sagt Herr Wolf, „ich würde mein Telefon nehmen und dann einfach den anrufen, mit dem ich das machen will, und dann weiß ich auch gleich, ob der kann oder nicht.“ Aber ein Telefon liegt nicht auf dem Wohnzimmertisch, also versucht sich Herr Wolf erneut am Gerät, das da auf seinem Brillenetui liegt. „Knopf drücken, dann rüberschieben“, murmelt Herr Wolf, während er den weißen Knopf drückt und den auf dem Bildschirm sichtbar werdenden Pfeil nach rechts schiebt. Aber nichts passiert. Der Pfeil schnippt zurück in die Ausgangsposition. Herr Wolf wackelt auf seinem Stuhl hin und her, rückt ein Stück näher und drückt erneut mit dem Zeigefinger auf den Pfeil. „Sie müssen nicht so stark auf die Felder drücken, leichtes Berühren reicht schon aus“, erinnert ihn die Studienleiterin, „so, wie ich ihnen das bei der Einführung gezeigt habe.“ Herr Wolf schaut auf, kurze Pause, dann drückt er wieder auf den Pfeil, um diesen nach rechts zu schieben. Es funktioniert, der Pfeil verschwindet und ein neuer Bildschirm erscheint. Herr Wolf rückt noch ein Stück näher, er sucht die Funktion zum Verabreden. „Wo war das gleich nochmal?“ „Das ist eben das Tolle an EASY-Talk, man nimmt es in die Hand, schaltet es ein und los geht’s!“, so Herr Schreiner, Koordinator des Projekts. EASY-Talk verfolgt das Ziel, älteren Menschen mittels speziell für Erstnutzer*innen gestalteter Apps, die Nutzung von Informationstechnologien zu erleichtern und somit soziale Teilhabe zu garantieren.6 Nutzer*innenbeteiligung in AAL-Projekten folgt dabei hauptsächlich dem Ansatz des user-centered Design (UCD), das im deutschen Kontext auch unter dem Begriff menschzentrierte Gestaltung firmiert7. Dieses ISONorm (DIN ISO 9241-210) geprüfte Verfahren zielt darauf ab, Systeme ge-

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Im Rahmen des Projekts wurden fünf verschiedene Apps entwickelt, die über eine integrierende App angesteuert werden können und auf jedem konventionellen Tablet-PC oder Smartphone laufen sollen. Die Apps beinhalten folgende Unterstützungsbereiche: Mein Adressbuch, Mein Umfeld, Mein Zuhause, Meine Gesundheit, Meine Erinnerung. Mit Hilfe dieser sollen ältere Nutzer*innen ohne oder mit geringer Vorerfahrung, in die Lage versetzt werden, über eine intuitive Benutzer*innenschnittstelle zu kommunizieren und sich zu informieren.

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Weitere, weniger etablierte, Ansätze im deutschsprachigen Raum sind Universal Design, Design for All, Participative Design und Value-Sensitive Design.

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brauchstauglich und zweckdienlich zu gestalten, indem der Bedarf und die Anforderungen potentieller Benutzer*innen berücksichtigt werden. Dadurch sollen die Effektivität, Effizienz und Zufriedenstellung erhöht und die Zugänglichkeit und Nachhaltigkeit der Technologien verbessert werden, so die dahinter liegende Idee. Für AAL-Projekte, welche durch Mittel des BMBF gefördert werden, ist dieser Ansatz verpflichtend. Eine Verpflichtung, die jedoch der praktischen Realisierung viel Handlungsspielraum lässt. So bezeichnete ein renommierter Usability-Consultant, der selbst Technologieprojekte durchführt, begleitet und berät, die Umsetzung dieses Anspruchs in den Projekten als „eine Farce“ (Feldnotiz, März 2014). Auch die Mitarbeiterin im AAL-Projekt betitelte die Verpflichtung auf Nutzer*innenbeteiligung als „Antragsprosa“ (Interview, April 2014). Diese Problematik weist daraufhin, dass user-centered Design etwas ist, das gemacht werden muss, das erst in den Projekten durch die Beteiligung aller relevanten Akteur*innen möglich und in die Technik übersetzbar wird. Das wirft die Frage auf, welches Verständnis von Beteiligung und darüber hinaus welche Vorstellungen von Alter(n) diesem Vorgehen zu Grunde liegen und welche Formen von Subjektivierung, Selbst-Optimierung und Differenzierung damit erzeugt werden. Die Gestaltung von AAL stellt hier eine entscheidende Praxis dar, in welcher sich Formen der Subjektivierung und Normierung bereits in den Entwicklungsprozess des Gerätes einschreiben und mögliche Handlungsoptionen befördern und/oder verhindern. Nutzer*innenbeteiligung wird in diesem Kontext zu einem kritischen Moment in der Technikentwicklung, da hier die Vorstellungen der Projektmitarbeiter*innen auf die Erfahrungen der Nutzer*innen treffen. Wie bedarfsgerecht und nutzer*innenfreundlich die Gestaltung des technischen Produkts sich dabei vollzieht, ist u.a. abhängig von der Art und Weise, wie die Beteiligung erfolgt, welche Personen dazu ausgewählt werden und mit welcher Intention die Beteiligung stattfindet. Die Entwicklung „[a]ltersgerechte[r] Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben“ (BMBF 2013) kann sich dann nicht allein auf die Entwicklung von „Konzepte[n], Dienstleistungen und Produkte[n] [konzentrieren], die neue Technologien und soziales Umfeld miteinander verbinden, um die Lebensqualität für Menschen in allen Lebensabschnitten zu erhöhen“ (MTIDW), sondern muss vielmehr als eine soziale Praxis verstanden werden, in der Alter(n) durch Technik ko-konstruiert wird und assistive Technologien in sensible Bereiche wie Gesundheit und Pflege eingeführt werden. Nutzer*innen-

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beteiligung in AAL-Projekten wird dann zu einem „matter […] of concern“ im Sinne Bruno Latours (Latour 2004).

3. S KRIPTING U SERS – W IE N UTZER * INNENBETEILIGUNG GEMACHT

WIRD

Die Frage nach der Beteiligung von Alltagsexpert*innen an Entwicklungsprozessen und die Frage nach dem Zusammenspiel dieser Alltagsexpert*innen mit Fach-Expert*innen lässt sich dabei parallel zu der Frage verstehen, welche Collins und Evans bei der Betrachtung der Beziehung von Wissenschaft und Politik aufwerfen: Sie gehen davon aus, dass nicht nur Wissenschaftler*innen, sondern auch sogenannte Laienexpert*innen Wissen produzieren, das auf Gesellschaft bzw. Politik zurückwirkt, und dass die Formation des jeweiligen Wissens und die Durchsetzung dessen in gesellschaftlichen Zusammenhängen von der jeweiligen Interaktion der beteiligten Akteur*innen abhängt. Dabei stellt sich ihnen die Frage, wie weit der Kreis der Akteur*innen ausgeweitet werden kann und muss, die den Verlauf der Entwicklung begleiten und beeinflussen. Sie bezeichnen dieses Problem als „problem of extension“ (Collins/Evans 2002). Übertragen auf den hier thematisierten Kontext, stellt sich die Frage: Wer wird wie an der Entwicklung neuer Technologien von wem, warum und wozu eingebunden? Nutzer*inneneinbindung wird hier zu einer politischen Praxis oder es muss, wie Estrid Sørensen das von Collins und Evans aufgeworfene Problem der Ausweitung mit der Aussage verknüpft, die „Ausweitung auf relevante Betroffene […] politisch entschieden werden“ (Sørensen 2012, S. 206). Die Entwicklung altersgerechter Assistenzsysteme muss damit als eine solche ‚Entscheidungspraxis‘ verstanden werden, in der die Beteiligung von Alltagsexpert*innen zum tipping point für die Entwicklung der Produkte, ihre Marktreife und ihre Integration in die Lebenswelt älterer Nutzer*innen wird. Folgt man den Beobachtungen von Oudshoorn und Pinch, so könnte man behaupten, dass es in den letzten Jahren eine Art user turn in den Technikwissenschaften gegeben hat, in dem die Maxime „users matter“ evident geworden ist (vgl. Oudshoorn/Pinch 2008). Gerade die Diskussion um die Frage des „social shaping of technology“ (MacKenzie/Wajcman 1985) hat zu einer Fokussierung auf Aspekte der Nutzer*innenkonstruktion

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und -beteiligung geführt (vgl. Oudshoorn/Pinch 2003; Oudshoorn/Rommes/ Stienstra 2004). Gegenstand dieser vornehmlich aus dem Kontext der Science and Technology Studies kommenden Studien war die Frage, wie Nutzer*innen in Technologieprozessen konfiguriert werden (vgl. Woolgar 1991). Dabei spielte bereits in der frühen Phase der Hinwendung zum „User“ die Frage der Repräsentation eine Rolle: „While ‚lead users‘ often selfidentify, there is clearly an issue about how users with no voice are represented. […] This raises the interesting issue that users may represent other groups as end-users while at the same time promoting their own interests“ (Oudshoorn/Pinch 2008, S. 543). In Bezug auf den hier betrachteten Kontext der Anwendung technischer Assistenzsysteme durch ältere Nutzer*innen scheint die aus der feministischen Soziologie stammende Unterscheidung in „end-users“ (Casper/ Clarke 1998), „lay end-users“ (Saetnan/Oudshoorn 2000) und „implicated actors“ (Clarke 1998) produktiv. Vor allem das von Adele Clarke vorgeschlagene Konzept der „implicated actors“ verweist auf die ambivalente Repräsentation von Nutzer*innen in AAL-Projekten. Clarke versteht unter „implicated actors“ diejenigen, welche von der Technik beeinflusst und diskursiv als die Nutzer*innen konstruiert und angesprochen werden, im Entwicklungsprozess aber stumm oder physisch nicht anwesend sind (vgl. Clarke 1998). Während der von Clarke und anderen vertretene feministische Ansatz vor allem auf Fragen der Verteilung von Macht und der Anerkennung von Diversität beruht, wurden in den Science and Technology Studies vor allem Ansätze herausgearbeitet, die stärker aus einer wissenssoziologischen Perspektive die Frage stellen, „how meanings are built“ (Oudshoorn/Pinch 2008). Steve Woolgar hat dabei die Konfigurierung der Nutzer*innen im Designprozess analysiert, um zu betonen, dass die Art und Weise wie Nutzer*innen technische Geräte benutzen, bereits durch Designund Produktionsprozesse festgelegt ist (vgl. Woolgar 1991). Diese Konfigurierungsarbeit wurde in der Folge auf weitere Akteur*innen übertragen, die an dieser Arbeit beteiligt sind (vgl. Mackay et al. 2000). „From this perspective, technological development emerges as a culturally contested zone where users, patient advocacy groups, consumer organizations, designers, producers, salespeople, policymakers, and intermediary groups create, negotiate, and give differing, sometimes conflicting forms, meanings, and uses to technologies“ (Oudshoorn/Pinch 2003).

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Erweitert man diese Lesart um Ansätze aus den Gender Studies, ergibt sich eine Folie, die erlaubt, die Entwicklung „altersgerechter Assistenzsysteme“ als eine Ko-Konstruktion von Alter(n) zu verstehen. Hier sind vor allem die Arbeiten Judy Wajcmans zur Ko-Konstruktion von Technik und Geschlecht in Technikforschungsprozessen (vgl. Wajcman 2002) sowie das Konzept des „Genderskripts“ produktiv, wie es Nelly Oudshoorn, Ellen van Oost und Els Rommes zur Beschreibung von strukturellen, symbolischen und identitären Praktiken der Vergeschlechtlichung von technischen Artefakten vorschlagen (vgl. Rommes/van Oost/Oudshoorn 1999). Der Genderskript-Ansatz beruht dabei auf dem Konzept des „Skripts“ wie es Madelaine Akrich entwickelt hat, um die Designprozesse von Entwickler*innen als Einschreibungsprozesse sichtbar zu machen (vgl. Akrich 1992). Ausgangspunkt von Akrichs Überlegungen ist dabei die Beobachtung, dass Entwickler*innen Vorstellungen über den Nutzungskontext, die Nutzungspraktiken und vor allem über die Nutzer*innen während des Entwicklungsprozesses produzieren und diese die Designentscheidungen und den Gestaltungsprozess beeinflussen: „A large part of the work of innovators is that of ‚inscribing‘ this vision of (or prediction about) the world in the technical content of the new object“ (ebd.). Ausgehend vom Ansatz des Genderskripts möchte ich den Begriff des Ageskripts einführen, um die KoKonstruktion von Alter und Technik zu beschreiben: Indem Entwickler*innen altersgerechte Technik herstellen, schreiben sie nicht nur ihre Vorstellungen von Alter(n) und altersgerechter Techniknutzung in die Technik ein, sondern konstruieren gleichzeitig auch ein technikgerechtes Alter(n), welches ebenfalls in die Technologien eingeschrieben wird. In diesem doppelten Einschreibungsprozess materialisiert sich AAL als eine soziale Technologie, die erst durch die Aushandlungen unterschiedlicher Akteur*innen entsteht. Zu diesen interagierenden Akteur*innen zählen neben den technischen Geräten und ihrer benötigten Infrastruktur vor allem die Entwickler*innen und Nutzer*innen, die – folgt man der idealtypischen Vorstellung des user-centered Design – in einem engen iterativen Prozess miteinander aushandeln, wie die Technik gestaltet werden soll. Neben diesen sind aber auch weitere Stakeholder am Ausagieren technischer Entwicklung beteiligt und müssen als ko-konstruierend verstanden werden, wie zum Beispiel Angehörige, (Pflege)-Dienstleister*innen, politische Förderinstitutionen und nicht zuletzt die beobachtende Ethnographin. Sie alle handeln aus, wie in dem konkreten Projekt, mit der spezifischen Technik –

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Tablet oder Armband, Teppich oder Brille – Autonomie und Teilhabe hergestellt werden. Ko-Konstruktion von Technik und Alter in AAL-Projekten ist dabei oftmals transitiv und prozesshaft und nicht zu gleichen Teilen sinnstiftend für das Handeln der Akteur*innen. Das heißt, Nutzer*innenbeteiligung ist relational, nicht nur die teilnehmenden älteren Proband*innen sind, wie Moser und Law argumentieren, „constructed in relations“ (Moser/Law 2003), sondern auch die Mitarbeiter*innen in den Projekten und nicht zuletzt die Technik selbst. Im Verlauf der Zusammenarbeit bilden diese Akteur*innen ein Arrangement aus Relationen, das aus der Perspektive der Actor-Network-Theory als ein soziotechnisches Netz oder Ensemble verstanden werden kann, in dem die Akteur*innen ein spezifisches Wissen, eine spezifische Praxis und eine spezifische Macht herstellen, einschreiben, teilen und dabei AAL, verstanden als eine materialisierte Mensch-Technik-Interaktion, erfinden, gestalten und stabilisieren. Die Praxis der Nutzer*innenbeteiligung muss dann verstanden werden als eine Praxis, die eingebunden ist in eine Pragmatik der Relationen und Strukturen, indem die jeweiligen Akteur*innen je nach Situation über ganz unterschiedliche Handlungspotentiale verfügen und diese aktiv einsetzen oder auch verweigern. Welcher Inhalt letztendlich in das Gerät eingeschrieben wird bzw. wie das Gerät konstruiert wird, bestimmt ein heterogenes Geflecht an sichtbaren und unsichtbaren Anforderungen und Widerständen, menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen, die sowohl durch die technischen Möglichkeiten, die finanzielle Ausstattung aber vor allem durch das gegenseitige Verständnis und eine gemeinsame Auffassung dessen, was altersgerechte Technik in dem jeweiligen Nutzungskontext – Wohnen, Mobilität oder Kognition – sein soll und sein kann, bestimmt wird.8

8

Die Marginalisierung von Mitsprachepositionen durch Praktiken des Abwartens, Verzögerns, Verweigerns oder Kontrollierens innerhalb des Projektnetzwerks kann auf Seiten der Marginalisierten zu widerständigen oder resignativen Praktiken führen. Die Förderstruktur lässt jedoch kein Aushandeln dieser Spannungen zu, es gibt weder die Möglichkeit der Beschwerde noch des Aufkündigens der Zusammenarbeit ohne den Verlust der eigenen Projektbeteiligung. Auf diese Weise werden Kompromisse produziert, die die Gestaltung der Technik zum einen sowohl an der zeitlichen als auch technischen Machbarkeit des Projekts aus-

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Sowohl die Techniker*innen, als auch die begleitenden Wissenschaftler*innen, beratenden Dienstleister*innen, testenden Nutzer*innen und fördernden Institutionen müssen sich als handelnde Akteur*innen im Gestaltungsprozess wahrnehmen und diese Akteur*innenposition auch als eine der Verantwortlichkeit begreifen, die sich eben nur begrenzt delegieren lässt.

4. N UTZER * INNENBETEILIGUNG ALS K O -K ONSTRUKTION VON ALTER ( N )

UND

T ECHNIK

„Man muss schon den richtigen Einstieg finden“, meint Herr Schreiner, als er von seinen Projekterfahrungen berichtet und ergänzt: „entweder trifft man auf Personen mit einer sowieso hohen Motivation, allein aus Neugier, während bei der anderen Gruppe Interesse über persönliche Vorlieben geweckt wird.“ (Interview, Mai 2013). Währenddessen hat Herr Wolf die App geöffnet und das entsprechende Eingabefeld angetippt. Noch immer berührt er dafür ein wenig zu kräftig die Bildschirmoberfläche, aber die Studienleiterin hat aufgehört, ihn darauf hinzuweisen, dass leichte Berührungen bereits ausreichen, um Befehle auszuführen. Denn wieviel ist leicht? Herr Schreiner aber bleibt überzeugt, dass gerade die fingerbasierte Bedienung das Gerät für ältere Nutzer*innen interessant macht. Die sogenannte SwipeFunktion stellt laut seiner Beobachtung für viele Nutzer*innen geradezu ein Schlüsselerlebnis dar: „Wenn sie die verstanden haben und anwenden können, dann haben sie [die älteren Nutzer*innen] auch die Bereitschaft sich damit auseinanderzusetzen“ (ebd.). Herr Wolf hat mittlerweile damit begonnen, seine Nachricht zu schreiben. Jetzt ärgert er sich über die vielen Tippfehler. Immer wieder versucht er, mit dem Zeigefinger in die Lücke zwischen die zwei Wörter zu tippen, wo das Komma fehlt – vergeblich. Er bricht ab, unzufrieden. „So würde ich das niemals abschicken! Was sollen die denn von mir denken?“ Am liebsten würde er alles löschen und noch einmal von vorn beginnen. Ein letzter Versuch, endlich, das Komma. Und jetzt: „Senden“. Herr Wolf nimmt das

richten, zum anderen aber auch an den Anforderungen an und der Bereitschaft zu einer Projektzusammenarbeit.

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Gerät in die Hand, hält es näher an sein Gesicht, als ob er auf diese Weise prüfen will, ob die Nachricht auch wirklich versandt wurde. Dann ist die nächste Aufgabe an der Reihe. Herr Wolf ruckelt mit seinem Stuhl. Noch eine Stunde dann wird er fertig sein. Dann hat er alle Aufgaben bearbeitet und die letzten Fragen zu seiner Zufriedenheit mit der Nutzung des Geräts beantwortet und überlegt, welche Funktionen er sich noch wünschen würde. Am Ende wird ihm die Frage gestellt worden sein, ob er so ein Programm auch zu Hause nutzen würde, und Herr Wolf wird antworten: „Warum? Ich habe doch ein Telefon“ (ebd.). Nach Abschluss der Testphase werden die Ergebnisse ausgewertet und Gestaltungsvorschläge abgeleitet, welche zur Verbesserung der Usability der Anwendung führen soll. Gleichzeitig können so die Erfahrungen der Nutzer*innen im Umgang mit der Anwendung bzw. dem Gerät berücksichtigt werden, allerdings ist eine solche Anpassung des Designs nur während der Entwicklung des Prototypen möglich (sog. formative Evaluation): Ist der Prototyp bereits entworfen, können die Ergebnisse nur noch als Anregung für weitere notwendige Entwicklungen genutzt werden (sog. summative Evaluation). Im Projekt EASY-Talk heißt das konkret, dass Herrn Wolfs Aussage, lieber telefonieren zu wollen als die App zu nutzen, keine Berücksichtigung in der Gestaltung finden wird. An dieser Stelle muss auf einen weiteren wirkmächtigen Akteur im Netzwerk verwiesen werden, der hier eine aktive Rolle einnimmt: der Zeitplan. Er sieht jetzt den Projektabschluss vor und dem Zeitplan kann sich auch Herr Schreiner nicht widersetzen. Also wird er die Studienleiterin anweisen, die Ergebnisse der User*innen-Tests in den Schlussbericht plausibel einzufügen, ohne dabei den Nutzen von EASY-Talk zu schmälern. Vielleicht wird es EASY-Talk trotzdem in den Alltag von Herrn Wolf schaffen und vielleicht wird dann auch Herr Wolf lieber die App nutzen als das Telefon, vielleicht verschwindet EASY-Talk aber auch in einer der vielen Schubladen, wie es eine andere Akteurin im Feld formuliert, um später noch einmal für ein anderes Projekt aktiviert zu werden. Die Gestaltung von AAL, so konnte gezeigt werden, ist eine situative, relationale Praxis, in der die jeweiligen Akteur*innen je nach Situation über ganz unterschiedliche Handlungspotentiale verfügen und diese aktiv einsetzen können oder müssen, sich demgegenüber aber auch verweigern können. Während Herr Schreiner über vermeintlich viel Gestaltungsmacht qua seines Status als Projektleiter verfügt, wird im Verlauf des Projekts deutlich,

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dass auch sein Handeln eingebunden ist in das Handeln von Förderprogrammen und Finanzierungsmodellen. So ist es gerade der situative Kontext, der Handlungsmacht verteilt, Rollen zuweist und Entscheidungen fallen lässt. Der Entwicklungsprozess von AAL-Technologien gleicht dabei einem instabilen Arrangement, das es gilt durch die Handlungen der beteiligten Akteur*innen zu stabilisieren. In diesem Arrangement wird Nutzer*innenbeteiligung zum Aushandlungsort von Übersetzungen und Schließungen, die die Agency von AAL-Technologien bestimmen.

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SeniorInnen und Smartphones bzw. Tablets Anforderungen an Usability, Funktionalitäten, Bildungsangebote, Kaufberatung & Support D OROTHEA E RHARTER

1. E INLEITUNG Der Zugang zum Internet und dessen kompetente Nutzung stellen heute einen wichtigen Aspekt gesellschaftlicher Teilhabe dar. Ein Konsortium aus ÖIAT, ZIMD und der B-NK GmbH1 hat im Projekt mobi.senior.A daher untersucht, welche spezifischen Anforderungen Seniorinnen und Senioren bei der Verwendung mobiler Geräte für die Internetnutzung haben. Neben einer umfassenden Literaturrecherche wurde ein empirischer Methodenmix aus Einzel- und Paarinterviews, Fokusgruppen, Usability-Tests und Cultural Probes eingesetzt. Ziel des Projekts war die Entwicklung von Guidelines für App-Entwicklung, Bildungsangebote sowie für Verkaufsberatung und Support. Vom ZIMD wurde empirisch in Form von Usability-Tests erforscht, auf welche Usability-Hürden SeniorInnen beim Gebrauch von Smartphones und Tablets stoßen, wie man eine seniorInnenfreundliche Gestaltung dieser Artefakte gewährleisten kann, und inwiefern Gender bei diesem Thema eine Rolle spielt. Darüber hinaus wurde in einer qualitativen Studie mittels 1

ÖIAT: Österreichisches Institut für Angewandte Telekommunikation ZIMD: Zentrum für Interaktion, Medien & soziale Diversität B-NK: Büro für Nachhaltige Kompetenz

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Cultural Probes erforscht, welche Funktionalitäten für SeniorInnen besonders relevant sind.

2. S ENIOR I NNEN

UND

IKT

Mobile Geräte gehören bereits für die meisten Menschen zum Alltag. Auch immer mehr SeniorInnen wollen durch Smartphones und Tablets Anschluss ans digitale Zeitalter finden. In Deutschland stieg die Verbreitung von Smartphones bei älteren Menschen innerhalb eines Jahres (2011-2012) um 225 % an. Bei Tablets waren es 133 % (vgl. Böhm et al. 2012). Diese neuen Informations- und Kommunikations-Technologien (IKT) und technologischen Artefakte stellen SeniorInnen aber gleichzeitig vor neue Herausforderungen. Viele ältere Menschen stehen neuen Technologien noch skeptisch gegenüber. Touchscreens, erweiterte Funktionsumfänge und die Furcht vor vermeintlich teuren Datentarifen werden als Barriere gesehen (vgl. ebd.). Angesichts der demografischen Entwicklung in Österreich und Europa ist es auch im Bereich der IKT höchste Zeit auf die Bedürfnisse der immer älter werdenden Gesellschaft zu reagieren. Es wird geschätzt, dass der Anteil der über 65-Jährigen in Österreich bis 2050 von aktuell 17,6 % auf 28 % ansteigen wird (vgl. BMASK 2012). Auch weltweit ist die Altersgruppe der über 60-Jährigen die am stärksten wachsende Gruppe (vgl. ebd.). Doch bis jetzt orientiert sich die Entwicklung von Smartphones und Technik im Allgemeinen noch immer eher selten an der Zielgruppe der SeniorInnen. Dies äußert sich auch an dem deutlich erkennbaren „Digital Gap“ zwischen den 16- bis 54-Jährigen und den Über-55-Jährigen (sh. Abb. 1). Bei vielen aus der Generation 60+ bestehen noch vermehrt Berührungsängste mit „neuer Technologie“, da die meisten im Gegensatz zu jüngeren Generationen nicht mit Computern aufgewachsen sind und auch nicht im Berufsleben damit konfrontiert wurden. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, SeniorInnen für Technik zu begeistern und ihnen durch ein seniorInnenfreundliches Design den Einstieg zu erleichtern. Denn in einer Welt, wo immer mehr Interaktion und Informationsfluss über das Internet passiert, bedeutet der Ausschluss von diesen Medien das Risiko, dass eine stark wachsende Zahl von älteren Menschen in ihrer sozialen und politischen Teilhabe eingeschränkt sind.

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Abbildung 1: ComputernutzerInnen nach Geschlecht und Alter

Quelle: Statistik Austria 2013

2.1 Der Faktor Geschlecht Insgesamt gesehen rückt die Gruppe der älteren Menschen bei der Internetnutzung via Tablets und Smartphones immer mehr in den Vordergrund. Frauen haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 83,7 Jahren, bei Männern liegt diese bei 78,9 Jahren (Statistik Austria 2014). Das ‚Alter ist weiblich‘ – deshalb müssen neue Technologien auch diesen Trend berücksichtigen und gendergerecht entwickelt werden. In Bezug auf Techniknutzung gibt es nicht nur alters-, sondern auch geschlechtsspezifische Unterschiede. Man kann beobachten, dass in den Altersgruppen über 35 weniger Frauen einen Computer nutzen als Männer. In der Altersgruppe über 55 nimmt dieser Unterschied rapide zu (vgl. Statistik Austria 2013). Ältere Frauen sind somit mit Ausschlusseffekten nicht nur des Doing Aging sondern auch des Doing Gender konfrontiert (vgl. Haring 2011, S. 98). In Bezug auf Mobile Devices tritt dieser „Gender Gap“ sogar schon viel früher auf. Abgesehen von der Altersgruppe 16-24 kann man in allen anderen Altersgruppen einen deutlichen Unterschied in der Nutzung von mobilen Geräten beobachten. Hier zeigt sich wieder einmal, dass Technik ‚ein Geschlecht hat‘. Technik und IKT sind noch immer stark männlich geprägt, sei es in der Lehre, dem Berufsleben oder der öffentlichen Wahrnehmung (vgl. Knoll/Ratzer

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2010). Durch die immer weiter ansteigende Einbindung von Computern in den Schul- und Arbeitsalltag gleichen sich zumindest in der Nutzung von Computern die Geschlechterquoten in den jüngeren Generationen immer mehr an. Bei den SeniorInnen ist dieser Gender Bias der Technik hingegen noch stärker zu spüren. Die herrschenden Rollenbilder in Bezug auf Frauen und Technik machen sich durch ein mangelndes Selbstbewusstsein im Umgang mit als Technik wahrgenommenen Technologien2 bemerkbar (vgl. ebd.). 2.2 Usability-Richtlinien für SeniorInnen Im Bereich der Web-Usability bei SeniorInnen gibt es bereits einige Guidelines und Forschungsprojekte. Jakob Nielsen hat diesbezüglich DesignRichtlinien für die Verbesserung der Web-Usability für SeniorInnen aufgestellt. Er stellte fest, dass ein Verletzen von Usability-Standards bei SeniorInnen zu weitaus größeren Problemen führt als bei jüngeren UserInnen. Besonders wichtig sei es, bei Websites auf Lesbarkeit, Anklickbarkeit und fehlertolerantes Design zu achten (vgl. Nielsen 2013; Schulz 2004; Streich 2005). Im Bereich der Mobile Usability gibt es zahlreiche Publikationen, die nicht explizit auf die Usability mobiler Geräte für SeniorInnen eingehen. Nielsen und Budiu drängen beispielsweise darauf, dass eine eigene mobile Version von Websites unerlässlich ist. Zur besseren Übersichtlichkeit, die besonders bei kleinen Devices wichtig ist, empfehlen sie, Bilder bei Links zu verwenden und eine klar sichtbare Navigation anzubieten. Bei mobilen Websites und Apps sei besonders auf große Tippflächen, genug Abstand zwischen den Interaktionselementen und stark gekürzte Texte zu achten (vgl. Nielsen/Budiu 2013). Eine Studie hat 2015 gezeigt, dass Flat Design – Grafikdesign, bei dem alle Elemente flach anstatt dreidimensional dargestellt sind – zu deutlich schlechterer Perfomance führt (vgl. Burmistrov et al. 2015).

2

Bei Wasch-, Küchen- und Nähmaschinen, die gleichermaßen komplex sind wie z.B. Bohrmaschinen, aber aufgrund der Identifikation mit Frauen nicht oder weniger als „Technik“ wahrgenommen werden, lässt sich dieser Unterschied nicht erkennen (vgl. Knoll/Ratzer 2010).

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Zur Mobile Usability im Zusammenhang mit SeniorInnen finden sich Richtlinien in der Broschüre „Mobile Generation Plus“, wo Ergebnisse einer Studie der Telekom Innovation Laboratories und Youse GmbH vorgestellt werden. Die Anforderungen in Bezug auf Smartphones selbst umfassen demnach vor allem eine lange Lebensdauer, Kostentransparenz, eine Notruftaste, automatische Softwareaktualisierungen, Diebstahlschutz (bei teuren Geräten), leichte Ausschaltbarkeit und Voreinstellungen, die die NutzerInnen schützen (Roaming und Bluetooth ausgeschaltet z.B.). Die wichtigsten Usability-Richtlinien für Apps sind gemäß der Broschüre: Bedienabläufe, die sich vom „Real life“ ableiten lassen, Fehlertoleranz, Fehler sollten korrigierbar sein (z.B. Zurück-Taste), keine Fremdwörter und individuell einstellbare Schriftgröße, Kontrast und Tastatur (vgl. Nedopil et al. 2012).

3. M ETHODIK IM P ROJEKT

MOBI . SENIOR .A

Im Rahmen des Projekts mobi.senior.A wurde ein Methodenmix aus Einzel- und Paarinterviews, Fokusgruppen, Usability-Tests und Cultural Probes eingesetzt. Hier sind nur die Methoden näher beschrieben, die für den Bereich der App-Entwicklung und die Anforderungen von älteren Menschen an Smartphones und Tablets relevant waren. 3.1 Thinking Aloud Tests Im Rahmen des Projekts wurden 32 Usability-Tests mit Seniorinnen und Senioren in der nachberuflichen Lebensphase im Alter zwischen 59 und 85 Jahren durchgeführt. Die Hälfte der Testpersonen war weiblich, die andere Hälfte männlich. In beiden Gruppen gab es gleich viele NutzerInnen und NichtnutzerInnen3 mobiler Geräte. 13 Labortests wurden in Klagenfurt durchgeführt, 13 Labortests sowie 6 Outdoor-Tests in Wien.

3

Als NichtnutzerInnen zählten wir Personen, die ihr Handy nur zum Telefonieren verwenden und auch kein Tablet verwenden. Zur Unterscheidung zwischen „wenig Nutzung“ und „viel Nutzung“ wurde der Median aus den Nutzungsdau-

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Bei allen Usability-Tests handelte es sich um Thinking Aloud-Tests, das heißt, die ProbandInnen wurden aufgefordert, ihre Gedanken während der Nutzung laut zu äußern – „laut zu denken“. Die Auswertung erfolgte zum einen qualitativ, indem jegliche Hürden und Fehlerquellen dokumentiert wurden. Zum anderen wurden die – zuvor auf Video aufgenommenen – Thinking Aloud Tests quantitativ ausgewertet und die Fehlerquellen geclustert. In einem begleitenden Fragebogen erhoben wir zum einen erweiterte soziodemografische Eckdaten, die neben Alter, Geschlecht, Bildung, Computer-, Smartphone- und Tablet-Nutzung auch beispielsweise Fragen umfassten, mit denen die Experimentierfreudigkeit der befragten SeniorInnen erhoben wurde. Zum anderen enthielt der Fragebogen einen Katalog an möglichen Smartphone/Tablet-Funktionalitäten, und wir fragten nach der Wichtigkeit dieser Funktionalitäten für die Testpersonen. 3.2 Cultural Probes Cultural Probes ist eine Methode, die durch ihre unkonventionelle Gestaltung bessere und realistischere Einblicke in die Lebens- und Gedankenwelt der Testpersonen geben soll. Im von uns entwickelten Setting sollten die Testpersonen ein „Ideentagebuch“ führen (siehe Abbildung 2). Anhand von drei Metaphern (Fee, Dienstmann, Bagger) notierten die Testpersonen mithilfe von Stickern Wünsche, Hürden und Ideen, die ihnen im Verlauf ihres normalen Alltags in den Sinn kamen. Sieben Tage lang und dies jeweils in drei verschiedenen Jahreszeiten vermerkten die zwölf Testpersonen ihre Wünsche, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Ärgernisse. Um eine möglichst hohe Diversität zu erreichen, führten wir die Cultural Probes in Wien, Klagenfurt und im Waldviertel und mit gleich vielen Männern und Frauen durch.

ern (ohne Null) verwendet. Das waren bei Smartphones 3 Std./Woche für Aktivitäten außer Telefonieren, bei Tablets 6 Std./Woche.

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Abbildung 2: Ideentagebuch

Quelle: ZIMD (eigene Darstellung)

Die anfängliche Idee war, dass die Cultural Probes Ideen für Apps anregen sollten, die den wirklichen Bedürfnissen von SeniorInnen entsprechen. Im Laufe des Projektes erweiterten wir unseren Anspruch jedoch dahingehend, dass wir durch die Tagebücher einen allgemeinen Einblick in die Lebenswelt und Bedürfnisse von alleine in ihren eigenen vier Wänden lebenden SeniorInnen erlangen wollten.

4. E RGEBNISSE

DER

U SABILITY -T ESTS

Wir haben zahlreiche Usability-Probleme gefunden, und zwar überwiegend allgemeine Probleme und einige SeniorInnen-spezifische Probleme. Besonders bei der Inbetriebnahme zeigte sich ein Mangel an Hintergrundwissen, der Entscheidungen erschwert bis unmöglich macht. Ein wichtiges Problem, das älteren Menschen berechtigt Sorgen macht, ist der Datenschutz.

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Doch zeigte sich, dass unerfahrene NutzerInnen rasch lernen. Im Folgenden fasse ich die Ergebnisse aus unseren Usability-Tests zusammen. 4.1 Viele scheitern Alle Usability-Tests wurden per Video aufgezeichnet und im Nachhinein ausgewertet. In unseren Usability-Tests sollten gesunde und geistig fitte SeniorInnen (60 Plus) einfache Aufgaben mit allgemein bekannten Standard-Apps lösen (Wetter, Zeitung, Fahrplan, etc.): • Bei 50 % der Apps sind die Testpersonen gescheitert, konnten also nicht

alle Aufgaben lösen. • 30 % der Aufgaben konnten nicht gelöst werden.

Nicht alle getesteten Apps verursachen Probleme, aber die meisten. Es gab nur eine einzige App mit 80 % Erfolgsquote: Die Österreichische Apotheken-App. 4.2 Fehlerquellen Die Problemfelder, an denen die Testpersonen scheiterten, wurden in Kategorien eingeteilt und gezählt (siehe Abbildung 3). Es war keine Überraschung, dass die häufigsten Usability-Probleme beim Tippen auftauchten, da es wohl die Tätigkeit ist, die am öftesten ausgeführt werden muss. Sehr hoch gereiht waren außerdem fundamentale Design-Fehler, wie zu nahe bei einander liegende Elemente oder zu kleine Buttons, die eigentlich schon der Vergangenheit angehören sollten. Auch der standardmäßig sehr schnell schwarz werdende Bildschirm löste bei den meisten SeniorInnen, die ja teilweise zum ersten Mal ein Smartphone bedienten und deshalb etwas länger bei der Bedienung brauchten, sehr häufig Verwirrung aus. Hier sind sinnvolle und seniorInnengerechte Standardeinstellungen gefragt.

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Abbildung 3: Die häufigsten Fehlerquellen

Quelle: ZIMD (eigene Darstellung)

5. U SABILITY

UND

APP -E NTWICKLUNG

Viele der gefundenen Probleme lassen sich durch die Entwicklung geeigneter Apps lösen. Oftmals, aber nicht immer, reicht es dazu aus, die Developer-Guidelines der Betriebssystem-Hersteller zu beachten. Die Ergebnisse sind in diesem Kapitel kurz zusammengefasst. Eine ausführlichere Guideline ist unter www.mobiseniora.at/app-entwicklung abrufbar. • • • • • • •

Die Beschriftung oder der Aufbau der App ist nicht erwartungskonform bzw. irreführend. Die Schaltflächen (Buttons) sind zu klein oder zu nahe beisammen. Die Schrift ist zu klein. Symbole werden nicht verstanden. Gestensteuerung ist unintuitiv eingesetzt. Die App wird versehentlich verlassen. Fachausdrücke und englische Ausdrücke werden nicht verstanden.

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Ein „innovatives“ Interaktionsdesign oder aufgehende Warnmeldungen stiften Verwirrung.

6. D URCH H ERSTELLER

ZU LÖSENDE

P ROBLEME

Einige Probleme können nicht ohne weiteres durch die Entwicklung einfacher bedienbarer Apps gelöst werden, sondern bedürfen eines Umdenkens seitens der Hersteller von Hardware, also Smartphones und Tablets, und Betriebssystemen (Apple, Google, Microsoft) bzw. den mit letzteren meist identischen Betreibern von App-Shops. 6.1 Hardware Immer wieder wurde von Problemen mit dem seitlichen Lautstärkeregler bei Smartphones berichtet. Durch die ungünstige Platzierung kommt es dazu, dass die Lautstärke unabsichtlich verstellt wird. Dies ist besonders problematisch, wenn das Gerät versehentlich auf leise oder stumm gestellt wird und die SeniorInnen deshalb einkommende Anrufe nicht mehr bemerken. Ein sehr hilfreiches Feature war für fast alle SeniorInnen der ZurückButton beim Samsung Handy. Vor allem wenig erfahrene UserInnen nutzten ihn exzessiv, um etwaige Fehlklicke auszubessern oder die App zu verlassen. 6.2 Inbetriebnahme Die Inbetriebnahme der Geräte gehörte zu den größten Hürden für die SeniorInnen. Sie wurde als sehr langwierige und aufwendige Prozedur wahrgenommen. Von den NutzerInnen werden zahlreiche Entscheidungen erwartet, die teilweise sehr schwammig und unverständlich formuliert sind. Die meisten SeniorInnen konnten sich unter den Begriffen, wie iCloud oder Google-ID, nicht viel vorstellen. Zwar werden kleine Beschreibungen angeboten, die jedoch nicht ausreichend verstanden werden, um einzuschätzen, welche Optionen für ihre Bedürfnisse erforderlich sind (z.B. Standorte für Apps freigeben) und welche nur optional sind (z.B. Google+ Konto erstellen). Durch das mangelnde Verständnis kam es auch dazu, dass die SeniorInnen sehr offene Datenschutzeinstellungen wählten, deren Konsequenzen ihnen jedoch nicht bewusst waren. Zur Verbesserung der Usability

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ist vor allem bei der Inbetriebnahme zu raten, so wenige Fachausdrücke wie möglich zu verwenden und klare und knappe Beschreibungen zu liefern. Die abgefragten Optionen sollten außerdem reduziert werden (z.B. keine Erstellung eines Google+-Kontos erfragen). Nur die wirklich notwendigen Einstellungen sollten von den NutzerInnen verlangt werden, um somit das Frustrationslevel zu reduzieren. 6.3 App-Stores Die App-Stores wurden von unerfahrenen UserInnen nur schwer gefunden. Hinter der Android App „Play Store“ vermutete keine einzige Testperson einen App-Store. Auch anderen Apps mangelte es bei der Bezeichnung an Erwartungskonformität, das heißt, die Namen der Apps ließen eine andere Funktion erwarten. Bei beiden Systemen (Android, iOS) wurden die Stores als sehr unübersichtlich und verwirrend empfunden. Die Suche nach einer bestimmten App stellte sich als sehr schwierig heraus. Die meisten Testpersonen suchten zuerst erfolglos in den angezeigten Kategorien und gingen dann zur Suchfunktion über (falls sie diese überhaupt finden konnten). Die Entscheidung für eine bestimmte App (z.B. eine Wetter-App) wurde eher aus dem Bauch heraus getroffen, da die Testpersonen die Kundenbewertungen nicht wahrnahmen, obwohl sich viele eine solche wünschten. Besonders negativ aufgefallen sind aufpoppende Werbungen, die viele SeniorInnen aus dem Konzept brachten. Damit SeniorInnen mehr Apps verwenden, wäre es nötig den App-Store so zu gestalten, dass er übersichtlich ist und eine klar erkennbare Suchfunktion enthält (bei iPad sehr versteckt). Werbung sollte auf jeden Fall vermieden werden. Die Bewertungen sollten klarer ersichtlich sein und den SeniorInnen somit helfen, einen Überblick über die überwältigende Anzahl an Apps zu behalten. 6.4 Gebrauchsanleitungen Eines der deutlichsten Ergebnisse unserer Befragungen und Fokusgruppen war, dass sich die Mehrheit der SeniorInnen aussagekräftige, einfach zu verstehende und kompakte Gebrauchsanleitungen wünscht. Viele waren sehr unglücklich darüber, dass bei Smartphones keinerlei Gebrauchsanleitung beiliegt und lediglich eine seitenlange PDF-Version zum Download zur Verfügung steht. Die meisten wünschten sich eine Gebrauchsanleitung,

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die auf Papier gedruckt ist und wie bei anderen technischen Geräten mitgeliefert wird.

7. E RGEBNISSE

DER

C ULTURAL P ROBES

Wie in 3.2 beschrieben, wurde von 12 SeniorInnen über einen längeren Zeitraum Tagebuch geführt. Insgesamt gab es 960 Tagebucheinträge, die mit den Metaphern „Fee“ für Sehnsüchte und Wünsche, „Dienstmann“ für Service und Dienstleistungen und „Bagger“ für Ärgernisse versehen wurden. Die Auswertung erfolgte in einer abgewandelten qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (vgl. Lamnek 1989). Nach Sichtung und digitaler Erfassung der 960 Tagebucheinträge wurde ein System von Kategorien festgelegt, denen dann die Tagebucheinträge von zunächst drei Personen unabhängig voneinander zugeordnet wurden. Die Einträge konnten dabei auch mehreren Kategorien zugeordnet werden. Es ging bei der Zuordnung nicht nur um die Kernaussage, sondern auch um das Umfeld. Ärger über weggeworfenen Müll im Wald wurde also zum Beispiel nicht nur „Ärger über andere Menschen“ zugeordnet, sondern auch „Natur, Ausflüge“, da die Person ja einen Ausflug gemacht haben muss, der über den Lebensalltag der Person zumindest ebenso aussagekräftig ist, wie der Ärger über den Müll. 7.1 Die wichtigsten Lebensbereiche Die Aussagen der SeniorInnen4 bezogen sich auf sehr unterschiedliche Situationen und waren sehr lebensnah, wie beispielsweise „Hätte gerne wieder eine Bassena! So ein kleines Tratscherl zwischendurch wäre nett“ (#4). „Mich stört, dass ich in der Nacht öfters aufstehen muss“ (#31). „[Der Dienstmann soll] mir die Einkaufstasche tragen“ (# 19).

4

Die hier angeführten Aussagen beziehen sich auf Tagebucheinträge der Testpersonen im Rahmen des Projekts.

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Die wichtigsten Kategorien, denen die Einträge der Testpersonen zugeordnet wurden, waren: • • • • • • • • • • • • • •

Ärger über Institutionen (96) Medizin, Gesundheit (91) Haushalt, Ordnung, Suchen (77) Ethik, Engagement für eine Sache (77) Freunde, Soziales (71) Ärger über andere Menschen (70) Wetter (62) Wünsche an sich selbst (53) Besorgungen, Wege, Transporthilfe (53) Familie, Partnerschaft (52) Produkte, Geschäfte (52) Politik (50) Mobilität, Verkehr (49) Gartenarbeit, Schneeräumen (48)

7.2 App-Ideen Auf Basis der geclusterten Tagebucheinträge würde mit dem um einige App-EntwicklerInnen erweiterten Projektteam ein BrainstormingWorkshop durchgeführt, um App-Ideen zu entwickeln, die für Seniorinnen und Senioren sinnvoll, nützlich und hilfreich sein können. Die vollständige Liste der App-Ideen findet sich im Forschungsbericht des Projekts (vgl. Amann-Hechenberger et al. 2015, S. 179ff).

8. Z USAMMENFASSUNG Die Ergebnisse des Projekts mobi.senior.A zeigen, dass sich SeniorInnen bei der Nutzung mobiler Geräte mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert sehen. Schon die Erstinbetriebnahme des Smartphones bzw. Tablets erweist sich häufig als große Hürde. Seniorinnen und Senioren wünschen sich hier oft die Hilfestellung durch andere Personen sowie kompakte, leicht verständliche Gebrauchsanleitungen, die im Lieferumfang ent-

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halten sind. Darüber hinaus besteht auch der Wunsch nach alltagsnahen, niederschwelligen Schulungsangeboten. Zu den größten Nutzungsbarrieren zählt die wenig intuitive Gestaltung von Soft- und Hardware, wie beispielsweise die mangelnde Erwartungskonformität, Inkonsistenzen wie die unterschiedliche Belegung von Icons in verschiedenen Apps, der Umgang mit dem Touchscreen, die Texteingabe, die unverständlichen Begriffe und die teilweise unlogisch wirkende Gestensteuerung. Dabei hat sich gezeigt, dass ältere Menschen auf dieselben UsabilityProbleme stoßen, mit denen jüngere zu kämpfen haben; während Jüngere jedoch Lösungswege kennen und dadurch resistenter sind, führen die Probleme bei SeniorInnen vielfach zum Scheitern. Seniorinnen und Senioren erwarten, dass Apps im Alltag einen konkreten Nutzen bringen. Nach dem Telefonieren ist Kommunikation (z.B. SMS, Skype oder WhatsApp) die beliebteste Funktion von Smartphones, gefolgt von Fotografieren. Es besteht zudem der Wunsch, den Alltag mithilfe mobiler Anwendungen zu erleichtern. Auf Basis der Projektergebnisse wurden Guidelines für App-Entwicklung, Schulungen und Verkauf/Support entwickelt, die auf www.mobiseniora. at kostenlos verfügbar sind.

L ITERATUR Amann-Hechenberger, Barbara/Buchegger, Barbara/Erharter, Dorothea/ Felmer, Viktoria/Fitz, Bernadette/Jungwirth, Bernhard/ Kettinger, Marlene/Schwarz, Sonja/Knoll, Bente/Schwaninger, Teresa/Xharo, Elka (2015): Tablet & Smartphone: Seniorinnen und Senioren in der mobilen digitalen Welt. Forschungsbericht zum Projekt „MOBISENIORA“. Wien. Online verfügbar unter: forschungsbericht.mobiseniora.at/ forschungsbericht.pdf (2016-01-19). BMASK (2012): aktivaltern2012.at. Daten & Fakten zur demografischen Entwicklung. Online verfügbar unter: http://www.aktivaltern2012.at/ cms/aa2012/attachments/8/7/9/CH2465/CMS1325234152530/bmaskaktivaltern2012-broschuere.pdf (2016-03-07). Böhm, Klaus/Kronauer, Adrian/Wagenführer, Daniel (2012): Service ist Trumpf. Neue Vermarktungspotenziale bei älteren Mobilfunknutzern.

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Kurzfassung verfügbar unter: http://www.presseportal.de/pm/60247/ 2377661 (2016-03-7). Burmistrov, Ivan/Zlokazova, Tatiana/Izmalkova, Anna/Leonova, Anna (2015): Flat design vs rich design: Experimental comparison. In: Abascal, J. et al. (Hg.): Human-Computer Interaction – INTERACT 2015. Conference Proceedings. Heidelberg. Haring, Solveig (2011): Neue Medien – „alte Frauen“. Medienkompetenz für ein Aufweichen von Klischees. In: Magazin erwachsenenbildung.at 2011 (13), S. 97-103. Knoll, Bente/Ratzer, Brigitte (2010): Gender Studies in den Ingenieurwissenschaften. Wien: Facultas. Lamnek, Siegfried (1989): Qualitative Sozialforschung. Band 2: Methoden und Techniken. München: Psychologie Verlags Union. Nedopil, Christoph/Glende, Sebastian/Klaus, Harald/Balasch, Michael (2012): Die mobile Generation Plus: Anforderungen und Potenziale mobiler Apps für Iphone, Ipad und co. Online verfügbar unter: http://www.youse.de/documents/Kompetenzen/Youse-Mobile_Apps_ Generation_Plus.pdf (2016-01-19). Nielsen, Jakob (2013): Seniors as Web Users. Online verfügbar unter: http:// www.nngroup.com/articles/usability-for-senior-citizens/ (2014-09-29). Nielsen, Jakob/Budiu, Raluca (2013): Mobile Usability. Berkeley: New Riders. Schulz, Ursula (2004): Web-Usability für Silversurfers. In: merz. Medien + Erziehung (04), S. 18–22. Statistik Austria (2013): IKT-Einsatz in Haushalten. Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in Haushalten. Wien. Online verfügbar unter: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/informations gesellschaft/ikt-einsatz_in_haushalten/ (2014-09-24). Statistik Austria (2014): Demographische Indikatoren. Online verfügbar unter: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesell schaft/bevoelkerung/demographische_indikatoren/index.html (2015-11-30). Streich, Ulrike (2005): Altersgruppenspezifische Probleme beim Usability Design von Webdiensten. Hochschulschrift. Universität Köln.

Pflicht zur Wahrheit, Pflicht zur Lüge? Ethische Fragen in der Demenzpflege J OHANNA Z EISBERG

1. D ER Z USAMMENHANG VON L ÜGE UND G EMEINSCHAFT BEI K ANT UND N IETZSCHE In seiner Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen von 1797 bezieht Immanuel Kant klare Position. Ganz gleich, welches Unheil dadurch abgewendet werden kann oder soll: „Wer […] lügt, so gutmüthig er dabei auch gesinnt sein mag“ (Kant 1912, S. 427), begeht ein Unrecht nicht nur an demjenigen, der angelogen wird, sondern an der Menschheit überhaupt. Selbst wenn nämlich, wie Kant an einem extravaganten Fallbeispiel erläutert, ein Mörder fragt, ob sein anvisiertes Opfer im Hause sei, „so thue“ man im Falle einer Verleugnung „im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht: d.i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussagen […] überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches 1

ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“ (ebd., S. 426).

1

Dieses Fallbeispiel hat eine lange Tradition in philosophischen Überlegungen zur Lüge seit Augustinus. Dieser rät zu folgender, in Kants hypothetischer Konstruktion nicht vorgesehenen, Antwort: „Ich weiss zwar, wo er ist, aber ich werde sein Versteck niemals angeben“ (Augustinus 1953, S. 34f.).

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Wenn man der Pflicht zur Wahrhaftigkeit, selbst wenn es also um Leben und Tod geht, „auch nur die geringste Ausnahme einräumt“, würden alle zwischenmenschlichen Verträge mit einem Schlag „schwankend und unnütz gemacht“ (ebd., S. 427) und dadurch jedem menschlichen Zusammenleben die Basis entzogen. Lügen gefährden also, nach Kant, den gesellschaftlichen Zusammenschluss der Menschheit, sind daher ‚schlecht‘ und unbedingt zu vermeiden. Keine hundert Jahre später wird der ‚Umwerter aller Werte‘, Friedrich Nietzsche, in seinem Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) implizit eine etwas andere Verbindung zwischen Wahrheit, Lüge und Vergesellschaftung der Menschen ziehen. Für ihn steht nämlich, anders als für Kant, die Lüge nicht am potentiellen Ende aller sozialen Zusammenschlüsse, sondern an deren Anfang.2 Denn was die Menschen seit ihrem ersten evolutionär erforderlichen „Friedensschluss“ (Nietzsche 1988, S. 877) recht eigentlich zusammenhält, ist nicht die gemeinsame Orientierung an ‚der‘ Wahrheit, die es Nietzsche zufolge gar nicht gibt, sondern der übereinstimmende Gebrauch zur „Wahrheit“ deklarierter Lügen, „von denen man“ allerdings „vergessen hat, dass sie welche sind“ (ebd., S. 881). Der Inbegriff aller konventionalisierten Lügen ist für Nietzsche die Sprache, die fälschlicherweise für ein adäquates Instrument zur Abbildung der Wirklichkeit gehalten wird. Worte entstünden aber aus einer durch die menschliche Perspektive verzerrten Weltwahrnehmung, die in zahlreichen inkommensurablen Übertragungsprozessen erst zu einem Laut umgeformt würde und schließlich zu allgemeinen Begriffen erstarre, die mit der Realität nichts mehr zu tun haben: „Was ist ein Wort? […] Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal

2

Dass Lügen der Gemeinschaftsbildung tatsächlich durchaus dienlich sein können, bestätigen aktuelle Forschungen der Psychologie und Sozialwissenschaften. Vgl. hierzu die in ihrer Versuchsanordnung allerdings nicht ganz überzeugende Studie von Barrio et al. 2015 und mit weiterführenden Literaturangaben auch Hauschild 2015.

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vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue“ (ebd., S. 878f.).

Nietzsches provokante Entlarvung der grundlegenden Metaphorizität der Sprache und damit des zwischenmenschlichen Bindeglieds schlechthin, mündet jedoch nicht in der Aufforderung, dieses ‚Lügen im außermoralischen Sinne‘ fortan zu unterlassen. Schließlich wäre der Mensch ohne den dadurch erst ermöglichten sozialen Zusammenschluss längst dem evolutionären Wettkampf erlegen. Stattdessen ruft er dazu auf, sich der ‚Lüge‘ wieder bewusst und künstlerisch zu bedienen, um eine kulturelle Gesellschaft höherer Ordnung zu erreichen, wie sie für ihn beispielhaft im antiken Griechenland realisiert war.3 Bei Kant wie bei Nietzsche steht das Lügen also in unmittelbarer und existenzieller Verbindung zur menschlichen Gemeinschaft – bei Kant im moralischen Sinn, als deren potentiell finale Gefährdung, bei Nietzsche im außermoralischen Sinn, als Bedingung ihrer Möglichkeit. Die Entscheidung dafür oder dagegen hängt bei beiden Philosophen also letztlich davon ab, wie es sich auf die Gemeinschaft der Menschen auswirkt, deren Erhalt insofern als die unangefochtene Grundvoraussetzung beider Argumentationen ausgemacht werden kann. Fasst man die zunächst sehr konträr wirkenden Ansätze unter diesem Gesichtspunkt zusammen, so ergibt sich folgender Handlungsmaßstab: Innerhalb einer existierenden menschlichen Gemeinschaft und nach deren Maßstäben zu lügen, ist, wie Kant gezeigt hat, schlecht, zu lügen, um eine Gemeinschaft zu stiften, ist jedoch, wie Nietzsche zeigt, nicht nur erlaubt, sondern zuweilen sogar erforderlich.

3

So der zweite Teil seiner Ausführungen in: Nietzsche 1988, S. 886–890.

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2. D EMENZIELLE D ESORIENTIERUNGEN ‚ GETEILTE W IRKLICHKEIT ‘

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Ob es geboten sei, „aus Menschenliebe zu lügen“, wird heute auch im Zusammenhang der Pflege fortgeschritten dementer PatientInnen diskutiert.4 Und wie ich meine, könnte es ein ethisch sinnvoller Maßstab sein, die Bewertung des Lügens auch hier davon abhängig zu machen, ob es zur Stiftung einer zwischenmenschlichen Gemeinschaft mit den Erkrankten dienlich ist oder nicht. Dass die Wirklichkeit nicht als eine fest umrissene Größe vor uns liegt und wir uns nur unserer zuverlässigen Sinnesorgane bedienen müssen, um sie zu erkennen, und unserer Sprache, um uns über sie zu verständigen, ist heute, auch dank Kant und Nietzsche, keine gewagte These mehr. Konstruktivistische Ansätze sind uns zumindest in der Theorie zur Selbstverständlichkeit geworden. Als sozialen Wesen ist uns aber existenziell daran gelegen, unsere Vorstellung von der Wirklichkeit, wie konstruiert diese auch sein mag, mit anderen Menschen zu teilen, sie mit der ihren in größtmögliche Übereinstimmung zu bringen.5 Das entscheidende Mittel zu ihrer Erlangung, ja letztlich diese ‚geteilte Wirklichkeit‘ selbst, ist die zwischenmenschliche Kommunikation, die verbale oder auch nonverbale Kontaktaufnahme.

4

Zu dieser kontrovers geführten Debatte vgl. u.a. Jenrich 2009; Müller-Hergl 2009; Nocon/Roll/Schwarzbach et al. 2010; Schmieder 2014; Ganß/Wißmann 2013 sowie Wißmann 2015.

5

Die hier vorausgesetzte Annahme eines anthropologischen Grundbedürfnisses nach einer ‚geteilten Wirklichkeit‘ ließe sich mit verschiedenen Theorien unterfüttern – Philosophie, Anthropologie, Psychologie, Soziologie und mittlerweile auch die Kognitionswissenschaften widmen sich aus unterschiedlichsten Perspektiven dem Stellenwert intersubjektiver Interaktionsräume für die menschliche Existenz und personale Identität. Zu Martin Heideggers Existenzial des ‚Mitseins‘, Robert Spaemanns Vorstellung der Wirklichkeit als eines Beziehungsgeschehens, David Reiss’ ‚family paradigm‘ und Vittorio Galleses kognitionswissenschaftlichen Untersuchungen zur „geteilten Mannigfaltigkeit der Intersubjektivität“ vgl. Heidegger 2006, Spaemann 2011, Reiss et al. 1981 und Gallese 2003.

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Im Falle einer Demenzerkrankung kann diese verständigende Kommunikation enorm erschwert sein. Denn nahezu jede Demenz geht (zumindest phasenweise) mit raum-zeitlichen Desorientierungen, Halluzinationen und zuweilen auch konfabulatorischen Verwirrungen der Erkrankten einher. Werden Pflegende oder betreuende Angehörige mit einer solchen Situation konfrontiert, stehen sie vor der Entscheidung, wie sie mit den offensichtlichen Fehleinschätzungen der Erkrankten umgehen sollen. Was kann man tun, wenn ein Mensch auf seine schon vor Langem verstorbene Mutter wartet, nach seinen längst erwachsenen Kindern fahndet oder mitten in der Nacht zu seiner Arbeit aufbrechen möchte, die er schon vor Jahrzehnten verrentet verlassen hat? Wenn ein dementer Mensch in Phasen der Desorientierung einer offensichtlich anderen Weltvorstellung verhaftet ist, dann erleben das alle Beteiligten als zutiefst irritierend. Angesichts des elementaren Bedürfnisses nach einer interpersonal ‚geteilten Wirklichkeit‘ sind die daraus resultierenden asymmetrischen Kommunikationskonstellationen existenziell. Ihre ‚grenzhumane‘ Besonderheit liegt darin, dass die Strategie ihrer Bewältigung immer zugleich auch eine implizite Entscheidung über den Grad der Anerkennung des Gegenübers als Person darstellt. Denn „Menschenbilder“, wie es in einem Ethiklehrbuch für Pflegende heißt, „verstecken sich nicht [allein, J.Z.] in philosophischen Büchern, die in einer Bibliothek darauf warten, entdeckt und studiert zu werden. Pflegende begegnen anthropologisch begründeten Sinn- und Werttraditionen in ihrem Berufsalltag: Bei der Versorgung und Betreuung von Patienten […]. Auch die berufliche Ausbildung […] in der Pflege orientiert sich an Konzepten, Modellen und Theorien, die Ansichten vom Menschen zum Ausdruck bringen“ (Großklaus-Seidel 2002, S. 93).

Einer britischen Umfrage zufolge greifen fast alle professionellen Pflegenden (108 von 112 Befragten) im Umgang mit solchen Situationen gelegentlich auf Lügen zurück und sehen darin ein probates Mittel „to reduce residents’ distress when they asked either to see an absent/deceased spouse/ friend/pet, or to leave the care setting to go home/work etc.“ (James/WoodMitchell et al. 2006, S. 801). Wie aber verhalten sich die verschiedenen pflegewissenschaftlichen Theorien zu dem in der Praxis offenbar so gängigen Einsatz von Lügen und was verrät das über das ihnen zugrundeliegende Menschenbild?

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3. D REI P FLEGEKONZEPTE UND IHR U MGANG MIT DEMENTIELLEN D ESORIENTIERUNGEN In der Geschichte der Pflegewissenschaften hat es für die Reaktion auf dementielle Desorientierungen, grob gefasst, drei Konzepte gegeben. In den 1960er Jahren wurde von den AmerikanerInnen Taulbee und Folsom das sogenannte ‚Realitäts-Orientierungs-Training‘6 (ROT) entwickelt. Es schlägt vor, den krankheitsbedingten Verwirrungen durch verschiedene Orientierungshilfen entgegenzuwirken. Übergroße Uhren, gut sichtbare Datumsanzeigen, vor allem aber die Korrektur ihrer als ‚Wahn‘ eingeschätzten Vorstellungen und als ‚sinnlos‘ erachteten Handlungen sollten die Kranken dazu befähigen, auch weiterhin an ‚unserer‘ Realität teilzuhaben. Dieser gutgemeinte Versuch einer Rückbindung hat sich in der Praxis allerdings als eher kontraproduktiv erwiesen. Da der neurodegenerative Verfall unumkehrbar ist, ist das Scheitern der Bemühungen, auf Dauer gesehen, vorprogrammiert. Die kranke Person wird stattdessen immer wieder mit ihren nachlassenden Fähigkeiten und Defiziten konfrontiert, was häufig zu Frustrationen und zu noch größerer Verzweiflung führt.7 In den 1980er Jahren hat die Gerontologin Naomi Feil daher ein pflegetechnisches Gegenmodell zur Realitätsorientierung entwickelt. Wenngleich ihre Einschätzung der Demenz als psychogenetische Krankheit mittlerweile überholt ist, hat sich ihr Konzept der ‚Validation‘ (in Deutschland in einer leicht variierten Form der ‚Integrativen Validation‘ nach Nicole Richard) in weiten Kreisen der Betreuung durchgesetzt.8 „Im Mittelpunkt der Validation steht“, so resümiert das Praxishandbuch Demenz, „die Vermittlung von Kommunikationstechniken, die es ermöglichen, die subjektive Realität des Demenzkranken zu akzeptieren, ohne sie zu korrigieren“ (Stechl et al. 2012, S. 93). Das nur „vermeintlich unsinnige Verhalten“, so heißt es auf der Homepage des Instituts für Integrative Validation, werde durch die „Akzeptanz“ der „inneren Erlebniswelt“ des Kranken „in einem Sinnzu-

6

Vgl. Taulbee/Folsom 1966, S. 133–135.

7

Zur kritischen Bewertung des ROT vgl. Stechl et al. 2012, S. 88.

8

Zur „Validation“ vgl. Feil 1992 und die Homepage des Instituts für Integrative Validation.

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sammenhang gesehen“ und „in einen Kontext integriert – die zunächst unpassende Aussage ‚Ich will zu meiner Mama‘ passt nun wieder zum Erleben der Person, ist eingeordnet und verstanden“ (Institut für Integrative Validation). Dafür müssen die Grenzen rationaler Weltwahrnehmung schon einmal verlassen werden. An die Stelle einer realitätsorientierenden Korrektur tritt das entgegenkommende Eingehen auf die Weltwahrnehmung der Kranken, die dem Betreuenden jedoch, da sie sprachlich kaum mehr kommuniziert werden kann, immer nur als eine von ihm imaginierte zugänglich wird. Durch dieses Entgegenkommen kann im Idealfall eine situative, annäherungsweise ‚geteilte Wirklichkeit‘ mit den Demenzkranken entstehen, die sich jedoch aufgrund der krankheitsbedingten mentalen Schwankungen nie auf Dauer stellen lässt. Vergleicht man die beiden skizzierten Reaktionsmöglichkeiten auf dementielle Desorientierungen fällt auf, dass die konkreten Handlungsanweisungen beim Übergang von der einen zur anderen Methode geradezu auf den Kopf gestellt wurden: Realitätsorientierung und Korrektur der Wahnvorstellungen auf der einen, Akzeptanz und Wertschätzung einer ‚subjektiven Realität‘ der Kranken auf der anderen Seite. Man kann diese pflegewissenschaftliche Methodenentwicklung zugleich als Geschichte ihres sich wandelnden Personenverständnisses lesen. Beobachten lässt sich dabei eine Verabschiedung des auf Rationalität gegründeten Personenbegriffs hin zu einem sozialen, der imstande ist, die Demenzkranken auch im Spätstadium in seinen Begriffsumfang zu integrieren. Die Methode der Validation ist theoretisch avancierter, da sie die Vorstellung einer einzig gültigen, vernunftbasierten Realitätswahrnehmung verabschiedet und stattdessen von multiplen subjektiv geprägten Weltwahrnehmungen ausgeht. Sie scheint auch ethisch avancierter, da sie die Aufgabe der Erreichung einer ‚geteilten Wirklichkeit‘, um die es beiden Methoden geht, nicht den Kranken auferlegt, die daran scheitern müssen, sondern ins Zentrum pflegeethischer (Für-)Sorge stellt. Das validierende Gebot, auf die Weltwahrnehmung der Dementen einzugehen, hat sich in einem neueren Trend in der Pflege allerdings verselbständigt. In einem jeder Äußerung der Kranken vorauseilenden Entgegenkommen, das eben darum keines ist, wird in zahlreichen Pflegeeinrichtungen mittlerweile mit institutionalisierten „Scheinwelten“ gearbeitet. Es werden beispielsweise Scheinbushaltestellen errichtet, an denen die Kranken auf einen Bus ‚nach Hause‘ warten, der niemals kommen wird; es werden

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Bahnabteile fingiert, in denen ein Landschaftsfilm in Endlosschleife abgespielt wird und als Bahnpersonal verkleidete Pfleger zuweilen heiße Getränke anbieten. In solchen ‚Scheinwelten‘ geht es nun, wie ich meine, nicht mehr um die Herstellung einer ‚geteilten Wirklichkeit‘. Stattdessen wird eine dritte Welt aktiv fingiert und sogar außerhalb der Ebene reiner Kommunikation realisiert, die weder die der Pflegenden (wie noch bei ROT), noch auch die der Demenzkranken ist (wie annäherungsweise bei der Validation). Statt auf die individuellen Bedürfnisse der oder des Einzelnen einzugehen, werden die Kranken hier tendenziell wie ein einziges ununterscheidbares Kollektiv behandelt. Wenn also eine Person den ständigen Drang hat, nach Hause zu gehen, und durch das Warten an der Bushaltestelle beruhigt wird, so wird angenommen, dass auch alle anderen PatientInnen mit denselben Mitteln beruhigt werden können. Dem Konzept nach wird den Kranken hier, natürlich nicht bewusst oder gar in boshafter Absicht, der Versuch zur Herstellung einer ‚geteilten Wirklichkeit‘ von vornherein verweigert.

4. „R ICHTIGES L ÜGEN “ IN DER D EMENZPFLEGE ? Wie steht es nun um den in der Praxis üblichen Einsatz von ‚Lügen aus Menschenliebe‘ in der Pflege? Wie sich vermuten lässt, wird er in den verschiedenen Pflegemethoden unterschiedlich bewertet. Während das Realitätsorientierungstraining vom Konzept her keine solchen Lügen vorsieht und die Demenzkranken auch in Phasen krankheitsbedingter Desorientierung mit unserer Realität konfrontiert, hat sich in den sogenannten ‚Scheinwelten‘ das Vortäuschen einer falschen Wirklichkeit tendenziell institutionalisiert und zum Prinzip entwickelt. In der Mitte steht die Methode der Validation, in der ein ambivalentes Verhältnis zu ‚Notlügen‘ vorherrscht, die von einigen akzeptiert, von anderen hingegen strikt abgelehnt werden. In seinem Aufsatz Richtig Lügen?! Zum Umgang mit Lügen im Pflegealltag hat sich der zeitgenössische Moralphilosoph Klaus Peter Rippe für einen reflektierten und vorsichtigen Einsatz von Lügen in der Pflege ausgesprochen. Seine Argumentation wägt zwischen den beiden für die Pflegeethik leitenden Prinzipien der Patientenautonomie und der Fürsorge ab. Ihm zufolge sei das vorrangig geltende Autonomieprinzip, nach dem PatientIn-

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nen ein Recht auf Wahrheit haben, um autonome Entscheidungen treffen zu können, auf Demenzkranke im Spätstadium nicht mehr anwendbar. Daher seien Lügen, wenn sie den in diesem Fall allein zu berücksichtigenden Aspekten der Fürsorge dienen, nicht gänzlich zu verwerfen. Rippe unterscheidet aber verschiedene „Form[en] der Lüge“ (Rippe 2010, S. 4). Lügen seien dann zulässig, „wenn sie dem Demenzkranken nicht schaden, die Vertrauensbeziehung nicht gefährden und dadurch das Wohl der Demenzkranken gefördert wird. Aber sie sollten einen Bezug zur ‚subjektiven Wirklichkeit‘ der Demenzkranken haben“ (ebd., S. 6). Scheinweltgestaltung ist daher auch für Rippe keine adäquate Form der Lüge. Hier „erfindet der Pflegende eine Welt und führt die demenzkranke Person hinein. Eine Beziehung zu jener Welt, in der sich der Demenzkranke subjektiv wähnt, seiner ‚subjektiven Wirklichkeit‘, ist nicht gegeben“ (ebd., S. 4). Solche Lügen seien „nicht nur deshalb moralisch fragwürdig, weil unklar ist, ob sie unerlässlich sind und wirklich aus Fürsorgeüberlegungen geboten erscheinen“ (ebd.) – schließlich wäre es wohl durchaus möglich, die beruhigenden Effekte der Scheinweltelemente auch durch andere Mittel zu erreichen.9 „Sie sind auch deshalb moralisch fragwürdig“, so Rippe weiter, „weil sie keinen Bezug zur ‚subjektiven Wirklichkeit‘ der Demenzkranken haben; es wird vielmehr von den Betreuenden eine Welt erschaffen, damit Demenzkranke dasjenige tun, was man von ihnen will“ (ebd.). Das sei aber „mit dem Gedanken der Fürsorge nicht vereinbar“ (ebd.). Vielleicht ließe sich auf der Grundlage des ‚sozialen‘ Menschenbildes der Validation Rippes Argumenten für den gelegentlichen Einsatz von Lügen in der Pflege noch jenes Leitkriterium zur Seite stellen, ob die jeweilige ‚Notlüge‘ zur Herstellung einer kurzzeitig ‚geteilten Wirklichkeit‘, einer zwischenmenschlichen Gemeinschaft unbedingt notwendig erscheint oder nicht. Damit wären wir wieder bei Kant und Nietzsche. Die gesellschaftsgefährdende Dimension der Lüge, die Kant mit einer unbedingten Verpflichtung auf Wahrheit beantwortet, gilt hier schon allein deshalb nicht, weil Demente im Spätstadium gar keine Verträge mehr schließen können, also in gewisser Weise ohnehin schon außerhalb der Gesellschaft stehen. Um

9

Das fingierte Zugabteil etwa ließe sich sicherlich ohne Wirkungsverlust durch einen offiziell als Kino deklarierten Raum ersetzen, in dem derselbe Landschaftsfilm abgespielt würde, so auch Schmieder 2014, S. 134.

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gleichwohl eine zumindest momentweise zwischenmenschliche Gemeinschaft mit den Erkrankten zu erreichen, die ein anthropologisches Grundbedürfnis ist und das Letzte, was Pflegende für sie noch tun können, sind ‚Lügen‘ in diesem ‚außermoralischen Sinne‘ durchaus zuweilen erlaubt.10 Die Erforderlichkeit ihres Einsatzes kann aber niemals pauschal als eine ‚Pflicht zur Lüge‘11 statuiert werden, sondern muss aufgrund ihrer Ausrichtung auf die beteiligten Subjekte für jeden Einzelfall und in jeder Situation neu erwogen werden.

L ITERATUR Augustinus, Aurelius (1953): Die Lüge und Gegen die Lüge. Übertr. u. erläutert v. Paul Keseling. Würzburg: Augustinus-Verlag. Barrio, Rafael A. et al. (2015): Dynamics of deceptive interactions in social networks. In: Journal of the Royal Society 12 (112). Online verfügbar unter: http://rsif.royalsocietypublishing.org/content/royinterface/12/112/ 20150798.full.pdf (2016-03-17). Feil, Naomi (1992): Validation: ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen. Wien: Altern & Kultur. Gallese, Vittorio (2003): The Manifold Nature of Interpersonal Relations: the Quest for a Common Mechanism. In: Philosophical Transactions of the Royal Society B 358 (2003), S. 517–528. DOI: 10.1098/rstb.2002. 1234

10 Dabei kann es in ganz späten Stadien der Krankheit auch einfach um bedeutungsleere Kommunikation einzig um der Kommunikation willen gehen, wie der Neurologe und Psychiater Jan Wojnar betont (vgl. Wojnar 1997). Sogenannte ‚Putzgespräche‘, die auf keinen Informationsgehalt aus sind, sondern lediglich der Sozialpflege dienen, sind oft die letzte Möglichkeit zur Herstellung einer momentweisen ‚geteilten Wirklichkeit‘ mit den Kranken. 11 Der Theoretiker biographisch orientierter Scheinwelten, der Diplompsychologe Sven Lind vertritt tendenziell eine solche ‚Pflicht zur Lüge‘ als ein „Leistungskataloganspruch“ der Kranken in Ganß/Wißmann 2013, S. 40.

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Alt, psychisch krank und das Leben zu Hause gut weiter entwickeln – ein Widerspruch? G ERHARD H ERMANN , M ANUELA G ALLUNDER & G ÜNTER K LUG

1. Z UR I ST -S ITUATION „Auweh, auweh […] ich habe solche Angst! Ich halte das nicht mehr aus! Ich möchte sterben und sonst nichts! […] auweh, auweh …!“1 Die hier zitierte Frau Maier, 79 Jahre alt, war laut Diagnose an Schizophrenie erkrankt und litt unter massiven Ängsten und psychotischem Erleben. Darüber hinaus lagen ausgeprägte Schwerhörigkeit und unversorgte Inkontinenz vor. Frau Maier lebte bereits viele Jahre mit dieser Belastung, allein und sozial isoliert. Die Wohnung war kahl, ohne persönliche Gegenstände. Bedingt durch ihre psychische Verfassung verließ sie diese nicht. Alles war reduziert auf notwendigste Versorgung, ohne empathischen Kontakt. Essen auf Rädern wurde vor der Wohnungstür abgestellt. Jeder Fremdkontakt, insbesondere pflegerische Hilfe überforderte sie massiv und musste abgewehrt werden. Ins Pflegeheim wollte Frau Maier keinesfalls2. 25 % bis 30 % der über 65-Jährigen leiden an einer oder mehreren psychischen Erkrankungen. 7-8 % haben dringenden gerontopsychiatrischen Hilfebedarf3. Auf die Steiermark umgerechnet sind es zumindest 19.200 1

Hermann 2013, S. 75.

2

Vgl. ebd., S. 75–77.

3

Vgl. Wächtler 1996, S. 893.

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Menschen im Jahr 20154. Dazu zählte auch Frau Maier. Psychische Krankheit ist dabei nicht als defizitärer Vorgang zu sehen, sondern als ein Bewältigungsversuch, mit veränderten Bedingungen fertig zu werden5. Ungefähr 80 % der an den Folgen von Demenz, Persönlichkeitsstörungen, wahnhafter Symptomatik, Angst oder Depressionen leidenden Älteren wohnen im häuslichen Umfeld6 und sind in der Gesundheitsversorgung stark benachteiligt7. Aufgrund der Schwere der Erkrankung werden sie mit bisherigen Versorgungskonzepten nicht erreicht8. Die Folge ist häufig ein Teufelskreis bestehend aus Isolation, Verwahrlosung, zunehmender Krisensituation, Suizidversuchen oder sonstigem herausfordernden Verhalten. Aufgrund fehlender gerontopsychiatrischer Ressourcen vor Ort, kommt es zu stationären Einweisungen. Mangels Alternativen erfolgt schließlich gegen den Willen der Betroffenen bzw. durch „Überredung“ die Übersiedlung ins Pflegeheim9. Wo bleibt das Recht auf Selbstbestimmung und Würde sowie das Recht auf angemessene Versorgung, Entwicklung und Teilhabe? Wo bleiben individuelle Begegnung und Auseinandersetzung zu Situation, Bedürfnissen, Geschichte, Lebensereignissen und Sinn? Welchen Wert geben wir älteren, psychisch geforderten Menschen und welchen haben sie in unserer Gesellschaft, wenn ihnen u.a. verwehrt wird, ihrem Willen entsprechend weiter zu Hause zu leben? Welche Perspektive bleibt?

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BEHINDERT GUTES WAS FÖRDERT ES ?

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Mit Erfolg zu altern setzt voraus, dass es gelingt, Gesundheit, Zufriedenheit, Glücksgefühle und Autonomie zu bewahren. Das erfordert biopsychosoziale Anpassung. Reichen die eigenen Reserven nicht aus, muss die Um-

4

Vgl. Sozialamt Stadt Graz 2003, S. 16.

5

Vgl. Junkers 1995, S 30.

6

Vgl. Klug et al. 2006, S. 89.

7

Vgl. Bruce et al. 2005, S. 1039f.; Tew 2005, S. 673.

8

Vgl. Kuhlmann 1999, S. 21; Bruce et al. 2005, S. 1040.

9

Vgl. Kuhlmann 1999, S. 21f.

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welt helfend einspringen, damit es gelingt, „selbst länger wirksam tätig zu sein“10. Verunsichernde Lebensumbrüche durch Pensionierung, Verluste nahestehender Personen, Funktionseinbußen11 und vor allem psychische Erkrankungen, u.a. als Spätfolge früher Traumatisierungen aufgrund von Gewalterfahrungen, Verlust von Heimat, Sicherheit und Geborgenheit wirken sich ungünstig aus12. Dies gilt insbesondere bei Demenzerkrankungen, z.B. wenn Traumata bei ungewolltem Pflegeheimübertritt durch das Gefühl, hilflos ausgeliefert und entwurzelt zu sein, reaktiviert, Situationen verkannt oder Retraumatisierungen erlitten werden13. Der so gesellschaftlich mitbedingte Mangel an Teilhabe und Sinnverlust14 begünstigt Krankheit ebenso wie soziale Isolation15 und Einsamkeit16. Ungünstig wirkt zudem, dass Pflegedienste in Österreich primär somatisch orientiert sind17, häufig Personalwechsel stattfinden und Zuständigkeiten zersplittert sind18. Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und Mitverantwortung sind zentrale Bestandteile einer „altersfreundlichen Kultur“19. Das wird Menschen bei psychischer Erkrankung im Versorgungsalltag häufig nicht zugestanden. Möglichkeiten, selbst wirksam zu sein, werden selten eröffnet. Kein Wunder, wenn die als behindernde Faktoren zusammengefassten Belastungen für ältere Menschen20 sich in herausforderndem Verhalten entladen. Strukturell wurden gerontopsychiatrische Kompetenzen kaum in den extramuralen Bereich verlagert21. Gerontopsychiatrisches Fachwissen ist

10 Vgl. Baltes/Carstensen 1996, S. 201–204. 11 Vgl. Maercker 2002, S. 7. 12 Vgl. Heuft 2004, S. 25; Radebold 2014, S. 74–90. 13 Vgl. Heuft 2004, S. 28. 14 Vgl. Koch 2006, S. 13. 15 Vgl. Eder 1990, S. 166. 16 Vgl. ebd, S. 22. 17 Vgl. Klug et al. 2006, S. 89. 18 Vgl. Amann 1994, S. 327. 19 Vgl. Kruse 2005, S. 273. 20 Vgl. Abbildung 1. 21 Vgl. Rösler/Weber 1997, S. 288.

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mangelhaft22. „Rehabilitation vor Pflege“ und „ambulant vor stationär“ ist nicht ausreichend verankert23. Psychisch kranke Ältere werden aufgrund fehlender Ressourcen vor Ort häufig in Pflegeheimen und Krankenhäusern fehlversorgt. Gerontopsychiatrisches Assessment, mobile gerontopsychiatrische Dienste und Demenztagesstätten sind nicht flächendeckend verfügbar24. Es besteht besonderer Forschungsbedarf25. Das „Grazer Gerontopsychiatrische Modell“26 ist erst zum Teil umgesetzt27. Das Zusammenwirken dieser Faktoren behindert Ältere, führt zur Aufrechterhaltung und weiteren Chronifizierung des ohnehin komplexen Krankheitsgeschehens und damit wiederum zu höherem Versorgungsbedarf. Abbildung 1: Faktoren, die im Alter behindern

Quelle: eigene Darstellung

22 Vgl. Hirsch et al. 1999, S. 19. 23 Vgl. ebd., S. 21. 24 Vgl. Klug et al. 2006, S. 89f. 25 Vgl. Hirsch et al. 1999, S. 32. 26 Vgl. Klug et al. 2004a, S. 12–20. 27 Vgl. Klug 2013, S. 161.

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2.1 Was wirkt im direkten Umgang und strukturell günstig? , „Ich möcht , dass man mit mir vom Leben spricht und nicht von der Krankheit. Ich möchte, dass man mich mit Respekt und Liebe behandelt, als ein Subjekt und nicht als ein Objekt. Ich möchte, dass man mich als lebendig ansieht und nicht als tot“28. Das allgemein gültige Grundbedürfnis nach Bindung, Trost, Identität, Liebe, Einbeziehung und Beschäftigung29 muss berücksichtigt werden. Nur so entsteht ein Mehrwert im therapeutischen Miteinander. Ausreichend Zeit, Offenheit zur Begegnung, Anteilnahme und Wertschätzung sind die Basis für dringend benötigtes Vertrauen und Grundlage sich guten Kümmerns. Emotionales Erleben ist entwicklungsfördernd zu integrieren. Mit einer stabilen und empathischen Betreuungsbeziehung besteht die Chance, auch chronische Belastungen mit der Zeit gut zu bewältigen und neue, günstigere Perspektiven zu entwickeln. Dieser fundamental wirksame Zugang ist durch technische Hilfen nicht ersetzbar. Fachliches Wissen und komplexe Interventionen30 werden im Umgang ebenso benötigt wie hohe persönliche interaktive Fähigkeiten, Empathie und hermeneutische Kompetenz31. Ein geeigneter interaktiver Umgang ist bei allen Beteiligten durch entsprechende Schulung und Wissensvermittlung zu fördern32. Unterstützung muss multiprofessionell, mobil, vielfältig und kreativ sein. Humor und Lachen sind zu vermehren33. Hilfe muss auf Basis einer therapeutischen Beziehung personzentriert und bedürfnisorientiert34, niederschwellig, flexibel und kontinuierlich in Bezugsbetreuung erfolgen35. Die jeweilige persönliche Ist-Situation ist als begründet zu akzeptieren. Daran anknüpfend, geht es darum, gemeinsam sowohl soziale, finanzielle, psychische als auch somatische Belastungen zu erkennen und zu

28 Zimmermann 1989; zit.n. Höwler 2010, S. 25. 29 Vgl. Kitwood 2013, S. 145. 30 Vgl. Klug et al. 2008, S. 118. 31 Vgl. Höwler 2013, S. 102f. 32 Vgl. ebd., S. 102. 33 Vgl. Hirsch 2013, S. 35–49. 34 Vgl. ebd. S. 38; Höwler 2013, S. 93. 35 Vgl. Hermann et al. 2004, S. 30–32.

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bewältigen. Unter Nutzung bewährter therapeutischer Ansätze wird Entwicklung individuell angeregt. Netzwerke werden konstruktiv mitgestaltend, psychisch verkraftbar und bedarfsorientiert erweitert. Dadurch, sowie durch Verbesserung des Krankheits- bzw. Situationsverständnisses bei allen Beteiligten, insbesondere bei den Angehörigen, lässt sich eine günstigere Umwelt gestalten. Diese wirksamen Faktoren sind in Abbildung 2 dargestellt. Abbildung 2: Zusammenfassung günstiger Faktoren bei psychischer Erkrankung im Alter

Quelle: eigene Darstellung

Beispiele aus der Praxis36 und Studien belegen, dass sozialpsychiatrische Hilfe im Alter wesentlich zu Minimierung psychiatrischer Symptomatik und Verbesserung psychosozialer Funktionalität beiträgt37. Dadurch wird die subjektive Sicherheit, Selbstwirksamkeit sowie die Gestaltungs- und Beziehungsfähigkeit zur sozialen Umwelt positiv beeinflusst. Das führt wiederum zu einem höheren zwischenmenschlichen Interesse, zur besseren Einbeziehung in das soziale Leben mit sinnvoller Betätigung und zum gemeinsamen Teilen von Erfahrungen und Erlebnissen. 36 Vgl. Hermann 2013, S. 56–85. 37 Vgl. Klug et al. 2008, S. 114–116; Klug et al. 2010, S. 465f.

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Strukturell ist die vorherrschende Dichotomie zwischen Leben ohne fachspezifische Versorgung zu Hause oder Pflegeheimeinweisung aufzulösen38. Eine vorrangig ambulante Versorgung ist anzustreben. Möglichst selbstbestimmte und eigenständige Lebensführung im unterstützenden privaten Umfeld ist ethisch-humanitär begründet. Psychische Störungen sind wesentlich von sozialen Faktoren abhängig. Betroffene aus bisherigen Handlungszusammenhängen und Aufgaben heraus zu nehmen ist kontraproduktiv. Erzwungene Fremdbestimmtheit schränkt eigenständige Lebensgestaltung und Aktivierung individueller Kompetenzen ein. Heim- und Krankenhausaufenthalte sind teuer. Auch zusätzliche Schaffung stationärer Angebote deckt die Versorgung nicht ab39. Der Verbleib im gewohnten Lebensumfeld ist zu ermöglichen40. Das „Gesamtkonzept für die gerontopsychiatrische Versorgung einer Region“41 liefert Grundlagen für notwendige flexiblere und intelligentere Formen der Versorgung42. Grundgedanken des resultierenden „Grazer Gerontopsychiatrischen Modells“ sind43: •



Im Zentrum der Bemühungen steht der ältere psychisch erkrankte Mensch mit all seinen Bedürfnissen, Ressourcen, Fähigkeiten und Einschränkungen. Betreuung muss bei Bedarf aktiv im Lebensumfeld aufsuchend angeboten werden. In allen Regionen müssen differenzierte Versorgungsangebote wie extramurales Gerontopsychiatrisches Zentrum, Sozialpsychiatrische Hilfe im Alter (mobiler gerontopsychiatrischer Fachdienst), geschultes Ehrenamt, Unterstützungsformen für Angehörige, gerontopsychiatrisch geschulte mobile Dienste, Tagesstrukturen für von Demenz Betroffene und für allgemeinpsychiatrisch erkrankte Ältere, Wohnformen, Kurzzeitpflegeangebote, Reha-Einrichtungen und stationäre Versorgung mit geeigneter professioneller gerontopsychiatrischer Unterstützung grund-

38 Vgl. Klug et al. 2004b, S. 7. 39 Vgl. Netz et al. 1996, S. 14f. 40 Vgl. Klug et al. 2004b, S. 4; Hirsch 2013, S. 32. 41 Sozialamt Stadt Graz 2003, S. 1–110. 42 Vgl. Klug et al. 2004b, S. 7. 43 Vgl. Klug et al. 2004a, S. 13–19.

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sätzlich, ausreichend und koordiniert zur adäquaten Hilfe verfügbar sein. Durch die Sozialpsychiatrische Hilfe im Alter (SOPHA) können erstmals entsprechend niederschwellig auch schwer erkrankte Personen erreicht werden, die sonstige Hilfe ablehnen44. Die Hilfe ist in multiprofessionellen Teams organisiert und berücksichtigt die vorhin beschriebenen gerontopsychiatrischen Anforderungen: Abbildung 3: Funktion der Sozialpsychiatrischen Hilfe im Alter

Quelle: eigene Darstellung

2.2 Was bringt SOPHA? „Ich habe mir gedacht, es ist aus, weil das ist kein Leben […] und dann kommen Sie und ermutigen mich […]“45. Diese Aussage hat Frau Maier ca. drei Jahre nach Betreuungsbeginn getätigt. Sie konnte nun pflegerische Hilfe annehmen und eine gute, verständnisvolle Beziehung zu den Angehörigen entwickeln. Dazwischen lag eine intensive, herausfordernde und belastende Zeit, in der Frau Maier gestützt auf zuverlässige, regelmäßige 44 Vgl. Klug et al. 2004a, S. 17. 45 Hermann 2013, S. 77.

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SOPHA-Hausbesuche ihre Ängste und Wahrnehmungen zunehmend differenzieren, mehr Orientierung und Sicherheit finden und mit ihrem Leben Frieden schließen konnte. Entgegen ihrer ursprünglichen Befürchtung war sie auch nicht allein als sie starb46. Frau Karl, eine andere SOPHA-betreute Person, wäre aufgrund ihrer schweren Depressionen und diffusen Ängste ohne die Betreuungszusage nach drei Monaten psychiatrisch stationärer Behandlung ins Pflegeheim gekommen. So lebte sie noch 13 Jahre selbständig zu Hause, davon sechs Jahre mit Demenzerkrankung47. Frau König wiederum war 85 Jahre alt als sie nach wiederholten Einweisungen in den geschützten Bereich der Landesnervenklinik eine SOPHA-Betreuung annahm. Sie lebte allein, sozial isoliert und schwerhörig. Sie beschuldigte Nachbarn, sie vergiften und bestehlen zu wollen und erstattete in ihrer seelischen Not wiederholt Anzeige bei der Polizei. Angehörige waren nicht bekannt. Entgegen dem Drängen auf Heimunterbringung durch Nachbarn wurde Frau König auf ihren Wunsch hin nach Hause begleitet. Trotz demenzbedingter Herausforderungen konnte die Situation bis zu einem Sturz mit Schenkelhalsbruch gut stabilisiert werden. Während der anschließenden stationären Kurzzeitpflege zeigte sich, dass Frau König zunehmend unter der Pflegeheimsituation litt, worauf ungeachtet großer Einschränkungen neuerlich eine Versorgung zu Hause organisiert wurde. Im Verlauf der weiteren Betreuung konnten Angehörige ausfindig gemacht und begleitete Besuche zu ihnen ermöglicht werden. Das führte schließlich zum Umzug von Frau König zu ihren Angehörigen, wo sie gut aufgenommen und integriert weiter leben konnte. Beispiele wie diese ließen sich beliebig fortführen. Sie verdeutlichen, dass SOPHA zu einer Verwurzelung anstatt Entwurzelung beitragen kann. Entsprechend dem Logo eines Sofas wird Platz angeboten, zu verweilen, sich zu entlasten, Gedanken neu zu fassen und mit erweiterten Perspektiven aufzustehen und im Leben weiter zu gehen.

46 Vgl. ebd., S. 75–77. 47 Vgl. ebd., S. 72f.

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3. S TAND

DER AUSSERSTATIONÄREN GERONTOPSYCHIATRISCHEN F ORSCHUNG

Es gibt bislang kaum gute Studien zu vorliegendem Thema48. Die erste uns bekannte randomisierte Studie zur Effektivität eines multiprofessionellen psychogeriatrischen Teams in der häuslichen Versorgung depressiver Älterer konnte nachweisen, dass sich die Depressivität in der betreuten Gruppe im Vergleich zur nicht betreuten Gruppe im Zeitraum von sechs Monaten signifikant verringerte49. Eine erste Grazer Pilotstudie mit zwölf, durchschnittlich 76 Jahre alten, an Depressionen oder wahnhafter Störung leidenden Personen, gab Hinweise, dass durch SOPHA die Lebensqualität verbessert und die psychische Situation stabilisiert werden kann. Keine der Personen musste zudem im untersuchten Zeitraum eines Jahres stationär psychiatrisch behandelt werden oder in ein Pflegeheim übersiedeln50. In einer Randomisierungsstudie konnte im Anschluss gezeigt werden, dass betreute, depressive ältere Menschen auch noch nach einem Jahr signifikant weniger Depressivität, signifikant bessere Lebensqualität und psychosoziale Funktionalität im Vergleich zur Gruppe nicht betreuter Personen aufwiesen. Es kam zudem zu signifikant weniger psychiatrisch stationären oder Pflegeheimaufenthalten. Die betreute Gruppe verursachte nur 42 % der Versorgungskosten im Vergleich zur nicht betreuten Gruppe51. Im Bereich der Demenzforschung liegen bislang in erster Linie stationäre beziehungsweise Caregiver-Untersuchungen vor. Eine Längsschnittstudie im häuslichen Lebensumfeld mit multiprofessionellem, psychiatrischem home care Ansatz konnte – bei gezielter Förderung – nach drei Monaten sowohl signifikant geringere neuropsychiatrische als auch signifikant geringere caregiver Belastungen nachweisen52. Eine der wenigen Studien zu Wohnform und Versorgungsqualität weist darauf hin, dass Demenzbetroffene zu Hause deutlich länger leben als im Heim53. Kosten einer geron-

48 Vgl. Bruce et al. 2005, S. 1056–1058. 49 Vgl. Banerjee et al. 1996, S. 1059f. 50 Vgl. Klug et al. 2008, S. 114–116. 51 Vgl. Klug et al. 2010, S. 465f. 52 Vgl. Carbone et al. 2013, S. 38. 53 Vgl. Lankers et al. 2010, S. 255f.

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topsychiatrischen Versorgung bei leichter bis mittelschwerer Demenz sind zudem um 50% niedriger als in Pflegeheimen54. Extramurale gerontopsychiatrische Versorgungsforschung ist anpruchsvoll55. Sie steht unserer Erkenntnis nach erst am Anfang. Grundlagen sind sowohl bzgl. Wirkfaktoren, zu Anforderungen an die Outcome-Messung, als auch bzgl. Rahmenbedingungen zur Effektivität komplexer Treatments zu Hause und Modellen bei verschiedenen Erkrankungen dringend zu entwickeln. Allerdings fehlen Forschungsmittel dafür.

4. Z USAMMENFASSUNG , S CHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK Der Bedarf an effizienten, differenzierten Versorgungsangeboten steigt mit der aktuellen demografischen Entwicklung56. Erste Forschungsergebnisse bestätigen die Wirksamkeit mobiler sozialpsychiatrischer Betreuung als komplexer Interventionsform auf Basis multiprofessioneller Teams bei enger Zusammenarbeit mit allen relevanten VersorgungspartnerInnen auch im Alter. In der Praxis und nach ersten, wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen hat sich dieser Ansatz bewährt. Die dabei erzielte Verbesserung der psychischen und sozialen Situation basiert ganz wesentlich auf Akzeptanz und Situationsverständnis in einem gleichzeitig vertrauensvoll wertschätzenden und respektvollen Umgang. Verbunden mit geeigneten fachspezifischen, menschlichen und zeitlichen Ressourcen ergeben sich zusammen mit flexiblen und individuell anpassbaren Strukturen günstige Möglichkeiten für eine gute Lebensentwicklung zu Hause, auch im Alter. Angesichts knapper öffentlicher Mittel ist zu hoffen, dass nicht zuletzt auch der zu erwartende positive Kosteneffekt erstarrte Denkstrukturen aufzubrechen hilft und eine flächendeckende Umsetzung des gerontopsychiatrischen Gesamtkonzepts erfolgt. Ein gutes Weiterleben zu Hause ist für Ältere und Alte mit psychischer Erkrankung bei geeigneten Rahmenbedingungen somit kein Widerspruch

54 Vgl. Rösler/Weber 1997, S. 290. 55 Vgl. Riedel-Heller et al. 2010, S. 54. 56 Vgl. Klug et al. 2004b, S. 3.

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sondern im Gegenteil eine große Chance für alle. Bedenken wir dabei: „Zu jeder Seele gehört eine andre Welt“57 und versuchen wir, ihr immer wieder aufs Neue zu begegnen. Das, was wir dabei finden, ist als innewohnender Mehrwert letztlich einer, den wir uns wohl auch für unsere eigene Zukunft wünschen und schaffen!

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Möglichkeiten im Alter, für das Alter und durch das Alter

„[…] die Zeit war schweigend in mir stehen geblieben“ Psychoanalyse und Altern B ETTINA R ABELHOFER

Vorwärts aber und rückwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie Auf schwankem Kahne der See HÖLDERLIN, MNEMOSYNE, DRITTE FASSUNG

Freud und seine Nachfolger hielten Über-40-Jährige für psychoanalytisch nicht mehr behandelbar: „Das Alter der Kranken spielt bei der Auswahl zur psychoanalytischen Behandlung insofern eine Rolle, als bei Personen nahe an oder über fünfzig Jahre einerseits die Plastizität der seelischen Vorgänge zu fehlen pflegt, auf welche die Therapie rechnet – alte Leute sind nicht mehr erziehbar –, und als anderseits das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlungsdauer ins Unabsehbare verlängert. Die Altersgrenze nach unten ist nur individuell zu bestimmen; jugendliche Personen noch vor der Pubertät sind oft ausgezeichnet zu beeinflussen“ (Freud 1905 [1904], S. 116).

Zu weit scheint die Kindheit, aus der die Analyse ihr Material schöpfen soll, entfernt. Bis in die 1980er Jahre galt ein Alter von über 50 Jahren als Kontraindikation für eine profunde Analyse. Entwicklung schien auf Kindheit und Adoleszenz begrenzt, das Alter ein lästiges oder auch furchterre-

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gendes Anhängsel einer produktiven Erwachsenenzeit. Es zeichnete sich durch Libidoverlust und Regression aus, sodass die Energie der Triebwünsche für Umstrukturierungsprozesse nur mehr mäßig zur Verfügung stand. Heute sind diese Ansichten widerlegt und dem ausschließlich defizitären Modell des Alterns werden durchaus kreativere Altersbilder entgegengesetzt. Freud selbst war, wenngleich auch durch schwere Krankheit gezeichnet – 1923 wurde bei ihm Mundhöhlenkrebs diagnostiziert – bis ins hohe Alter produktiv. Ein Leben ohne Arbeit, d.h. ohne geistige Produktivität, konnte und wollte er sich nicht vorstellen, dementsprechend bedrohlich erschien ihm das Gespenst des Alters, wenn damit körperliches Elend und geistige Fragilität verbunden waren. In einem Brief an Pfister schreibt er als 54-Jähriger: „Leben ohne Arbeit kann ich mir nicht recht behaglich vorstellen, Phantasieren und Arbeiten fällt für mich zusammen, ich amüsiere mich bei nichts anderem. Das wäre eine Anweisung auf das Glück, wenn nicht der entsetzliche Gedanke, daß die Produktivität ganz von einer empfindlichen Disposition abhängt, im Wege stünde. Was fängt man an einem Tag oder in einer Zeit an, in der die Gedanken versagen oder die Worte sich nicht einstellen wollen? Man wird ein Zittern vor dieser Möglichkeit nicht los. Darum habe ich bei aller Ergebung in das Schicksal, die einem ehrlichen Menschen geziemt, doch eine ganz heimliche Bitte: nur kein Siechtum, keine Lähmung der Leistungsfähigkeit durch körperliches Elend. Im Harnisch lasst uns sterben, wie König Macbeth“ (Freud, Briefe 1909–1939, S. 32f.).

Freud hatte durchaus Respekt vor dem Alter und der Begrenztheit eigener Gestaltungsmöglichkeit. Hinter seiner „heimlichen Bitte“ verbirgt sich die Angst um den Selbstverlust und vielleicht auch narzisstische Gekränktheit ob der Unmöglichkeit, sich in die Illusion von Unsterblichkeit zu retten. Dennoch hat er nie die Augen vor der Endlichkeit und dem Tod geschlossen, sondern sich im wissenschaftlichen Schreiben am Sterben und am Leben abgearbeitet. Helmut Luft macht darauf aufmerksam, dass wesentliche Teile der Psychoanalyse Freuds „Alterswerk“ darstellen (vgl. Luft 2013, S. 614f.): Zeitgemäßes über Krieg und Tod schreibt Freud mit 59 (damals wohl ‚an der Schwelle des Alters‘) (Freud 1915, S. 33–60), im selben Jahr denkt er über Vergänglichkeit nach (Freud 1916 [1915], S. 223–227) und entwickelt seine Theorie der Trauer und des Verlusts geliebter Objekte (Freud 1917 [1915], S.193–212), mit 64 stellt er in Jenseits des Lustprin-

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zips (Freud 1920, S. 213–272) Eros, dem Lebenstrieb, Thanatos, den Todestrieb, zur Seite, mit 68 resümiert er in seiner Selbstdarstellung (Freud 1925 [1924], S. 37–100) Biographisches und lässt seine Leser und Leserinnen am „inneren Wachstum“ (ebd., S. 76) der Psychoanalyse teilhaben. Dass dieses Wachstum auch von Verlusterlebnissen, Katastrophen und Krieg geprägt ist, mag die stetige Auseinandersetzung mit Destruktivität, Hass, Objektverlusten und dem Todestrieb eindrucksvoll bezeugen. Dennoch setzt Freud den Leiden des Körpers und den existentiellen Bedrohungen seiner Person durch nationalsozialistische Verfolgung und Vertreibung eine kreative Antwort entgegen: Phantasieren und Arbeiten. In den vier Jahren von 1934 bis 1938, akut belastet durch die Machtergreifung Hitlers und die erzwungene Emigration nach England, arbeitet Freud an den drei Abhandlungen über den Mann Moses und die monotheistische Religion (Freud 1939 [1934–38], S. 455–581). Erst als seine existenzielle Erkrankung Lesen und Arbeiten nicht mehr möglich macht, sieht er „dem Übergang ins Nichtsein mit einer Art von Sehnsucht entgegen“ (Freud, Briefe 1873–1939, S. 422). So überliefert es auch sein Arzt Max Schur, der Freud am 23. September 1939 auch die erbetene todbringende Injektion verabreicht (vgl. Schur 1973, S. 568). Wenn nun Freud durch sein eigenes Beispiel die Vorurteile über die seelische Plastizität alternder Menschen widerlegt hat, so ist doch die analytische Arbeit am Alter angesichts der Zeitlichkeit der Existenz und der real eingeschränkten Möglichkeitsräume betagter Menschen unweigerlich verbunden mit Trauer – mit Trauer über Verzicht und mit Trauer über einen Lebensvollzug, der den gängigen Vorstellungen ‚gelingenden Lebens‘ nicht entspricht und eher Entwicklungsdefizite als neue Spielräume kenntlich macht. Die Vorbilder, die kreativen Umgang mit Sterblichkeit und Begrenzung von Entfaltungsmöglichkeiten pflegen, sind rar. In gängigen Entwick1 lungsmodellen sind allenfalls ‚Reife‘ oder ‚Weisheit‘ die Signatur für einen erfolgreich bestandenen Kampf gegen die Verzweiflung – Ressourcen, die allerdings in der postmodernen Bricolage beschleunigten Lebens zumeist keinen großen Wirkungskreis finden. Matilda W. Riley und John W.

1

Vgl. beispielsweise das Stadium 8 „Ich-Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter)“ im entwicklungspsychologischen Stufenmodell des Psychoanalytikers Erik H. Erikson (Erikson 1966 bzw. Erikson 2005 [1957]).

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Riley sprechen von einer ‚strukturellen Diskrepanz‘ zwischen den Ressourcen einer wachsenden Anzahl alter Menschen und dem sozialen Handlungsfeld westlicher Industrienationen, das keine angemessenen Rollenstrukturen für die Anwendung, Erhaltung und Wertschätzung dieser Fähigkeiten bereitstellt (vgl. Riley/Riley 1992, S. 437–459). Dem mag man entgegenhalten, dass die demografische Zunahme von alternden Menschen in unserer Gesellschaft durch die zeitliche Ausdehnung des Alters zusätzliche Entwicklungsmöglichkeiten schaffe und so auch mit einer ‚Verjüngung‘ des Alters einhergehe und damit die Chancen auf Selbstfindung, Aktivität und individuelle Selbstverwirklichung auch für betagte Menschen erhöhe. Die Werbung, die den medikamentös aufgepäppelten, sexuell potenten Senior und die kosmetisch faltenreduzierte Seniorin zur Schau stellt, hebt durch die Umkehrung des Defizitmodells Stereotype nicht auf, sondern verkehrt sie in ihr Gegenteil. Aufkommende Schamgefühle oder Selbstzweifel über nicht erbrachte ‚Leistung‘ lassen dann doch eine Ahnung aufkommen, dass sich im Alter etwas schicksalhaft ereignet und etwas Endgültiges geschieht. Die juvenile Flucht aus der zeitlichen Realität vermindert nicht die Gefahr der schmerzlichen Kollision mit ihr (vgl. Peters 1998, S. 247). „Wenn das Ich-Ideal, wie Freud (1914) [i.e. „Zur Einführung des Narzißmus“; B.R.] schrieb, der vor sich hin projizierte Ersatz für den verlorengegangenen Narzißmus der frühen Kindheit ist, dann verliert es mit zunehmendem Alter allmählich seine Projektionsfläche. Die dahinschwindende Zeit tritt wie eine Barriere zwischen Ich und Ich-Ideal und vergrößert die Kluft zwischen beiden. Wenn die Zukunft sich allmählich begrenzt, muß das Projekt, auf dem die orientierungs- und sinnstiftende Funktion des Ich-Ideals beruht, überarbeitet werden. Ein erstarrtes Ich-Ideal jedoch wird sich einem solchen Anpassungsprozeß widersetzen und sich der Erfahrung der Vergänglichkeit der Zeit entziehen. Das Ich kann dann den Schutz des Ich-Ideals nur erhalten, wenn es ebenfalls an der Phantasie der Zeitlosigkeit und ewiger Jugend festhält, würde es sich der zeitlichen Realität stellen, müßte es die schmerzliche und schamvolle Kluft zum Ich-Ideal fürchten. Dies aber führt zur Verleugnung des eigenen Alters […]“ (ebd., S. 245).

Dass manchmal auch für Psychoanalytiker die Zeit schweigend zum Stillstand kommt, mag zum einen mit zwinkernder Selbstironie quittiert werden, zum anderen sich jedoch als traumatische Erfahrung niederschlagen.

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Von beidem weiß der Psychoanalytiker Martin Grotjahn in seinem autobiographischen Essay über sein 86. Lebensjahr zu berichten: „Veränderungen mögen in meinem [sic] Körper-Imago stattgefunden haben, doch ich bemerkte sie nicht. Das Leben glitt dahin in einem ruhigen friedvollen Garten, in der Liebe von Frau und Sohn, umgeben von Blumen und Schönheit und dem herrlichen Wetter Süd-Kaliforniens. Ich beendete fünf Buchmanuskripte, mit denen ich vor meinem Ruhestand begonnen hatte; die Zeit war schweigend in mir stehen geblieben. […] Ich fühle mich wohl, wenn ich in meinem Studio im Bett liege, lese, arbeite, studiere und versuche, meine lebenslange Selbstanalyse fortzusetzen und zu vertiefen. So erhalte ich mir das [sic] Imago erstaunlicher Gesundheit und Vitalität […]. Wie bei vielen alten Leuten veränderte sich mein Körper-Imago, ohne daß ich mir dessen voll bewußt war. Ich verhielt mich weder jung noch alt, sondern durchaus zeitlos. In dieser Zeit, in der ich lernte, studierte, dachte, wurde meine Frau, die zwei Jahre jünger ist als ich, alt: als sie hinter einem Taxi hinterherrannte, stolperte sie, fiel, brach sich die Hüfte […] und begann sich zu bewegen wie ein steuerloses Schiff im Sturm. Ich realisierte mir: sie wird wirklich alt! Ich sagte es ihr und sie erwiderte: ‚du wirst vielleicht alt, ich niemals!‘“(Grotjahn 1995, zit. n. Radebold 2010, S. 102).

Was hier vielleicht noch anekdotenhaft schmunzelnd zum Besten gegeben wird, lässt nur eine Seite später – Grotjahn selbst ist gestürzt und trägt eine tiefe Verletzung am Kopf davon – alle Unverwundbarkeits- und Allmachtsphantasien knirschend zum Stillstand kommen: „An diesem Morgen fühlte ich die Veränderung meines [sic] Körper-Imagos in das eines alten, zerbrechlichen Mannes, der sich mit Vorsicht zu bewegen hatte. Drei Stadien sich vertiefender Depression hatte ich während der Veränderung des Körper-Imagos zu durchwandern: Eine depressive Wut gegenüber meinem omnipotenten Gefühl, meine kleine Familie vor Verletzung schützen zu müssen; eine wiederholte Wut des Mannes, der nicht länger imstande ist, seine Familie aus dem Unglück zu retten, nachdem es sich vollzogen hatte; und das Eingeständnis, alt zu sein, zerbrechlich, hilfsbedürftig – von Anderen abhängig. Aus dem Imago eines ‚zeitlosen Selbst‘ in einem alternden und sich verschlechternden Körper erhebt sich nun ein neues Bewußtsein, nämlich das des ‚Körper-Selbst‘, das sich ändern und erkennen muß, alt zu sein. Wenn eine solche Bestätigung ausbleibt, wird sie sich gewöhnlich über Traumatisierung herbeizwingen“ (Grotjahn 1995; zit. n. Radebold 2010, S. 103).

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Verändert sich das Ich-Ideal nicht, bleibt es starr und will die entschwindende Zeit gewaltsam zum Stillstand bringen, bricht die reale Zeit in traumatischer Weise ins narzisstische Paradies ein. Ein therapeutisch reflektierter Umstrukturierungs- und Integrationsprozess verlangt hier, „die Grenzen des Alters zu erkennen und sich von der Phantasie einer grenzenlosen zu gestaltenden, unendlichen Zukunft und von den jugendzentrierten Idealen und Bewertungsmaßstäben zu trennen, um die persönlichen Ambitionen und Ziele besser an den Möglichkeiten der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft orientieren zu können“ (Peters 1998, S. 254).

Dem Verlust alter Ideale ließe sich, glückt die Therapie, eine neu gewonnene innere Freiheit und die Fähigkeit zu trauern entgegenhalten – Trauer als eine Vorbedingung für das Entstehen von Kreativität, die als Lohn der mühevollen Arbeit am Ich Entwicklungsimpulse freisetzt. Dass solche Arbeit ‚mühselig‘ und ‚lohnend‘ zugleich ist, zeigen Fallberichte, in denen sowohl Therapeut als auch Analysandin offen und mutig über analytische Psychotherapie im Alter sprechen (vgl. bspw. Radebold/Schweizer 1996; Alegiani 2009; Lorenz-Franzen 2011) über die sich entfaltende Beziehung mit all den Höhen und Tiefen von Übertragung und Gegenübertragung, über sexuelle Wünsche, über Destruktivität, über Verschmelzungslust und Verschmelzungsangst, und über das Abschiednehmen – von der Analyse und vom Leben. Das Alter im analytischen Prozess bedeutet sowohl für den Analysanden als auch für die Analytikerin nicht unerhebliche Erschwernisse und Herausforderungen. Beide, mit der eigenen Endlichkeit und der Vergänglichkeit alles Lebendigen konfrontiert, müssen sich in radikaler Weise dem Tod zuwenden, um daraus eine innere Freiheit zum Ertragen des Alters zu gewinnen, die sich in den individuellen Verhältnissen und Möglichkeiten des Lebens konkretisieren kann und auch die Chance auf Versöhnung in sich birgt. Das ist eine immense psychische Leistung. Diese „späte Freiheit“, so Leopold Rosenmayr (1997, S. 38), vermag als „Freiheit zum (eigenen) Tode auch auf eine Freiheit zur Liebe, der erotischen wie der spirituellen und karitativen“ (ebd.) zu verweisen. Neben den existentiellen und narzisstischen Wunden, die uns die Begrenzung der Zukunft – da kann das Unbewusste noch so auf Zeitlosigkeit pochen – immer wieder zufügt, bringt in behandlungstechnischer Hinsicht

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die spezifische Art der Begegnung von älterer Patientin und jüngerem Analytiker den Therapeuten oft in Bedrängnis: Die Älteren suchen zwar praktische Hilfe bei Jüngeren und nehmen deren technische Kompetenz gerne in Anspruch, sind aber oft nicht bereit, vom Jüngeren, der doch ihr Sohn oder gar ihr Enkelkind sein könnte, seelischen Rat und Hilfe zu holen. In ihren Phantasien suchen sie vor- oder unbewusst immer noch nach „beschützende[n], Sicherheit gebende[n] und akzeptierende[n] Eltern-Imagines“ (Radebold 2002, S. 1054; vgl. Radebold 2003, S. 59–78). Umgekehrt begegnen die jüngeren Therapeuten in ihren chronologisch älteren Patienten unbewusst ihren Eltern und Großeltern, müssen sich komplexen Übertragungskonstellationen stellen, die mitunter beunruhigend und bedrohlich, wenn die eigenen Konflikte mit den Eltern reaktiviert werden, aber auch verführerisch sein können. Unvermeidlich ist die Konfrontation mit dem eigenen Älterwerden, sie fordert die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit in drastischer Weise heraus. Anders als Kleinkinder, erzeugen alte Menschen nicht so leicht den Glanz im Auge ihres Gegenübers. Freud hat in seiner Arbeit über Trauer und Melancholie als den wesentlichen Unterschied zwischen produktiver Trauer und pathologischer Melancholie das Haften der Libido am Verlorenen betont: Die frei gewordene Libido wird in der Melancholie nicht auf ein anderes Objekt verschoben, sondern verkriecht sich im Ich, um die Verbindung des Ichs mit dem verlorenen Objekt aufrecht zu erhalten – „Der Schatten des Objekts [fällt] […] auf das Ich“ (Freud 1917 [1915], S. 203). Mit zunehmendem Alter werden diese Schatten der verloren gegangenen Ideale, Lebensentwürfe und bedeutungsvollen Anderen immer länger und füllen in einem fortschreitenden Prozess der Verinnerlichung und Identifizierung die innere Welt, um das Verlorene der Zeit zu entziehen. Der Blick nach vorne richtet sich zunehmend auf den unmittelbaren Alltag und auf pragmatische Konstruktionen, die diesen Alltag zu strukturieren helfen: „Dort, wo die Zukunft schmilzt, verliert das Ich-Ideal als Projekt der Zukunft seinen sinnstiftenden Charakter“ (Peters 1998, S. 255). Narzisstische Kränkungen im Verlauf des Alterns können aber auch Sublimierungsleistungen bewirken, die der Unausweichlichkeit und Versteinerung entgegenarbeiten und Ressourcen aus der Lebensgeschichte wahrnehmen oder wiederaufspüren. Das narrative Erfassen eines Lebenslaufs beispielsweise ist ein kreativer Prozess, der vergangenes und gegenwärtiges Sein mit Hilfe von Symbolbildungen und Assoziationen zu einem

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Ganzen vernetzt und oft erst aus der Distanz der Jahre den Mut und die Kraft schöpft, Verdrängtes und Unbearbeitetes zu integrieren. Wenn die Anti-Aging-Medizin weiterhin den Alterungsprozess biologisch simplifiziert, indem sie einem agilen Jugendstereotyp das Wort redet und damit den gesellschaftlichen Freiraum von Menschen, sich selbst zu imaginieren, einschränkt, so ließe sich im analytischen Prozess im Wechselspiel zwischen Zeit und Erfahrung ein Möglichkeitsraum eröffnen, der nicht an die Chronologie der Jahre gebunden ist, sondern als kreative Antwort des Menschen auf sich verändernde Lebensumstände die Binarität zwischen Alter und Jugend aufheben kann. Neben der körperlichen und geistigen Aktivierung alternder Menschen können auch Fähigkeiten freigesetzt werden, die Energien auf andere Art in Anderes investieren: in Beziehungen, in die Geborgenheit eines freundlichen Dialogs mit sich selbst, in die Relativierung der üblichen sozialen Skripten von Kontrolle und Leistung, in die Freude der Aussöhnung mit anderen Menschen, aber auch in die Aussöhnung mit dem eigenen Versagen, in ein Nachlassen der Angst vor Abschieden und vor dem Tod und in das Zurücktreten des eigenen Ego (vgl. Olbrich 2006a, S. 97–112 bzw. Olbrich 2006b, S. 27). Und vielleicht liegt ja im Verlust der Zukunft auch ein Gewinn, der Zugewinn an Gegenwärtigkeit, die die Intensität des Lebens im Augenblick spürbar macht, wenn die Zeit schweigend, aber doch sinnerfüllt zum Stehen kommt.

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Wie können wir mit von Demenz betroffenen Menschen „Im-Gespräch-Bleiben“ und den „Kampf um die Wahrheit“ vermeiden? I NGRID E NGE

Wenn die demografischen Prognosen nur annähernd stimmen, dann werden wir zunehmend von Demenz betroffenen Menschen begegnen: als Angehörige, als Freunde, als Mitbürgerinnen, als Pflegende, Betreuende und Begleitende. Es stellt sich die Frage, inwieweit wir darauf vorbereitet sind. In meinem Beitrag werden zwei Perspektivenwechsel vorgenommen; der erste bezieht sich auf die Beschreibung der Demenz, der zweite auf die Beziehung zu einem von Demenz betroffenen Menschen. Es soll die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, wie wir mit unserem Verhalten zur Lebensqualität bzw. zum Wohlbefinden dementierender Menschen beitragen können. Unter Demenz werden Symptome zusammengefasst, die unterschiedliche Ursachen, wie z.B. die Alzheimer-Krankheit, die vaskuläre Demenz, u.a. haben. Es kommt dabei graduell und über einen längeren Zeitraum zum Verlust des Gedächtnisses sowie der Einsichts- und Urteilsfähigkeit und bei massiver Betroffenheit zum Verlust von Alltagsfähigkeiten. Demenzielle Phänomene wurden lange ausschließlich als Symptome einer Krankheit gesehen. Der Fokus der Demenzforschung zielte dementsprechend vor allem auf den medizinischen Bereich, auf die Erklärung dessen, was physiologisch im Gehirn und damit verbunden mit den kognitiven Fähigkeiten vor sich geht. Das ist zweifellos ein wichtiger Forschungsbereich, doch er lässt

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etwas Wesentliches aus dem Blick: das jeweils subjektive Erleben des von Demenz betroffenen Menschen. Richard Taylor, ein amerikanischer, selbst von Demenz betroffener Psychologieprofessor schreibt: „Eine Mischung aus Genen und Umwelt, Biologie, Psychologie und vielen anderen, noch zu entdeckenden Faktoren definieren (sic!), wer wir sind, wie jeder und jede von uns auf die zahlreichen Symptome der vielfältigen Formen von Demenz reagiert“ (Taylor 2011, S. 28). Deshalb gilt es, neben dem medizinischen Bereich verstärkt jene Perspektiven in den Blick zu nehmen, die die demenziellen Veränderungen als auch vom Beziehungsgeschehen beeinflusst und somit Demenz als ein bio-psycho-soziales Phänomen betrachten. Damit im Zusammenhang steht ein verändertes Wording: Es wird von Menschen mit Demenz, dementierenden oder demenziell beeinträchtigten Menschen und nicht mehr von dementen oder demenzkranken Menschen gesprochen. Damit soll ausgedrückt werden, dass es durchaus eine aktive Komponente im Umgang mit den Veränderungen gibt und die Zuschreibung des völligen Ausgeliefertseins an die Krankheit zu hinterfragen ist. In der neueren Demenzforschung wird die These vertreten, dass die Ausprägung der demenziellen Veränderungen von drei Faktoren beeinflusst wird: von der krankhaften Veränderung des Gehirns, von der Persönlichkeit des dementierenden Menschen und vom Umfeld. Bei letzterem Faktor geht es vor allem darum zu erkennen, inwieweit das Verhalten der Angehörigen, der Freunde, aber auch der professionell Pflegenden das Verhalten des dementierenden Menschen und damit verbunden die von ihm erlebte Lebensqualität beeinflusst. Der Deutsche Ethikrat bestimmt in einem Modell der Lebensqualität demenzkranker Menschen folgende fünf relevante Lebensbereiche: medizinische Versorgung und Schmerzerleben, räumliche Umwelt, Aktivitäten, soziales Bezugssystem und Emotionalität (vgl. Deutscher Ethikrat 2012, S. 35). Das Verhalten dementierender Menschen wird oft in der Pflegeliteratur als für die Pflegenden herausfordernd und somit als Problem beschrieben. Besonders schwierige Situationen für Pflegende stellen Agitation und Aggression dar. Aufgrund des medizinischen Paradigmas wurde angenommen, dass dieses Verhalten ausschließlich durch die krankhaften Veränderungen bedingt ist und es keine darüber hinaus gehenden Gründe gibt: „Das größte Problem im Zusammenhang mit der medizinischen Betrachtung und Behandlung der Alzheimer-Krankheit war und ist, dass zwei sehr wichtige Faktoren

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einfach ausgeblendet wurden: die Innenwelt der Betroffenen und die soziale Situation, in der sie leben. Das bedeutet, dass die medizinischen Forscher und Praktiker früher überhaupt nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen haben, dass die negative Reaktion der Betroffenen auf ein Defizit völlig berechtigt ist. […] Und so wurden Menschen mit Alzheimer regelmäßig depersonalisiert, hatten wenig Selbstgefühl und Selbstachtung und mussten erleben, dass ihre nachvollziehbar negativen Reaktionen als Symptome ihrer Krankheit abgetan wurden, anstatt sie als logische Reaktionen auf eine respektlose Behandlung zu verstehen“ (Snyder 2011, S.17).

Sehr lange war das Mittel der Wahl deshalb die medikamentöse Behandlung des Verhaltens, bzw. die Ruhigstellung des dementierenden Menschen. D.h. es wurde eine Wirkung beseitigt, ohne die Ursache zu erforschen. Es wurde zwar das Verhalten des dementierenden Menschen beschrieben, aber isoliert vom Kontext, in dem es stattfand. Es wurde auch nicht beachtet, was dieses Verhalten, also Agitation und Aggression, für das Wohlbefinden und damit die Lebensqualität des dementierenden Menschen bedeutete. Wenn wir jedoch annehmen, dass Verhalten im Kontext von Körper, Geist und Umwelt stattfindet, dann wäre zu ergründen, ob das Verhalten des dementierenden Menschen nicht sogar eine durchaus angemessene Reaktion darstellt und damit Agitation, Aggression aber auch Apathie, die ja auf den ersten Blick kein Problem darzustellen scheint, keine grundlosen Verhaltensweisen sind. Tom Kitwood schreibt: „Jedes sogenannte Problemverhalten sollte primär als Versuch der Kommunikation im Zusammenhang mit einem Bedürfnis gesehen werden. Es bedarf des Versuchs, die Botschaft zu verstehen und so auf das unbefriedigte Bedürfnis einzugehen“ (Kitwood 2013, S. 236). Daraus lässt sich schließen, dass wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten sollten, was dem herausfordernden Verhalten vorausgegangen ist, also auch darauf, wie wir in der Begleitung mit dem dementierenden Menschen umgegangen sind. Kitwood zählt Verhaltensweisen von pflegenden Personen auf, die dazu beitragen, dass es zu dem herausfordernden Verhalten kommt: u.a. Täuschungspraktiken, Depersonalisierung, Infantilisierung, Einschüchterung, Etikettierung, Stigmatisierung, Entwertung, wie ein Objekt behandeln, ignorieren, zwingen, unterbrechen, herabwürdigen, und er bezeichnet diese Verhaltensweisen insgesamt als maligne, bösartige Sozialpsychologie (vgl. ebd., S. 89ff.). Über unseren Umgang mit von Demenz betroffenen Menschen ließe sich sehr viel sagen, mein Beitrag zielt auf einen kleinen Ausschnitt: das

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„Im-Gespräch-Bleiben“ mit einem dementierenden Menschen. Die demenziellen Veränderungen von Menschen weisen eine große Bandbreite auf, die Gehirnforschung stellt für manche Erklärungen bereit. So reduzieren sich Urteils- und Einsichtsfähigkeit des dementierenden Menschen, ebenfalls kommt es zu zeitlichen, örtlichen und personellen Desorientierungen. Das bedeutet auch, dass dementierende Menschen immer weniger erkennen können, dass sich ihre Wahrnehmung von jenen anderer Menschen unterscheidet. Nicht dementierende Menschen können aufgrund ihrer Urteilsund Einsichtsfähigkeit den Unterschied zwischen der Lebenslage, die die objektiven Lebensbedingungen als Realität umfasst und der Bedeutung, die sie dieser Lebenslage geben, und die für sie somit ihre subjektive Lebenswelt bzw. ihre Wirklichkeit darstellt, erkennen. Dementierende Menschen können diese Unterscheidung oft aufgrund der kognitiven Einschränkungen nicht mehr treffen, und sie haben darüber hinaus Probleme, Begriffe semantisch richtig anzuwenden. Die Gefahr besteht nun darin anzunehmen, dass das was sie sagen, keine Bedeutung mehr habe, da sie die Welt nicht mehr erkennen würden. Damit verbunden ist eine unhinterfragte Kategorisierung der Menschen als verwirrt. Doch dementierende Menschen können unterschiedlich lange die Welt und die Dinge erkennen; das Problem liegt darin, dass es ihnen zunehmend schwerer fällt, die richtige Benennung des Gegenstandes vorzunehmen. Der Begriff, mit dem der erkannte Gegenstand bezeichnet wird, ist nicht mehr verfügbar und so kommt es zu einer besonderen semantischen Fehlleistung. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Störung des Erkennens, sondern um eine Störung des Benennens. Ich begleite meine 92-jährige Mutter seit einigen Jahren und erlebe ihre demenziellen Veränderungen aus der Perspektive der Tochter. In vielen Situationen ist mir diese Benenn-Störung aufgefallen, ein Beispiel möchte ich hier beschreiben: Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich demnächst mit meinem Partner und meiner Tochter ins Café frühstücken gehen würde, fragte sie mich: „Und wer wird kassieren?“ Meine Antwort war, dass das mein Partner sei, der uns ja eingeladen habe. Ihre Reaktion darauf war: „Aha, er ist also nicht bequem?“, und meine Antwort darauf, dass – ganz im Gegenteil – er sehr großzügig wäre. Das ist ziemlich leicht zu verstehen, denn kassieren ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit Geld steht, das von meiner Mutter Gemeinte war bezahlen, und bequem beschreibt eine aus ihrer Sicht negative Eigenschaft und gemeint war geizig.

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Zu dieser Benennstörung habe ich ein Beispiel in der Philosophiegeschichte gefunden: Immanuel Kant war in seinen letzten Lebensjahren demenziell beeinträchtigt. Sein Privatsekretär Wasianski hat in Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren neben den bekannten Verhaltensweisen, wie dem täglichen pünktlichen Aufstehen, dem strikt geregelten Tagesablauf und einigem anderen mehr, demenzielle Veränderungen unter der Bezeichnung der Altersschwäche beschrieben. Zu Kants Benennstörungen schrieb Wasianski, dass Kant sehr uneigentlich sprach, aber dass bei aller Unvollkommenheit des Ausdrucks doch eine ganz eigene Ähnlichkeit zwischen dem Worte und der damit bezeichneten Sache war. Bei einem Tischgespräch stellte Kant einmal fest, dass in der Suppe zu viel Meer und zu wenig festes Land sei und als er Obst in unregelmäßig geschnittenen Stücken bekam, verlangte er nach Obst in bestimmter Figur (vgl. Wasianski 1804, S. 29). Ich komme von Kant wieder zu meiner Mutter zurück: Wenn sie etwas sagt, dann ist implizit damit verbunden, dass es für sie richtig ist, und das muss aus ihrer Sicht ebenfalls für den Gesprächspartner richtig sein. Wenn also die andere sie nicht versteht und sie zu korrigieren versucht, ihr also zu verstehen gibt, dass sie etwas falsch gemacht hat, dann versteht sie das als Angriff gegen ihre Person. Das liegt am graduellen Verlust der Einsichtsfähigkeit eines dementierenden Menschen und die Reaktion darauf kann Apathie, Agitation oder Aggression sein, eben diese Phänomene, die als herausforderndes Verhalten beschrieben werden. Ein lange Zeit in diesen Situationen angewandtes Realitätstraining mit dementierenden Menschen war der vergebliche Versuch, sie aus ihrer vermeintlich falschen Wirklichkeit in unsere wahre zu bringen. Letztlich führt das jedoch zu einer Auseinandersetzung um die Wahrheit der jeweiligen Wirklichkeit – also zu einem Kampf um die Wahrheit – der von Niemandem gewonnen werden kann. Ich bin bei meinen Recherchen zu dieser semantischen Fehlleistung auf Gerhard Blanken, Professor für Psycholinguistik, gestoßen, der bereits 1986 die damals und auch heute noch verbreitete Perzeptionsdefizithypothese als alleinigen Grund für Wortfindungsstörungen bei dementierenden Menschen bezweifelte (vgl. Blanken 1986, S. 204ff.). Er wies durch Studien 1991 nach, dass es sich dabei in signifikant vielen Fällen um eine semantische Fehlleistung in der Benennung handelte, die durch kognitive Störungen der Spracherzeugung bedingt ist und vertrat deshalb eine Semantikdefizithypothese (vgl. Blanken 1991, S. 18ff.).

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Was bedeutet das nun für unseren Umgang mit dementierenden Menschen? Es gilt zu erkennen, dass Aussagen dementierender Menschen, die für uns prima facie unverständlich klingen, nicht immer Ausdruck einer Wahrnehmungsstörung, also einer Störung des Erkennens, sein müssen. Es kann sich auch um eine Störung des Benennens handeln. Vorausgesetzt ist hier ein Wechsel der Perspektive: Wir richten unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf das herausfordernde Verhalten des dementierenden Menschen, sondern auf unseren Umgang mit dementierenden Menschen und der kann durchaus herausfordernd sein. Wenn wir mit dem dementierenden Menschen im Gespräch bleiben und damit meine ich auch, dass wir ihn so, wie er ist, akzeptieren und ihm mit einer Haltung des Verstehens und Annehmens begegnen, dann stellt das vermutlich eine Art von Therapie dar. Denn durch dieses „Im-Gespräch-Bleiben“ kann der dementierende Mensch den Bezug zu seinen immer noch mehr oder weniger vorhandenen Ressourcen behalten. Tom Kitwood betont in seinem Buch Demenz. Der personzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, dass „Angehörige und Pflegende durch ein therapeutisch-empathisches Sicheinlassen […] den Menschen immer wieder zu der Erfahrung verhelfen, in einer Ich-DuBegegnung Halt, Trost, Bergung und damit Wohlbefinden zu erfahren“ (Kitwood 2013, S. 10). Kitwood richtet die Perspektive auf die Beziehung zu einem dementierenden Menschen, stellt die achtsame Begegnung in den Mittelpunkt und meint, „wenn wir uns auf das Abenteuer eines echten und offenen Engagements einlassen, werden wir auch eine Menge über uns selbst lernen“ (ebd., S. 28). Wir können in diesen Begegnungen viel über dementierende Menschen lernen, und wir sollten darüber hinaus Quellen nützen, die diese Menschen selbst uns zur Verfügung stellen. Es gibt vermehrt dementierende Menschen, die ihre Stimme erheben, um uns Einblick in ihre Situation zu geben, damit wir sie besser verstehen können und um unsere Sensibilität für ihre Bedürfnisse zu schärfen (vgl. Kruse 2010, S. 9f.). Richard Taylor z.B. beschreibt in seinem Essay Der moralische Imperativ des Pflegens wie, warum und in welcher Form Menschen mit einer Demenz Hilfe annehmen möchten und können. Er beschreibt, wie menschenwürdige Pflege von Menschen mit Demenz sein solle: Behandlung aller an Demenz Erkrankten als vollständige und vollgültige Menschen, Ermutigung der Betroffenen, soweit wie möglich Eigenverantwortung zu übernehmen, Ermöglichung statt Behinderung und Ermöglichung des Gefühls von Würde (vgl. Taylor

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2011, S. 27). In der Publikation des Demenz Support Zentrums Stuttgart kommen einige Menschen zu Wort, die sich in der Frühphase der Demenz befinden. Sie artikulieren Wünsche und Forderungen an ihre jeweilige Umgebung und an die Gesellschaft; sowohl an das medizinische System, die Familie und den Freundeskreis, als auch an die Mitbürger und an die kommunalen und öffentlichen Strukturen und Organisationen: Einbeziehung des Patienten in die Diagnoseerstellung und Ernstnehmen des Betroffenen, Verständnis von Familien und Freunden für mit der Demenz einhergehende Veränderungen, mit ihnen und nicht über sie zu reden, als Person ernstgenommen werden und öffentlich gehört zu werden und mitbestimmen zu können (vgl. Demenz Support Stuttgart 2013, S. 123ff.). Eine Kernaussage aus diesen biografischen Beschreibungen ist, dass das Vergessen nicht das größte Problem darstellt, sondern das Vergessenwerden, das sich oft in einem „Nicht-Ernst-genommen-Werden“ zeigt. Wir wissen nicht, wie lange es gelingen kann, Menschen mit Demenz so in unserer Gemeinschaft zu halten, dass sie über ein gutes Leben verfügen können, aber versuchen müssen wir es. Die demenziellen Beeinträchtigungen, die Menschen treffen können, weisen eine sehr große Bandbreite auf; ich habe in meinem Beitrag versucht, anhand der Benennstörung aufzuzeigen, dass unser Umgang mit dementierenden Menschen Auswirkungen auf deren Lebensqualität und Wohlbefinden hat. Das Wissen um diese semantische Fehlleistung, verbunden mit einer Grundhaltung der Akzeptanz und Wertschätzung dem dementierenden Menschen gegenüber, kann ein Beitrag dazu sein, mit dementierenden Menschen mehr oder weniger „Im-Gespräch-Bleiben“ zu können. Dabei nehmen wir einen Wechsel der Perspektive vor: Wir richten unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf das herausfordernde Verhalten des dementierenden Menschen, sondern auf den herausfordernden Umgang mit dementierenden Menschen. Ich schließe mit den Worten von Richard Taylor: „Eine menschenwürdige Pflege von Menschen mit Demenz misst ihren Erfolg nicht an der Lebensdauer von Menschen. Sie misst ihren Erfolg an der Lebensqualität der Menschen in jedem Stadium ihrer fortschreitenden Demenzsymptome“ (Taylor 2011, S. 26).

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L ITERATUR Blanken, Gerhard (1986): Gestörtes Sprachverhalten bei seniler Demenz und Aphasie. Eine vergleichende neurolinguistische Studie. Freiburg: Hochschulverlag. Blanken, Gerhard (1991): Einführung in die linguistische Aphasiologie. Theorie und Praxis. Freiburg: Hochschulverlag. Demenz Support Stuttgart (Hg.) (2013): Ich spreche für mich selbst. Menschen mit Demenz melden sich zu Wort. Frankfurt/M.: Mabuse-Verlag. Deutscher Ethikrat (2012): Demenz – Ende der Selbstbestimmung. Tagungsdokumentation. Berlin: AZ Druck und Datentechnik. Kitwood, Tom (2013): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber. Kruse, Andreas: Menschenbild und Menschenwürde als grundlegende Kategorien der Lebensqualität demenzkranker Menschen. In: Kruse, Andreas (Hg.) (2010): Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter. Heidelberg: Akademische Verlagsgesellschaft, S. 3–25. Snyder, Lisa (2011): Wie sich Alzheimer anfühlt. Bern: Verlag Hans Huber. Taylor, Richard (2011): Der moralische Imperativ des Pflegens. Bern: Verlag Hans Huber. Wasianski, Ehregott Andreas Christoph (1804): Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. Ein Beitrag zur Kenntnis seines Charakters und häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgang mit ihm. Königsberg: Friedrich Nicolovine.

Lebensplanungen für das Alter(n) Soziologische Perspektiven V ERENA K ÖCK

Geht es um zukünftige Entwicklungen spätindustrieller Gesellschaften, so ist ein verbreiteter Befund, dass sich die Altersstruktur dahingehend verändert, dass immer mehr ältere Menschen immer weniger jüngeren gegenüberstehen werden. Während die Prognose des demografischen Wandels mittlerweile als relativ unbestritten gilt (vgl. Kocka/Staudinger 2009; Lessenich/Rothermund 2011), ist die Bewertung dieser Entwicklung – sei es im wissenschaftlichen oder medialen Diskurs – hingegen höchst ambivalent. Auf der einen Seite werden die neuen Potenziale einer ‚älteren‘ Gesellschaft, in der Ältere im Sinne des ‚Active Aging‘-Paradigmas stärker partizipieren, hervorgehoben (vgl. Gross/Fagetti 2013; Denninger et al. 2014, S. 10). Auf der anderen Seite wird die sich wandelnde Altersstruktur vor allem als gesellschaftliche Problemlage gedeutet und mit Schlagworten wie Pflegenotstand oder Überalterung in Verbindung gebracht (vgl. Lessenich/Rothermund 2011). In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder auf die Fragilität des Pensionssystems hingewiesen, weshalb es am besten sei, möglichst früh individuell für sein eigenes Leben im Alter vorzusorgen und zu planen (vgl. Ekerdt 2004). Der vorliegende Beitrag basiert auf dem im Rahmen des Forum Age/ing gehaltenen Vortrag „Lebensplanungen für das Alter(n) – Soziologische Perspektiven“ und widmet sich der Frage, welchen Beitrag eine soziologische Auseinandersetzung mit dieser Thematik leisten kann und wie die subjektive Reflexion biographischer Orientierungen und Planungsperspektiven in Bezug auf das eigene Alter(n) empirisch erfasst werden kann.

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L EBENSPLANUNG FÜR DAS ALTER IM K ONTEXT DES AKTIVIERUNGSPARADIGMAS Innerhalb der Soziologie wird der sogenannte Planungsimperativ in Bezug auf das eigene Leben bereits seit den 1980ern von VerteterInnen der Individualisierungsthese diskutiert (vgl. Beck 1986; Beck-Gernsheim 1994; Geissler/Oechsle 1996) und in den letzten Jahren auch zunehmend seitens gouvernementalitätstheoretischer Ansätze in den Blick genommen. Dass Menschen dazu angehalten werden, aktiv für das eigene Leben im Alter zu sorgen, sei eine spezielle Form sogenannter „moralisierender Verantwortungsappelle“ (Denninger et al. 2014, S. 14), die im Zusammenhang mit einer „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004), mit ökonomischem und wohlfahrtsstaatlichem Wandel stehen und Flexibilität, Vorsorge sowie Eigenverantwortung fordern (vgl. Denninger et al. 2014). Dieser Aktivierungs- oder Vorsorgeappell tangiert die Lebensphase Alter auf zweifache Weise: Einerseits sollen ältere Menschen zu ihrem individuellen sowie zum gesellschaftlichen Wohle möglichst aktiv sein, andererseits sollen bereits jüngere Menschen an ihr späteres Leben im Alter denken und dafür Vorsorge leisten. Ekerdt spricht in diesem Kontext von einer Kolonisierung des Erwachsenenalters durch den Ruhestand und einem „foreshortened lifecourse“ (Ekerdt 2004, S. 7), womit er darauf anspielt, dass das Erwachsenenalter infiltriert werde von ständigen Erinnerungen an den späteren Ruhestand und vom Impetus, frühzeitig für später vorzusorgen. Er ist überzeugt, dass der Ruhestand nicht mehr nur ein Thema für die zweite Lebenshälfte ist, sondern dass die Idee zunehmend bei allen Erwachsenen präsent ist, dass wir eines Tages in Ruhestand gehen werden und dafür zu planen ist. Ekerdt, der seine Analysen auf die USA bezieht, bringt dieses Vorsorgedenken in Zusammenhang mit Veränderungen des staatlichen Sozialsystems, einem zunehmenden Werben seitens Finanzproduktanbietern für private Altersvorsorge und auch durch eine von den Babyboomern ausgehende kulturelle Hegemonie. Jetzt, da die Babyboomer kurz vor der Pensionierung stünden, werde das Thema Altersvorsorge stärker in den Mittelpunkt gerückt. Infolgedessen sei es denkbar, dass es bereits in jungen Jahren zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben im Alter komme, die – ausgehend von Gedanken über finanzielle Vorsorge – allgemein das Denken an das Leben im Alter fördere (vgl. Ekerdt 2004, S. 3–8).

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Des Weiteren ist zu hinterfragen, für wen bzw. welche soziale Gruppen der Planungsimperativ überhaupt eine Rolle spielt. Empirische Studien zeigen, dass je nach sozialer Stellung die Möglichkeiten, aber auch das Gefühl der Notwendigkeit, für sein Leben im Alter planen zu müssen, höchst unterschiedlich sind (vgl. Denton et al. 2004; Street/Desai 2012, S. 387). Schimank zufolge, der selbst erst kürzlich eine empirische Studie zu Lebensplanung und biografischen Entscheidungspraktiken der Mittelschichten publizierte, ist der Planungsimperativ zentral für den „Lebensführungsmodus der Mittelschichten“. Dieses Entscheiden-Müssen treffe vor allem auf die Mittelschichten zu, die leistungs- und aufstiegsorientiert seien (vgl. Schimank 2015, S. 9). Um all das – zumindest so gut es geht – in die Tat umzusetzen, mussten Mittelschichtsangehörige immer schon in erheblichem Maße entscheidungsförmig mit ihren längerfristigen Lebensentwürfen ebenso wie mit vielen Geschehnissen ihrer alltäglichen Lebenspraxis umgehen, das heißt in der Form zu handeln, dass die eigene Kontingenz des Handelns thematisiert wird. Die an kulturellem und ökonomischem Kapital mittelmäßig ausgestatteten Mittelschichten können „etwas gewinnen, aber auch etwas verlieren“, das sie „zum permanenten Investieren“ (ebd., S. 12) motiviert. Dazu „ist es angeraten, über diverse Investitionen in den eigenen Status nachzudenken, um möglichst kluge Entscheidungen zu treffen“ (ebd., S. 12). Der Vorläufer dieses „kulturell verankerten Planungsimperativ[s]“ (ebd., S. 13) findet sich bereits im Konzept der methodischen Lebensführung von Max Weber. Man sollte umsichtig sein Leben planen, „mindestens mittel-, besser aber längerfristige Lebensplanung“ (ebd., S. 13) betreiben. Im Kontext der zunehmenden Irritationen, denen die Mittelschicht in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgesetzt war, stellt sich die Frage, was mit diesem „Planungsanspruch“ passiert, wobei natürlich diese Irritationen, wie Schimank es nennt, keineswegs nur die Mittelschicht betreffen: Finanz- und Wirtschaftskrise, im Zuge derer es auch zu einer Beschäftigungskrise kam, „Rückbau statussichernder Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit und Rente; Anforderungen an private Vorsorge insbesondere für Alter und Pflege bei steigender Vulnerabilität intergenerationaler Unterstützungsleistungen; Vermögensbildung: zunehmende Wichtigkeit – wiederum vor allem für die Alterssicherung – und zugleich steigende Komplexität von Geldanlageentscheidungen, bei beträchtlichen Finanzmarktrisiken“. Schimank kommt zum Schluss, „dass das Leben der Mittelschichten heutzutage stärker durch ein ad-hoc reagierendes Coping als durch Planung be-

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stimmt sein dürfte“ (ebd., S. 7). Interessant wäre in diesem Zusammenhang, die Untersuchung über die Mittelschichten hinweg auszuweiten.

K ONZEPTUALISIERUNGSVERSUCHE VON L EBENSPLANUNG Angesichts des vagen Charakters von Lebensplanung für das Alter gab es aus unterschiedlicher Richtung immer wieder Konzeptualisierungsbestrebungen, unter anderem von Geissler und Oechsle (1990), Denton et al. (2004) oder Kornadt und Rothermund (2014). Ausgangspunkt bei Geissler und Oechsle ist das Konzept der biographischen Selbststeuerung. Es geht dabei darum, „sich selbst durch das eigene Leben zu bewegen und die verschiedenen, ausdifferenzierten Lebensbereiche durch eigene Strukturierungsleistungen zu vermitteln und aufeinander zu beziehen“ (Geissler/Oechsle 1990, S. 3). Voraussetzung für diese biographische Selbststeuerung sei die Fähigkeit, mittels Lebensentwürfen die eigene Biographie individuell zu gestalten. Was die Auseinandersetzung mit biographischer Selbststeuerung besonders aus soziologischer Perspektive relevant macht, ist, dass sie nicht nur einen idiosynkratischen „Entwurf eines Lebensprojektes [darstellt], sondern […] auch die Wahrnehmung institutioneller Vorgaben und Interventionen sowie darauf bezogene Umsetzungsschritte“ (ebd., S. 4) beinhaltet. Geissler und Oechsle unterteilen biographische Selbststeuerung auf analytischer Ebene in drei verschiedene Aspekte, wenngleich sie eingestehen, dass diese Trennung in der Lebenspraxis der Menschen weniger klar zu finden ist: Erstens gebe es individuelle Lebensentwürfe, die „Ziele, Wünsche und Phantasien über das eigene Leben“ (ebd., S. 9) beinhalten und im Kontext kollektiver Lebensentwürfe entstehen. Lebensentwürfe verweisen auf eine ungewisse Zukunft, weshalb sie unweigerlich diffus bleiben, was zugleich auch bedeutet, dass aus der Untersuchung von Lebensentwürfen keine Schlüsse auf deren Handlungsrelevanz gemacht werden können (vgl. ebd., S. 4). Um die Lücke zwischen Lebensentwurf und konkretem (zukunftsbezogenen) Handeln zu schließen, sei die Herausbildung handlungsleitender Orientierungen notwendig, die den zweiten zentralen Aspekt biographischer Selbststeuerung darstellen. Der dritte Aspekt schließlich ist die Lebensplanung im engeren Sinn, die die Autorinnen

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wiederum in Bilanzierung, Antizipation möglicher Zukunft und Realisierung aufschlüsseln (vgl. ebd.). Entwürfe des eigenen Lebens bzw. Zukunftskonzeptionen entstehen nicht in einem sozialen Vakuum, sondern sind sozial geprägt, weshalb ihre Analyse soziologisch relevante Erkenntnisse ermöglicht. Bereits in der in den 1930ern durchgeführten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal, in der nach dem Schließen einer Textilfabrik die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die BewohnerInnen eines niederösterreichischen Ortes untersucht wurden, analysierten Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel unter anderem projektive, auf die Zukunft gerichtete Daten. Jugendliche konnten an einem von den ForscherInnen ins Leben gerufenen Preisausschreiben zur Frage „Wie stelle ich mir meine Zukunft vor?“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, S. 79) teilnehmen. Trotz des potenziellen Gewinns reichten lediglich fünfzehn Jugendliche Aufsätze ein, was die ForscherInnen als „geringe[s] Interesse an der Fragestellung“ (ebd., S. 79) und als „Planlosigkeit“ (ebd., S. 79) seitens der Jugendlichen deuteten, wovon auch die eingegangenen Texte zeugten. Während Jugendliche, die eine Lehrstelle innehatten, einen persönlichen Zukunftsplan vorlegten, schrieben arbeitslose Jugendliche eher allgemein über Zukunft und ihre Hoffnung auf den Sozialismus, allerdings sparten sie Vorstellungen über ihre individuelle Zukunft aus (vgl. ebd., S. 79). Die Ergebnisse dieses Aufsatzwettbewerbs fügten sich in andere Beobachtungen, in denen sich eine resignative Haltung erkennen ließ, insgesamt sprachen die ForscherInnen von einer „resignierten Gemeinschaft, die […] die Beziehung zur Zukunft verloren hat“ (ebd., S. 75). Diese Haltung sei charakterisiert durch einen „Verzicht auf eine Zukunft, die nicht einmal mehr in der Phantasie als Plan eine Rolle spielt“ (ebd., S. 70). Wie Menschen ihre eigene Zukunft andenken, kann wertvolle Aufschlüsse für soziologische Gegenwartsanalysen liefern, wie dieses Beispiel zeigt. Kehrt man zurück zu Zukunftsvorstellungen, die speziell auf das Leben im ‚Alter‘ gerichtet sind, so bilden sich diese in Zusammenhang mit der institutionellen Ordnung des Wohlfahrtsstaates (z.B. Pensionssystem), dem aktuellen Aktivierungsdiskurs (vgl. Denninger et al. 2014), der sozialen Lage sowie biographischen Erfahrungen (z.B. Erfahrungen mit älteren Familienmitgliedern, berufsspezifische Erfahrungen) heraus. Innerhalb dieses Rahmens entwerfen Menschen Vorstellungen von ihrem Leben im Alter und setzen – eventuell – Handlungen dafür.

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Subjektive Vorstellungen von Zukunft sind jedoch nicht nur sozial geprägt, sondern prägen auf der anderen Seite auch das Soziale. Thomas und Thomas formulierten einst treffend den Satz „If men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas/Thomas 1928, S. 572), der daraufhin als Thomas-Theorem bekannt wurde. Wenn Menschen also eine Situation als real definieren, ist sie auch in ihren Konsequenzen real. Diese Situationsdefinition kann sich auf die Gegenwart beziehen, jedoch auch auf zukünftig erwartete Situationen. Wenngleich Zukunftsvorstellungen kein direktes Ableiten von zukünftigen Handlungen ermöglichen, ist dennoch anzunehmen, dass von ihnen zumindest eine gewisse Handlungsorientierung ausgeht (vgl. Geissler/Oechsle 1990, S. 3f.). Das, was die Analyse von gegenwärtigen Zukunftskonzeptionen nicht ermöglicht, ist eine exakte Prognose zukünftigen Handelns und zukünftiger Entwicklungen. Demnach handelt es sich nicht um Zukunftsforschung im engeren Sinn, sondern um eine Rekonstruktion der gegenwärtigen Konstruktionen. Nicht die Zukunft soll erforscht werden – was auch mit epistemologischen Schwierigkeiten verbunden wäre – sondern gegenwärtige Zukunftskonstruktionen sollen rekonstruiert werden. Wie Individuen ihre Zukunft sehen, hat Implikationen dafür, welchen Sinn sie ihrem Leben in der Gegenwart geben und mitunter auch, wie sie gegenwärtig ältere Menschen sehen und ihnen begegnen (vgl. Neikrug 2003; Phoenix 2014, S. 11f.).

Ü BER DEN Z USAMMENHANG VON Z UKUNFTSVORSTELLUNGEN UND ‚ DEM ALTER ( N )‘ Allgemein lässt sich sozialwissenschaftliche Forschung zu Lebensentwürfen bzw. Zukunftskonzeptionen entlang von drei zentralen Fragen einteilen. Erstens, auf welchen Lebensabschnitt richten sich die untersuchten Zukunftskonzeptionen? Zweitens, auf welchen Lebensbereich beziehen sich die im Fokus der Untersuchung stehenden Zukunftsvorstellungen? Drittens, wessen Zukunftskonzeptionen werden untersucht? Im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung untersuchte Zukunftskonzeptionen können sich auf die gesamte Lebensspanne beziehen, wie im letzten Abschnitt mit dem Marienthal-Beispiel veranschaulicht, oder auch auf einen bestimmten Lebensabschnitt fokussieren. Im Weiteren soll es speziell um Forschung gehen, die sich mit Zukunftsvorstellungen in Bezug

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auf das ‚Alter‘ befasst. Wenn hier von ‚dem Alter‘ die Rede ist, so wird darauf angespielt, dass „die Bezeichnung ‚Alter‘ zum Synonym für das höhere Lebensalter geworden ist, ohne dass damit eindeutig bestimmbar wäre, wann diese Lebensphase genau beginnt.“ (van Dyk 2015, S. 6) Diese Kategorisierung ist Produkt sozialer Konstruktionen und ist mit gesellschaftlichen Institutionalisierungen, wie der Einführung des erwerbsbefreiten Ruhestands in Verbindung zu bringen (vgl. ebd.). Es geht nicht darum, als ForscherIn zu proklamieren, dass es so etwas wie ein fixe, mit klaren Altersgrenzen versehene Lebensphase ‚Alter‘ gibt, sondern Zukunftskonstruktionen und Alltagswissen vom ‚Alter‘ aufzugreifen und diese zu hinterfragen. Forschung, die sich für die Zukunftskonstruktionen von Menschen hinsichtlich ihres eigenen Lebens im Alter interessiert, untersucht zugleich, welche Vorstellungen Menschen von dem Konzept ‚Alter‘ mit sich tragen. Ganz allgemein verweisen Vorstellungen über die eigene Zukunft immer auf ein älteres, alterndes Selbst, zumindest wenn man die chronologische Dimension des Alterns berücksichtigt. Der Prozess des Alterns ist also implizit in allen Zukunftsprojektionen enthalten. Forschung, die sich speziell mit der Lebensphase ‚Alter‘ und dem Älterwerden, bzw. den damit verbundenen Zukunftsplänen, auseinandersetzt, macht die Dimension Altern und Alter im Kontext der Zukunftskonzeptionen noch einmal explizit und widmet sich auf zweifache Weise dem Alter(n). Einmal in Bezug auf die Altersphase, auf den Differenzmarker ‚Alter‘, einmal auf das kontinuierliche Altern und Älterwerden, den Prozess (vgl. ebd., S. 6f.). Die Frage danach, wie Menschen auf ihr Leben im Alter blicken bzw. welche konkreten Vorsorgehandlungen oder Pläne sie vornehmen, beschäftigte in den vergangenen Jahren unter anderem Forschende aus der Psychologie, der Ökonomie und der Soziologie. Während ökonomische und psychologische Beiträge hauptsächlich auf individuelle Planungskompetenzen und -aktivitäten fokussieren, erfolgt aus soziologischer Perspektive eine stärkere Berücksichtigung sozialer Kontexte und institutioneller Arrangements, die Altersbilder und Zukunftsperspektiven auf das Alter prägen. Zurückgehend auf die vorhin formulierte Frage, auf welchen Lebensbereich sich die im Fokus der Untersuchung stehenden Zukunftsvorstellungen bzw. -handlungen beziehen, lassen sich vor allem Studien zum finanziellen Vorsorgehandeln (z.B. Kemp/Rosenthal/Denton 2005; Hershey/Henkens/van Dalen 2010), gesundheitlichen Vorsorgehandeln (z.B. Minkler 1999; Haber 2003) sowie zur Vorbereitung auf den Übergang vom Erwerbsleben in den

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Ruhestand (z.B. Henretta 1992; Szinovacz/DeViney 2000; Kim/Moen 2001; Moen/Sweet/Swisher 2005) ausfindig machen. Die Konzentration auf die Bereiche der Finanzen und der Gesundheit ist einerseits gesellschaftspolitischem Interesse zuzuschreiben, andererseits sind diese Dimensionen über Indikatoren wie z.B. Einkommen, Höhe der Vorsorgezahlungen, Gesundheitsstatus relativ leicht für – in erster Linie quantitative – sozialwissenschaftliche Studien operationalisierbar. Im Vergleich dazu sind viele andere Lebensbereiche weniger konkret planbar bzw. münden weniger deutlich in Vorsorgehandlungen für das Leben im Alter (vgl. Street/Desai 2012), weshalb sie auch weniger einfach in sozialwissenschaftliche Studien überführbar sind. Im Laufe der letzten Jahre sind einige große PanelSurveys rund um das Thema Alter(n) und Lebens(ver)läufe entstanden (z.B. SHARE, DEAS). Verbunden damit sind oftmals retrospektive Analysen von Lebensverläufen, in denen der Zusammenhang von in der Vergangenheit gesetzten Handlungen bzw. Planungsaktivitäten auf ihre Wirkung für spätere Lebenssituationen hin untersucht wurde (vgl. Rowe/Kahn 1998). Die Frage, wessen Zukunftsvorstellungen (über die Lebensphase Alter) untersucht werden, lässt mit Blick auf die Literatur den Schluss zu, dass vor allem Menschen, die kurz vor dem Ruhestand stehen oder Menschen, die sich bereits im Ruhestand befinden, im Fokus stehen (vgl. Henretta 1992; Szinovacz/DeViney 2000; Kim/Moen 2001; Moen/Sweet/Swisher 2005). Dies ist insofern plausibel, als ältere Menschen sich wahrscheinlich intensiver mit der kommenden Lebensphase Alter beschäftigen als jüngere. Im Lichte der vermehrten Aktivierungsappelle an jüngere Menschen, sich doch schon frühzeitig um die eigene Altersvorsorge zu kümmern, wären jedoch gerade auch jüngere Menschen von Interesse für die Untersuchung. Doch was wären jüngere Menschen in diesem Fall? Van Dyk zufolge operiere Alter(n) „entlang der binären Pole jung/alt“ (2015, S. 7). Jung seien demnach Kinder und Jugendliche, alt seien hochaltrige Menschen. All jene dazwischen seien mehr oder wenig alterslos, was sich nicht nur im Alltagsverständnis sondern auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zeige (vgl. ebd.). Trotz verschiedener Kategorisierungsversuche (vgl. Kolland/Wanka 2014, S. 185) scheint die Bezeichnung der ‚mittelalten‘ Menschen weniger alltagsnah und eindeutig wie bei Jugendlichen oder älteren Menschen zu sein. Für die Beobachtung, dass kaum jüngere bzw. mittelalte Menschen in Bezug auf ihre eigene Vorstellung vom Alter hin befragt werden, sind mehrere Erklärungen denkbar, wobei an dieser Stelle nur Speku-

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lationen angestellt werden können. So ist es etwa vorstellbar, dass es gesellschaftlich implizit vorgegeben ist, wer sich wann, in welcher Lebensphase mit welchen biographischen Entscheidungsprozessen auseinanderzusetzen hat und infolgedessen auch, welche Planungs- und Entscheidungsprozesse als erforschenswert gelten. Angesichts Ekerdts These von der Kolonisierung des Erwachsenenalters durch den Ruhestand wäre jedoch gerade die Untersuchung der Zukunftskonzeptionen der Jüngeren von Belang.

D IE

EMPIRISCHE U NTERSUCHUNG VON Z UKUNFTSKONZEPTIONEN

Im letzten Abschnitt soll diskutiert werden, wie individuelle Zukunftsvorstellungen vom und Planungen für das Alter empirisch untersucht werden können, wobei vor allem auf den Aspekt der Reaktivität eingegangen wird. Eine Möglichkeit, die vorhin schon Erwähnung fand, ist die Analyse von Texten, wie zum Beispiel Aufsätzen (vgl. Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975; Isabella/Mandich 2014). Diese Methode eignet sich speziell, wenn man sich für Zukunftsvorstellungen von Jugendlichen bzw. SchülerInnen interessiert. Im Schulkontext ist es für SchülerInnen relativ selbstverständlich, Aufsätze zu einer gewissen Aufgabenstellung zu schreiben. Schwieriger wäre dies wahrscheinlich, würde man Erwachsene bitten, einen Aufsatz zu ihren Zukunftsvorstellungen zu verfassen. Neben diesen künstlich für die Forschung produzierten Texten könnten des Weiteren ‚natürliche‘ Texte, die nicht zum Zweck der Forschung entstanden sind, beforscht werden, z.B. Tagebucheinträge, Blogs, Internetforen. Befragungen stellen eine weitere Methode dar, um sich subjektiven Zukunftskonzeptionen empirisch zu nähern. Unter den Begriff Befragungen fallen viele unterschiedliche Befragungsformen. Eine Möglichkeit hier zu systematisieren, ist die Einteilung verschiedener Formen anhand des Kriteriums der Strukturiertheit. Auf der einen Seite finden sich unstrukturierte Befragungsformen, bei denen die befragte Person Antworten frei formulieren kann, auf der anderen Seite gibt es stärker strukturierte Befragungsarten, bei denen die Antwortkategorien vorgegeben sind, wie es zumeist bei einem Fragebogen der Fall ist (vgl. Häder 2010, S. 192). In Bezug auf die Beforschung von Zukunftskonstruktionen und Planungen für das Alter sind beide Extreme denkbar und werden auch eingesetzt. Ein Vorteil unstruktu-

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rierter, qualitativer Befragungen ist, dass Befragte stärker ihre eigenen Relevanzsetzungen einbringen können. So können etwa problemzentrierte Interviews mit biographisch-narrativen Anteilen geführt werden. Witzel zufolge, der das problemzentrierte Interview begründet hat, ist diese Erhebungsmethode unter anderem für die Untersuchung von Orientierungen und Handlungen in Lebensläufen geeignet, was er auch selbst gemeinsam mit Kühn in einer Studie zu Familienplanung jüngerer Menschen zeigte (vgl. Witzel 2001; Kühn 2004). Zukunftskonzeptionen können keine Narrationen im engeren Sinne sein, da es sich im Grunde um Imaginationen statt um Narrationen handelt, die sich in der Regel auf erlebtes Leben beziehen. Mit prospektiven Stimuli können gegenwärtige Deutungen der Befragten in Hinblick auf „zukünftige, mögliche Ereignisse“ (Kruse 2015, S. 222) zu Tage treten. Dem im oben bereits vorgestellten Konzept von Geissler und Oechsle zufolge bestehen Lebensplanungen im engeren Sinn aus den Aspekten der Bilanzierung, Antizipation sowie Planung, was für die empirische Untersuchung bedeutet, Lebensplanung sowohl als etwas Retrospektives als auch etwas Prospektives zu begreifen (vgl. Geissler/Oechsle 1990, S. 66). Zum Verstehen von Zukunftsperspektiven ist es daher unerlässlich, biographische Erfahrungen mitzudenken und im Interview mitzuerfassen. Erfahrungen sind Reiter zufolge durch einen doppelten Zeithorizont geprägt. Über Erfahrungen wird die Vergangenheit re-interpretiert, zugleich kommt es dabei zu biographischen Handlungen und Deutungen, die auf die Zukunft gerichtet sind (vgl. Reiter 2010, §21). Im Unterschied zu Narrationen, die sich auf Ereignisse in der Vergangenheit beziehen und im Interview (re-)konstruiert werden, ist es in der konkreten Interviewsituation schwieriger, Imaginationen über die eigene Zukunft anzuregen, wie auch vorhandene empirische Studien zeigen. Phoenix beispielsweise untersuchte, wie junge ProfisportlerInnen sich ihre eigene Zukunft ausmalen. Ihr zufolge hätte die Interviewsituation gezwungen gewirkt und statt ‚dichte Beschreibungen‘ der eigenen Zukunft zu erhalten, seien die Antworten eher einsilbig gewesen. Phoenix betrachtet ihre Interviews damit jedoch nicht als gescheitert, sondern sieht es als Hinweis darauf, dass die Befragten im Zuge des Interviews zum ersten Mal damit konfrontiert gewesen seien, über ihre eigene langfristige Zukunft nachzudenken. Dementsprechend limitiert sei das narrative Repertoire der Befragten gewesen, und es zeigte sich wenig Vertrautheit bezüglich der Beschreibung

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des eigenen Alternsprozesses, was sich auch in vagen, kurzen Antworten zeigte (vgl. Phoenix 2014, S. 5–8). Um dichtere Beschreibungen der eigenen Zukunft zu evozieren, empfiehlt Phoenix u.a. den Einsatz von AutoPhotographie. Sie schlägt vor, InterviewpartnerInnen im Vorfeld des Interviews zu bitten, zehn Fotos zu produzieren, die zu dem Statement So könnte ich einmal werden. passen. Diese Methode solle dabei helfen, über die eigene Zukunft nachzudenken. Im Unterschied zu Interviews, bei denen die Interviewperson noch nicht weiß, was sie genau erwartet, bekommt hier die interviewte Person schon vorab die Möglichkeit, sich mit eigenen Zukunftsvorstellungen auseinanderzusetzen. Dementsprechend reichhaltiger seien die Antworten darauf, wie sich eine Person die eigene Zukunft vorstellt. Wie bzw. ob Menschen über ihre eigene Zukunft nachdenken, ist nicht statisch festgeschrieben, sondern wird (auch) durch die Forschungsmethodik, die im Rahmen solch einer Forschung verwendet wird, beeinflusst (vgl. ebd.). Zudem muss das Interview auch immer im Sinne einer sozialen Interaktion betrachtet werden, bei dem der im Rahmen der Interviewsituation entstandene Text immer auch Ergebnis der sozialen Interaktion zwischen InterviewerIn und Interviewperson ist (vgl. Dingwall 1997, S. 56). Trägt man an die Interviewperson heran, dass sie Fotos von ihrer Zukunft machen soll, bringt man das Thema jedoch schon im Vorfeld noch viel stärker aufs Tapet und initiiert einen Reflexionsprozess bei der befragten Person. Auf der einen Seite lenkt man damit als InterviewerIn relativ stark, bekommt dafür aber wahrscheinlich reichhaltigere Antworten auf die Frage, wie sich Menschen ihr Leben im Alter vorstellen. Entscheidet man sich für solch eine Methodik, lässt sich die Frage, wie bzw. ob Menschen über ihre eigene Zukunft im Alter nachdenken, wie sie sich damit beschäftigen weniger gut beantworten. Zielt das Erkenntnisinteresse allerdings darauf ab, herauszufinden, was der Gegenstand ihrer Visionen und Wünsche ist, ist ein Verfahren wie z.B. Auto-Photographie eine denkbare Variante.

AUSBLICK Ausgehend von der in diesem Beitrag skizzierten Problemstellung widme ich mich im Rahmen eines Dissertationsprojektes der Frage, wie jüngere Menschen ihre eigene Zukunft im Alter konzipieren und welche Planungen bzw. Vorsorgehandlungen sie dafür vornehmen, wobei speziell auf den Be-

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reich Wohnen eingegangen werden soll. Zweitens dreht sich die Dissertation darum, wie soziologische Handlungstheorien auf schwer kalkulierbare, langfristige biographische Entscheidungen angewandt werden können. Im Speziellen soll hier auf die von Schütz (1974) entworfene Handlungstheorie bzw. deren Weiterentwicklung durch Luckmann (1992) Bezug genommen werden. Anders als in den Naturwissenschaften wohnt sozialwissenschaftlicher Forschung eine gewisse Reflexivität inne, und zwar dahingehend, als der Forschungsprozess bzw. die Forschungsergebnisse auf das soziale Handeln, das zugleich Untersuchungsgegenstand ist, (rück)wirken können. Im Sinne einer kritischen Wissenschaft gilt es, als ForscherIn das eigene Tun zu reflektieren und zu hinterfragen, aus welcher Position heraus, mit welchen Annahmen man sich einer Fragestellung nähert bzw. auch, welche Konsequenzen sich aus der eigenen Forschung potenziell ergeben. Die geplante empirische Untersuchung von subjektiven Lebensentwürfen in Bezug auf das eigene Leben im Alter will keineswegs den normativen Anspruch erheben, dass frühe Planung für das Alter notwendig ist, das Aktivierungsparadigma fortgeschrieben werden würde. Was die konkrete Interviewsituation betrifft, ist zu beachten, nicht von vornherein an die Interviewten die Erwartung heranzutragen, dass die Planung für das Alter etwas ist, das jetzt zu leisten sei, über das man sich jetzt Gedanken machen sollte, sondern hier Offenheit bleibt für die Relevanzsetzungen der Interviewten. In diesem Sinne soll auch keine Aussage darüber getroffen werden, wie man am besten vorsorgt bzw. wie man mit der Planung umgehen sollte. Vielmehr geht es darum zu verstehen, wie der Umgang mit dem eigenen Alter und Planung dafür im Kontext der aktuellen Aktivierungs- und Vorsorgeapelle subjektiv wahrgenommen werden.

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Mainstreaming Ageing in der Erwachsenenbildung ErwachsenenbildnerInnen vor neuen Herausforderungen A LEXANDRA E DLINGER

Mainstreaming Ageing in der Erwachsenenbildung ist eine Fortbildung für Unterrichtende mit dem Ziel, ErwachsenenbildnerInnen dabei zu unterstützen, in altersheterogenen und -homogenen Settings Unterricht altersgerecht zu gestalten. Das Konzept Mainstreaming Ageing stelle ich im Folgenden vor. Nach einem kurzen Abriss der aktuellen Situation von ErwachsenenbildnerInnen vor dem Hintergrund steigender Qualitätsansprüche einer sich diversifizierenden Erwachsenenbildungslandschaft, erläutere ich die Ziele und Inhalte von Mainstreaming Ageing, um mit einem Ausblick abzuschließen.

E RWACHSENENBILDNER I NNEN IM B ILDUNGSJAHRHUNDERT In unserer Wissensgesellschaft ist Bildung der Schlüsselfaktor des Lebenslaufs und beeinflusst die Lebenschancen des Individuums. Im 21. Jahrhundert ist Lernen in jedem Alter (über)lebenswichtig. Mit der zunehmenden Bedeutung von Bildung und Erwachsenenbildung steigt der Qualitätsanspruch an Institutionen und Lehrende. Unterrichtende sollten daher regel-

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mäßig an Fortbildungen teilnehmen. Alter allerdings wird in diesen Fortbildungen meist nur am Rande erwähnt. Noch ist die Bildungsbeteiligung Älterer geringer als die Jüngerer, demografische Prognosen verheißen aber, dass sich das bald ändern wird. Es ergeben sich eine Reihe von Settings, in denen Alter und Altern zentrales Thema ist: Von altersheterogenen Kursen (z.B.: Fremdsprachenkurse) über spezielle Angebote für SeniorInnen und professionelle Qualifizierung für Personen, die im geriatrischen, gerontologischen Kontext tätig sind, zu Kursen, die Alter als Thema der Allgemeinbildung behandeln (vgl. Siebert 2012). ErwachsenenbildnerInnen müssen damit rechnen, in Zukunft mehr Ältere in altersheterogenen Kursen zu unterrichten. Alter und Altersunterschiede werden zumindest in den Köpfen der Lernenden präsent sein und früher oder später thematisiert werden. Hier kann die/der Unterrichtende unterstützen, Vorurteile abzubauen und Generationenbarrieren zu überwinden. Es wird von ihr/ihm sensibles Geschick und gutes methodisches Werkzeug verlangen, intergeneratives Lernen zu ermöglichen. Doch auch in altershomogenen Kursen, die nur Ältere besuchen, gilt es zu beachten, dass Ältere nicht eine Zielgruppe sind. Es ist weniger das kalendarische Lebensalter, als vorausgegangene Sozialisations- und Lernbedingungen, die eine spezifische Didaktik erfordern. In altershomogenen Kursen sollten Ältere beim erfolgreichen Lernen auch dadurch unterstützt werden, negative Altersbilder aufzulösen und Selbststereotypisierungen zu unterbinden. Auch neue Themen kommen auf ErwachsenenbildnerInnen zu. In speziellen Kursen für Ältere, aber auch in altersheterogenen Settings – immer ist Alter und Altern präsent und ErwachsenenbildnerInnen müssen sich mit diesem Thema beschäftigt haben, wollen sie in ihren Kursen adäquat agieren. Gleichzeitig stellt sich auch der Anspruch an ErwachsenenbildnerInnen, Unterstützung bei der Gestaltung des Lebenslaufs zu leisten und Älteren bei einer Auseinandersetzung mit ihrem Alter und der Ausschöpfung und Erfüllung der Möglichkeiten zur Seite zu stehen (vgl. Schneider 2001, S. 227–243). Veelken (2003) beschreibt Bildung und nicht zuletzt Bildung im Alter als eine überaus wichtige Voraussetzung für eine Teilhabe an der Gesellschaft. Er ortet die Aufgabe der Bildung im Alter in einer Ermöglichung von Transferprozessen zwischen einer sich ändernden Kultur und einer sich

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wandelnden Gesellschaft und dem Individuum, das sich im Lebenslauf entfaltet. Es geht also um eine Identitätsentwicklung im Lebenslauf, um mit der sich stets verändernden Gesellschaft im Austausch stehen zu können. ErwachsenenbildnerInnen stehen also vor einer hochkomplexen Aufgabe. Inhaltliche Gestaltung kann nicht ohne Einbezug des Kontextes der Lernenden passieren. Neben dem Lernen von Fachwissen gilt es genug Raum zur Reflexion, zum Rückbezug auf die jedem Lernenden eigene Lebenswelt zu geben. Die Forderung, die sich an ErwachsenenbildnerInnen in intergenerativen Settings stellt, ist, die Heterogenität und Alterität der Generationen, aber auch die unterschiedlichen Persönlichkeiten wahrzunehmen und sich an einer Anerkennung dieser Differenz zu orientieren. Eine Herausforderung der didaktischen Gestaltung ist es, die Rollenmuster, mit denen sich Generationen begegnen, aufzubrechen und wechselseitiges Lernen zu ermöglichen. Es gilt den Lernprozess konkret und explizit zu gestalten und auch bewusst Raum für den informellen Austausch einzuplanen. Professionalisierte Weiterbildung der ErwachsenenbildnerInnen, um Lernarrangements in Hinblick auf die deutliche Heterogenität der Lernenden planen zu können, ist daher notwendig. Mainstreaming Ageing ist eine solche Weiterbildung. Mainstreaming bedeutet, ein Thema in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bringen, Werkzeuge zum Fokussieren und zur Inklusion zur Verfügung zu stellen, mit dem Ziel der besseren sozialen Integration bestimmter Gruppen und der Inklusion bestimmter Themen ins soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben. Genau das möchte die Fortbildung für Lehrende der Erwachsenenbildung tun: Das Thema Alter und Altern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Unterrichtenden zu bringen. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen und dem eigenen Altersbild und dessen Entstehung und Entwicklung im Unterricht. Werkzeuge zum Fokussieren sind Möglichkeiten der Reflexion eigener und gesellschaftlicher Altersbilder, um den Blick für Altersdynamiken im Unterricht zu schärfen. In Folge kann ein altersgerechter Unterricht entstehen, der in altershomogenen und intergenerativen Gruppen effektiv und dynamisch Wissen vermittelt, aber auch die persönliche Entwicklung der Lernenden miteinbezieht.

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Z IELE

VON

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Ziel von Mainstreaming Ageing ist es, sich durch eine Auseinandersetzung mit Alter und Altern aus Sicht verschiedener Disziplinen Wissen anzueignen, auf dessen Basis eine Reflexion der eigenen Bilder und Einstellungen zu Alter und Altern stattfinden kann. Durch diese Reflexion kann das eigene didaktische Handeln von einem neuen Blickwinkel aus betrachtet werden. Durch konkrete Handreichung von methodischem Werkzeug zu altersgerechtem und lernendenbezogenem Unterricht, sowie gruppendynamischer Gestaltung heterogener Settings sollen Unterrichtende in ihrer didaktischen Planung und Ausführung unterstützt werden. Nachfolgende Tabelle veranschaulicht die Ziele, die Mainstreaming Ageing verfolgt. Tabelle 1: Lernziele von Mainstreaming Ageing Kognitive Lernziele

Affektive Lernziele

Psychomotorische Lernziele

Wissen über gesellschaftliche Altersdiskurse (z.B. Altersdiskriminierung)

Wissen und Reflexion über eigene Altersbilder

angemessenes, alterssensibles Verhalten gegenüber jüngeren und älteren Kursteilnehmenden

Wissen über die Lebenswelten älterer Lernender

Erfahrungsaustausch

methodische Werkzeuge für den Unterricht mit Älteren

Wissen über Lernen im Alter

Empathisches Eingehen auf Lernende verschiedenen Alters

Werkzeuge zur Schaffung eines generationenfreundlichen Unterrichts

Wissen über Herausforde- Erkennen der individuelrungen und Nutzen inter- len Bedürfnisse der generativen Lernens Lernenden Intergeneratives Konfliktmanagement Steuerung der Gruppendynamik

Neben kognitiven Lernzielen, die Wissen über Altersdiskurse, Lebenswelten Älterer, Lernen im Alter und intergeneratives Lernen darstellen, sollen affektive Lernziele eine Reflexion über Altersbilder, Erfahrungsaustausch

M AINSTREAMING A GEING

IN DER DER

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und ein individuelles Eingehen auf Lernende in altersheterogenen und -homogenen Gruppen ermöglichen. Psychomotorische Ziele beinhalten methodisches Werkzeug für einen altersgerechten Unterricht.

I NHALTE

VON

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Mainstreaming Ageing betrachtet Aspekte des Alter(n)s und des Lernens im Alter aus Blickwinkeln verschiedener Disziplinen und vermittelt konkrete methodische Herangehensweisen. Motivation zur Arbeit mit Älteren In der Weiterbildungsarbeit mit Unterrichtenden ist ein Faktor die Weckung oder Bestärkung der Motivation. Das Erfahren der eigenen Arbeit als sinnvoll und wichtig, kann die Motivation steigern. In der Arbeit mit Älteren ist es wesentlich, die Liebe zum Älteren zu wecken und dem Alter ohne Scheu vor der Konfrontation mit dem eigenen Älterwerden zu begegnen. In dieser Fortbildung kann Gerontologie als spannende Wissenschaft erfahrbar gemacht werden, weil sie die Wissenschaft vom Lebenslauf, Lebenssinn und Lebensziel ist (vgl. Veelken 2003). Soziale Konstruktion des Alters Die Beschäftigung mit Alter und Altern macht bewusst, dass Alter sozial konstruiert ist. Diskurse des defizitären Alters, der gesellschaftlichen Belastung durch Überalterung werden in dieser Fortbildung thematisiert, kritisch hinterfragt und eigene verinnerlichte Altersbilder überdacht. Denn wie Ältere ihre Lernerfahrungen sehen, ihre Erwartungen an das Lernen, und die Zuschreibungen, die sie von anderen erfahren und die sie selbst gegebenenfalls übernehmen, prägt ihr Lernen. Lehrende sind natürlich ebenso in ihrer sozial konstruierten Welt verhaftet. Sie begegnen Lernenden mit ihren gesellschaftlich geprägten Erwartungen und Einstellungen und gestalten dementsprechend den Unterricht. Die dadurch entstehende Dynamik zwischen Lernenden und Lehrenden konstruiert die Eigen- und Fremdbilder in der Interaktion immer wieder neu und färbt so das Lernsetting. Eine Bewusstmachung dieser Prozesse ist daher für den Lernprozess von großer Bedeutung.

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Dazu eignet sich besonders das Facts on Ageing Quiz von Palmore (1999), das durch vermeintliche Fakten zum Alter(n) zur Diskussion in Kleingruppen anregen kann. Es ist schwierig, Diskurse und Zuschreibungen festzumachen und bewusst zu reflektieren, gleichzeitig die Authentizität der und des Einzelnen nicht zu untergraben. Der Umgang miteinander soll ehrlich und natürlich bleiben, damit gemeinsames Lernen in einer Atmosphäre stattfinden kann, in der man sich wohl fühlt und offen ist. Daher ist es wichtig, eigene, verinnerlichte Altersbilder zu reflektieren, um einen altersgerechten Unterricht gestalten zu können, verschiedene Altersgruppen bei einer wertschätzenden Begegnung anzuleiten und altersdiskriminierende Verhaltensweisen im Kurs auflösen zu können. Denn, so beschreibt es Amann (2016 im vorliegenden Band, S. 27): „Um handeln zu können, muss man voraussetzen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein soll und dass man sie ändern kann“. Neurodidaktik Auch aus neurologischen Erkenntnissen zum Lernen im Alter können Handlungsempfehlungen zum Unterricht mit Älteren abgeleitet werden. Die Hirnforschung kann empirisch belegen, was aus medizinischer, psychologischer und pädagogischer Forschung bekannt ist: Im Alter kann es zu Veränderungen von für das Lernen wichtigen Funktionen kommen. So können manche Funktionen altersbedingt beeinträchtigt sein, wie Seh- und Hörvermögen, Arbeitsgedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit. Andere Funktionen können mit zunehmendem Alter Verbesserungen erfahren, etwa Erfahrungswissen, Urteilsvermögen und Verantwortungsbewusstsein. Daneben sind manche Funktionen vom Alter weitgehend nicht betroffen, wie Lernfähigkeit oder Kreativität. Unter Berücksichtigung neurologischer Alterungsprozesse und deren möglicher Auswirkungen auf das Lernen werden Empfehlungen für einen altersgerechten Unterricht abgeleitet. Solche Empfehlungen sind z.B.: Anknüpfen an Erfahrungen und vorhandenes Wissen, empathische Fehlerkorrektur, Abstimmen der Zeitplanung des Kurses auf die Bedürfnisse der Lernenden, Raum für sozialen Austausch geben, Eingehen auf eventuelle Hör- und Sehdefizite. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass Altern individuell ist; neurologische Alterungsprozesse sind bei jedem Individuum unterschiedlich und genauso ihre Auswirkungen auf für das Lernen wichtige Funktionen. Jede Person hat andere Erfahrungen

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und andere Strategien, um etwaige Beeinträchtigungen zu kompensieren. Neurodidaktik kann daher keine allgemeingültigen Aussagen für Lernen und Lehren im Alter treffen. Es kann nur Erklärungen aufzeigen und Möglichkeiten didaktischen Handelns vorschlagen. Das Individuum muss der Maßstab der Unterrichtsgestaltung bleiben. Biografiearbeit Die Kompetenz, die eigene Biografie zu gestalten, ist zu einer zentralen Anforderung der Moderne unter Individualisierungsbedingungen geworden. Die Biografiearbeit ist ein wichtiges Werkzeug zur Gestaltung altersgerechten Unterrichts. Mit Biografiearbeit kann Vergangenes erinnert und verstanden werden. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kann Leitmotive erkennen lassen und Ressourcen erschließbar machen. Aber durch Biografiearbeit kann auch die Gegenwart entdeckt werden. Situationen werden reflektiert, Lebenschancen ausgemacht und das Selbstbewusstsein gestärkt. So können auch die Zukunft gestaltet, Krisen bewältigt und die Lust auf Veränderung geweckt werden (vgl. Ruhe 2009). Biografiearbeit ist daher nicht nur in der Arbeit mit Älteren ein wertvolles Werkzeug, sondern kann auch Jüngeren ein wichtiges Mittel auf dem Weg der Identitätsentfaltung sein und in altersheterogenen Settings dazu beitragen, Verschiedenheiten anzuerkennen. In einem Bildungssetting wird Lebensgeschichte zur Bildungsbiografie, die zugleich Resultat von Bildungsprozessen ist. Wichtig ist ein Lernen mit Lernbiografiebezug zur Bewusstmachung eigener Kompetenzen der Lernenden und dem Aufbrechen von etwaigen Lernhemmungen. Außerdem kann dieser Lernbiografiebezug in altersheterogenen Kursen zum besseren Verständnis der anderen Lernenden beitragen und dabei helfen, gemeinsame Lernstrategien zu entwickeln und von den Erfahrungen der anderen zu profitieren. Mittels Biografiearbeit kann der Stellenwert von Bildung in diversen Biografien analysiert werden. Biografisches Lernen wird also durch die Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Biografie ermöglicht. Biografiearbeit ist vielseitig einsetzbar, in unterschiedlichen Konstellationen, wie Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit und Kontexten, wie Familie, Schule, Arbeit etc. und für die verschiedensten Ziel- und Altersgruppen. Eine Einführung in die Methoden der Biografiearbeit ist daher in Mainstreaming Ageing unverzichtbar.

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Lernendenpsychologie Hier geht es vor allem darum, das Selbstbild der Lernenden zu stärken. Angesprochen wurden bereits verinnerlichte Altersbilder, die lernhemmend wirken können. Generell ist es wertvoll, an einem positiven Selbstbild der Lernenden zu arbeiten. Eine Möglichkeit zur Steigerung des Selbstvertrauens der Lernenden kann es sein, auf den Prozess des Lernens als Bereicherung zu fokussieren und weniger auf mögliche Lernergebnisse. Lernziele sollten von der/dem Lernenden selbst erarbeitet werden und – sofern möglich – nicht generell vorgegeben sein. Die eigene Lernbiografie kann, wie im vorigen Kapitel erwähnt, Ressource sein, um am Selbstbild zu arbeiten. Allerdings sollten ältere Lernende zu genaueren und reflektierteren Vergleichen in der Biografie angeregt werden, denn schnell kann sich der Defizitdiskurs („Früher lernte ich viel schneller“) einschleichen. Hier liegt es wieder an der Lehrperson unterstützend zur Seite zu stehen. Das Anlegen eines Lernportfolios kann ein hilfreiches Instrument sein. Lernen ist nicht nur ein Aneignen von Kompetenzen und Fachwissen, sondern immer auch Persönlichkeitsbildung, und das in jedem Alter. Eine Bewusstmachung der Ebenen der Veränderungen, die mit dem Lernen einhergehen, können ErwachsenenbildnerInnen dabei helfen einen bereichernden, altersgerechten Unterricht zu gestalten. Abgeleitet von den Ebenen der Veränderung von Bateson (1972) kann etwa auf der Ebene der Identität ein Aufbrechen von altersbezogenen Lernhemmungen stattfinden. Auf der Ebene des Glaubens und der Werte können Erwartungen, Ziele und Motivationen thematisiert werden. Die Aneignung von Strategien zur Kompensation von mangelnden Ressourcen kann auf der Ebene des Wissens, des Könnens und der Strategien stattfinden. Die Ebene des Verhaltens und der Fertigkeiten beinhaltet Kompetenzen, erlerntes Wissen, erfahrene soziale Beziehungen, Reflexion des Lebenslaufs. Auf der Ebene des Kontextes kann Raum für soziales Lernen Platz finden. Neben der Vermittlung von Fachwissen muss es genug Möglichkeiten geben, um Veränderungen auf den verschiedenen Ebenen anregen zu können. Intergeneratives Lernen In intergenerativen Kursen regiert oft das Senioritätsprinzip: Jüngeren erscheinen Ältere aufgrund ihres Mehr an Wissen und Erfahrung überlegen

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und SeniorInnen erhalten oft eine Führungsrolle, offensichtlich auch gesellschaftlich vermittelt. Franz und Scheunpflug (2009) sehen intergeneratives Lernen als eine Bewegung vom Senioritätsprinzip hin zum wechselseitigen Lernen. Ob diese Bewegung gelingen kann, ist abhängig davon, wie die Lernenden verschiedener Generationen zusammengeführt werden. Schmidt und Tippelt (2009) beschreiben drei Formen intergenerativen Lernens: •





„Voneinander Lernen“: Darunter verstehen die Autoren die unidirektionale Wissensweitergabe von einer Generation zu einer anderen. Ursprünglich erfolgte der Wissenstransfer von Älteren zu Jüngeren. In der heutigen Erwachsenenbildung findet sich aber oft das umgekehrte Verhältnis, jüngere Lehrende stehen älteren Kursteilnehmenden gegenüber. „Miteinander Lernen“: Dies ist die „intergenerative Wissenskonstruktion“, Junge und Ältere lernen gemeinsam. Sie erarbeiten einen Bereich, dessen Expertise außerhalb der Lernenden liegt. „Übereinander Lernen“: Hier geht es um gemeinsamen Austausch und Reflexion über „generationsspezifische Erfahrungen und Perspektiven“. Das ExpertInnenwissen liegt in den Teilnehmenden selbst.

In intergenerativen Kursen ist Lernen erfolgreich, wenn alle drei Lernformen auftreten können. Voneinander Lernen ist die Wissensvermittlung durch einen Experten/eine Expertin, sei es die Lehrperson, oder aber auch ein/e Lernende/r, wenn er/sie zum Beispiel ein Referat zu einem Thema hält. Miteinander Lernen soll von der Lehrperson angeregt werden und fordert nicht nur die Zusammenarbeit in der Gruppe, sondern auch autonomes Lernen und eventuell auch einen Austausch von Lernstrategien. Übereinander Lernen kann informell und spontan im Unterrichtssetting passieren, aber auch durch Impulse explizit von der Lehrperson angeregt werden. Es ist Aufgabe des Erwachsenenbildners/der Erwachsenenbildnerin, in altersheterogenen Kursen eine generationenfreundliche Atmosphäre zu schaffen. Das gemeinsame Erarbeiten eines Ziels muss im Vordergrund stehen und auch immer wieder explizit thematisiert werden. Ein aufeinander Zugehen und im nächsten Schritt aufeinander Eingehen verschiedener Altersgruppen muss von der Lehrperson angeleitet und im Laufe des Kurses immer wieder angeregt werden. Dazu ist es wichtig sich mit Gruppen-

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dynamik zu beschäftigen und entsprechende Methoden zur Verfügung zu haben. Gruppendynamik Zwischenmenschliche Beziehungen sind in jedem Bildungssetting ein entscheidender Faktor für Lernerfolg und Lernzufriedenheit und somit Weiterführung der Lernaktivitäten. Gerade in intergenerativen Kursen passiert es leicht, dass die gesellschaftliche Barriere zwischen Alt und Jung auch im Unterricht auftritt und sich altershomogene Subgruppen herausbilden, die ein bereicherndes, gemeinsames voneinander, übereinander und miteinander Lernen verhindern. Hier muss die Lehrkraft mit Feingefühl und methodischem Know-How gegensteuern und immer wieder gruppendynamische Übungen einbauen und das Lernen in der Gruppe ständig reflektieren. Gruppendynamische Übungen sollen Vertrauen schaffen, einzelne Lernende in Kontakt bringen, gemeinsame Ziele sichtbar machen, Gelegenheit bieten, Gemeinsamkeiten herauszufinden und gemeinsam Spaß zu haben, Zusammenhalt fördern und Lernpartnerschaften bilden, sowie eine wertschätzende Atmosphäre im Kurs ent- und bestehen lassen. Nur in einer vertrauten Atmosphäre des gegenseitigen Respekts kann Lernen auch eine bereichernde Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen. Daher wird in Mainstreaming Ageing eine Reihe methodischer Anregungen zur Steuerung der Gruppendynamik vermittelt.

AUSBLICK Die Anforderungen an ErwachsenenbildnerInnen sind hoch und steigen mit der Bedeutung von Bildung weiter. Lernen ist immer auch eine Persönlichkeitsentwicklung und Gestaltung des Lebenslaufs. Lernen im Alter bedeutet auch Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern und ist leider meist vom negativen Altersdiskurs der Gesellschaft überschattet. Für ErwachsenenbildnerInnen gilt es hier anzusetzen, einerseits das Individuum bei einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Alter so gut wie möglich zu unterstützen, andererseits, Lerngruppen zu moderieren und gegebenenfalls intergeneratives Lernen zu ermöglichen. Das sind Herausforderungen, die leicht zu Überforderung werden können.

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Wichtig ist hier auch der Rückhalt der Erwachsenenbildungseinrichtungen. Sie müssen ErwachsenenbildnerInnen Fortbildungen ermöglichen und Kurse so organisieren, dass das Arbeiten der Unterrichtenden erleichtert wird. Das beginnt bei der Beratung der Teilnehmenden vor Kursstart, geht über die Bereitstellung von Lernmaterialien und endet wahrscheinlich noch lange nicht bei der Ausstattung der Kursräume. Darüber hinaus gilt es auch an eine Weiterentwicklung von Kursangeboten zu denken. Bildung sollte nicht nur für, sondern auch mit Älteren gestaltet werden. So kann sichergestellt werden, dass auch Ältere ihre Kompetenzen einbringen können und natürlich könnten auch die Bildungseinrichtungen davon profitieren. Ein Empowerment Älterer könnte sie vom passiven Konsumenten zum aktiven Gestalter von Bildung machen. Vielleicht könnte so auch der weiteren sozialen Segmentierung der Erwachsenenbildung entgegengewirkt werden. Denn es wird sich weiter fortsetzen, dass Bildung nur etwas für Privilegierte ist und Bildungserfahrungen in der Kindheit auch das Bildungsverhalten im Alter prägen. Hier sind innovative Ideen gefragt, um dieser Segmentierung in jedem Alter entgegen wirken zu können. Außerdem sei noch erwähnt, dass auch die hohe kulturelle Verschiedenheit unter den heutigen und vor allem zukünftigen älteren Generationen sich in entsprechend differenzierten Bildungsangeboten wiederspiegeln muss. Mainstreaming Ageing für ErwachsenenbildnerInnen ist also nur ein kleiner Puzzleteil, der zu erfolgreichem Lernen auch im Alter und somit zu erfolgreichem Altern beitragen kann. Erwachsenenbildungsinstitutionen und Bildungspolitik müssen ihren Beitrag dazu ebenso leisten. Denn es soll nicht der Druck den Lehrpersonen aufgebürdet werden, die Verantwortung für positives Altern zu haben.

L ITERATUR Amann, Anton (2016): Zur Idee einer Kritischen Sozialgerontologie. In: Stöckl, Claudia/Kicker-Frisinghelli, Karin/Finker, Susanna (Hg.): Eine Gesellschaft des langen Lebens. Bielefeld: transcript, S. 17–28. Bateson, Gregory (1972): Steps to an ecology of mind. Collected essays in anthropology, psychiatry, evolution, and epistemology. Chicago: University of Chicago Press.

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Franz, Julia/Scheunpflug, Annette (2009): Zwischen Seniorität und Alterität. Eine empirische Rekonstruktion intergenerationellen Lernens. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 12 (3), S. 437–455. DOI: 10.1007/s11618-009-0084-0 Palmore, Erdman B. (1999): Ageism. Negative and Positive. New York: Springer Publishing Company. Ruhe, Hans G. (2009): Methoden der Biografiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen. Weinheim: Juventa. Schmidt, Bernhard/Tippelt, Rudolf (2009): Bildung Älterer und intergeneratives Lernen. In: Zeitschrift für Pädagogik 55, S. 73–90. Schneider, Käthe (2001): Bedeutung des Lernens für das Altern. In: Friedenthal-Haase, Martha/Meinhold, Gottfried/Schneider, Käthe/Zwiener, Ulrich (Hg.): Alt werden – alt sein. Lebensperspektiven aus verschiedenen Wissenschaften. Frankfurt/M.: Peter Lang, S. 227–243. Siebert, Horst (2012): Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung. Didaktik aus konstruktivistischer Sicht. Augsburg: Ziel. Veelken, Ludger (2003): Reifen und Altern. Geragogik kann man lernen. Oberhausen: Athena.

Die Leiblichkeit des Menschen in einer Pädagogik des Alters K ARIN K ICKER -F RISINGHELLI

Die Leiblichkeit des Menschen ist ein Thema, das in der Pädagogik nur am Rande eine Rolle spielt. Nicht allein in Bezug auf die verschiedenen Lebensalter werden Körper und Leib durchwegs ambivalent betrachtet. Die Leiblichkeit des Menschen gilt auf der einen Seite als konstante und notwendige Basis des Denkens und Handelns, die Erfahrungen in der Welt erst möglich macht. Seit der Antike wird der Pflege und Bildung des Körpers deshalb große Aufmerksamkeit geschenkt. Auf der anderen Seite scheint der Körper, scheint der Leib des Menschen Bedrohung und Gefahr zu sein, muss gebändigt, geformt, unter Kontrolle gebracht, verbessert oder verändert werden. In der folgenden Auseinandersetzung geht es mir zum einen darum, exemplarisch darzustellen, welche Zugänge zum Körper, zum Leib die Pädagogik über die Zeiten hinweg hatte. Damit werden zunächst die unterschiedlichen und ambivalenten Beurteilungen der leiblichen Dimension aufgezeigt. Im Hinblick auf die Lebensphase Alter, in der die Seite der Gefahren und Gebrechlichkeiten für gewöhnlich zu überwiegen scheint, fragt der Beitrag nach den Potentialen, die aus dem Thema Leiblichkeit zu ziehen wären und deutet Perspektiven an, die sich daraus für eine Pädagogik insgesamt, beispielhaft aber für das Alter, ergeben könnten. „Der Körper hat Konjunktur“ konstatieren die Herausgeber in der Einleitung des Werkes Leiblichkeit (Alloa et al. 2012, S. 1) und deuten verschiedene Dimensionen an, in denen der Körper – im Alltag genauso wie in der Wissenschaft – thematisiert wird. Man könnte meinen, in der Gesellschaft von heute wird der Körper überthematisiert. Wir sind ständig umge-

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ben von Körpernormen und Körperthemen. Wir gestalten und präsentieren unsere Körper, die für uns verfügbares und verführerisches Medium sind, wir halten uns jung und fit und das im Übermaß. Unter dem Aspekt des Alters kommen noch Konzepte des aktiven und produktiven Alterns hinzu, die wieder einen gesunden und fitten Körper und Geist voraussetzen. All diese Ausformungen sind einem ökonomistisch und neoliberalistisch geprägten Gesellschafts- und Menschenbildes zuzuordnen, denen ein Ziel inhärent ist: Den einzelnen Menschen auf der einen Seite für den (Arbeits-) Markt längstmöglich zur Verfügung zu haben und ihn, auf der anderen Seite, den staatlichen Versorgungssystemen so lange wie möglich fern zu halten. Alloa et al. sehen – in der Tradition der Phänomenologie – im Begriff des Leibes die Chance, in den wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs einzugreifen und diesen um eben die Perspektive des Leibes zu erweitern und damit der vorherrschenden einseitigen Sicht auf den Körper entgegen zu wirken (vgl. ebd.). Die deutsche Sprache kennt – wie so oft – zwei Begriffe: Körper und Leib. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch würden wir diesen kaum unterschiedliche Bedeutungen zuschreiben; wir empfinden das Wort Leib eventuell antiquiert in einer Zeit, in der der Körper überthematisiert wird. Im wissenschaftlichen Diskurs bemüht man sich um eine klare Differenzierung der beiden Begriffe, die insbesondere durch die Phänomenologie vorgenommen wird. Hier wird vom Körper als der objektiven, zu vermessenden materiellen Ausformung des Menschen gesprochen. Der Leib jedoch eröffnet – neben Körper und Geist – eine weitere Dimension menschlicher Existenz. Er ist als Grundphänomen des Menschen Ankerpunkt subjektiver Handlungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen. Im Wesentlichen bilden die Terminologien zwei „unterschiedliche[n] Perspektiven auf ‚dasselbe‘“ (Alloa et al. 2012, S. 2). Konzepte von Leib und Körper haben pädagogisches Handeln seit jeher beeinflusst. Die Pädagogik ihrerseits war auch immer wieder daran beteiligt, den Körper zu ertüchtigen oder den Menschen vor den Bedrohungen und Gefahren des Leibes zu bewahren. Die Reflexion und Analyse fokussiert nun auf die Frage, welche Perspektiven die Pädagogik dabei jeweils im Blick hatte und welche Momente sie dabei (eventuell) aussparte.

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HISTORISCHE UND

Meine beispielhaften historischen Betrachtungen pädagogischer Konzepte des Leibes beginnen im pädagogischen Jahrhundert (Joachim Heinrich Campe), d.h. im 18., Jahrhundert, in dem sich die Pädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin etablierte. Die Aufklärung brachte einige pädagogische Strömungen hervor, an dieser Stelle wird der Philanthropinismus betrachtet. Das zweite Beispiel wird das der Reformpädagogik sein, die sich um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert verorten lässt. Und ein abschließendes drittes Beispiel stammt aus der Gegenwart: Es ist die Hirnforschung, auf die in der Pädagogik zurzeit sehr gerne rekurriert wird. Der Philanthropinismus Etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in Deutschland, neben anderen pädagogischen Strömungen, jene des Philanthropinismus, der als ein wesentliches Beispiel einer Pädagogik der Aufklärung einzuordnen ist. Die Philanthropen sahen den Menschen als grundsätzlich gutes Wesen an, dem sie zu seiner Vervollkommnung verhelfen wollten und diese lag im Gebrauch der Vernunft. Vertreter des Philanthropinismus, wie Basedow (Johann Bernhard, 1724–1790) und Salzmann (Christian Gotthilf, 1744–1811) gründeten Schulen, die sich als Alternativen zu den bislang vorherrschenden kirchlichen Erziehungstraditionen verstanden. Die Schulen der Philanthropen verfolgten eine utilitaristische Erziehung, eine Erziehung zur Brauchbarkeit im Hinblick auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Anforderungen, entsprachen damit den aufkommenden Erfordernissen einer neuen Gesellschaftsstruktur und dem sich entwickelndem Bürgertum. Sie verfolgten neue Methoden des Unterrichtens, die eigene Aktivität der Kinder und das Schaffen einer entsprechenden Umgebung waren zentrale Momente. Körperliche Arbeit und Leibeserziehung waren selbstverständlicher Bestandteil in einem Unterricht, der die Kinder und Jugendlichen mit den aktuellen Tugenden der Gesellschaft (Fleiß, Hygiene, Ordnung,…) vertraut machen und sie auf ein bestmögliches Leben in dieser Gesellschaft vorbereiten wollte (vgl. Meyer-Drawe 2004, S. 615). Der Körper, der Leib spielte in der philanthropischen Erziehung eine zentrale Rolle. Auf der einen Seite wurde davon ausgegangen, „daß zur Er-

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ziehung auch eine gewisse Abhärtung des Körpers gehöre“ (Salzmann 1805/2007, S. 12), dass Erziehung nur gelingen könne, wenn die zu erziehenden Kinder gesund wären. Ihre Gesundheit zu erhalten war deshalb wesentlicher Bestandteil der Erziehertätigkeit (vgl. ebd., S. 36ff.). Auf der anderen Seite verweist Salzmann „auf den wichtigsten Teil der Erziehung, auf die Gewöhnung zur Sittlichkeit“ (ebd., S. 63), denn seine Würde könne der Mensch nur erlangen, wenn er seine Triebe, seine Begierden unter Kontrolle habe, nur dann könne er der Gesellschaft einen Nutzen bringen (vgl. ebd.). Die kindliche Entwicklung folge, nach Salzmann, natürlich gegebenen Abläufen, von der körperlichen über die Ebene der Vorstellungen, der Sinnlichkeit hin zu der Ebene der Einbildungskraft. Zuletzt, am Ende der Kindheit, entwickle sich die Vernunft (vgl. ebd., S. 34f.). Erziehung sei die „Entwicklung und Übung der jugendlichen Kräfte“ (ebd., S. 33), müsse sich also an den natürlichen Stufen orientieren und den Kindern Gelegenheit bieten, selbst tätig zu sein und zu üben. Mit „Gegenständen, die in die Sinne fallen“ (ebd., S. 42), seien es Tiere, Pflanzen, Werkzeuge usw., könne man für die Kinder entsprechende Anlässe schaffen. An Salzmanns Ausführungen wird deutlich, dass seine Erziehungspraxis am Leib und Körper der Kinder ansetzte. Die Kinder sollten mit ihrem ganzen Körper, mit ihrem ganzen Leib aktiv sein, über all ihre Sinne erfahren, empfinden, sich die Dinge vorstellen und darüber urteilen (vgl. ebd., S. 57ff.). Neben diesen neuen erzieherischen Methoden entstand in den philanthropischen Anstalten der Unterricht in den Leibesübungen, der Turnunterricht. Hier sei Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759–1839) genannt, der in der Erziehungsanstalt Salzmanns, in Schnepfenthal, den Unterricht in den Leibesübungen etablierte. GutsMuths unterrichtete Geografie und Sport, und wird als erster Sportpädagoge angesehen, da er neben seiner Unterrichtspraxis auch Schriften veröffentlichte, die die danach folgende Entwicklung der Sportpädagogik maßgeblich beeinflusst haben1. GutsMuths Ziel war es, an der Vervollkommnung seiner Zöglinge und an deren Leis-

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Beispielhaft genannt seien hier das erste Lehrbuch für körperliche Erziehung: Gymnastik für die Jugend aus dem Jahr 1793 und das Werk Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und Geistes für die Jugend, ihre Erzieher und alle Freunde unschuldiger Jugendfreuden (1796).

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tungssteigerung zu arbeiten. Aus diesem Grunde war es für ihn wesentlich, auf die individuellen Bedingungen der Kinder einzugehen. Zusammenfassend lässt sich über die Philanthropen sagen, dass sie den Körper und den Leib als zentral ansahen für die Entwicklung der jungen Menschen und sie ihn deshalb zu einem Instrument der Erziehung machten. Das Ziel philanthropischer Erziehung war es, der Vernunft des Menschen auf die Sprünge zu helfen. Seine Vernunft konnte der Mensch allerdings nur gebrauchen, wenn er seine leiblichen Triebe beherrschen konnte und dadurch frei von diesen wurde. Nur dann konnte er nützlich für die Gesellschaft sein. Es ging den Philanthropen also um die Kontrolle des Körpers und des Leibes zum Nutzen der Gesellschaft, womit sie sowohl die Vervollkommnung des und der Einzelnen als auch jene der Gesellschaft vorantreiben wollten. Die Reformpädagogik Als Reformpädagogik bezeichnet man in der Pädagogik die Zeit um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert, in der veränderte und neue pädagogische Bewegungen ihren Ausgang nahmen. Dazu zählen „Jugendbewegung, Kunsterziehungsbewegung, Arbeitsschulbewegung, Landerziehungsheime, die Pädagogik vom Kinde aus, Waldorfschule sowie Einheitsschulbewegung und Volkshochschulbewegung“ (Böhm 2005, S. 527). Die Reformpädagogik war in ihrem Ursprung eingebettet in eine Welle umfassender Reformbewegungen – die als ‚Lebensreform‘ bezeichnet wird und zum einen Kritik an den bürgerlichen und aristokratischen Lebensformen übte, zum anderen auch die Lebensbedingungen der Arbeiterschicht hinterfragte. Ein wichtiges Moment der Lebensreformbewegungen war der menschliche Körper, der von zwei Gesellschaftsschichten aus in den Blick genommen wurde: Auf der einen Seite sorgten sich die unteren Schichten um Folgen der Industrialisierung und Verstädterung, auf der anderen Seite waren die oberen Schichten darum bemüht, sich von den Normen und Moralvorstellungen der Aristokratie und des Bürgertums freizumachen. Beide gesellschaftlichen Schichten trugen dazu bei, dass der Körper durch Ideen wie der vegetarischen Ernährung, der Sexual- und Kleiderreformen oder der Turnbewegung thematisiert bzw. (wieder-)entdeckt wurde. Angestrebt wurden naturnahe Lebensweisen, die in biologischer Landwirtschaft, Naturheilkunde, und anderen spirituellen Strömungen zum Ausdruck gebracht

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wurden und sich gegen die Industrialisierung, Technisierung und damit einhergehende demografische Veränderungen wandten (vgl. Böhme 2001, S. 149). Im Bereich der Pädagogik kam einiges in Gang: durch Jugend-, Arbeiter- und Frauenbewegung beispielsweise eröffneten sich völlig neue pädagogische und sozialpädagogische Handlungsfelder (vgl. Gudjons 2008, S. 99f.), doch wurden auch die traditionellen Schul- und Erziehungssysteme kritisch hinterfragt. Es entstanden neue Schul- und Erziehungskonzepte, von denen beispielsweise die Waldorf- oder Montessoripädagogik bis heute noch weiterbestehen und einen breiten Bekanntheitsgrad erlangt haben. Großen Einfluss auf pädagogische Tendenzen der Zeit der Reformpädagogik hatte die Schwedin Ellen Key mit ihrem Werk Das Jahrhundert des Kindes (1902). Neben diesen bekannten gab es eine Vielzahl anderer größerer und kleinerer reformpädagogischer Bemühungen und Entwicklungen, die das Erziehungssystem bis heute beeinflusst haben. Die hier genannten Strömungen entwickelten ein Körper- und Leibesbild weiter, das von Idealen geprägt war. Zum einen wollte man dem Anspruch gerecht werden, das Kind und seine Entwicklung aus dessen Perspektive zu betrachten und daraus veränderte pädagogische Handlungen ableiten. Zum anderen wurde der Mensch mit seinem Körper idealisiert und auch in diesem Hinblick stand der Mensch mit seinem Körper im Zentrum des Interesses. Man suchte Befreiung von Konventionen und Normen und schuf gleichzeitig neue. In den Schriften dieser Zeit fanden sich, neben wesentlichen neuen Impulsen für die Pädagogik, auch rassehygienische und eugenische Implikationen, auf denen – in radikalisierter und veränderter Form – auch die nationalsozialistische Ideologie aufsetzen konnte. Die Hirnforschung Seit den 1990er Jahren stehen in den pädagogischen Disziplinen vermehrt neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur Diskussion. In diesem Diskurs lassen sich zwei Themenfelder erkennen: Zum einen zielt die Forderung auf eine mehr „kind- bzw. ‚gehirnorientierte‘ Pädagogik“ ab, zum anderen geht es in der Rezeption um Wissenschaftstheorie und Kritik, wobei die erste Dimension die gewichtigere ist (vgl. Becker 2014, S. 217). Es ist vor allem die Lehr- und Lernforschung, die auf den Zug der Neurowissenschaften aufgesprungen ist. Seit PISA und dem damit zusammenhängenden Bedürf-

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nis nach empirischer Datenlage kann mit den Neurowissenschaften zumindest dieser Nachfrage gestillt werden (vgl. ebd., S. 219), wobei hier durchaus kritisch angemerkt werden muss, dass die Neurowissenschaften keine neuen Erkenntnisse liefern, sondern innerhalb der Pädagogik bereits Bekanntes empirisch untermauern (vgl. Herrmann 2004, S. 471f.), jedoch nicht imstande sind, daraus konkrete Empfehlungen für die pädagogische Praxis abzuleiten (vgl. Becker 2014, S. 220). Unabhängig von nicht existierenden pädagogischen Empfehlungen oder neuen pädagogischen Theorieentwicklungen reduziert die Neurowissenschaft den Menschen auf sein Gehirn und marginalisiert damit nicht nur die Leiblichkeit des Menschen sondern gleichzeitig auch seine Subjekthaftigkeit. Für die Neurowissenschaften ist es das Gehirn, das lernt, denkt und alle anderen Dinge übernimmt, die üblicherweise als Tätigkeiten dem Leib zugeschrieben werden (vgl. Reichenbach 2014, S. 332). Parallel zur Reduktion des Menschen auf sein Gehirn bzw. seine Gehirnprozesse nimmt die Ansicht zu, dass der Mensch bzw. das Gehirn eine Maschine sei. Wir scheinen es mit einer Wiederentdeckung des Descartes‘schen Dualismus zu tun zu haben, allerdings mit einer wichtigen Verschiebung: Während Descartes Geist (res cognitans) und Materie (res extensa) gegenüber stellte, wird heute das Verhältnis von Gehirn und Geist untersucht. Der restliche Körper spielt keine wesentliche Rolle. Das Gehirn wird als Computer und Schaltzentrale gesehen und auch so bezeichnet, Kinder und Menschen funktionieren demnach also – und falls das nicht der Fall ist, könne man sie ganz einfach wieder reparieren. Dies radikalisiert sich in den Bemühungen mancher HirnforscherInnen zu belegen, dass der Mensch keinen freien Willen hätte. In diesem Diskurs werden Autonomie und Vernunft, die beständigen Themen und Ziele der Bildung, zur Illusion und damit obsolet. Wie also kann und soll pädagogisches Handeln unter diesen Bedingungen argumentiert werden? Problematisch sind diese deterministischen, kausalistischen Argumentationsweisen vor allem, da sie unreflektiert und nicht kritisch rezipiert werden (vgl. Rittelmeyer 2013, S. 237ff.). Rittelmeyer weist anhand eigener empirischer Untersuchungen darauf hin, dass es nicht alleine die Gehirnprozesse sein können, die für Wahrnehmungen, Urteile und Gedankengänge der Menschen zuständig sind. So stellte er fest, dass beispielsweise Raum (Architektur) und Farbe über alle Sinne und demnach vom gesamten Leib wahrgenommen werden, bevor das Individuum entsprechend empfindet und beurteilt. Diese Tätigkeiten sind somit nicht allein auf eine Tätigkeit des Ge-

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hirns zu reduzieren, sie basieren auf Abläufen, die den gesamten Leib umfassen. An unseren Wahrnehmungen und Empfindungen ist der gesamte Leib beteiligt (vgl. ebd., S. 241ff.). Und diese gesamtleibliche Perspektive gilt es für pädagogische Theorien und Ableitungen in den Blick zu nehmen.

D AS ALTER , DER ALTERNDE L EIB UND DIE P ÄDAGOGIK In unserer Gesellschaft wird das Alter(n) und der alte(rnde) Körper, ambivalent gedeutet. Auf der einen Seite entspricht der alte Körper nicht mehr den Normen und Geboten (bspw. jung, gesund, fit, mobil), andererseits werden die Menschen aber immer älter. Der Körper verändert sich im Prozess des Alterns zunehmend und entfernt sich mehr und mehr von besagten Idealen und Normvorgaben und das stellt manch alternde und alte Menschen vor große Fragen bezüglich ihrer Identität. Mit dem eigenen Leib erfahren und nehmen die Menschen die Veränderungsprozesse beim und im Alter(n) wahr und müssen sich auch eingestehen, dass ihnen ihr Leib, ihr Körper nicht (mehr) völlig verfügbar ist. Das steht dem vorherrschenden Körperbild entgegen, das uns doch immer vermittelt, den Körper unter Kontrolle haben zu können. Weder gehen Wissenschaft und Praxis in einem ausreichenden Ausmaß auf die Leiblichkeit des Menschen ein, noch wird der Leiblichkeit im Hinblick auf individuelle Entwicklung und Erfahrung genügend Rechnung getragen (vgl. Blum-Lehmann 2008, S. 202). Dieses Defizit ist nicht nur in der Gerontologie zu beklagen, auch die Pädagogik spart dieses Feld aus und nutzt etwaige Potentiale für eine Weiterentwicklung einer Pädagogik des Alters nicht. In der Disziplin findet man bislang einige Initiativen und Konzepte, die sich dem aktiven und produktiven Altern verschrieben haben, also dem wirtschaftlich und politisch festgelegten Altersbild entsprechen und die Tendenz von Normativität und moralischer Verpflichtung in sich tragen und weiterschreiben. Aus den Konzepten des Aktiven Alter(n)s, des Erfolgreichen Alter(n)s und des Produktiven Alter(n)s resultieren Optimierungsansprüche an den einzelnen Menschen (vgl. Pichler 2011, S. 04-3). Die Optimierung zielt zum einen darauf ab, gesund und fit zu bleiben um – zum anderen – lange und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben, also aktiv sein zu können. Gesellschaftliche

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Erwartungen richten sich an die Pädagogik, die hier mit entsprechenden Bildungs- und Lernangeboten einen Beitrag zum Gelingen der Optimierung leisten soll oder kann. Als relevante Disziplinen können die Erwachsenenbildung und die noch sehr junge Geragogik genannt werden, doch auch (betriebliche) Gesundheitsförderung oder Bildungsarbeit in Bibliotheken, können hier eingeordnet werden2. Im Kontext des aktiven Alterns und den entsprechenden Optimierungsdiskursen gerät der Leib aber – wie bereits in den einleitenden Worten erwähnt – schnell und leicht in Vergessenheit. Diese ‚Leibvergessenheit’ zieht sich, wie auch anhand der historischen Beispiele deutlich wurde, durch die Pädagogik. Wenn heute davon die Rede ist, dass „[D]as Ziel geragogischer Arbeit lautet: Potentiale, individuelle Ressourcen und Erfahrungen der älteren Generation zu erschließen und für die Gesellschaft nutzbar zu machen“ (Mitterlechner 2011, S. 15-2), rückt die Optimierung der Gesellschaft in den Mittelpunkt die einen Nutzen aus dem Humankapital der älteren Generation ziehen kann. Greift eine solche Idee der Geragogik nicht zu kurz? Sollte die Geragogik denn nicht vielmehr nach dem Nutzen für ihre direkte Zielgruppe fragen, den älteren Person, an die sich ihre Angebote richten? Noch einen Schritt weiter: Sollte sich das Interesse nicht eher auf das Leben der einzelnen Personen und deren aktuelle Lebensvollzüge richten anstatt den Nutzen zu fokussieren? Folgt man den Gedanken von Thomas Rentsch, zeigt sich in den Lebensvollzügen der einzelnen Menschen das jeweilige „Werden zu sich selbst“ (Rentsch 2012, S. 189). Es ist diese praktische Lebenssituation, die jeweilige Einheit, die sich mittels des Leibes bildet; der Leib gilt „als das Prinzip der Individuation“ (ebd., S. 192), das dem Menschen – und dessen Leben – Gestalt verleiht. Der Mensch ist von Beginn an ein fragiles Wesen, ist zeit seines Lebens gewissen Risiken und Problemen ausgesetzt, gleichzeitig besteht für ihn aber sein Leben lang die Möglichkeit zum Glück. Mit dem Alter(n) spitzen sich gewisse Bedingungen zu, Rentsch spricht hier von „Radikalisierung“, und zielt damit neben den Aspekten, die „das psychische Altern, das soziale Altern und das kulturelle Altern“ mit sich bringen auf „das physische Altern“ ab. Körperliche und leibliche Verfassung verändern sich in einer negativen Art und der Körper und der Leib drängen

2

Vgl. dazu bspw. den Themenschwerpunkt „Erwachsenenbildung als Faktor aktiven Alterns“, Ausgabe 13, 2011 des Magazins Erwachsenenbildung.

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sich dem Menschen mehr und mehr auf. Trotz, oder gerade wegen dieser inhärenten Negativität plädiert Rentsch dafür, das Alter und das Altern als Chance zu sehen (vgl. ebd., S. 198f.). Malte Brinkmann überlegt im Zusammenhang mit Bildung im Alter, dass „die leibliche Erfahrung des Alterns […] als Selbstentfremdung negativ erfahren, aber reflexiv produktiv verstanden werden kann“ (Brinkmann 2006, S. 323). Doch werden gerade diese Aspekte des Alter(n)s bislang nicht als Potential von Lern- und Bildungsangeboten gesehen. Eine Umorientierung oder Neuausrichtung der Pädagogik, der Erwachsenenbildung und auch der Geragogik, die Körperlichkeit und Leiblichkeit mit all ihren Facetten thematisiert und berücksichtigt, wäre wünschenswert. Denn Altern und Alter sind immer auch in ihrer Ambiguität zu betrachten. Eine Pädagogik, so meint schließlich auch Pichler (2011), die die negativen Seiten des Körpers und der Leiblichkeit im Prozess des Alterns berücksichtigt, die das Andere, Unverfügbare, das Gebrochene nicht ausschließt sondern anerkennt und darin Ressourcen für Bildungsarbeit entdeckt, würde wohl einen wichtigen Beitrag leisten zu einem würdevolleren Umgang mit dem Alter(n) in unserer Gesellschaft.

L ITERATUR Alloa, Emmanuel/Bedorf, Thomas/Grüny, Christian/Klass, Tobias Nikolaus (Hg.) (2012): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzeptes. Tübingen: Mohr Siebeck. Becker, Nicole (2014): Mehr verstehen, besser handeln? Zum Verhältnis von Pädagogik und Neurowissenschaften. In: Zeitschrift für Pädagogik 60 (Beiheft 60), S. 208–225. Blum-Lehmann, Susanne (2008): Hinfälligkeit und Begrenztheit als Entwicklungschance im Alter. Die Bedeutung der leiblichen Erfahrung des hinfälligen Körpers für Entwicklung und Identität von hochaltrigen Menschen. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 41 (3), S. 201– 207. DOI: 10.1007/s00391-008-0548-5 Böhm, Winfried (2005): Wörterbuch der Pädagogik. 16., vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart: Alfred Körner Verlag. Böhme, Gernot (2001): Anfänge der Leibphilosophie im 19. Jahrhundert. In: Buchholz, Kai/Latocha, Rita/Peckmann, Hilke/Wolbert, Klaus

D IE L EIBLICHKEIT

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(Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Darmstadt: Verlag Häusser, S. 149–150. Brinkmann, Malte (2006): Leiblichkeit und Passivität – Überlegungen zur Negativität von Bildung im Alter. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 82 (3), S. 322–338. Gudjons, Herbert (2008): Pädagogisches Grundwissen. 10. Auflage, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. Herrmann, Ulrich (2004): Gehirnforschung und die Pädagogik des Lehrens und Lernens: Auf dem Weg zu einer „Neurodidaktik“? In: Zeitschrift für Pädagogik 50 (4), S. 471–474. Key, Ellen (1902): Das Jahrhundert des Kindes: Studien. 2. Auflage, Berlin: S. Fischer Verlag. Meyer-Drawe, Käte (2004): Leiblichkeit. In: Benner, Dietrich/Oelkers, Jürgen (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim, Basel: Beltz Verlag, S. 603–619. Mitterlechner, Christine (2011): Geragogin? Geragoge? Ein neuer Beruf für Bildung und Lernen im Alter(n). In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 13. Online verfügbar unter: http://erwachsenenbildung.at/magazin/11-13/ meb11-13.pdf (2015-10-20). Pichler, Barbara (2011): Revoltierendes Anerkennen des Alter(n)s. Für eine unzeitgemäße Sicht auf das Alter. In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 13. Online verfügbar unter: http://erwachsenenbildung.at/magazin/11-13/ meb11-13.pdf (2015-10-20). Reichenbach, Roland (2014): „Wie aus der Hirnforschung bekannt ist…“. Zur pädagogischen Metaphysik eines Organs, ohne das es einfach auch nicht geht. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83 (4), S. 331–334. DOI: 10.2378/vhn2014.art30d Rentsch, Thomas (2012): Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit. In: Rentsch, Thomas/Vollmann, Morris (Hg.): Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen. Stuttgart: Reclam, S. 189–206. Rittelmeyer, Christian (2013): Vom Nutzen und Nachteil der Gehirnforschung für die Pädagogik. In: Bilstein, Johannes/Brumlik, Micha (Hg.): Die Bildung des Körpers. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 233–246.

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Salzmann, Christian Gotthilf (1805/2007): Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher. St. Goar: Reichl.

Diversität und Selbstbestimmung – Gefährdungen im Alter

Autonomie und Freiheit als Menschenrechte im Alter? Aktuelle Rechtsprechung im Hinblick auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Pflegeeinrichtungen nach HeimAufG – Eine kritische Würdigung T ANJA W URM

Der demografische Wandel impliziert die Notwendigkeit einer adäquaten Versorgung älterer, oft multimorbider Menschen. Sowohl physische als auch psychische Gebrechen tragen dazu bei, dass sich immer mehr ältere Menschen nicht mehr selbst versorgen können (vgl. WHO 2011). Daraus resultiert ein erhöhter Betreuungsbedarf durch Dritte (vgl. WHO 2013). Bei einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustands können Personen häufig von den Angehörigen nicht mehr adäquat betreut werden und die Verantwortung muss an eine Pflegeeinrichtung delegiert werden. Aufgrund vielfältiger Erkrankungen können freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Pflegeeinrichtungen erforderlich sein. Sie zählen zu den wissenschaftlich relevanten Pflegeproblemen. Internationale Inzidenzraten zeigen, dass zwischen 8 und 33 % der Krankenhäuser freiheitsbe- bzw. einschränkende Maßnahmen im Rahmen der Versorgung anwenden, während in Pflegeheimen die Inzidenz mit Zahlen zwischen 15 und 66 % noch weitaus höher ausfällt. Mögliche Folgen für die BewohnerInnen sind Hämatome, Dekubitus, Inkontinenz, Mangelernährung, Pflegeabhängigkeit, Unruhe und psychische Belastungen (vgl. Lohrmann/Bauer/Mandl 2014). Diese

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Folgen können mitunter sehr schwerwiegend für die Betroffenen sein. Es geht letztendlich nicht nur um das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Freiheit, sondern es geht auch darum, etwaige Verschlechterungen des Gesundheitszustandes zu verhindern (vgl. Kopetzki in Korinek/Holoubek 2013). Der räumliche Geltungsbereich des HeimAufG erstreckt sich auf das österreichische Bundesgebiet. Sachlich davon erfasst sind Alten- und Pflegeheime, die im Rahmen dieser Arbeit in den Fokus gerückt werden sollen. Zahlreiche Publikationen aus juristischer Perspektive beschäftigen sich mit dem HeimAufG und der Umsetzung des § 3 leg cit näher. Allerdings fehlt eine Betrachtung, die realitätsnahe, pflegewissenschaftliche Aspekte mitberücksichtigt, um Stärken und Schwächen der bestehenden Gesetzeslage aufzeigen zu können. Es wird daher in diesem Beitrag versucht, eine Abwägung vorzunehmen, inwieweit § 3 leg cit in der Lage sein kann, den Anforderungen des Pflegealltages für BewohnerInnen und Betreuungspersonen zu genügen. Dazu werden drei rezente höchstgerichtliche Entscheidungen untersucht und anschließend Verbesserungspotenziale aufgezeigt.

F REIHEITSBESCHRÄNKENDE M ASSNAHMEN I S D H EIM AUF G Die Generalklausel, die im § 2 Abs 1 1.Satz 2. HS HeimAufG enthalten ist, setzt kumulativ die folgenden Elemente für eine Anwendbarkeit des HeimAufG voraus. • • • •

Mindestgröße von drei Pflegeplätzen Pflege von psychisch kranken oder beeinträchtigten Menschen Ständige Betreuung oder Pflege wegen dieser Erkrankungen Heimartige Struktur

Im Folgenden soll auf den Anwendungsbereich des HeimAufG in Altenund Pflegeheimen anhand von Fällen eingegangen werden, die an den OGH in letzter Zeit herangetragen wurden. Zuallererst soll geklärt werden, welche Maßnahmen als freiheitsbeschränkend iSd HeimAufG zu qualifizieren sind, da dies die Voraussetzung ist, um eine Zulässigkeitsprüfung entsprechend den §§ 4 ff HeimAufG

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überhaupt in Betracht ziehen und vornehmen zu können. Die Zulässigkeit einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme (§ 4 leg cit) ist nur dann gegeben, wenn die BewohnerInnen an einer psychischen Krankheit leiden oder geistig behindert sind und wegen dieser Krankheit oder Behinderung eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen (vgl. Ganner 2001, S. 65). Eine Gefahr von geringfügigem Ausmaß rechtfertigt die Anordnung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen nicht.1 § 3 Abs 1 HeimAufG lautet folgendermaßen: „Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes liegt vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (im Folgenden Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird.“ Gem Abs 2 leg cit liegt eine Freiheitsbeschränkung nicht vor, „wenn der einsichts- und urteilsfähige Bewohner einer Unterbindung der Ortsveränderung, insbesondere im Rahmen eines Vertrages über die ärztliche Behandlung, zugestimmt hat.“

Eine freiheitsbeschränkende Maßnahme iSd Gesetzes liegt also nur dann vor, wenn sich die Maßnahme auf einen räumlich abgegrenzten Bereich bezieht (vgl. Kopetzki 1995, S. 253; 1995a, S. 153ff.). Als relevante Freiheitsbeschränkungen sind jedenfalls alle Beschränkungen zu betrachten, die es der betreuten Person unmöglich machen, einen Ortswechsel mittels eigenem und freiem Willen vorzunehmen. Diese Einschränkung muss der betroffenen Person aber nicht bekannt und auch nicht bewusst sein.2 Es ist also irrelevant für die Beurteilung, ob eine Person weiß, dass z.B. die Gitter

1

Freiheitsbeschränkende Maßnahmen werden entweder durch die zuständigen Ärzt_innen oder durch den gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege im Rahmen der Durchführung von Maßnahmen im eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich (§ 14 GuKG) verordnet.

2

Vgl. OGH 30.8.2006, 7 Ob 144/06m, iFamZ 2007/19 (38); OGH 28.3.2007, 7 Ob 19/07f, iFamZ 2007/101 (206).

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des Bettes hochgestellt wurden oder nicht. Ebenfalls irrelevant sind das genaue räumliche Ausmaß, sowie die Dauer der Beschränkung.3 Als freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu qualifizierende Handlungen iSd HeimAufG sind mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen zu verstehen, die den BewohnerInnenwillen beschränken. Für eine mechanische Einschränkung der Bewegungsfreiheit gibt es zahlreiche Beispiele wie etwa: • • • •

Versperrte Ein- bzw. Ausgänge Versperrte Zimmertüren Direkter körperlicher Kontakt durch eine Pflegeperson Jegliche Arten von Fixierungen

Als elektronische Einschränkungen sind die folgenden Handlungen zu qualifizieren: • •

Das Anbringen von Alarmarmbändern, wenn eine Person den Ausgangsbereich betritt Verwendung von Lichtschranken, Peilsendern und Videoüberwachung

Als medikamentöse Einschränkung ist der Einsatz folgender Medikamente zu qualifizieren (vgl. Moser 2010, S. 54): •

3

Die Verabreichung von sedierenden Wirkstoffen (hauptsächlich Psychopharmaka wie Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizer aber auch Nicht-Psychopharmaka wie Opioide und Schlafmittel (vgl. Janoch 2010, S. 51).

Vgl OGH 30.8.2006, 7 Ob 144/06m, iFamZ 2007/19 (38); OGH 28.3.2007, 7 Ob 19/07f, iFamZ 2007/101 (206).

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Entsprechend dem OGH ist zur Beurteilung der Frage, ob eine Medikation bzw. der Einsatz von kombiniert verabreichten Medikamenten als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren ist, von der Klärung der folgenden Vorfragen abhängig:4 • •



Welchen therapeutischen Zweck verfolgt die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente? Wurden die Medikamente – insbesondere in der den BewohnerInnen verabreichten Dosierung und Kombination – dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt? Welche konkrete Wirkung war für die BewohnerIinnen mit dem Einsatz dieser verbunden?

Erst danach ließe sich die Qualifikation der Medikation als freiheitsbeschränkende Maßnahme vornehmen. Dass eine Feststellung von derartigen Maßnahmen aber nicht nur im Zusammenhang mit einer Verabreichung von Medikation mitunter schwierig sein kann, zeigen die nachfolgenden höchstgerichtlichen Entscheidungen.

AKTUELLE J UDIKATUR

ZUM

H EIM AUF G

Im Folgenden soll anhand von drei aktuellen Fällen festgestellt werden, ob und in welchem Ausmaß das HeimAufG greifen kann und welche Verbesserungspotenziale hinsichtlich der bestehenden Gesetzgebung denkbar wären.

4

Diese Vorfragen entwickelte der OGH in zahlreichen Entscheidungen zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen wie etwa in: OGH 13.09.2006 7 Ob 186/06p; OGH 29.05.2008 2 Ob 77/08z; OGH 26.02.2009 1 Ob 21/09h; OGH 13.11.2013 7 Ob 193/13b; OGH 29.01.2014 7 Ob 240/13i, OGH 19.03.2014 7 Ob 32/14b; OGH 21.05.2014 7 Ob 77/14w; OGH 29.10.2014 7 Ob 139/14p.

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Entscheidung 7 Ob 209/13f – Keine Freiheitsbeschränkung durch Anlegen eines Overalls Sachverhalt Die Bewohnerin befand sich in einer Krankenanstalt iSd § 2 Abs 1 HeimAufG. Sie war besachwaltet, bezog Pflegegeld der Stufe 5 und litt an hochgradiger seniler Demenz vom Typ Morbus Alzheimer, der im Grunde mit extremer motorischer Unruhe einhergeht. Physiotherapeutische Behandlungsversuche scheiterten und wurden daraufhin eingestellt. Der behandelnde Arzt vermerkte im Medikamentenblatt am 07.12.2012 „Overall nachts und tags“. Diese Anordnung nahm er vor, weil sich die Bewohnerin ständig abdeckte und auskühlte. Außerdem sollte Stuhlschmieren verhindert werden. Der Overall hatte lange Ärmel und Beine und war hinten zu schließen. Dieser Umstand führte dazu, dass die Bewohnerin ihn selbst, etwa bei zu starkem Wärmegefühl, nicht ausziehen konnte. Rechtliche Beurteilung ISd § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern. Dabei ist zunächst die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf einen räumlich abgegrenzten Bereich zu beachten. Eine mechanische Freiheitsbeschränkung läge iSd OGH vor, wenn spezielle Möbel, Kleidung oder Vorrichtungen verhinderten, dass sich BewohnerInnen frei von einem Ort zum anderen bewegen könnten (vgl. Barth/Engel 2004, § 3 HeimAufG). Mit dem Anziehen des Overalls war keine Beschränkung der Bewegungsfreiheit durch irgendeine Form des Festbindens verbunden. Das Anlegen des am Rücken verschließbaren Overalls bedeutete zwar eine merkbare Einschränkung, weil die Bewohnerin ihn selbst nicht ablegen konnte, jedoch keine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 Abs 1 HeimAufG. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten konnte sie sich frei bewegen. Die Motorik wurde durch den Overall nicht beschränkt. Ein Verlassen des Bettes, sowie eine Ortsveränderung wurden nicht unterbunden. Ein Verlassen der Krankenanstalt war durch den Anzug ebenfalls nicht gefährdet. Der Umstand allein, dass sich

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die Bewohnerin den Overall nicht an- bzw. ausziehen konnte, führe zu keiner anderen Beurteilung, als dass das Tatbestandsmerkmal der Freiheitsbeschränkung nicht erfüllt sei. Entscheidung 7 Ob 33/14z 5– Freiheitsbeschränkung durch Einsperren in das Zimmer Sachverhalt Einer Bewohnerin einer Einrichtung iSd § 2 Abs 1 HeimAufG wurde das Zimmer versperrt, weil ein anderer dementer Bewohner nachts fremde Zimmer betrat und sich in fremde Betten legte. Um 19:00 wurden daher die Zimmer versperrt und erst am nächsten Tag um 07:30 wieder geöffnet. Lediglich für Kontrollgänge durch das Pflegepersonal in der Nacht wurden die Zimmer geöffnet. Die Bewohnerin war außerstande aufzustehen und sich fortzubewegen. Vielmehr lag sie regungslos (nach einem Aneurysma) im Bett. Sie musste aus dem Bett gehoben und in den Gemeinschaftsraum bzw. in den Garten gebracht werden. Nur selten gab sie unverständliche Worte von sich. Rechtliche Beurteilung Das Erstgericht wies den Antrag der Einrichtungsleiterin auf Überprüfung der Maßnahme ab. Dies wurde damit gerechtfertigt, dass keine Anzeichen vorlägen, dass die Bewohnerin noch entscheidungsfähig wäre. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung mit der Begründung, dass die Bewohnerin nicht in der Lage wäre, eine Ortsveränderung selbständig und vor allem willentlich vorzunehmen. Im Rahmen des Revisionsrekurses entschied der OGH, dass nach den ErlRV6 keine Freiheitsbeschränkung vorliege, wenn sich die betreute oder gepflegte Person auch ohne die Maßnahme nicht fortbewegen könne. Daher könne eine freiheitsbeschränkende Maßnahme nur an solchen Personen

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iFamZ 2014/105 S 125 (Ganner) - iFamZ 2014,125 (Ganner) = RdM-LS 2014/37 = Zak 2014/394 S 214 - Zak 2014,214.

6

ErlRV: Erläuternde Bemerkungen zu einer Regierungsvorlage

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vorgenommen werden, die grundsätzlich den Willen hätten, sich fortzubewegen. Auf die Bildung eines Fortbewegungswillens und darauf, ob sich der betroffene Bewohner der Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit bewusst ist, käme es nicht an (OGH 7 Ob 144/06m). Weiters könne die Bewegungsfreiheit auch durch die Hilfe von Pflegepersonal in Anspruch genommen werden. Daher könne die Freiheitsentziehung gegenüber jedermann erfolgen, der potenziell die Möglichkeit hat eine Ortsveränderung vorzunehmen. Eine Freiheitsbeschränkung iSd HeimAufG könne daher nur an jemandem nicht vorgenommen werden, der überhaupt keine Möglichkeit zur willkürlichen Bewegungssteuerung mehr hat, d.h. dem die Fortbewegungsfähigkeit völlig fehlt und auch den Willen dazu nicht bilden kann. Entsprechend dem OGH sei der Gesundheitszustand der Bewohnerin zwar als sehr schlecht zu qualifizieren gewesen, da sie nur mehr mittels „Mobi-Sessel“ mobilisiert werden konnte. Es stünde aber nicht fest, dass ihr der Fortbewegungswille gänzlich fehle. Es dürfe nicht angenommen werden, weil sich die Bewohnerin nicht adäquat äußern könne, dass der Wille nicht bestünde. Entsprechend dieser Überlegungen bejahte der OGH mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 4 HeimAufG das Vorliegen einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme. Ganner betont in seiner Glosse zu dieser Entscheidung, dass das Ziel des HeimAufG die umfassende Kontrolle von Maßnahmen wäre, die die Bewegungsfreiheit von BewohnerInnen beeinträchtigen können. Daher sei eine extensive Interpretation des Begriffs „Freiheitsbeschränkung“ konsequent.7

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OGH 7 Ob 33/14z, iFamZ 2014/105.

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OGH 7 Ob 134/14b8 – Freiheitsbeschränkung durch Netzbetten im Pflegezentrum Sachverhalt Der Bewohner lebte seit 1999 in einem Pflegezentrum. Er reagierte in bestimmten Situationen mit aggressivem Verhalten. Es wurden so genannte Time-Out Maßnahmen in Form von schützendem Zurückhalten durchgeführt. Am 16.11.2013 randalierte der Bewohner in einer Gaststätte und wurde anschließend am Bett im Pflegeheim fixiert. Für eine halbe Stunde wurde er in einem psychiatrischem Intensivbett untergebracht. Der nächste Vorfall trug sich am 27.12.2013 zu. Der Bewohner weigerte sich sein Zimmer zu betreten und schlug nach dem Pflegepersonal, sowie gegen die Tür des Dienstzimmers. Diese Akutsituationen erforderten wiederum die Vornahme von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen. Das ErstG entschied, dass Anwendung eines Netzbettes in Notsituationen zulässig sei, jedoch seien gelindere Mittel zukünftig einzusetzen, wie etwa ein Deeskalationsmanagementprogramm. In Akutsituationen, bei denen Gefahr für Leib und Leben des Bewohners sowie Dritter bestünde, sei das Netzbett zulässig. Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss und vertrat im Wesentlichen dieselbe Ansicht. Der Revisionsrekurs wurde als zulässig erachtet. Der OGH war damit mit der nachträglichen Überprüfung der Maßnahme betraut. Rechtliche Beurteilung Der OGH sprach aus, dass es sich um keine andauernde Freiheitsbeschränkung handelte und daher bereits die Spruchfassung des ErstG unrichtig sei. Anschließend prüfte der OGH das Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung iSd § 3 leg cit. Schließlich stellte er fest, dass die Anwendung eines Netzbettes ohne Frage ein mechanisches Mittel der Freiheitsbeschränkung dar-

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Zak 2015/13 S 14 - Zak 2015,14 = RdM-LS 2015/31 (Kopetzki) = iFamZ 2015/26 S 34 (Ganner) - iFamZ 2015,34 (Ganner) = RZ 2015,114 EÜ41, 42 RZ 2015 EÜ41 - RZ 2015 EÜ42 = EvBl-LS 2015/75.

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stelle. Entsprechend § 4 leg cit sind die materiellen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer derartigen Maßnahme, dass die betroffene Person an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist. Außerdem ist erforderlich, dass der Betroffene sich oder andere gefährdet (§ 4 Z 1 leg cit). Die Maßnahme muss zudem zur Gefahrenabwehr unerlässlich sein und sie muss in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen sein. § 4 Z 3 leg cit fügt hinzu, dass die Gefährdung nicht durch andere pflegerische Maßnahmen, die nicht in die Freiheitsrechte des Betroffenen eingreifen, abgewendet werden kann. Dabei käme es vor allem auf die Anwendung zeitgemäßer Pflegestandards an (vgl. Zierl/Wall/ Zeinhofer 2011, S. 113). Zudem gilt entsprechend vorheriger Entscheidungen der Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs.9 Der OGH bejaht das Vorliegen der Voraussetzungen von § 4 Z 1 leg cit. Gegenstand des Revisionsrekurses sei jedoch die Beurteilung, ob der Einsatz eines psychiatrischen Intensivbetts unerlässlich und verhältnismäßig entsprechend bestehender Pflegestandards war. In den Materialien zum HeimAufG werden Netzbetten zwar explizit erwähnt10, jedoch führt der OGH das europäische Übereinkommen zu Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ins Treffen, das in Österreich ohne Erfüllungsvorbehalt ratifiziert wurde. Dieses sieht die Schaffung eines Komittees (CPT)11 vor, das durch Besuche vor Ort die Behandlung von Personen, denen die Freiheit entzogen wurde, die Ist-Situation evaluiert. Seit Juli 2012 wurde die Volksanwaltschaft mit ihren Kommissionen mit der Aufgabe betraut, das Übereinkommen umzusetzen. Die Kommissionen berichten der Volksanwaltschaft über ihre Besuche und erstatten ihr Vorschläge und Empfehlungen. In den Standards des CPT wurde festgehalten, dass bestimmte mechanische Zwangsmittel, die in psychiatrischen Krankenhäusern (noch) zu finden sind, völlig ungeeignet und erniedrigend seien. Handschellen, Metallketten und Gitterbetten seien als derartige Zwangsmittel zu betrachten. Das CPT gab daher die Empfehlung ab, Netzbetten als Mittel zur Freiheitsbeschrän-

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7 Ob 144/06m; 2 Ob 77/08z; Barth/Engel aaO § 4 HeimAufG Anm 9.

10 ErlRV 353 BlgNR 22. GP 10. 11 CPT: European Commitee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment

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kung von erregten PatientInnen in allen psychiatrischen Anstalten und Pflegeheimen aus dem Verkehr zu ziehen. Die Volksanwaltschaft reagierte entsprechend mit einer legislativen Anregung, ein Gesetz zu erlassen, dass die Verwendung dieser Maßnahme untersage. Es mussten nämlich die unverbindlichen Standards und Berichte, denen keine normative Kraft zukam, de lege ferenda in durchsetzbares Recht gegossen werden. Der Bundesminister für Gesundheit reagierte schließlich mit einem Erlass, der die Verwendung von Netzbetten mit 01.07.2015 untersagt. Netzbetten und andere käfigähnliche Betten sind daher in der Psychiatrie und Einrichtungen gemäß HeimAufG ab 01.07.2015 verboten12: „Aus diesen Überlegungen und vor dem Hintergrund der von der Republik Österreich eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen hält das Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Justiz fest, dass unter Berücksichtigung der Wahrung der Menschenwürde und dem Gebot der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsbeschränkung die Verwendung von psychiatrischen Intensivbetten („Netzbetten“) sowie anderen „käfigähnlichen“ Betten nicht mehr dem europäischen Standard entspricht und daher unzulässig ist. Im Hinblick auf allfällig nötige Begleitmaßnahmen wird davon ausgegangen, dass ab dem 1. Juli 2015 derartige Mittel nicht mehr zum Einsatz kommen.“

Für die Entscheidung OGH 7 Ob 134/14b war dies mangels zeitlicher Anwendbarkeit unerheblich. Die Entscheidungen der Vorinstanzen wurden daher aufgrund von inhaltlichen Mängeln aufgehoben, da nicht geprüft wurde, ob die Anwendung des Netzbettes das gelindeste Mittel darstellte.

S CHLUSSBEMERKUNGEN Kritische Würdigung Nach Zierl (vgl. ÖZPR 2014/100) sei die Entscheidung 7 Ob 209/13f (Anlegen eines Overalls) von großer Bedeutung, da es bislang keine höchstgerichtliche Beurteilung dazu gab, ob die Bewegungseinschränkung des eige-

12 Mehr dazu siehe Fahnler-Lenzberger/Schlegel 2015.

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nen Körpers unter § 3 Abs 1 HeimAufG zu subsumieren sei. Das HeimAufG quasi als lex specialis zu Art 5 EMRK13 erfasst derartige Beschränkungen der Freiheit nicht. Das Anlegen des Overalls führt zwangsläufig dazu, dass die Bewohnerin nicht mehr imstande ist, sich zu kratzen, ihren Wärmehaushalt selbständig zu regulieren, oder sich schlicht einfach anund auszukleiden, wie sie möchte. Das Anlegen eines derartigen Overalls mag zwar keine Freiheitsbeschränkung iSd Gesetzes darstellen, wie der OGH mittels Subsumtionsschluss mE richtig feststellt. Verbesserungspotenzial im Hinblick auf das Schweigen des Gesetzgebers scheint hier aber offenkundig. Das Anlegen des Overalls sollte im vorliegenden Fall die Bewohnerin daran hindern sich abzudecken, weil sie offenbar nachts dazu neigte zu unterkühlen. Außerdem sollte ein vermutlich gehäuft auftretendes Stuhlschmieren verhindert werden. Die hochgradige Demenz der betagten Dame wird dazu geführt haben, dass derartige Handlungen unterbewusst vorgenommen wurden. Da jedoch die Demenz in Form von Morbus Alzheimer chronisch und schubhaft verläuft, wäre eine gelegentliche Überprüfung derartig verordneter Maßnahmen jedenfalls angezeigt. Davon war im vorliegenden Fall keine Rede. Außerdem ist zu bedenken, dass durch eine konstante „Warmhaltung“ der Bewohnerin Pflegeprobleme wie unter anderem Dekubitus und Intertrigo14 gefördert werden. Zusätzlich dazu könnte die Bewohnerin in intervalla lucida eine psychische Belastung durch den Overall empfunden haben. Das Anlegen des Overalls mag anfangs indiziert gewesen sein, dennoch hätte eine stetige Überprüfung erfolgen müssen, ob das ausgewählte Mittel geeignet war, um den therapeutischen Zweck zu erreichen, oder ob dadurch gegebenenfalls der Zustand der Bewohnerin verschlechtert wurde. Die Entscheidung 7 Ob 33/14z (Einsperren in das Zimmer) stellt sich von Seiten der rechtlichen Beurteilung der Maßnahme als relativ einfach dar. Die Voraussetzungen für eine zulässige Freiheitsbeschränkung nach HeimAufG lagen jedenfalls vor. Eine etwaige Beurteilung der Maßnahme

13 EMRK: Europäische Menschenrechtskonvention 14 Darunter versteht die Pflegewissenschaft das „Wundliegen“ im Bereich der Weichteile, sowie in den Bereichen unter der Brust bzw. der Achsel. Gehäuft tritt Intertrigo auch bei PatientInnen mit Adipositas auf, bei denen die Reibung an jenen Stellen in Folge von Immobilität gefördert wird.

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im Hinblick auf das psychische Befinden der Bewohnerin fällt entsprechend ihres Gesundheitszustandes schwer. Die Entscheidung 7 Ob 134/14b (Freiheitsbeschränkung durch Netzbetten) ist mit Sicherheit die Relevanteste im Rahmen dieser Betrachtung, weil durch diese Entscheidung die Situation für psychisch kranke BewohnerInnen zumindest geringfügig verbessert wurde. Die Anwendung von Netzbetten wurde für unzulässig erklärt, was aus pflegerischer und pflegewissenschaftlicher Sicht sicherlich längst erforderlich gewesen wäre. Zur bestehenden Gesetzeslage ist mE zu sagen, dass Verbesserungspotenzial zu erkennen ist. So ist etwa das Erfordernis, dass die BewohnerInnen am Ortswechsel gehindert werden müssen, nicht ausreichend, um das Recht auf persönliche Freiheit zu schützen, was sich auch in der höchstgerichtlichen Entscheidung 7 Ob 209/13f deutlich zeigt. Schließlich stellt sich die Frage, ob das Anlegen eines Overalls nicht mindestens genauso beschränkend ist, wie das Versperren einer Tür oder die Verwendung von Netzbetten im Jahr 2014. Abschließend soll anhand der Pflegequalitätserhebung, die jährlich in österreichischen Pflegeheimen durchgeführt wird, der Bezug zur pflegerischen Praxis hergestellt werden, um den Konnex zwischen Recht, Pflegewissenschaft und Pflegepraxis herzustellen. Die europäische Pflegequalitätserhebung 2014 ergab, dass in insgesamt 524 Einrichtungen (Allgemeine Krankenhäuser, Geriatrische Krankenhäuser, Pflegeheime), davon 56 Pflegeheime, freiheitsbeschränkende Maßnahmen als gelindestes Mittel zur Behandlung bzw. Betreuung der BewohnerInnen angewendet wurden. Der Tabelle 1 kann entnommen werden, dass die meisten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zur Sturzprävention vorgenommen werden. Das kann etwa im Rahmen des „Hochstellens“ der Bettgitter passieren. Im Zusammenhang mit der Verwendung von Bettgittern lässt sich sagen, dass sich gerade alte Menschen beim Sturz aus dem Bett Oberschenkelhalsfrakturen zuziehen können, die mit einer Mortalitätsrate von über 80 % bei über 80Jährigen einhergehen. Das Risiko eines Sturzes wird durch die Anwendung von mechanischen Maßnahmen jedenfalls gesenkt (vgl. Capezuti et al.1996, S. 627). Neuere Forschung zu diesem Thema zeigt jedoch, dass auch die Nichtvornahme derartiger Maßnahmen das Sturzrisiko senken kann (vgl. Tortosa et al. 2015). Andere Studien wollen wiederum belegen, dass auch das Verabreichen von Antidepressiva zu einer erhöhten Sturzrate

212 | TANJA W URM

führen kann (vgl. Sterke et al. 2008, S. 891). Es wird also der jeweilige Einzelfall vom Pflegepersonal zu beurteilen sein, um erkennen zu können, ob eine freiheitsbeschränkende Maßnahme das gelindeste Mittel ist, um Schaden zu vermeiden. Tabelle 1 zeigt die Hauptgründe für die Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in %. Allgemeine Krankenhäuser

Geriatrische Krankenhäuser

Pflegeheime

Einrichtungen Gesamt

Sturzprävention

55,6

-

39,3

53,6

Ermöglichung der medizinischen Behandlung

18,0

-

10,7

17,2

Umherirren der PatientIn

1,5

50,0

10,7

2,7

Aggressives Verhalten

4,7

-

8,9

5,2

Nachtruhe

4,9

50,0

-

4,6

Sonstiges

14,4

-

30,4

16,0

Unbekannt

0,9

-

-

0,8

Gesamt N

466

2

56

524

Hauptgründe

(in Anlehnung an Lohrmann/Bauer/Mandl 2014)

A UTONOMIE UND F REIHEIT

ALS

M ENSCHENRECHTE IM A LTER ? | 213

Tabelle 2: Art der freiheitsein-/beschränkenden Maßnahmen in den letzten 30 Tagen (in %)

Methode

Allgemeine Krankenhäuser

Geriatrische Krankenhäuser

Pflegeheime

Einrichtungen Gesamt

Bettgitter

81,3

50,0

51,8

78,1

-

-

-

-

1,5

-

-

1,3

2,1

-

10,7

3,1

5,8

-

5,4

5,7

-

-

5,4

0,6

7,3

-

-

6,5

1,3

-

-

1,1

-

-

-

-

11,8

-

-

10,5

15,5

-

35,7

17,6

7,3

-

-

6,5

0,9

-

1,8

1,0

Sonstige

6,2

50,0

16,1

7,4

Gesamt N

466

2

56

524

PatientInnenschutzdecke Bettgurt Stuhlgurt (Roll)Stuhl mit Tisch Nach hinten gekippter Stuhl (Siestaliege) Gelenksgurte für Arme Gelenksgurte für Beine Fixieroverall Separation/ Isolation Verhaltensbeeinflussende Medikamente Individuelle Verabredungen Domotika

(in Anlehnung an Lohrmann/Bauer/Mandl 2014)

Im Vergleich zu den Pflegequalitätserhebungen der vorangegangen Jahre zeigt sich in allen Einrichtungen eine deutliche Verbesserung der IstSituation. Vor allem in Pflegeheimen werden Fixieroveralls, Gelenksgurte

214 | TANJA W URM

etc. möglichst vermieden. Nichtsdestotrotz finden Bettgitter und verhaltensbeeinflussende Medikamente noch immer Anwendung in Einrichtungen, die dem HeimAufG unterliegen. Daher kommt es nach wie vor zu höchstgerichtlichen Entscheidungen, wie sie im Rahmen dieses Beitrages gezeigt wurden. In gewissen Situationen ist die Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen aus pflegerischer Sicht mit Sicherheit erforderlich und notwendig. Die dargestellten, an den OGH herangetragenen Fälle lassen jedoch auch die Vermutung zu, dass derartige Maßnahmen oft aus der Situation heraus überstürzt getroffen werden und zumindest nicht immer angemessen sind. Die Verwendung eines Overalls wurde zwar als keine Freiheitsbeschränkung eingestuft, weil es sich um keinen Fixieroverall handelte und daher die Anwendung von § 3 HeimAufG entfällt. Nichtsdestotrotz sollte sich der Gesetzgeber auch für diese Beschränkungen der persönlichen Freiheit, die gerade im letzten Lebensabschnitt psychisch schwer wiegen können, eine Lösung einfallen lassen. Aus der pflegerischen Praxis lässt sich ableiten, dass das Gesetz nicht selten im Weg steht. Die Hemmungen in Bezug auf § 3 HeimAufG sind teilweise so stark, dass mitunter auch angemessene Freiheitsbeschränkungen unterbleiben, die dann wiederum zum Schaden an BewohnerInnen führen. Auch das Verfahren zur Überprüfung dieser Maßnahmen erscheint m.E. mangelhaft. So müssen zwar alle freiheitsbeschränkenden Maßnahmen an die BewohnerInnenvertreterInnen gemeldet werden, diese haben jedoch kein Recht auf Genehmigung oder Überprüfung. Sie können lediglich eine gerichtliche Überprüfung beantragen. Damit entsteht für die oft physisch multimorbiden BewohnerInnen eine zusätzliche, oft längerfristige, Belastung. Schließlich muss festgestellt werden, dass ein inter- bzw. multidisziplinärer Zugang von Pflegepraxis bzw. Pflegewissenschaft und Recht erforderlich ist, um eine Verbesserung der Gesetzeslage zu erreichen. Dazu wird es nötig sein, die Ist-Situation in Pflegeheimen einer Würdigung zu unterziehen und entsprechend auf die Bedürfnisse zu reagieren, indem Gesetze wie das HeimAufG angepasst werden. Ziel einer Nivellierung des HeimAufG muss es sein, dass sowohl für BewohnerInnen, als auch für „Health Professionals“ Rechtssicherheit geschaffen wird, sodass der Grundsatz – salus aegroti suprema lex – in österreichischen Pflegeeinrichtungen gelten kann und freiheitsbeschränkende Maßnahmen zum Wohl der BewohnerInnen durchgeführt werden können, ohne lange Verfahren nach sich zu ziehen und ohne die Unsicherheit im Gesundheitssystem, damit Unrecht zu

A UTONOMIE UND F REIHEIT

ALS

M ENSCHENRECHTE IM A LTER ? | 215

begehen, wohl aber im Sinne einer „evidence based practice“, sodass derartige Maßnahmen nur vorgenommen werden, wenn ihr Nutzen erwiesen ist.

L ITERATUR Barth, Peter (Hg.) (2010): Die Unterbringungs- und Heimaufenthaltsnovelle 2010. iFamZ-Spezial 2010. Wien: Linde Verlag. Barth, Peter/Engel, Arno (2004): Heimrecht. Wien: Manz-Verlag. Capezuti, Elizabeth/Evans, Lois/Strumpf, Neville/Maislin, Greg (1996): Physical Restraint Use and Falls in Nursing Home Residents. In: Journal of the American Geriatric Society, S. 627–633. DOI: 10.111/ j.1532-5415.1996.tb01822.x Fahnler Sylvia, Lenzberger Alice, Schlegel Armin (2015): Das Verbot von Netzbetten und seine Folgen in: ÖZPR 2015/72 Ganner Michael (2001): Heimvertrag – Rechtsgeschäfte im Heim. Wien: Verlag Österreich. Janoch, Peter (2010): Freiheitsbeschränkung durch Medikation: Wann liegt eine medizinische Indikation vor und welche Medikamente eignen sich zur Durchführung von Freiheitsbeschränkungen? In: Barth: Die Unterbringungs- und Heimaufenthaltsnovelle 2010, S. 51. Kopetzki, Christian (1995):Unterbringungsrecht. I. Band: Historische Entwicklung und verfassungsrechtliche Grundlagen; II. Band: Materielles Recht, Verfahren und Vollzug. Wien/New York: Springer. Kopetzki, Christian (1995a): Freiheitsentzug im Sachwalterrecht. In: Griller, Stefan/Korinek, Karl/Potacs, Michael (Hg): Grundfragen und aktuelle Probleme des öffentlichen Rechts. Festschrift für Heinz Peter Rill (Wien 1995), S. 153–182. Korinek, Karl/Holoubek, Michael (Hg.) (2013): Österreichisches Bundesverfassungsrecht: Textsammlung und Kommentar. 11. Lfg. Wien/New York: Springer. Lohrmann, Christa/Bauer, Silvia/Mandl, Manuela (2012): Europäische Pflegequalitätserhebung 08. April 2014. Institut für Pflegewissenschaft, Medizinische Universität Graz, Graz. Moser, Sabine (2010): Medikamentöse Freiheitsbeschränkungen in Pflegeheimen. In: Barth: Die Unterbringungs- und Heimaufenthaltsnovelle 2010, iFamZ-Spezial (2010), S. 46–54.

216 | TANJA W URM

Sterke, Carolyn/Verhagen, Arianne/van Beeck, Ed/van der Cammen, Tischa (2008): The influence of Drug Use on Fall Incidents among Nursing Home Residents: a systematic Review. In: International Psychogeriatrics, S. 890–910. DOI: 10.1017/s104161020800714x Tortosa, Angeles/Granell, Rafel/Fuenmayor, Amadeo/Martinez, Mary (2015): Effects of a physical restraint removal program on older people with dementia in residential care. In: Revista espanola de geriatria y gerontologia 2015. DOI: 10.1016/j.regg.2015.06.006. World Health Organization (WHO) (2011): Global Health and Aging. Online verfügbar unter: http://www.who.int/ageing/publications/global_ health.pdf (2015-09-25). World Health Organization (WHO) (2013): Facts about ageing. Online verfügbar unter: http://www.who.int/ageing/about/facts/en/ (2015-11-20). Zierl, Peter (2014): Keine Freiheitsbeschränkung durch Anlegen eines Overalls. In: Österreichische Zeitschrift für Pflegerecht (ÖZPR) 2014/100. Zierl, Peter/Wall, Michael/Zeinhofer, Markus (2011): Heimrecht: Heimaufenthaltsgesetz – Ein Leitfaden für die Praxis in zwei Bänden – Band 1. Linz: prolibris.

Grad der Pflegeabhängigkeit von kontinenten und inkontinenten PflegeheimbewohnerInnen M ANUELA M ANDL & C HRISTA L OHRMANN

E INLEITUNG In internationalen Studien wird einerseits berichtet, dass die Prävalenz der Inkontinenz mit dem Alter ansteigt (vgl. Pretlove et al. 2006, S. 416; Shah et al. 2012, S. 1635; Stenzelius et al. 2004, S. 218). Auf der anderen Seite wird jedoch in der internationalen Literatur beschrieben, dass Inkontinenz keine ‚normale‘ Folge des Alterns ist (vgl. Gerst et al. 2011, S. 1110; Zhu et al. 2010, S. 592) und dass Inkontinenz nach wie vor ein Tabuthema sowohl bei den Betroffenen als auch den Tätigen im Gesundheitswesen darstellt (vgl. Ahnis/Riedl/Knoll 2009, S. 326). Inkontinenz kann in drei Formen auftreten: Urininkontinenz (UI) als „[…] jeglicher unfreiwilliger Verlust von Urin“, Stuhlinkontinenz (SI) als „[…] jeglicher unfreiwilliger Verlust von Stuhl“ (Abrams et al. 2013, S. 213f.), sowie Doppelinkontinenz (DI) als „[…] jeglicher unfreiwilliger Verlust von Urin und Stuhl“ (National Collaborating Centre for Acute Care 2007, S. 16). In einer systematischen Übersichtsarbeit werden internationale Prävalenzraten der UI in Pflegeheimen von 30 bis 65 %, der SI von 22,4 bis 55,5 % und der DI von 20,5 bis 64 % beschrieben (vgl. Roe et al. 2011, S. 242). Neben hohen Prävalenzraten hat die Inkontinenz weitreichende Auswirkungen für alle beteiligten und betroffenen Personen. Die Durchführung von Toilettentrainings oder der regelmäßige Wechsel von Einlagen/Bett-

218 | M ANUELA M ANDL & CHRISTA L OHRMANN

einlagen erhöhen die Arbeitsbelastung für Pflegende (vgl. Landefeld et al. 2008, S. 452). Auswirkungen für das Gesundheitssystem sind beispielsweise steigende Kosten, verursacht durch medikamentöse Therapie oder Kosten der Inkontinenzprodukte (beispielsweise Einlagen) (vgl. Graf von der Schulenburg et al. 2007, S. 305; Wilson et al. 2001, S. 400; Xu et al. 2012, S. 590). Aber auch die Tatsache, dass eine Inkontinenz häufig die Ursache für eine Einweisung ins Pflegeheim darstellt, hat Auswirkungen auf das Gesundheitssystem (vgl. Botlero et al. 2008, S. 230; Landefeld et al. 2008, S. 456). Auswirkungen von Inkontinenz können für Betroffene gesteigerte Angst sein, zum Beispiel davor, dass Außenstehende den Geruch wahrnehmen könnten oder aber auch davor keine Einlagen bei der Hand zu haben (vgl. Ahnis et al. 2012, S. 662). Außerdem berichteten Betroffene von Einschränkungen der Lebensqualität (vgl. Abrams et al. 2013, S. 56, 269, 378; Kwon et al. 2010, S. 137). Einschränkungen hinsichtlich Ihres subjektiven Gesundheitszustandes (vgl. Yip et al. 2013, S. e6) oder auch in sozialen Interaktionen werden von inkontinenten Personen berichtet (vgl. DuBeau et al. 2010, S. 175; Yip et al. 2013, S. e6). Eine aktuelle Studie berichtet, dass inkontinente PflegeheimbewohnerInnen pflegeabhängiger sind hinsichtlich der Aktivitäten des täglichen Lebens als kontinente PflegeheimbewohnerInnen (vgl. Saga et al. 2014, S. 365). Dies ist eine der ersten Studien, die den Grad der Abhängigkeit hinsichtlich der Aktivitäten des täglichen Lebens bei kontinenten und inkontinenten BewohnerInnen beschreibt. International gibt es derzeit wenig standardisierte Daten von Seiten der Pflege zu diesem Thema. Insbesondere Daten zu den einzelnen Inkontinenzformen fehlen. Daher ist das Ziel dieser Sekundärdatenanalyse, einen ersten Einblick in den Grad der Pflegeabhängigkeit von kontinenten und inkontinenten PflegeheimbewohnerInnen zu geben.

M ETHODE Die „Pflegequalitätserhebung“ ist eine jährlich durchgeführte multizentrische Querschnittstudie, zu der alle Pflegeheime mit einer Bettenanzahl >50 in Österreich eingeladen werden (vgl. Lohrmann 2015, S. 21). Die Pflegequalitätserhebung findet immer an einem festgelegten Tag im April statt. Die teilnehmenden Institutionen erfassen dabei Daten zu Pflegeproblemen wie Inkontinenz und Dekubitus, Sturz und andere. Dabei werden zu jedem

P FLEGEABHÄNGIGKEIT

VON

P FLEGEHEIMBEWOHNER I NNEN | 219

Pflegeproblem unter anderem die Häufigkeit, Präventionsmaßnahmen und Interventionen erhoben (vgl. Halfens et al. 2013, S. e6; Lohrmann 2015, S. 22; van Nie-Visser et al. 2013, S. e20). Innerhalb der Pflegequalitätserhebung wird ein standardisierter und getesteter Fragebogen genutzt (vgl. ebd.), der unter anderem die Pflegeabhängigkeitsskala (PAS) inkludiert (vgl. Lohrmann et al. 2003, S. 52). Die PAS ist eine Skala mit 15 Items wie beispielsweise Kontinenz, Mobilität etc., bei der der Grad der Pflegeabhängigkeit der BewohnerInnen mit einer 5-Punkte-Likertskala durch Pflegende erhoben wird (vgl. Dijkstra et al. 1996, S. 138; Lohrmann et al. 2003, S. 52). Die Pflegepersonen erheben den Grad der Pflegeabhängigkeit von völlig pflegeabhängig (15–24 Punkte), überwiegend pflegeabhängig (25–44 Punkte), teilweise pflegeabhängig (45–59 Punkte), überwiegend pflegeunabhängig (60–69 Punkte), bis hin zu völlig pflegeunabhängig (70–75 Punkte) (vgl. Dijkstra et al. 2012, S. 18). Ein positives Ethikvotum lag von der Ethikkommision der Medizinischen Universität Graz vor. In die nachfolgenden Analysen wurden Daten aus dem Jahr 2014 von 577 BewohnerInnen aus 8 Pflegeheimen eingeschlossen.

S TICHPROBE Tabelle 1: Darstellung der Charakteristika der Stichprobe PflegeheimbewohnerInnen (N=577) Alter als Mittelwert (SD*)

80,8 (11,7)

Weiblich (%)

69,2

PAS-wert (Median)

48,0

PAS-kategorien % Völlig pflegeunabhängig

10,4

Überwiegend pflegeunabhängig

16,6

Teilweise pflegeabhängig

29,1

Überwiegend pflegeabhängig

20,6

Völlig pflegeabhängig

23,2

*SD=Standardabweichung

220 | M ANUELA M ANDL & CHRISTA L OHRMANN

Die BewohnerInnen waren im Durchschnitt 81 Jahre alt und mehr als 2/3 waren weiblich. Der durchschnittliche Grad an Pflegeabhängigkeit lag bei 48 – dies kann als teilweise pflegeabhängig interpretiert werden. Der Großteil der BewohnerInnen (72,9 %) war teilweise bis völlig pflegeabhängig. Von den in die Stichprobe einbezogenen BewohnerInnen (N=577) waren 66,2 % inkontinent. Von diesen inkontinenten BewohnerInnen (N=382), litten 31,4 % an UI, 4,8 % an SI und 30,0 % an DI.

E RGEBNISSE : KONTINENTE VS . INKONTINENTE

B EWOHNER I NNEN

In Tabelle 2 werden die Charakteristika von kontinenten und inkontinenten BewohnerInnen gegenüber gestellt. Tabelle 2: Charakteristika von kontinenten und inkontinenten BewohnerInnen Kontinente

Inkontinente

BewohnerInnen

BewohnerInnen

(N=195)

(N=382)

78,3 (11,9)

82,1 (11,4)

Weiblich % *

54,4

76,7

PAS-wert (Median) *

62,0

36,0

Völlig pflegeunabhängig

27,2

1,8

Überwiegend pflegeunabhängig

30,3

9,7

Teilweise pflegeabhängig

36,9

25,1

Überwiegend pflegeabhängig

5,6

28,3

-

35,1

Alter als MW (SD) *

PAS-kategorien %

Völlig pflege abhängig *p≤0,05

P FLEGEABHÄNGIGKEIT

VON

P FLEGEHEIMBEWOHNER I NNEN | 221

Inkontinente BewohnerInnen sind statistisch signifikant älter und weisen einen höheren Grad an Pflegeabhängigkeit auf als kontinente BewohnerInnen. Kontinente BewohnerInnen sind überwiegend pflegeunabhängig mit einem PAS-Wert von 62. Wohingegen inkontinente BewohnerInnen mit einem PAS-Wert von 36 überwiegend von Pflege abhängig sind. Bei den kontinenten BewohnerInnen sind 30,3 % überwiegend und 27,2 % völlig pflegeunabhängig – also nahezu 58 % der BewohnerInnen sind pflegeunabhängig. Im Gegensatz dazu sind bei den inkontinenten BewohnerInnen 35,1 % völlig und 28,3 % überwiegend pflegeabhängig – also nahezu 64 % pflegeabhängig. In Abbildung 1 wird der Grad der Pflegeabhängigkeit je Aspekt der PAS zwischen kontinenten und inkontinenten BewohnerInnen gegenübergestellt. Abbildung 1: Gegenüberstellung des Grads der Pflegeabhängigkeit zwischen kontinenten und inkontinenten BewohnerInnen (Median) Kontinente BewohnerInnen (N=195) Inkontinente BewohnerInnen (N=382) Essen&Trinken Lernfähigkeit Aktivitäten zur sinnvollen Beschäftigung Alltagsaktivitäten

5 4

Kontinenz Körperhaltung

3 2

Mobilität

1 Sinn für Regeln&Werte

0

Tag&Nachtrhytmus

Kontakte Kommunikation Vermeiden von Gefahren 1= völlig pflegeabhängig 2= überwiegend pflegeabhängig 3= teilweise pflegeabhängig

Quelle: Eigene Darstellung

An-&Auskleiden Körpertemperatur Körperpflege 4= überwiegend pflegeunabhängig 5= völlig pflegeunabhängig

222 | M ANUELA M ANDL & CHRISTA L OHRMANN

Die größte Differenz zwischen den kontinenten und inkontinenten Bewohner–Innen findet sich im Aspekt der Kontinenz wieder. Der zweite große Unterschied zwischen den beiden Gruppen ergibt sich beim Aspekt „Anund Auskleiden“. Bezüglich „An- und Auskleiden“ sind kontinente BewohnerInnen überwiegend pflegeunabhängig (4) wohingegen inkontinente BewohnerInnen in diesem Aspekt völlig pflegeabhängig (1) sind. Ein weiterer großer Unterschied ergibt sich bei der Mobilität. Hier sind kontinente BewohnerInnen überwiegend pflegeunabhängig (4). Im Gegensatz dazu sind inkontinente BewohnerInnen bei der „Mobilität“ überwiegend von Pflege abhängig (2). Auch im Aspekt „Körperpflege“ zeigt sich ein Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Kontinente BewohnerInnen sind bei der „Körperpflege“ teilweise von Pflege abhängig (3) wohingegen inkontinente BewohnerInnen in diesem Aspekt völlig von Pflege abhängig sind (1). Im nächsten Kapitel werden die Ergebnisse aufgeschlüsselt nach den Inkontinenzformen UI – SI und DI beschrieben (Tabelle 3).

E RGEBNISSE : UI- VS . SI- VS . DI-B EWOHNER I NNEN In Tabelle 3 werden die Charakteristika von UI-, SI- und DI-BewohnerInnen gegenübergestellt. Urininkontinente BewohnerInnen sind älter als BewohnerInnen mit SI und DI. Den höchsten Grad an Pflegeabhängigkeit mit einem Median von 22 bzw. 20 erreichen BewohnerInnen mit SI bzw. DI. Diese Werte bedeuten, dass sowohl BewohnerInnen mit SI als auch DI völlig von Pflege abhängig sind. Die meisten BewohnerInnen mit UI sind überwiegend oder teilweise pflegeabhängig. Im Gegensatz dazu sind der Großteil der BewohnerInnen mit SI und DI völlig oder überwiegend pflegeabhängig.

P FLEGEABHÄNGIGKEIT

VON

P FLEGEHEIMBEWOHNER I NNEN | 223

Tabelle 3: Charakteristika von BewohnerInnen mit UI- vs. SI- vs. DI UI Bewohne-

SI Bewohne-

rInnen

rInnen

DI BewohnerInnen

(N=181)

(N=28)

(N=173)

84,2 (8,7)

76,0 (13,2)

80,9 (13,0)

Weiblich %

85,1

42,9

73,4

PAS-wert (Median)

50,0

22,0

20,0

Völlig pflegeunabhängig

2,8

3,6

0,6

Überwiegend pflegeunabhängig

19,9

-

0,6

Teilweise pflegeabhängig

42,0

14,3

9,2

Überwiegend pflegeabhängig

30,9

28,6

25,4

Völlig pflege abhängig

4,4

53,6

64,2

Alter als MW (SD)

PAS-kategorien %

In Abbildung 2 wird der Grad der Pflegeabhängigkeit je Item der PAS zwischen BewohnerInnen mit UI, SI und DI gegenübergestellt. BewohnerInnen mit SI und DI sind in allen PAS-Items deutlich pflegeabhängiger als BewohnerInnen mit UI.

224 | M ANUELA M ANDL & CHRISTA L OHRMANN

Abbildung 2: Gegenüberstellung des Grads der Pflegeabhängigkeit zwischen BewohnerInnen mit UI, SI und DI UI BewohnerInnen (N=181) SI BewohnerInnen (N=28) DI BewohnerInnen (N=173)

Essen&Trinken Lernfähigkeit Aktivitäten zur sinnvollen Beschäftigung Alltagsaktivitäten

5

Kontinenz

4

Körperhaltung

3 2

Mobilität

1 Sinn für Regeln&Werte

0

Tag&Nachtrhytmus

Kontakte Kommunikation Vermeiden von Gefahren

1= völlig pflegeabhängig 2= überwiegend pflegeabhängig 3= teilweise pflegeabhängig

An-&Auskleiden Körpertemperatur Körperpflege

4= überwiegend pflegeunabhängig 5= völlig pflegeunabhängig

Quelle: Eigene Darstellung

Z USAMMENFASSUNG & AUSBLICK Inkontinenz stellt ein weitverbreitetes Gesundheitsproblem dar, von dem sowohl Frauen als auch Männer im Laufe ihres Lebens betroffen sein können (vgl. Landefeld et al. 2008, S. 450). Die Häufigkeit der Inkontinenz steigt mit dem Alter an, dennoch stellt die Inkontinenz keine normale Folge des Alterns dar (vgl. Flanagan et al. 2012, S. 609; Gerst et al. 2011, S. 1110). Derzeit existieren für die Urininkontinenz bereits einzelne systema-

P FLEGEABHÄNGIGKEIT

VON

P FLEGEHEIMBEWOHNER I NNEN | 225

tische Übersichtsarbeiten im Setting Pflegeheim (vgl. Flanagan et al. 2014; Roe et al. 2011; Roe et al. 2013; Roe et al. 2015). In Summe berichten Flanagan et al. 2014 (vgl. S. 477) von 79 systematischen Übersichtsarbeiten in der Cochrane library zum Thema Urininkontinenz. Wir empfehlen aufgrund unserer Ergebnisse neben der Urininkontinenz (31,4 %) anlässlich der hohen Prävalenz in den Pflegeheimen auch die Doppelinkontinenz (30,0 %) in Forschung und Praxis zu fokussieren. Zahlreiche Untersuchungen beschreiben bereits effektive Maßnahmen bei Urininkontinenz in verschiedenen Altersgruppen oder aber auch in verschiedenen Settings. Beispielsweise beschreiben drei systematische Übersichtsarbeiten (vgl. Dumoulin et al. 2014, S. 2; Eustice et al. 2000, S. 2; Wallace et al. 2004, S. 2), dass sowohl Blasentraining als auch Beckenbodentraining erfolgreiche Maßnahmen zum Management von Urininkontinenz darstellten. In unserer Analyse wurden bei den Aspekten An- und Auskleiden, Mobilität als auch Körperpflege große Unterschiede zwischen kontinenten und inkontinenten BewohnerInnen bezüglich der Pflegeabhängigkeit identifiziert. Hier sollten sowohl von Seiten der pflegerischen Praxis als auch von Seiten der Pflegeforschung Maßnahmen getroffen werden. Maßnahmen zur Förderung der Selbstpflegefähigkeit im Bereich ‚Anund Auskleiden‘ könnten beispielsweise Trainings sein, mit denen man frühzeitig bei ‚noch‘ kontinenten BewohnerInnen ansetzt, um den Zeitpunkt des Auftretens der Inkontinenz zu verzögern. Solche Trainings könnten aber auch bei BewohnerInnen mit einer funktionalen Inkontinenz hilfreich sein. BewohnerInnen leiden an einer funktionalen Inkontinenz wenn sie beispielsweise aufgrund von kognitiven oder physischen Einschränkungen, aber auch durch Hindernisse in der Umgebung nicht mehr in der Lage sind, selbständig die Toilette zu erreichen (Registered Nurses’ Association of Ontario 2011, S. 16). Physische Einschränkungen beziehen sich beispielsweise auf eine eingeschränkte Mobilität, durch welche die BewohnerInnen nicht mehr in der Lage sind, die Toilette rechtzeitig zu erreichen. Ein weiteres Beispiel einer funktionalen Urininkontinenz durch eine physische Einschränkung wäre eine eingeschränkte Feinmotorik, wodurch die BewohnerInnen nicht mehr in der Lage sind, sich selbständig An- und Auszukleiden. Ein einfaches Training zum Öffnen oder Schließen von Knöpfen, Reißverschlüssen etc. könnte die Selbstpflegefähigkeit fördern.

226 | M ANUELA M ANDL & CHRISTA L OHRMANN

Gleichzeitig bedeutet dies für die Pflegeforschung, diese Maßnahmen bei ‚noch‘ kontinenten BewohnerInnen zu evaluieren (z.B. Zufriedenheit der BewohnerInnen mit dem Training) und ebenso in weiterer Folge die Effektivität dieser Trainings zu überprüfen.

L ITERATUR Abrams, Paul/Cardozo, Linda/Khoury, Saad/Wein, Alan (Hg.) (2013): Incontinence: 5th International Consultation on Incontinence, Publisher: International Consultation on Urological Diseases – European Association of Urology. Ahnis, Anne/Holzhausen, Martin/Rockwood, Tood H./Rosemeier, HansPeter (2000): FLQAI – A Questionnaire on Quality of Life in Fecal Incontinence: German Translation and Validation of Rockwood et al.’s (2012) Fecal Incontinence Quality of Life Scale (FIQLS). In: Zeitschrift für Gastroenterologie 50 (7), S. 661–669. Ahnis, Anne/Riedl, Andrea/Knoll, Nina (2009): Krankheitsbezogene subjektive Ursachenvorstellung alter Menschen über Inkontinenz. In: Pflege und Gesellschaft 14 (4), S. 325–342. Botlero, Rosin/Urquhart, Donna M./Davis, Susan R./Bell, Robin J. (2008): Prevalence and incidence of urinary incontinence in women: Review of the literature and investigation of methodological issues. In: International Journal of Urology 15 (3), S. 230–234. DOI: 10.1111/j.14422042.2007.01976.x Dijkstra, Ate/Buist, Girbe/Dassen, Theo (1996): Nursing-care dependency. Development of an assessment scale for demented and mentally handicapped patients. In: Scandinavian Journal of Caring Science 10 (3), S. 137–143. DOI: 10.1111/j.1471-6712.1996.tb00326.x Dijkstra, Ate/Buist, Girb/Dassen, Theo/van den Heuvel, Wim J. A. (2012): Het meten van zorgafhankelijkheid met de ZorgAfhankelijkheidsSchaal (ZAS): een handleiding (The Measurement of care dependency with the Care Dependency Scale (CDS): A Manual). UMCG/Rijksuniversiteit Groningen: Research Institute SHARE; 2012. Online verfügbar unter: https://www.umcg.nl/SiteCollectionDocuments/research/institutes/SHA RE/assessment%20tools/handleiding_cds2edruk.pdf (2015-11-25).

P FLEGEABHÄNGIGKEIT

VON

P FLEGEHEIMBEWOHNER I NNEN | 227

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P FLEGEABHÄNGIGKEIT

VON

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230 | M ANUELA M ANDL & CHRISTA L OHRMANN

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Altersarmut von Frauen in Österreich M ARGARETA K REIMER

E INLEITUNG Das Risiko, in Österreich im Alter unter der Armutsgefährdungsschwelle zu landen, ist für Frauen deutlich höher als für Männer: 2014 waren 12 % der Männer ab 20 Jahren in Österreich ‚armutsgefährdet‘, aber 14 % der Frauen ab 20 Jahren.1 Nochmals nach Alter differenziert sehen wir eine erhöhte Armutsgefährdung bei den 20-39-jährigen Frauen und bei den Frauen ab 65 Jahren. Dies verweist auf die beiden zentralen Lebenslagen, in denen Frauen überproportional von Armut betroffen sind: alleinerziehende Frauen und Frauen im Pensionsalter. Alleinlebende Pensionistinnen sehen sich einem Armutsgefährdungsrisiko von 22 % gegenüber, ihre männlichen Kollegen zeigen im Vergleich dazu sogar ein etwas geringes Armutsrisiko als Männer insgesamt. Pensionistinnen erhalten im Schnitt 57 % der Bruttopensionen von Pensionisten. Trotz dieser deutlichen Evidenz eines erhöhten Armutsrisikos von Frauen im Alter ist Altersarmut bislang in der sozialwissenschaftlichen Forschung wenig präsent (vgl. Angel/Kolland 2011, S. 185). Zum einen hat sich die Einkommenssituation von Pensionistinnen in den letzten Jahrzehnten deutlich gebessert. Dafür ist nicht zuletzt die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen verantwortlich. Zum anderen ist gerade Altersarmut häu-

1

Daten zur Armut stammen, sofern nicht anders angegeben, aus den Auswertungen der EU-SILC Daten für 2014 durch Statistik Austria (Statistik Austria 2015).

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fig verdeckte Armut: ältere MigrantInnen und ältere Personen in ländlichen Gebieten werden in den Statistiken tendenziell untererfasst und treten auch nicht selbst in Erscheinung, um ihr ‚Armutsproblem‘ öffentlich zu machen. Ältere Personen in Heimen werden in der gängigen Armutsstatistik gar nicht erfasst, da in der EU-SILC Erhebung nur private Haushalte befragt werden. Alter ist nicht gleichbedeutend mit Armutsgefährdung, aber bestimmte Ungleichheitsfaktoren innerhalb der Gruppe älterer Menschen erhöhen das Risiko, den sogenannten ‚Lebensabend‘ in Armut zu verbringen, deutlich: Region (Personen in ländlichen Regionen), Alter (Hochaltrige) und Geschlecht (Frauen). In Bezug auf die hier im Mittelpunkt stehende Altersarmut von Frauen ist zwar zu erwarten, dass das Armutsrisiko infolge der vermehrten Erwerbsbeteiligung jüngerer Frauengenerationen sinken wird, jedoch erweisen sich die bereits umgesetzten sowie die in Planung befindlichen Pensionsreformen als tendenziell armutserhöhend. Letzteres gilt insbesondere in einem Pensionssystem wie dem österreichischen, das Abweichungen von einer langen ‚Normkarriere‘ in Vollzeitbeschäftigung über die Pensionshöhe sanktioniert. Der vorliegende Beitrag geht zuerst auf die Definition und die Messung von Armut ein, um anschließend einige Detaildaten für Österreich darzulegen. Begründungszusammenhänge für das höhere Altersarmutsrisiko von Frauen werden kurz vorgestellt und auf den österreichischen Kontext hin angewendet. Überlegungen zum Abbau von Frauenaltersarmut schließen den Beitrag ab.

D EFINITION

UND

M ESSUNG

VON

ARMUT

Die geläufige Armutsdefinition setzt am ökonomischen Wohlergehen an. Absolute Armut stellt die unterste Grenze desselben dar, gekennzeichnet durch das Fehlen der notwendigen Menge an Ressourcen, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen.2 Relative Armut bezieht sich auf eine Unterver-

2

Absolute Armut bezeichnet nach Festlegung durch die Weltbank Armut, die durch ein Einkommen von etwa 1,90 USD pro Tag gekennzeichnet ist (bis 2011 lag die Grenze bei 1,25 USD). 2012 waren 12,7 % der Weltbevölkerung von ab-

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sorgung an materiellen und immateriellen Gütern und folglich eine Beschränkung der Lebenschancen in Relation zum Wohlstand der jeweiligen Gesellschaft (vgl. Townsend 1979, S. 31). Vor dem Hintergrund der Annahme, dass die Einschätzung der individuellen Lebenschancen von der relativen Stellung des Individuums in der Gesellschaft abhängt, werden in der aktuellen Armutsmessung ‚Armutsgefährdungsquoten‘ angegeben, die den Anteil von Personen angeben, deren Einkommen3 unter der ‚Armutsgefährdungsschwelle‘ liegt. Letztere wird nach EU-Konvention mit 60 % des mittleren Pro-Kopf-Haushaltseinkommens definiert. Diese Schwelle betrug in Österreich im Jahr 2014 1.161 Euro für einen Einpersonenhaushalt4, 14,1 % der österreichischen Bevölkerung waren 2014 in diesem Sinne armutsgefährdet. Einkommensarmut stellt eine von drei Dimensionen in der derzeitigen Armutsmessung auf EU-Ebene dar. 4 % der österreichischen Bevölkerung sind ‚erheblich materiell depriviert‘ oder ‚manifest arm‘, d.h. ihre Lebensbedingungen werden dadurch beschränkt, dass sie sich wesentliche Güter und Dienstleistungen nicht leisten können. Zu diesen Deprivationsindikatoren zählen beispielsweise, die Wohnung angemessen warm halten zu können, ein Mal im Jahr auf Urlaub zu fahren oder unerwartete Ausgaben finanzieren zu können.5 Die dritte Dimension bezieht sich auf Haushalte mit

soluter Armut betroffen (vgl. http://data.worldbank.org/topic/poverty#boxesbox-topic_cust_sec, 2016-01-17). 3

Konkret handelt es sich um das ‚äquivalisierte Haushaltseinkommen‘, d.h. als Grundlage wird das gesamte Haushaltseinkommen herangezogen und mit der Personenanzahl im Haushalt gewichtet (vgl. dazu im Detail Statistik Austria 2015, S. 9f.).

4

Diese Summe ist als Zwölftel des Jahreseinkommens zu verstehen, wobei ‚Einkommen‘ wiederum Netto-Einkommen meint, d.h. Einkommen inklusive aller Sozialleistungen und abzüglich aller Steuern und Sozialversicherungsabgaben.

5

Vgl. Statistik Austria 2015, S. 18, für Details zur erheblichen materiellen Deprivation.

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keiner oder sehr geringer Arbeitsintensität und betrifft rund 9 % der österreichischen Bevölkerung.6 Diese drei Dimensionen werden im Indikator ‚Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung‘ zusammengezogen, der jenen Anteil an Personen angibt, für die zumindest ein Armutskriterium zutrifft. 2014 waren 19,2 % der österreichischen Bevölkerung armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, das entspricht 1.609.000 Personen (vgl. Statistik Austria 2015, S. 77). Die Reduktion der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten in der EU um mindestens 20 Millionen Personen ist ein Kernziel der Europa 2020 Strategie.7

K RITIK

AN DER

ARMUTSMESSUNG

Zur Armutsmessung ist anzumerken, dass die Daten zur Armutsgefährdung auf Haushaltsebene erhoben werden und daher davon ausgegangen werden kann, dass die Armutsgefährdung von Frauen generell und von älteren Frauen im Besonderen unterschätzt wird: Die Messung auf Haushaltsebene ist sachlich insofern gerechtfertigt, als die individuellen Lebensbedingungen im Haushaltskontext relativiert werden, wenn es sich um Haushalte mit mehr als einer Person handelt. Zugleich ist mit dieser Methode jedoch die implizite Annahme verbunden, dass innerhalb des Haushaltes Einkommen und Ressourcen gleich verteilt sind. Anders ausgedrückt: dass alle Haushaltsmitglieder in gleicher Weise Zugang zu den Ressourcen haben (vgl. Mader/Schneebaum 2013; Heitzmann 2006, S. 41). Diese Annahme der gleichen Intrahaushaltsverteilung impliziert, dass entweder alle Haushaltsmitglieder oder keines armutsgefährdet sind. Ein Haushalt ist demnach arm oder nicht arm.

6

Konkret bezieht sich dieser Indikator auf Haushalte, in denen die 18- bis 59jährigen Haushaltsmitglieder (mit Ausnahme der Studierenden) weniger als 20 % der möglichen Erwerbsmonate ausschöpfen.

7

Die Strategie Europa 2020 für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum wurde 2010 beschlossen und löste die sog. Lissabon-Strategie ab. 2013 war knapp ein Viertel der Bevölkerung in den EU-Mitgliedsländern (absolut fast 123 Millionen Menschen) armuts- oder ausgrenzungsgefährdet (vgl. http://ec.europa.eu/europe2020/index_de.htm, 2016-01-17).

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Bis dato liegen für die Einkommens- und Ressourcenverteilung innerhalb des Haushaltes allerdings kaum statistische Informationen vor. Studien zur Intrahaushaltsverteilung lassen jedoch beträchtliche Zweifel an der Annahme der Gleichverteilung von Ressourcen in Haushalten aufkommen (vgl. Heitzmann 2006, S. 42). Es mag daher arme Frauen in nicht-armen Haushalten geben, die mit den derzeitigen Statistiken nicht erfasst werden (dasselbe gilt auch für Kinder). Studien zur Armut versuchen häufig, diese Gleichverteilungsannahme zu den Ressourcen im Haushalt zu vermeiden, indem sie sich auf Haushalte mit nur einer erwachsenen Person beschränken (vgl. beispielsweise Bárcena-Martin/Moro-Egido 2013). Diese Einengung der Zielgruppe ist aus der Sicht der Vermeidung der problematischen Verteilungsannahme heraus verständlich, führt aber zu einer unvollständigen Erfassung von Armut im Allgemeinen und von Frauenarmut im Besonderen. Altersarmut wird mit den EU-SILC Daten ebenfalls tendenziell untererfasst. Neben dem methodischen Faktum, dass nur private Haushalte in die Erhebung einbezogen werden und damit alte Personen, die in Heimen leben, grundsätzlich nicht erfasst werden, ist gerade für die Lebensphase des Alters auch die inhaltliche Armutsdefinition kritisch zu betrachten. Die Armutsmessung über EU-SILC ist primär ressourcenorientiert, im Mittelpunkt stehen Einkommen, materielle Ressourcen und Erwerbstätigkeit. Hochaltrige Menschen mögen in Bezug auf ihre Einkommenssituation zwar als nicht armutsgefährdet gelten, dies aber infolge ihrer Gebrechlichkeit effektiv dennoch sein, weil sie deutlich mehr Ressourcen benötigen würden, um ein angemessenes Leben führen zu können. Armut in Bezug auf soziale Kontakte, Kommunikation, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird mit den gängigen Indikatoren nicht erfasst, ist für ältere Menschen aber häufig Realität, insbesondere wenn sie nicht mobil sind und/oder in abgelegenen Regionen leben. Hier geht es um soziale Armut, die bislang jedoch in nur wenigen qualitativen Studien ansatzweise dokumentiert wird (vgl. Bradshaw/Sainsbury 2000).

ALTERSARMUT

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Der Anteil von Frauen ist bei nahezu allen Armutsindikatoren ein höherer als der von Männern:

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• •

• • • •

Die Armutsgefährdungsquote (Einkommensarmut) liegt für Frauen bei 14 %, bei Männern bei 12 %. Beim Gesamtindikator Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung zeigt sich mit einem Wert von 19,9 % für Frauen und 16,1 % für Männer ein ähnliches Bild. Rund 4 % der Frauen und 3 % der Männer sehen sich einer erheblichen materiellen Deprivation gegenüber. Frauen leben häufiger in Haushalten mit geringer Erwerbsintensität als Männer. Die Armutsgefährdung bei weiblichen Single-Haushalten ist deutlich höher als bei männlichen Single-Haushalten. Frauen über 65 Jahre sind besonders stark von Einkommensarmut betroffen, vor allem wenn sie alleine leben.

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass Armut in Österreich nach wie vor ein persistentes Phänomen darstellt – trotz leichter Rückgänge in einzelnen Bereichen – und dass Frauen davon deutlich stärker betroffen sind als Männer. Dieser Gender Gap wird mit dem Alter tendenziell größer, Pensionistinnen gehören zur Gruppe mit dem höchsten Armutsrisiko.

U RSACHEN

FÜR

ALTERSARMUT

Aus theoretischer Sicht können Ursachen für das höhere Armutsrisiko von Frauen im Alter sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene identifiziert werden. Auf der Mikroebene geht es um individuelle Charakteristika, die das Armutsrisiko erhöhen können, insbesondere in Bezug auf die Humankapitalbildung und auf Arbeitsteilungsmuster im Haushalt. Ansätze auf der Makroebene beziehen die Rahmenbedingungen des jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Systems mit ein, im Kontext der Altersarmut betrifft dies insbesondere das Pensionssystem. Altersarmut von Frauen als Folge (zu) geringer Humankapitalinvestitionen Aus humankapitaltheoretischer Sicht resultiert Altersarmut generell aus einem zu geringem Sparvolumen der Individuen während ihrer aktiven Zeit

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am Erwerbsarbeitsmarkt. Individuen haben es selbst in der Hand, ihr zukünftiges Einkommen über ihre Investitionen in Aus- und Weiterbildung zu gestalten. Frauen, so die zentrale Annahme des Humankapitaltheoretikers Gary S. Becker, investieren aufgrund ihrer zu erwartenden höheren Inanspruchnahme durch Hausarbeit und Betreuungsverpflichtungen weniger in ihr erwerbsrelevantes Humankapital, unterbrechen ihre Erwerbskarriere deutlich öfter und länger als Männer, arbeiten häufiger in Teilzeit und in Berufen, in denen Ausstiege infolge flacher Lohnprofile und geringer Aufstiegsmöglichkeiten weniger stark ‚bestraft‘ werden (vgl. Becker 1962, 1985). Auch ArbeitgeberInnen sind weniger gewillt, in weibliches Humankapital zu investieren, da sie erwarten, dass Frauen ihre Erwerbskarrieren unterbrechen bzw. aufgrund der Betreuungsverpflichtungen eine geringere Erwerbsorientierung aufweisen. Da jedoch das Erwerbseinkommen und in der Folge die soziale Absicherung vom individuellen Humankapital und der Berufserfahrung abhängen, weisen Frauen vor dem Hintergrund geringerer Humankapitalinvestitionen ein höheres Armutsrisiko als Männer auf.8 Für Österreich gibt es Evidenz einer humankapitalinduzierten Altersarmut: Das Ausbildungsniveau von Personen ab 80 Jahren ist signifikant geringer als das jüngerer Kohorten. Dies trifft auf beide Geschlechter zu, jedoch ist der Bildungsrückstand von Frauen nochmals deutlich höher. Während 44 % der Männer ab 80 Jahren nur über eine Pflichtschulausbildung verfügen, weisen 74 % der Frauen ab 80 dieses Bildungsniveau auf (vgl. Angel/Kolland 2011, S. 196). Allerdings ist angesichts aktueller Daten zur geschlechtsspezifischen Bildungspartizipation davon auszugehen, dass diese Humankapitaldifferenzen für die Gesamtheit der Bevölkerung deutlich zurückgegangen sind und für die jetzigen jüngeren Kohorten am Arbeitsmarkt nicht mehr existieren. Der Beitrag geringerer Humankapitalinvestitionen von Frauen zur Erklärung von weiblicher Altersarmut ist somit gering und weiter im Sinken begriffen.

8

Die Humankapitaltheorie spielt eine zentrale Rolle bei der Erklärung unterschiedlicher Arbeitsmarkterfolge von Frauen und Männern in der MainstreamÖkonomik. Dass dabei vielfach sehr kritische Annahmen und Zuschreibungen verwendet wurden und werden, bildete einen wesentlichen Ausgangspunkt für die Herausbildung der Feministischen Ökonomik (vgl. beispielsweise Ferber/Nelson 1993; Ott 1997).

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Altersarmut von Frauen als Folge asymmetrischer Arbeitsteilungsarrangements im Haushalt Einer der zentralen Ausgangspunkte des humankapitaltheoretischen Ansatzes zur Erklärung von Altersarmut von Frauen ist die traditionelle Arbeitsteilung der Geschlechter in der Form der Spezialisierung auf Erwerbsarbeit (Mann) bzw. auf unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit (Frau), anders ausgedrückt das sogenannte ‚Ernährermodell‘. Diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung liefert die Begründung für geringere Ausbildungsinvestitionen von Frauen und ihre geringere Berufserfahrung. Wenn Frauen trotz ihrer Spezialisierung auf Haus- und Betreuungsarbeit am Erwerbsarbeitsmarkt in Erscheinung treten, tun sie dies als Zuverdienerinnen, der Mann bleibt der Ernährer der Familie (vgl. Ott 1997). Diese Art der Spezialisierung ist – aus ökonomischer Sicht – dann rational, wenn es Ausgleichsprozesse im Haushalt gibt, d.h. eine egalitäre Intra-Haushaltsverteilung von Einkommen und Ressourcen. Denn in diesem Fall ist es unerheblich, wer welche monetären (Erwerbseinkommen) bzw. nicht-monetären (Haus- und Betreuungsarbeit) Ressourcen einbringt, es gibt einen gemeinsamen ‚Topf‘, zu dem beide Partner in gleicher Weise Zugang haben. Allerdings gibt es, wie zuvor im Rahmen der Kritik an der Armutsmessung schon angeführt, vielfache empirische Evidenz gegen die Annahme eines gleichen, von den individuellen Beiträgen unabhängigen Zugangs zum Einkommen (vgl. Mader/Schneebaum 2013; Beblo/Beninger 2012). Zudem muss dieses Spezialisierungsarrangement auf Dauer funktionieren, nur dann können beide Partner die Spezialisierungsgewinne, die die ökonomische Rationalität belegen, auch realisieren (vgl. Ott 1997). Die Empirie zur steigenden Scheidungsrate, zur Zunahme alleinerziehender Frauen oder zu Patchworkkonstellationen in Familien zeigt jedoch deutlich, dass ein großer und tendenziell steigender Anteil von Partnerschaften eben nicht auf Dauer Bestand hat. Frauen, die sich ganz oder auch nur phasenweise auf Haus- und Betreuungsarbeit spezialisiert haben, haben folglich im Alter keinen Zugang zum Einkommen ihres Ex-Partners, zugleich eröffnen ihnen ihre gewonnenen Kompetenzen und Fertigkeiten aus der Spezialisierung auf Haus- und Betreuungsarbeit keinen (ausreichenden) Zugang zum (auf Erwerbsarbeit fokussierten) Pensionssystem (siehe folgender Ab-

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schnitt). Eine traditionelle asymmetrische Arbeitsteilung erhöht das Armutsrisiko von Frauen, insbesondere im Alter. Armut und Wohlfahrtsstaat Ansätze auf der Makroebene konzentrieren sich auf wohlfahrtsstaatliche Strukturen und Rahmenbedingungen, die individuelles Handeln entscheidend beeinflussen. Bárcena-Martin/Moro-Egido (2013) zeigen in einer vergleichenden Studie zu Armut und Geschlecht für 17 EU-Länder, dass strukturelle Faktoren des jeweiligen Wohlfahrtsstaates und Arbeitsmarktes deutlich mehr zur Erklärung der höheren Betroffenheit von Armut von Frauen beitragen als individuelle Charakteristika. Für die Frage der Altersarmut von Frauen ist vor allem das jeweilige Pensionssystem von entscheidender Bedeutung. Basierend auf der Wohlfahrtsstaatentypologie von Esping-Andersen (1990) kann für liberale Wohlfahrtsstaaten ein eher hohes Armutsrisiko erwartet werden, da der Fokus auf bedürfnisgeprüften Leistungen auf geringem Niveau liegt. Universelle Wohlfahrtsstaaten dagegen weisen einen hohen Anteil universeller, d.h. von Erwerbsarbeit unabhängiger Leistungen auf und reduzieren daher das Armutsrisiko von Frauen deutlich. Konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaaten, zu denen Österreich und Deutschland zählen, folgen dem Prinzip des Statuserhalts, d.h. die Pensionsleistungen sind eng mit den eigenen Beiträgen während der Erwerbsphase verknüpft. Folglich werden Armutsrisiken aus der Erwerbszeit (z.B. bedingt durch Unterbrechungen oder lange Teilzeitphasen) ins Alter übertragen und verstärkt. Je stärker traditionelle Arbeitsteilungsmuster in diesem Typ von Wohlfahrtsstaat noch wirksam sind, desto höher ist das Risiko der Altersarmut für Frauen, da ihre Spezialisierung auf Haus- und Betreuungsarbeit im Pensionssystem nur marginal mit Leistungen verknüpft ist. Altersarmut von Frauen im österreichischen Wohlfahrtsstaat Im Folgenden werden fünf Begründungszusammenhänge angeführt, die zeigen, wie die Ausgestaltung des österreichischen Wohlfahrtsstaates zum Armutsrisiko von Frauen im Alter beiträgt.

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Frauen sind erstens deutlich seltener als Männer in sogenannten Normalarbeitsverhältnissen, d.h. in kontinuierlicher Vollzeitbeschäftigung, tätig. Das österreichische Pensionssystem setzt jedoch solche Erwerbsverläufe voraus, um eine entsprechende Pensionshöhe zu erzielen. Dies ist ein direktes Merkmal der statuszentrierten Ausgestaltung des österreichischen Sicherungssystems, aber auch Resultat jüngster Pensionsreformen, insbesondere der Einbeziehung aller Beschäftigungszeiten in die Feststellung der Pensionshöhe. Die Arbeiterkammer hat berechnet, dass ein Jahr Teilzeit die Pension um ca. 1 % verringert, ein Jahr Unterbrechung sogar um 2 % (AK Wien 2015). Zweitens werden Frauen mit atypischen, durch Haus- und Betreuungsarbeit geprägten Erwerbsverläufen auf spezifische Weise im Pensionssystem berücksichtigt. Frauen, die in der Ehe dem traditionellen Arbeitsteilungsmodell folgten und deren Partner verstirbt, haben Anspruch auf Witwenpension, auch ohne eigene Erwerbstätigkeit. Obwohl dieses Pensionsrecht auf der Basis einer aufrechten Ehe auch Männern offensteht, sind mehr als 91 % der BezieherInnen einer Hinterbliebenenpension weiblich. 2013 erhielten rund 417.000 Frauen eine Witwenpension (Hauptverband 2014), in etwa die Hälfte dieser Witwen verfügt über keine eigenen Pensionsansprüche (vgl. Schlager 2014, S. 159). Der Median der Witwenpension lag mit 825 Euro deutlich unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle. Der zweite spezifische Einschluss von Frauen mit ‚Betreuungskarrieren‘ erfolgt über die Kindererziehungszeiten.9 Für maximal vier Jahre pro Kind wird das weibliche Durchschnittseinkommen als Bemessungsgrundlage für die Pensionsberechnung herangezogen (vgl. AK Wien 2015).10 Das österreichische Pensionssystem gewährt somit Frauen, die ganz oder teilweise traditi-

9

Wie im Fall der Hinterbliebenenpension gelten auch die Regelungen zu Kindererziehungszeiten für Frauen und Männer. Allerdings ist das Arbeitsteilungsmuster gerade in den ersten Jahren nach der Geburt nach wie vor sehr asymmetrisch (vgl. Reidl/Schiffbänker 2013, S. 8f.; Statistik Austria 2009).

10 Ein allfälliges eigenes Erwerbseinkommen in diesen vier Jahren erhöht die Bemessungsgrundlage. Voraussetzung für die Anerkennung von Kindererziehungszeiten ist jedoch eigene Erwerbstätigkeit im Ausmaß von mindestens sieben Jahren. Die Geburt eines weiteren Kindes innerhalb der vier Jahre beendet den Anspruch für das bereits vorhandene Kind.

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onellen Geschlechterrollen folgen, spezifische Leistungen auf der Basis von Haus- und Betreuungsarbeit. Sowohl die Witwenpension als auch die Anerkennung von Kindererziehungszeiten tragen folglich zur Reduktion von weiblicher Altersarmut bei, reichen aber nicht aus, um Armut im Alter zu vermeiden, da sie keine Pension über der Armutsgefährdungsschwelle mit sich bringen (vgl. Schlager 2014). Der dritte Faktor knüpft ebenfalls am statuszentrierten Pensionssystem an: Frauen, die während ihrer aktiven Erwerbszeit ein Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle beziehen und somit zur Gruppe der ‚Working Poor‘ gehören, nehmen diesen Status häufig in die Pension mit. Zum einen reduziert das geringe Erwerbseinkommen ihre Bemessungsgrundlage für die Pension, zum anderen haben gerade diese Personen im Vergleich zu jenen mit Verdiensten am bzw. über dem Durchschnitt signifikant geringere oder gar keine Ressourcen, um für das Alter vorzusorgen. Alleinerziehende Mütter sind in der Gruppe der ‚Working Poor‘ besonders stark vertreten (vgl. ebd., S. 165). In ähnlicher Weise wird viertens der nach wie vor vorhandene und in Österreich relativ hohe ‚Gender Pay Gap‘ im Pensionssystem verstärkt und erhöht das Armutsrisiko für Frauen.11 Gradin et al. (2010) haben den Zusammenhang zwischen Diskriminierung am Arbeitsmarkt und Armut für 12 EU-Länder untersucht und festgestellt, dass das Verschwinden aller Formen von Lohndiskriminierung Armut in den meisten Ländern inklusive Österreich substantiell reduzieren würde. Ergänzend sei hier erwähnt, dass neben Einkommen auch das Vermögen für die Alterssicherung eine zentrale Rolle spielt. Der Gender Gap dürfte beim Vermögen nochmals deutlich höher sein als beim Einkommen.12 Der fünfte Faktor bezieht den – neben der Kindererziehung – zweiten großen Bereich von Care-Arbeit mit ein, die Langzeitpflege. Informelle Pflege und Betreuung im familiären Kontext stellen in Österreich immer

11 Analysen zum Gender Pay Gap für Österreich finden sich z.B. in Grünberger/Zulehner 2009. 12 In Bezug auf die Verteilung von Vermögen gibt es bis dato noch wenig empirisches Material. Erste Hinweise zur Höhe des Gender Gap beim Vermögen liefern Grabka et al. (2013) für Deutschland und Mader et al. (2014) für Österreich, allerdings nur für Single-Haushalte.

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noch das zentrale Rückgrat des Langzeitpflegesystems dar. Sie werden überwiegend von Frauen übernommen. Wenn Frauen ihre Erwerbstätigkeit reduzieren oder aufgeben, um Familienangehörige zu pflegen, gelten dieselben zuvor bereits angeführten Faktoren in Hinblick auf ihr Armutsrisiko. Zugleich sind Frauen selbst, aufgrund der gestiegenen und im Vergleich zu Männern höheren Lebenserwartung, im Alter häufiger pflegebedürftig. Gebrechlichkeit und die damit einhergehende höhere Pflegebedürftigkeit von Frauen ist wiederum mit geringem Erwerbseinkommen und schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen verknüpft. In der Konsequenz haben Frauen, die bereits im Erwerbsleben längere Phasen der Armut als Folge ihres geringen Einkommens und/oder als Alleinerzieherin durchmachen mussten, ein höheres Risiko, im Alter gebrechlich und damit pflegebedürftig zu sein, was wiederum mit materieller Armut, aber auch sozialer Armut (soziale Isolation, fehlende Kommunikation, Immobilität) verbunden sein kann (vgl. Palk et al. 2014; Angel/Kolland 2011). Maßnahmen gegen die Altersarmut von Frauen Maßnahmen zur Reduzierung der weiblichen Altersarmut müssen zum einen am Pensionssystem ansetzen, zum anderen am Erwerbsarbeitsmarkt selbst. Im Pensionssystem ist hervorzuheben, dass es in Österreich keine Mindestpension im engeren Sinn gibt. Zwar gibt es das Instrument der ‚Ausgleichszulage‘, das zum Tragen kommt, wenn eine sehr niedrige Pension bezogen wird: Diese Zulage ergänzt die eigene Pension auf die Höhe des sogenannten Ausgleichszulagenrichtsatzes, der 2015 für eine alleinstehende Person 872 Euro betrug, für Ehepaare 1.308 Euro. Damit wird zwar ein Minimumstandard in der Pension garantiert, der allerdings unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt (2014: 1.161 Euro für einen Einpersonenhaushalt) und der vom Haushaltseinkommen abhängig ist. Hier kommen die Überlegungen zur Problematik der Intra-Haushaltsverteilung zum Tragen (siehe oben). Frauen müssen zudem über einen eigenen Pensionsanspruch verfügen. Insgesamt ist daher festzuhalten, dass das System der Ausgleichszulage jedenfalls armutssenkend, aber nicht armutsvermeidend wirkt und insofern verbesserungsbedürftig ist. Insbesondere die Einführung einer Mindestpension über der Armutsgrenze mit individuellem Anspruch würde eine solche Verbesserung darstellen.

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Daneben könnte auch über die Höherbewertung der Kindererziehungszeiten und über die Einführung von Ersatzleistungen für familienbedingte Teilzeitphasen eine Reduktion weiblicher Altersarmut erzielt werden. Die Liste möglicher Maßnahmen im Erwerbssystem ist lang, einige seien im Folgenden kurz angeführt: •

• • •



Höhere Minimumlöhne in frauendominierten Bereichen; Abbau diskriminierender Arbeitsbewertungen; Höherbewertung von Tätigkeitsfeldern im Pflege-, Sozial- und Gesundheitssektor. Förderung der Weiterbildung und Höherqualifizierung von Frauen. Ausreichend Kinderbetreuungseinrichtungen zur Unterstützung der Erwerbstätigkeit von Müttern, insbesondere Alleinerzieherinnen. Verbesserungen im Teilzeitsegment, z.B. über die Förderung ‚langer‘ Teilzeit (um die 30 Wochenstunden) und über Verkürzung der Teilzeitphasen durch die Förderung der Rückkehr auf Vollzeitstellen. Unterstützung einer symmetrischen Arbeitsteilung im Haushalt und Care-Bereich (Umsetzung von ‚Halbe-Halbe‘).

Generell ist die beste Absicherung gegen Armutsgefährdung und Armut immer noch eigene Erwerbsarbeit, allerdings nur unter Bedingungen jenseits von ‚Working Poor‘. Neben den zuvor angeführten Maßnahmen auf der Makroebene sind Frauen selbst auch gefordert, entsprechende Schritte zu setzen, insbesondere: • • •

versuchen (gegebenenfalls schrittweise), ihre Erwerbsintensität zu erhöhen, Möglichkeiten der Höherqualifizierung, Umschulung, Reorientierung suchen und wahrnehmen, generell eine langfristige Perspektive einnehmen.

Sosehr es verständlich ist, wenn Frauen primär die unmittelbar zu bewältigende Lebensphase vor Augen haben (z.B. Zeit bis Schuleintritt des Kindes), sosehr fällt ihnen diese kurzfristige Perspektive letztendlich auf den Kopf, insbesondere in der Form von Altersarmut.

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L ITERATUR AK Wien (2015): Frauen und das neue Pensionskonto. Wie Arbeit und Familie Ihre Pension beeinflussen. Wien: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien. Angel, Stefan/Kolland, Franz (2011): Armut und soziale Benachteiligung im Alter. In: Verwiebe, Roland (Hg.): Armut in Österreich. Wien: Braumüller, S. 185–208. Bárcena-Martin, Elena/Moro-Egido, Ana I. (2013): Gender and poverty risk in Europe. In: Feminist Economics 19 (2), S. 69–99. DOI: 10.1080/ 13545701.2013.771815 Beblo, Miriam/Beninger, Denis (2012): Do Husbands and Wives Pool Their Incomes? Experimental Evidence. BETA Working Paper No 10. Becker, Gary S. (1962): Investment in Human Capital: A Theoretical Analysis. In: Journal of Political Economy 70 (5), S. 9–49. DOI: 10.1086/ 258724 Becker, Gary S. (1985): Human Capital, Effort, and the Sexual Division of Labor. In: Journal of Labor Economics 3 (1), S. 33–58. DOI: 10.1086/ 298075 Bradshaw, Jonathan/Sainsbury, Roy (2000): Researching Poverty. Aldershot: Ashgate. Dimmel, Nikolaus/Schenk, Martin/Stelzer-Orthofer, Christine (Hg.) (2014): Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck: Studienverlag. Esping-Andersen, Gøsta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Princeton: Princeton University Press. Ferber, Marianne A./Nelson, Julie A. (Hg.) (1993): Beyond economic man. Feminist theory and economics. Chicago: University of Chicago Press. DOI: 10.7208/chicago/9780226242088.001.0001 Grabka, Markus M./Marcus, Jan/Sierminska, Eva (2013): Wealth distribution within couples. IZA Discussion Paper No. 7637, September 2013, Bonn. Gradin, Carlos/del Rio, Coral/Canto, Olga (2010): Gender Wage Discrimination and Poverty in the EU. In: Feminist Economics 16 (2), S. 73– 109. DOI: 10.1080/13545701003731831 Grünberger, Klaus/Zulehner, Christine (2009): Geschlechtsspezifische Lohnunterschiede in Österreich. In: WIFO-Monatsberichte 82 (2), S. 139–150.

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Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (2014): Handbuch der österreichischen Sozialversicherung 2014. Horn. Heitzmann, Karin (2006): Ist Armut Weiblich? Ursachen von und Wege aus der Frauenarmut in Österreich. In: Forum Politische Bildung (Hg.): Geschlechtergeschichte – Gleichstellungspolitik – Gender Mainstreaming. Innsbruck: Studienverlag, S. 41–48. Mader, Katharina/Schneebaum, Alyssa (2013): Zur geschlechtsspezifischen Intrahaushaltsverteilung von Entscheidungsmacht in Europa. In: Wirtschaft und Gesellschaft 39 (3), S. 361–404. Mader, Katharina/Schneebaum, Alyssa/Hollan, Katarina/Klopf, Patricia (2014): Vermögensunterschiede nach Geschlecht: Erste Ergebnisse für Österreich. Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 129. Wien: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien. Ott, Notburga (1997): Beruf, Kinder, Familie – ein Spannungsfeld aus ökonomischer Sicht. In: Behning, Ute (Hg.): Das Private ist ökonomisch: Widersprüche der Ökonomisierung privater Familien- und HaushaltsDienstleistungen. Berlin: edition sigma, S. 41–66. Palk, Daniela/Schenk, Martin/Schmid, Tom (2014): Alter – Pflegebedürftigkeit – Armut. In: Dimmel/Schenk/Stelzer-Orthofer: Handbuch Armut in Österreich, S. 170–183. Reidl, Sybille/Schiffbänker, Helene (2013): Karenzväter in Zahlen. Wien: Joanneum Research. Schlager, Christa (2014): Soziale Ungleichheit und Armut aus Geschlechterperspektive. In: Dimmel/Schenk/Stelzer-Orthofer: Handbuch Armut in Österreich, S. 158–169. Statistik Austria (2009): Zeitverwendung 2008/09: Ein Überblick über geschlechtsspezifische Unterschiede. Wien. Statistik Austria (2015): Tabellenband EU-SILC 2014: Einkommen, Armut und Lebensbedingungen. Wien. Townsend, Peter (1979): Poverty in the United Kingdom. London: Penguin.

Die Vielfalt des Alters und Alterns in österreichischen Alten- und Pflegeheimen D ANIELA W AGNER

Mit jedem Moment, der vorübergeht – beginnend mit der Entstehung neuen Lebens (kalendarisches Alter) – wird ein Mensch älter (Altern als Prozess). Ob gewollt oder nicht, Altern ist allgegenwärtig, unaufhaltbar und irreversibel. Mehr oder weniger bewusst geschieht die Auseinandersetzung mit diesem Prozess durch individuelle Reflexion, familiäre Betroffenheit oder gesellschaftlich verankerte Determinanten (Alter als soziales Konstrukt). Ausgehend von einem menschlichen Kategorisierungsbedürfnis wird das gesamte Leben in – am Lebensalter ausgerichteten – Phasen unterteilt, vom Säuglingsalter bis zum Alter (Alter als Phase). Diese im gesellschaftlichen Leben verankerten Lebensphasen sind verwoben mit sozialen Zuschreibungen an bestimmte Altersgruppen (vgl. z.B. Kade 2007; Bruns et al. 2007; Amann 2004; Prahl/Schroeter 1996). Die Lebensphase Alter ist ein gesellschaftliches Konstrukt und beschreibt einen bestimmten Zeitrahmen, wie beispielsweise bei Kade (2007, S. 13–19) die zweite Lebenshälfte ab etwa dem fünfzigsten Lebensjahr oder bei Bruns et al. (2007, S. 17–19) ab dem sechzigsten Lebensjahr. Bei anderen AutorInnen erfährt die Lebensphase Alter eine vierteilige Differenzierung. Die erste Gruppe umfasst Junge oder Neue Alte, die frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Personen und jene vom 60. bis zum 80. Lebensjahr integriert. Alte sind etwa zwischen 75 und 90 Jahre alt, während man bei Personen ab 80 oder 90 bis 100 Jahre von Hochaltrigen spricht. Mit dem 100. Lebensjahr erreichen Personen ein sehr hohes Alter und werden als Langlebige Menschen bezeichnet (vgl. Herschkowitz/Chapman

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Herschkowitz 2006, S. 13–18; Prahl/Schroeter 1996, S. 13). Diese Kategorisierungen sind keinesfalls trennscharf oder eindeutig, sie ermöglichen jedoch eine übersichtliche Darstellung – wie in Abbildung 1 – der österreichischen Bevölkerung. Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung und -prognose Österreichs von 1869 bis 2071 nach Alterskategorien von Amann (2004)

1.000.000

70-74 Jahre

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75-85 Jahre

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85+ Jahre

400.000 200.000 1869 1880 1890 1900 1910 1934 1951 1961 1971 1981 1991 2001 2011 2021 2031 2041 2051 2061 2071

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Quelle: Statistik Austria 2007; Statistik Austria 2008; Wagner 2015

In Österreich leben knapp 8,4 Millionen Menschen. Im Jahr 2000 waren über 1,2 Millionen Menschen mindestens 65 Jahre alt, 570.000 davon waren mindestens 75 Jahre alt. 2010 zeigt die Statistik bereits 1,5 Millionen Menschen über 64 Jahre und von diesen sind 670.000 über 74 Jahre. Dabei wächst die Gruppe der Hochaltrigen (85+) am schnellsten, aber auch die Gruppe der 70 bis 84-Jährigen folgt dem Wachstumstrend. Diese alternden Menschen werden etwa 2030 ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen (vgl. Statistik Austria 2011; Wagner 2015). Es wird deutlich, dass immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter erreichen (werden). Eine fortwährende Alterung der Bevölkerung wird prognostiziert. Immer mehr Menschen erreichen das 100. Lebensjahr und dabei weisen 80 % dieser Langlebigen eine gute bis befriedigende Lebensqualität auf. Bereits Hochbetagte zwischen 90 und 100 Jahren sind in ihrer Anzahl rapide ansteigend, ebenfalls bei gesundheitlich zufriedenstellender Verfassung. Eine zunehmende Lebenserwartung kann durchaus einen Gewinn behinderungsfreier, gesunder, mobiler und aktiver Jahre bedeuten (vgl. Kramer 2012; Statistik Austria 2011, 2015; BMASK 2008).

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G ESELLSCHAFTLICHE K ONTEXTFAKTOREN – W IRKFAKTOREN FÜR DIE E NTSTEHUNG UND DEN B ETRIEB VON ALTEN - UND P FLEGEHEIMEN Trotz dieser Befunde darf nicht vergessen werden, dass mit zunehmendem Lebensalter gesundheitliche Beeinträchtigungen wahrscheinlicher werden und das Risiko einer Multimorbidität wächst. Mit dem Anstieg der Lebenserwartung (aufgrund hygienischer, technischer, medizinischer, wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen) bzw. mit zunehmendem Lebensalter steigt die Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit deutlich an. Die Versorgung der hilfsund pflegebedürftigen Menschen im hohen Lebensalter wird von Angehörigen, von mobilen Diensten oder durch 24-Stunden-Pflege zu Hause übernommen, sowie in teilstationären und stationären Einrichtungen gewährleistet. Soziale Entwicklungen in der österreichischen Gesellschaft forcieren die professionelle Betreuung und Pflege der Menschen – auch in Alten- und Pflegeheime. Dazu zählen in erster Linie Veränderungen auf beruflicher Ebene (Anhebung des Pensionsalters, Erwerbstätigkeit der Frauen) sowie der familiären Bedingungen (Singularisierung, Entfernung zur Familie aufgrund zunehmender Mobilität, Größe der Wohnungen von Familienmitgliedern, Pluralität von Lebensstilen und Werten). Von allen alternden betreuungs- und pflegebedürftigen Personen befinden sich 16 % in stationären Einrichtungen. Es leben österreichweit etwa 8.000 Personen im Alter zwischen 60 und 74 Jahren in Heil-/Pflegeanstalten beziehungsweise Pensionisten-/Altersheimen, das entspricht 0,7 % dieser Altersgruppe. Bereits 7 % der Menschen ab 75 Jahren, also mehr als 46.000 Personen, werden in stationären Einrichtungen versorgt. Insgesamt verteilen sich etwa 59.000 Personen auf etwa 70.000 Plätze der Betreuung und Pflege, die österreichweit angeboten werden (vgl. Statistik Austria 2011; BMASK 2008; Wagner 2015). Obwohl Alten- und Pflegeheime dem gesellschaftlichen Bedarf entspringen, dominieren negative Konnotationen. Lebensstandards seien nicht gegeben, die soziale Integration würde sinken und die defizitorientierte Ausrichtung würde zu einer Segregation der alternden Menschen führen, so das Szenario, mit dem sich Prahl/Schroeter (1996) und Amann (2004) kritisch auseinandersetzen.

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Derartige negative Konnotationen finden sich in alltagstheoretischen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Theoretische Konstrukte – etwa die Disengagement-Theorie, das Defizitmodell, das Konzept des Alterns als Stigma, das Aktivierungspostulat oder Kompensationsansätze – fokussieren auf den alter(n)sbedingt zunehmenden Abbau von somatischen, physischen, psychischen, kognitiven sowie sozialen Fähigkeiten und Leistungen und das erklärt schließlich den Anstieg des Hilfebedarfs der alt(ernd)en Menschen. Ausgehend von biologischen Abbauprozessen neigt sich die Lebenskurve dem unabwendbaren Ende zu (vgl. Voges 2008, S. 58–63; Kade 2007, S. 40–50; Amann 1975, S. 85). In den – im Rahmen meines Dissertationsprojektes – 2011 von mir geführten Interviews lassen sich vor allem Parallelen zum Konzept des Alterns als Stigma erkennen. Das Idealbild der Jugendlichkeit führt zu einer Diskriminierung und Stigmatisierung von alternden Menschen. Mit dem Etikett „alt“ werden Hilfsbedürftigkeit, Gebrechlichkeit und Passivität erfasst, wodurch biologische Veränderungen verstärkt, Selbstkonzepte beeinflusst und Verhaltensweisen angepasst werden. Der Wandel des Selbstbildes, Einschränkungen und Rückzug werden zur Sicherung von Aufmerksamkeit und Zuwendung in den Vordergrund gestellt, wodurch sich das Alter(n)sbild – aufgrund einer self fulfilling prophecy – selbst bestätigt (vgl. Voges 2008; Wagner 2015). Es zeigt sich ein Zusammenhang von biologischen und sozialen Alterungsprozessen. Ausgehend von der Annahme, dass Beruf und Familie die wesentlichen Bezugsgruppen für erwachsene Menschen darstellen, erfolgt mit dem Ausscheiden aus dem Beruf der Verlust sozialer Funktionen. Die Erfahrungen von älteren Menschen scheinen angesichts des raschen Wandels von Werten, beruflichen Theorien oder technischen Innovationen wenig relevant zu sein, Traditionen treten immer mehr in den Hintergrund und Aufgaben innerhalb der Familie werden an fremde Personen vergeben (Kinderbetreuung, Reinigung). Die Folgen sind eine rückläufige Anerkennung der alternden Menschen in der Gesellschaft und kaum befriedigende Rollenmuster, weshalb ein sozialer Rückzug proklamiert wird (Vereinsamung). Strukturelle Zwänge und gesellschaftliche Machtverhältnisse werden deutlich (vgl. Voges 2008, S. 79–94). Es wird deutlich, dass ausgehend von biologischen Attributen gesellschaftliche Bezugsrahmen entstehen. So wird die Institutionalisierung der Altenpflege und das darin verortete Priorisieren biologischer Bedürfnisse grundgelegt. Alter wird als soziales Konstrukt mit Alter(n)sbildern ver-

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knüpft, die Menschen prägen, auch jene die in Alten- und Pflegeheimen die Rahmenbedingungen festlegen und miteinander interagieren.

ALTER ( N ) IN L ANGZEITPFLEGEEINRICHTUNGEN – DIE W AHRNEHMUNG DER AKTEUR I NNEN Ausgehend von den demografischen und sozialen Entwicklungen, den unterschiedlichen Bildern und Theorien, den Selbst- und Fremdwahrnehmungen manifestieren sich zusehends Stereotypen, die Menschen in spezifischen Alterskategorien stigmatisieren. Biologisch und gesellschaftlich begründete Zuschreibungen dominieren in den Interviews. Aus der Analyse der Interviews sowie der Kontextbedingungen ergibt sich eine polarisierende Wahrnehmung der BewohnerInnen, Angehörigen und MitarbeiterInnen. Von alten und jungen BewohnerInnen – und dem Dazwischen Da mit zunehmendem Alter(n) die Vulnerabilität (Verletzlichkeit) sowie die generelle Anfälligkeit für gesundheitliche Beeinträchtigungen steigt, tendiert die Gesellschaft dazu, sich das Alter geprägt von Krankheit vorzustellen. Für alte Menschen wird die Bewältigung des Alltags immer schwieriger, die Priorität liegt in der Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse. Es entsteht der Schluss, dass Hochaltrigkeit Pflegebedürftigkeit bedeute und damit einem zufriedenen, erfolgreichen Alter(n) widerspräche (vgl. Kruse 2008, S. 21–48; Kade 2007, S. 13–19). Die interviewten BewohnerInnen der Alten- und Pflegeheime beschreiben sich selbst sowie ihre MitbewohnerInnen als sehr alt. Eine 91-jährige Bewohnerin beschreibt: „ich bin nicht sehr krank oder was nur sehr alt schon“ (Bew2_H2, Abs. 19). Da in Altenund Pflegeheimen ausschließlich Menschen mit hohem Lebensalter wohnen, die überwiegend betreuungs- und pflegebedürftig sind, erhärtet sich in den Interviews die Zuschreibung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, physisch wie psychisch. Diesen Alterungsprozess im Kontext physischer und psychischer Einschränkungen beschreibt eine Bewohnerin wie folgt: „is a net immer schen des oit werden, es is schen wonn ma, wie sui i sogn, gsund is, wennst net angwiesn bist auf irgendjemand und du brauchst im-

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mer wen“ (Bew6_H4, Abs. 18). Diese Situation sei für MitarbeiterInnen sowie vor allem für die Angehörigen belastend, die „es bedrückend erleben die Situation von an oiten Angehörigen der do dahinsiecht oder hoit immer mehr obbaut auch körperlich so“ (SA_H3,, Abs. 42). Eine weitere Zuschreibung basiert auf historischen Gegebenheiten. Alte BewohnerInnen hätten aufgrund der erlebten Kriege und Verluste ein schweres Leben hinter sich (vgl. MA_H3, Abs. 49; SL_H3; Bew1_H3; PDL_H4, Abs. 26; Bew_H6, Abs. 26–33). Vor allem negative Erfahrungen oder Konnotationen mit Personen ausländischer Herkunft prägen das Fürund Miteinander in den Einrichtungen. Von den MitarbeiterInnen wird aufgrund dieser historisch verorteten Erfahrungen und Zuschreibungen ein schwieriger Umgang mit ausländischem Personal geortet (Furcht, Rassismus). Ausgehend von der im Krieg erlernten Genügsamkeit sowie den zunehmenden Einschränkungen seien alte BewohnerInnen zudem bescheiden im Zusammenleben, hätten kaum Ansprüche und seien wenig kritisch gegenüber den Einrichtungen (PDL_H1, Abs. 23; PDL_H4, Abs. 26). Dies beschreibt eine Pflegedienstleitung wie folgt: „weil da durchschnittliche 85Jährige grade in der Generation die sind froh, dass sie da sind, sind sehr angepasst sind sehr (2) ahm, glücklich über jegliche Art von Zuwendung ja da is einfach der der Erwartungslevel nicht so hoch“ (PDL_H4, Abs. 26). Dem gegenüber steht das Bild von jungen Alten, also BewohnerInnen, die jünger als siebzig Jahre sind. Diese BewohnerInnen seien in der tollen Zeit des Wiederaufbaus aufgewachsen, hätten zahlreiche Wahlmöglichkeiten bei der Gestaltung der Berufsbiografien, der Freizeit (Urlaub, Hobbys) und der familiären Beziehungen genossen. Dementsprechend seien diese BewohnerInnen sehr fordernd, kritisch gegenüber den Einrichtungen und würden es den MitarbeiterInnen sehr schwer machen, ihre Arbeit qualitätsvoll zu verrichten (vgl. SL_H3, Abs. 22; PDL_H4, Abs. 88–90; Bew6_H4, Abs. 46; Bew_H6, Abs. 20, 51). Das beschreibt eine Pflegedienstleiterin (PDL_H4, Abs. 30): „sie gehört doch jetzt schon zur neuen Generation, mit 69 i mein die müssten ja noch voll im Lebn stehn eigentlich, und da is schon eine klare Erwartungshaltung und auch sozusagn eine Kritik an bestimmten Situationen, das machts halt dem Personal schon sehr schwer“. Die Vergangenheit hat das Leben und Verhalten von Menschen geprägt, dieser Zusammenhang ist stets präsent und wird in den Interviews als wesentlich für das Für- und Miteinander betont. Aber es sei gewarnt vor vorschnellen Zuschreibungen, denn es lässt sich eine breitere Vielfalt entde-

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cken, als die Reduktion auf Hochaltrigkeit und junge Alte vermuten lässt. Es gibt noch ein Dazwischen. Eine Bewohnerin (Bew2_H2, Abs. 65) erzählt: „i hob überhaupt net gedocht das i neunzig Joahr werd i hob gedocht ochtzig i hob oiweil gsogt i werd jetzt ochtzig net neunzig ‚Ah geh‘ sogt mei Tochter ‚Du wirst neunzig‘ und glaubst as wirst es scho sehn dann schickt mir da Pfarrer von diesa kleinen Gemeinde do wo i do die Kirche is schickt mir do Kortn wo drinnen neunzg steht denk i ma jetzt muass i doch schaun ob i neunzgi wer ((lacht)) und wor doch neunzig jo i hob net nochdocht i hob mi um die Zeit gor net kümmert wie oit i bin i wor mit meim Leben glücklich und fertig“.

Ein über neunzigjähriger Bewohner (Bew_H6, Abs. 20) hält zu Freunden und Bekannten weltweit über Internet Kontakt und möchte anderen BewohnerInnen den Zugang zum World Wide Web ermöglichen. Die zugeschriebene Genügsamkeit der alten BewohnerInnen erfährt in weiteren Erzählungen einen Widerspruch, beispielsweise würde ein Großteil sehr viel „nörgeln“ und „jammern“, angesichts der eigenen Alterungsprozesse, des Essens oder der institutionellen Strukturen (vgl. Bew_H6; Bew2_H3). Bereits diese exemplarischen Ausführungen zeigen das Spannungsfeld zwischen explizierten Zuschreibungen entlang zweier Pole und der dennoch ausgedrückten Vielfalt in konkreten Erzählungen. Von alten und jungen Angehörigen – und dem Dazwischen Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Angehörigen. Die Angehörigen sind – angesichts des hohen Alters der BewohnerInnen – selbst teilweise schon im hohen Lebensalter und kämpfen mit körperlichen und kognitiven Defiziten (vgl. Bew2_H3; Bew3_H4; PDL_H4, Abs. 90–92). Durch die eigenen Einschränkungen seien die Angehörigen mit der Situation überfordert und würden zusätzlich Betreuung benötigen, die wiederum einen Mehraufwand für die MitarbeiterInnen bedeuten würde. Generell sei die ältere Generation jedoch sehr um die Familie bemüht, würde die alten Menschen wertschätzen, dies würde sich etwa in regelmäßigen (teils täglichen) Besuchen zeigen, so eine Angehörige (Ang1_H4, Abs. 23–27). Diese Wertschätzung führe aus Sicht der Pflegenden zu völlig überhöhten Erwartungen an die Einrichtungen (PDL_H1).

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Junge Angehörige seien hingegen entweder noch im Beruf eingebunden oder würden eine aktive Freizeitgestaltung präferieren, FreundInnen der Familie vorziehen und alte Menschen nicht wertschätzen. Die nahestehenden betreuungs- und pflegebedürftigen Personen würden in die Alten- und Pflegeheime abgeschoben und auch dort kaum besucht werden. Lediglich das Vermögen der BewohnerInnen sei für die Angehörigen von Bedeutung (vgl. Ang1_H4, Abs. 23–27; Bew_H6, Abs. 24). In den Interviews mit den Angehörigen offenbart sich jedoch ein wesentlich vielfältigeres Bild der nahestehenden Angehörigen. Die Besuchsund Kontakthäufigkeit scheint weniger vom kalendarischen Alter abhängig zu sein als vielmehr von der – bereits vor dem Einzug bestehenden – Kontakthäufigkeit und Beziehungsqualität zwischen Angehörigen und BewohnerInnen. Angehörige die vor der Pflegebedürftigkeit täglichen Kontakt zur (Schwieger)Mutter pflegten führen diese Gewohnheit nach dem Einzug weiter. Andere – gleich alte – Angehörige verbindet eine innige Beziehung trotz wöchentlicher Besuche. BewohnerInnen erzählen darüber hinaus von intensiven Kontakten zu Enkel- und Urenkelkindern, und widersprechen so ebenfalls den getätigten Zuschreibungen. Entscheidend für die Besuchshäufigkeit sind weiters die Entfernung der stationären Einrichtung zum Wohnort der Angehörigen sowie die gesundheitliche Befindlichkeit nahestehender Menschen. Telefonate bilden wertvolle erweiternde Kontaktmöglichkeiten (vgl. Wagner 2015). Von alten und jungen MitarbeiterInnen der Betreuung, der Pflege und des Managements – und dem Dazwischen Aber nicht nur BewohnerInnen und Angehörige sind vom Altern betroffen, sondern auch MitarbeiterInnen der Betreuung, der Pflege und des Managements unterliegen diesem biologischen und sozialen Prozess mitsamt einer Vielfalt an Zuschreibungen. Ältere MitarbeiterInnen – wozu Personen ab etwa 50 Jahren gezählt werden – seien flexibler einsetzbar, da eine eigene Betreuungsverantwortung etwaiger Kinder nicht mehr gegeben sei. Angesichts der Wechseldienste sei dies durchaus von Vorteil für das gesamte Team (vgl. PDL_H1, Abs. 78). Die eigenen Erfahrungen befähigen eine „mittelalterliche“ Generation sensibler auf die Bedürfnisse der BewohnerInnen sowie Angehörigen zu reagieren und das Lebensalter wertzuschätzen (vgl. SL1_H1, Abs. 28; Ang_H3, Abs. 30).

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Jedoch würden ältere MitarbeiterInnen aufgrund der permanenten psychischen und körperlichen Belastung selbst gesundheitliche Beeinträchtigungen erfahren: „wenn ma mit zwanzig anfängt am Bett zum arbeiten kann dann irgendwann einmal die Wirbelsäule nicht mehr“ (SL1_H4, Abs. 83). Eine andere Stationsleiterin (SL_H3, Abs. 52) betont die damit einhergehende Gefahr von Frühpensionen. Seien die MitarbeiterInnen aufgrund der finanziell drohenden Abschläge gezwungen weiterzuarbeiten, sei die Motivation nicht mehr gegeben: „das die Mitarbeiterinnen die kurz vor der Pensionierung nicht mehr arbeiten möchten“ (SL1_H4, Abs. 85). Junge MitarbeiterInnen um die 20 Jahre werden hingegen teilweise als zu jung und mit zu wenig Berufserfahrung eingeschätzt. Jüngere MitarbeiterInnen würden zwar über (aktuelles) notwendiges Wissen verfügen, aber die Lebenserfahrung würde fehlen, sie wüssten nicht um die Schwere des Berufs – vor allem wenn diese aufgrund von Arbeitslosigkeit in den Beruf gedrängt würden – und hätten schließlich nicht das erforderliche Gefühl für die Arbeit (vgl. SL1_H1, Abs. 28; SL_H2; PH_H2, Abs. 38; HH_H2, Abs. 33; SA_H3, Abs. 46). Auch die Umgangsformen im Team ließen bei jungen MitarbeiterInnen zu wünschen übrig. Es fehle der Respekt gegenüber KollegInnen mit mehr Lebens- wie Berufsjahren, Dominanz und autokratisches Führungsverhalten von jüngeren MitarbeiterInnen gegenüber älteren seien nicht erwünscht (PH_H2, Abs. 38–40). Schließlich offenbart sich bei den MitarbeiterInnen der Betreuung, der Pflege und des Managements ein bunteres Bild. Eine Pflegehelferin (PH_H2) erzählt von einer Kollegin in einer Führungsposition, die trotz ihres jungen Lebensalters bereits sehr reif sei und ihre Aufgabe ausgezeichnet wahrnehmen könne. Zudem sind mehrere interviewte Mitarbeitende der Pflege sowie im mittleren Management sehr jung, betonen dies ebenso stolz wie ihre hervorragende Zusammenarbeit im Team (Beständigkeit), mit den Angehörigen und BewohnerInnen (Zufriedenheit) (vgl. SL2_H1, Abs. 17; DGKP_H5, Abs. 25, 33). Umgekehrt beschreibt eine ältere Mitarbeiterin: „ich hab das Gefühl das (()) ich ich bin jetzt siebenundfünfzig und hab das Gefühl das ich ehm noch für mehrere Jahre Energie habe des alles zu zu machen oder mein Wissen weiterzugeben“ (SL1_H1, Abs. 27).

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V ON W IRKMECHANISMEN UND ALTERNSBEDINGTER V IELFALT Explizit ausgedrückte Wahrnehmungen – meist basierend auf biologischen und gesellschaftlichen Begründungsversuchen – stellen individuelle Ausprägungen in den Schatten, wenngleich die Begegnung mit und Berücksichtigung von Diversität der interagierenden Personen als ein implizit ausgedrückter, unerfüllter oder gar unerfüllbarer Wunsch offenbart wird. Ein vertiefender Blick lässt mögliche Wirkmechanismen erkennen, die zu derartigen Reduktionen führen. Vorhandene Erfahrungen und Bilder sind nahezu ausschließlich negativ konnotiert. Vor allem die Medien überzeichnen die „Überalterung“, schreiben eindrucksvoll von „Altenlawine“, „Pflegelawine“, „Grauer Gesellschaft“ oder „Reich der Greise“. Die „Alterslast“ oder der „Rentnerberg“ sei mit dem „Generationenvertrag“ nicht mehr zu bewältigen, sodass die öffentliche und politische Diskussion eine Abkehr von institutioneller Betreuung und Pflege forciert (vgl. Wick 2008, S. 13–21; Amann 2004, S. 119; Hoppe/Wulf 1997, S. 398–400; Prahl/Schroeter 1996, S. 9–88). Die Folge ist eine unzureichende Unterstützung von Alten- und Pflegeheimen (finanziell wie personell) und Familien der pflegebedürftigen Personen (Pflegegelder, Pflegestufen). Die betreuungs- und pflegebedürftigen Personen, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, können erst bei fortgeschrittenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen adäquate Unterstützung erhalten. In den Interviews wird mehrfach festgestellt, dass zu alte Personen in die Einrichtungen kämen, die bereits starke gesundheitliche Beeinträchtigungen aufweisen und vereinsamt sein würden. Ein frühzeitiger Einzug sei wesentlich, da dadurch die Gestaltung der Transition sowie des Lebens in den Einrichtungen von Würde, Freude und Lust geprägt sein könne. Die BewohnerInnen könnten aktiv die Infrastruktur des Hauses nutzen und ihre individuellen Relevanzsetzungen bestmöglich zum Ausdruck bringen, ein Kennenlernen würde eine adäquate Unterstützung sowie die bewohnerInnenorientierte Versorgung bis ans Lebensende ermöglichen, so die Einschätzung mehrerer Interviewpartnerinnen (vgl. Bew2_H2, Abs. 26; MA_H3, Abs. 35–39, 94). Die Betreuenden und Pflegenden sind gefordert, die BewohnerInnen unter immer schwierigeren Bedingungen zu versorgen. Stetig steigende Anforderungen (Zeitdruck, psychische und physische Belastung), die die Ar-

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beit zusehends erschweren, werden wahrgenommen. Betreuungs- und Pflegekräfte fühlen sich überfordert, körperlich wie psychisch. Fluktuation, lange Krankenstände oder ein frühzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf und daraus folgende zusätzliche Belastungen für die KollegInnen sowie langfristige Personalmängel sind Folgen. Gleichzeitig kann die Defizitorientierung der MitarbeiterInnen in ihrer Versorgungstätigkeit zu einem überbehütenden und überfürsorglichen Betreuungsverhalten führen, wodurch sich die BewohnerInnen in ihrem eigenen Handlungsspielraum eingeschränkt fühlen, dies kann bis zum Verlust von Fähigkeiten führen. In weiterer Folge resultieren daraus zusätzliche Arbeitsbelastungen (vgl. Voges 2008, S. 52–57; Wagner 2015). Hinzu kommt die gemeinsame historische Entwicklung der gesamten Gesundheits- und Krankenpflege (Krankenhäuser). Diese wird in den Menschen- bzw. PatientInnenbildern deutlich, welche in den verwendeten Termini (Stationen, PatientInnen) sichtbar werden, aber auch im hohen Grad der hierarchischen Strukturierung oder der Standardisierung der Arbeitsabläufe. Angesichts der komplexen Arbeitsanforderungen wird der Arbeitsalltag zu vereinfachen, strukturieren und bewerten versucht um entsprechend handeln zu können. Dabei leiten Erfahrungen, Erwartungen und Erklärungsmuster, kognitive Überzeugungen, emotionale Aspekte und Verhaltenstendenzen. Durch die ungünstigen Voraussetzungen sehen sich die MitarbeiterInnen der Betreuung, der Pflege und des Managements veranlasst, Standardisierungs- und Strukturierungsprozesse an den vorherrschenden Stereotypen auszurichten, um dadurch das Für- und Miteinander zu „erleichtern“ und „abzusichern“. Die räumliche Gestaltung, das Essen und Trinken, die Freizeitgestaltung, die Schaffung von Begegnungsmöglichkeiten (soziale Kontakte), die Betreuung und die Pflege einerseits, andererseits die Zusammenarbeit des Personals werden auf Basis von Zuschreibungen gestaltet. Das Denken und Handeln wird an diesen emotional wertenden Vorstellungen bezüglich „altersgemäßer“ Relevanzsetzungen ausgerichtet (vgl. Schmitt 2008, S. 49–66; Kade 2007, S. 13–19; Wagner 2015). „Unser Verhalten gegenüber anderen Menschen orientiert sich nicht nur an unserer Kenntnis von deren individuellen Eigenschaften, Stärken und Schwächen; aus der (mutmaßlichen) Zugehörigkeit eines Menschen zu spezifischen sozialen Kategorien oder Gruppen schließen wir auf das Vorhandensein spezifischer, charakteristischer

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Attribute, welche unsere weitere Wahrnehmung, Deutung und Beurteilung dieses Menschen ebenso beeinflussen wie unsere Auswahl von Interaktionszielen und unsere Planung und Gestaltung sozialer Interaktion“ (Schmitt 2008, S. 49).

Individuelle Ausprägungen werden aufgrund der wahrgenommenen hohen Anforderungen wenig berücksichtigt bzw. als zusätzliche Arbeitserschwernis wahrgenommen. Dabei zeigt sich in bestehenden wissenschaftlichen Diskursen wie auch in den Interviews, dass Alterungsprozesse zwischen Strukturen und Spielräumen, gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichem Erleben individuell verschieden ablaufen, wahrgenommen und gestaltet werden. Mit dem natürlichen Altern jeder Zelle und jedes Organs unseres Körpers ergeben sich angesichts genetischer Anlagen, biografischer Verortungen und äußerer Einflüsse funktionelle, stoffliche und morphologische Variationen. Mit der Dauer des dynamisch verlaufenden Lebens steigen Individualisierungsund Differenzierungsprozesse an (vgl. Schmitt 2008, S. 49–66; Kade 2007, S. 13–19; Prahl/Schroeter 1996, S. 15–18). „Je älter Menschen werden, desto größer werden die Unterschiede zwischen ihnen. Die Heterogenität im Alter ist immens, die Lebenskonzepte sind unterschiedlich“ (Bruns et al. 2007, S. 105). Große intra- und interindividuelle Differenzen ergeben sich im Alter aus dem komplexen Zusammenspiel biologischer, sozialer, räumlicher, kultureller, institutioneller Umweltbedingungen und persönlicher Merkmale. Sowohl der Prozess des Alterns wie auch die Erscheinungsformen alternder Menschen und die Gestaltung der Lebensphase Alter verlaufen individuell äußerst verschieden, laufen den gesellschaftlich und wissenschaftlich manifestierten Deutungsmustern sowie Alter(n)sstereotypen zuwider (vgl. Voges 2008, S. 58–63; Kaufmann 2008, S. 119–124, S. 208; Prahl/Schroeter 1996, S. 12f). Wie dieses Altern nun wahrgenommen wird und den Alltag von BewohnerInnen, Angehörigen und MitarbeiterInnen prägt, hängt stark von den biografischen Verortungen sowie der aktuellen (gesundheitlich bedingten) Befindlichkeit ab. Für die BewohnerInnen in Alten- und Pflegeheimen spielen neben der Selbstwahrnehmung vor allem die Bewertung und die Relevanzsetzungen der Betreuenden und Pflegenden eine große Rolle. Gerade bei Personen, die mit der Betreuung und Pflege alternder Menschen betraut sind, ist ein positives Alter(n)sbild (aktiv, zufrieden, erfahren, weise) wesentlich, um eine Pflege zu gewährleisten, die durch präventive,

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kurative oder rehabilitative Maßnahmen Mobilität, Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit zu erhalten oder wiederzuerlangen intendiert. Zudem können Pflegende die BewohnerInnen in deren Aufbau eines befördernden Selbstbildes beeinflussen, individuelle Potenziale sowie deren Verwirklichung unterstützen und damit Lebensbedingungen nachhaltig verbessern. Auch würde damit eine Verbesserung der Alter(n)sbilder einhergehen, welches in die Gesellschaft weitergetragen werden könnte. Dies würde bedeuten, dass vorherrschende festgefahrene Stereotypen überwunden würden (vgl. Voges 2008, S. 52–57; Schmitt 2008, S. 49–66; Kade 2007, S. 13–19; Dibelius/Uzarewicz 2006, S. 121f; Prahl/Schroeter 1996, S. 85f). Die in diesem Aufsatz beschriebenen Zuschreibungen erweisen sich, wie bewertende Zuschreibungen generell, aufgrund ihrer Multidimensionalität als äußerst resistent gegenüber neuen Erfahrungen und individuellen Ausprägungen. Eine Abkehr muss im Umkehrschluss auf möglichst vielen Ebenen ansetzen. Neben Gesundheit, Bildung, dem Eingebundensein in soziale Netzwerke oder dem Einkommen spielen enge sozioemotionale Beziehungen zu älteren Menschen eine wichtige Rolle, um ein differenziertes und realistisches Alter(n)sbild zu forcieren. Weiters ist für eine Abkehr von vorherrschenden Stereotypen die Reflexion persönlicher Erfahrungen und Einsichten unabdinglich. Um derartige Beziehungen aufzubauen und Reflexionsprozesse zuzulassen, braucht es im Betreuungs- und Pflegealltag zeitliche Ressourcen sowie die persönliche Bereitschaft aller Beteiligten, sich darauf einzulassen. Alter(n)sbilder können durch die dabei entstehenden bereichernden Erfahrungen und eine Selbstreflexion bewusst aufgebrochen und der Blick auf die Heterogenität der Alterungsprozesse gerichtet werden (vgl. Voges 2008, S. 52–57; Schmitt 2008, S. 49–66; Kade 2007, S. 130f; Dibelius/Uzarewicz 2006, S. 120–125). Diese Verbindung thematisieren auch einige InterviewpartnerInnen (vgl. SL1_H1; SL_H3). Sie fordern in diesem Zusammenhang fordern dringend eine Verbesserung der Rahmenbedingungen (Zeit, Lebensweltorientierung, gesundheitsfördernde Maßnahmen, Supervision oder rückenstärkende Bewegungsförderung für MitarbeiterInnen), eine Aufwertung der Berufs- und Alter(n)sbilder sowie in weiterer Folge die Verbreitung positiv konnotierter Bilder aus stationären Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen. Gemeinsam mit dem persönlichen Engagement der AkteurInnen in den Häusern gelänge es dann, die Versorgungsqualität zu sichern und die Zufriedenheit aller Beteiligten zu

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erhöhen sowie der Diversität aller Beteiligten gerecht zu werden (vgl. Wagner 2015).

L ITERATUR Amann, Anton (1975): Alltagswissen, Forschung und Praxisbezug – Beiträge zu einer Wissenssoziologie der Alternsprozesse. In: Amann, Anton et al. (Hg.): Programme und Beispiele der sozialwissenschaftlichen Alternsforschung. Ein Beitrag zur österreichischen Forschungskonzeption. Wien: Ludwig Boltzmann Institut für Sozialgerontologie und Lebenslaufforschung. Amann, Anton (2004): Die großen Alterslügen. Generationenkrieg – Pflegechaos – Fortschrittsbremse? Wien: Böhlau. Bruns, Werner/Bruns, Petra/Böhme, Rainer (2007): Die Altersrevolution. Wie werden wir in Zukunft alt werden. Berlin: Aufbau. BMASK – Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hg.) (2008): Hochaltrigkeit in Österreich. Eine Bestandsaufnahme. Online verfügbar unter: http://www.sozialministerium.at/cms/ site/attachments/8/5/7/CH2233/CMS1218112881779/hochaltrigen_kleine_ datei.pdf (2016-03-01). Dibelius, Olivia/Uzarewicz, Charlotte (2006): Pflege von Menschen höherer Lebensalter. Stuttgart: Kohlhammer Urban-Taschenbücher. Gerdenitsch, Claudia (2015): Alter(n) – Vielfalt erforschen. In: Scherke, Katharina (Hg.): Spannungsfeld „Gesellschaftliche Vielfalt“. Begegnungen zwischen Wissenschaft und Praxis. Bielefeld: transcript, S. 187–194. DOI: 10.14361/9783839429648-011 Herschkowitz, Norbert/Chapman Herschkowitz, Elinore (2006): Lebensklug und kreativ. Was unser Gehirn leistet, wenn wir älter werden. Freiburg: Herder. Hoppe, Birgit/Wulf, Christoph (1997): Alter. In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim: Beltz, S. 398–403. Kade, Sylvia (2007): Altern und Bildung. Eine Einführung. Bielefeld: Bertelsmann. Kaufmann, Franz-Xaver (2008): Was meint Alter? Was bewirkt demographisches Altern? Soziologische Perspektiven. In: Staudinger, Ursula

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Wick, Georg (2008): Perspektiven der Alternsforschung – Vom programmierten Zelltod zur Pensionsreform. Wien: Picus. Interviews Ang_H3: Angehörige, Haus 3, geführt am 07.04.2011, Dauer: 57 Min. Ang1_H4: Angehörige 1, Haus 4, geführt am 11.07.2011, Dauer: 32 Min. Bew_H6: Bewohner, Haus 6, geführt am 10.11.2011, Dauer: 66 Min. Bew1_H3: Bewohner 1, Haus 3, geführt am 30.03.2011, Dauer: 72 Min. Bew2_H1: Bewohnerin 2, Haus 2, geführt am 22.03.2011, Dauer: 31 Min. Bew2_H3: Bewohnerin 2, Haus 3, geführt am 14.07.2011, Dauer 60 Min. Bew3_H4: Bewohnerin 3, Haus 4, geführt am 12.07.2011, Dauer: 20 Min. Bew6_H4: Bewohnerin 6, Haus 4, geführt am 11.07.2011, Dauer: 32 Min. DGKP_H5: Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Haus 5, geführt am 04.05.2011, Dauer: 41 Min. HH_H2: Heimhilfe, Haus 2, geführt am 22.03.2011, Dauer: 60 Min. MA_H3: Mitarbeiterin, Haus 3, tätig als Koordinatorin der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen und Rezeptionistin, geführt am 07.04.2011, Dauer: 46 Min. PDL_H1: Pflegedienstleitung, Haus 1, geführt am 28.02.2011, Dauer: 81 21 Min. PDL_H4: Pflegedienstleitung, Haus 4, geführt am 15.03.2011, Dauer: 52 Min. PH_H2: Pflegehilfe, Haus 2, geführt am 22.03.2011, Dauer: 1 Stunde 24 Minuten. SA_H3: Sozialarbeiterin, Haus 3, geführt am 15.03.2011, Dauer: 30 Min. SL_H2: Stationsleitung, Haus 2, geführt am 22.03.2011, Dauer: 48 Min. SL_H3: Stationsleitung, Haus 3, geführt am 07.04.2011, Dauer: 60 Min. SL1_H1: Stationsleitung 1, Haus 1, geführt am 03.03.2011, Dauer: 54 Min. SL1_H4: Stationsleitung 1, Haus 4, geführt am 11.07.2011, Dauer: 70 Min. SL2_H1: Stationsleitung 2, Haus 1, geführt am 03.03.2011, Dauer: 38 Min.

Diversität im Alter Intersektionale Perspektiven auf Alter und sexuelle Orientierung B ÄRBEL S USANNE T RAUNSTEINER

Die aktuellen demografischen Entwicklungen in postindustriellen Dienstleistungsgesellschaften wie der österreichischen sind gekennzeichnet davon, dass der Anteil älterer Menschen an der Gesamtgesellschaft sich kontinuierlich im Anstieg befindet. Aktuelle Erhebungen und Prognosen zeigen eine Zunahme des Bevölkerungsanteils der 65+–Jährigen in Österreich von 14,9 % im Jahr 1990 auf 18,4 % im Jahr 2014 bis hin zu prognostizierten 23,4 % im Jahr 2030 (vgl. Statistik Austria 2015a). Daraus resultierend ergibt sich ein zunehmender Bedarf an Pflege und Betreuung von und für ältere Personen. Gleichzeitig ist eine steigende Diversifizierung der Gesellschaft insgesamt zu beobachten, sei es hinsichtlich des Anteils in Österreich lebender Personen mit Nicht-Österreichischer-Staatsangehörigkeit1, der Zunahme an Ein-Personen-Haushalten2 oder der beständigen Zunahme von

1

Dieser stieg von nahezu 300.000 (konkret 295.692) im Jahr 1984 auf 1.103.848 im Jahr 2014, wobei sich auch die österreichische Gesamtbevölkerung in diesem Zeitraum von 7.561.434 (1984) auf 8.543.932 (2014) um fast eine Million erhöhte (vgl. Statistik Austria 2015c).

2

Dieser hat sich beispielsweise in Privathaushalten in Österreich von 743.000 im Jahr 1984 auf 1.395.000 im Jahr 2014 nahezu verdoppelt (vgl. Statistik Austria 2015b).

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Menschen ohne religiösem Bekenntnis3. Diese Vervielfältigung sozialer Diversität spiegelt sich in allen Altersschichten wieder und stellt eine steigende Herausforderung sowohl für den Sozialstaat im Allgemeinen als auch für konkrete Institutionen der Altenpflege und -betreuung im Speziellen dar. Aus intersektionaler Perspektive (vgl. Crenshaw 1989) sind dementsprechend vielfältige soziale Kreuzungspunkte im Sinne unterschiedlicher sozialer Gruppierungen sowohl wissenschaftlich als auch sozialpolitisch in den Fokus zu nehmen. Denn solch wissenschaftlicher Grundlagenforschung bedarf es, um die Integration von spezifischen Zielgruppenbedürfnissen in sozialpolitische Maßnahmen auf fundierter Basis gewährleisten zu können. Insofern sind wissenschaftlich gestützte Erkenntnisse zu verschiedenen Lebenslagen unabdingbarer Ausgangspunkt für sozialpolitisch verantwortliches und integratives Handeln. Dementsprechend hält die Altersforscherin Gertrud Backes fest: „‚Lebenslage‘ wird gefaßt als Ausformung von Lebensbedingungen, die einer (sozial)staatlichen Planung, Steuerung und Beeinflussung bedürfen – und zwar unter wissenschaftlicher Anleitung“ (Backes 1997, S. 708f.). Um eine sozialpolitisch „geplante und gezielte Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen im Sinn von ‚Spielräumen‘“ (Clemens/Naegele 2004, S. 390) durch den Sozialstaat auch für möglichst viele Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen, bedarf es einer Analyse bestehender ‚blinder Flecken‘ bzw. Entwicklungsfelder sowohl in der wissenschaftlichen als auch der sozialpolitischen Beschäftigung. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden am Beispiel von Homosexualität im Alter erörtert werden, inwiefern die Strukturkategorien und intersektionalen Kreuzungspunkten hinsichtlich sexueller Orientierungen in wissenschaftlicher ebenso wie in sozialpolitischer Hinsicht in Österreich bisher einbezogen wurden.

3

So hat sich die Anzahl von Personen ohne religiöses Bekenntnis von 1981 bis zur letzten nationalen Erhebung im Rahmen der Volkszählung 2001 von 452.039 auf 963.263 nahezu verdoppelt (vgl. Statistik Austria 2007).

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Z UM F ORSCHUNGSSTAND IN Ö STERREICH 1. Allgemeine sozialgerontologische und sozialpolitische Publikationen Grundsätzlich kann die wissenschaftliche wie auch sozialpolitische Beschäftigung mit dem Thema Homosexualität im Alter für Österreich in der Tendenz als nach wie vor tabuisiert bezeichnet werden4. Diese Tabuisierung bzw. mangelnde Beschäftigung ist bedingt durch den heteronormativen Charakter existierender gesellschaftlicher Machtstrukturen. Der Begriff der Heteronormativität stellt in diesem Sinne einen zentralen Terminus der wissenschaftlichen Diskussion dar5. Darunter wird, basierend auf dem aktuell existierenden gesellschaftsnormierenden westlichen Geschlechterregime, das sich aus den Konstruktionsbausteinen eines bipolaren gegengeschlechtlich konstruierten Begehrens ausschließlich zweier Geschlechter in Form von Mann und Frau konstitutiv zusammensetzt (vgl. Wetterer 2010, S. 126), verstanden, dass Heterosexualität gesellschaftlich als ‚natürlich‘ und ‚normal‘ angesehen und bewertet wird und diese normative Erwartungshaltung gegenüber jedem Menschen antizipiert und eingenommen wird (vgl. Goffman 1967, S. 13). Die mannigfaltigen Auswirkungen dieser Normativitätskonstruktionen beziehen sich jedoch nicht nur auf reine Erwartungshaltungen Individuen gegenüber. Vielmehr zeichnen sich solche sozialen Normierungen immer durch den Zusammenhang von Macht, Zwang und Sanktion gegenüber Individuen sowie dadurch aus, dass sie außerhalb individueller Definitionsmöglichkeiten liegen (vgl. Durkheim 1961, S. 105ff.). Heteronormative Einschreibungen dieser Normativitätsregime finden sich folglich nicht nur auf individuellen sondern vielmehr auf strukturellen Ebenen wieder, wie

4

Marco Pulver zieht für Deutschland in Bezug auf die Fokussierung von transidenten, schwulen und lesbischen Personen im Kontext von Alter ein ebensolches Resümee (vgl. Pulver 2015, S. 303f.).

5

Judith Butler betont wegweisend die konstitutive Verbundenheit von ‚Geschlecht‘ und ‚sexueller Orientierung‘ mit dem Begriff der „heterosexuellen Matrix“ (Butler 1991, S. 63). Zur ausführlichen Einführung in den Begriff der Heteronormativität siehe Wagenknecht (2007).

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beispielsweise in gesellschaftlichen Werthaltungen, institutionellen Einund Ausschlüssen oder auch rechtlichen Normen in Form von Gesetzgebungen6. Heteronormative Strukturen und infolgedessen antizipierte Heterosexualität prägen und beeinflussen das Leben aller Menschen dieser Gesellschaften – und dementsprechend auch der österreichischen – auf vielfältige Arten und Weisen. Personen mit nicht-heteronormativen Lebenskonzepten – seien es z.B. schwule Männer oder lesbische Frauen – wird infolge der herrschenden Macht- und Gesellschaftsstrukturen tendenziell die Rolle der Abnormalen und Unnatürlichen zugeschrieben. Erving Goffman bezeichnet sie daher auch als die „Diskreditierbaren“ (Goffman 1967, S. 56f.). Auf struktureller Ebene resultieren aus diesen nicht-normativen L(i)ebenskonzepten Diskriminierungen und Marginalisierungen von Homosexuellen. Die kaum beachteten spezifischen Lebenssituationen und Bedürfnisse heteronormativ-abweichender sozialer Gruppierungen zeigen sich beispielsweise an der spezifischen Gruppe älterer Homosexueller sowohl in politischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. So werden ihre jeweiligen Lebenslagen kaum in sozialstaatlichen Forschungs- und Empfehlungspublikationen oder in allgemeinen sozialgerontologischen Veröffentlichungen in den Blick genommen. An der Schnittstelle zwischen Forschung und nationaler Sozialpolitik in Österreich zeigt sich, dass die spezifischen Lebenssituationen von älteren Menschen mit nicht-heteronormativen L(i)ebensentwürfen in jüngeren Berichten weder in der Analyse noch in der Empfehlung von Maßnahmen beachtet oder inkludiert werden. Als Beispiele dafür können Publikationen des Sozialministeriums wie der Bericht Hochaltrigkeit in Österreich (BMASK 2009), der Bundesplan für Seniorinnen und Senioren (BMASK 2013) oder der Bericht Soziale Lage älterer Menschen in Österreich (Eiffe et.al. 2012) angeführt werden. Auch in Berichten anderer Ressorts, wie dem vorliegenden Bericht zur gesundheitlichen Lage der älteren Generation (vgl. BMG 2012) des Gesundheitsministeriums oder der u.a. von beiden

6

Zu Erörterungen zur jahrhundertelangen strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen siehe Hehenberger 2006, aber auch Schäffer-Ziegler 2000. Beispiele zur nach wie vor existierenden rechtlichen Ungleichbehandlung im Zivilrecht finden sich in Traunsteiner 2015b, S. 72ff.

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Ministerien co-finanzierten aktuellen Studie zu Hochaltrigen der Österreichischen Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen (vgl. ÖPIA 2015), findet sich kein struktureller Einbezug nicht-heteronormativer sozialer Gruppierungen. Im jüngsten ressortübergreifenden Strategiepapier zur Förderung von Mobilität vor allem im Alter „Koordinierte FTI-Strategien und Maßnahmen für Mobilität und Lebensqualität vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“ (Bauer et al. 2015)7 werden zwar Chancengerechtigkeit und soziale Kohäsion als Punkt im Handlungsfeld „Selbstbestimmung und Gesundheit“ sowie der Themenbereich „Diversität“ als prioritäres Handlungsfeld definiert, der Aspekt der sexuellen Orientierung findet sich jedoch nicht wieder, im Gegensatz beispielsweise zu Begrifflichkeiten wie Geschlecht oder Migration. Insofern dieses Strategiepapier die Grundlage dafür darstellt, „in welche Richtung die relevanten FTIFörderstrategien und -maßnahmen entwickelt werden müssen“ (ebd., S. 4), kann auf einer solchen Basis nicht von einer nachhaltigen strukturellen Integration in solche zukünftige Forschungsmaßnahmen oder -förderungen auf nationalstaatlicher Ebene ausgegangen werden. Wird nunmehr der Blick auf jüngere sozialgerontologische Publikationen mit österreichischem Fokus gerichtet, ist auch darin kaum ein Einbezug der Strukturkategorie der sexuellen Orientierung festzustellen. Als Beispiel sei hier der Sammelband von Kolland und Müller (2013) zu Alter und Umbrüchen in der österreichischen Gesellschaft genannt. Ein reflexiver Blick auf nicht-heteronormative L(i)ebensweisen fehlt ebenso in dem explizit zur sozialen Ungleichheit alter Menschen in Österreich veröffentlichten Werk von Knapp und Spitzer (2010). Nur vereinzelt wird darin am Rande Homosexualität angesprochen (vgl. Deutsch 2010, S. 397). Alleine in dem dezidiert auf Intersektionalität ausgerichteten Band von Appelt, Fleischer und Preglau (2014) wird neben den Strukturkategorien Geschlecht, Migrationshintergrund, Schicht und Alter auch die der sexuellen Orientierung in einem Beitrag erörtert (vgl. Traunsteiner 2014).

7

FTI: Forschung, Technologie und Innovation

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2. Zielgruppenspezifische Forschungsbeiträge8 Den Perspektiven und Publikationen, die nicht-heteronormative L(i)ebenskonzepte weitgehend negieren, steht in den wenigen österreichischen Studien zu Homosexualität die Forderung gegenüber, dass tiefergehende Forschungen nicht nur hinsichtlich Diskriminierungsaspekten, sondern auch in Bezug auf die Vielfältigkeit vorhandener homosexueller Lebensweisen und auf das Zusammenwirken unterschiedlicher sozialer Kategorien im Zusammenhang mit Homosexualität notwendig sind (vgl. Hofmann/ Cserer 2009, S. 31). Aus Perspektive der LSBT 9-Forschung zu Älteren in Österreich kann das Jahr 2015 als bedeutsam angesehen werden, da es im Vergleich zum bisherigen Veröffentlichungsbestand mit gleich zwei zielgruppenspezifischen Publikationen aufwartet. So wurde 2014 erstmals eine Studie in Wien zum Betreuungsbedarf von homosexuellen und transgender Personen im Alter durchgeführt und im Rahmen einer Veranstaltung der Wiener Antidiskriminierungsstelle (Wast) am 15. Juni 2015 präsentiert (vgl. Wiener Sozialdienste o.J.a).10 In der von den Wiener Sozialdiensten und Sozial Global beauftragten mixed-method Studie11 sollten Personen ab 40 Jahren nach ihren Bedürfnissen bezüglich Pflege und Wohnen im Alter befragt werden (vgl. Wiener Sozialdienste o.J.b, S. 4). Wie auch in anderen deutschsprachigen Forschungen zu ausgewählten homosexuellen Zielgruppen ist jedoch der Altersdurchschnitt der StudienteilnehmerInnen wesentlich jünger als die Fragestellung nach Bedürfnissen von Homosexuellen im Alter annehmen lässt (vgl. dazu ca. 52,62

8

Zum Forschungsstand in Deutschland siehe bezüglich gleichgeschlechtlich l(i)ebender Frauen Traunsteiner 2015; Homosexuelle im Alter generell Lottmann/Lautmann 2015 und in den USA Fredriksen-Goldsen/Muraco 2010.

9

‚LSBT‘ (engl. LGBT) steht als Abkürzung für ‚Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender‘ und hat sich als Begriff politisch emanzipativer AktivistInnen etabliert.

10 Es handelt sich um die Studie von Schuster/Edlmayr 2014. 11 Es wurden quantitative Elemente wie Fragebogenerhebungen (online sowie analog) mit insgesamt 1.143 Teilnahmen aber auch qualitative (ExpertInnen-)Interviews mit insgesamt 10 Personen durchgeführt (vgl. Schuster/Edlmayr 2014, S. 27 bzw. 47).

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Jahre bei Plötz 2006; 58 Jahre bei Braukmann/Schmauch 2007): So sind rund 43 % der Befragten unter 40 Jahre und nur 27 % über 50 Jahre (vgl. Schuster/Edlmayr 2014, S. 46)12. Im Gegensatz dazu kann die ebenfalls 2015 veröffentlichte Forschungsarbeit zu aktuellen Lebenslagen gleichgeschlechtlich l(i)ebender Frauen über 60 Jahre in Österreich mit 66,35 Jahren einen wesentlich höheren Altersdurchschnitt im Sample vorweisen (vgl. Traunsteiner 2015, S. 167). Die in Bezug auf Wien unabhängig durchgeführte Studie13 ist ausschließlich mit qualitativen Methoden und dementsprechend narrativen Interviews verfasst worden (vgl. ebd., S. 183ff.) und gibt gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Vertreterinnen der Generation 60+ eine öffentliche Stimme. Deutlich wird in beiden Forschungsarbeiten, dass die jahrhundertelange Diskriminierung von Homosexuellen in Österreich nach wie vor in Form eines sehr unterschiedlichen individuellen Stigma-Managements (vgl. Goffman 1967) und öffentlichen Umgangs mit der eigenen nicht-heteronormativen L(i)ebensweise Wirkung zeigt: So verdeutlicht beispielsweise die quantitative Studie, dass sich in den gesundheitsrelevanten Bereichen rund ein Viertel der Befragten nur einem kleinen Teil oder niemandem gegenüber outet (vgl. Schuster/Edlmayr 2014, S. 50) und 88 % der Beantwortenden davon ausgehen, dass das bestehende Angebot an Pflege- und Betreuungseinrichtungen nur sehr schlecht oder eher schlecht auf den spezifischen Bedarf von LGBT-Personen zugeschnitten ist. Folglich geht auch nahezu die Hälfte der Befragten davon aus, dass sie in solchen Einrichtungen vom Personal diskriminiert werden würden (vgl. ebd., S. 52). Ergebnisse der qualitativen Forschung untermauern diese Angaben hinsichtlich der Gruppe älterer lesbischer Frauen, indem ein teils sehr differenzierter Umgang mit der Öffentlichmachung der eigenen gleichgeschlechtlichen L(i)ebensweise je nach sozialem Umfeld – sei es im nachbarInnenschaftlichen Umfeld, dem Arbeitskontext oder gegenüber FreundInnen, Wahl- und Herkunftsfamilie –

12 Bei der Präsentation wurde angemerkt, dass auch in der Gruppe 50+ ein wesentlicher Teil der Befragten sich am unteren Ende der Altersskala befunden hat. Genaue Angaben fehlen jedoch in der veröffentlichten Studie. 13 Es handelt sich dabei um mein Dissertationsprojekt im Rahmen der Doktoratsstudiums „Palliative Care und OrganisationsEthik“ an der Universität Klagenfurt.

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an den Tag gelegt wird (vgl. Traunsteiner 2015, S. 438ff.). Im Hinblick auf Marginalisierungserfahrungen zeigt sich darüber hinaus, dass Ängste in Bezug auf das eigene Älterwerden vor allem den Aspekt des Verlustes sozialer Kontakte und Einsamkeit in Bezug auf die eigene nicht-heteronormativ-l(i)ebende soziale Gruppe im Kontext von normativen Alterswohnangeboten betreffen (vgl. Traunsteiner 2014, S. 152f.). Vor allem für ältere gleichgeschlechtlich l(i)ebende Singlefrauen ist bereits vor Eintritt in eine altersbedingte Pflege- oder Betreuungssituation das Vereinsamungsrisiko in Bezug auf die eigene sozial-marginalisierte Bezugsgruppe immanent vorhanden (vgl. Traunsteiner 2015, S. 376ff.). Dies wird u.a. bedingt durch mangelnde Kontakträume mit Gleichgesinnten (vgl. ebd., S. 400ff.), welche allerdings zum einen zur Kontaktaufnahme notwendig wären und zum anderen vor allem ein unbedarfteres und offeneres Umgehen auf körperlicher Ebene zwischen älteren gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Frauen aber auch mit anderen Menschen befördern würde (vgl. ebd., S. 267ff. bzw. 469ff.).

R ESÜMEE Gertrud Backes und Wolfgang Clemens halten bezugnehmend auf die Gestaltung von Lebenslagen fest: „Im Kern bezieht sich das Lebenslagen Konzept auf die dialektische Beziehung zwischen ‚Verhältnissen‘ und ‚Verhalten‘ (Amann). Lebenslagen sind ebenso Ausgangsbedingungen menschlichen Handelns wie auch Produkt dieses Handelns“ (Backes/Clemens 2000, S. 12). In diesem Sinne sind zur Förderung einer gleichberechtigten Teilhabe homosexueller Älterer an der Gesellschaft und ihren Einrichtungen strukturelle Maßnahmen notwendig, um die Handlungsspielräume dieser Zielgruppen zu verbreitern und auf diese Weise ihre Lebensqualität zu fördern. Basierend auf jüngsten wissenschaftlichen Forschungen speziell für Österreich existieren bereits entsprechende Empfehlungen hinsichtlich bestehender Forschungsdesiderata sowie bezugnehmend auf gesellschaftsund sozialpolitische, gesetzliche als auch organisationale Aspekte (vgl. Traunsteiner 2015, S. 481ff.) aber auch sehr konkret in Bezug auf die notwendige spezifische Ausgestaltung von Wohn-, Betreuungs- und Pflegesettings für LGBT Personen im Alter (vgl. Schuster/Edlmayr 2014, S. 82ff.). Im Sinne des vorliegenden Buchtitels können diese Empfehlungen für die Bewältigung anstehender sozialer wie individueller Herausforderungen ge-

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nutzt werden um diesen proaktiv und im Sinne zielgruppenspezifischer Bedürfnisse homosexueller Menschen in Österreich zu begegnen.

L ITERATUR Appelt, Erna/Fleischer, Eva/Preglau, Max (Hg.) (2014): Elder Care: Intersektionelle Analysen der informellen Betreuung und Pflege alter Menschen in Österreich. Innsbruck: Studienverlag. Backes, Gertrud M. (1997): Lebenslage als soziologisches Konzept zur Sozialstrukturanalyse. In: Zeitschrift für Sozialreform, Nr. 43/9, S. 704727. Backes, Gertrud/Clemens, Wolfgang (2000): Lebenslagen im Alter. Gesellschaftliche Bedingungen und Grenzen. Opladen: Leske + Budrich. DOI: 10.1007/978-3-322-97450-1 Bauer, Hemma/Kraft, Michael/Reiterer-Pazmandy, Matthias/Schintlmeister, Peter/Spreitzer, Hannes/Pfaller, Christina/Wasner, Walter/Zieger, Constantin/Zimmermann, Kerstin (2015): Koordinierte FTI-Strategien und -Maßnahmen für Mobilität und Lebensqualität vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Roadmap der FTI-AG 3 „Lebensqualität und demografischer Wandel“ zur Umsetzung der FTI-Strategie der Bundesregierung. Wien. Online verfügbar unter: http://www.bmwfw. gv.at/Innovation/Publikationen/Documents/Roadmap_Mobilitaet_AG3. pdf (2015-12-30). BMASK – Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hg.) (2009): Hochaltrigkeit in Österreich. Eine Bestandsaufnahme. Wien. Online verfügbar unter: www.bmask.gv.at/cms/site/ attachments/8/5/7/CH2233/CMS1218112881779/hochaltrigen_kleine_ datei.pdf (2015-12-30). BMG – Bundesministerium für Gesundheit (Hg.) (2012): Gesundheit und Krankheit der älteren Generation in Österreich. Endbericht. Wien. Online verfügbar unter: www.goeg.at/cxdata/media/download/berichte/ seniorenbericht_2012.pdf (2015-12-30). BMASK – Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hg.) (2013): Altern und Zukunft. Bundesplan für Seniorinnen und Senioren. In Zusammenarbeit mit dem Bundesseniorenbeirat. Wien. Online verfügbar unter: www.sozialministerium.at/cms/site/

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Autorinnen und Autoren

Univ.-Prof. Mag. Dr. Anton Amann Universität Wien [email protected] Dr.in Alexandra Edlinger Freiberufliche Forscherin, Erwachsenenbildnerin [email protected] Cordula Endter, M.A., Dipl. Psych. Universität Hamburg Fakultät für Geisteswissenschaften/FB Kulturgeschichte und Kulturkunde Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie [email protected] Mag.a Ingrid Enge Karl-Franzens-Universität Graz Geisteswissenschaftliche Fakultät – Institut für Philosophie [email protected] Dipl.-Ing.in Dorothea Erharter ZIMD Zentrum für Interaktion, Medien & soziale Diversität [email protected] Dipl.-Ing.in Maria Fellner, MBA JOANNEUM RESEARCH Forschungsgesellschaft mbH [email protected]

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Mag.a (FH) Susanna Finker Karl-Franzens-Universität Graz Koordinationsstelle Alter(n) [email protected] Mag.a Manuela Gallunder Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit GFSG [email protected] Mag. Gerhard Hermann Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit GFSG [email protected] Mag.a Karin Kicker-Frisinghelli Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft [email protected] Dr. Günter Klug Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit GFSG [email protected] Verena Köck, Bakk. MA Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Wirtschaftspädagogik/Grazer Methodenkompetenzzentrum [email protected] Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Margareta Kreimer Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Volkswirtschaftslehre [email protected] Manuela Künstner Sozialverein Deutschlandsberg [email protected]

A UTORINNEN

UND

A UTOREN | 279

Philipp Lefkopoulos bouncing bytes GmbH [email protected] Alexander Lerch FameL GmbH [email protected] Marianne Lerch FameL GmbH [email protected] Univ.-Prof.in Dr.in Diplompflegepädagogin Christa Lohrmann Medizinische Universität Graz Institut für Pflegewissenschaft [email protected] Manuela Mandl, BSc, MSc Medizinische Universität Graz Institut für Pflegewissenschaft [email protected] Dipl.-Ing. Dr. Lucas Paletta JOANNEUM RESEARCH Forschungsgesellschaft mbH [email protected] Mag.a Dr.in Mariella Panagl Sozialverein Deutschlandsberg [email protected] Ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Bettina Rabelhofer Institut für Germanistik Karl-Franzens-Universität Graz [email protected]

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Josef Steiner Sozialverein Deutschlandsberg [email protected] Dr.in Claudia Stöckl Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft Koordinationsstelle Alter(n) [email protected] Andreas Stückler, MA Österreichische Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen (ÖPIA) [email protected] Mag.a Dr.in Bärbel S. Traunsteiner Wirtschaftsuniversität Wien Institut für Gender und Diversität in Organisationen [email protected] Mag.a Dr.in Daniela Wagner, MA www.geg-altern.at [email protected] Mag.a Tanja Wurm, BSc MSc Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Römisches Recht, antike Rechtsgeschichte und Neuere Privatrechtsgeschichte [email protected] Univ.-Ass. Mag.a art. Johanna Zeisberg, BSc. Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Germanistik [email protected]

Gesellschaft der Unterschiede Projektgruppe »Neue Mitleidsökonomie« (Hg.) Die neue Mitleidsökonomie Armutsbekämpfung jenseits des Wohlfahrtsstaats? März 2017, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3158-6

Bastian Ronge (Hg.) Solidarische Ökonomie als Lebensform Berliner Akteure des alternativen Wirtschaftens im Porträt Oktober 2016, 144 Seiten, kart., 18,99 €, ISBN 978-3-8376-3662-8

Lothar Böhnisch, Wolfgang Schröer Das Sozialpolitische Prinzip Die eigene Kraft des Sozialen an den Grenzen des Wohlfahrtsstaats Oktober 2016, 184 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3459-4

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Verena Rothe, Gabriele Kreutzner, Reimer Gronemeyer Im Leben bleiben Unterwegs zu Demenzfreundlichen Kommunen 2015, 288 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2996-5

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