Ruin des Zusammen-lebens: Corona und die Erneuerung der Gesellschaft 9783495996980, 9783495996973


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Table of contents :
Cover
Einleitung
Ausgangspunkt der Idee
Eine wichtige Argumentationsfigur
Technische Details
Aspekt 1 Ursprung einer Idee
Nachdenken – Meinen – Wissen – Regeln. Hintergründe einer Klimax
Bedeutung hinter den Dingen
Perspektivenwechsel
Zukunft als Vergangenheit
Nachdenken: Entwürfe des Alltags?
Nachdenken heißt die passenden Fragen stellen
Ausblenden »guter« Nachrichten
Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?
Das ramponierte Vertrauen
Ist das Spiel wirklich aus?
Die Sehnsucht des Zusammen-lebens
Zusammen-leben und seine Orientierung
Barrieren der Kommunikation
Zu 1. Kommunikation
Zu 2. Gemeinsamkeit
Zu 3. Verantwortung
Ungetröstet-sein
Aspekt 3 Zusammen-leben und Systemvertrauen
Verdrängte Eckdaten des Zusammen-lebens
Ausgerastete Balance der Macht
Das Drama der Pflicht
Triage – ein Dilemma der Not-Behandlung
Systemvertrauen
Literaturkritischer Zwischenruf
Aspekt 4 Aus der Seuchengeschichte lernen
Geschichte und Erinnerung
Ein historischer Rückblick
Beobachtungen aus der Seuchengeschichte
Zwei Seiten der Information
Allmacht der Biologie
Panik – Alarm der Überforderung
Denk-Askese und Rassismus
Religion und Religionsverschnitt
Hidden files der Seuche?
Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche?
Giovanni Boccaccio und seine aktuelle Bedeutung
Wer war Boccaccio?
Boccaccios Idee
Geschichten erzählen
Boccaccio und die nachhaltige Liberalität in Lessings Ringparabel
Panik und Seuche
Boccaccios Gestaltung einer Welt der Menschen und sein feministischer Ansatz
»Nieder mit dem Geld! Es lebe die Liebe!«
Zusammen-leben nach der Seuche
Aspekt 6 Sinnsuche: Ein Seuchenproblem in Albert Camusʼ »Die Pest«
Der Roman »Die Pest«
Sieg über die Pest
Absurdität
Und der Sinn von Corona?
Leben mit dem Absurden
Und der Sinn von Corona?
Revolte
Und der Sinn von Corona?
Sinn bei Camus
Eine Antwort auf Camus: José Saramagos »Die Stadt der Blinden«
Aspekt 7 Machen wir die Welt kaputt oder die Seuche?
Die sog. Todsünden bei Konrad Lorenz
Übervölkerung
Verwüstung des natürlichen Lebensraumes
Wettlauf der Menschheit mit sich selbst
Wärmetod des Gefühls
Funktionsstörungen lebender Systeme
Ein Literaturexkurs: Friedrich Hölderlin und die Rettung
Aspekt 8 Coronas Wörterbuch – Warum wir wie sprechen?
Wie bedeutend ist der klinische Aspekt?
Seuchen-Begriffe mit militärischem Hintergrund
Systemfremde Seuchenbegriffe
Das sogenannte Seuchen-»Sprech«
Bedeutung für unser Sprechen
Aspekt 9 Kultur und Kunst: Zusammen-leben im Stau
Das Subjekt in der Moderne
Kunst und Dialog
»Schaubühne als moralische Veranstaltung« (F. Schiller)
Das verlorene Paradies
Kunst und Zusammen-leben
Aspekt 10 Corona und der Bankrott des Sozialen
Fairness und Seuche
Zunehmende Ungleichheit
Gewalt teilt die Gesellschaft
Endmoränen des Gigantismus
Wirtschaft – paradigm lost
Bürokratie: Falle des Zusammen-lebens
Zusammen-leben im toten Winkel der Moral
Was schweißt die Menschen zusammen?
Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer
Priorisieren – kennt man die Konsequenzen?
Missstände und Wachsamkeit
Sensibilität für Andere
Wem gehören Menschen?
Ich-selber sein
Helfen Regeln?
Verhängnis durch Stereotype und Vorurteile
Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein« (Hannah Arendt) und die Krise des Zusammen-lebens
Kann man ohne Freiheit zusammenleben?
Bedrohung durch das Verantwortungsparadox?
Die Freiheit, frei zu sein?
Woher kommen die Grundrechte?
Bedrohte Rechte als Flop des Zusammen-lebens
Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst
Unterwegs zur angstfreien Gesellschaft: The last best hope of earth (Abraham Lincoln)
Angst in Zeiten von Corona
Blick hinter die Ängste
Angst: Sprache des Lebens
Angst und ihre philosophische Begriffswelt
Mit Angst leben?
Aspekt 14 Der Graben zwischen Information und Verstehen
Jemanden abholen, wo er steht
Respektieren, nicht bewerten
»Erklären« ist noch lange nicht »Verstehen«
Stehen, Ver-stehen, Zusammen-stehen
Ausmusterung des Vorbilds?
Kann man den Graben überwinden?
Aspekt 15 Corona und die Begründung der Regeln
Begründung der Regeln
Ethik – Moral – Recht
Politik als Schwarzer Peter
Vier Prinzipien der Ethik
Tyrannei der Prinzipien
Wirund die Regeln
Regeln gehören zum Zusammen-leben
Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun?
Das Prinzip der Gegenseitigkeit
Der vergessene »moral agent«
Kritik der Regeln
Moral entwickelt sich
Provisorische Moral
Regelvermittlung
Bedeutung der »Moral« in Zeiten der Pandemie
Aspekt 17 Die verwundbaren Helden
Ein Mythos
Behandlung: die Faszination des Taktilen
Therapeutische Ethik des Wir
Fragile Macht
Die Helden und unsere Dankbarkeit
Ein historischer Zwischenruf: Das vierte Gelübde in der frühen Neuzeit
»Unglücklich das Land, das Helden nötig hat«
Nachdenklichkeit am Schluss:»Sie tanzen allein (Cueca solo)«
Zusammenfassung
Anmerkungen
1. Abkürzung der Zeitungen/Zeitschriften
2. Abkürzungen der Lexika
3. Genutzte Literatur
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Ruin des Zusammen-lebens: Corona und die Erneuerung der Gesellschaft
 9783495996980, 9783495996973

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zeitGeist | 1

Franz Josef Illhardt

Ruin des Zusammen-lebens Corona und die Erneuerung der Gesellschaft

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

zeitGeist | 1

Franz Josef Illhardt

Ruin des Zusammen-lebens Corona und die Erneuerung der Gesellschaft

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

© Titelbild: gremlin – istockphoto.com

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99697-3 (Print) ISBN 978-3-495-99698-0 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

Für meine Frau Johanna Scherle-Illhardt Ohne sie wären meine Gedanken kein Buch geworden

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Aspekt 1 Ursprung einer Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Nachdenken – Meinen – Wissen – Regeln. Hintergründe einer Klimax . . . . . . . . . . . . . . . .

22

Bedeutung hinter den Dingen . . . . . . . . . . . . . . .

24

Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

Zukunft als Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Nachdenken: Entwürfe des Alltags? . . . . . . . . . . . .

29

Nachdenken heißt die passenden Fragen stellen . . . . . .

30

Ausblenden »guter« Nachrichten . . . . . . . . . . . . .

31

Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit? . . . . . .

33

Das ramponierte Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Ist das Spiel wirklich aus? . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

Die Sehnsucht des Zusammen-lebens . . . . . . . . . . .

38

Zusammen-leben und seine Orientierung . . . . . . . . .

39

Barrieren der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . .

41

Ungetröstet-sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

7

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

Inhaltsverzeichnis

Aspekt 3 Zusammen-leben und Systemvertrauen . . . . . . .

49

Verdrängte Eckdaten des Zusammen-lebens . . . . . . . .

50

Ausgerastete Balance der Macht . . . . . . . . . . . . . .

53

Das Drama der Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Triage – ein Dilemma der Not-Behandlung . . . . . . . .

56

Systemvertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Literaturkritischer Zwischenruf . . . . . . . . . . . . . .

61

Aspekt 4 Aus der Seuchengeschichte lernen . . . . . . . . . .

63

Geschichte und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Ein historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Beobachtungen aus der Seuchengeschichte . . . . . . . .

67

Zwei Seiten der Information . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Allmacht der Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

Panik – Alarm der Überforderung . . . . . . . . . . . . .

71

Denk-Askese und Rassismus . . . . . . . . . . . . . . .

72

Religion und Religionsverschnitt . . . . . . . . . . . . .

73

Hidden files der Seuche? . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche?

Giovanni Boccaccio und seine aktuelle Bedeutung . . . . . .

77

Wer war Boccaccio? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Boccaccios Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Geschichten erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

8

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

Inhaltsverzeichnis

Boccaccio und die nachhaltige Liberalität in Lessings Ringparabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Panik und Seuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Boccaccios Gestaltung einer Welt der Menschen und sein feministischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

»Nieder mit dem Geld! Es lebe die Liebe!« . . . . . . . .

84

Zusammen-leben nach der Seuche . . . . . . . . . . . .

85

Aspekt 6 Sinnsuche: Ein Seuchenproblem in Albert Camusʼ »Die Pest« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Der Roman »Die Pest« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Sieg über die Pest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

Absurdität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Leben mit dem Absurden . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Sinn bei Camus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Eine Antwort auf Camus: José Saramagos »Die Stadt der Blinden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100

Aspekt 7 Machen wir die Welt kaputt oder die Seuche?

Die sog. Todsünden bei Konrad Lorenz . . . . . . . . . . . .

103

Übervölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Verwüstung des natürlichen Lebensraumes . . . . . . . .

106

Wettlauf der Menschheit mit sich selbst . . . . . . . . . .

107

Wärmetod des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

Funktionsstörungen lebender Systeme . . . . . . . . . .

109

Ein Literaturexkurs: Friedrich Hölderlin und die Rettung

112

9

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

Inhaltsverzeichnis

Aspekt 8 Coronas Wörterbuch – Warum wir wie sprechen? . .

115

Wie bedeutend ist der klinische Aspekt? . . . . . . . . . .

117

Seuchen-Begriffe mit militärischem Hintergrund . . . . .

118

Systemfremde Seuchenbegriffe . . . . . . . . . . . . . .

121

Das sogenannte Seuchen-»Sprech« . . . . . . . . . . . .

122

Bedeutung für unser Sprechen . . . . . . . . . . . . . . .

122

Aspekt 9 Kultur und Kunst: Zusammen-leben im Stau . . . . .

127

Das Subjekt in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . .

130

Kunst und Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

»Schaubühne als moralische Veranstaltung« (F. Schiller) .

132

Das verlorene Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Kunst und Zusammen-leben . . . . . . . . . . . . . . .

134

Aspekt 10 Corona und der Bankrott des Sozialen . . . . . . . . .

137

Fairness und Seuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138

Zunehmende Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . .

140

Gewalt teilt die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . .

141

Endmoränen des Gigantismus . . . . . . . . . . . . . . .

143

Wirtschaft – paradigm lost . . . . . . . . . . . . . . . .

145

Bürokratie: Falle des Zusammen-lebens . . . . . . . . . .

147

Zusammen-leben im toten Winkel der Moral . . . . . . .

149

Was schweißt die Menschen zusammen? . . . . . . . . .

150

10

https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

Inhaltsverzeichnis

Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer . . . . . . . .

153

Priorisieren – kennt man die Konsequenzen? . . . . . . .

157

Missstände und Wachsamkeit . . . . . . . . . . . . . . .

158

Sensibilität für Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Wem gehören Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . .

160

Ich-selber sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Helfen Regeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

162

Verhängnis durch Stereotype und Vorurteile . . . . . . .

162

Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein« (Hannah Arendt) und die Krise des Zusammen-lebens . . . . . . . . . . . . . .

165

Kann man ohne Freiheit zusammenleben? . . . . . . . . .

168

Bedrohung durch das Verantwortungsparadox? . . . . . .

168

Die Freiheit, frei zu sein? . . . . . . . . . . . . . . . . .

170

Woher kommen die Grundrechte? . . . . . . . . . . . . .

171

Bedrohte Rechte als Flop des Zusammen-lebens . . . . .

172

Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst . . . . . . . . . . . .

175

Unterwegs zur angstfreien Gesellschaft: The last best hope of earth (Abraham Lincoln) . . . . . . . . . . . . . . . .

176

Angst in Zeiten von Corona . . . . . . . . . . . . . . . .

176

Blick hinter die Ängste . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

Angst: Sprache des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . .

182

Angst und ihre philosophische Begriffswelt . . . . . . . .

184

Mit Angst leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

Inhaltsverzeichnis

Aspekt 14 Der Graben zwischen Information und Verstehen . .

189

Jemanden abholen, wo er steht . . . . . . . . . . . . . .

192

Respektieren, nicht bewerten . . . . . . . . . . . . . . .

193

»Erklären« ist noch lange nicht »Verstehen« . . . . . . . .

194

Stehen, Ver-stehen, Zusammen-stehen . . . . . . . . . .

194

Ausmusterung des Vorbilds? . . . . . . . . . . . . . . .

196

Kann man den Graben überwinden? . . . . . . . . . . . .

197

Aspekt 15 Corona und die Begründung der Regeln . . . . . . . .

199

Begründung der Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

Ethik – Moral – Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Politik als Schwarzer Peter . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

Vier Prinzipien der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . .

206

Tyrannei der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208

Wirund die Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210

Regeln gehören zum Zusammen-leben . . . . . . . . . .

211

Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun? . . . . . . . .

215

Das Prinzip der Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . .

215

Der vergessene »moral agent« . . . . . . . . . . . . . . .

217

Kritik der Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

Moral entwickelt sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

Provisorische Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Regelvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224

Bedeutung der »Moral« in Zeiten der Pandemie . . . . . .

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https://doi.org/10.5771/9783495996980 .

Inhaltsverzeichnis

Aspekt 17 Die verwundbaren Helden . . . . . . . . . . . . . . .

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Ein Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232

Behandlung: die Faszination des Taktilen . . . . . . . . .

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Therapeutische Ethik des Wir . . . . . . . . . . . . . . .

235

Fragile Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Helden und unsere Dankbarkeit . . . . . . . . . . . .

238

Ein historischer Zwischenruf: Das vierte Gelübde in der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Unglücklich das Land, das Helden nötig hat« . . . . . . .

240

Nachdenklichkeit am Schluss: »Sie tanzen allein (Cueca solo)« . . . . . . . . . . . .

243

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Abkürzung der Zeitungen/Zeitschriften . . . . . . . .

251

2. Abkürzungen der Lexika . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Genutzte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Als ich das Manuskript fertig hatte, dachte ich an den Roman von Gabriel Maria Marquez «Die Liebe in den Zeiten der Cholera». Mein Buch gibt wie der Roman keine klaren Ratschläge, ist eher ein Rätsel. Zusammen-leben geht in die Brüche, aber wir haben nichts, was das Rätsel löst. Das ist wie bei Marquez. Sie haben den Roman von Marquez sicherlich gelesen. Zur Erinnerung in Kürze der Inhalt: Die Hauptfigur des Romans konnte erst als alter Mann mit seiner Jugendliebe ihre Beziehung verwirklichen. Zuvor glückte das nicht. Soziale Vorteile, beruflicher Aufstieg, Bordellbesuche usw. waren Auswege und Gründe für das Scheitern. Und dann kam die alte Liebe, jetzt aber bedroht von einer Seuche. Auf einem Flussdampfer wollen sie davonschippern und der Cholera entkommen. Damit endet das Buch. Marquez verrät uns (lei­ der) nicht, wie und ob die Beziehung unter diesen Umständen gelingt. Er lässt die Frage offen. Dass sie offenbleibt, macht den Roman spannend. Fast unser Thema. Liebe ist natürlich etwas sehr Persönliches. Aber das Problem von Marquez ist ähnlich wie das von uns. Der alte Mann und seine Jugendliebe haben sich gefunden, aber die Cholera bedroht sie. Hält ihre Liebe? Was uns bedroht, ist die Krise eines guten Zusammen-lebens in Zeiten von Corona. Dazu gehört wohl auch die Liebe, aber auch die Beziehung jedweder Art zwischen allen Menschen. Und darum geht es: Zusammen leben bzw. Zusammen-leben. Wir sollten die Pandemie aus dem Blick der Menschen angehen, die von Angst, Erkrankung oder Trauer gepeinigt werden. Wie es so schön heißt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wirklich zuletzt? Eher oder später als das Zusam­

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Einleitung

men-leben? Was wir nicht verstehen, soll die Grundlage unserer Entscheidungen werden. Darum versuchen wir die Probleme des Zusammen-lebens zu verstehen. Und nur was wir verstehen, ist lösbar.

Ausgangspunkt der Idee Grund dieser Arbeit ist die Gefahr, dass wir während und nach Corona das Problem des Zusammen-lebens aus den Augen verlieren. Bevor wir darüber nachdenken, soll Folgendes klarge­ stellt werden: 1. Zusammen-leben ist in Frage gestellt worden. Extrem in die falsche Richtung läuft die Spaltung der Gesellschaft durch die Bewegung der Querdenker v.a. mit ihrer Liaison mit Reichsbür­ gern und anderen extrem rechten Gruppen. Dem entgegenge­ setzt sind das massenhafte Auftreten von Menschen in Geschäf­ ten, Tourismus, Ausflüge in sehenswerte Landschaften usw. Angesichts dieser Entwicklung geht es vielmehr um das Bewusstmachen von Perspektiven des Zusammen-lebens, von Akzeptanz bis Wahrhaftigkeit, die in Aspekt 3 näher angespro­ chen werden. 2. Kommunikation ist ein wesentliches Element des Zusammenlebens. Kommunikation befördert die Art, wie man anderen wichtige Momente, Überzeugungen, auch Fehler, falsche Beto­ nungen usw. mitteilt. Ausblendung von Kommunikation bedeu­ tet Ausblendung von Verstehen, etwa von Verstehen der Regeln, medizinischen Zusammenhängen, Diskussionen, Verantwort­ lichkeiten usw. Diese beiden Punkte sind mir besonders wichtig. Denn Impfen ist nicht die Rückkehr zum alten Normalzustand vor Corona. Der hat ja schließlich die Pandemie erleichtert (wenn auch nicht ausgelöst). Was die Defizite des erwünschten Zusammen-lebens sind, wird in den späteren Kapiteln näher diskutiert.

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Einleitung

Natürlich werden viele Aspekte nicht angesprochen. Eine Uni­ versallösung wird erst gar nicht versucht. Stattdessen bleiben Fragen über Fragen, die eine Antwort brauchen. Der wollen wir näherkommen. Nicht mit einem Generalschlüssel, sondern mit einer Synthese vieler Momente, die ich in jedem meiner Aspekte anklingen lasse.

Eine wichtige Argumentationsfigur Viele meiner Belege stammen aus der Philosophie, sie sollen Nach­ denken helfen, nicht akademische Philosophie betreiben. Sehr interessiert hat mich der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, mit seinem Werk: »Die fragile Haut der Welt« (2021). Er hat sogar philosophische Reden für Kinder gehalten. Sein Lehrer war der berühmte Jaques Derrida. Das Ziel seiner Philosophie ist die »Berührung des Realen« (Aufsatztitel in 2021). Diese Philosophie des Taktilen fasziniert mich. Seine Idee verfolge auch ich – Verste­ hen, was die Realität ist und mit uns macht. Warum dieser Mix aus Philosophie, manchmal Theologie, aus Literatur, Bioethik und vielen Zeitungsnotizen? Nicht die Begrün­ dung der Auswahl ist wichtig. Nachdenken – und darum soll es mir und den Lesern dieses Buches gehen – bedeutet, die vorgegebene Position zu bestreiten oder auch zu akzeptieren. Beides bringt uns weiter. Noch einmal: Warum dieser Mix? Von dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty, den ich später erwähne, habe ich gelernt, wie wichtig Multiperspektivität ist. Er propagiert eine Philosophie, die Strukturen aufhellt, aber belletristische Literatur braucht, die Einzelschicksale zu beschrei­ ben. Sonst geht sie an der Realität vorbei. Meine Beiträge sind multiperspektivisch angelegt und versuchen, Realität zum Fokus unseres Nachdenkens zu machen. Diese philosophische – sagen wir besser nachdenkliche – Aus­ richtung des Buches ist sehr bedeutsam. Wir wollen nicht Theorien, sondern hinter die Dinge schauen. Anders – zumindest manchmal anders – als v.a. bei psychologischen und soziologischen Aspekten

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Einleitung

geht es beim Nachdenken nicht um Fakten und Faktenchecks, sondern um das Freilegen von Perspektiven. Gelegentlich habe ich Erfahrungen aus der Medizinethik bzw. aus der Arbeit in der Ethik-Kommission – ich war dort Geschäfts­ führer – eingebaut, wenn sie zu den Erfahrungen der Coronabe­ handlung passen. Beide Problembereiche sind gegenseitig erhel­ lend. Wichtig sind auch die Zeitungsnotizen. Es geht nicht um den Umgang mit Virologie auf Zeitungsniveau, vielmehr um Fragen, die offen bleiben. Die Bedeutung der Fragen wird zugespitzt auf Zusammen-leben. Eine kurze Entschuldigung ist nötig. Psychologische und sozio­ logische Aspekte sowie auch andere, z.B. medienwissenschaftliche Konzepte fehlen oft. Nur gelegentlich zitiere ich sie. Aber es wäre fatal, unser Pandemiekonzept mit fachbezogenen Expertisen zu verwechseln. Auf der Strecke blieben dann die Alltagsprobleme.

Technische Details Für die einzelnen Kapitel habe ich den Ausdruck »Aspekte« gewählt. Damit soll betont werden, dass die Fragen, die damit verbunden sind, offene Fragen sind und keine endgültigen Urteile. Auch der Leser will Nachdenklichkeit, keine Belehrung. Das finde ich bedeutsam. Wer sich für den einen oder anderen Hinweis näher interessiert, findet detaillierte Angaben im Literaturverzeichnis. Die meisten belletristischen Zitate habe ich nicht mit einer Seiten­ zahl versehen, weil es zu viele verschiedene Ausgaben gibt. Ich habe drei Aufsätze ausgewählt – Buchrezensionen aus dem Blog meines Bruders und seiner Frau (www.querzeit.org) – und redigiert bzw. erweitert. Die anderen Beiträge sind neu für diese spezielle Perspektive. Dieses Buch will nichts ausschließen, was zum bedrohten Zusammen-leben gehört und seine Korrektur unterstützt. Es geht keinesfalls um alternative Theorien à la Querdenker. Kritik, ohne die unser Buch nicht auskommt, soll höchstens daran erinnern,

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Einleitung

dass eine möglichst weite Perspektive nötig ist – im Sinne von Notwendend. Hinter Zitaten gebe ich die Autoren, den Jahrgang der Veröf­ fentlichung und die Seitenzahlen an. Detaillierte Angaben der Buch- und Aufsatztitel sind im Literaturteil am Schluss zu finden, der nach Autoren gegliedert ist. Ausnahmen sind die Aufsätze aus Zeitungen, bei denen keine Seitenzahl angegeben wird. Ich betrachte sie als Stützen der Nachdenklichkeit, nicht als laienhafte Analyse der medizinischen Expertisen. Bei allen älteren Zitaten benutze ich die alte Rechtschreibung.

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Aspekt 1 Ursprung einer Idee

Dieses Buch drängte sich immer mehr in meinen Kopf, je eindimensionaler die medialen Informationen wurden, die wir tagtäglich zu hören bekamen. So viel blieb unausgesprochen. Wir wurden zu Hobbyvirologen, aber vergaßen die Bedeutung des Zusammen-lebens. In einem Radiogespräch mit Dirk Brockmann1 erfuhr ich Folgen­ des: Wir haben es in seinen Arbeiten und unserem Nachdenken über Corona mit einem riesigen Problem zu tun. Nicht nur die Ungewissheit wissenschaftlicher Erkenntnisse machen die Ergeb­ nisse unsicher, sondern vor allem die komplexen Regeln und Eingriffe der Menschen, unser Verhalten im Zusammen-leben. Mit anderen Worten: Zusammen-leben und entsprechende Interven­ tionen sind entscheidend in der Infektionsbekämpfung. Zusam­ men-leben ist wichtig und geht über Massenevents weit hinaus, wird zum Thema des Lebens in und vermutlich nach Corona. Das versuchen wir mit dieser Arbeit. In den Jahren ab Ende 2019 wurde viel über Corona geredet, 2021 wurde es sogar Wahlkampfthema. Die Politiker aller Parteien präsentieren ihre Version von Corona, die Bürger, die gefährdet sind oder sich vor der Infektion lieber Menschen fürchten, werden von Angst beherrscht. Und dann kommen noch die »Querdenker«, eine Bezeichnung, die früher für Menschen gebraucht wurde, die 1 vgl. Dirk Brockmann 2021. Er ist Physiker und Professor am Institut für Biologie der Humboldt-Universität Berlin und Leiter einer Arbeitsgruppe für mathematische Modelle und Computersimulationen im Robert-Koch-Institut.

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Aspekt 1 Ursprung einer Idee

unzeitgemäß oder gegen den Strom dachten. Heute gelten sie als Impfverweigerer und schwer zu trennen von Staatskritikern, Autonomisten und Verschwörungstheoretikern. Unser Zusammen-leben ist durcheinandergeraten. Fakenews, Aggressionen und Hassparolen in den social media verschlimmern das Ganze und machen uns nervös. Kürzlich (September 2021) wurde ein regeltreuer Tankwartsgehilfe von einem Querdenker erschossen, weil der eine Maske forderte, der Querdenker das jedoch für falsch hielt. Das Thema war nicht die Maske, sondern das Problem, wie wir miteinander leben, ob und wie wir etwa die Meinung anderer respektieren, wenn sie nicht mit unserer Meinung zusammenpassen.

Nachdenken – Meinen – Wissen – Regeln. Hintergründe einer Klimax Ein besonders wichtiges Problem ist unser aller Unsicherheit, wie unsere Meinungsbildung funktioniert. Natürlich hören wir viel über Corona. Fast sind wir ein einig Volk von Laienvirolo­ gen geworden. Nur was auch noch zum Problem gehört, wissen wir nicht. Unsere Aufgabe ist nicht zu analysieren, was die Dinge sind, sondern wie man mit dem umgeht, was man verhindern will. Wir sollen nicht die Virologen überholen oder austricksen,2 sondern uns Gedanken darüber machen, was uns jenseits der medizinischen Wissenschaften wichtig ist. Wie kommen wir eigentlich zu unseren Standpunkten und was sind die Marksteine unserer Meinungsbil­ dung? Denkbare Meilensteine sind 1) Nachdenken, 2) Meinen, 3) Wissen und 4) Regeln. Dazu kurz eine Auflistung ihrer Bedeutung. 2 Einmal las ich, wie ein Autor (leider weiß ich seinen Namen nicht mehr) Drostens PCR-Test in Grund und Boden stampfte. Ich googelte damals nach dem Autor: Der hatte ein Kochbuch publiziert. Sind wir so weit gekommen – Kochen gegen Corona?

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Nachdenken – Meinen – Wissen – Regeln. Hintergründe einer Klimax

Nachdenken

Das, was geschehen oder geplant ist, soll nach seiner Bedeutung für uns und unsere Mitmenschen analy­ siert werden.

Meinen

Unser Nachdenken soll Bestandteil unserer Diskus­ sion werden. Es ist aber noch nicht allgemeingültig, sondern etwas Exemplarisches und fundiert im Gemeinsinn (vgl. Bermes 2021, S. 104). Alternati­ ven sind wichtig.

Wissen

Wissen geht eine Stufe weiter. Was »ich« meine, wird mit wissenschaftlichen Methoden auf seine Verläss­ lichkeit geprüft.

Regeln

Regeln ist eine besonders komplexe Anstrengung, die nur dann verbindlich ist, wenn sie auf allen vorher besprochenen Kategorien beruht.

Eine besonders wichtige Rolle spielen bei diesen vier Stufen die Medien. Sie informieren kaum über Nachdenken und Meinen. Als das Fehlen von ausreichender Impfstoffmenge beseitigt war, nahm die Impfbereitschaft in der Gesellschaft zusehends ab. Warum? Es gibt sicher viele Gründe, aber der folgende war besonders krass. Ausverkauf der Medien: Statt Gründen lieferten sie Bilder von unzähligen Injektionen in entblößte Oberarme – das meist benutze Bild zur Pandemie. Erotik des Oberarms? Ist das der berühmte Pieks? Haben die Dinge eine Bedeutung? Und wo bleiben die Gründe? Schmerzen und die sog. Spritzenphobie (meist in der Kinder- und Jugendmedizin), Ängste wegen Nebenwirkungen und Langzeitfolgen? Hoffnungen? Sinn? Wie weit reicht Verpflichtung mir und den anderen gegenüber? Reklame fürs Impfen orientiert sich – wie es scheint – an Lebensmittelkonzernen. Haben wir unser Nachdenken und Mei­ nen in Zeiten der Pandemie oder schon vorher abgebaut? Im Laufe der Pandemie kamen mir immer deutlicher kritische Gedanken in den Sinn: Bekämpfung von Covid stand natürlich im Vorder­ grund, Zusammen-leben wurde bedeutungslos oder mit Überleben

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Aspekt 1 Ursprung einer Idee

gleichgesetzt. Aber diese Strategie darf nicht zum Tunnelblick entarten. Die vielen Facetten des Problems werden später noch öfter thematisiert.

Bedeutung hinter den Dingen Vor vielen Jahren promovierte ich über die Trauer und schrieb dabei über den noch traurigeren jüdischen Philosophen Walter (Bendix Schoenflies) Benjamin (1892–1940). Mehrere Menschen, die ihm nahestanden, starben an der Spanischen Grippe, der Pandemie von 1918–20. Beim Betrachten von Paul Klees «Angelus novus» und nachhaltig fasziniert davon, schrieb er in seiner 9. These zur Geschichtsphilosophie (1938/40): »Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« Interessant ist in diesem Text der Hinweis, dass Paul Klees Engel das Zerschlagene, oder sagen wir es weniger prosaisch, die kaputte Welt zusammenfügen will, aber es gelingt ihm nicht. Unser Prob­ lem: Kriegen wir das Problem der Pandemie hin, auch wenn wir keine Engel sind – auch nicht die von Paul Klee? Die Menschen müssen es selber tun.

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Bedeutung hinter den Dingen

Benjamin hat mich fasziniert, weil er in seinen Texten immer wieder Dinge und deren Aura beschreibt wie Möbel, Mietshäuser in Berlin, Kunstwerke, Jahrmarktsapparate, barocke Hofnarren (seine Doktorarbeit), die Straßen von Paris usw. Und hinter all die­ sen Dingen steckt Bedeutendes, man muss es nur aufdecken kön­ nen. ● Was sind Zahlen? Nachdenken ist nicht das simple insichgekehrte Grübeln. Nach­ denken ist überlegen, was hinter den Daten, Fakten und Regeln steckt. Ich will auf keinen Fall die Qualität (Reliabilität, Validität, Signifikanz und Relevanz) des Tragens von Atemmasken unter­ suchen, wohl aber die Bedeutung für das Zusammen-leben. Einfach gesagt: Mir ist es wichtig, auch das zu benennen, was eine geringere Rolle spielt als die Zahlen und die schlecht belegten Infektionswege des Virus. Etwa: Die Lockdown-Regeln sind zwar medizinisch begründet, werden gelegentlich aber politisch umfor­ muliert und entschärft. Mich bewegt die Tatsache, wie wir mit dem bedrohten Zusammen-leben umgehen, etwa mit den Folgen für die Gesellschaft, mit den Regeln, mit unseren Ängsten, mit der bedrohten Kultur und Kunst. Wie es scheint, spielen eine wichtige Rolle aktuelle Zahlen: Inzidenzwerte, Neuinfektionen, Tote, Intensivbehandlung, Gene­ sung, Ausbreitung der Impfung usw. Hinter den Zahlen stehen die Bedeutungen: Sprache, Kultur, Freiheit, Angst, Regeln, Ver­ letzlichkeit, Fairness, Ungleichheit, Gewalt, Bürokratie, Achtung, Randunschärfen usw. All diese Probleme verbergen sich hinter den Zahlen. Nur macht uns etwas stutzig: ● Sind Zahlen Fakten? Warum? Hochachtung vor den großen Zahlen? Je größer, desto vertrauenserweckender. ● Wissen wir, was sich hinter diesen Zahlen verbirgt? ● Was wollen wir mit Zahlen sagen? (Ab wann ist der Anstieg groß? Warum?)

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Aspekt 1 Ursprung einer Idee

Das müssen wir aufmerksam im Blick behalten. ● Was sind sog. Fakten? Mich hat irritiert, dass von den vielen Nachrichten über die Pandemie im Wesentlichen sog. Fakten verbreitet wurden, die Experten verstehen, aber wir, die Nicht-Experten, kaum. Sehr selten dagegen bekommen wir Perspektiven vorgesetzt, die uns die Bedeutung der Seuche verstehen helfen. Müde macht uns nicht das Virus, sondern das Chaos der Regulierungen, das Zurückfahren des Problems »Zusammen-leben« und die Inkompetenz, mit der Zusammen-leben eigentlich gesichert werden soll. »Inkompetenz« deswegen, weil sehr selten davon die Rede ist bzw. überzeugende Bilder davon präsentiert werden Vorerst möchte ich eins festhalten: Die Gefahr von Corona ist nicht nur das Virus, sondern auch die Agonie des Zusammenlebens. Was wir am meisten sehen, ist der (in den beiden ersten Jahren) täglich mehrmals verbreitete Coronaticker. Wie das Kanin­ chen, hypnotisiert von der Schlange, so fühlen wir uns, hypnotisiert von den sog. Fakten.

Perspektivenwechsel Jeder (Hobby-)Fotograph weiß, wie entscheidend eine Perspektive für ein gelungenes Bild ist. Man kann Corona aus den verschie­ densten Perspektiven betrachten, aus dem Blickwinkel der Medi­ zin, der Wirtschaft, der Statistik, der Politik usw. Jeder Blickwinkel hat sein Recht. Aber wir brauchen andere Perspektiven als nur die Effektivitätsperspektive. Wichtig ist das, was die Corona-Pandemie – neben der Virologie und anderen medizinischen Fächern – auch noch betrifft. Vor allem dann, wenn man mit dem Virus leben will oder besser: trotz des Virus Zusammen-leben will/muss. Perspektivenwechsel ist unser aktuelles Covid-Problem. Man sieht überall das Virus, den roten Noppenball, in vieltausendfacher Vergrößerung. Was soll das und wer versteht das? Nur marginal thematisiert wird all das, was nicht aus der Sparte Medizin kommt.

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Perspektivenwechsel

Information in den Medien ist fast ausschließlich fachmedizi­ nisch (Virologie, Epidemiologie, Intensivmedizin usw.) orientiert. Medien geben das weiter. Ob das richtig oder falsch ist, sollen die Experten entscheiden. Diskussionen finden ebenso selten statt wie Erklärungen. Sehr bedenklich ist darüber hinaus, dass Erfah­ rung und Deutung des Alltags (Seuchengeschichte, Humanwissen­ schaft, Literaturwissenschaft usw.) nur am Rande in Erscheinung treten. Je mehr all die Hintergründe unseren Alltag betreffen, umso schwächer wird die Vermittlung der Informationen. Zusammen-leben in Zeiten von Corona kann man aus verschie­ denen Perspektiven sehen. In dem Artikel »Noppenball« ließ Rolf Schönlau (2020, S. 6) das Coronavirus aus der Perspektive eines Virus, besser in Vertretung des Menschen sprechen. Dem Virus werden folgende sehr interessante Sätze in den Mund gelegt: »Als wären 3 Ordnungen, 73 Familien, 9 Unterfamilien und 287 Gattungen [der Viruseingruppierung, F.J.I.] nicht genug, ver­ wendet ihr auch nicht-offizielle Virus-Taxa […]? Glaubt ihr allen Ernstes, uns [das Virus, F.J.I.] so in den Griff zu bekommen? […] Aber dazu müßt ihr erst einmal eure Sicht­ weise ändern«. Was mich fasziniert und elektrisiert: Sichtweisen verändern. Wir bekommen die Perspektiven der Biomedizin vorexerziert, die wir wie im Fall von Corona mehr oder weniger bzw. meist weniger verstehen. Nichts gegen Biomedizin, die Vorsilbe, etwa bei »biologisch«, kommt ja wohl vom griechischen »bios« (= Leben). Das heißt eine Medizin, die zwar bio-logisch orientiert ist, aber den Hintergrund »Leben« verloren hat. Ist das der bio-medizini­ schen Orientierung mit ihren virologischen, infektiologischen, epidemiologischen usw. Sparten auch so passiert? Ich frage nur, zur Behauptung reicht es nicht. Und was ist mit den vergessenen Perspektiven des Lebens? Leider wird uns selten gesagt, was jenseits der Fixierung auf dieses Virus wichtig ist. Gemeint ist damit die Perspektive, die nicht von den Virus-Experten ausgeht, sondern von unserer Welt und uUnserem Leben.

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Aspekt 1 Ursprung einer Idee

Am Ende dieses Punktes beschäftigt mich eine seltsame Blick­ richtung mit lauter Fragen. Welche Rolle spielt Corona im nationa­ len Gedächtnis? Als die Spanische Grippe 1922 mehr oder weniger zuende ging, geriet sie langsam aber sicher in Vergessenheit. Oder was ist mit AIDS? Darüber spricht keiner mehr. Und jetzt die Fragen: Wie wird das mit Corona sein? Wird sie identitätsbildend? Denkt man noch an das Chaos des Zusammenlebens? An die Gefährdung der Demokratie? Bleibt eventuell nur noch die Inszenierung eines Jahrestages? Oder bleibt nur Verges­ sen? Immerhin, schreibt Aleida Assmann (2020, S. 68): »Wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen können.« Auch die Geschichten mit unseren Wertgeneratoren.

Zukunft als Vergangenheit Jean-Luc Nancy schrieb in der Einführung zu seinem Buch (2021, S. 9): »Und jetzt geht alles in die Binsen, das Klima, die Arten, die Finanzen, die Energie, das Vertrauen und sogar die Möglichkeit der Berechnung, deren wir so sicher waren«. Wir leben in einer Zeit der gefährdeten Zukunft. Immer öfter hört man den Satz, dass es doch so schön wäre, wenn die Zeit auf Vor-Corona zurückgedreht würde. Heißt das: Die Zukunft liegt hinter uns? Mit einer solchen Situation müssen wir zurechtkom­ men. Aber wie? Das geht nur, wenn wir uns Gedanken über dieses viel gebrauchte Wort machen: Zukunft ist das, was auf uns zukommt. Zunächst müssen wir uns klar darüber sein, dass wir etwas wissen oder wollen und immer über das hinaus gehen, was wir jetzt gerade wissen oder wollen. Damit hängt auch der zweite Schritt zusammen: Wir entwerfen damit unsere Zukunft. Was unsere Pläne und Entwürfe durchein­ anderbringt, macht Voraussicht unmöglich, Emotionen, Hoffnung,

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Nachdenken: Entwürfe des Alltags?

Vertrauen usw. gehen zu Bruch. Zukunft und die Korrekturmög­ lichkeiten der gescheiterten Gegenwart misslingen. Oder ist das, was hinter uns liegt, unsere Zukunft, also das Scheitern? Korrekturmöglichkeiten werden jedoch nicht eingeplant. Wir bekommen aber auch selten bis nie Hilfestellung dabei. Stattdessen ist unsere Zukunft das, was hinter uns liegt, dass alles so wird, wie es war. Zukunft ist doch offen, reine Möglichkeit. Müssen wir (!) also nichts tun? Diese Art von demolierter Zukunft erzeugt nichts, »was sich wiederbeleben lässt ohne den Umsturz der Tradition selbst« (Nancy, 2021, S. 23). Umsturz ist nicht in Sicht. Beunruhigend ist auch die viel zitierte Sentenz, dass uns eine Zukunft wünschenswert ist, die unserer Vergangenheit ähnelt. Irgendwie ist das in Ordnung, wenn damit nur gemeint ist, wenn weitere Infektionen durch das Virus vorbei sind. Aber eins dürfen wir nicht vergessen, dass wir viele Fehler gemacht haben und die Zukunft darf diese Fehler nicht wiederholen.

Nachdenken: Entwürfe des Alltags? Der Kabarettist Florian Schroeder war zu einer Veranstaltung der Querdenker in Berlin 2020 eingeladen. Er löste Entsetzen auf den maskenlosen Gesichtern und Buhrufe aus, weil er Respekt vor der Ansicht anderer forderte. Damit hatte man nicht gerechnet. Genau das fällt den Dogmatisten unter den Querdenkern schwer. Aber leider auch uns allen. Nachdenken heißt: sich Ereignisse (= Gegenstände, Zustände, Verhältnisse) in Erinnerung rufen oder sie sich vorstellen, wobei erinnerte Ereignisse eine große Rolle spielen. Es soll mehr Klarheit hervorrufen. Klärung bedeutet ● Ereignissen mehr Konturen geben, ● Unterschiede zu anderen vergleichbaren Ereignissen identifizie­ ren, ● das Erlebte bzw. Vorgestellte mit anderen Ereignissen verknüp­ fen,

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Aspekt 1 Ursprung einer Idee

● Bewertungen (eigene und die anderer) vornehmen bzw. erin­ nern und ● Diskussionen – mit anderen oder mit sich selbst (etwa diskur­ sive Selbstgespräche) – organisieren. Nachdenken ist ein wichtiger Schritt in Richtung Zusammenleben. Gehen wir noch einmal zurück auf die Querdenker. Quer­ denken reizt auf, weil es mit einer queren Art von Faktenscheck verwechselt wird und eigentlich nichts mit Nachdenken zu tun hat. Querdenken ist eine Art Behaupten, dogmatisches Denken, Ver­ zicht auf Nachdenken. Nachdenken dagegen reizt nicht auf, erzeugt keine Spannungen und Spaltungen. Es ist eine Art »Stolperstein, der aufmerken lässt, und ein Steigbügel, ohne den jeder weitere Schritt ins Leere geht«, schreibt der Philosoph Christian Bermes (2021, S. 53). Es geht also um Steigerung der Aufmerksamkeit und des Fort­ schreitens. Das bedeutet nicht bei dem stehen bleiben, was wir zu wissen glauben. Der Philosoph Ernst Bloch (1959, S. 3) schrieb: »Denken heißt Überschreiten«, geht über den Status Quo hinaus in Richtung humanes Zusammen-leben, erlaubt keinesfalls Ver­ breiten sog. Fakenews. Nachdenken ist kontrafaktisch (= gegen die Faktenlage). Quer­ denker überschreiten nicht, sondern verstricken sich leider allzu oft in die Faktenlage. Und das hilft nicht weiter. Wir brauchen Respekt vor anderen Ansichten und unser Engagement. Es geht doch um die Virusinfektion, die uns Sorgen genug macht. Nicht um Protest gegen eine scheinbar mehr oder weniger entgleiste Staatsordnung.

Nachdenken heißt die passenden Fragen stellen In unserer Familie gibt es mehrere Impfverweigerer, die auch viele Momente von Impfgegnern haben. Wie viele andere bin ich mal wütend, sogar mal arrogant, auch mal uninteressiert, aber immer sicher, dass ich recht habe. Schließlich bin ich geboostert und auch sonst recht clever. Nur wenn ich nachdenke, weiß ich nicht mehr,

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Ausblenden »guter« Nachrichten

ob wirklich stimmt, was ich für sicher richtig halte. Sicher ist Fragen stellen, mit Unsicherheit leben. Hier ein paar Beispiele: Ob Maskentragen sicher macht, ist für unser Problem zwar wichtig, leider aber nicht wirklich erforscht. Grundsätzlich: Unsere Frage nach dem Zusammen-leben ist kein technisches Problem, z.B. ein Problem der Aerosolausbreitung, eher ein sehr praktisches Problem, wie bedeutend und zielführend das Glücken von Zusammen-leben ist. Was aber macht es so wich­ tig? Oder das Problem der Impfpflicht. Zwar bin ich für diese Pflicht, aber nicht für die parlamentarische Kompromisslösung der ein­ richtungsbezogenen Impfpflicht. M.E. geht es um Solidarität, und die ist gesellschaftsweit, nicht begrenzt auf Berufe. Wir bekom­ men immer wieder das technische Problem des Infektionsschutzes vorgehalten, aber leider nicht, wie wichtig und entscheidend das Gelingen von gutem Zusammen-leben ist. Sicher passt das nicht in die BILD-Zeitung, aber wir dürfen unser Pandemieproblem nicht auf deren Niveau zurückfahren. Und noch eins: Wer hat Informationen darüber, wie wir, die Betroffenen, das sehen?

Ausblenden »guter« Nachrichten Information der Menschen geschieht meistens durch mediale Ver­ breitung von Nachrichten, die uns Angst machen. Ich suchte gerade nach positiven Beispielen, mir fielen aber nur wenige ein. Und wenn sie gefunden werden, schaffen sie es dann bis ins Fernsehen oder in die Zeitungen? Keine Frage: Mediale Sendungen rütteln auf, wenn sie Dramen, negative Statistiken, familiäre Katastrophen usw. beschreiben. Aber es gibt auch positive Erfahrungen: Kinder, die die Bedeutung von Freundschaften neu entdecken, alte Menschen, die es wertvoll finden, ihre jungen Familien zu schützen, Ehen, die wieder den Zauber der Nähe entdecken usw. Warum wird darüber nicht berich­ tet? Sie sind sicher seltener, aber nicht unbedeutend. Vielleicht machen sie sogar nachdenklich.

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Aspekt 1 Ursprung einer Idee

Es liegt m.E. an unserer Perspektive, die von Negativem geprägt wird und wenig Positives zulässt. Auch in den weiteren Abschnit­ ten wird zwar viel Negatives geschrieben, aber immer sehen wir im Hintergrund die Möglichkeit, dass Versöhnung untereinander und mit der Natur wirklich wird und die Katastrophe der Pandemie beendet. Wir können – wirklich oder brauchen wir einen Anstoß? – »unsere Befähigung zu […] nicht-verdinglichten, herrschafts­ freien, selbstlosen Menschenbindungen« (Kurt Oesterle, 2021, S. 236) aufbauen. Ich zitierte aus einer Preisschrift des PEN-Zentrums über Höl­ derlin. Die 20 preisgekrönten Arbeiten haben Thomas Knubben, Uta Kutter und Hubert Klöpfer (sie verwenden den Vers Hölder­ lins als Buchtitel) gesammelt. Ihre Kommentare gehen zu dem berühmten Vers aus dem Gedicht »Patmos«: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. Auf den ersten Blick ist der Satz komisch, reif fürs Poesiealbum. Oesterle hält diesen Satz mit dem Versprechen, dass Rettung wächst, für einen Kugelblitz. Er stammt aus dem Beginn (Verse 3 und 4) des Gedichts. Die ersten beiden Verse sind das Überra­ schende: »Nah ist / und schwer zu fassen der Gott«. Wenn Gott sich entzieht, woher kommt dann das Rettende? Rettung kommt nicht von einem himmlischen Wesen. Am Ende des Gedichts heißt es: »Zu lang, zu lang schon ist / die Ehre der Himmlischen unsicht­ bar«. Rettung kommt nicht von Gott, sondern aus uns selber. Dierk Wolters (2021, S. 44) schreibt: »Wir sind imstande, und dann danach handelnd, unser Schicksal selbst zu bestimmen«. Hölderlin meint damit, dass wir selber das Göttliche sind. Wir selber sind das Rettende aus der Katastrophe von Corona, es liegt in uns.

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

Zusammen-leben ist ein seltsamer Begriff: 1) ist er nahezu landesüblich, aber 2) trotzdem zu komplex, um ihn verstehen zu können. Aber Leben ist nicht vorstellbar ohne Zusammenleben. Bemühen wir uns um klare Ideen, sonst wird unsere Situation unverständlich. Dieser Begriff »Zusammen-leben« ist schillernd, er reicht von der Sehnsucht nach Berührung bis zur Kooperation. Eine Definition bringt wenig, viel mehr bringt allerdings der Versuch, hinter die Szenen des Zusammen-lebens zu schauen. Und genau das beschäftigt uns in Zeiten von Corona. Zusammen-leben findet gelegentlich unabhängig von nationalen Grenzen statt, sehr oft dagegen innerhalb nationaler Grenzen. In Deutschland reguliert der Staat Zusammen-leben mit zwei Werkzeugkästen: der Ökono­ mie und der Gesetzgebung (vgl. Prantl, SZ vom 8./9. 9. 2021). Zusammen-leben scheint am ehesten über Verbotspolitik zu funk­ tionieren. Alle paar Wochen ändern sich die Regeln. Aber helfen sie wirklich? Und vor allem: Fördern sie Zusammen-leben? Nein. Missverständnisse blockieren uns. Zusammen-leben ist nicht identisch mit sog. Shoppen, mit Freizügigkeit, Meetings usw. Wichtig sind Begegnung, Akzeptanz, Respektierung, Förderung von Lebensmöglichkeiten, Kreativität, Ichwerdung usw. Passt das alles in die Gesetzes- und Verbotspoli­ tik? Wahrscheinlich nicht. Verbote behindern eher, passen nicht zur Situation. Keiner der staatlichen Werkzeugkästen kann beschrei­ ben, was Zusammen-leben ist. In unserer Pandemie wird das mehr oder weniger übersehen.

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

Übrigens, Zusammen-leben ist nicht gleich den Dingen, die unsere Konsumgesellschaft anheizen. Zusammen-leben heißt ver­ stehen, was mir selbst und anderen nützt und Kontakte – nicht Masse – so wichtig macht, aber auch den Sinn von Einschränkun­ gen verstehen. Genau das macht nachdenklich: Berlin erfindet Verbote, aber hilft nicht verstehen. Müssen die Menschen sich der Politik anpassen, oder die Politik den Menschen? Sogar bei Trump gab es ein Kommunikationsministerium. Aber Kommunikation ist nicht eine Aufgabe, die der des Influencers ähnelt. Gehen wir weiter zum Epizentrum unseres Problems! Sartre – darauf kommen wir gleich – würde sagen: Wir leben, wenn und weil uns Zusammen-leben gelingt. Sagen wir das vor allem mit Blick auf unsere aktuelle Krise: Wir leben nicht, wenn uns Zusam­ men-leben nicht gelingt. Übrig bleibt die Sehnsucht. 2021 dachten wir noch, dass die Infektionszahlen sinken. Aber dann kamen die Mutanten, und das biologische Über-Leben steht wieder an erster Stelle. Unser Plan: Impfen vorantreiben ist sehr wichtig, aber Zusammen-leben auch. Gerade wenn es uns fehlt, ist es uns ebenso wichtig wie das Überleben. Ein Entweder-Oder ist pathologisch. Man muss die Vielseitigkeit des Lebens respektieren. Über-Leben ohne Möglichkeit des Zusammen-lebens hat keinen Sinn. Sind wir auf dem Weg, »Zusammen« mehr und mehr aus­ zublenden und uns in Richtung »Auseinander« zu bewegen? Und da stehen wir nun mit unserer Überlebensstrategie von Impfen, AHA-Regeln, Graden von Lockdown und Schließen von Grenzen. Zusammen-leben ist eine bewusste Entscheidung für Gemeinsamkeit. Ivan Illich, einer der schillerndsten und anregendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, zeitweilig berühmter Medizinkritiker, prägte den Begriff der »Konvivialität« (2006, vierte Umschlagseite. Im Original »Convivalidad«). Dieser Begriff beinhaltet Momente und Werte von Zusammen-leben und Gemeinsamkeit, die der Nützlichkeitsideologie westlicher Indus­ trienationen und ihrem Wirtschaftsinteresse entgegengesetzt wer­ den sollen. Wie stimmig ist diese Nützlichkeitsideologie in Zeiten von Corona?

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Das ramponierte Vertrauen

Zusammen-leben hat eine große Bedeutung. So Lothar Wieler, der mitsamt dem RKI das One-Health-Konzept (= Zusammen­ hang der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt) vertritt (Interview von Uhlmann, SZ vom 22./23./24.5.2021), auch wenn man es aktuell nicht spürt. Balance der drei Faktoren ist das eine, die Balance in der Beziehung zwischen den Menschen gehört zweifellos dazu. Konzentrieren wir uns darum – um die zentrale Bedeutung hervorzuheben – auf die existentiellen Blickwinkel des Zusammen-lebens: Wie wichtig sind Liebe, Vertrauen, Zuneigung, Umwelt, Sinn, Beziehungen und Selbstverwirklichung? Wir ver­ suchen, das in den einzelnen Aspekten weiter zu konkretisieren. Greifen wir einige der gerade genannten Begriffe auf:

Das ramponierte Vertrauen Philip Roth beschrieb in seinem Roman »Nemesis« Bucky Cantor, den Sportlehrer in einem jüdischen College. Dass es eine jüdische Einrichtung mit seiner religiösen Weltanschauung ist, spielt im Verlauf des Romans eine gewisse, aber keine große Rolle. Hier der Inhalt in Kürze: Eine Polio-Epidemie (Höhepunkt: 1947. Erste Erkrankungen zu Beginn des Jahrhunderts) brach aus, er sorgte für seine Schü­ ler*innen vorbildlich: keine zu große Anstrengung, keine Sonnen­ bäder usw. Seine Regeln für seine Schüler*innen ähneln unseren Corona-Regeln heute. Dann kamen die ersten Todesfälle: Das Vertrauen der Eltern in den Lehrer ihrer Kinder schwand, Schulfreizeiten wurden abgebro­ chen, Bucky grämte sich wegen der verstorbenen und gefährdeten Schüler*innen und fühlte sich als totalen Versager. Schließlich löste er sogar die verabredete Verlobung mit seiner Freundin und haderte mit »Gott, dem Verbrecher« – ein biblisches Bild aus dem Drama des Hiob. Sein Leben nach der Pandemie erholte sich nicht. Ich verstand diesen Roman als Weg in eine persönliche Kata­ strophe, ausgelöst durch eine Virusinfektion. Ob Epi- oder Pan­

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

demie spielt hier keine Rolle. Bedeutend finde ich lediglich den Zusammenbruch des Zusammen-lebens, weil Vertrauen aufge­ kündigt wird und in Hass umschlägt. Schlimm ist, dass Weiterleben – ich denke auch an den Primat des Infektionsschutzes von Corona – im Extremfall nicht mehr gelingt. Vertrauen baut Selbstständigkeit auf. Sie ist ein Schub in Rich­ tung Eigenständigkeit, also jemand zu sein bzw. zu werden, der seine Ziele selber bestimmen kann und deswegen Orientierung bei anderen sucht. Wichtig ist aber auch die Kehrseite, also von anderen anerkannt werden. Zusammen-leben ist so gesehen ohne Vertrauen in die Akzeptanz anderer nicht möglich. Manchmal hat man den Eindruck, dass dieses Vertrauen immer mehr zu einer frommen, aber leeren Begriffshülse verkommt. Dabei ist Vertrauen so wichtig. Vor vielen Jahren habe ich in einem philosophischen Buch über Humanität und Krankenpflege eine interessante Einleitung gelesen: Ein tetraspastisch gelähmtes Kind wurde von einer Kran­ kenschwester aus der Physiotherapie abgeholt. Die letzte Übung, die das Kind schon ein paarmal hinbekommen hat, schaffte es nicht. Die Krankenschwester, die auf das Kind wartete, sagte ihm: »Mach’s nochmal. Du schaffst das«. – Und das Kind schaffte es. Schaffen wir auch Zusammen-leben trotz Pandemie? Vertrauen ist das Elixier des Zusammen-lebens. Handeln, Ent­ scheiden, Nachdenken über das eigene Leben, Akzeptieren, Ableh­ nen, Freundlich-sein, Lieben, sogar Trauern und all die wichtigen, gelegentlich auch die eher unbedeutenden Dinge des Alltags haben eins gemeinsam: Sie setzen Gelingen und Sinn voraus. Wäre das nicht so, wäre Zusammen-leben bedeutungslos. Aber wir müssen einiges dafür tun. In den folgenden Aspekten will ich darauf hin­ weisen.

Ist das Spiel wirklich aus? Diese Überschrift greift den Titel eines Bühnenstücks des Philoso­ phen Jean-Paul Sartre auf: »Das Spiel ist aus« (Übersetzung und

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Ist das Spiel wirklich aus?

Original: Les jeux sont faits, 1952). Sartre und der später noch diskutierte Albert Camus brachten ihre Philosophie auf die Bühne. Tenor des Theaterstückes von Jean-Paul Sartre: Ohne Zusammenleben will/kann er sich Leben nicht denken. Sartre sieht Liebe und andere Formen gemeinsamer Existenz als sehr problemgeladen an. Er akzeptiert jede Form von Zusammen-leben nur, wenn sie eine bewusste Entscheidung für die mit ihr verbundenen Schwierigkei­ ten ist. Hier in Kürze der Inhalt: Der Arbeiterführer Pierre verliebt sich in Ève, die verheiratete Frau eines reichen Unternehmers. Beide sterben. Aufgrund eines bürokratischen Fehlers erhalten sie die Chance, wieder ins Leben zurückzukehren, wenn sie innerhalb von 24 Stunden ihre unerfüllte Liebe verwirklichen. In dieser freilich begrenzten Zeit müssen sie lernen, sich uneingeschränkt zu vertrauen. In einer Welt der Lebenden müssen sie ihre Liebe unter Beweis stellen. Ein seltsamer Trick der Bühnentechnik von Sartre, orientiert an Aristotelesʼ Theatertechnik. Er spiegelt die reale Welt im Spiegel einer anderen Welt. Pierre opfert die Liebe, weil er seine Arbeits­ kollegen bei einem Streik nicht im Stich lassen will. Er wird erschossen, also zum zweiten Mal getötet. Das zweite Leben, quasi die zweite Chance – wenn auch nach ihrem Tod – ist das eigentliche Leben der Liebe und des Vertrau­ ens. Sie haben es vermasselt. Vermasseln wir das Leben mit und nach Corona auch? Wir halten uns im Stück den Spiegel vor. Sartre denkt nicht an ein Leben nach dem Tod bzw. kämpft dagegen. Und die Affäre der beiden, Ève und Pierre, ist für ihn alles andere als ein moralisches Problem. Für ihn ist allein wichtig, dass Leben nicht gelingt, wenn es nicht an den Anderen denkt. Zusammen-leben ist Denken an den Anderen. In der realen Welt und besonders in unserer pandemischen Situation gelingt das nicht. Ob Sartre recht hat, kann ich nicht beurteilen. In unserem realen Leben unter dem Druck von Corona scheint unsere Gesellschaft gespalten zu sein. Vertrauen ist dahin. Auf jeden Fall könnte

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

man sich darauf einigen: Man verliert das Leben, wenn man die Gemeinsamkeit verrät. Ist das Ende seines Theaterstücks ein Plädoyer für seinen Zweifel oder doch ein Hauch von Hoffnung? Ist das Spiel wirklich aus? Mich würde ein klares Ja oder Nein nicht überzeugen, nur die Frage und die Sorge, ob bzw. dass Vertrauen möglich ist. Wenn unsere Pandemiebekämpfung immer mehr das Zusam­ men-leben und dessen Wichtigkeit in den politischen Entscheidun­ gen ausklammert, geraten wir in diesen Engpass, Zusammen-leben geht zu Bruch, und d.h. Leben auch. Der sog. Freedom day ist nicht die Rückkehr ins Paradies, sondern – wenn Sartre recht hat – Einkehr in die Katastrophe. Wir müssen den Anderen schätzen lernen, sonst geht unser Leben zu Bruch.

Die Sehnsucht des Zusammen-lebens Einer der wesentlichsten Momente im modernen Leben ist Mobi­ lität. Sie ist notwendig, um Grenzen überschreiten zu können. Einige Formen der Mobilität sind natürlich problematisch, aber Mobilität ist nicht gleich Fliegen usw. Konzentrieren wir uns auf das Fundament der Grenzüberschreitung: Grenzen-Überschreiten geht über die Fixierung auf die eigenen Grenzen hinaus. Begrenztheit und Beschränkung – beide haben auch einen psychischen Hintergrund – sind unser Risiko. Wer Zusammen-leben in die Knie gehen lässt, fördert Begrenztheit und Beschränkung. Der französische Dichter Charles Baudelaire kennt die Sicherheit, aber auch das Elend der bürgerlichen Ordnung, weil er die Sehnsucht nach Weite und Überschreiten der Grenzen kennt, etwa die Grenzen zwischen Gut und Böse, das Ins-Auge-fassen der Ziele, die man sich setzt, und die Utopie der Sehnsüchte usw. Regeln, die man nicht verstehen kann, auch Kontakt, der nicht Begegnung, sondern Event der symbolischen Nähe á la Bussi-Bussi ist, steigern die Einschränkung. Darum das folgende Zitat. Wer all das nicht erfährt, ist wie Baudelaires Grille, die Elend und Sehn­

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Zusammen-leben und seine Orientierung

sucht erlebt, als die Bohémiens vorbeiziehen (1997. S. 36–38). So sein Gedicht: »Am Grunde ihres Sandlochs sieht die Grille sie vorbeiziehen und lauter klingt ihr Lied […] Macht, daß der Felsen Wasser spendet und die Wüste blüht vor diesen Fahrenden, denen die Finsternisse der Zukunft offen stehen […] wie ein vertrautes Reich.« Die Grille ist der Bourgeois,3 der in Grenzen eingekesselt ist. Die Fahrenden, die vorbeiziehen, lassen im eingekesselten Menschen das Fremde wiedererkennen. Sie wecken Sehnsüchte von biblischer Bildhaftigkeit: Er spricht von wasserspendenden Felsen und einer blühenden Wüste – prophetische Bilder. Grenzen-Überschreiten ist zwar ein Risiko, eine liebgewordene Utopie, aber ein irgend­ wie vertrautes Reich. Zusammen-leben ohne diese Sehnsucht wird armselig. Aber genau das ist in der aktuellen Pandemie passiert. Anfangs wurden Grenzen geschlossen, dann wurden sie für Getestete, Geimpfte und Genesene geöffnet. Einreisen in sog. Hochrisikoge­ biete wurde wegen der Quarantäneregeln zum eher bürokratischen Problem. Halbherzige Sehnsucht statt Hochachtung vor dem Frem­ den, auch dem Fremden ins uns?

Zusammen-leben und seine Orientierung Natürlich fragen wir, was eigentlich Zusammen-leben ist. Es ist Leben, das wir mit anderen zusammen gestalten, also etwas unge­ mein Praktisches. Wir brauchen Orientierungen, die für das, was zwischen uns ist, beachtet werden sollen. Zunächst kümmerte ich mich um das Phänomen des Vertrags, der einen unerträglichen 3 Diese Bezeichnung (nicht in Anlehnung an Karl Marx) »Bourgeois« bedeutet etwa der »bürgerliche Bürger« und steht im Gegensatz zum Citoyen (etwa dem sozial engagierten Staatsbürger).

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

Urzustand beenden sollte. Aber das war mir für ein praktisches Problem zu theoretisch. Da erinnerte ich mich an das Buch von André Comte-Sponville, dem emeritierten Philosophen der Sor­ bonne (Paris). Ein sehr verständliches Buch. Er verzichtet bewusst auf Gelehrsamkeit, er will Orientierung und Lebenspraxis unter­ stützen. Das will ich auch. Wenn die Tugenden, in der Antike von Aristoteles als Ethik­ prinzip entworfen, so in Verruf gekommen sind, scheint das – so Alasdair MacIntyre (vgl. Kersting, 2014) – auf unpraktische Moralsysteme und den Verlust des Zusammen-lebens zu beruhen. Die alte Tugendlehre, die André Comte-Sponville aufgreift, scheint total veraltet und für Probleme der Gegenwart wenig überzeugend. Leider. Aber: Er packt das Problem an. Das Eigentümliche ist nicht die oft fromme Innerlichkeit, sondern die von ihm betonte Handlungsori­ entierung. Tugenden haben einen Vorteil gegenüber jeder anderen Moraltheorie. Sie sind ● ● ● ● ●

die Mitte zwischen zwei Extremen, ein Prozess, kein Fixpunkt bzw. Prinzip, ausgerichtet auf eine soziale Lebenswelt, zentriert auf die Achtung des Anderen und eine Bedingung für ein gutes und glückliches Leben.

Konzentrieren wir uns kurz auf einige der von Comte-Sponville dargestellten Tugenden: Gerechtigkeit und Mit-Leiden: Gerechtigkeit Sie ist nicht das Befolgen von Regeln bzw. Gesetzen, sie ist mehr. Gerechtigkeit übertritt Gesetze, weil nur Gesetze-Befol­ gen sicher nicht immer gerecht wäre. Aber sie respektiert die Rechte und Interessen anderer. Dass alle Menschen gleich sind und Unterschiede ignoriert werden, geht genauso an der Gerechtigkeit vorbei. Es gibt sie natürlich nicht ohne Respektie­ rung der Rechte und Interessen anderer.

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Barrieren der Kommunikation

Mit-Leiden Vorab eine kritische Bemerkung über missverstandenes Mitleid: »Wo immer man die Tugend aus dem Mitleid abgeleitet hat, haben sich Grausamkeiten ergeben, die es unschwer mit den grausamsten Gewaltherrschaften der Geschichte aufnehmen können« (Arendt, 1963, S. 114). Comte-Sponville bezieht sich auf Arendt. Sie unterscheidet zwischen dem abstrakten Mitleid und dem sehr konkreten Mit-Leiden. Das abstrakte Mitleid kann sich etwa auf benachteiligte Volksgruppen beziehen, aber das konkrete Mit-Leiden funktioniert nicht ohne das Mitgefühl, also mit einem Menschen zusammen leiden, trauern, solida­ risch sein, ihm helfen usw. In Zeiten der Pandemie brauchen wir das. Insgesamt basieren Tugenden auf praktikablen Werten und defi­ nieren Ziele unseres Zusammen-lebens. Sie formulieren Regeln als Instrumente, die Werte und Ziele zu erreichen. Sie sind eine Art Kurzformel, die praktisch sein sollen. Sicher gibt es keine Regeln, die hundertprozentig gut begründet sind. Das muss auch nicht sein. Hier meine Bedenken: Kommen wir zurück zum Thema: Wer Regeln erlässt, braucht ein Feedback und nicht unkritische Akzeptanz bzw. löchrige Beanstandung. Sind unsere politischen Institutionen auf Feed­ back geeicht? Wenn uns Zusammen-leben wirklich wichtig wäre, bräuchten die Politiker auch mehr Verbindung mit den Ansichten der Bürger.

Barrieren der Kommunikation Zusammen-leben geht nicht ohne Kommunikation, bzw. anders­ herum: Kommunikation ist eine Spielart des Zusammen-lebens. Uns interessiert am meisten die Beobachtung, dass einige Pro­ bleme des Zusammen-lebens unter den gegenwärtigen pandemi­ schen Bedingungen auf Barrieren der Kommunikation beruhen.

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

Oder umgekehrt: Die Probleme der Kommunikation beruhen auf der Störung des Zusammen-lebens unter den gegenwärtigen pan­ demischen Bedingungen. Zählen wir einige dieser Störungs-Faktoren auf, die wir behan­ deln wollen: 1. Die Abwertung der Kommunikation, 2. der Verzicht auf Gemeinsamkeit und 3. die ausgeblendete Verantwortung.

Zu 1. Kommunikation Zusammen-leben fußt auf Sprache. Sogar Handeln, was auf den ersten Blick ohne Sprache auszukommen scheint, beruht auf gemeinsam verabredeten Zielen, Verträgen, Handeln im Team etc. Zusammengefasst wurden sie von Jürgen Habermas unter dem Begriff »Kommunikatives Handeln« (vgl. Prechtl & Burkhard, 1999, S. 289f). Zusammen-leben funktioniert nur und immer auf der Basis von Kommunikation. Selbst in biologischen Systemen – was mich besonders überraschte ist die nachweisliche Kommunikation zwi­ schen Bäumen – gibt es eine vorsprachliche Kommunikation. Das bedeutet, dass es Zusammen-leben nur geben kann, wenn Kommunikation möglich ist. Je stärker sie behindert wird, desto mehr ist Zusammen-leben geschwächt. Barrieren der Kommunikation in Zeiten von Corona sind zahl­ reich (vgl. das Corona-Wörterbuch in Aspekt 8). Diese Barrieren haben wir gerade angedeutet. Etwa Statistiken darüber fehlen, was es bedeutet, wenn Kommunikation in Krisenzeiten wie der Pande­ mie brachliegt. Warum fehlen solche Recherchen? Sind sie unbe­ deutend? Bezüglich Kommunikation ist sehr schlimm, dass etwa die Impfgegner und wohl auch ein Teil der vernünftigen Querdenker mehr und mehr abgedrängt werden. Ist eine Spaltung der Gesell­ schaft zu verhindern? Ich bin zwar auch ein – hoffentlich nicht militanter – Impfbefürworter, aber das Problem liegt nicht in den hochkochenden Emotionen. Wir stecken in einer Situation fest, in der kein Wert auf eine Art Dissens-Management gelegt wird.

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Barrieren der Kommunikation

Holen wir kurz aus: Wenn ein Familienmitglied zum Neonazi wird, gibt es zuerst Diskussionen und dann – das ist die schlechte Lösung – irgendwann das Besuchsverbot, eventuell mit geheimen Kontakten. Kommunikation ist vorbei. Und bei der Frage des Impfens gegen das Corona-Virus, landen wir da auch in der sprach­ losen Gesellschaft? Vermutlich. Es gibt kein »Zusammen« ohne Kontroversen, d.h. Kommunikation ohne Dissonanzen. Rettung der Kommunikation bedeutet an Dissonanzen zu arbeiten. Ein möglicher Kompass ist das »Harvard-Konzept«, das auf Mediations- und Schlichtungsverfahren aufbaut (vgl. Illhardt 2007, S. 57–76). Ich habe mich in Ethik-Konsilen darauf gestützt. Schritte dieses Konzepts sind die folgenden fünf Bedingungen: 1. Menschen und ihre Interessen voneinander trennen 2. Konzentration auf die Interessen (nicht auf Positionen) der Beteiligten; 3. Entscheidungsoptionen ausarbeiten 4. auf objektive Beurteilungskriterien beharren (gesetzliche Rege­ lungen, ethische Normen etc.) 5. gemeinsame Übereinkunft. Wenn Kommunikation so stiefmütterlich behandelt wird, kann Zusammen-leben nicht gelingen. Die stiefmütterliche Behandlung ist unser Problem. Dass über Corona alles Mögliche gesagt wird, hängt sicher mit einer schlechten und kaum bürgernahen Vermitt­ lung zusammen. Ein Beispiel: Eine Warenhauskette (der Name wird nicht genannt) ließ einen Film drehen, der die von Corona gestresste Familie und ihre Dilemmata ernst nahm. Er »streichelte die wunde Volksseele und macht genau das, was die Hauptdarsteller der gro­ ßen Pandemiebekämpfung seit 2 Jahren versäumten« (Scharnigg, SZ 2021): Glaubwürdigkeit, Volksnähe, Verständnis. Der Film dieser Warenhauskette ist rührend und zum Heulen (im doppelten Sinne: blöd und reizt zu Tränen). Berlin könnte das sicher besser machen bzw. veranlassen und nicht nur wie anfangs stark, zurzeit nicht mehr so stark gegen die Impfverweigerer wettern. Vielleicht

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

hat die Kommunikation versagt. In anderen Ländern sind die Verweigerer nicht so zahlreich vertreten. Das Versagen der Kommunikation spüren wir in der Fassung von 2021 des Infektionsschutzgesetzes [IfSG] (§ 28, Absatz 1 und 2). Hier das Zitat: »(1) Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider können einer Beobachtung unterworfen wer­ den. (2) Wer einer Beobachtung nach Absatz 1 unterworfen ist, hat die erforderlichen Untersuchungen durch die Beauftragten des Gesundheitsamtes zu dulden und den Anordnungen des Gesundheitsamtes Folge zu leisten.« Die Rechtssprache nicht nur des IfSG hat einen »Hang zu Band­ wurmsätzen«, zu »Kasernenton« und zu »furchteinflößenden Ver­ ben« wie »unterworfen sein«, »dulden«, »Folge leisten« usw. (Simon, SZ 27./28. 11. 2021) im gesamten Text. Das ist schon häufiger – wohl am deutlichsten vom Juristen Roman Herzog (damaliger Bundespräsident) in seiner sog. Ruck­ rede – angemahnt worden. Das IfSG ist nicht in erster Linie für die Bürger gedacht, die das nur schwer verstehen, aber die nichtju­ ristischen Parlamentarier müssen das auch verstehen oder sollten es wenigstens. Egal. Schlimm sind die intransparente Sprache und Ausdrücke, die eher abschrecken als helfen. Kein Wunder, wenn die Coronastrategie entgleist.

Zu 2. Gemeinsamkeit Vorherrschendes Ziel war bisher der Infektionsschutz. Der Lock­ down war die radikalste, aber auch – zumindest biomedizinisch – bisher wirksamste und leider auch umstrittenste, jedoch – wegen der fehlenden Gründe der Infektion – nicht überprüfte Lösung. Die Schattenseiten sind vor allem:

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Barrieren der Kommunikation

● Das Schwinden der Gemeinsamkeit. Hier ein paar Beispiele: Nicht nur, dass seitens der Politik das Schwinden der gemein­ samen Lösungsbereitschaft vorgelebt wurde. Zurzeit macht Corona Platz für den Parteienproporz und die Machtspielchen (Wer wird Minister?) der damals noch nicht etablierten neuen Regierung. Vorher standen die Wahlen im Vordergrund. Beson­ ders schockierend ist, dass Politiker den Rat der medizinischen Experten nicht annehmen, das Absenken der Krankenhaus- und Intensivbetten usw. Auch seitens der Bürger wurde demons­ triert, wie stark der Vorbehalt gegen eine gemeinsame Lösung ist. Aber hinter allen Events steht doch die Gemeinsamkeit ● Triumph der Unvernunft. Eine wichtige Option der Debatten­ kunst ist, dass nur die Stärke vernünftiger Argumente gilt. Das wäre schön. Statt Vernunft zählt leider vieles, was nicht ver­ nünftig ist. Gemeinsamer Nenner ist Macht: soziale Position, Einfluss, Redekunst, Geld usw. Schockierend ist die Erkennt­ nis, dass ärmere Bevölkerungsschichten öfter infiziert werden als reichere. ● Koalition der Kritikwilligen. Im Fernsehen werden vielfach Menschen interviewt, die für oder gegen Maßnahmen der Coronabekämpfung sind. Statistiken scheinen das aufzugreifen. Leider wird das nicht umgesetzt in eine vernünftige Debatte. Stattdessen wird etwa die Gruppe der Querdenker unterwan­ dert von extremen Gruppen, die eine Zerstörung der StaatsGemeinschaft im Sinn haben. ● Impfgegner. Natürlich hat jeder das Recht der Freiheit. Impf­ pflicht ist sicher sehr problematisch, weil sie Freiheit verletzt. Wieso nur Recht? Wenn schon, dann auch die Pflicht, die Frei­ heit anderer zu schützen. Und eh man sich versieht, wird daraus die Debatte über Wirkung und Nebenwirkung der Impfung. Aber genau das brauchen wir nicht, wir brauchen eine Lösung, die Freiheit nicht verletzt, aber auch die anderen schützt.

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

Zu 3. Verantwortung Gegenwärtig verkommt dieses Wort zum Plastikbegriff, bedeutet mal dies und mal das. Manchmal denke ich: Besser das Wort nicht verwenden, als es schlecht zu verwenden. Auch wenn es zunächst sehr theoretisch klingt, will ich versuchen, einige wichtige Kom­ ponenten der Verantwortung (vgl. die Lexikonartikel Verantwor­ tung, Verantwortlichkeit und Verantwortungsethik in: Prechtl, 1999. S. 627f und Molinsky, HTT Bd. 8, 1973, S. 34–41) zusam­ menzutragen. Verantwortung ● hat eine dialogische Bedeutung (Antwortgeben auf eine Heraus­ forderung), ● setzt Willensfreiheit voraus, ● eruiert Konsequenzen einer Handlung, ● schließt nicht wünschenswerte Folgen einer Entscheidung aus, ● ist vernünftige Praxis und nicht Faktencheck. Verantwortung beinhaltet also Zusammenhalt einer Gesellschaft ohne das Bekenntnis einer letztgültigen Wahrheit. Wahrheit fest­ zustellen geht oft durch dogmatischen Grabenkrieg, also durch Spaltung der Gesellschaft anstatt Zusammen-leben. Und diesen Grabenkrieg brauchen wir nicht. Apropos Grabenkrieg. In einer TV-Sendung von Anne Will trafen Leute mit guten Ansichten zusammen, allerdings gab es eine atemberaubende Kontroverse zwischen Wagenknecht (Die Linke) und Lauterbach (SPD, damals noch nicht Minister). Wagenknecht sagte nicht, warum sie sich nicht impfen lässt, sondern berief sich auf Studien, die angeblich das Impfen zu problematisch erscheinen lassen. Wer kann das in diesem Moment überprüfen? Wer weiß schon, was die Statistiken wert sind? Fast wäre Lauterbach explo­ diert. Der Grabenkrieg begann, und alle gerieten in Rage. Aber es geht doch nicht um eine wasserdichte Theorie, wir brauchen ein hinreichend gutes und praktikables Zusammen-leben. Erschreckt hat mich im November 2021 der emotional geladene Satz von Lothar Wieler, der fast täglich im Fernsehen die neusten Inzidenzzahlen neben (dem damals nur noch geschäftsführenden)

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Ungetröstet-sein

Gesundheitsminister Spahn kommentierte bzw. in dessen Sinn kommentieren musste. Wieler sagte: »Ich bin schon lange der Papagei. Ich warne und warne und warne – aber das Land scheint trotzdem lange nicht zugehört zu haben« (Slavik, SZ vom 20./21. November 2021). Das Land? Damit sind wir gemeint. Aber ganz sicher auch die Politiker, die den Untergang des Zusam­ men-lebens zugelassen und den Weg dahin auch schon vor Corona nicht gestoppt haben.

Ungetröstet-sein Wenn Corona vorbei ist, hinterlassen wir eine Unzahl ungetröste­ ter Menschen. Diese Idee kam mir, als ich den surrealistischen Roman (1995) »Die Ungetrösteten» vom japanischstämmigen Schriftsteller Kazuo Ishiguro las, der seit dem 6. Lebensjahr in England lebt. In seinem Buch spielen Seuchen keine Rolle. Aber sein Buchtitel sagt mir viel, weil wir mit Corona das Ungetröstetsein verbinden. Ungetröstet-sein von Menschen, die nicht trauern oder trauern können, keinen Trost bekommen. Wichtig ist Trost, der in seiner altdeutschen Herkunft Festigkeit, seelischen Halt, Ermutigung im Leid usw. bedeutet. In Kürze die Quintessenz des Buches: All die Menschen sind ungetröstet, die zu lange geschwiegen, Zutrauen verloren, Beziehungen zerstört, Kinderinteressen für unwichtig gehalten, Bedürfnisse der Ehepartner und Mitbürger ignoriert, Konzepte und Ideen ruiniert, sich verstritten, Suizid als einzigen Ausweg gesehen haben usw. Ein Zitat gegen Ende des Buches: Eine jahrelange Trennung konnte nicht saniert werden. Die frühere Frau sagt ihrem früheren Mann, der die Beziehung gerne wieder – aus sexuellen Gründen und auch um von den Mitbürgern anerkannt zu werden – gern wieder aufleben lassen würde:

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Aspekt 2 Zusammen-leben: Was meinen wir damit?

»Du wirst den Leuten in dieser Stadt nie gute Dienste leisten können, selbst wenn du wolltest. Weil dir ihr Leben egal ist«. Das ist der Punkt. Zusammen-leben gelingt nur, wenn man besorgt ist. Leben ist Involviert-sein. Übertragen wir das auf unsere Pande­ mie. Wenn wir die Sorge für die Anderen nicht schaffen, kann man sich den Infektionsschutz in Zeiten von Corona abschminken.

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Aspekt 3 Zusammen-leben und Systemvertrauen

Im 1. Aspekt wurde gezeigt, wie entscheidend Zusammen-leben ist. »Entscheidend« bedeutet Bewertung, und die kann man nicht durch psychologische und soziologische Beobachtungen zeigen, die natürlich sehr wichtig sind. Beruht Zusammen-leben nicht auf Vertrauen? Wir – nicht die medizinischen Experten, sondern wir, die Betroffe­ nen – beschreiben unsere Sicht auf das Virus, nicht was Es bei uns anrichtet, sondern was davon Wir wahrnehmen. Leider blenden wir oft aus, was unser Leben betrifft, z.B. die Hoffnung, dass alles gut wird, die Angst, die uns beherrscht, die Wörter, die wir wählen, um die Pandemie zu beschreiben, die Kultur, deren Wert wir verdrängen, usw. Vielleicht war damals zu Beginn der Seuche die Hoffnung recht stark, dass alles nicht so schlimm würde. Aber die Entwicklung der Seuche, die anfangs noch nicht einmal als Pandemie galt, wurde immer beunruhigender. Die zweite Welle löste die erste ab, neue Mutanten führen zur dritten Welle. Die vierte zeigt noch ihre Auswirkungen und ist ansteckender als ihre Vorgänger, die fünfte steht schon in den Startlöchern. Wie gehen wir mit der Gefahr um? Und was bedeutet Leben im Krisenmodus? Nicht wissen, was Zusammen-leben ausmacht und was verantwortungsvolles Verhalten ist, was eine Pandemie befördert, welche Vorstellungen wir von der Seuche haben, was das mit uns und anderen macht, welche Worte wir benutzen, wie sinnvoll ein so verletzliches Leben ist, ob und wie wir Kontakt einschränken können, ohne uns nachhaltig zu verletzen, und wie

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Aspekt 3 Zusammen-leben und Systemvertrauen

wir zusammenleben trotz bzw. mit den Risiken der Pandemie. Solche Perspektiven kamen bisher in unserem Alltag leider zu kurz. Wenn man sie verdrängt, scheitern wir mit der Pandemiebekämp­ fung. Möglicherweise rettet uns die Impfung. Verändert das aber irgendetwas mit unserem Zusammen-leben? Ich fürchte: nein. Und zwar deswegen, weil Zusammen-leben zu komplex ist, als dass man es mit einem Federstrich, genannt Impfung, reparieren könnte. Zusammen-leben ist kein Fachbegriff und enthält deswegen extrem viel. So etwa umfasst es die Bereiche von Vergemeinschaftung (Strasser, LPW Bd. 2, S. 1145) und Ver­ gesellschaftung (Strasser & Röhrich, LPW Bd. 2, S. 1145–51). Beide formulieren Prozesse, die Aufgaben und Funktionen des sozialen Lebens und dessen Wechselwirkungen beschreiben. Auf Einzelheiten dieser Prozesse kommen wir in den verschiedenen Aspekten dieses Buches zu sprechen.

Verdrängte Eckdaten des Zusammen-lebens Zusammen-leben ist so wichtig wie Infektionsschutz. Letzteres hilft Überleben, ersteres macht Leben möglich. Warum die vielen Coronaregeln und das Impfen, wenn es nicht das Zusammen-leben gäbe und die Identifizierung mit dem anderen und dem Fremden in uns?

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Verdrängte Eckdaten des Zusammen-lebens

Was Zusammen-leben jenseits unseres konventionellen Zusammen-lebens alles umfasst, zeigt uns folgende Liste: Akzeptanz Aufmerksamkeit Barmherzigkeit Begegnung Bewegung Dankbarkeit De(ahd.: Dien-)mut4 Freundlichkeit Gerechtigkeit Gesetz Grüßen Kooperation Konvenienz

Konzilianz Kooperation Korrektheit Höflichkeit Klugheit Kompetenz Kompromiss Konsens Konsequenz Leidenschaft Liberalität Liebe Mit-leiden

Mut Nähe Orientierung Simultanität Symmetrie Synergie System Toleranz Treue Trost Vertrauen Verstehen Wahrhaftigkeit Zusammenhalt

Diese Liste ist sicher unvollständig, aber ein Beleg dafür, dass viele Aspekte im Zusammen-leben eine Rolle spielen. Die Ausradierung solcher Begriffe macht Zusammen-leben schwierig bis unmög­ lich. Genau das ist geschehen. Die Wörter, die Zusammen-leben beschreiben, sollen anzeigen, dass Zusammen-leben nicht nur Hochfahren oder Runterfahren der Kontakte bedeutet. Es verlangt Pflege der Beziehung. All das, was die Liste zeigt, ist auch in Bedingungen der Pande­ mie möglich. Leider ist Zusammen-leben in die Brüche gegangen. Dass Aggression, Hass, Egoismus usw. die Szene beherrschen, beunruhigt uns und wir wissen nicht, was uns in diesen Engpass der Gesellschaft geführt hat. War das die Entwicklung vor Corona oder ist sie durch Corona erst hochgekocht? 4 In ihren Äußerungen zur gegenwärtigen Lage kamen alle Ampelkoalitionäre mit der Demut daher, der Übersetzung von »humilitas« (= Niedrigkeit), übersetzt im Althochdeutschen als Demut bzw. Dienmut. Deren Demut ist Dienmut im Dienst­ wagen?

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Aspekt 3 Zusammen-leben und Systemvertrauen

Wir sind es gewohnt, alles zu erledigen, was in massenhaf­ ten Treffen zu erledigen ist: Einkaufen, Feiern, Tourismus, Han­ del, öffentliche Verkehrsmittel usw. Zusammen-leben ist davon betroffen. Der spanische Philosoph Ortega y Gasset (vgl. 1956) beschreibt Menschen in der Masse geprägt durch Bequemlichkeit, Angepasstheit, Intoleranz, Opportunismus etc. Menschen, die sich von Massen abheben, zeichnen sich aus durch Disziplin, Ausdauer, Über-sich-hinauswachsen, Authentizität usw. Das sind natürlich Idealtypen und keinesfalls Typen, die für soziale Klassen charakte­ ristisch sind. Die Folge einer Lebensweise, die sich an die Masse hält, ist vor allem Orientierung, Moral und Toleranz abzubauen. Dramatisch – das zeigt die Diskussion über die Impfpflicht – ist der Verlust an Orientierung. Wenn man nicht mehr weiß, was man tun soll, ist eine Orientierung nicht mehr möglich. Widersprüchli­ che Regeln – z.B. Abstand in Bussen gegen Abstand in Restaurants, finanzielle Förderung in Tourismusbranchen gegen Förderung von Schulen, volle Stadien gegen halb gefüllte Restaurants usw. – führen zur Verwirrung und dann zu Wut. Hinzu kommt, dass heute Regeln erlassen werden, die morgen schon nicht mehr gelten. Wenn Zusammen-leben nicht mehr möglich ist, bleiben wir als »Orientierungswaisen« (vgl. den Titel des Themenbandes und die Orientierungskrise bei Lübbe, 1996) zurück. Ziel dieses Buches ist zu zeigen, dass das Zusammen-leben der Menschen trotz einer brisanten Situation nicht beeinträchtigt wird und Infektionsschutz und Zusammen-leben gleichzeitig sein können. Vielleicht sind wir in warmen Zeiten vor der Infektion geschützt gewesen – Ende 2021 waren wir das schon nicht mehr, 2022 hofften wir wieder auf den warmen Sommer – und stolpern durch das Regelchaos. Werden wir alleingelassen? Und müssten wir uns nicht aus der Vermassung befreien, um diesem Alleingelas­ sen-werden zu entkommen? Das würde bedeuten: Erst dann wäre Zusammen-leben in Zeiten der Pandemie möglich.

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Ausgerastete Balance der Macht

Ausgerastete Balance der Macht In Politik und Philosophie geht es meistens um Warnung vor Akkumulation der Macht und unausgeglichene Machtverteilung. Eine extreme Position (mit Bezug auf Foucault) ist dagegen, dass Machtaufbau »weniger die Funktion hat, Verbindungen zu schaffen als Distanz herzustellen« (Prechtl & Burkard, S. 342). Gilt das auch für das Corona-Desaster? In vielen unserer Staaten hat die Machtverteilung nicht mehr die Funktion des Verbindung-Schaffens, des Zusammen-lebens. Die Pandemiebekämpfung hat Regeln aufgestellt. Regeln helfen. Aber wird von uns Regelbeachtung verlangt oder Verantwortlich-sein? Entgleiste Macht sehen wir auch in jenen Tendenzen, die das Bedürfnis anderer, gut und geschützt zu leben, eher hintanzustel­ len. Hier ein Beispiel, das zwar nichts mit Corona zu tun hat, aber die Situation der aus der Balance geratenen Macht reflektiert: Friede­ rich Dürrenmatt präsentierte im Anhang nach seinem Schauspiel »Die Physiker« (Zürich 1962, Uraufführung 1960) als Punkt 17 von seinen 21 Punkten im Anhang: »Was alle angeht, können nur alle lösen«. Zusammenfassung des Schauspiels: Es handelt davon, dass drei berühmte Physiker ihre militärisch anwendbaren Entdeckungen geheimhalten wollen. Das gehe am ehesten durch Einlieferung in die Psychiatrie, also Leben am Rand der Gemeinschaft, meinen sie. Als dann noch die Schwestern sich in ihre Patienten verliebten und ein gemein­ sames Leben außerhalb der Anstalt anstrebten, mussten sie, um ihre »Verrücktheit« zu beweisen, ihre Krankenschwestern erdrosseln. Aber die Chefärztin kam dahinter und setzte die Entdeckungen der drei Physiker technisch um. Wenn es eine Lösung dieses Problems gäbe, dann nur mit einer gemeinsamen Lösung, folgert Dürrenmatt. Oder noch deutlicher:

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Aspekt 3 Zusammen-leben und Systemvertrauen

Lösungen kann es nur geben, wenn alle Betroffenen an der Lösung mitarbeiten können. Gilt das auch für Coronaprobleme? Ja, auch die gehen alle an und können ebenfalls nur von allen gelöst werden. Aber sie sind bislang noch nicht gelöst. Warum nicht? Chaos der Regeln, schlechte Begründung aufseiten der Politik, wenig Verantwortung aufseiten der Bürger, ungenügende Machtverteilung zwischen Staat und Bürgern usw. Orientieren wir uns an Dürrenmatt, so ist der wichtigste Grund die fehlende Gemeinsamkeit. Das klingt nach Plebiszit. Es geht nicht um die richtige Art des Plebiszits wie Abstimmungen, Entscheide, Referenden und Befragungen usw. der Bürger, sondern um eine sog. partizipative Lösungsbefugnis, laut Dürrenmatts Diktion: »Was alle angeht, können nur alle lösen.« Sehr klar fordern das Medizinethik und Gesetze zur medizini­ schen Forschung mit dem »informed consent«. Die Information kommt vonseiten der Medizin, bei den Coronaregeln: vom Staat und seinen Experten. Erlassen von Regeln ohne diese Information ist paternalistisch, einfach erläutert: Papa weiß, was uns, den Bürgern, guttut. Immerhin wird der Ministerpräsident auch gerne »Landesvater« genannt. Wir brauchen die Medizin und auch die Medizinethik, um Infektionsschutz und Zusammen-leben nebeneinander hinzube­ kommen. Infektionsschutz und Zusammen-leben dürfen kein Ent­ weder-oder werden. Und was für eine Rolle spielt dann die Politik? Sie sollte, so verstehe ich das, eher eine koordinierende Rolle spielen. Stattdessen weist sie oft Wissenschaft in ihre Schranken und korrigiert die Fachleute, als ob Politiker die besseren Wissen­ schaftler wären. Am meisten scheint die Politik zu interessieren, Wirtschaft zu schonen. Das wäre ein eigenes Kapitel. Wichtig wäre jedoch, den Sinn von Zusammen-leben herauszustellen. Nur dann kann Infektionsschutz greifen. Medien und Politik konzentrieren sich auf den gesundheitspoli­ tisch begründeten Wert des Lebensschutzes, nicht auf die Lebens­ qualität. Genau dagegen aber wurde vielfach geklagt, bevor (nicht nur) die Medizinethik Lebensqualität betonte. Nicht länger leben, sondern unter welchen Bedingungen man lebt, ist unsere Frage.

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Das Drama der Pflicht

Natürlich ist gegenwärtig das Problem des Infektionsschutzes besonders aktuell, aber die Frage nach der Lebensqualität muss als zunehmend wichtig betont werden. Und vor allem: Wir dürfen die Frage nicht ausblenden. Wir müssen uns um Momente einer Sozialpolitik kümmern, die Fragen der Bürger und nicht nur Fragen der Gesundheitsstrategie und Gesundheitspolitik aufgreift. Die sozialpolitischen Regeln müssen von Experten – wer beruft sie? – erweitert werden. Sozi­ alpolitik gibt es in Berlin eher nicht. Nehmen wir als Beispiel: Anhebung des Verdienstes der Pflege. Dazu brauchte man min­ destens drei Institutionen: die Ministerien für Arbeit, Finanzen und Gesundheit Transparenz ist ein Schlüsselbegriff der Kommunikation. Zunächst denken wir an die Kommunikation unserer Regeln. Wenn die Gültigkeit einer Regel nicht durchsichtig ist und beinhal­ tet, warum und wofür sie erlassen wurde, taugt sie nicht. Darüber hinaus muss uns unbedingt klar werden, wofür die Maßnahmen dienen, sonst ist der ganze Aufwand für die Katz. Einmal gesagt reicht nicht. Etwa 10 % bleiben hängen, sagte man früher für die Didaktik der Vorlesungen. Die Informationen über das Virus – vor allem wenn sie sehr knapp, schwer verständlich und selten sind –führen kaum zum Verstehen.

Das Drama der Pflicht Es gibt viele Formen des Zusammen-lebens: Familie, Freundschaft, Dorf / Stadt, Gruppe, Firma, Gesellschaft, Gemeinschaft usw. Regeln sind die Basis für deren Zusammenhalt. Einhalten der Regeln ist die eine Seite, die andere Auflehnung gegen unvernünf­ tige Regeln. Ende 2021 wurde dieser Gegensatz heftig diskutiert, als immer mehr Parlamentarier dieses Dilemma angingen, eine Mehrheit die berufsbezogene Impfpflicht als Lösung ansah, später auch die allgemeine Impfpflicht debattiert wurde. Und prompt wurden Demos inszeniert, welche die Impfpflicht in Frage stellten.

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Sagen wir so: Der Begriff »Pflicht« klingt altmodisch und hat seine Verbindlichkeit verloren. Nach der Antike war Pflicht ein Ausdruck für Nützliches und Ehrenhaftes (z.B. in Ciceros »De offi­ ciis«). Immanuel Kant erweiterte diese Tradition, als er Pflicht als »Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« (2016, S. 26) verstand. Er begriff die Pflicht aus Achtung vor dem Gesetz nicht als Befolgung einer Vorschrift. Vielmehr als Freiheit, Auto­ nomie und Respekt vor dem anderen. Der Mensch hat keinem Gesetz zu folgen, das nicht dieser internen Würde entspricht. Kant würde Entscheidungen aus Nützlichkeitserwägungen als unmora­ lisch bezeichnen. Aber es gibt Situationen, in denen Entscheidun­ gen als würdevoll, aber nicht als Regel angesehen werden. Natürlich gibt es noch viele andere Theorien der Pflicht – etwa die englischen Moralphilosophen (John Stuart Mill, Jeremy Bentham usw.), die Nützlichkeit und menschliches Wohlergehen in Verbindung bringen. Was aber sicher zum Pflichtbegriff gehört sind die soziale und zudem die interne Komponente.

Triage – ein Dilemma der Not-Behandlung Zu Beginn der Pandemie stellten wir einen Versorgungsengpass fest, der uns in eine katastrophale Situation führte. Mangel an Krankenhaus- und Intensivbetten, Pflegekräften, an üblicher medi­ zinischer und operativer Versorgung usw. Gerade in Zeiten der Seuche muss man Entscheidungen treffen, die den einen Vorteile bringen, anderen dagegen schlimme Schäden zufügen, manchmal sogar den Tod. »Who shall live, when not all can live« – überti­ telte der amerikanische Bioethiker James F. Childress (vgl. 1977) jene ausweglose Situation, die für alle dramatischen Engpässe typisch war. Childress stellte seinem Artikel folgende Szene voran: Nach einer Havarie auf hoher See war das Rettungsboot mit einigen Schiffbrüchigen und einem Schiffsoffizier voll besetzt und mit ausreichend Wasser und Brot ausgerüstet. Weitere Schiffbrüchige

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Triage – ein Dilemma der Not-Behandlung

klammerten sich am Bootsrand fest. Würden sie ins Boot gelassen, wären die Nahrungsmittel eventuell nicht mehr ausreichend. Ließe man sie ertrinken, würden die eingeplanten Nahrungsmittel für alle im Boot reichen. Dieses Dilemma spiegelt die Knappheitssi­ tuation in der Medizin und vor allem die Seuchensituation sehr realistisch wider. Solche Situationen nennt man Triage, ein französischer Aus­ druck (deutsch: Auswahl), den die Generäle Napoleons prägten, um einer Vielzahl von Verwundeten gerecht zu werden, leider auch Behandlungen der Soldaten abzubrechen, die eine erneute Kriegs­ verwendungsfähigkeit nicht erwarten lassen. Entscheidend war die Lösung, die der Militärchirurg Dominique-Jean Larrey im Heer Napoleons seinen Vorgesetzten übergab (vgl. Zoglauer, 1999, S. 977–984). Wird bei diesem Hintergrund nicht deutlich, dass eine Huma­ nitätsgrenze überschritten wird und vertrauensvolles Zusammenleben bei den üblichen Methoden des Infektionsschutzes in die Brüche geht? So scheint es. Aber in der Entwicklung der Triage bis hin zur Genfer Konvention gibt es auch Fortschritte, etwa die Neutralitätspflicht der Truppenärzte, humanitäre Einrichtungen im Heer. Leider nicht die Ächtung der Gewalt und des Krieges. In Lexika der 90er Jahre wird die Triage zu den sog. »tragic choices« gezählt (Boyd et al., NDME, 1997, S. 259). Tragisch? Gleich welche Entscheidung man fällt, eine von beiden Optionen ist immer die schlechtere. In den zurückliegenden Jahren hat sich die Knappheit in der Organtransplantation so aufgeschaukelt, dass jedwede Lösung suboptimal war. In der Pandemie stehen wir wie­ der vor der Triage, diesem immer noch nicht gelösten Problem. Ist Triage das Tor zur Inhumanität? Der Begriff »Triage« und Teile des Konzepts wurden in die Medizin übernommen. Seuchenbedingter Engpass beruht auf: (1) Massenanfall von Behandlungsbedürftigen, (2) Knappheit von Medikamenten bzw. Medizinprodukten und (3) Knappheit von Behandlungspersonal. Wohlgemerkt: Triage ist immer ein Notbe­ helf. Die Schwachstellen dieser Entscheidungen sind zahlreich, besonders in Seuchenfällen.

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Die Gefahr wächst, den einen nicht mehr zu behandeln, um den anderen zu retten. Wie z.B. entscheiden wir uns, wenn wir 10 ECMOs (Beatmungsgeräte) haben, aber 11 brauchen? Dieses Drama rückte umso näher, als die Knappheit der Intensivbetten im Frühjahr 2021 anstieg. Ende 2020 wurde diskutiert, ob auch bei der Verteilung der Impfung eine Triage aufkommen kann. Ab wann ist eine Priorisie­ rung im Gesundheitswesen (Rationierung oder Rationalisierung?) eine Triage? Sie ist nicht nur die tragische Entscheidung, jemanden sterben zu lassen. Man übersieht oft auch die freie Entscheidung – den sog. informed consent – eines Patienten, eine wenig aussichts­ reiche Therapie abzubrechen. Die Inhumanität beginnt in dem Moment, wenn die freie Entscheidung medizinfremden Motiven, z.B. ökonomischer Art, geopfert wird. Verheerend sind drei Zusammenhänge: 1. wenn alle Medien die Möglichkeit des Behandlungsabbruchs nach freier Entscheidung übersehen. Die Notwendigkeit einer sog. Ethikberatung bleibt leider unbeachtet und natürlich auch undiskutiert. 2. wenn wir (!) uns über dieses Verfahren vorher keine Gedanken gemacht haben. Kritische Situationen – etwa die Organtrans­ plantation, die wir gerade genannt haben – gab es schon genug. 3. wenn wir den Politikern anvertrauen, Regeln zu erarbeiten. Viele Coronaregeln haben wir ja schon vielfach abgelehnt. Warum sollten Regeln der Triage eher akzeptiert werden? Zurzeit wird eine Regierungsvorlage nach dem Beschluss des Bundes-Verfassungs-Gerichts vom Dezember 2021 entwickelt. Eigentlich haben wir (!) doch die Verantwortung. Inzwischen liegen folgende Orientierungshilfen zur Triage vor: von 1. der Bundesärztekammer, 2. der Gesellschaft für Katastro­

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Systemvertrauen

phenmedizin, 3. der deutschen interdisziplinären Gesellschaft für Intensiv- und Notfallmedizin sowie 4. dem deutschen Ethikrat.5 Kritisch ist m.E. das Fehlen von Entscheidungskriterien außer­ halb der Überlebenschancen. Und vor allem die Schädigung der Vertrauensbeziehung zwischen dem Arzt, der helfen kann, und dem notleidenden Patienten, der Hilfe braucht bzw. um Hilfe bittet (Dietrich, 2021, S, 96). Eine Bemerkung am Rande, weil viele Menschen der Regie­ rung Vorwürfe machen, dass die Coronabekämpfung auf Triage hinausläuft. Denken wir an das ungelöste Problem der Verteilung (genannt Allokation) von Gesundheitsmitteln: Welche Abteilung bekommt mehr finanzielle Zuwendung, etwa die Kardiologie oder die Orthopädie usw.? Wer bekommt die neue Niere, der Patient mit 70 oder die Patientin mit 40 und ihren drei schulpflichtigen Kindern? Da sind auch die nicht-transplantierten Patienten, die statistisch gesehen auf der Warteliste sterben? Wieder einmal stehen wir ähnlich wie bei der Triage so auch bei der Allokation von Gesundheitsmitteln vor der Frage: »Wer soll leben, wenn nicht alle leben können?«

Systemvertrauen Unsere Gesellschaft steht vor riesigen, schwer lösbaren Problemen Wie konnte es so weit kommen? Grund scheint eine Vertrauens­ krise zu sein, die sicher schon seit längerer Zeit andauert. Ein sehr interessanter Gedanke ist die Kritik des Begriffs »Ver­ trauen«, der zumeist sehr emotional und persönlich aufgeladen ist. Für unser Problem des Zusammen-lebens passt er nicht, stattdessen wird der Begriff »Sich-Verlassen« empfohlen. Der hat eine regulative Konnotation. Denkbar wäre, dass eine Impfpflicht für jemanden zu einschneidend ist, aber viele andere wollen ein verlässlicher Mitbürger sein. Orientierungshilfen samt Internetadressen werden von Dietrich (2021, S. 97) angegeben.

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Diese Konstellation ist durchaus möglich. Es sollte »uns in der Corona-Krise primär darum gehen, Verlässlichkeit herzustellen, anstatt die […] Haltung des Vertrauens anzustreben« (Budnik, 2021, S. 29). Mein Begriff des »Systemvertrauens« ist dem der Verlässlichkeit ziemlich ähnlich. Vertrauen ist, schreibt Niklas Luhmann (1973, S. 49), »wenn der, dem vertraut werden soll, Gelegenheit zum Vertrau­ ensbruch bekommt, und nicht nutzt. Dieses Risiko ist […] nicht wegzudenken. Es kann aber auf kleine Schritte verteilt und dadurch minimiert werden«. Zurzeit stehen wir da, wo wir nicht hinwollten, vor der Spaltung der Gesellschaft in Befürworter und Verweigerer der Impfung. Etwa 25 % Ungeimpfte zwingen die Geimpften, Angst zu haben und sich boostern zu lassen. Verharmlosen wir nicht das Problem des Vertrauensbruchs? Haben wir den Impfverweigerern Gelegen­ heit dazu gegeben, als sie Angst hatten, die Zusammenhänge nicht verstehen konnten, falsche Informationen bekamen oder sich zusammenreimten usw.? Vertrauen wir den Medien, dann ist jede Impfung nur ein Pieks. Oder ist sie doch mehr? Das alles sind – natürlich nicht nur, aber vor allem – Kommu­ nikationsprobleme, wir brauchen, wie Luhmann schreibt, kleine Schritte: Mit Angst umgehen lernen, fehlerhafte Zusammenhänge der Impfverweigerer in Ruhe vortragen lassen und schließlich, wenn möglich mit ihnen zusammen, Korrekturen erarbeiten. Mit sog. Extremisten nicht reden zu können, ist ein weitverbreite­ ter Unfug. Geht nicht? Glaube ich nicht. Die Lösung eines ähnlichen Problems habe ich vor Jahren in den USA in der Cleveland Clinic Foundation erlebt. Das Problem war: Wann darf man Kindern Behandlungen aufoktroyieren oder ablehnen? Diskussionsgrup­ pen wurden ausgesucht, sogar mit Fernsehbeteiligung. Gesetze lösen nicht das Problem. Warum ließe sich eine ähnliche Runde mit Impfproblemen nicht auch in Deutschland aufbauen? Kommunikationswiderstände bearbeiten funktioniert natürlich am besten im Einzelgespräch, aber es gäbe ja auch Filme im

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Literaturkritischer Zwischenruf

Fernsehen und nicht nur die xte Wiederholung alter Kriminalfilme. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten haben ja schließlich auch einen Bildungs-, nicht nur einen Spaßauftrag. Und was ist mit themenzentrierter Bildung in Gemeinden und religiösen Gruppierungen? Religion z.B. darf nicht zum Sammelbecken der Metaphysik-Virtuosen werden, sie ist ein Ort der Kommunikation. Systemvertrauen ist in die Brüche gegangen. Anzeichen gibt es in Hülle und Fülle, etwa Hass, Neid, Angst, Aggression, Egoismus usw. Aber Luhmann verweist auf die kleinen Schritte. Unser Prob­ lem ist, dass wir keine Zeit mehr haben bzw. nicht mehr nachholen können, was wir unterlassen haben, um unser System zu stärken. Was heißt »Systemvertrauen«? Sich darauf verlassen können, dass Individuen aufgefangen werden, wenn sie in Not geraten sind. Das System hat die Funktion eines Netzes. Es ist eine Zusammen­ fassung gesellschaftlicher Funktionen, die subsidiäre Hilfe leisten, wenn wir uns selber nicht mehr helfen können. Hat uns z.B. das Virus infiziert, werden wir, wie es im November 2021 schien, nicht mehr aufgefangen? ist Systemvertrauen dahin?

Literaturkritischer Zwischenruf Dabei denke ich an ein Kapitel in Thomas Manns Roman «Der Zauberberg». Ein kurzer Rückblick: TBC war eine Pandemie, die bis zu ihrer Besiegung Jahr für Jahr allein in Deutschland viele 100.000 Leben kostete. Die Geschichte spielt vor dem 1. Weltkrieg. Mitglieder der Hautevo­ lee waren im Schweizer Sanatorium Berghof, das auf Lungenlei­ den spezialisiert war, untergebracht und wurden u.a. vom frisch entdeckten (1895) bildgebenden Verfahren der Röntgenstrahlen diagnostiziert. Sieben Jahre lang wurde Hans Castorp dort behandelt. Am Ende kam es zu einer gereizten Stimmung. Thomas Mann kommentierte: »Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu gif­

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Aspekt 3 Zusammen-leben und Systemvertrauen

tigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handge­ menge. Erbitterter Streit. Konflikte mit der erschreckend leicht verfallenden Obrigkeit«. Hintergrund war die totale Desorientierung unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, Bild eines entleerten Vertrauens – Vertrauen auch in die Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft. Konkret bedeu­ tete das die Entleerung der Begriffe Gerechtigkeit und Freiheit. Für zwei der Hauptfiguren endete die Geschichte mit dem aufwüh­ lenden Beschluss zu einem Duell, mit dem die anfangs schöne Schlittenfahrt für sie ausklang. Hans Castorp wurde zum neutralen Sekundanten bestimmt. Mann benutzte ein Bild, das Castorps Gefühl sehr nahekommt: Das Zusammen-leben lag »zwischen Wand und Abgrund«. Diese Geschichte ähnelt sehr stark der gegenwärtigen Corona­ krise. Die TBC war nicht nur eine Pandemie wie Corona, geprägt durch das Durch- und Gegeneinander der verschiedenen Ansichten und auch von der Ungültigkeit der bestehenden Regeln. Zusam­ men-leben ging zu Bruch.

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Aspekt 4 Aus der Seuchengeschichte lernen

Aus der Seuchengeschichte lernen wir besonders die Brüche im Zusammen-leben der Menschen. Sie untergraben in den dama­ ligen Pandemiebekämpfungen die Wirksamkeit. Wir sollten bedenken, was sich in früheren Pandemien an solchen Brüchen ereignet hat. Es könnte sich in unserer kollektiven Erinnerungs­ kultur speichern. Immer wenn eine Epidemie durchs Land zieht wie SARS, Vogel­ grippe, Ebola oder jetzt Corona ärgert es mich, dass wir (inklusive Politiker) nichts gelernt haben. Nichts gelernt haben aus dem, was Seuchen bei uns Menschen an Konsequenzen auslösten. Kaum ist die Seuche da, schon verfallen wir in Muster, die Zusammen-leben hintanstellen, als hätte es noch nie eine Seuche gegeben. Deswegen kann auch Vergangenes wichtig sein.

Geschichte und Erinnerung Bert Brecht schrieb in dem Gedicht »der Zweifler« an die, die zu wissen vorgeben: »Ist es auch angeknüpft an Vorhandenes? Sind die Sätze, die / Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? / Ist alles belegbar? / Durch Erfahrung? / Durch welche? …«

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Aspekt 4 Aus der Seuchengeschichte lernen

● Seuchengeschichte Wir müssen das, was uns trifft, mit dem verbinden, was wir – bzw. unsere Vorfahren vor Jahren oder Jahrhunderten – erfahren haben. Leider geht das immer mehr in die Brüche. Jean-Luc Nancy schrieb den bemerkenswerten Satz (2021, S. 18): Geschichte ist, weil sie so selten, fast nie, zu Rate gezogen wird, »selbst gebrechlich geworden, so sehr, dass sie sich verflüchtigt und uns zurücklässt als Waisenkinder […] des guten Lebens«. Beim Kampf gegen Corona darf man nicht vergessen, worum es eigentlich geht: Wie kommt die Bedrohung bei uns an und was macht das mit uns? Es geht nicht um eine Therapie-Strategie gegen Seuchen, sondern um das, was unsere Alltagsideen sind, nicht was an virologischem Fachwissen bei uns hängengeblieben ist. Das Gegenteil dessen sind: Genießen und Kontakt pflegen. Auch bei Genießen und Kontakt darf man Vernunft nicht ausschalten, Emotion und Vernunft kann man nicht trennen. Fahren wir fort mit dem, was wir für wichtig erachten: Mensch unter Menschen bleiben, auch in der Krise. Über Sinn nachdenken. Gräben und soziale Barrieren überwinden. Sprache hinterfragen und nicht zum Plappern verkommen lassen. Neil Armstrong, der 1969 auf dem Mond landete, sagte den Medien: »Ein Riesenschritt für die Menschheit …«, o.k., aber wohin geht die Menschheit mit Riesenschritten? Im Falle von Seuchen, mit Riesenschritten hin zu Atemschutzmasken, Pistolen, Klopapier … oder doch hin zu dem, was die Menschen glücklicher und nicht nur zu Opfern macht? Können wir das wagen? ● Erinnern als psychoanalytische Kultur Sigmund Freud entwickelte eine eigenartige Theorie: Dinge, die uns im Alltag beschäftigen und Sorgen machen, haben oft einen verdrängten Hintergrund. Nur wenn man sich diesen Hintergrund bewusst macht und ihn mitleben lässt, verliert das gegenwärtige Problem an Dramatik. Das gilt m.E. auch für Corona. Erinnerungen aus der Geschichte sind oft nicht nur ein Problem des Geschichts­

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Ein historischer Rückblick

unterrichts, sondern auch die Frage, ob wir die Erfahrungen zulas­ sen oder sie als den Unfug früherer Zeiten abtun. Jürgen Habermas hat diese Theorie in seine Moralphilosophie übersetzt. Allzu oft wird Vergangenheit ausgegrenzt, dass wir mit den gegenwärtigen Problemen besser und vor allem leichter umge­ hen können. Der geschichtslose Mensch unterliegt, so Habermas, der »Idolatrie des starken Mannes« (Merkur Nr. 189 11/1963). Das darf man im Umgang mit Corona nicht vergessen. Wir müssen uns bewusst machen, was vor unserer gegenwär­ tigen Pandemie an Seuchen passiert ist und wie wir uns dazu verhalten haben. Je klarer uns das wird, desto klarer wird uns der Umgang mit unserer gegenwärtigen Pandemie.

Ein historischer Rückblick Unternehmen wir also einen verkürzten Rückblick. Aus der umfangreichen Seuchengeschichte nehmen wir nur die Seu­ chen heraus, a) zu denen wir aussagekräftige historische Quellen haben, b) die sehr hohe Opferzahlen aufweisen und c) große wiederkehrende Probleme des Zusammen-lebens aufde­ cken. Meine Liste zeigt eine begrenzte Auswahl der Epi- und Pandemien, die im Laufe der Geschichte unsere Welt heimgesucht haben6.

6 Einige Seuchen, v.a. aus der Antike wurden unter mittelalterlichem Namen geführt, obwohl keine verlässlichen Angaben darüber vorliegen, also die heutigen Begriffe nicht wirklich stimmen. Vgl. Leven, 1997.

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Aspekt 4 Aus der Seuchengeschichte lernen

Lepra ab 13. Jh. bis 2005 viele Tote: keine Zahl

Aussatz, Infektion von Haut, Schleimhaut u. Nervenzellen

Pest ab 1348 mit vie­ Beulenpest u. Lungenpest Infektion von len Neuausbrüchen Ratte zu Mensch Tote: ca. 25 Mio. Syphilis ab 1494 Tote: ca. 12 Mio.

Lues, oft als »Franzosenseuche« bezeich­ net, sexuell übertragbar, verheerende Fol­ gen bei Neugeborenen

Pocken ab 1519 Tote: ca. 5–8 Mio.

Eiterpusteln mit Schmerzen und Fieber

TBC ab 1800 / Tote: Jährl. 1,4 Mio

Erkrankung v.a. der Lunge und gelegentlich anderer Organe

Diphtherie Infektion der Atemwege, früher »Würg­ ab 1825 / Jährl. engel der Kinder« genannt Infektionen: 2 Mio. Cholera ab 1831 / Tote: jährl. ca. 140.000

Fieberhafte Infektion mit Hautausschlag, Durchfällen, Darmgeschwüren, starken Bauchschmerzen und schweren Bewusst­ seinsstörungen

Spanische Grippe 1918–22 / Tote: 27 bis 50 Mio.

verursacht durch einen sehr virulenten Abkömmling des Influenzavirus, Subtypus des Coronavirus

HIV ab 1981 / Tote: bisher ca. 3,5 Mio.

Erworbene Immunschwäche (AIDS), meist sexuell übertragbar, übertragbar auch bei der Geburt

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Beobachtungen aus der Seuchengeschichte

SARS ab 2009 / Tote: mehr als 1 Mio.

Oft auch als »Schweinegrippe« bezeichnet. Symptome: Schwere Lungenentzündung, Typ des Coronavirus

Corona ab 2019, Tote: bisher (Ende 2021) ca. 5 Mio.

Leichte bis schwer(st)e Symptome, häu­ fig mit Fieber, trockenem Husten, Lungen­ schmerzen, Müdigkeit und Organschädi­ gung

Beobachtungen aus der Seuchengeschichte Zurückgegriffen auf die Geschichte der Pandemien: Was sind die Probleme, die uns in Corona immer noch beschäftigen? Gleichsam konstante Fehler im Umgang mit Katastrophen haben sich einge­ schlichen. Hier ein paar Momente: ● »Rieselnde Angst« Dieser Ausdruck stammt vom Wirtschaftssoziologen Heinz Bude (DIE ZEIT Nr. 54/2020). Gemeint ist die rieselnde Angst vor den eigenen Fehlern, die ein jeder macht: Eltern, die ihre Kinder nicht wirklich schützen können. Menschen, die Missbrauch und Gewalt gegen die schwächeren Mitglieder der Familie einsetzen. Zu Risi­ kogruppen gehören und nicht genügend Schutz bekommen. (Meist jüngere) Menschen, die ihr gerade gegründetes Geschäft kaputt­ gehen sehen usw. Wer Corona bekämpfen will, muss mit der Angst leben. Wie geht das? Was macht die Angst mit mir? Und was machen wir mit der Angst? Bei der Pest gab es, wie es scheint, wenigstens Trost durch Religion, bekannt sind heute jedoch auch ihre Entgleisungen: Verfolgung der Juden, Verunglimpfung der Moral-Verächter usw. Das Muster ist in afrikanischen Ländern vergleichbar geblieben und sogar noch bei AIDS in Deutschland: als Strafe für moralisches Fehlverhalten. Und eh man sich versieht, ist Religion genau das Gegenteil von dem, was sie sein sollte.

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Bei SARS blieb die Angst über, die jeden Kontakt über­ schwemmte. Es gab wenig Erklärung, abgesehen von infektiologi­ schen, aber viel Angst, die alle und d.h. die zunehmend globalisierte Welt bedrohte. Bezeichnend ist die mittel- und althochdeutsche Herkunft des Wortes »Trost«, der »innere Festigkeit« bedeutet. Trost beruht nicht auf Verleugnung der Gefahr, sondern auf Transparenz und Umgehenkönnen mit ihr. Dieses Umgehen mit Gefahr bedeutet aber auch, sie nicht zum alles beherrschenden Thema zu machen. Es gibt noch viele andere Themen, die wichtig sind, aber nichts mit der Seuche zu tun haben. Wir können auch Projekte planen, Dinge tun, die bisher verpasst oder nicht so interessant schienen, uns auf das besinnen, was uns aus der Hektik des Alltags herausführt, usw. Und schon rieselt die Angst nicht mehr durch alle Poren unserer Existenz. ● Gemeinsamkeit zum Abschuss freigeben Wörtlich bedeutet Solidarität so viel wie füreinander einstehen (franz. Herkunft) und faszinierte (nicht nur) die Arbeiterbewe­ gung. Seltsam, wie Seuchen diese Art des Füreinander-Einste­ hens zerstörten. In Venedig erfand man schon 1374 die Quarantäne (quaranta giorni, 40 Tage), um Schiffe mit Pestverdacht draußen vor dem Hafen zu verankern und ihre Besatzung nicht in die Stadt zu lassen. Pestkranke wurden auf eine Insel vor Venedig, im Lazzaretto Vec­ chio (altes Lazarett), die zwischengelagerten Waren auf einer ande­ ren Insel, im Lazzaretto Nuovo (neues Lazarett) untergebracht. Am Oberrhein – Freiburg z.B. wurde im 16. Jh. 12mal von einer Pestwelle heimgesucht – wurde zwischen Basel, Straßburg und Freiburg eine Vereinbarung geschlossen, die Handelswege in jener schlimmen Zeit bei Pestverdacht zu schließen. Der Vertrag wurde aber nicht eingehalten, die Wirtschaftsinteressen waren stärker7. Aus einer Vorlesung meines Lehrers Prof. E. Seidler (Medizingeschichte und die Anfänge der Medizinethik).

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Zwei Seiten der Information

Springen wir zum nächsten Höhepunkt der Seuchengeschichte und dem Garaus der Gemeinsamkeit, zur Choleraepidemie 1892 in Hamburg mit den knapp 17.000 Infizierten. Knapp 9.000 Men­ schen starben, das waren allein für diese Stadt 2,6 % der Gesamt­ bevölkerung. Damals wie heute war klar, dass »eine Epidemie die­ ses Ausmaßes vermeidbar gewesen wäre« (K.-H. Leven, 1997, S. 112). Die marode Kanalisation und das verdreckte Wasser konn­ ten durch eine von einem englischen Ingenieur erfundene Sandfil­ teranlage des Elbwassers gereinigt werden. In Altona, das zu Preu­ ßen gehörte, wurden wegen dieses Systems keine Infektionen verzeichnet. Aber die Sandfilteranlage war den Verantwortlichen im nicht-preußischen Hamburg zu teuer. Meines Erachtens ist das nicht (nur) ein Fehlschlag der Wirtschaft, sondern auch ein Fehl­ schlag fehlender gemeinsamer Interessen. Die nach der Epidemie begonnene Sanierung der Armenviertel dauerte übrigens bis 1930. Verspätete Konsequenz und Symbol? Kommen wir zur Gegenwart. In der Coronakrise spüren wir das Ende der Gemeinsamkeit. Die Ministerpräsidenten der Bun­ desländer zeigten uns, wie Solidarität nicht geht. Lockerungen der Einschränkungen, die in allen (!) Bundesländern gelten, wären überzeugend und eine für alle faire Lösung gewesen. Stehen regio­ nale Egoismen über der unbedingten Pflicht, Leben zu schützen? Nach der vierten ist bereits eine fünfte Welle ausgebrochen, und noch immer gibt es keine gemeinsam verbindliche Strategie. Den­ ken die Politiker bereits an die kommende Wahl? Probleme gibt es nur, wenn die Strategien nicht transparent oder gar verlogen sind.

Zwei Seiten der Information Es gab Zeiten, in denen Information kaum eine Rolle spielte. Wich­ tig war eher das »on dit« von Leuten, die im Land herumkamen. Die meisten Betroffenen kamen aus ärmeren Schichten. Verlässliche Informationen durch längeren Aufenthalt waren eher selten. Information ist ein Prinzip der neuesten Zeit. Alle therapeuti­ schen Berufe in Kliniken, Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen

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und Praxen, sowohl in Medizin und Psychologie, sprechen vom »Informed Consent«. In einem Vortrag von einem Chefredakteur hörte ich den Satz, der vielen seiner Autoren aus der Seele sprach: »Ich lasse mir durch Fakten doch nicht meine Story kaputtmachen«. Die brauchen authentische Stories, nicht Fakten. Darum befra­ gen Autoren Experten, deren Antworten manchmal so verkürzt werden, dass sie zu den Fragen der Autoren passen. Und das ist Information? Bei Corona führt die Weitergabe von Information mehr und mehr zur Überfütterung. Über Corona berichteten Tagesschau und Heute Journal, Corona-Ticker auf allen Kanälen, Spezialsendungen im Anschluss, Anne Will, Maybrit Illner, Frank Plasberg u.a. Wer versteht die Information? Wenige, eigentlich versteht man vor allem, dass die Information von Experten stammt. Bei SARS, AIDS, der Schweine- und Vogelgrippe sowie Ebola war das ganz ähnlich. Die Folge: Information ist das Zauberwort der Gegenwart. Zu wenig Information ist eine Art Betrug, zu viel Information ist Desinformation. Aber wie viel ist zu viel? Darum kümmern sich die Medien anscheinend nicht.

Allmacht der Biologie Wir sind es gewohnt, menschliche Phänomene und Sachverhalte wie die bakteriellen und viralen Epi- und Pandemien allein durch biologische Tatsachen, Theorien und Modelle zu erklären. In Mit­ telalter und früher Neuzeit gab es solche Theorien kaum und wurden heute mit Politik, damals mit Theologie gemischt. Wenn ein Virus in die genetischen Strukturen des Körpers eingreift, geht es um privates und soziales Leben. Aber wo z.B. bleiben Soziologie, Psychologie u.a.? Es gibt freilich Beiträge von Wissenschaftsjournalisten, meist gedruckt oder im Netz, die auch andere Perspektiven bieten, sie sind im Vergleich selten. Der Umgang mit Theorien der Seuchen beruht oft nur auf Biologie, man nennt das dann »Biologismus« oder »biologische Reduktion«.

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Panik – Alarm der Überforderung

Weiß man z.B., dass Stress Spuren in unserem Gen-Code hinterlassen kann? Oder etwas präziser: Stress, Umweltprobleme, Dichte des Zusammen-lebens, Mangel an Ernährung und Flüssig­ keitszufuhr, reduzierter Schlaf usw. In der alten Medizin hielt man für therapeutisch entscheidend, was man in der modernen Medizin als Epigenetik bezeichnet. Halten wir fest: Etwas mit rein biologi­ schen Maßstäben zu erklären, geht an unserem Erklärungsbedarf vorbei. Aber auch hier gilt: Zu viel Erklärung verwirrt. Gegenwärtig spricht man bei der Erklärung von Infektionen durch das Virus vom »Deutungsmonopol der naturwissenschaftli­ chen Medizin« (K.-H. Leven, 1997, 139). Was gilt als zuverlässig und was als Scharlatanerie? Und wer entscheidet das und warum?

Panik – Alarm der Überforderung Dass große Angst Panik auslösen kann, ist ein Gemeinplatz. Aber warum macht Angst manchmal Panik und manchmal nicht? Sie ist eine Reaktion auf eine Bedrohung. Ist sie aber mehr als nur Angst? Mehr als Angst ist, Bedrohung als ausweglose Situation – wie durch einen Tunnel verengt wahrzunehmen. Da fallen mir einige Biographien ein. Aus der frühen Zeit der Republik imponierte mir Rosa Luxemburg (1871–1919), eine einflussreiche Vertreterin der Arbeiterbewegung. Ihre Inhaftierung mit der eventuellen Hinrichtung machte ihr Angst, führte aber nicht zur Panik. Beeindruckend war ihr Vertrauen in die soziale Gerechtigkeit, auf die sie hoffte und für die sie sich engagierte. Sie hatte allen Grund, Angst zu haben, und man hätte ihr Panik zugetraut. Aber nichts da. Ihre Kraft der politischen Analyse, das Vertrauen in die soziale Umschichtung und die Fortentwicklung der Politik schützten sie vor dem Abgleiten in Panik. Passt das auch auf Corona? Je besser man die Zusammenhänge der Seuche versteht, desto mehr Vertrauen in richtiges Verhalten kann man haben und desto eher kann man Panik vermeiden, auch wenn man Angst hat. Schnellkurse in Virologie und Epidemiologie

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helfen da nicht. Panik ist mehr als Angst. Wer Angst nicht mehr bewältigen kann, entgleitet in Panik. Vertrauen in eine bessere Zukunft hilft gegen Überforderung und Abgleiten in Panik. Und wer stützt Vertrauen?

Denk-Askese und Rassismus In allen Seuchen konnte man beobachten, dass eine Sicht der Dinge ohne Beobachtungen auskommt, die sich auf vernünftige Beweise oder wenigstens Faktenüberprüfung stützt. Immer wieder gibt es bei Seuchen Menschen, die auf Denken verzichten. Hier einige – bei weitem nicht alle – Beispiele aus der Geschichte der Epidemien: Die Lepra etwa wurde oft als göttliche Strafe für Sünden verstan­ den. So hielt man die Kranken für moralisch minderwertig. Die Infizierten lebten außerhalb der Städte in sog. Gutleutehäusern und bekamen sogar eigene Gutleut(e)kapellen. Sie mussten mit Klappern oder anderen Signalen auf Wegen von Dorf zu Dorf die Gesunden warnen. Die Pest wurde ähnlich wie die Lepra als Strafe verstanden. Schlimm wurden erste rassistische Etikettierungen vorgenommen: Judenhass war sehr verbreitet, Juden galten als Brunnenvergifter und Betrüger, jüdische Ärzte z.B. verrieten anscheinend die gött­ liche Therapieordnung und durften »Normalbürger« nicht behan­ deln. Die Syphilis löste die seltsamste Art des Rassismus aus. Bald sah man in der Rückkehr des Columbus von der Amerikaentdeckung – das war die verbreitetste Infektionstheorie – den Beginn der Syphi­ lis. Die Matrosen des Columbus infizierten sich beim Geschlechts­ verkehr mit Indianerinnen. Syphilis nannten die Italiener die spanische Krankheit, die Franzosen nannten es die italienische Krankheit, die Deutschen die französische Krankheit, die Polen die deutsche Krankheit usw. Schuldig waren immer die anderen. Eine interessante Deutung war, dass TBC von Reichen gern romantisiert, von anderen hochmütig als »Proletarierseuche« ver­

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Religion und Religionsverschnitt

standen wurde. Eine Infektion war nicht einfach eine Erkrankung, sondern ein sozial wirksames An-den-Rand-geschoben-werden der Erkrankten. Die Ärmeren konnten sich weder einen guten Arzt – wenn es hochkommt: einen Armenarzt, den es selten gab –, ausgewogene Ernährung, Ruhe in der Sonne oder gar Sanatorien leisten. Es dauerte sehr lange, dass statt Impfungen soziale Ände­ rungen eingeführt wurden. Besonders schlimm waren die Auswirkungen der Spanischen Grippe, jener Pandemie mit vielen Millionen Toten. Seuchenüblich waren Verschwörungstheoretiker, Vertreter des Antisemitismus, Verdacht gegen Außenseiter usw. Verschärft wurde das Aufkom­ men der Abschottung, Rückzug ins Eigene. Nationalismus und Populismus wurden großgeschrieben. Manche linke Historiker meinen sogar, dass der NS-Faschismus im Zuge der Spanischen Grippe geboren wurde. Mag sein oder auch nicht, immerhin bringt jede Seuche einen starken Trend zu Schuldzuweisungen und Bes­ serwisserei auch ohne Fakten mit sich. Bei Corona kehren wir wieder zur mittelalterlichen Pest zurück: wieder stellen wir Antisemitismus und andere Formen der Auslän­ derfeindlichkeit fest. Neu ist der Verdacht gegen Asiaten als Herde der Infektion und Virenschleudern.

Religion und Religionsverschnitt Die erste Erklärung für das Auftreten einer Seuche war üblicher­ weise die Störung der göttlichen Ordnung, noch vor verschiedenen medizinischen Ansteckungstheorien. Als Auslöser dieser Störung wurde die Verletzung von göttlichen Geboten angesehen. Das galt für alle Seuchen im Mittelalter und der früheren Neuzeit. Erst langsam setze sich ein Wandel durch. Unmoral galt nicht mehr als einziger Grund für eine Seuche. Aber was trat an ihre Stelle? Paradebeispiel war die Syphilis. Laut RKI gibt es in Deutschland aktuell immer noch ca. 1000 Fälle pro Jahr. An diesem Beispiel konnte man früher und heute noch – wenn auch immer seltener –

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Aspekt 4 Aus der Seuchengeschichte lernen

direkt die Unmoral als Auslöser einer Seuche erkennen. Um 1900 herum stellte Temkin, ein deutsch-amerikanischer Medizinhisto­ riker, v.a. in der Literatur einen Wandel der Einschätzung fest. Die Geschlechtskrankheit registrierte er »im beschleunigten modernen Kulturleben und im kräftezehrenden gegenseitigen Konkurrenz­ streben von Individuen und Nationen« (Temkin, 1927, S. 356). Das frühere Argument von der Störung der göttlichen Ordnung hat also langsam, aber sicher an Überzeugungskraft (außer bei religiösen Virtuosen) verloren. Im Fall von Corona scheint seitens der Religionen großes Schweigen eingekehrt zu sein – ein Schweigen, das ich als Ratlo­ sigkeit verstehe. Pandemien begreife ich nicht mehr als Störung der göttlichen Ordnung, wohl aber als einen tiefgreifenden Zusam­ menhang: als Störung des Commonsense (vgl. Forschner, 2008, S. 44f). Der beruht auf sozialer Verantwortung und Vernunft, letz­ tere wird insbesondere von Wissenschaften geprägt. Je mehr aber die göttliche Ordnung ausgeklammert wird, desto stärker wird das Bedürfnis nach einer letzten Begründung. Wie auch immer: Ich habe noch keine ernstzunehmende religiöse Begründung einer Seuche gelesen. Wir träumen eher nicht von einer Wiedergeburt des Glaubens, m.E. aber von der Wiederentde­ ckung eines verlorenen Zusammenhangs.8

Hidden files der Seuche? Der bayrische Satiriker Karl Valentin schrieb, dass »jede Epoche die Epidemie hat, die sie verdient« (Zitat übernommen von K.-H. Leven 1997, S. 141). Ich möchte ihn nicht überinterpretieren. Valentin meint nicht, dass jemand die Infektion verdient hat (im Sinne von: er sei zu Recht infiziert). »Verdient« bedeutet m.E.: Eine Seuche hat ihre Bedingung in einem Klima des zerstörten Zusam­ men-lebens. 8 Der verlorene Zusammenhang hat viel mit Camusʼ Absurdität in »Die Pest« (Aspekt 6) zu tun.

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Hidden files der Seuche?

Sind wir eine Epoche, die sich nicht auf Seuchen eingestellt hat? Spätestens seit Nietzsches Erklärung vom Tode Gottes bleiben wir selber die Schuldigen, können und wollen die Katastrophe keinem Gott – der nach Nietzsche ja schon tot war – in die Schuhe schieben. Zurzeit ist das Virus – Virus statt der böse Gott? – immer der Schuldige, und wir sind die Opfer. Warum? Viele Punkte – es waren nur einige wenige, aber m.E. sicher sehr wichtige – habe ich diskutiert, die im Verlauf der Seuchen eine Rolle gespielt haben und wieder spielen. Sie sind Symptome der Pandemie, haben aber schon vielleicht unterschwellig vorher existiert. Etwa Vorurteile, Allmacht der Biologie oder Rassismus und die vielen anderen Punkte haben auch vorher schon das Leben einer Gesellschaft bestimmt und eine schleichende Zerstörung des Zusammen-lebens ausgelöst. Verdrängen wir die Symptome der Seuche? Heinrich Heine schrieb für die Augsburger Zeitung über seine Erlebnisse im von der Cholera heimgesuchten Paris. Sein letzter Satz lautete9: »… die Nebel der Dämmerung umhüllten wie weiße Laken das kranke Paris, und ich weinte bitterlich über die unglückliche Stadt, die Stadt der Freiheit, der Begeisterung und des Martyri­ ums, die […] für die weltliche Erlösung der Menschheit schon so viel gelitten!« Weinen vor Trauer? Ein deutscher Dichter der Romantik weint vor Kummer. Eigentlich wäre es keine Zeile wert, wenn ein Romantiker weint. Wohl aber, dass Trauer ignoriert wird. 1967 schrieben die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich ihr Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« (1965). Die Mitscherlichs beklagten sich darüber, dass die meisten simulierten, als trauerten sie nicht, als der Führer, dem sie folgten, starb und die alte, vielfach geliebte Ideologie unterging. Die Zerstörung der alten Welt war es, den die Menschen, die sie damals mühevoll aufgebaut hatten, mit dem Krieg erlitten haben. Deshalb wäre Trauer sinnvoll. Und ohne Trauer kein Neubeginn, keine Hinwendung zum Leben. Eine 9

Faksimile (1832) ohne Jahr, S. 48.

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Aspekt 4 Aus der Seuchengeschichte lernen

Gesellschaft, die unfähig ist zu trauern, so das Resümee der Mit­ scherlichs, kann von dem vergangenen Unheil nicht erlöst werden. Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen dem NS-Drama und dem Corona-Drama? Eins beunruhigt uns: Corona hat unsere alte Welt zerstört, die wir damals mühevoll aufgebaut und durch die Pandemie verloren haben. Trauern wir über das Ende der alten, d.h. gewohnten Welt? Können wir das? Was heißt Trauer eigentlich, wenn wir unsere gewohnte Welt in Zeiten von Corona reanimieren wollen? Das, was wir verloren haben, machen wir immer wieder zum Thema. Zugegeben, wir haben gerne in diesem alten Setting gelebt und uns darin orientiert. Aber wir müssen entdecken, warum wir diese Welt geliebt haben und wie wir damit leben können, wenn vieles davon anders gewor­ den ist. Gegenwärtig leben wir von der Hoffnung, dass Corona bald vorbei ist. Was kommt dann? Das Gleiche noch einmal? Was mich besonders beelendet, ist der Totalausfall des tiefen Nachdenkens. Es gibt und gab doch das Bedürfnis nach tiefgrün­ digen Erklärungen im Laufe der Seuchengeschichte. Leider produ­ zieren wir immer wieder komische Formen der Nachdenklichkeit. Ich vermute, dass Verschwörungstheoretiker leichtes Spiel haben, weil sie keine konkurrierenden Denkmuster vorfinden, die sie ernst nehmen könnten. Verheerend ist, dass Wut – eine Art steckengebliebene (patholo­ gische) Trauer – vorherrschend ist. Dabei wäre unblockierte Trauer so wichtig. Nur so kann die Welt eine Welt Zusammen-lebender Menschen werden. Hat Heine geweint, weil er geahnt hat, dass es diese Welt nicht mehr geben wird?

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Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche? Giovanni Boccaccio und seine aktuelle Bedeutung

Boccaccio schrieb in Zeiten des schwarzen Todes. Er war bestürzt über das Debakel des Zusammen-lebens und wollte Menschen vor der Panik retten. Das wäre auch aktuell hilfreich, würde man seine Perspektiven kennen und beachten. Warum denken wir über die Pest nach, wenn wir über Corona nach­ denken? Weil der schwarze Tod, wie man den ersten Ausbruch der Pest im Mittelalter wegen der hohen Todesraten nannte, irgendwie als Muster der Pandemien verstanden hat. Sie ist das Modell einer aus den Fugen geratenen Welt, eine Metapher für Angst und Orientierungslosigkeit sowie Ende der Liebe und anderer Beziehungen, eine Metapher für verstecktes Unheil, Hungersnöte usw. Wie konnte man damit leben? Dem Buch »Decamerone« von Boccaccio begegnete ich kürzlich in einem Beitrag (2020, S. 164) des Theologen Magnus Striet über Corona. Darin stellte er – gegen den kirchlichen Strich gebürstet – die krisengeschüttelte »Sprachlosigkeit« der Kirche/Kirchen fest, die mit dem Seuchenchaos nichts anfangen können, v.a. keine situationsgerechten, geschweige denn überzeugenden Glaubens­ vorstellungen entwickeln. Und er schrieb am Ende seines Beitrags: »Giovanni Boccaccio hätte seine Freude daran«. Das bemerkt – ausgerechnet – ein Theologe. Theologen sind wohl besonders sen­ sibilisiert für die Bewältigung von Problemen. Warum Boccaccio? Es gibt viele Gründe, natürlich vor allem weil Boccaccio nicht der Erfinder erotischer Geschichten ist. Er

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Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche?

ist jemand, der unter dem Eindruck der Seuche den Umbau der Gesellschaft fordert. Also nicht nur Erotik, sondern er konzentriert sich auch auf den gesamten »Bereich des menschlichen Zusam­ men-lebens« (Wetzel, 2012, S, 5). Und das mit dem literaturge­ schichtlichen Stempel, dass er der Schöpfer der Gattung »Novelle« war (vgl. ebd., S, 5ff).

Wer war Boccaccio? Giovanni Boccaccios freizügige Geschichten – fast alle handeln von Erotik und Liebe – kamen auf den Index, die Verbotsliste der vatika­ nischen Sittenwächter. Vor ihren später errichteten barocken Palast setzte der berühmte Bildhauer Bellini einen großen Elefanten, mit seinem Hinterteil in Richtung Palast und mit seinem Kopf auf Land und Leute (urbi et orbi) blickend. Wie stolz waren die Geistlichen im Palast über das Kunstwerk des genialen Bellini. Dabei hat er als Feind des Index sagen wollen: Leckt mich am …. So erklärte mir das ein Freund aus der Päpstlichen Universität in Rom. Boccaccio schrieb in seinem Vorwort: »Hier beginnt das Buch namens Decameron. Es heißt auch Fürst Galeotto«. Galeotto war ein König im mittelalterlichen (um 1100) Lanzelot-Roman, der einem seiner Helden zu einem Date mit Ginevra verhilft. Später schrumpfte er zur erotischen Figur. Boccaccios Roman enthält hundert Geschichten, die an zehn Tagen von sieben jungen Frauen und drei jungen Männern erzählt werden. Boccaccio nannte das Buch Dekameron, weil die 100 Geschich­ ten in 10 (griechisch: deka) Tagen (griechisch: hemera) erzählt wer­ den, zusammengesetzt: deka(he)mera, italienisiert: Decamerone (deutsch Decameron). Aufgeschrieben wurden die Geschichten zwischen 1348 und 1353. Boccaccio hat seine Geschichten nicht sel­ ber ausgedacht. Sie stammen vor allem aus arabischen, indischen, persischen und altfranzösischen Quellen, die er »nur« bearbeitet

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Boccaccios Idee

hat. Etwa 200 Jahre nach Erscheinen kam er auf den Index.10 Die erste Ausgabe in Deutschland stammt 1476 aus Ulm, also noch vor dem Index. Der Hintergrund seines Buches: Die Pest 1348 in Florenz. Zehn junge Leute zwischen 18 und 28 verließen die Stadt, die ihre Bewohner in Angst und Schrecken einschloss. Sie versetzten sich in einen unaufgeregten Zustand des Geschichten-Erzählens und zogen in ein Landhaus in den Hügeln von Florenz (vgl. Ćosić, 2020). Boccaccios Vater wollte seinen Sohn zunächst im Bankwesen unterbringen, das für Florenz großen Reichtum bedeutete. Gio­ vanni sah das bald nicht mehr als sinnvoll an. Sein Vater ließ ihn danach Jurisprudenz studieren. Auch das interessierte ihn bald nicht mehr. Er hielt es mit der Philosophie, der Medizin, die damals eine reine Buchwissenschaft war, der Dichtkunst und den Frauen.

Boccaccios Idee Das Besondere an diesem Buch ist, dass die Geschichten in der Mehrzahl erotische Geschichten sind. Boccaccio ging Konflikten mit dem Vatikan nicht aus dem Wege, weil er die Doppelmoral der Kleriker enthüllte. Die drei wichtigsten Institutionen neben Krone und Adel waren damals die wissenschaftliche Medizin, die Wirtschaft und die Kirche. Alle drei haben versagt. Deshalb ging es Boccaccio um eine Einstellung, die einen nicht immer tiefer in Krise und Untergang eingräbt. Wichtig ist aber nicht die mittelalterliche Freizügigkeit, sondern die ungewöhnliche Perspektive, die auch heute noch überraschend ist. Genau um diese neue und freie Einstellung ging es ihm, auch wenn er die landläufigen Moralinstitutionen, Kirche, Handel und König, ver­ teufelte. Es kam, was kommen musste: Boccaccio landete posthum auf dem Index, der erst 1966 abgeschafft wurde. Aber die Angst hat überlebt. 10

Index der verbotenen Bücher, kurz Index Romanus, erschienen 1559.

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Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche?

Übrigens, Angst kommt vom lateinischen angustia und bedeu­ tet Enge. Was macht die Situation so eng? Klar, die Epidemie. Ich habe einmal den Film »Cube« (1997) gesehen. Eingeschlossen sein, keinen Ausweg finden, auch wenn man alles riskiert, um ihn zu finden, so der Film, ist schlimm. Wer einen Fehler macht, stirbt. Der einzige Ausweg ist Zusammen-leben. Ein Update von Boccaccio? Hätte man auf Boccaccio gehört, wären uns das Drama der Judenpogrome und andere rassistische Diskriminierungen in der Seuchengeschichte wahrscheinlich erspart geblieben. Die wurden damit begründet, dass Juden das Trinkwasser verseucht hätten (Brunnenvergifter), ihre Ausrottung sei damit rechtens. Boccaccio wollte stattdessen mit seinem Buch die Situation entschärfen. Verdacht auf andere zu lenken, ist meist das Resultat einer selt­ samen Haltung: 1) nicht begreifen wollen, was Fakt ist, und 2) die Beurteilung der Fakten nicht redlich genug vornehmen und/ oder mit anderen darüber diskutieren. Zudem haben sich 3) die ersten beiden Fehlhaltungen in Kopf und Herz festgesetzt und jede Alternative blockiert. Man kannte damals nicht die bakteriellen (Yersinia pestis) Zusammenhänge und ihre Verbreitung über Ratten und Ratten­ floh. Man wusste damals nichts über Bakterien, Hygiene und die Gefahr von stark bevölkerten Stadtvierteln mit drastischer Zunahme an Ratten. Man sah nur den Zusammenbruch des Zusammen-lebens. Eltern mieden wegen der Ansteckung ihre Kin­ der. Viele Ärzte, Totengräber, Amtsdiener, Kaufleute usw. flohen oder starben. Viele meinten, dass die Pest die Rache Gottes für zügelloses Leben sei. Schnee von gestern? Nein. Wir haben nur vergessen, gar ver­ drängt, dass Geschichten oft sehr wichtig sind. Geschichten heilen zwar nicht, aber sie helfen aus der Untergangsstimmung heraus, machen den Kopf frei, lassen uns die guten – trotz der schlechten – Erinnerungen. Vor einigen Jahren habe ich den Film »Melancholia« (2011) gesehen. Der Regisseur Lars von Trier war ein sehr depressiver Mensch. Typisch? Sein Film erzählt von einer Hochzeitsfeier der Schwester, zu der die Hauptdarstellerin und ihr Mann eingeladen

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Boccaccio und die nachhaltige Liberalität in Lessings Ringparabel

waren. Die Feier ging total daneben. Die Melancholie der Haupt­ darstellerin führte in die Katastrophe. Aus der Melancholie herausfinden ist auch die Rettung aus unserer Pandemie, die unser Zusammen-leben zerstören kann – das Bild aus dem Film: Destruktion. Boccaccio hat uns das vorge­ macht, indem er folgende Momente in seinem Dekamerone fest­ hält.

Geschichten erzählen Geschichten erzählen, neudeutsch: story telling, hat eine unglaub­ liche Bedeutung in der Auflösung von Spannungen. Geschichten halten Erfahrungen fest, verengen nicht die Perspektiven, sondern halten sie offen, machen kreativ (z.B. Bäume pflanzen, in deren Schatten man niemals sitzen wird), gehen über den Augenblick hinaus und achten auch jene, die darin eine Rolle am Rande spielen. Keiner wird verdammt, höchstens lächerlich gemacht. Die Geschichten ranken sich – oft verborgen »zwischen« den Zeilen – um Themen des Zusammen-lebens. Darin werden Motive sichtbar wie Spiele, Tanzen, witzige Geschichten über Streichespie­ len, Edelmut und Hochsinnigkeit usw.

Boccaccio und die nachhaltige Liberalität in Lessings Ringparabel Die Geschichte von Boccaccio wurde die Vorlage von G.E. Les­ sings Ringparabel aus seinem Theaterstück »Nathan der Weise«. Bemerkenswert ist der Hintergrund. Gerade in und nach den Pestausbrüchen war die Verteufelung der Fremden, insbesondere Menschen mit islamischer und jüdischer Religion, gang und gäbe. Boccaccio schrieb gegen diesen Fremdenhass an.

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Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche?

In Kürze der Inhalt: Der Sultan Saladin kam von einer Handelsreise zurück. Sein Haus war abgebrannt und seine Tochter fast darin gestorben. Er musste deswegen eine große Summe Geld aufnehmen und dachte an einen jüdischen Geldverleiher namens Melchisedech. Er fantasierte sich zusammen, dass der sich wegen seiner Reli­ gion weigern würde, einem Muslim Geld zu leihen. Als der Sultan im Gespräch mit dem jüdischen Geldverleiher dem eine entsprechende Testfrage stellte, erzählte der ihm als Antwort eine Parabel: Vor Urzeiten hatte ein Vater seinem Sohn einen großartigen Ring geschenkt, der über Generationen hinweg vom Vater auf den Lieblingssohn weitervererbt wurde. Bis ein Vater drei Söhne hatte, die er alle drei liebte. Er ließ zwei Kopien anfertigen, und nicht einmal ein Juwelier konnte das Original von der Kopie unterscheiden. Die drei meinten, sie hätten das Geschenk und damit den Liebesbeweis des Vaters. Wie unter Erben üblich kommt es zum Streit. Wer das größere Recht hat, das nur der Ringträger besitzt, kann nicht entschieden werden. Und die Moral von der Geschichtʼ: Der Jude und der Moslem interessieren sich nicht dafür, wer die bessere Religion samt Moral und Theologie hat (vgl. Kermani, 2014, 90–120). Wichtig ist ihr Zusammen-leben, die beiden werden Freunde. Das gilt gerade auch für Politiker und Menschen wie wir. Religion hin oder her: Bei Lessing werden Moslem, Christ und Jude Freunde. In Boccaccios Parabel sind es nur Moslem und Jude. Aber es kommt auf die drei Söhne an, die alle vermeintlich Träger des Originalrings sind. Und wie geht die Geschichte aus? Mit einem Plädoyer für Liberalität und Toleranz. Impfgegner und Impfbefürworter – werden auch die Freunde? Vorurteile werden bekämpft. Ein aussichtsloser Kampf? Es kommt, wie Lessing das seinen Nathan sagen lässt, auf den Beweis der Liebe an, also auf die Praxis der Beziehung. Religion darf dieser Praxis nicht im Wege stehen.

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Boccaccios Gestaltung einer Welt der Menschen und sein feministischer Ansatz

Das ist Boccaccios Muster. Ihm, natürlich auch Lessing und vielen anderen, ist Liberalität gerade in Zeiten der Seuche sehr wichtig. Wohl auch deswegen, weil Zusammen-leben ohne diese Liberalität nicht möglich ist. Und auf diese Praxis kommt es an.

Panik und Seuche Beispiele aus den letzten beiden Jahrhunderten belegen den zuneh­ menden Stress. Denken wir an Spanische Grippe, SARS, AIDS, Ebola, TBC, Diphtherie, Kinderlähmung, Pocken usw. Gleich ob Seuchen von Bakterien oder Viren – der Unterschied ist infektiolo­ gisch – ausgelöst wurden. Die Angst nimmt zu. Wie hilflos sind wir? Hilft Medizin? Trotz WHO, Louis Pasteur, Robert-Koch-Institut usw. nimmt die Angst zu. Medizinische Hilfe hinkt immer hinterher, weil der Ausbruch entdeckt wird, wenn der Keim längst aktiv ist. Ver­ nünftiges Umgehen mit Angst ist schwer. Häufige, aber unschöne Verhaltensweisen sind: den Seuchenausbruch verheimlichen, die Menschen darüber belügen, sie in Rassismus und Achtungsentzug drängen oder andere verantwortlich machen (aber niemals uns selber). Das einzig hilfreiche Instrument ist Empathie, Angst teilen usw. Wenn das nicht passiert, wird Angst zur Panik, zur Ausweg­ losigkeit.11 Sah Boccaccio so etwas kommen? Zumindest ging er dagegen an, indem er nicht nur die gefährlichen, sondern vor allem die schö­ nen Seiten des Lebens mit Erotik und Liebe trotz Seuche betonte.

Boccaccios Gestaltung einer Welt der Menschen und sein feministischer Ansatz Feministen gab es im 14. Jahrhundert noch nicht, wohl aber die klare Einstellung, was in einer Sache wichtig ist. Boccaccio 11

Vgl. die Hinweise in Aspekt 13.

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Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche?

versammelte sieben Frauen in einer Kirche, um sich für ihren Auszug aus dem verseuchten Florenz und für das gemeinsame Geschichtenerzählen vorzubereiten. Sie verließen die Kirche (ein Symbol?), und schon waren drei junge Männer zur Stelle. Teilweise waren sie in eine der jungen Frauen oder in verschiedene (bzw. in alles, was weiblich und hübsch war) verliebt. Aber eigentlich wichtig waren sie nicht. Komisch, welche Rolle spielten die Männer? Boccaccio holt sie ins Boot, weil sie reich waren und Diener hatten und in der Gesell­ schaft etwas galten. Das reichte für die Tage in Florenz. Ich halte diese Einstellung für das im Spätmittelalter übliche Rollenklischee der Reichen. Aber für die Gestaltung einer neuen Welt waren die zehn jungen Leute nicht herausragend wichtig. Warum auch? So würde man heute fragen. Kreativität reicht. Ohne Frauen geht das nicht. Alles andere ist Staffage. Die Welt auf die Füße zurückstellen, war Boccaccios Anliegen: die Welt nicht mehr nach den Regeln der religiösen und weltlichen Großen ablaufen lassen. Die Pest hat gezeigt, dass dieses Regime nichts bringt, außer sinnlosen Theorien. Stattdessen ist erlaubt und sinnvoll, den Klerus zu kritisieren, der auf Doppelmoral gebaut Sexualität nur als »Ausrede« der Kindererzeugung statt Freude zulässt. Er machte Erotik und Liebe kaputt. Anders einige Mönche beim Sex, sagte Boccaccio. Seine Folgerung: Der Klerus verrät seine Ideale, er verrät bei allen Menschen seines Glaubens die menschliche Natur. Boccaccio wagte einen neuen Versuch. Ob damit die Welt langfristig aus der Seuchenkrise herauskommt? Wenn Boccaccio so viel vom Engagement der Frauen hält, dann deswegen, weil Frauen Natürlichkeit garantieren. Je mehr man mit Frauen zu tun hat, desto mehr wächst die menschliche Welt, es sei denn, man instrumentalisiert sie.

»Nieder mit dem Geld! Es lebe die Liebe!« Als Boccaccio das schrieb, so am 4. Tag in der 5. Geschichte, meinte er das nicht als vorgezogenes Gewerkschaftsmotto, auch

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Zusammen-leben nach der Seuche

wenn seine Distanz zum Geldwesen nicht zu übersehen ist. Das Geldwesen blühte in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts in Florenz auf. Seine Sorge (auch schon vor dem schwarzen Tod) war folgende: Der Spagat von Arm und Reich wurde immer größer, Banken machten Pleite, Fernhandel scheiterte. Finanzgeschäfte lösten nicht die Probleme seiner Zeit. Nicht nur der Klerus schloss sich, wie man so schön sagt, den stärksten Bataillonen an. Eine neue Gesellschaftsordnung würde es nicht mehr geben, zu lange bestand schon diese Liga. Sie stellte alles auf Rückwärts. Und dann kam die Pest, und alles ging zu Bruch. »Es lebe die Liebe!« Ist Gefahr in Verzug? Wird Liebe über­ strapaziert? Nein, sie wurde allzu oft verhindert. Zum Beispiel: Geld kann keine Norm des Zusammen-lebens sein, Erotik und Liebe scheinen wichtig, aber geraten ins Abseits der Werbung und der Ratgeberliteratur. In Boccaccios Geschichten gibt es viele Gründe für das Scheitern einer guten Beziehung. Er sieht in der Liebe ein Modell der guten Beziehung. Sie tut alles, um Beziehungen glücken zu lassen.

Zusammen-leben nach der Seuche »Die ganze Skala menschlicher Möglichkeiten entfaltet sich breit. Niemand wird geschont, weder Könige noch Kaufleute. Die Sym­ pathie [Boccaccios] […] gilt pfiffigen kleinen Leuten, die sich dem Druck der Großen zu entziehen wissen, vor allem aber Liebende(n), die einen Weg finden, um zusammenzukommen«, so fasst Kurt Flasch das Konzept von Boccaccio in seinem Buch über dessen Geschichten (1997) zusammen. Das sind auch unsere aktuellen Probleme in Zeiten von Corona. Ich fand es faszinierend, dass jemand es wagte, die Welt nicht aus den Augen der regierenden Institutionen zu sehen (wie man heute sagen würde: top down), sondern aus den Augen der Betrof­ fenen (also: bottom up). Ab dann wurde Boccaccio spannend – spannend auch in Zeiten von Corona.

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Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche?

Wie schön wäre es gewesen, wenn man Boccaccio nicht verges­ sen hätte. Zusammen-leben wird in Pandemiezeiten schwierig, weil Überleben nicht nur auf Schutz vor Infektion beruht, sondern ein Problem des Zusammen-lebens ist. Und das ist verknüpft mit der Gestaltung einer Welt, die nicht mehr den alten Gesetzen folgt. Übrigens, während des Dritten Reichs und danach hat es alter­ native Gruppen gegeben, die an einer neuen Konstitution unserer Welt arbeiteten, der sog. Freiburger Kreis u.a. – alles ging immer mehr kaputt. Ein neues Konzept musste her. Beklemmend finde ich, dass es einen solchen Ansatz für die Zeit nach Corona nicht gibt. Arbeiten wir an einer neuen Welt samt solchen Ideen dazu? Wir produzieren Daten, aber keine Ideen. Die Punkte in Boccaccios »Dekamerone« nennen all das, was nicht die Infizierten, aber die Welt voller Ansteckungsgefahren reparieren könnte. Boccaccio war überzeugt, dass die alte Welt, mit der er solche Schwierigkeiten hatte, dem Untergang geweiht war. Brauchen wir eine neue Weltordnung? Boccaccio versteht, dass ein Leben, bedroht von der Pest, Leiden auslöst. Aber genau das würde gemildert, wenn die Welt im Sinne seines Entwurfs sich wandeln würde. Zusammen-leben in unserer Zeit muss um diese Perspektive erweitert werden. Als die 10 Tage vorbei und die jungen Leute wieder im ver­ seuchten Florenz sind, was passiert dann?12 Die Tage auf den Hügeln bei Florenz waren »keine Flucht, sondern sie stellt sich ihren sozialen und moralischen« (Wetzel, 2012, S. 6) Regeln ent­ gegen. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber dieser Tropfen war schon längst fällig. In Zeiten unserer Seuche ist er es noch immer, sozusagen: überfällig. Gehen wir von diesem europäischen Kulturkreis in den ameri­ kanischen. Die Pest ist immer noch, auch dort die Mutter aller Pandemien. So die Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe »Die Maske des roten Todes« (1842). Er hatte zu In psychologisch orientierten Gruppen gab es am Ende das sog. Back-HomeGespräch. Wie kann eine Gruppe das Diskutierte und Gelernte umsetzen, wenn man wieder zu Hause ist?

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Zusammen-leben nach der Seuche

Beginn des 19. Jhds. die Cholera miterlebt. Seine Mutter sowie seine Frau starben durch eine andere Seuche, die TBC. Die Hand­ lung der Erzählung zusammengefasst: Der Prinz (irgendeines Reiches) lebte auf einer Burg, die er sehr ausgefeilt geplant und verschwenderisch gebaut hat. In seinem Reich wütet der schwarze Tod, also die Pest – Poe benutzt dafür den Begriff »Schwarzen Tod« und in der Erzählung wie im Titel das Bild »roter Tod«. Auf seine Burg lud der Prinz die reichsten 1000 Gäste. Jeder Gast bekam die Vorschrift zu einer bestimmten Maskerade. Einer der Gäste – oder war es kein geladener Gast? – trug die Maske des roten Todes. Der Prinz zog seinen Dolch, und der Gast mit der Maske des roten Todes flüchtete, aber im Handgemenge der beiden tötete der den Prinzen. Die Gäste, die sich an die Seiten des Saales geflüchtet hatten, stellten den Gast, es war aber unter seiner Verkleidung kein Mensch zu sehen, nur Blut und Grusel. Diese Geschichte steckt voller Allegorien. Poe gilt als der Begrün­ der des Symbolismus. Die für unser Thema wichtigsten Bilder zähle ich auf: ● Die Maske des roten Todes versinnbildet den schwarzen Tod, die Pest. ● Reichtum ist die Maske der Pandemien. Es geht nicht um eine bestimmte Seuche, aber sie ist grauenhaft. ● Gegen die Seuche kann man nichts ausrichten, nicht einmal der bewaffnete und mächtige Prinz kann es. ● Die Seuche hat keine Identität, ist der unseren aber sehr ähnlich. Edgar Allan Poe deutet in seiner Erzählung zwei Hintergründe an: Erstens, die Machtlosigkeit des »American Dream« mit dem »pursuit of happiness«, der Einhaltung politischer Ordnung, dem Fortschrittsdenken, der Leistung usw. Man kann die Maske des roten Todes unschwer auf die Visionen von Macht, Glück, Ord­ nung, Fortschritt und Leistung übertragen. Ist das nicht auch heute überhaupt so?

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Aspekt 5 Zusammen-leben jenseits der Seuche?

Zweitens, die Verherrlichung des individuellen Vorteils. Macht, Geschmack, Durchsetzungsvermögen, Verantwortung usw. haben nur für einzelne Menschen Bedeutung. Unterstützung durch andere, auch das Leiden anderer spielen eine geringe Rolle – höchstens das eigene Leiden ist schlimm. Und wieder: Ist das heute so viel anders? Wenn man so will, die Pandemie und das Verhalten des Men­ schen sind verschränkt. Verschränkt wodurch? Pandemien sind eher kein Zufall oder Unfall. Nur nach den Infektionswegen zu fragen übersieht die menschliche Vernetzung.

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Aspekt 6 Sinnsuche: Ein Seuchenproblem in Albert Camusʼ »Die Pest«

Leben besteht nicht nur aus Biomedizin. Bestimmt uns das Virus oder können wir selber unser Leben bestimmen? Zusammenleben – und das ist dramatisch – ist Camusʼ Problem. Sein Nachdenken hilft auch unserem Zusammen-leben. Die Verkaufszahlen von Camusʼ »die Pest« (als Buch veröffentlicht 1947, übersetzt in viele Sprachen) schnellten nach oben, als Corona kam. Warum? Mir fallen drei Gründe ein: 1. Camus kam von Algerien nach Paris und war im Untergrund gegen die Nazis tätig. Von den Nazis in Paris eingeschlossen zu sein, ist wie die Pest, so mag es ihm erschienen sein. Es geht Camus um eine kaputte Welt und wie man darin leben kann. 2. In dem Roman finden sich viele seiner zentralen Begriffe wieder, die er vor und nach diesem Roman präzisiert hat. Sehr wichtige Begriffe sind Absurdität, Revolte, Freiheit, Wahrheit, absurdes Leben usw. 3. In »die Pest« wie auch in vielen anderen von Camusʼ philoso­ phischen Büchern13 geht es um den Sinn. Sinn von Arbeit, Institutionen, Suizid, Leben, Entscheiden usw. Bei Katastrophen wie der Corona-Pandemie bringen Fragen dieser Art eine beson­ dere Herausforderung mit sich.

Ich beziehe mich vor allem auf »Der Mythos des Sisyphos« und »Der Mensch in der Revolte«.

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Aspekt 6 Sinnsuche: Ein Seuchenproblem in Albert Camusʼ »Die Pest«

Interessant ist auch die biographische Notiz, dass Camus mit 16 Jahren an TBC erkrankte und mit dem Tod rang. Als er unheilbar das Armenspital verließ, konnte er natürlich nicht in die klamme Wohnung seiner Familie zurück. Er zog in die Familie seiner Schwester und seines Schwagers, einem Metzgermeister, in ein besseres Stadtviertel. Viele Erfahrungen aus dieser Zeit sind in sei­ nen Roman eingeflossen. Infiziert zu sein ist die größte Heraus­ forderung seines Lebens, das Warum und Wozu ist eine sehr bedeutende Frage (vgl. I. Radisch, 2013, S. 41f). Im Anfang der Pandemie gab es sehr viele Specials zu Corona, und auch Frank Plasberg in »Hart aber fair« machte eine Sen­ dung, in der Prof. Streeck und der protestantische Bischof Bed­ ford-Strohm aufeinandertrafen. Kurz kam man auf den Sinn zu sprechen. Plasberg war nicht zufrieden mit dem, was der Bischof über den Sinn der Pandemie sagte, und gab die Frage an den Virologen weiter. Der grinste und meinte, der Bischof sei doch der Spezialist. Hätte man doch einen Kenner von Camus gefragt! Übrigens, es gibt keine Spezialisten für Sinnfragen. Weiß man, wonach man fragt? Wie es scheint, hat das Wort »Sinn« wenig Sinn. Oder? Manch­ mal grabe ich im Vorgarten ein Loch, weil ich dort eine Pflanze einsetzen will. Ein Nachbar geht vorbei und fragt: Was machst Du da? Würde ich sagen »Ich grabe ein Loch«, wäre das zwar absolut richtig, hätte aber keinen Sinn. Erst wenn ich sagen würde, wozu ich grabe, hätte das Sinn. Etwa: Ich will eine Ilex pflanzen. Und der Nachbar würde mich nicht für komisch halten. Also, was ist »Sinn« und speziell »Sinn« im Roman von Camus? Holen wir kurz aus: Altdeutsch hieß Sinn: sinnan, gleich Fährte. Ein moderner Soziologe, Niklas Luhmann (vgl. 1971), verstand Sinn als Zusammenhang, sagen wir als Weg (Fährte) von Ding zu Mensch bzw. von Mensch zu Mensch. Zurück zu Camus: In seinem Roman ist diese Beziehung, dieser Weg von Ding zu Mensch, gestört. Die Frage von Camus ist dann, wie man mit dieser Seuche umgeht. Und da ist es unwichtig, dass die Pest eine bakterielle Krankheit ist und Corona eine Viruser­ krankung. Unser Zusammen-leben ist gestört.

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Der Roman »Die Pest«

Der Roman »Die Pest« Camus schildert den Verlauf der Pest (als Buch erstmals publiziert: Paris 1947) in der Stadt Oran an der Küste Algeriens (Heimatland von Camus). Hauptfigur des Romans ist der Arzt Dr. Bernard Rieux. Die Geschichte beginnt in einem nicht angegebenen Jahr.14 Zu Beginn des Romans wurden einige tote Ratten gefunden, die auch in den mittelalterlichen Berichten beobachtet wurden. Die galten als harmlose Fälle und schienen nichts mit einer Erkrankung zu tun zu haben. Sie wurden dann aber mehr und mehr als der Anfang einer schrecklichen Pestepidemie wahrgenommen. Der Ausnahmezustand von Oran war die Folge, die Stadt wurde von der Außenwelt abgeschottet. In Oran gab es mehrere tausend Todesop­ fer. Die wichtigsten Romanfiguren sind: ● Rieux: Arzt, der Nächstenliebe und Zivilcourage verkörpert. Er ist Atheist. ● Grand: kleiner Rathausangestellter, der einen Roman schreiben will, aber nie mehr als den ersten Satz schafft. ● Paneloux: Jesuitenpater, der die Pest als Strafe Gottes ansieht und dessen Predigten eine bedeutende Rolle für einen Großteil der Bevölkerung spielen. ● Tarrou: Nachbar von Rieux. Politisch engagiert, Gründer einer Schutztruppe. ● Rambert: Journalist, der nach Algerien kam, um einen Artikel über die »arabische Frage„ zu schreiben, es aber nie tut. ● Cottard: Rentner, der einen Selbstmordversuch begeht und aufgehört hat, am Leben teilzunehmen. Als Verurteilter und Schmuggler profitiert er von der Pest. Aber sie bringt ihn auch zurück ins Leben und in die Gesellschaft. Es geht Camus v.a. um die Bedeutung einer Krankheit. Als pande­ mische Krankheit bedroht sie das menschliche Dasein. Jeder nimmt Biographen nennen 194…[!], also ohne genaue Angabe der 40er Jahre, wohl eine Zeit nach dem 2. Weltkrieg.

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diesen schier ausweglosen Kampf gegen die Seuche auf, die wie der Schwarze Tod im Mittelalter als ausweglos galt. Rieux kämpft als Arzt gegen die Seuche an und gerät u.a. mit Pater Paneloux in Konflikt. Besonders als Arzt, der um das Leben eines Kindes kämpft und den Kampf verliert. Aber der Pater glaubt an die Ordnung Gottes, Rieux findet sie total unvernünftig. Absurd ist sie, weil sie nicht am Leben teilnimmt. Der Roman erzählt auch von anderen Kampfgenossen Rieuxʼ, die ebenfalls Sinnkrisen in der drohenden Situation durchleben. Sinn der Seuche ist gegen sie anzukämpfen. Es gibt keinen Sinn, der in diesem oder jenem besteht. Suchen, nicht ihn besitzen, macht die Frage nach dem Sinn von Corona so wichtig, wichtig vor allem dann, wenn man sich darum nie gekümmert hat.

Sieg über die Pest Die Pest in Oran ging zuende. Freedom day nennt man das in Zei­ ten von Corona, wenn auch die Infektionszahlen nicht für das Ende von Corona sprechen. Camus schrieb am Ende seines Romans (1998, S. 182, letzte Seite): »Und doch wußte er [Dr. Rieux, F.J.I.], daß dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeichen dessen sein, was man hatte vollbringen müssen und was ohne Zweifel all jene Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und ihre unermüdliche Waffe ankämpfen, die Heimsuchungen nicht anerkennen wollen. Aber es ist auch klar, daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.« Wenn wir an Corona denken, klingt alles wie in Camusʼ »Pest«. Über eins stolpern wir: Camus spricht von der »glücklichen Stadt«.

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Absurdität

Aktuell ist das der glückliche Staat. Unser Staat ist gespalten, der Sieg über Corona steht noch aus. Was daran soll sinnvoll sein?

Absurdität Vielleicht sollte man eins in Camus Roman festhalten: Für ihn ist nicht irgendetwas absurd, z.B. eine Krankheit, sondern eine Bezie­ hung. Er schrieb (2019 «Der Mythos des Sisyphos» Paris 1942, S. 26): »Diese Dichte und diese Fremdheit der Welt sind das Absurde«. Dazu benutzte er Bilder wie die Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und dem ihn umgebenden Rahmen, dem Unmenschlichen hinter der Schönheit oder wie dem verlorenen Paradies, das man hinter dem Himmel und der Landschaft sieht. Camusʼ Hauptfigur, der Arzt Dr. Rieux, macht den Roman auf den ersten Blick zu einem medizinisch aufgeladenen Roman. Aber mehr noch zu einem Roman über den Sinn des Lebens in einer sinnlosen Situation. Dr. Rieux spricht mit Kranken und Angehörigen. Diskussionen ergeben sich mit Vertretern linker und rechter Ansichten, mit Menschen, die alles hinnehmen oder wütend gegen bzw. für etwas kämpfen. Mit dem Journalisten Rambert diskutiert Dr. Rieux im Roman: »Der Mensch ist keine Idee, Rambert«. Der glühte vor Eifer und protestierte: »Er ist eine Idee, und zwar eine kurzsichtige Idee, sobald er sich von der Liebe abwendet. Und gerade zur Liebe sind wir nicht mehr fähig. Schicken wir uns darein, Herr Doktor«. Rieux gibt das zu. Betonen wir nochmal: Nicht irgendetwas in der Welt ist absurd. »Das Absurde ist im Wesentlichen eine Entzweiung« (1998, S. 43). Absurdität liegt nicht in dem einen oder anderen, nur in deren »Gegenüberstellung«. (Ebd.) Nach einigen Whiskys ist die Absurdität wieder weg? Nein, Camus sagte: Absurdität geht nicht einfach mehr oder weniger schnell vorbei, sie ist Voraussetzung, man kann sich mit dem, was passiert, nicht einfach abfinden. Die Erfahrung der Seuche bleibt,

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auch wenn sie besiegt ist. Und die Konsequenz: »Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, als man sich nicht mit ihm abfindet« (Ebd. S. 44). Nur in den Wüsten kann das Denken gedeihen. Wenn man niemanden sieht, meint man, man wüsste, was wichtig ist. Absur­ des Denken ist »eine ständige Konfrontation mit seiner eigenen Dunkelheit« (Ebd. S. 67).

Und der Sinn von Corona? Corona »bringt die verborgene Wahrheit einer korrupten Welt ans Licht« (Rose, 2020, S. 43). Der Bezug des Menschen zu »seiner« korrumpierten Welt bedeutet mit der Absurdität zu leben, und das in Zeiten der Pandemie. Was diese korrupte Welt ist, sagt Arund­ hati Roy, die indische Schriftstellerin, die in New York lebt und in der Financial Times (3. 4. 2020) einen wunderbaren Artikel schrieb. Nach der Aufzählung katastrophaler Verhältnisse schrieb sie: »Mein Gott, ist das Amerika?« Danach beschrieb sie die kata­ strophalen Verhältnisse in Indien ohne dieses »Mein Gott …« Die Korruption der Welt wurde von einem Virus ausgelöst. Unser Ver­ stand »weigert sich, die zerbrochene Welt anzuerkennen […] Nichts Schlimmeres könnte passieren, als zur Normalität [der Welt vor Corona, F.J.I.] zurückzukehren – zu einer Welt also, in der es keine Vertrautheit, keinen Schutz, keine Würde, keine Nahrung oder Liebe« gab. Roy meinte darum, Covid sei eine »Pforte von der alten zur neuen Welt«. Aber nur, wenn der Mensch – und da sind wir wieder bei Camus – für eine neue Welt kämpft.

Leben mit dem Absurden Camusʼ Sinnsuche bedeutet Handeln, ohne den Sinn zu kennen. Sinn lässt sich nicht definieren, aber ihn zu suchen in der Gemein­ samkeit ist ein sehr praktisches Motiv. Ich zitiere zwei Sätze aus »Die Pest«:

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Leben mit dem Absurden

1) »Während die Pest durch die wirkungsvolle Unparteilichkeit, mit der sie schaltete und waltete, die Gleichheit unter unseren Mitbürgern verstärken soll, verschärfte sie durch das natürliche Spiel des Egoismus in den Herzen der Menschen noch das Gefühl von Ungerechtigkeit.« 2) »Man weiß, daß jeder sie in sich trägt, die Pest, weil […] kein Mensch auf der Welt von ihr unberührt ist. Und daß man sich ständig überwachen muß, um in einem Moment der Zerstreutheit […] einem anderen nicht ins Gesicht atmen und ihn anzustecken«. Die Werte Solidarität, Freundschaft und Liebe (Liebe zum Nächs­ ten und erotische Liebe), die Camus vorher selten, aber später als handlungsleitende Begriffe benutzte, kommen als möglicher Ausweg in Betracht. Aber Absurdität kann nie aufgehoben werden

Und der Sinn von Corona? Hurra, wir haben ihn, den Sinn. So etwa könnte der Pater Pane­ loux in Camusʼ Roman predigen. So aber auch gegenwärtig viele Menschen, die hoffen, dass alles bald vorbei sein wird und wir zur Normalität zurückkehren. Hat Normalität Sinn? Gibt es den Sinn von Pest, Corona und anderen Seuchen? Seuchen haben keinen Sinn. Wir müssen mit der Seuche leben, ohne auf einen Sinn zu warten. Manche suchen den Sinn in neuen Doktrinen, z.B. die, dass Corona eine Erfindung der Regierenden sei, die Statistiken falsch seien, man die Infektionsgefahr überschätze usw. Man will die Macht unterlaufen, aber tritt die Machtinstrumente (wie Statistik, Wissen, Kontrolle u.ä.) mit Füßen, meint jedoch die Macht selber. Also den Sack treten, aber den Esel meinen? Hilft uns das? Camus akzeptiert keinen, der sich nicht für Menschen einsetzt, nur Theorien schmiedet und aufgibt zu kämpfen. Als sei die Seuche besiegt.

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Revolte Revolte ist bei Camus nicht Terror, Revoluzzer-sein, gegen dies und jenes zu Felde ziehen, Drahtzieher ermorden u.ä. In seinem Buch »Der Mensch in der Revolte« (bestehend aus vielen Essays) sieht er in all diesen und ähnlichen Versuchen einer Revolution das tragische Ende oder sogar die Verkehrung der gesteckten Ideale. Insofern sieht er in der Revolte, anders als Sartre,15 nicht die Revolution und das Ende ihrer Ideale. Sie besteht in der Aufgabe, das Leiden der Menschen aufzuheben. Aufheben nicht im Sinne des seitens der Kirchen (miss-)verstandenen Himmels16, es geht um ein Leben der Hilfe und des Trostes. Trost macht den Anlass der Trauer nicht ungeschehen. Camusʼ Revolte ist: die Welt kritisch sehen, aber sich für das Leben der Menschen engagieren, jede Art von Vertröstung entlar­ ven und als immer wiederkehrendes Thema: im Absurden leben. Dr. Rieux wurde nach einer Predigt von Pater Paneloux, der von Gnade und dem Heil der Menschen redete, wütend und sagte, wie einst Dostojewski, dass er nicht an Gott, Gnade und Heil glauben könne. »Ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, eine Schöp­ fung zu lieben, in der Kinder gemartert werden« (1950, S. 129). Und am Ende des Gesprächs sagte er, dass er darüber nicht streiten wolle und sie beide miteinander, jeder auf seinem Weg, gegen einen Weg angehen, der vom Menschen wegführt, etwa – so z.B. Freud und Heine – wie zum »Eiapopeia vom Himmel«. Nochmal Dr. Rieux: »Dieser Gedanke kann lächerlich wirken, aber die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit« (1950, S. 98). Als Tarrou erkrankt war, bat er seinen Nachbarn Rieux zu sagen, dass er vielleicht von der Pest infiziert worden sei. Er habe keine Lust, schon zu sterben, er wolle das Spiel nicht ver­ lieren, wie er sagte. Wenn er infiziert wäre, wäre das Spiel aus. Rieux versprach ihm das: »Um ein Heiliger zu werden, muß man Wohl ein Hauptgrund für das Ende ihrer Freundschaft. Himmel heißt in der Bibel »Reich Gottes«, »Reich der Himmel« usw. Sinn ist dann nicht im Jenseits, sondern bei uns Menschen. 15

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Revolte

leben. Kämpfen Sie« (Ebd. S. 167). Ehrlichkeit – auch für Nichtärzte – bedeutet: Niemandem etwas vormachen. Alles tun, sich und anderen helfen zu leben. Nicht aus Angst leben, sondern Leben schätzen. Er findet sich nicht ab mit dem Eingelullt-werden vom sog. »höheren« Sinn. Als die Pest in Oran endlich zuende ging, wurde Dr. Rieux klar, »daß dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, […] was ohne Zweifel noch all jene Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zer­ rissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und seine uner­ müdliche Waffe ankämpfen«, aber »keine Heiligen sein können« (Ebd. S. 180). Und noch etwas: Revolte ist keine Sache des Denkens, nur eine Sache des Handelns. Dazu ein paar Worte über Vernunft bei Camus. Dass Vernunft wichtiger ist als alles andere, wissen wir. Ihm ist Vernunft gleich Religion oder, wie er schreibt: sein Gott. Sie ist aber nicht nur Den­ ken. Das steht übrigens sogar in der Bibel (z.B. 1 Johannes 3,18). Handeln muss und kann nicht nur vernünftig sein. Wichtigste Aufgabe der Vernunft ist die Unterbrechung der Logik des Todes. Viele trauen das am ehesten dem Gott der Christen zu. Camus hält dagegen, dass er keinen Gott kennt, der die Welt zu einer Welt macht, in der Menschen menschlich handeln. Kann Gott das nicht oder will er das nicht, fragt er. Also müssen wir selbst für die Unterbrechung der Logik des Todes sorgen. Diese Autonomie ist Revolte. Warum Revolte? Sie ist Aufleh­ nung gegen die Üblichkeiten der Zeit und bedeutet: Konsequenzen beurteilen, Menschen retten, weiteren Schaden vermeiden usw. Revolte geht niemals den leichteren Weg. Üblichkeiten der Zeit sind etwa die Verachtung des anderen, die Missachtung der Gesell­ schaft und ihrer Institutionen als unser Wir, die Ausbeutung der Natur usw. Camusʼ Revolte ist eine der wenigen philosophisch kohärenten Positionen. Der Mensch verhält sich zum Absurden, ohne dessen Spannungsverhältnis aufzulösen. Camus benennt im «Mythos des Sisyphos» als die drei Figuren des dramatischen Lebens »das Irra­

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tionale, die Sehnsucht […] und das Absurde« (2019, S. 40). Wir haben die Gestaltung des Lebens in der Hand. Es geht nicht mehr um eine individuelle Erfahrung, sondern um eine kollektive, also das Leiden aller Menschen an der Absurdität des Daseins. So in seinem Roman.

Und der Sinn von Corona? »Wir haben die Regeln unserer Ökosysteme verändert, und gewisse Viren haben uns durch ihre agile Anpassung an eine Welt überrascht, von der wir glaubten, es sei die unsere« (Alex de Waal, 2020, S. 20). Ist die Welt noch »unsere« Welt? Denken wir an Megacitys (Städte über 10 Millionen Einwohner), Suburbs, Fave­ las, Slums, Banlieues etc. oder an Klimawandel, Ausbeutung der Natur, Entfremdung des Menschen, Brutalität der Tierhaltung usw. Also eine eng gewordene Welt mit immer mehr Nähe, Hitze, an der viele sterben, Natur, der die Zivilisation geopfert wird, Millio­ nen Menschen auf der Flucht, Tiere, die wir brauchen, aber kein eigenes Leben haben dürfen … Und was ist mit den Abwehrkräften in uns? Camusʼ Absurdität spiegelt sich in unserer gegenwärtigen Seuche, weil offensichtlich die Harmonie zwischen Welt und Mensch entzweit ist. Reicht dann Impfen? Sollte man nicht besser unser Verhältnis zur Welt und zu uns selber verändern? Der italienische Physiker Paolo Giordano schreibt (2020, S. 69): »Wir können uns sagen, Covid-19 sei […] ein Unglück oder eine Plage, wir können schreien, es sei alles Schuld der anderen […] Wir können uns bemühen, der Epidemie einen Sinn zu geben. Wir können diese Zeit besser verwenden, darüber nachdenken, was zu denken die Normalität uns hindert: wie wir bis zu diesem Punkt gekommen sind, wie wir neu starten wollen«. Das bedeutet: der Zustand der Normalität ist nicht das, was uns vordem als sinnvoll erschien. Wir brauchen eine neue Normalität.

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Sinn bei Camus

Sinn bei Camus Camus schrieb diesen hervorragenden Roman als eine Art Alle­ gorie. Ihm stellte sich die Frage, wie man in einer zerstörten Beziehung leben kann. Dass Corona eine absurde Welt freilegt, ist nicht aufregend, vor allem nicht neu. Aber dass unsere Welt, in der wir leben, kaputt ist, ist unser Problem, bei dem wir uns an Camus orientieren. In einer so derangierten Welt – sei es durch Terrorregime, Krieg, Pest oder Corona – Sinn zu entdecken, ist ungeheuer schwer. Besonders beschäftigt mich Camusʼ Revolte mit Blick auf Corona. Hier nur eine sehr kurze Skizze: Den Lockdown durch bizarre Pseudo- und Verschwörungs-Theorien zu unterlaufen, schützt niemanden. Revolte sieht anders aus. Einen Weg, der vom Menschen wegführt, würde Camus niemals akzeptieren. Es geht bei Corona nicht um Theorien gegen den Machtapparat, sondern um den Menschen, dem wir helfen müssen. Revolte ist kein Rückzug in eine mehr oder weniger heile Welt. Und weil es die nicht gibt, ist das meist ein Rückzug in das eigene Wohlergehen und in Schrebergartenmentalität. Revolte und Spaßgesellschaft passen nicht zusammen, führen höchstens zu komischen Bocksprüngen der Pseudorevolte. Solche Revolten besiegen die Seuche nie, erzeugen höchstens weitere Corona-Wellen. Sagen wir so: Revolte ist nicht wie Ter­ rorismus oder sogar Revolution. Camus ist gegen jede Art von Revolution, weil er keine Revolution kennt, die ohne Opfer ausge­ kommen ist. Für ihn und für die meisten von uns ist Helfen wesent­ lich. In der »Mensch in der Revolte« schrieb Camus: »Wenn wir vor der Wirklichkeit nicht fliehen wollen, müssen wir in ihr unsere Werte finden« (2013 [orig. 1953], S. 37). In der Wirklichkeit blei­ ben ist, wie der Theologe Karl Rahner unter dem Buchtitel «Geist in Welt» (1957) skizzierte, sicher ein christlicher Maßstab, auch wenn Camus an den Gott der Christen nicht glaubt. Mein Verdacht: er glaubt nicht an den Gott der Christen, weil er nur den Gott der Kirche kennt. Viele von uns denken wie Camus, ich auch.

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In der Wirklichkeit bleiben ist Sinn finden. Camus präzisiert das: Sinn ist keine Theorie, sondern Praxis – bereits zitiert in «Die Pest». Und Praxis bedeutet: denen helfen, die nicht allein weiterkommen. Was aber ist mit »unsere Werte finden« bei Camus gemeint? ● Nicht vor der Welt und ihrer Not ausweichen ● In unserer Welt das entdecken, was wertvoll ist (Solidarität, klar denken, Leben, Hoffnung usw.) ● Handeln auf vernünftigem Argumentieren aufbauen ● Mit anderen über ihre Not reden Es ist sinnlos, wie manche es tun, die Instrumente der Macht wie Geld, Medizin, Forschung, Politik usw. zu bekämpfen. Das heißt doch: Ideen spielen die erste Geige, die Not der Menschen kommt danach. Stattdessen: Der Mensch ist der Souverän. Menschsein bedeutet Selbermachen, Kreativsein – und denen helfen, die am Ende sind. Darin sind Camus und wir uns einig. Leben von Leiden in allen (!) Dimensionen befreien, Katastrophen vorbeugen – auch wenn das oft nur in sehr kleinen Ansätzen gelingen kann – ist der einzig sinnvolle Schritt in Richtung einer menschlichen Welt. Und das ist identisch mit dem Schritt in Richtung Sinnfindung.

Eine Antwort auf Camus: José Saramagos »Die Stadt der Blinden« Kann man Camusʼ und Saramagos Ideen vergleichen? Eher nicht. Ähnlich ist, dass beide mit Religion ein fundamentales17 Problem haben, dass beide liberale Linke sind, dass beide die Gesellschaft kritisierten und dass beide einen Nobelpreis erhielten. Ähnlichkeit besteht auch darin, dass in beiden Romanen die Seuche eine zen­ 17 Saramago fühlte sich von kirchlichen Würdenträgern angegriffen. Er hielt nichts von der Kirche, war aber religiös. Ein religiöser Atheist? Seine Bücher sprechen dafür.

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Eine Antwort auf Camus: José Saramagos »Die Stadt der Blinden«

trale Parabel ist. Der eine (Camus) will die Denkart der Menschen verändern, der andere (Saramago) die Gesellschaft, in der die Würde des Menschen leben darf. Als der portugiesische Schriftsteller Saramago 1998 den Litera­ turnobelpreis erhielt, war sein bekanntester Roman »Die Stadt der Blinden«. Er war wohl – wie viele Kommentatoren schrieben – gedacht als Gegenentwurf zu Camusʼ »Die Pest«. Nicht die Absurdität und die Revolte prägen die in die Krise geratene Welt, sondern die verborgene Hilfe. Bei Camus war es eine zerstörte Gesellschaft im Bild der Epi­ demie, bei Saramago war es die zerstörte Würde des Menschen. Camus war entsetzt über eine Gesellschaft, die vom Nationalso­ zialismus – wie von einer Pestepidemie – kaputtgemacht wurde und die humane Sinnfindung verlor. Saramago benutze ebenfalls eine Parabel: eine Erkrankung unbekannten Ursprungs. Aber die Geschichte bekam den Anstrich einer Utopie oder sagen wir Dys­ topie – ein Roman ohne Satzzeichen (nur Kommata, keine Punkte), Kennzeichen einer wörtlichen Rede, also eine Geschichte ohne konkrete Angaben. In seiner Nobelpreisrede 1998 (Zitiert in Hage, 2010) will er daran erinnern, »dass wir die Vernunft pervertieren, wenn wir Leben ernied­ rigen, dass Hagen, dass die universelle Lüge die vielfachen Wahrheiten ersetzt hat, dass der Mensch aufhörte, sich selbst zu achten, als er die Achtung vor seinen Artgenossen verlor«. Der fantastische Roman in Kürze: Vor einer Ampel hält ein Autofahrer, der bald die Ampel nicht mehr sehen kann. Ein netter Mitmensch begleitete ihn nach Hause, aber nahm das Auto gleich mit. Der erblindete Autofah­ rer ging zum Augenarzt, der aber keine Infektion oder Ähnliches feststellen konnte. Immer mehr Menschen erblindeten, ange­ steckt vom ersten Patienten. Bald waren es viele. Und Angst verbreitete sich. Die Erblindeten wurden in ein verlassenes psychiatrisches Krankenhaus in Quarantäne gesteckt. Soldaten

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Aspekt 6 Sinnsuche: Ein Seuchenproblem in Albert Camusʼ »Die Pest«

bewachten sie und erschossen alle, die zu flüchten versuchten. Die sanitären und sonstigen Verhältnisse waren grauenhaft. Die Frau des Augenarztes war zwar sehend, aber ging in das Haus der Blinden. Als sie mit einigen Blinden zwecks Lebens­ mittelbeschaffung einen Ausflug in die Stadt organisierte, merk­ ten sie, dass die halbe Stadt unter der Erblindung litt und kaputt­ ging. Das Zusammen-leben und dessen Ordnung, die auf Wohlergehen beruhte, sollte neu organisiert werden. Als aber die Blinden wieder sehen konnten, wurden diese Pläne verdrängt. Saramago schrieb: »[A]uch der Körper ist ein organisiertes System, er ist lebendig, solange er organisiert ist, und der Tod ist nichts anderes als die Auswirkung einer Desorganisation.« Saramago ließ die Frau des Augenarztes, die als sehende zu den Blinden ging, sagen: »[B]itte fragt mich nicht, was das Gute und was das Böse ist, wir wussten es immer, als die Blindheit noch eine Ausnahme war«. Das gibt uns zu denken, wenn statt Blindheit Corona das Heft in die Hand nimmt. Eine neugeordnete Welt? Saramago hält das für sehr unwahrscheinlich.

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Aspekt 7 Machen WIR die Welt kaputt oder DIE SEUCHE? Die sog. Todsünden bei Konrad Lorenz

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz beschreibt im Buch »Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit«, wie biologische Fehler zu Katastrophen der menschlichen Zivilisation führen. Zerstört unsere biologische Unsensibilität unsere Welt? Ein Joint Venture mit dem Virus? Das Buch von Konrad Lorenz (2009 [Original 1973]) «Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit», auf das ich mich stütze, ist vor vielen Jahren geschrieben worden. Aber das Problem beschäftigt uns heute wieder, natürlich auch wegen der aktuellen Klimakrise. Das Anliegen des Buches ist der gemeinsame Blick­ punkt auf Welt und Mensch, oder sagen wir: Zusammen-leben in einer ramponierten Welt. Ich will die Naturkrise nicht für den Auslöser der Pandemie hal­ ten, auch wenn Zoonosen in der aktuellen Pandemieforschung an vielen Ecken eine erhebliche Rolle gespielt haben (vgl. das Inter­ view mit Prof. Lothar Wieler18 von Uhlmann, SZ vom 22./23./24. Mai 2021). Das, also der Zusammenhang von Natur­ krise und Pandemie, ist zwar wie so vieles nicht ausreichend unter­ sucht, etwa das Zusammen-leben von Tier und Mensch. Passiert das, was «post hoc» (lat. = nach dem [Ereignis]) geschieht, auch «propter hoc» (lat. = wegen des [Ereignisses])?19 Letzteres 18 19

Vgl. auch Wielers One-health-Konzept, das früher erwähnt wurde. Das ist eine alte logische Frage in der scholastischen Philosophie.

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Aspekt 7 Machen wir die Welt kaputt oder die Seuche?

wäre dann ein Be-weis. Es geht mir nicht um Be-weise, nur um Hin-weise. Die Covid-Situation steuerte (Dez. 2020) einen neuen Höhe­ punkt an. Es gab ungeheuer viele unlösbar erscheinende moral­ philosophische und politische Probleme. Jenseits des Chaos schien Rettung auf: die Spritze. Immunität gegen Corona? Vielleicht. Und schon tauchten Mutanten auf. Wie effektiv ist die Spritze? Trickst uns Corona aus oder sind wir damit aus dem Schneider? Lothar Wieler sagte in einem Interview, als die dritte Welle besiegt schien – und hoffentlich das Ende der Pandemie nahe schien: Auch wenn ca. 80 % der Deutschen wenigstens einmal geimpft sind, muss man immer noch Infektionen für möglich halten, aber dann mit güns­ tigerem Verlauf. Weiß man’s? Aber ich bin mir sicher, dass nur die Änderung unserer Welt hilft, nicht nur die Spritze. Verhängnisvoll wäre, auf die Impfung zu setzen – und dann sei alles in Ordnung. Alle reichen Nationen bauen darauf, die armen Länder können sich die kaum leisten. Wie weit die Unterstützung der ärmeren Länder reicht, wissen wir noch nicht. In einigen Län­ dern Afrikas waren es Ende 2021 um die 2 % Geimpfte. Wenn die Entwicklung von Impfstoff(en) geschafft und eine Immunisierung wenigstens für einige Nationen auf den Weg gebracht ist, können wir da weitermachen, wo uns Corona erwischt hat? Im Mai 2021 ging die Debatte der reichen Länder um eine Freigabe der Patente der Impfsubstanzen. Erstens weiß ich nicht, ob die Diskussion zum Ziel führt, und zweitens kann ich das auch gar nicht diskutieren, obwohl diese Debatte uns für die Organisation des Zusammen-lebens wieder auf die Füße fällt: Das Gerechtigkeitsproblem diskutieren wir nicht einmal, wir beklagen höchstens, dass es immer noch nicht gelöst ist. Der Staat wird’s schon richten. Ich fürchte, wir haben die nächste Welle verdient. Mit Verlaub: Hart, aber fair – oder zu hart? Das Corona-Problem ist nicht nur ein virologisches und epi­ demiologisches Problem, auch wenn das in vielen Medien so dargestellt wird. Natürlich hat die Aggressivität des Virus Sensa­ tionscharakter mit höchstem Nachrichtenwert, aber man muss

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Übervölkerung

auch die anderen Quellen mitbedenken. Sehr nachdenklich machte folgende Bemerkung: Gegenwärtig »lautet das aktuelle Motto der Pandemiebekämp­ fung »Mit dem Virus leben«, [aber, F.J.I.] es bleibt festzustellen, daß wir schon um ein Vielfaches länger mit der Klimakrise leben – schlecht leben« (Maciejewski, 2020, S. 18). Vor vielen Jahren musste ich das Buch von Konrad Lorenz für die Promotion lesen. Autor des Buches war der weltbekannte Zoologe und Verhaltensforscher, genannt »Vater der Graugänse« (weil er alles über diese Tierpopulation erforscht hatte). Er bekam im Jahr der Veröffentlichung für dieses Buches den Nobelpreis. Mich irritierte viel an diesem Buch, v.a. die Vermischung von Biologie und Moralwissenschaft sowie seine starke Rechtsorientierung. Imposant dagegen fand ich seine Beobachtung, dass ökologisches Fehlverhalten Zusammen-leben stört und wie wichtig Natur für Zusammen-leben ist. Von den acht Todsünden habe ich vier gestrichen, weil sie zu weit vom Thema wegführen. Mein Thema ist ja Zusammen-leben, nicht Biologie. Die vier Kapitel zu Beginn habe ich übernommen. Lorenzʼ Idee bleibt: Die Menschheit geht zugrunde, wenn sie falsch gepolt ist. M.E. ist eine falsche Einstellung zur Welt das Einfallstor von Corona. Entweder korrigieren wir das, oder wir müssen mit Corona leben. Hier also vier der acht Todsünden, vermischt mit meinen eige­ nen Ideen.

Übervölkerung Das Corona-Virus gibt es wahrscheinlich noch in den nächsten Jah­ ren. Je mehr Menschen auf begrenztem Raum Zusammen-leben (müssen), desto größer ist das Risiko der Ansteckung. Als ich zur Schule ging, hatten wir fast zwei Milliarden Men­ schen auf der Erde, heute sind es über acht. In den Megacitys

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Aspekt 7 Machen wir die Welt kaputt oder die Seuche?

(Städte über 10 Mio. Einwohner, z.Zt. gibt es 25) sind die Infekti­ onsraten deutlich höher als in Gegenden mit geringerer Bevölke­ rung. Je mehr wir davon zur Kenntnis nehmen, desto klarer tritt die Vermutung hervor, dass das Coronavirus die empfindliche Flanke einer vernetzten Welt ist. Große Bevölkerungsdichte begünstigt Infektionen. Ob Begüns­ tigung der Infektion auch deren Auslösung bedeutet, erfordert mehr Daten (z.B. Wohnraumgröße verglichen mit dortigen Infek­ tionszahlen usw.). Begnügen wir uns einfach mit der Feststellung: Je größer eine Stadt, desto wahrscheinlicher die Infektion. Nehmen wir als Beispiel (vgl. Bielicki & Ludwig, SZ vom 10./11. Okt. 2020) die chinesische Hauptstadt Peking, die ein Paradebeispiel des Gigantismus ist. Hierzu ein paar Fakten: 22 Mio. Einwohner. Smog beherrscht die Stadt, Stadtplaner versuchen die Situation, die alle Einwohner bedrängt, in den Griff zu bekommen. Peking wird mit anderen Bezirken zusammengelegt, und die Region bekommt einschließlich Peking den Namen Jing-Jin-Ji mit 110 Mio. Einwohnern. Weil Peking ausgezeichnete Krankenhäuser hat, werden auch in der Peripherie Kliniken mit vergleichbarer Qualität aufgebaut, damit die Menschenströme nach Peking ver­ ringert werden. Eine Vision eines undemokratischen Landes. Oder auch unsere Vision? Ist das ein guter Ausweg? Eher nein. Peking ist ein Bild und Para­ digma des Fortschritts, des Immer-größer. Auf jeden Fall scheint das kein Grund zum Nachdenken zu sein, ob diese Entwicklung Sinn macht. M.E. sollte man zur Kenntnis nehmen, dass unsere angebliche Fortentwicklung eventuell ein Schritt in die Katastrophe sein könnte. Es sei denn, wir planen sinnvolle Auswege.

Verwüstung des natürlichen Lebensraumes Tiere, Pflanzen, Mikroben, übrigens auch Menschen, haben ein Recht auf natürlichen Lebensraum. Lässt sich ein Vorrecht der Menschen über die Natur – außer bei konservativer Bibeldeutung – rechtfertigen?

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Wettlauf der Menschheit mit sich selbst

Die Natur insgesamt ist in einem katastrophalen Zustand. Zurzeit kann niemand mehr auf natürlichen Lebensraum zählen. Ich denke an Kinder, sie dürfen oft nicht laut sein, nicht spielen, wo sie wollen, Erwachsene stören etc. Ich denke auch an Jugendliche, sie haben nicht ausreichenden Raum für das, was sie wollen, etwa in Gruppen Gleichaltriger zusammen sein usw. Man denke auch an Erwachsene, an ihre Ängste, Arbeit, Partnerschaft oder Freunde zu verlieren. Ähnliches gilt für Alte, ihr Zurechtkommen mit Nichtmehr-gebraucht-Werden, ihr eigener Herr-sein-Wollen usw. Natürlicher Lebensraum? Bringen wir das auf den Punkt: Nicht so leben können, wie man es braucht, führt zu Stress und damit zu Verletzlichkeit. Hier einige, meist sehr allgemeine Beispiele zur Verwüstung von Lebensraum: • Aussterben von Pflanzen • Trockenheit • Lärm • Vermüllung • Zersiedelung • Bauboom • Überhitzte Innenstädte

• Extreme Wetterperioden • Aussterben von Tierarten • Massentierhaltung • Emissionen • Brände & Rodungen • CO2-Vermehrung • Pol- & Gletscherschmelze

Wenn Lebensraum kaputtgeht, geht Leben zugrunde. Es ver­ liert seine Balance und seine Ressourcen – damit seine Abwehr­ kraft. Geschwächtes Leben wird zum Einfallstor für Keime, die schlimmstenfalls töten können, das Virus ist die Quittung für die falsche Polung unseres Zusammen-lebens.

Wettlauf der Menschheit mit sich selbst Konrad Lorenz beklagt, dass die Technik aus ihrem natürlichen Gesamtzusammenhang herausgelöst wurde und die natürliche Konkurrenzfähigkeit des Menschen sich so ungebremst verselb­ ständigen konnte. Resultat sind Konsumgier, Zeitmangel, Angst vor Abstieg, Leid, Unsicherheit bei schweren Entscheidungen,

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Aspekt 7 Machen wir die Welt kaputt oder die Seuche?

Reflexionsabbau, ungebremste Produktions- und Bedürfnissteige­ rung. Die vielen Stichworte von Lorenz brauchen nicht weiter erklärt zu werden. Sie erklären den Wettlauf der Menschheit mit sich selbst, verursacht durch seine eigenen Konstruktionen. Die Abwä­ gung von Gefahren funktioniert nicht mehr, Glück ist nicht mehr Ziel, sondern Alltag, Menschen leben nicht, sondern werden gelebt. Je mehr Stress, desto mehr Verletzlichkeit. Was Lorenz beschreibt, macht natürlich kein Corona. Aber es macht eine Infektion mit einem Virus wahrscheinlicher, da der stressige Wettlauf das Abwehrsystem schwächt. Setzt sich Natur durch?

Wärmetod des Gefühls Der Biologe geht davon aus, dass die Wechselfälle des Lebens im Laufe der Zeit einen emotionalen Gleichgewichtszustand erzeugt haben. Aktuell beklagt der Biologe: Menschen entwickeln vor­ ausschauendes Verhalten. Gewöhnung an den Überfluss macht bequem, träge und lustlos. Gefühle verflachen. Bekannt ist der Begriff »Wärmetod« als Endzustand des thermi­ schen Gleichgewichts. Alles verglüht irgendwann, z.B. die Sonne als Energielieferant strahlt Wärme aus, Energie geht aber zuende, das Universum erkaltet. Es »stirbt« den Wärmetod. Lorenz über­ trägt dieses Bild auf natürliches Leben. Auch auf unsere Gefühle. Und es kommt, was kommen muss: Leben erkaltet. Kälte erhöht das Infektionsrisiko von Corona, weil die Abwehrkraft des Körpers abnimmt und Viren sich in der Kälte wohler fühlen. Gemeint ist aber nicht nur die kalte Jahreszeit, sondern auch die Kälte des erlöschenden Gefühls. Erlöschendes Zusammen-leben produ­ ziert Kälte.

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Funktionsstörungen lebender Systeme

Funktionsstörungen lebender Systeme Hier verlasse ich Konrad Lorenzʼ Betrachtungen. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass biologische Begriffe nicht die Regulierung der Probleme des Zusammen-lebens ersetzen können. Aber sie können und sollen orientieren. Denn die biologischen – übrigens: menschengemachten – Defizite beeinflussen die Pandemie. Anzunehmen ist auch, dass der Zustand der Welt eine Erhöhung des Infektionsrisikos bedeutet. Das ist eine Vermutung, die ich nicht beweisen kann. Leider ist das Gegenteil auch nicht bewiesen. Solange Beweise ausstehen, bleibt die kaputte Welt die offene Flanke der Pandemiebekämpfung. Denken wir an die Pest, die Mutter der Pandemien und ihr Mus­ ter. Die Ausbruchssituation ist etwas komplizierter als gedacht. Nicht die Ratten sind die bösen, sondern die Menschen vor den Stadtmauern, die nicht in der Stadt wohnen durften. Je mehr Menschen dort lebten, desto mehr Müll und als Folge die Ratten, die die Bakterien weitertrugen. Hunde verfolgten Ratten, der Rat­ tenfloh übertrug sich auf Hunde, die nicht infiziert wurden, aber die Menschen wurden infiziert. Menschen starben und weiter geht’s: Die Infektion löste Hass aus. Der Infektionskreislauf war komplett. Fast so wie bei Lorenz. Gefühle regulieren Verhaltensweisen wie etwa Aggressivi­ tät, Rangordnungsbestreben, Gebietsanspruch, Aktivitätsneigung usw. Das ist die biologische Basis, sie gilt für alle Wesen der Natur, also auch für den Menschen (nicht nur für weibliche und männliche Natur»burschen«). Der Mensch will »humane« Regu­ lative für Zuneigung, Glück und Hoffnung, muss aber oft genug mit Ablehnung, Angst, Trauer und Verzweiflung zurechtkommen. Dem Menschen hilft die Vernunft. Zurück zur Biologie: Gefühle bilden Regelkreise, sie brauchen Stabilität, sonst verlieren sie an Kraft. Ohne biologische Regel­ kreise keine vernunftgesteuerten Regelkreise. Je öfter schwerwie­ gendere Fehler passieren und »humane« Regulative versagen, desto schwächer werden die Systeme.

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Aspekt 7 Machen wir die Welt kaputt oder die Seuche?

Never change a running system, sagte man in der Wirtschafts­ forschung. Übersehen haben wir die lebenden Systeme, in denen ein Glied des Systems das andere trägt. Sobald ein Glied des Systems geändert wird, büßt das andere Teile seiner Funktion ein. Ausgewogenheit geht zu Bruch. Geht unser System dann zu Bruch? Vermutlich. In den letzten Jahren haben wir etwas Wesentliches übersehen: Der Mensch ist ein für die Welt offenes Wesen, schrieb der Philo­ soph Ludwig Feuerbach: »Soviel Sinne – soviel Poren, soviel Blö­ ßen. Der Leib ist nichts als das poröse Ich.« (Feuerbach 2006, S. 151). Porös ist der Mensch, weil er von außen gespeist wird, es eine Art Stoffwechsel zwischen Mensch und Welt gibt. Übrigens, der israelische Religionsphilosoph Martin Buber, Denker des menschlichen Zusammen-lebens, orientierte sich an Feuerbachs porösem Ich (vgl. Rütter, 2000, S. 30). All das, was Konrad Lorenz als die biologische Basis aufgelistet hat, zeigt deutlich, was der poröse Mensch ist. Wir nehmen die schwächer werdende Regulierungskraft der Faktoren unserer Welt in Kauf. Wir wundern uns über Corona und »basteln« Spritzen, anstatt unsere Welt in Ordnung zu bringen. Natürlich kann Biologie nicht in Regeln übersetzt werden. Aber sie kann feststellen, dass ein wesentlicher Aspekt im Wissen über den Menschen fehlt. Ein Kommentar hat mich beunruhigt, weil er unsere Rettung aus der Pandemie komplizierter aussehen lässt: »Das Vordringen des Menschen in unberührte Wildnis, eine rück­ sichtslose Massentierhaltung, der illegale Tierhandel, mangelnde Hygiene – all diese Faktoren begünstigen neue Krankheiten. Gelänge der Nachweis, dass sie an der aktuellen Pandemie beteiligt sind, würden die Gefahren vielleicht ernster genommen« (Uhl­ mann, SZ vom 29./30. Mai 2021). Beunruhigend klang auch der Artikel von Fritz Habekuss (ZEIT vom 11.1. 2021, Titelseite), der genau das beschreibt: »Die Mensch­ heit steht am Anfang eines pandemischen Zeitalters, in dem Sars-CoV-2 die Warnung dafür ist, dass die Belastungsgrenzen des Planeten überschritten wurden«. Überschritten? Pandemisches Zeitalter? Weiter schreibt der Autor als letzten Satz seines Beitrags:

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Funktionsstörungen lebender Systeme

»Wenn die Menschen gegen die Natur leben, lebt die Natur gegen den Menschen«. Gemeint ist nicht die Rache der Natur, sondern die Unmöglichkeit, in einer zerstörten Welt zu leben. Wir benötigen dringend eine erweiterte Perspektive. Eine Per­ spektive, die den Feind nicht nur im Virus sieht. Das ist ja schließ­ lich auch nur Natur wie wir. In einem Roman «Das Haus auf dem Hügel» von Cesare Pavese (Thema: Widerstand gegen die Faschisten in Italien) las ich einen nachdenklich machenden Satz. Nur wenige Wörter tauschte ich aus, aus Krieg machte ich Virus. Der Inhalt bleibt aber: Wer hat wen besiegt? »Nicht das Virus hat uns besiegt. Wir haben uns besiegt.« In einer TV-Sendung mit Prof. Streeck (16.3. 2021, 20.15 – 21.00 Uhr, ZDF) habe ich gelernt, dass viele Viren auf »Halde liegen«. Viele davon sind gefährlicher als Cov-2 und können auf Menschen übertragen werden. Wie das erforscht wurde, weiß ich zwar nicht. Aber ich fürchte, dass das Zusammen-leben der Menschen immer schwieriger wird. Beängstigend fand ich einen Artikel aus der Süddeutschen Zei­ tung, der sich auf »Science« stützt (Grossman & Galdieri, SZ vom 3./4. Juli 2021): »Viele Forscher vermuten […], dass die tropischen Regenwälder mit ihrer Artenvielfalt am ehesten neue gefährliche Krankheits­ erreger hervorbringen können«. Die Wissenschaftler denken dabei v.a. an das Dengue-Fieber oder das Zika-Virus. Diese Gefahr wird umso größer, als die Welt globaler wird. Je mehr die Gebiete und Länder zusammenrücken, zeitliche und räumliche Distanzen überwunden werden, desto gefährlicher wird Zusammen-leben.

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Aspekt 7 Machen wir die Welt kaputt oder die Seuche?

Ein Literaturexkurs: Friedrich Hölderlin und die Rettung Eigentlich hätte man das schon vor gut 200 Jahren – nach Friedrich Hölderlins Roman »Hyperion« – mitbedenken können. Das Schei­ tern seiner Idee, dass der Mensch Teil der Natur ist und darum nur mit und in der Natur existieren kann, war irritierend. Im Roman von Peter Härtling »Hölderlin« erfuhr ich, mit welchem Tiefgang – er studierte mit den berühmten Philosophen Hegel und Schelling, also den drei Friedrichs – er das Leben betrachtete. Die drei waren sehr engagiert für die Freiheit der Französischen Revolution, weil Freiheit auch mit Weltoffenheit zu tun hat. Diese Freiheit erlebte er auch in seiner innigen Beziehung mit Susette Gontard.20 Er litt an einer von den Idealen Platons entfremdeten Welt, die zur Zerrissenheit der Lebensordnung und zur Zerstörung der pflanzlichen und tierischen Natur führt. Gerade letzteres hat ihn ständig bewegt.21 Seine Devise: »Eins zu seyn mit allem, was lebt, in […] Selbstvergessenheit wiederzukehren in’s All der Natur«. Für Hölderlin sind alle Dinge in der Natur etwas Göttliches. Weil Natur gewissermaßen zum Steinbruch des Fortschritts wird, nimmt die Entzauberung der Welt überhand. Sein Kommentar: »[…] wie eine Seuche tobt die Raubgier […] und wer nicht auch das Schwerd (!) ergreift, wird verjagt, geschlachtet und dabei sagen die Rasenden, sie fechten für die Freiheit«. Hölderlin wird »ver-rückt«, weil die Welt entgleist und vom angeb­ lichen Fortschritt und nicht von Idealen, Werten, Gedanken diktiert In seinem Roman »Hyperion« nannte er sie »Diotima«. Der Name stammt aus Platons »Gastmahl«, sie war dort die Frau, die Sokrates »in den Dingen der Liebe unterrichtet habe« (Knubben, 2012, S. 222). 21 Ich beziehe mich auf die Dankrede zur Verleihung des Friedrich HölderlinPreises am 1.11. 2020 von Navid Kermani und den Artikel von Maciejewski, 2021, S. 25–28.

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Ein Literaturexkurs: Friedrich Hölderlin und die Rettung

wird. Dieser Fortschritt, schreibt er im »Hyperion«, wird von einer Räuberbande gepflanzt. Sie beutet unsere Welt aus. Seine Sinnkrise wächst. Religiosität – seine Mutter stammte aus einer Pfarrersfamilie und wünschte, dass ihr Sohn die Tradition fortsetzte – geht in die Brüche. Aber er hofft auf Rettung. Hölderlin wird wie seine kaputte Welt: psychisch kaputt. Das Rettende muss von uns kommen. In seinem Roman »Hyperion« spricht er mit der Natur: »Sie werden kommen, deine Menschen, Natur!« Aber noch sind sie nicht da, bis dahin müssen wir in einer kaputten Welt leben. Hat Konrad Lorenz diese Brisanz geahnt?

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Aspekt 8 Coronas Wörterbuch – Warum wir wie sprechen?

Wie man über Corona spricht, verrät viel über unser Zusam­ men-leben. Coronas Wörterbuch ist insofern verräterisch, weil es zeigt, wes Geistes Kind wir sind. Unsere Bilder von Corona spiegeln unser Verhalten. Auffällig ist, wie sehr sich durch Corona die Sprachlandschaft verändert hat. Der Hamburger Linguist Jannis Androutsopoulos kommentierte in einem Seminar seine Forschungsergebnisse mit dem Satz: »Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens und die Veränderung des öffentlichen Verhaltens wären und sind ohne Veränderung der Sprachlandschaft schlicht nicht möglich« (2020). Sprache kann sich verändern, ist also plastisch, muss analysiert werden. Was aber ist die veränderte »Sprachlandschaft«?

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Aspekt 8 Coronas Wörterbuch – Warum wir wie sprechen?

Hier eine Liste zufällig aufgegriffener Begriffe aus dem Beginn der Pandemie: Abstand Ausbruch der Epidemie Ausgangsbeschränkung Beatmung Beherbergungsverbot China-Virus Contact-Tracing Coronadiktatur (Unwort des Jahres) Corona-Gegner Corona-Krise Corona-Leugner Corona-Maßnahmen Corona-Party CoVid-19 Flatten the curve Grenzen schließen Handlungsfähig bleiben Händedesinfektion Home schooling

Herdenimmunität Hotspot Hygiene Immunsystem Impfung Impfverweigerer Intensivbehandlung Inkubationszeit Infektionszahl Kontaktbeschränkung Inzidenz Lockdown-light Lockerung Lüften Massentest Maskenpflicht Maskenmuffel Mindestabstand Mutanten Neuinfektionen

R-Wert Risiko-Gruppen Teil-Lockdown Triage Shut down Sars-Cov-2 Selbsttest Selbstisolation Selbstschutz Super spreader event Social-distancingshaming Symptomfreiheit Systemkollaps Systemrelevanz Testen Versorgungsengpass Vulnerable Gruppen Übertragungswege Wellenbrecherlockdown

● Einige Begriffe sind klinisch und theoretisch, etwa doppelt so viele sind politisch. D.h., medizinische Praxis sowie Theorie und Politik werden getrennt. ● Eine deutliche Überzahl stammt aus epidemiologischen und virologischen Zusammenhängen. Beunruhigend ist die Aus­ blendung des medizinisch-praktischen Teils.

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Wie bedeutend ist der klinische Aspekt?

● Sehr zweifelhaft ist die Perspektive der Abwägung, z.B. folgende Fragen: Fallen die Vorschläge der Epidemiologen und Virologen (etwa totaler Lockdown für eine begrenzte Zeit, um die hohe Inzidenz zu senken) mehr ins Gewicht als die Interessen der Politiker? Die dienen längst nicht immer dem Bevölkerungs­ schutz, z.B. Lockdown oder Lockdown-light. Der Lockdown sollte die Infektionszahlen runterfahren, ein Lockdown-light sollte aber auch die Wirtschaft aufrechterhalten. Was dient wem warum? ● Wohl besonders irritierend sind Begriffe aus militärischem Zusammenhang, teils aktuell, teils historisch. Sie kontaminie­ ren die Regeln. Sehr bedeutungsvoll ist die Tatsache, dass die Termini von Corona Hintergründe haben, die keineswegs medizinisch bzw. klinisch sind. Warum ist das bedeutungsvoll? Einige Gründe aus Bert Brechts Verfremdungstheorie: ● ● ● ●

Begriffe bekommen einen verfremdeten Hintergrund. Dinge erscheinen in neuem Licht. Begriffe werden in eine illusionäre Szenerie getaucht. Begriffe verlangen Erklärung und Diskussion.

Jetzt zur Auswertung unserer Liste:

Wie bedeutend ist der klinische Aspekt? In einer Zeitung schrieb Werner Bartens (SZ vom 5./6. Dez. 2020), dass die damaligen Infektionszahlen sich auf hohem Niveau einpendeln, aber die Zahl der Patienten in Krankenhäusern und auf Intensivstationen sowie der Verstorbenen zunimmt. Bartens ist Arzt und Wissenschaftsjournalist, er weiß also, worum es geht: 1) darum, dass hohe Infektionszahlen an die Grenze klini­ scher Anstrengungen gehen. Und 2) darum, dass medizinische Behandlung von Infizierten mit schwererem Verlauf das A und O zumindest der hochentwickelten Länder ist. Neue Mutanten des

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Aspekt 8 Coronas Wörterbuch – Warum wir wie sprechen?

Virus machen uns große Sorgen, ob die Impfstoffe auch gegen diese Mutanten schützen. Eine kurze Bemerkung zu Beginn über den Unterschied von Medizin und Klinik. Zunächst zum Begriff »Klinik«: Er kommt vom griechischen kliné und bedeutet Bett oder Liege. Wir lassen die soziale Rolle des Krankenhauses außer Betracht, sie spielt für unser sprachliches Problem eine geringe Rolle. Hier ist Klinik der prakti­ sche und anwendungsbezogene Teil des medizinischen Wissens. Jetzt also zum Begriff »Medizin«. Er umfasst den theoretischen Wissenschaftsteil. Fächer wie Virologie, Epidemiologie, Infektiolo­ gie usw. gehören dazu. Beide Teile, der klinische und der wissen­ schaftliche, sind bedeutend. Während die wissenschaftliche Seite der Medizin fragt, wie man sich dagegen schützen kann, ob die Verbreitung des Virus sich fortentwickelt usw., stehen die Kliniken vor anderen Problemen. Wie verbreitet ist die Überforderung der Ärzte und Pfleger*innen und wie gehen sie mit dem Versagen der Behandlung um? Medizin steht oft mit dem Rücken zur Wand. Und wir drücken uns meist vor der Frage, wie wir mit dem Scheitern der Behandler umgehen. Viele Organe können betroffen sein, etwa Herz, Nieren, Darm usw. Als Spätfolge ist auch mit neurologischen Erkrankungen zu rechnen, z.B. mit Erinnerungsstörungen, Demenz u.ä. Man spricht von Long-Covid und Post-Covid-Syndrom, das viele genesene Patienten in Mitleidenschaft zieht. Nicht die Tatsachen sind für unsere Thematik wichtig, sondern wie wir mit solchen Problemen zurechtkommen. Ist das recht, wenn ›wir‹ solche Probleme ein­ fach in Kliniken outsourcen? Apropos, in der letzten Schilderung wurden wir damit konfrontiert, dass die Probleme von Long-covidPatienten noch längst nicht gelöst sind.

Seuchen-Begriffe mit militärischem Hintergrund Diese Gruppe von Begriffen ist wahrscheinlich die heikelste. Es geht nicht einfach um die Feststellung, dass Militärisches in

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Seuchen-Begriffe mit militärischem Hintergrund

Gesundheitsdingen unangemessen ist. Das Problem ist eher eine Art «Grundrauschen», wie man das in der Ton- und Bild-Tech­ nik nennt. Wir können Pandemiebekämpfung ohne militärisches »Grundrauschen« weder verstehen noch anwenden. Wenn wir über etwas sprechen, haben wir Bilder im Hinterkopf, die mit bestimmten Wörtern verbunden sind. Verwickelt ist es, wenn man Worte benutzt, die auf einem unpassenden Bild beru­ hen. Vor Jahren schrieb die amerikanische Medizinjournalistin Susan Sonntag ein viel gelesenes Buch über den Hintergrund unserer Sprache (vgl. 2003). Zentral war die Aussage, dass die Wahl unserer Begriffe, die oft feindseliger und unangemessener Art sind, uns in Metaphern »sprechen« und urteilen lassen. Etwa der Begriff »bekämpfen« oder »mit Strahlen beschießen« ist in der Krebsbehandlung gang und gäbe. Aber was soll ein militärischer Ausdruck in unserem humanitären Vokabular? Das Vokabular wie die Planung der Seuchenbekämpfung ist sehr stark militärisch geprägt. In einem Aufsatz hat Alex de Waal22 auf Gefahren hingewiesen, die damit verbunden sind. Seine Beispiele sind (vgl. 2003): ● Einschätzung der Regeln als Disziplinierung ● Gleiche Bekämpfung von Bioterrorismus und Pandemie ● Kofi Annans Satz in einer Rede: »Der Krieg gegen AIDS wird nicht gewonnen ohne kriegerische Anstrengungen.« ● Klage aus dem Pentagon, dass strategisches Denken bei der Lösung von Pandemien nur langsam voranschreitet. ● Für die Bekämpfung von Pandemien werden, so das US-Depart­ ment of Defense, Gelder aus dem Verteidigungshaushalt umge­ widmet. ● USA, Frankreich und Großbritannien arbeiteten bei der EbolaBekämpfung – Identifizieren und Therapie der Infizierten in afrikanischen Ländern – mit Truppen der Armee. Alex de Waal ist Forscher im Projekt «African elite politics», Leiter der »World Peace Foundation«. Er war beteiligt an den Forschungen über AIDS in New York und Ebola in Äthiopien. 22

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Aspekt 8 Coronas Wörterbuch – Warum wir wie sprechen?

Militärische Begriffe sind: Lockdown bzw. shutdown / Ausgangs­ beschränkung / Grenzen schließen / Impf- und Test-Strategie / Versorgungsengpass / Triage. Warum? ● Lockdown/Shutdown und Ausgangsbeschränkung wurden in englischen Kasernen benutzt, ● Triage war von Generälen Napoleons geprägt, in Deutschland wird Triage bei einem Versorgungsengpass (z.B. Knappheit von Behandlungsmitteln) nur in extremen medizinischen Situatio­ nen angewandt, ● Strategie (in der Zusammensetzung mit Test und Impfung) ist ursprünglich ein Begriff aus der Kriegsführung, ● Grenzen schließen bedeutet, angegriffenes Land von externer Versorgung abschneiden, ● Versorgungsengpass, siehe Triage. Der militärische Hintergrund der Begriffe ist, wie gesagt, ein Grundrauschen, keine beabsichtigte Verwechselung medizinischer und militärischer Begriffe. Es ist vielmehr »eine mehrdeutige Metapher, [Menschen wie, F.J.I.] Soldaten auszusenden, die die sie bezwingenden Pathogene bekämpfen sollen, aber zugleich verse­ hen sind mit unseren stärksten Ängsten vor einer Erkrankung und mit unserer unkritischen Hochachtung vor dem Militär« (Alex de Waal, 2014, S. 7). Im Januar 2021 wurden ca. 10.000 Solda­ ten*innen in deutschen Gesundheitseinrichtungen eingesetzt. K.-H. Leven – er war zunächst im militärhistorischen Archiv in Freiburg tätig und ist nun Professor für Medizingeschichte in Erlan­ gen – machte in einem Interview mit der Badischen Zeitung (vom 06.2. 2021) darauf aufmerksam, dass Kriegsvokabular anstatt Bekämpfung des Virus Bekämpfung von Menschen meint, die die Verbreitung des Virus (z.B. wegen Impf- und Maskenverwei­ gerung) riskieren. Auch die Sündenbocktheorie, die schon in der Antike vertreten wurde, zielt auf eine Isolierung der Schuldigen. Eine sehr aussagestarke Überschrift für das 1. Kapitel seines Buches wählte der Baseler Philosoph Brenner (2020, S. 9): »Von der Mobilmachung zum Lockdown«. Er bezog sich auf eine Anspra­ che des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, in der er den

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Systemfremde Seuchenbegriffe

Satz prägte: »Wir sind im Krieg«, sechsmal benutzte er das Wort. Wer ist der Feind? Macron meinte, der sei unsichtbar. Ist Natur gefährlich? Ja und nein. Ja, wir sind Natur, und nein, unser Feind sind wir auch (homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf).

Systemfremde Seuchenbegriffe Es ist irgendwie seltsam, dass die vielen Wörter, die zu Beginn dieses Aspekts aufgelistet wurden, nicht zu den medizinisch und politisch wichtigen Wörtern der Pandemiebekämpfung gehören. Sie benutzen Begriffe aus nicht-medizinischen Disziplinen zur Beschreibung von Pandemieproblemen. Gemeint sind die folgen­ den: Grenzen schließen Versorgungsengpass

Ursprünglich Begriffe mit militärischem Hintergrund, aber auch Begriffe des veralteten Nationalstaatenkonzepts mit Ländergrenzen, Option für medizinische Versorgung und Nachschub in Krisenund Notregionen

Handlungsfähig bleiben Systemrelevanz Systemkollaps

Option verschiedener soziologischer (auch ökologischer, ökonomischer usw.) Theorien

Hotspot

Begriff aus Biologie und Geologie

Die hier genannten Corona-Wörter transportieren einen seltsamen Hintergrund, er verfremdet unser Problem. Wir fürchten uns vor Ansteckung und Erkrankung, aber wir benutzen Begriffe aus Bereichen, die nichts mit Seuchen zu tun haben. Anstatt unsere Angst auszudrücken, verbergen wir sie dahinter.

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Aspekt 8 Coronas Wörterbuch – Warum wir wie sprechen?

Das sogenannte Seuchen-»Sprech« Ist Sprache ein vergessenes Opfer des Virus? Etwa »Spuckschutz­ scheibe«, »Schniefscham«, »Corona-Huster«, »Premiumkontakt«, »wegen Zuseins geschlossen« usw. (Beispiele und Informationen Muscionico, NZZ vom 27.4. 2020) gehören in ein umgangssprach­ liches und ironisch aufgeladenes Corona-Wörterbuch. Im Gegensatz zu den englischen virologischen und anderen medizinischen Begriffen, die man meist nicht versteht, sind das Wörter, die man gebraucht, ohne vom Fach zu sein. Ich stieg mal in den Bus und hatte meinen Mundschutz nur unterm Kinn. Der Busfahrer sagte lachend hinter der Spuckschutzscheibe: »Maulkorb hoch«. Seuchen-Sprech besteht aus Wörtern jenseits der Fachbe­ griffe, erleichtert den Umgang mit einer todernsten Seuche und ist nicht akademisch. »Um ein Wort allerdings muss man sich begrün­ det sorgen, es ist 'die Solidarität'« (Ebd.) – ein Wort also, das für unser Zusammen-leben wichtig ist, aber eher akademisch klingt. Jedoch ist dieses Wort schwer verständlich, obwohl man es im Alltag immer wieder benützt. Es beinhaltet den Wortanteil »solide« (= gediegen, echt), aber auch den Bestandteil der Gegen­ seitigkeit im Vertrauen darauf, dass sich andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten. Ist Gegenseitigkeit ein Moment menschlicher Echtheit? So viele Ebenen in einem Begriff – kann das ein alltagstauglicher Begriff werden?

Bedeutung für unser Sprechen Coronas Wörterbuch gibt es noch nicht. Wörterbücher sammeln Begriffe, die den Gebrauch der Wörter ausrichten. Wort x zu gebrauchen und damit etwas zu meinen, was man nicht wirklich versteht, führt zu Verwirrungen. Die medizinischen Begriffe sind beinahe samt und sonders englisch – verständlich, weil hochran­ gige Zeitschriften, in denen z.B. deutsche Mediziner ihre Publika­ tionen unterbringen, englischsprachig sind. Zurzeit liegt das auch an der internationalen Verständigung.

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Bedeutung für unser Sprechen

Aber was ist das Problem der virologischen Laien? Versuchen wir einfach, einige Sprachbarrieren aufzuzählen. ● Viele Begriffe sind unverständlich Coronas Wörterbuch ist schwer, oft gar nicht – denken wir an die vielen verständlichen, aber auch verrückten Einwände – zu begreifen. Ein alternatives Wörterbuch würde da nicht helfen, nicht weil es meist umgangssprachlich ist, sondern weil es Ironie und Sarkasmus enthält, der zur Erklärung der Begriffe noch dazukäme. Die Unverständlichkeit hängt auch von den oft jahrelangen Forschungen der Experten ab, die dann in politisches Handeln übersetzt werden müssen. Die beteiligten Politiker verstehen oft nicht viel von den medizinischen Zusammenhängen, dafür umso mehr von den Interessen ihres Wahlvolkes. ● Transparenz, Konsistenz und Nachvollziehbarkeit als Ziele der Sprache Die Begriffe von Corona sind allzu selten transparent. Wenn wir, die Laien, durchblicken würden, warum die Beschlüsse der Politiker zustande gekommen sind, warum man von den Optionen der Mediziner abweichen musste und wer warum unter diese oder jene Ausnahme fällt, wären uns die Beschlüsse sehr viel begreiflicher. Konsistenz klingt sehr akademisch; ungeschützt und kurz gesagt ist in der Analyse der Sprache Widerspruchsfreiheit damit gemeint. Konsistenz der Regeln ist natürlich wichtig, fehlende Konsistenz führt zu Unverbindlichkeit der Regeln (z.B. überfüllter Bus, aber Ausgangsbeschränkung). Nachvollziehbarkeit ist ebenfalls ein Ziel der Sprache. Was jemand sagt, muss, so im ersten Punkt, verständlich und mit den bisherigen Erfahrungen seines Gegenübers übereinstimmen. Problematisch wird es mit dem Wahnsinn vieler Verschwörungs­ theoretiker. ● Feedback und Revision: Bedingungen der Sprache Wenn wir über Corona sprechen, ist es unabdingbar, dass wir eine bestätigende oder kritische Rückmeldung bekommen. Jenseits der

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Aspekt 8 Coronas Wörterbuch – Warum wir wie sprechen?

üblichen Gesprächstechnik brauchen wir das Gefühl, dass jemand das von mir Gesagte versteht und darauf reagiert. In der Gesprächspsychotherapie ist es unbedingt wichtig, dass Redewendungen gespiegelt werden, weil so manche Hintergründe dem Klienten verborgen bleiben. In unser Alltagswelt heißt das: Sprache ist der Versuch, Verhalten zu entwerfen und zu probieren. Ausprobieren bedeutet immer auch die Chance, Interaktionen zu korrigieren. ● In vielen Dingen sehen wir wenig Hintergrund Wir brauchen oft das Wort »Virus«. Was ein Virus ist, wissen schon sehr viel weniger. Und dass damit Leid und Katastrophen verbunden sind, fällt einem erst ein, wenn es um die Konsequenzen der Virusinfektion geht. Zu Beginn der Pandemie sagte man gerne: Wir haben ja noch keinen Fall von Covid gesehen. Oder wenn ein Teil der Impfsubstanzen auf mRNA (Messenger-Ribonuklein­ säure zur Stimulation einer körpereigenen Immunantwort) beruht, denkt man sofort an die Erbsubstanz der DNA. Dass aber das eine nicht auf das andere wirkt, wird zwar meistens gesagt, aber nur wenige wissen hinreichend genau, was der Unterschied von RNA und DNA ist. Unterschiedlich sind ja nur das »D« und das »R«. Und dann noch der Unterschied zwischen mRNA- und Vector-Impfstof­ fen? Kein Hintergrund – keine Bedeutung? Abstraktes Wissen zählt. Das hilft uns nicht. ● Unerlöste Stummheit der Sprache Ab jetzt wird’s philosophisch. Sprache ist erst dann mehr als Ver­ ständigung, wenn wir die Bedeutung der Dinge in den Blick bekom­ men, also das, was das Ding uns sagt. Um wieder W. Benjamin kommentieren zu lassen: Sprechen ist »ein vom empirischen Sub­ jekt gelöstes und innig an die Fülle eines Gegenstandes gebundenes Fühlen« (1993, S. 151). Welche Dinge meinen wir? Stummheit, so Benjamin, folgt daraus, dass die Worte die Dinge nicht richtig erfassen. Unerlöst ist diese Stummheit, weil es keine Korrektur gibt bzw. wahrscheinlich nicht gibt. Und auch, weil das

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Bedeutung für unser Sprechen

Unerlöst-Sein eine Art Melancholie auslöst. Wieder denke ich an ihn , dem in der Spanischen Grippe, einer Pandemie am Anfang des letzten Jahrhunderts, Familienangehörige wegestarben: »Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt« (Ebd. S. 150) erlebt. Pandemie ist der Hintergrund dieser enttäuschenden Wahr­ nehmung. Pandemie ist insofern Pandämonie. Woanders schrieb Benjamin: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Kata­ strophe zu fundieren. Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe« (1980, S. 246). Die Welt ist bei Benjamin ein Trümmerhaufen. Der Impfstoff ist da, aber die Menschen haben nach wie vor ein schwaches Immunsystem, und noch wissen wir nicht, ob eine Boos­ ter-Impfung auch gegen weitere Mutanten hilft. Unsere Sprache ist vollmundig und produziert ein ratloses Patt des Zusammen-lebens. Kehren wir dann zum Trümmerhaufen Benjamins zurück?

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Aufregend waren die Unsummen (oft 100e Mio. $), für die man bei Christies & Co. Kunstwerke ersteigert hat. Hilft Kunst Leben und Zusammen-leben verstehen, oder ist sie nur eine Geldan­ lage? Wenn es das wäre, verlöre Zusammen-leben an Bedeutung. Das Zurückfahren der Kunst – was das ist, dazu nachher – ist ein sehr großes Problem. Existenz wird orientierungslos. Und das durch Zurückfahren der Kultur? Dazu ein Zitat von dem bereits erwähnten amerikanischen Philosophen Richard Rorty (1993, S. 86).23 Sein Bild in folgendem Zitat ist der Roman, ich sehe darin aber alles, was Kunst und Kultur betrifft. »Die Weisheit des Romans unterscheidet sich von der Weisheit der Philosophie. Der Roman ist nicht aus dem theoretischen Geist, sondern aus dem Geist des Humors geboren. Europa hat versagt, indem es die europäischste aller Künste, den Roman, nie verstanden hat, weder seinen Geist noch seine gewaltigen Erkenntnisse und Entdeckungen noch die Autono­ mie seiner Geschichte.« Die Lesebereitschaft geht mal hoch und mal runter. In Zeiten von Corona geht sie hoch. Zeitvertreib, weil sonst nichts los ist? Oder hat man endlich mal Zeit zum Lesen oder sogar Nachdenken? Kultur ist ein Problem, ich misstraue ihrer Bedeutung aus vielerlei Gründen. In meinem Fitnessstudio läuft Musik, weder der Text Der Sammelband trägt den für uns einsichtigen Titel: »Eine Kultur ohne Zen­ trum«.

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noch die Qualität der Musik interessiert die jungen Leute. Ich darf Musik wählen, aber will die junge Personaltrainerin nicht mit Klassik, die ich vorziehe, verscheuchen. Darum wähle ich Jazz. Aber Rorty schrieb doch vom Geist und den gewaltigen Erkennt­ nissen des Romans und der Autonomie seiner Geschichte. Im Roman verbirgt sich eine Geschichte von Romanfiguren. Jede dieser Figuren hat recht, es geht ja nicht um richtig oder falsch, also um (moralische) Wahrheiten. Es geht um die Beziehung zwischen Menschen. Rorty setzt noch eins drauf: »der Roman sei die für die Demo­ kratie kennzeichnende Gattung […], welche mit dem Kampf um Freiheit und Gleichheit am engsten verbunden ist« (Ebd., S. 76). Freiheit und Gleichheit, Urgestein des Zusammen-lebens, deswe­ gen, weil Romane – Rorty denkt an Kundera und Dickens, ich noch an viele andere Romane in diesem Buch –, die »Toleranz und Neu­ gier als intellektuelle Kardinaltugenden« (Ebd., S. 90) und damit einhergehend Freiheit und Gleichheit befördern. Sagen wir es so: Kultur und Kunst sind essentielle Bestand­ teile des Zusammen-lebens. Man muss sie fördern, sonst geht Zusammen-leben in die Knie. Den Beweis sehen wir in Zeiten der Pandemie. Was Kunst ist, lässt sich schwer sagen. Dass Kunst etymologisch von Können kommt, sagen viele. Entsprechend ist Kunst etwas, was mit Qualität zu tun hat. Die hat eine handwerkliche Ebene, aber auch eine inhaltlich-kreative. Etwas muss sowohl gut gemacht sein als auch den weiterbringen, der zuschaut oder zuhört. Ein schlecht aufgeführtes klassisches Theaterstück ist genauso wenig Kunst wie eine gut aufgeführte Klamotte. Böse gesagt: Ein guter Schauspieler im «Tatort» macht den Krimi noch nicht zur Kunst. Eine andere Etymologie, (erstmals im deutsch-lateinischen Wörterbuch von 1741 beschrieben, darin S. 588) bedeutet: »Kunst kommt von Künden«. Kunst sagt: etwas verkünden, deutlich machen, also mitteilen und deuten. Eine sehr interessante, fast vergessene Lesart. Sie hilft verstehen, warum Kunst in Zeiten von Corona fehlt; das Zusammen-leben wird erschwert, weil Deutun­ gen ausbleiben.

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Betrachten wir die aktuellen Probleme. So ergibt sich folgende Aufgliederung in: ● Bildende Kunst (Malerei, Graphik, Bildhauerei, Architektur und verschiedene Formen des Kunstgewerbes sowie des Kunst­ handwerks. Dazu gehört die Sammlung von Gegenständen der bildenden Kunst, v.a. in Museen) ● Musik (mit Gattungen wie Oratorium, Sonate, Symphonie, Gesang, Oper, Filmmusik, Jazz usw.) ● Literatur (mit Romanen, Epik, Dramatik, Lyrik, Essayistik) ● darstellende Kunst (mit Theater, Tanz) ● Kleinkunst (Kabarett, Comedy mit gesellschaftskriti­ scher, komisch-unterhaltender und/oder künstlerisch-ästheti­ scher Motivation) ● Kunstformen, die durch technische Entwicklung entstanden sind, wie Film, Fotographie usw. Kunst ist ein wichtiger Modus des Zusammen-lebens. Man ent­ wickelt ein Gespür dafür, was einen interessiert, entfaltet und wei­ terbringt; dann spürt man auch, was einen blockiert. Der amerika­ nische Kommunikationswissenschaftler Neil Postman meinte, dass Medien vielfach zu einer Entleerung dessen führen, was uns begegnet (1985, S. 110). »Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert«. Unterhaltung ist wichtig, lenkt z.B. von Themen wie Corona ab, die uns beherr­ schen. Zerstreuung kann aber auch Realität ausblenden. Zurück zur Kunst. Ausgangspunkt war die Spaßgesellschaft. Meist macht die Kunst etwas anderes als Spaß. Sie bedeutet Dinge wie: Glücken und Scheitern des Lebens, sein Gestalten entwerfen usw. Mit Sartre, der Philosophie ins Theater brachte, gesagt: »Der Mensch muß sich sein eigenes Wesen schaffen; indem er sich in die Welt wirft, in ihr leidet, in ihr kämpft, definiert er sich allmählich« (2012, S. 116). Dieser Entwurf des Menschen wird, wie im Folgenden gezeigt , eine zentrale Aufgabe des Zusammen-lebens. Nur wenn ich weiß,

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wer ich bin, komme ich auch mit anderen klar. Gelingt uns das in einer durch Corona verdorbenen Spaßgesellschaft? Wassily Kandinsky denkt bei dem folgenden Zitat natürlich an Malerei, mir fallen dabei auch andere, nicht nur »stumme« Kunst­ richtungen ein (3. Aufl. 2009, S. 111): »Selbstopfer, Hilfe, reine hohe Gedanken, Liebe, Altruismus, Freude an anderer Glück, Humanität, Gerechtigkeit« können eine »reine Atmosphäre herstellen«. Wir stellen einige Punkte zusammen, die unserem Zusammenleben in Zeiten der Pandemie durch den Abbau der Kunst nachhal­ tig entgegenarbeiten. Fällt all das weg, was Kandinsky benannte?

Das Subjekt in der Moderne Ein nachdenklich machender Satz von der Künstlerin, Literaturund Kulturwissenschaftlerin Bettina Gruber: »Das Individuum beweist seine Echtheit […] in der Intimität seiner Erfahrung. Und welche Erfahrung könnte intensiver sein als jene, die an die Gren­ zen seiner Selbsterhaltung rührt« (2002, S. 45). Erfahrung, oder besser mit dem Wort des Philosophen und Psychiaters Karl Jaspers: Grenzerfahrung, gibt dem Ich Konturen. Sind auch die Grenzen des Zusammen-lebens durch Corona gemeint? Das zerstörte Ich? Das Ich in früheren Zeiten sagt anderes als das Ich in der Moderne. Gegenwärtig erleben wir ein Durcheinander der Bedeu­ tungen. Die Rede vom Ich war früher (bis weit in die Neuzeit hinein) immer auch bestimmt von dem Wir der Gesellschaft, einer Gruppe, der Familie usw. Das Ich heute ist losgelöst von all diesen Bindungen. Atomisierung – laut Google wird dieser Begriff im Deutschen selten gebraucht – bedeutet: Befreit-sein von allen Bindungen, Prägung durch die bindungslose Gesellschaft. Gemeint ist damit die Aufspaltung des sozialen Ganzen in viele Individuen, die Zersplitterung der Gesellschaft in Interessengruppen usw.

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Kunst und Dialog

Zwei Punkte stoßen mir auf: 1. Angesprochen wird meist das Ich in der Bindung an die Gemein­ schaft. Dieses Ich ist fremd geworden, angesprochen fühlt sich das atomisierte Ich. 2. Zusammen-leben wird selten wirklich erfasst. Regeln, Gesetze usw. sind zu allgemein,24 um die Eigenart des atomisierten Individuums ansprechen zu können. Unser Ansprechpartner, das Subjekt in der Moderne, ist anders geworden, was leider oft übersehen wird. Nach meiner Erfahrung werden selten Kunstwerke, vielleicht am häufigsten künstlerische Installationen und Gemälde, mit diesem atomisierten Ich produ­ ziert. Wird es uns gelingen, die Atomisierung des Ich zurückzu­ fahren? Wenn nicht, werden in Corona unsere Ansprechpartner nicht erreicht, wird ein konstruktives Verstehen der pandemischen Phänomene verbaut. Denken wir an narrative Zusammenhänge der Menschen, die Angst haben vor Infizierung, Lockdown, Impfen usw. Das Subjekt in der Moderne (wohl das frühere) wird selten angesprochen. Inzidenzzahlen haben nichts mit Betroffenheit, Leiden u.ä. zu tun. Aber wir brauchen Begriffe, Musik, Bilder u.ä., die unsere Betroffenheit durch Corona näherbringen.

Kunst und Dialog Immer wieder wird darüber geklagt, dass unsere Künstler vor lee­ ren Rängen auftreten oder die Museen gesperrt sind. Kabarettisten, Musiker und andere Künstler haben darunter viel zu leiden. Ist die alte Lücke heute saniert? Man hat sich wohl viel zu wenig darum gekümmert, dass auch die Präsentationen unserer Künstler*innen auf Dialog angewiesen sind – und auch wir auf die Künstler*innen. Das fasst man in der Moraltheologie des späten Mittelalters unter den Begriff der Epikie.

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Aspekt 9 Kultur und Kunst: Zusammen-leben im Stau

Der polnische Theaterregisseur Marek Kedziersky erhielt einen Brief von dem berühmten französischen Filmschauspieler Thierry Bosc (Kedziersky 2020, S. 104). Er zitiert daraus: »Die jähe Unterbrechung der Bühnenvorstellungen war zumin­ dest eine Gelegenheit zu erkennen, was es bedeutet, wenn man von einer Live-Produktion spricht. Du kannst kopieren oder aufnehmen, was du willst, aber das Theater bleibt ein Treffen von Angesicht zu Angesicht, eine tägliche Wiederbelebung mit einem Publikum, das immer als zusätzliche Figur im Stück zählt. Diese fehlende Figur macht uns schmerzlich bewusst, warum wir überhaupt auf der Bühne stehen«. Kunst ist keine One-Man/Woman-Show. Sie ist auf den anderen, den Nicht-Künstler angewiesen. Wir aber auch auf die Künstler. Wir brauchen zweierlei in unserer Gesellschaft: Menschen, die sich vor anderen präsentieren, aber auch uns, die Menschen im Publi­ kum, die (wenigstens innerlich) mitspielen und mitfühlen. Die Welt der Kunst ist eine Welt des Gegenübers. Zusammen-leben wird durch Kunst eingeübt.

»Schaubühne als moralische Veranstaltung« (F. Schiller) Friedrich Schiller, zuerst Studium der Medizin, dann Dichter, hielt einen Vortrag mit dem Titel dieses Abschnitts. Seine Sympathie für die neue Gesellschaftsordnung im Sinne der Französischen Revo­ lution ließ er an vielen Stellen durchblicken. Die soziale Bedeutung des Theaters für die Gesellschaft, nicht nur für den individuellen Zuschauer, begründet er mit Menschlichkeit, Spiegelung der Feh­ ler, Leidenschaft für das Neue, Abkehr von finsterem Aberglauben, Toleranz und Verunsicherung des vermeintlich Sicheren. Solche Begriffe u.a. müssen natürlich aktualisiert werden, sie würden aber zum Zusammen-leben in Zeiten von Corona passen. Aus seinem Vortrag stammt folgendes Zitat: »Die Schaubühne allein kann unsere Schwächen belachen, weil sie unsere Empfind­

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Das verlorene Paradies

lichkeit schont und den schuldigen Toren nicht wissen will – Ohne rot zu werden, sehen wir unsere Larve [heute: Maske vor dem Gesicht, F.J.I.] aus ihrem Spiegel fallen und danken insgeheim für die sanfte Ermahnung« (1995, S. 7). Demgegenüber steht in Zeiten von Corona ein aggressiv-brutaler Ton, Aggression wird zum Zeit­ index. Hoffentlich wird die Kunst davon nicht infiziert. Kunst, gerade Theater, ist ein moralisches Korrektiv. Kunst kann helfen, Regeln als Stütze des Zusammen-lebens zu verstehen. Ohne moralische Sensibilität geht das Zusammen-leben nicht.

Das verlorene Paradies Kunst ist immer ein Stück Sehnsucht nach dem Paradies, das es nicht mehr gibt. Laut Bibel schon lange nicht mehr, also die Sehnsucht und das Paradies. John Milton25 veröffentlichte 1667 ein Gedicht mit dem Titel »Paradise lost« mit neun sog. Gesängen. Im letzten Gesang vergleicht er die heroischen Ereignisse dieses Buches mit dem Trojanischen Krieg in der Antike. Dieses Bild entspricht der Coronasituation: Satan ist als Nebel getarnt (fast wie Corona und die Aerosole) und schlüpft in das Maul einer schlafenden Schlange. Satan ahnt seinen Triumph und meint, er werde es schaffen, ein Werk, für das Gott sechs Tage (das war damals das übliche Paradigma) benötigte, in einem einzigen zu zerstören. Zugegeben: Corona brauchte länger, aber das Ende könnte ähnlich sein. Die entsprechenden Verse lauten: »Mein wird allein der Ruhm der Höllenmächte, an einem Tag vertilgt zu haben Alles, Was der Allmächtige, wie man ihn benennt, In sechsen mühsam schuf«. 25 Milton war Gegner des puritanischen Cromwell im UK. Er wurde wegen Liberalität verurteilt. Cromwells Nachfolger erließ eine Generalamnestie, die Milton vor dem Todesurteil bewahrte.

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Aspekt 9 Kultur und Kunst: Zusammen-leben im Stau

Unser Paradies – war das unsere Welt? – ist zerstört, endgültig unerreichbar. Das gilt gerade in Zeiten unserer Pandemie. Gesiegt hat nicht der Teufel, sondern das Virus samt seinen menschlichen Mächten, die das Zusammen-leben mit allen Wesen der Natur aufs Spiel gesetzt haben. Betrachten wir das Buch von Milton, entmythologisiert als Metapher für das Elend einer Welt, die einmal schön war. Übrigens hat Paul Klee – so z.B. in der Ausstellung von Beyeler in Riehen bei Basel 2003 und in verschieden Bildbänden – Bilder gemalt, die alles andere als leicht zu verstehen sind. Am Ende seines Lebens, geschwächt durch die Erkrankung der Sklerodermie (Hautverhärtung bis zur Unfähigkeit, längere Zeit einen Pinsel zu halten) malte er Engel,26 zuletzt mit Bleistift. Verlorenes Paradies und die Sehnsucht danach, auch wenn sie der Realität widerspricht? Mag sein oder auch nicht. Vielleicht brauchen wir die Utopie. Und letzten Endes steht hinter oder in der Kunst immer ein Stück Utopie.

Kunst und Zusammen-leben Was sind wir bereit zu opfern? Und welchen Preis bezahlen wir dafür? Das Katastrophale an der Pandemie ist, dass wir für die Eindämmung der Infektion durch das Virus die Bereitschaft zum Zusammen-leben opfern. Das zu bedauern reicht nicht. Wir müs­ sen Sensibilität für Kunst aufbauen. Sonst wird das nichts mit uns in der Zeit nach Corona. Nachdenklich machte mich eine Rede von Imre Kertész, der mit 14 Jahren 1944 nach Auschwitz kam, dort überlebte und erst 1989 sein Buch über diese Erfahrungen schrieb: »Roman eines Schicksalslosen«. Seine Rede hielt er Juni 2007 auf einem Berliner 26 Z.B. von Klees »Angelus novus« war Walter Benjamin begeistert. Er sah in ihm das Paradies, zerstört zwar, aber sehnsüchtig, wenn auch skeptisch erwartet.

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Kunst und Zusammen-leben

Kongress,27 zu dem mehrere Nobelpreisträger wie er eingeladen wurden. Daraus stammt das Zitat: »Einst war der Mensch das Geschöpf Gottes, eine tragische, erlösungsbedürftige Kreatur. […] Kein Zweifel, am Anbruch des 21. Jahrhunderts sind wir uns in ethischer Hinsicht selbst überlassen. […] Denn der radikale Geist […] ist auch ein befreiender Geist, […] weil er dadurch seine vitalen Kräfte reicher werden sieht.« Wir müssen uns unsere Werte selbst schaffen, die uns hoffentlich zu einer neuen Kultur des Zusammen-lebens führen. Kunst ist ein wichtiger Weg, uns und andere bedeutend und geachtet werden zu lassen. Cees Noteboom, ein holländischer Schriftsteller, skizziert an vielen Stellen die Bedeutung von Kunst im Roman «Allerseelen». Seine Hauptfigur Arthur Daane, ein niederländischer Dokumen­ tarfilmer, lebt nach dem Tod seiner Frau in Berlin, weil dort seine Freunde leben, u.a. der ebenfalls niederländische Bildhauer und Maler Victor Leven. Er betrachtet versonnen Victors Gemälde und kommentiert später: »Das Ambivalente an der Kunst war, daß sie den Abgrund sichtbar machte und gleichzeitig einen Schein von Ordnung dar­ überspannt«. Wenn unser Kampf gegen die Pandemie Kunst ausblendet, gehen dann die Ordnung und das Zusammen-leben der Menschen verlo­ ren? Ich fürchte, ja! Eine seltsame Erinnerung: Als u.a. die mathematische Fähigkeit der deutschen Schüler*innen bei einer OSZE-Studie (PISA-Studie 2018) bedenklich ausfiel, wurde der Musikunterricht reduziert, um mehr Stunden für Mathematik zu gewinnen. Dabei wäre Musikun­ terricht – ich war faszinierter Chorsänger – für das Zusammena­ gieren der Schüler sehr nützlich gewesen. Es geht hier nicht um 27 Vortrag von Imre Kertész, http:// www.bpb.de/apuz.de/31488/europasbedrückende-erbschaft.

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Aspekt 9 Kultur und Kunst: Zusammen-leben im Stau

einen Beweis, nur um einen Hinweis, der nachdenklich macht. Ist Musik ein Förderer des Zusammen-lebens? Wenn man von Kunst redet, denke ich an meine Favoriten: Musik und Literatur – das ist sicher nicht alles. Beides wurde durch Corona zweifellos stark eingeschränkt, aber diese Tendenz wurde schon seit langem bestimmt auch durch Technokratie und Konsumgesellschaft grundgelegt. Was drücke ich wie aus? Was sind meine Gefühle? Was hat mich verändert? Was ist mir warum wichtig? Das alles haben wir verlernt und wir verlernen noch mehr durch Corona. Hier ein kurzer Auszug aus dem Vortrag von Navid Kermani (NZZ vom 1.4.2021)28 zu Ehren der Kölner Philharmonie: »Denn das Wesen Ihrer Kunst besteht ja eben darin, dass wir deren Botschaft, Sinn und Zweck nicht in unserer alltäglichen Sprache zu fassen bekommen. […] Wenn wir Musik hören, die zu uns spricht, empfangen wir eine Botschaft, wir verstehen einen Sinn, wir spüren einen Zweck, etwas ganz Zwingendes sogar, das nur so und nicht anders sein kann.« Kermani empfindet das nicht nur bei alter oder moderner Musik, die in die Philharmonie gehört. Ähnliches spürt er auch beim Besuch von Jazzclubs, bei religiösem Ritual oder bei einem Rock­ konzert, die in der Zeit von Corona, der »kulturell stillgestellten Gegenwart«, so wichtig wie selten sind. Zusammengefasst: Kultur und Kunst haben in der Zeit der Pandemie kaum noch Bedeutung. Hilft deren Revival? Unser Problem ist nicht, ob wir alte oder neue Kunst brauchen. Wir brauchen Kunst, weil sie uns verstehen hilft, wofür wir leben und was uns wichtig ist. Zusammen-leben braucht, so die Überschrift von Kermanis Laudatio, »die Zufluchtsorte des Geistigen«.

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Orientalist an der Universität Köln und Schriftsteller.

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Aspekt 10 Corona und der Bankrott des Sozialen

Wenn die soziale Dimension des Menschen seuchenbedingt in die Krise gerät, steht für den Menschen und sein Zusammenleben sehr viel auf dem Spiel. Was aber sind die Gefahren, die von der Seuche orchestriert werden? Wichtig für das Zusammen-leben ist die Ordnung einer Welt, die es dem Menschen möglich macht, mit anderen zusammen zu leben. In einer Welt, in der das Ich sowie seine Selbstverwirklichung und seine Interessen eine immer größere Rolle spielen, ist dieser Aspekt des Sozialen besonders wichtig. Leider spielt in der Zeit der pandemischen Bedrohung »mein« Schutz eine größere Rolle als der Schutz des »Anderen«. Das Soziale geht den Bach runter. Das Soziale im Menschen hat natürlich viele Aspekte. Gerade in Zeiten der Pandemie konzentrieren wir uns auf Probleme wie Fairness, Gleichheit und Zusammenhalt der Gesellschaft. Wenn diese Bereiche angegriffen werden, ist auch das Zusammenleben gefährdet. Spätestens seit Aristoteles galt der Mensch als soziales Wesen. Kommunikation und Interaktion sind nach wie vor die Essenz des Menschen. D.h., ein Mensch, der sich der Kommunikation und Interaktion verschließt, hat sein Menschsein verloren. Pathologi­ sche Phänomene muss man anders bewerten. Wenn bedingt durch und nach Corona das Soziale in die Brüche geht, steht dann der Mensch in Frage? Ich fürchte: ja. Wichtig ist, wie essentiell das Problem des Menschen ist, dem die Chancen genommen werden, in der Gesellschaft »seine« Rolle und damit so einen wichtigen Part im Zusammen-leben zu spielen.

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Aspekt 10 Corona und der Bankrott des Sozialen

Auf diesem Hintergrund wird sehr klar, wie gefährlich es ist, wenn der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft durch die Maß­ nahmen gegen Corona aufgeweicht wird. Das gefährdete Zusam­ men-leben muss möglichst bald wieder repariert werden. Die konkreten Hintergründe verdienen natürlich eine detailreiche Dis­ kussion. Hier sollen nur einige Andeutungen gemacht werden, die sich auf eine Reihe von Problemfeldern beziehen: zu geringe Förderung kleinerer Betriebe, Gewährung von Kurzarbeitergeld, Konkurs neu gegründeter Betriebe, Einschränkungen von Bars, Cafés und Restaurants, erschwerte Bedingungen in Haushalten bei Home­ schooling bzw. Homeoffice, Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen, erschwerte Bedingungen für Einsteiger in Beruf, digitale Lehrformen, familiäre Krisen, Behinderung der Religions­ ausübung, Kunstszene in Bedrängnis usw. Werden diese Beschrän­ kungen wieder »auf«-gehoben, also auch höher bewertet? Finan­ zielle Krisenintervention kann nicht die einzige Maßnahme sein. Es geht doch um Zusammen-leben, und das wird nicht gestützt, geschweige denn: wahrgenommen. All diese Aufzählungen sind Hinweise auf den drohenden Bankrott des Sozialen. Die genannten Punkte sollen nur nachdenklich machen, sie wollen nichts bewei­ sen oder einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Corona ändert die Gesellschaft, keine Frage. Aber Änderung wohin?

Fairness und Seuche Über Fairness als Grundlage des Sozialen nachzudenken, hatte für mich eine medizinethische Parallele. Etwa bei der Verteilung der Finanzmittel auf die verschiedenen Sektoren des Gesundheits­ wesens: Wer bekommt warum wie viel? Einer der wichtigsten Gedanken über die sozialen Grundlagen ist das Buch des US-ame­ rikanischen Philosophen John Rawls (vgl. 1975). Auch in anderen Wissenschaften wurde er sehr stark beachtet. Fassen wir diese moderne Gerechtigkeitsphilosophie kurz zusammen:

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Fairness und Seuche

Rawlsʼ System umfasst zwei Ebenen: 1) Diskussion über Gerechtigkeitsprobleme unter vernünftigen Menschen mit vernünftigen Argumenten ohne Vorteile bzw. aufeinander oder gegeneinander gerichtete Interessen. Grund­ lagen der Gerechtigkeit sollen uns allen dienen. Benachteiligung von sozialen Gruppen muss ausgemerzt oder zumindest z.B. durch Vorteile in anderen sozialen Bereichen verbessert werden. 2) Diskussion unter dem »Schleier des Nichtwissens«, d.h., die Diskutanten wissen nichts über ihre eigene zukünftige gesell­ schaftliche Position und Betroffenheit. Darin sehen wir zwei wichtige Schritte (vgl. Meyer 2021) der Gestaltung einer fairen Gesellschaft: 1) Beweislastumkehr und 2) Perspektivenwechsel. Fairness ist gerade unter den Bedingungen unserer Pandemie ein großes Problem. Wer eine knappe Ressource erhält, z.B. eine Impfung, als noch kaum Impfstoff vorhanden war, hängt von vie­ lem ab: wer die besseren Beziehungen oder die längere Ausdauer hat, die eigene Konstitution und Emotionen besser einschätzt usw. Wodurch wird eine vorteilhafte Handlung, etwa die Impfung, eine »Pflicht«? Es geht um die Balance unserer Regeln, also um Gerechtigkeit und den Wieder-Aufbau der Fairness. Dazu eine Nachricht, die nachdenklich macht: »An den bisher von den Gesundheitsämtern identifizierten Superspreader-Events wie Hochzeiten, Familienfeiern, Kirchenbesuchen, Privatpartys in Restaurants waren nicht nur junge Menschen beteiligt« (Haun­ horst, SZ vom 24./25. Okt. 2020), sondern Menschen aus ver­ schiedenen Altersgruppen. Und doch werden im Wesentlichen junge Menschen verdächtigt, Überträger von Keimen zu sein. Beweislastumkehr. Sicher ist das ein Kriterium für Fairness. Nur es gibt keine oder zu wenig Beweise, eher Vorurteile. Die sind weder vernünftig noch ein Kriterium für Fairness. Perspektivenwechsel? Es wandelt sich nichts. Anfangs sagte man: testen, testen, testen – heute: impfen, impfen, impfen. Und was sagt man morgen? Das faire Zusammen-leben ist kaputt.

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Aspekt 10 Corona und der Bankrott des Sozialen

Dazu ein Nachtrag, der unser Zusammen-leben illustrieren soll. Das Hin-und-her von Lockdowns und seinen Aufhebungen wurde vielfach kontrovers diskutiert. Wir sehen darin ein Symbol des gefährdeten Zusammen-lebens. Hinweise lassen vermuten, dass zahlreiche Straßencafés und Kioske nach der Lockerung des Lockdowns nicht mehr – man vermutet ein Drittel macht zu – da sind. Treffen, Kommunikation, Verschnaufen, Diskutieren usw. fallen weg. Wahrscheinlich haben sich die Lockdowns damals als hilfreich erwiesen, es ist zwar nichts bewiesen. Aber was uns fehlt ist etwas in Richtung dessen, was die Bedingungen eines fairen Zusammen-lebens stärkt.

Zunehmende Ungleichheit Natürlich ist die Entscheidung der Bundesregierung gut, diejenigen auch finanziell zu unterstützen, die in Not, oft in wirkliche Exis­ tenznot, geraten sind. Zweifelhaft ist jedoch, ob diese Unterstüt­ zung alle in dieser Situation trifft, auch diejenigen, die durch unsere sozialen Netze gefallen sind? Stimmt das so wichtige Gleichheits­ prinzip wirklich? Zu erwarten und leider oftmals schon registriert ist eine Tendenz zu sozialer Ungleichheit. Maßnahmen gegen Corona treffen eben nicht alle Mitbürger gleichermaßen, nur bestimmte Gruppen ohne jeden späteren Ausgleich. Fluggesellschaften, große Unternehmen, Fußballclubs usw. bekommen Unterstützung. Was bekommen die anderen Berufsgruppen wie Künstler, Restaurants, medizinische Berufsgruppen, Erzieher/Lehrer usw.? Man scheint sich aktuell darum zu kümmern – nicht wegen der Verletzung der Prinzipien des Zusammen-lebens, sondern wegen wirtschaftlicher Anreize. Man muss die Wirtschaft am Laufen halten. Stimmt. Warum kümmert sich die Gewerkschaft um Gleichheit, nicht der Staat wie bei anderen Risikogruppen? Warum dauern viele Zahlungen so lange? Und warum dürfen wir Bürger bei solchen Problemen so wenig mitentscheiden?

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Gewalt teilt die Gesellschaft

Unser Problem ist nicht, ob das wirtschaftlich berechtigt ist. Unser Problem ist es, ob das Gleichheitsprinzip eine angemessene Rolle spielt. M.E. tut sie das nicht. Fairness ist ein grundlegender Maßstab, an dem die soziale Bedeutung der politischen Entscheide gemessen werden muss. Leider wird die oft beklagte soziale Spal­ tung weiter vertieft. Wenn wir aus Corona aufwachen, gibt es viele Opfer infolge fehlender Fairness. Weitere soziale Ungleichheit entsteht, wenn die Schulden in Milliardenhöhe abgetragen werden sollen. Zur Diskussion stehen Steuererhöhungen und Schließung nicht systemrelevanter Vereine wie Jugendeinrichtungen, Schwimmbäder, Parks usw. Bereits jetzt hat die Diskussion darüber begonnen, wer die immens hohen Kosten später tragen soll. Bisher waren die ärmeren Schichten die Betroffenen, weil die Reicheren und ihre Investitionskraft geschont werden müssen. Bleibt das so – auch nach Corona? Und sind die Dummen mal wieder die künftigen Generationen? Um nur eines der vielen Facetten eines in die Krise gerate­ nen Zusammen-lebens zu benennen: Es gibt Fachaufsätze über die »verschwenderische Generation« [»prodigal generation«] (vgl. Lamm, 2011 und auch seine früheren geriatrischen Publikationen) der meist älteren Erwachsenen (aber vor dem Seniorenalter), die den Jungen Hypotheken aufbürden, um sich selber aktuell Vorteile zu verschaffen. Sind wir die Verschwender? Der Verdacht liegt nahe, dass Fairness und damit auch das Zusammen-leben in und nach unserer Coronakrise in Gefahr geraten sind.

Gewalt teilt die Gesellschaft Macht ist die neutrale Möglichkeit zu handeln. Sie wird erst dann zur Gewalt, wenn darüber hinaus jemand a) physische oder psychische Mittel gegen eine andere Person gegen ihren Willen anwendet und b) sie damit dem eigenen Willen unterwirft bzw. zu beherrschen beabsichtigt und bereit ist, Gegen-Gewalt in Kauf zu nehmen.

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Aspekt 10 Corona und der Bankrott des Sozialen

Gewalt überschreitet insofern die Möglichkeiten eines geordneten Zusammen-lebens. Laut Thomas Hobbes (vgl. Hobbes 2011) und seinem zentralen Werk »Leviathan« (1651) geben Menschen Recht und Ahndung der Anwendung ungerechtfertigter Gewalt an eine zentrale Institution, genannt Staat ab. Der Staat beruht auf einer Eindämmung von Furcht, Ruhmsucht und Unsicherheit, also auf einem Vertrag. Die Menschen ersparen sich ständige Wachsamkeit gegenüber fremder Gewaltausübung. Ist das auch heute bei uns so? Staat als gemeinsamer Auf­ trag? Zunächst erscheint es so, als ob v.a. einige Gruppen der Querdenker dem Staat sein Grundrecht des Gewaltmonopols strei­ tig machen wollen. Wer hat die Gewalt der Regelanwendung? Einige sehen in unserer Republik die verkehrte Staatsform, andere bezweifeln eher mit mehr oder weniger guten Argumenten die Begründung der Corona-Maßnahmen des Staates. Es ist eher hilfreich, wenn diskussionsbereite Teile der Querden­ ker ernstzunehmende Kritik und keine abstrusen Ideen produzie­ ren und auf Schwachstellen des Staates aufmerksam machen. Aber Staat als gemeinsame Aufgabe darf nicht zu Bruch gehen. Nur darf das auf Seiten des Staates nicht nur durch Gewaltanwendung und Strafe gemacht werden, sondern durch Anstoß zum Nachdenken über Gemeinsamkeit. Politik ist eine Ressource sozialer Stabilität, so die Philosophie des Vertrags. Stabilität ist jedoch gefährdet, weil die Gesellschaft sich zu spalten beginnt. Spaltung wird durch Corona verstärkt. Ein paar Beispiele: Die Regierung habe rechtzeitige Beschaffung von Impfstoffen verschlafen, sich zu wenig um Risikogruppen geküm­ mert, Menschen am Rande der Gesellschaft nicht ins Boot geholt, die Statistik falsch aufgezogen29 usw. Kann sein oder auch nicht, das sollten andere diskutieren. Aber leider wird nicht diskutiert, sondern nur verteidigt und beschuldigt. Spaltung ist im Anmarsch.

29 Siehe die TV-Interviews vom Freiburger Medizinstatistiker Prof. Dr. Gerd Antes, der bis 2018 das Deutsche Cochrane-Zentrum leitete. Sein Vorwurf an die Corona-Politik: Planlosigkeit. Siehe den Artikel im SPIEGEL, 2020.

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Endmoränen des Gigantismus

Der Philosoph Markus Gabriel nannte Spaltung eine Schieflage, die darin besteht, »dass der virologische Imperativ […] uns auf­ fordert, alles […] Mögliche um beinahe jeden Preis anzustrengen, um die virale Pandemie zu bewältigen«, und dass er dabei »alle anderen Gesichtspunkte weitgehend eliminiert« (2020, S. 138f). Wenn das so ist und die Regierung fast um jeden Preis handelt, müssen wir Zusammen-leben retten, indem wir alles tun, um sol­ che Schieflagen zu korrigieren.

Endmoränen des Gigantismus Was gilt als Fortschritt in Zeiten von Corona? Beginnen wir mit die­ ser schwierigen und ungeklärten Frage. Das Bild des Fortschritts ist nicht immer eine aufsteigende Linie, eher eine Wellenbewegung. Man kann das natürlich präzisieren, was an dieser Stelle zu weit ginge. Aber eins müssen wir festhalten: nicht alles, was man für Fortschritt hält, ist auch einer. Auffallend ist der Gigantismus, der in unserer industriell geprägten Welt eine größere Rolle spielt als Nachdenken darüber, ob unser Gewinn wirklich wichtig ist und ob nicht eine Art Konsequenzenabwägung nötig wäre. Das gilt insbesondere für die Frage, was das für die Pandemie­ bekämpfung bedeutet. Natürlich ist die gegenwärtige Medizin, um nur das Beispiel der Infektionsbehandlung zu erwähnen, sehr effektiv. Aber es gibt leider auch das Gegenteil, das uns sehr berührt. Etwa die Zusammenlegung von Kliniken und Kranken­ häusern, um den Synergieeffekt auszunützen. Das Größer und Billiger zählt, zunehmend mehr Chancen und angeblicher Nut­ zen sind entscheidend. Was fehlt: Zufriedenheit der Mitarbeiter scheint weniger wichtig, obwohl die sehr wichtig wäre. Zusam­ men-leben und die Aufgabe des Staates sind eher nebensächlich. Erwähnt werden muss das Leid der eigenen Infektion und das Leid geliebter Menschen. All diese und noch andere Probleme können wir hier nicht diskutieren. Was bleibt? Stabilisierung des Zusammen-lebens hilft uns, nicht die Größe der Kosten bzw. des Verdienstes und des sog. Fortschritts.

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Überlegen wir dieses Fortschrittsproblem weiter: Sind größere Städte lebensfreundlicher als kleine? Können mehr Menschen auf kleinem Raum leben? Müssen Firmen immer größer werden, um rentabel zu sein? Heißt mehr Freizeit mehr Lebensqualität? Und unsere negativen Fragen: Ist nicht längeres Leben mehr Lange­ weile? Bringen mehr Flugzeuge mehr Glück? Wie groß müssen Kliniken sein, um helfen zu können? Brauchen wir mehr Inten­ sivstationen oder Krankenhäuser oder mehr Rentabilität? Solche und ähnliche Fragen mit ihrem größer und mehr beschäftigen uns zunehmend. Aber unser Größer und Mehr bringt keine Lösung, eher mehr Probleme. Das Beispiel der chinesischen Hauptstadt Peking haben wir bereits (siehe Aspekt 7) erwähnt. Gigantismus ist unser Prob­ lem, es behindert das Zusammen-leben der Menschen, das auf Überschaubarkeit fußt. Natürlich ist Fortschritt gut, aber ohne die kritischen Gedanken über Nebenwirkungen und Katastrophen kommen wir nicht weiter. Fortschritt soll uns helfen, aber, wie wir gerade erfuhren, treibt uns dieses Größer und Mehr in den Ruin. Selbst der Philosoph Martin Heidegger, dessen NS-Vergangen­ heit seine Genialität überschattet, »lehnt kategorisch den Versuch ab, die Probleme der technischen Zivilisation technisch zu lösen« (zitiert nach Rohkrämer, 2021, S. 61). Der öfters erwähnte Jean-Luc Nancy, der auch immer wieder Heidegger diskutiert, nahm sich den Begriff »Technologie« vor, den er als »Techno-Logie« (2021, S. 61), d.h. Logik der Technik beschrieb. Also doch Gefahr für ein zerstör­ tes, zumindest gestörtes Zusammen-leben durch Techno-Logik? Wo bleibt der Mensch in einer Welt des immer Größer und immer Mehr? Die Welt des Komparativs schreitet voran. Wohin eigentlich? Wer weiß. Voran über Leichen?

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Wirtschaft – paradigm lost

Wirtschaft – paradigm lost Oft wird die Wirtschaft als Feind der Demokratie gesehen, weil sie eigenen Gesetzen folgt, und nicht den Interessen des Volkes. Wohl wahr, aber Vorsicht: Wirtschaft kann – aber muss nicht, v.a. nicht immer – Gemeinsamkeit fördern. Profit – oft leider dominant – ist ein wesentlicher Bestandteil der Wirtschaft, schwierig wird die Verteilung des Profits, nicht seine Erwirtschaftung. Die Verteilung des Profits fordert u.a. Prinzipien wie Gerechtigkeit. Wir verzichten auf die Interpretation linker oder rechter Wirtschaftstheorien. Das wäre ein weiteres Thema, das ich aber nicht wirklich verstehe. Wirtschaft ist ein sehr komplexer Begriff, er umfasst Markt, Investition, Geld, Bedarf usw. Wir greifen den Begriff »Bedarf« heraus. Bedarf steuert Konsum. Unsere Bedarf-gesteuerte Gesell­ schaft nennt man »Konsumgesellschaft«, ein wichtiger Begriff von Pier Paolo Pasolini30 (Wagenbach im Vorwort von Pasolinis Frei­ beuterschriften, S. 12). Seine Konsumkritik durchzog sein filmi­ sches und schriftstellerisches Werk. Mir imponiert seine Bild­ stärke. Pasolini forderte in einem Brief Papst Paul VI. auf – wohl eher als symbolträchtigen Schritt –, die Kirche als Kumpan des Konsu­ mismus zu schließen. Ebenso die kommunistische Partei (damali­ ger Vorsitzender: Enrico Berlinguer) Italiens, den »theologischen Glutkern der Revolution« – Pasolini zitiert hier Walter Benjamin – nicht zu verraten. Der Glutkern war der Verzicht auf das alles beherrschende Prinzip des Konsums. Konsumismus zerstöre, so Pasolini auch in seinen sehr kritischen, aber nachvollziehbaren Filmen, die Wirtschaft und seine Grundfesten, die Religion und den Staat und unser aller Zusammen-leben. Wirtschaft ist ein zu simpler Begriff, übersieht aber gern das Netz von Zusammenhängen. Es beinhaltet Produzieren, Markt, Preisgestaltung, Ex- und Import, Nachfrage usw. All diese Phä­ Pasolini wurde wegen seiner Konsumkritik, inoffiziell aber wegen seiner Homosexualität aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen.

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nomene zu erklären, wäre für unser Thema »Zusammen-leben« nicht möglich. Ein interessanter Zusammenhang jenseits der Betriebswirt­ schaftslehre ist ein Zitat Pasolinis (2008, S. 28): »Natürlich wollen diejenigen, die produzieren, mit denen, die konsumieren, absolut klare Geschäftsbeziehungen unterhalten«. Das ist Wirtschaft. Aber Konsumieren ist das eine, Konsumismus seine menschenverach­ tende Maßlosigkeit. Ein weiteres Zitat, ein überzeugendes Sprach­ spiel, zu diesem Thema: »Es ist klar, daß überflüssige Güter das Leben überflüssig machen« (Ebd. S. 55). Das war vor Corona so und wird auch nach Corona so sein, fürchte ich. Nur nebenbei, weil ich Pasolinis Filme sehr schätze: 2018, also 43 Jahre nach seiner Ermordung, wies Papst Franziskus auf den grenzenlosen Konsum hin, der unsere Welt durchzieht. Pasolini, enttäuscht von einer Kirche, die am grenzenlosen Konsum mit­ macht, hätte sich über die Aufmerksamkeit für dieses Problem sicher gefreut. Wirtschaft, Geld, Markt usw. werden vom Kon­ sumismus dirigiert. Übrigens auch das Zusammen-leben. Kann man – wenn ja, dann wodurch? – das Zusammen-leben retten? Vielleicht durch Zurückfahren des Konsums? Vermutlich. Aber wie kann das gehen? Und was hat das mit Corona zu tun? Seuche ist nicht Grund genug – oder doch? –, Konsum zu beschränken. Ich meine damit nicht den Markt und die Beschaffung lebensnotwendiger Güter. Was »lebensnotwendig« ist, kann/darf man nicht festlegen. Viel­ mehr ist wichtig, dass Güterbeschaffung nicht zum Sinn des ram­ ponierten Zusammen-lebens wird, zum Konsumismus. Wie schön war es für viele, in Zeiten des Lockdowns menschen­ leere Innenstädte zu erleben, ihre Architektur, ihre Schönheit, ihre Anordnung zu bemerken. Aber bald wurden sie wieder gefüllt, als man zu shoppen begann. Viele freuten sich über die gewohnte Fülle der Städte und der Konsumangebote. Man hatte, was man wollte, Knappheit schien besiegt. Ist unser Traum Rückkehr auf den alten Weg ins Verderben? Oder wie die Schriftstellerin Arundhati Roy (siehe Aspekt 6) schrieb: »Corona is a Portal«?

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Bürokratie: Falle des Zusammen-lebens

Bürokratie: Falle des Zusammen-lebens Grenzenloses Wollen wird durch Bürokratie legitimiert. Auf den ersten Blick ist sie die Dienerin der Wirtschaft und der Politik. Auf den zweiten Blick führt sie eine Art Eigenleben und terrorisiert damit alle Menschen, die von Wirtschaft und Politik betroffen sind. Bürokratie ist die Antwort auf die zunehmende Komplexität und Differenziertheit der Bedürfnisse einer Gesellschaft. Sie steigert die Bewältigung von Routineaufgaben – um wieder zu Corona zu kommen: die Beschaffung von Testverfahren, Impfsubstanzen, digitaler Speicherung von Impfungen, die es leider noch nicht gibt, usw. Scharf und zupackend beschreibt Charles Dickens dieses Phäno­ men. Er karikiert in seinem Roman »Little Dorrit« von 1855–57 nicht nur die Grätsche von Arm und Reich, sondern auch die bürokratische Verwaltungspraxis durch eine Behörde, die er Ver­ zögerungsamt (»circumlocution office«) nennt. Genehmigungen werden zu Willkürmaßnahmen, die vor lauter Beiwerk den sozia­ len Anlass vergessen. Auch heute noch wird Bürokratie kritisiert: ihre Langsamkeit, ihre Formalisierung, ihre Entfremdung von Sinn. Dickens widmete der damaligen Epidemie, der Diphtherie, und insbesondere dem Elend der Armen ein ganzes Kapitel in »Little Dorrit«. Eine kurze Bemerkung zu Charles Dickens. Der irische Medizin­ historiker Leon Litvack (2020) schrieb über Charles Dickens, dass während er 1855–57 in Faszikeln einer Tageszeitung den Roman »Little Dorrit« schrieb, die Diphtherie ausbrach und er seine Frau und zwei Söhne verlor. Er kannte das Elend der Seuche, die verheerende Bedürftigkeit der armen Bevölkerung, die verbreitete Trauer über die Opfer von Krankheit und Armut und die riesig aufgesperrte Schere zwischen Reich und Arm. Sein Roman ist – Emile Zola nehme mir das nicht übel – eine Art des J‘accuse. Ein weiterer Beleg stammt von Franz Kafka mit seinen surrealen Werken. Man kann ihn als Zeugen der Bürokratie betrachten. Ich beziehe mich auf seinen Hauptroman »Der Prozess« und einige andere seiner Schriften.

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Aspekt 10 Corona und der Bankrott des Sozialen

In seinem Roman sieht man einen jungen Mann, Josef K., der vom Gesetz verurteilt wurde, ohne es zu verstehen. Mehr und mehr verzweifelte er am Gesetz und der undurchdringlichen Bürokratie. Ein Zitat aus dem genannten Roman: »Die Fessel der gequälten Menschheit ist aus Kanzleipapier.« Er versucht nach seiner Verurteilung – er weiß nicht, warum und was die Strafe ist – verzweifelt, Zugang zum Gericht und zu einem verstehbaren Prozess zu finden. Doch das gelingt ihm nicht. Er beschäftigt sich immer öfter mit seinem Prozess, obwohl er anfangs das Gegenteil beabsichtigte. Er gerät dabei immer weiter in das albtraumhafte Labyrinth einer surrealen Bürokratie. Stecken auch wir darin fest? Wir leben in einer Welt der wunder­ baren Regelvermehrung. Was bedeutet das für unser Coronaproblem? Ein Beispiel: Ein Corona-Bus mit Intensivausrüstung, der vor Ort (Klinikum Freu­ denstadt) eingesetzt werden sollte, durfte nicht wegen der Stra­ ßenverkehrsordnung eingesetzt werden. Grund war, dass ein Bus wegen der Intensivausrüstung (Transport von Infizierten) einer anderen Regelung angehört und anders bezeichnet werden muss. Die Empfehlung des Gesundheitsministeriums wurde durch die Regeln der Verkehrsordnung unterlaufen, auch wenn das keinen Sinn macht. Wir erwähnten bereits den bürokratischen Rückstau der ersten Beschaffung von Impfstoff. Sinn geht nicht ohne Werte des Zusammen-lebens. Und genau das ist unser aktuelles Problem. Auch Corona ist ein Fall der Bürokratie. Unser Ziel ist nicht mehr, mit der Pandemie zurechtkommen, sondern wir, die von der Seuche bedroht sind, werden, wie Max Weber (1922, S. 130f) schrieb, aktenmäßig mit Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verlässlichkeit ver­ waltet. Ausnahmen zählen nicht. Zusammen-leben bleibt außen vor.

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Zusammen-leben im toten Winkel der Moral

Zusammen-leben im toten Winkel der Moral Es gibt zur Zeit von Corona ein dramatisches Beispiel: das Drama der ersten Besorgung von Impfstoff in den Ländern Europas. Brüssel hat die Versorgung nicht rechtzeitig organisiert, weil die Finanzierung dauerte und in den verschiedenen Ländern der EU und den USA verschiedene Datenschutzgesetze existierten. Büro­ kratie kann doch nicht wichtiger als Humanität sein. Oder doch? Und was geschieht mit den Benachteiligten? Etwa mit den Men­ schen in ärmeren Ländern? Und wer wird eher geimpft, die Briten, die Amerikaner, wir Europäer oder gar die ärmeren Länder? Sehen wir hinter dieser politischen Problematik das moralische Dilemma? Jedenfalls ist unser zentraler Wert der Gerechtigkeit dahin, der einst Garant des Zusammen-lebens war. Was ist eigentlich Gerech­ tigkeit, die oft als Totschlagargument herausposaunt wird? Beruht sie auf prozentual fairer Verteilung oder auf Gleichheit? Hält man solche Prinzipien für wichtig? Wenn ja, für wie wichtig? Noch eine kurze Bemerkung zum Impfdrama. Nicht das Chaos der Impfsubstanz ist mein Problem, sondern das Hin-und-Her der Impfmoral. Erst sollte man, aber man hatte nichts, dann hatte man was, aber es wurde gestoppt. Gemeint sind das Durcheinander und die Ungültigkeit der einander ausschließenden Richtlinien und die darauf folgende Orientierungslosigkeit. Wieder einmal kein Zusammen(!)leben. Das Gleiche gilt für kontroverse Vorschriften wie Abstandsre­ geln (klar!), aber nicht im überfüllten Bus, wenn die Geschäfte schließen. Sogar Korruption kommt im kultivierten Deutschland vor (vgl. Büschemann, SZ vom 13./14. März 2021), und zwar in Form von betrügerischer Maskenbeschaffung. Das ist aufregend genug, dahinter steckt jedoch eine Problematik, die Zusammenleben ausbootet: Unterlaufen des Schutzgebotes bzw. der Fürsor­ gepflicht und ihrer Gültigkeit. Das Fazit ist grundsätzlich. »Die Corona-Krise bietet das perfekte Klima der Korruption: Wo der Staat mit Geld um sich wirft, muss er mit Missbrauch rechnen« (Ebd.). Man darf Korruption nicht auf das individuelle Fehlverhal­ ten zurückrechnen. Je öfter so etwas vorkommt, desto schwächer

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Aspekt 10 Corona und der Bankrott des Sozialen

wird die moralische Basis des Zusammen-lebens. Sind die Bösen nur die Chaostruppe aus Berlin oder sind wir das auch?

Was schweißt die Menschen zusammen? Wir haben viel gesammelt, was unser Zusammen-leben behindert. Der Tenor ist klar: Zusammen-leben darf nicht aufgegeben werden. Warum? Es ist die Grundlage für unsere Würde. Nach Immanuel Kant besteht das Grundprinzip der Menschenwürde in der ● Achtung vor dem Anderen, ● Anerkenntnis seines Rechts zu existieren und ● Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Men­ schen (vgl. Bieri, 2016, S. 12–14) Darum fragt Peter Bieri: »Was alles kann man jemandem wegneh­ men, wenn man seine Würde zerstören will? Oder auch [positiv ausgedrückt, F.J.I.]: Was darf man jemandem auf keinen Fall weg­ nehmen, wenn man seine Würde schützen will?« (Ebd. S. 12)31. Das ist v.a. die Begegnung mit Anderen, also die Sozialität. Aus Berlin hört man weniger Moralisches, umso mehr die Blasen der über­ hörten Wissenschaften blubbern. Warum so hart? Ich finde es unerträglich, dass Politiker wis­ senschaftliche Expertisen oft ignorieren, etwa den Lockdown, den Wissenschaftler empfehlen, unterlaufen, um angebliche Interessen ihres Landes – woher wissen die das? – zu schützen. Streitereien gab es einst zwischen Spahn und Wieler, heute ist es die har­ monische Trias von Lauterbach, Wieler und Drosten. Und die Streitereien bleiben. Der litauisch-französische Philosoph Emmanuel Levinas sieht das Ich, so sein Buchtitel, nicht in der Vereinzelung, sondern »auf der Spur des Anderen« (Aufsatztitel im Buch von 2012). Haben wir die Spur des Anderen nicht längst verloren? 31 Peter Bieris Künstlername ist Pascal Mercier. Er war Philosophieprofessor zuletzt in Berlin.

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Was schweißt die Menschen zusammen?

Mir fiel ein Zitat aus dem Interview mit Robert Sutton (Bernd Kramer, Interview mit Sutton, SZ am 27./28. 2. 2021) auf, dem Organisationsforscher an der Stanford-University: »Je größer die Ungleichheit, desto mehr Scheußlichkeiten erlauben sich die Men­ schen«. Noch ein Grund, das Zusammen-leben für extrem wichtig zu halten. Wir müssen nicht nur den Egoismus der Individuen bekämpfen, sondern die politisch befeuerte soziale Ungleichheit.

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Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer

Vor allem Menschen am Rande der Gesellschaft litten in Zei­ ten von Corona. Haben wir das nicht wahrgenommen oder wollten wir das nicht wahrnehmen? Beides: Wahrnehmung ist interessenbedingt. Sind unsere Interessen Grund für unsere gestörte Aufmerksamkeit? Zusammen-leben ist nur möglich, wenn man auf die Lebensbedin­ gungen des Anderen achtgibt. Inzwischen wissen wir, dass immer mehr Bürger nachhaltige Schädigungen erfahren bzw. erfahren haben, die über Monate und v.a. bei psychischen Störungen über Jahre anhalten können. Das wurde leider oft nicht effektiv angegangen. Warum nicht? Das Problem ist unsere gestörte Wahrnehmung. Da denke ich vor allem an Kinder und Jugendliche sowie an psychiatrisch Erkrankte, an Menschen aus armen Schichten und an Behinderte. Wie und ob das mit Vorurteilen zusammenhängt, ist eine soziale Frage, die hier nicht diskutiert werden soll. Bleiben wir bei dem Ausdruck »Ran­ dunschärfe«. Sie ist eine Form der Ungenauigkeit der gruppenspezifischen Interessen und der Wahrnehmung insgesamt. Wenn wir über soziale Phänomene nachdenken, müssen wir mit solchen Verzer­ rungen leider immer und besonders bei der gegenwärtigen Pande­ mie rechnen. Dazu eine Graphik:

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Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer

Kinder/Jugendliche

Obdachlose

Arme

Gesellschaft

Unschärfe

. Psychiatriepat.

Behinderte

Unschärfe

Geriatriepat.

Die Mitte der Gesellschaft droht immer mehr zum Rand der Gesell­ schaft gedrängt zu werden, ist aber nicht mit den hier genannten Randgruppen zu vergleichen. Eine kurze Nebenbemerkung aus der Medizin. Immer schwä­ cher wird das Interesse der Gesellschaft, die ja für die Medizin zahlt. Fast alle Disziplinen der Medizin enden auf ...logie (Gynä­ kologie, Andrologie, Kardiologie usw.). Nur drei Gruppen, die in der obigen Graphik vertreten sind, enden mit ….iatrie (Geriatrie, Pädiatrie und Psychiatrie). ...logie bedeutet eine medizinische Wis­ senschaft. Disziplinen, die auf ….iatrie befassen sich stattdessen eher mit Praktischem und Behandlungserfahrungen. Behinderte fielen lange Zeit – das ändert sich mehr und mehr – aus dem medizinischen Raster heraus. Arme und Obdachlose passen nicht in das biomedizinische Schema, und man konzentriert sich auf sozialarbeiterische Interventionen, Spendenaktionen u.ä., es sei denn, man betrachtet die medizinischen Probleme als Folge der sozialen Probleme. Die Randunschärfen und die interessengelei­ tete Wahrnehmung sind also unser Problem. Hier einige Beispiele: Schäden bei Kindern und Jugendlichen ● Schwächen von Gesundheit, Bildung, Wohnen, Selbstentfal­ tung und Teilhabe, ● Für Kinder und Jugendliche unzureichender Lebensraum, ● Überforderung der Eltern durch Lehrerrolle, ● Bildung als Gemeinschaftsangelegenheit, ● Schwierigkeiten beim Aufbau von Peergroups,

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Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer

● Fehlende Berücksichtigung im Homeschooling von Fächern wie Musik, Sport, Kunst usw., die auf Interaktion angewie­ sen sind. Schäden bei Obdachlosen ● Keine ausreichende Möglichkeit, die Anordnung von Regeln (AHA, Testung usw.) zu erfahren, ● Keine ausreichende Möglichkeit, sich daran zu halten, ● Kaum Zugang zu Impfung, Schutzmasken und Testung, ● Unzureichende Wahrnehmung von Impfangeboten. Schäden bei psychiatrisch Erkrankten ● Gestörtes psychisches Gleichgewicht und Wahrnehmung von Verpflichtungen, ● Umgang mit Verstößen gegen AHA-Regeln und Quarantä­ neverordnung, ● Schwierigkeit in der Gestaltung sozialer Kontakte, ● Verlust von Autonomie durch zu intensives Krisenmanage­ ment. Schäden bei Menschen aus armen Schichten ● Wohnung in dicht besiedelten Stadtteilen, ● Für Ärmere ungeeigneter Lebensraum, ● Ärmere werden öfter infiziert als Reichere, ● Fehlender Zugang zu Impfung, Schutzmasken und Testung, ● Vielfach Berufe ohne Möglichkeit zu Homeoffice, ● Eingeschränkte technische Möglichkeit von Homeschooling. Schäden bei Behinderten ● Verzögerung der Impfung wegen eines fehlenden Impfkon­ zepts, ● Schwierigkeiten bei der Besorgung von Impfung, Schutz­ masken und Tests, ● Oft fehlende Einsicht im Tragen der Schutzmasken,

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Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer

● Oft ungenügender Kostenausgleich für Assistenz und Pflege in der Pandemie, ● Eingeschränkte Akzeptanz durch die Gesellschaft. Schäden bei Geriatriepatienten ● Geriatriepatienten als besonders vulnerable und priorisierte Personen, die aber oft auf die Sorge von Familienangehörigen oder gerichtlich bestellte Betreuer angewiesen sind, ● erschwerte Organisierung von Impfterminen für Geriatrie­ patienten, ● Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Quarantäneaufla­ gen, ● Mentale Einschränkungen bei Information von notwendigen Einschränkungen im Zusammen-leben. Die hier genannten Schäden – auf Beispiele begrenzt – sind nichts weiter als der Hinweis auf gestörtes Zusammen-leben. Ebenso stoßen wir auf eine Barriere, die wir unbedingt beheben müssen: den Migrationshintergrund. Um Probleme dieser Art wahrnehmen und bearbeiten zu können, müssen wir unsere eingegrenzte Wahr­ nehmung weiten. Randunschärfen Der Begriff »Randunschärfe« – ich kenne ihn aus der Fotographie – ist eher ziemlich laienhaft. Er umfasst zwei Beobachtungen: 1) Stereotype, d.h. starre, durch Informationen und Erfahrungen nur schwer veränderbare Annahmen über die angeblich typi­ schen Eigenschaften, die Individuen, Gruppen oder speziellen Personen zugerechnet werden. 2) Vorurteile, d.h. negative Einstellungen und Affekte gegenüber der jeweiligen Gruppe oder Personenkategorie – von leich­ ter Ablehnung bis zu offenem Hass. Sie setzen sich aus einer bestimmten Wahrnehmung und einer affektiven Kompo­ nente zusammen.

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Priorisieren – kennt man die Konsequenzen?

Stereotype und Vorurteile sind eine Falle des Zusammen-lebens. Vor allem in der Sozialpolitik geht es zwar um Zusammen-leben, aber leider nicht um die Randunschärfen. Wenn man dagegen anginge, würde sicher manch ein Problem entschärft.

Priorisieren – kennt man die Konsequenzen? Priorisierung ist ein zurzeit oft be- oder abgenutztes Fremdwort. Bekannt wurde es in Debatten um die Verteilung der meist finan­ ziellen Ressourcen in der Medizin oder insbesondere in der Organ­ transplantation. Gemeinsam ist dort das Grundproblem: wer bekommt was aus welchem Grund? Wichtig ist nicht nur, gute Kri­ terien für die Priorisierung zu finden. Eine große Rolle spielen politische Verteilungsprozesse von oben nach unten. Verteilung also von Makro-Ebenen wie Regierung und Ministerien zu MikroEbenen wie Krankenhaus und Abteilung. Die Regeln waren mehr oder weniger einsehbar, aber kannte man die Konsequenzen? (vgl. Schöne-Seifert, 2007, S. 177–186.) Verteilungsgerechtigkeit funk­ tioniert nur, wie man in den 1980ern sagte, mit eingebauter Lüge: Patienten wurde gesagt, es ginge nicht anders, man könne nichts machen o.ä. Die Wahrheit war jedoch: Die Gesellschaft wollte nicht. Wenn ich nach Hause fuhr, kam ich in der Nähe der Kinderklinik in Freiburg an einem Plakat für die kleinen Leukämiepatienten vorbei. Dort stand etwa: »Die Menschen fliegen zum Mond, aber können nichts gegen Leukämie machen«. Das klang bitter. Kön­ nen? Wenn man Gelder anders verteilte, könnte man das schon. Und wie ist das mit den anderen …iatrie-Gruppen: Geriatrie und Psychiatrie? Übertragen wir das Problem auf die Priorisierung in der Pande­ mie! Warum bekommt die Lufthansa neun Milliarden, und die Kinder und Jugendlichen, die man als Zukunft der Gesellschaft bezeichnet, nicht einmal die viel billigeren Belüftungsgeräte in Klassenräumen? Den Kindern bzw. ihren Familien Geld zu geben,

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Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer

setzt voraus, dass man die Probleme kennt und versucht, diese Probleme zu lösen. Was sind die Ursachen und Alltagssituationen der Infektion? Mit der Gießkanne durchs Land zu ziehen und wie der hl. Nikolaus den lieben Kindern Leckereien zu geben, ist nett. Aber es hilft nicht viel. Besonders arglistig erscheint das Dilemma bei der medizini­ schen Mittelverteilung: Wir priorisieren, aber für die Nicht-prio­ risierten haben wir nichts, höchstens den Psychiater. Wie viele ambulante und stationäre Psychiatrieplätze gibt es eigentlich? Leider viel zu wenige. Die jetzige Impfstrategie setzte anfänglich auf die Kriterien: höheres Alter und medizinische Dringlichkeit. Später wurden auch die jüngeren Altersgruppen zu Impfkandidaten. Hauptsache, der Nutzen musste größer sein als das Risiko, und alle rechtlichen und ethischen Hürden konnten ausgeräumt werden. War’s das? Ökonomie statt Ethik? Monetik statt Ethik?

Missstände und Wachsamkeit Sehr viele Missstände wurden wegen der Randunschärfen nicht wahrgenommen. Wachsamkeit ist gefordert. Aber was sagt der Begriff? Passt er für konkrete Probleme? Hannah Arendt vervoll­ ständigte den Begriff zu »aktive Wachsamkeit« (2020, S. 54) – sie meinte das v.a. für politische Zusammenhänge. Ehe man sich ver­ sieht und nicht wachsam ist, geht demokratisches Zusammenleben in die Binsen. Johann Baptist Metz, ein politischer Theologe, sprach, Arendts Zusammenhänge aufnehmend, von einer »Mystik der offenen Augen« (Buchtitel von 2011). Im Buch selber ist vielfach von Wachsamkeit und Aufmerksamkeit die Rede. Wie aufmerksam sind wir? Was fehlt am Zusammen-leben, wenn die aktive Wachsamkeit nicht da ist? Man könnte die Frage auch anders herum – also positiv und m.E. konkreter – formulieren: Was sehen wir besser, wenn wir wachsam sind? Hier einige Herausforderungen:

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Sensibilität für Andere

Sensibilität für Andere Weiß man, was andere wollen? Es ist zweifelsohne sehr wichtig, Dinge vom anderen zu wissen, bevor man mit ihm/ihr redet. Mein Kontrasterlebnis: Ich besuchte eine ältere Frau mit einer sehr gefährlichen Variante von Lungenkrebs. Warum muss gerade ich sterben, fragte sie. Hilflos wie ich war, erzählte ich ihr von Gottfried Wilhelm Leibniz und seiner »besten aller möglichen Welten«. Vor kurzem hatte ich eine Vorlesung über Leibniz besucht. War das spannend! Die Lebendigkeit war einseitig. Sie kannte Leibniz zwar, aber der interessierte sie überhaupt nicht, sie beschäftigte vielmehr, warum gerade sie sterben sollte und ob ihr Krebs wirklich nicht zu heilen war. Erst als sie gestorben war, merkte ich, wie unsensibel ich bei diesem Gespräch war. Sie beschäftigte das Sterben, mich die Inter­ pretation von Leibniz und sein Problem der Theodizee (= Verteidi­ gung Gottes). Warum sage ich das? Ich finde es typisch, nur das wahrzuneh­ men, was man als wichtig einschätzt. Es wird sogar gemein, dass die Interessen vieler Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, gar nicht wahrgenommen werden. Das sind die sog. »Unsichtba­ ren«. Und wir wissen kaum, was sie wirklich beschäftigt. Imponiert hat mir ein Argument von Immanuel Kant (2016 [1775], S. 35): der Mensch habe keinen Wert – ich war erschrocken. Aber dann kommt etwas, das ich nicht erwartet hatte: Er habe eine Würde. »Wert« würde bedeuten, dass der Mensch ge- bzw. verkauft und taxiert werden kann. »Würde« bedeutet, dass Kaufen, Verglei­ chen und Taxieren nicht dazugehören.

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Wem gehören Menschen? Natürlich gehen wir nicht zurück in Zeiten der Sklaverei. Aber es gibt Hinweise, die uns hellhörig machen. Beispiel: 133 Kinder starben 2016 in Deutschland durch Gewalt oder Vernachlässigung. In einer Befragung von 1992 geben noch rund 41 Prozent der 12- bis 18-Jährigen an, mit einem Stock versohlt worden zu sein. Die Frage taucht auf, ob Kinder und Jugendliche gewissermaßen Besitz anderer sind. Kinder sind angeblich unsere Zukunft. 1989 hat die UNO die sog. UN-Konvention für die Rechte der Kinder vorgelegt, die 1992 in Deutschland ratifiziert, aber noch immer nicht ins Grundgesetz aufgenommen wurden. Seit ca. 30 Jahren ist nichts passiert. Apro­ pos, Wachsamkeit? Aber nicht nur bei Kindern taucht dieses Problem auf. Die Frage begegnet im Recht immer dort, wo es zu Spannungen zwischen Menschengruppen und besonders zwischen den Interes­ sen Ärmerer, psychiatrisch Erkrankter sowie Behinderter und der Gesellschaft der angeblich Normalen kommt. Kurz und gut: Der Sinn dieser Rechte ist eine unbehinderte Entwicklungsfähigkeit mit dem Ziel, Interaktionsfähigkeit aufzu­ bauen. Dazu reichen nicht nur Paragraphen, sondern auch und vor allem Sympathie und mitfühlende Unterstützung. Und das ist das Problem von Corona: Je weniger wir von den Anderen und ihren Wünschen sowie Vorlieben verstehen, umso zerstörter wird das Zusammen-leben. Hier ein wunderbares Zitat von Pasolini, der zwar auf die bäuerliche Gesellschaft zurückblickt, aber die aktuelle Wertordnung bedauert. Er beschwört (2008, S. 126) die »Achtung vor dem anderen, die Selbstachtung war«. Werden die süßen Kleinen uns kreuzigen wegen unterlassener Hilfeleistung und wegen der kaputten Welt, die wir hinterlassen haben? Tun das die anderen, für die wir uns nicht eingesetzt haben? Und wie gehen wir mit den vergessenen Opfern der Pandemie um? Hoffentlich gibt es kein Fortleben nach dem Tode. Sonst hätten wir sicher schlechte Karten.

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Ich-selber sein

Ich-selber sein Die Wahrnehmung des Anderen ist Voraussetzung einer geglück­ ten Koexistenz, die von Gleichberechtigung geprägt ist. Im sog. dia­ logischen Personalismus von Martin Buber bis Emmanuel Levinas ist grundlegend: Ein Du ist nötig, dass jemand ein Ich wird. Bei allen Randgruppen unserer Gesellschaft wird die Entfaltung oder Stabilisierung dieses Ichs ein erschwertes Problem. Beunruhigend ist, dass Leben unter Bedingungen von Corona immer mehr eine Interaktion fordert, die auf einem stabilen Ich-selbst mit sozialen Bedingungen beruht, was leider immer bedrohter wird. Hier nur einige Hinweise: Die sog. Vulnerablen wurden bis Mai 2021 bei der Impfung vorgezogen. Übrigens, jetzt sind die Jüngeren gefährdeter als die ersten besonders vulnerablen Gruppen, auch wenn die Erkrankung meist leichter verläuft. Umdenken ist fällig. Plötzlich ist Vulnerabilität weniger wichtig als Gerechtigkeit. Wie kommt denn das? In seinem Roman «Die Schopenhauer-Kur» – Schopenhauer war ein sehr melancholischer Mensch – schrieb Irvin D. Yalom, Begründer der Gruppenpsychotherapie, vor dem 35. Kapitel (aus dem handschriftlichen Nachlass von Schopenhauer) einen Satz von Schopenhauer: »Wenn ein Mensch so wie ich geboren ist, bleibt von Außen nur dies Eine zu wünschen, daß er so viel als möglich seine ganze Lebenszeit hindurch, und jeden Tag und jede Stunde er selber sein und nach seinem Geiste leben könne«. Können wir ein Ich-selber sein, wenn wir unter den Bedingungen der Pandemie leben müssen und jeder immer mehr auf sich-selber aufpassen muss – reicht das? Ohne ein Du – sagen wir stattdessen: ohne Mitwelt – gibt es kein Ich.

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Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer

Helfen Regeln? Selbst manch ein Ethiker kriegt trotz Begeisterung für Regeln nicht mehr auf die Reihe, was – wann – wo – warum – gilt. Aber nichtsdestotrotz: Regeln sichern Zusammen-leben. Sie koordinie­ ren Interessen, schlichten Konflikte, beugen Misshandlung vor, sichern Ordnung usw. Aber nicht, wenn Regeln selber durcheinan­ dergeraten sind. In einer Diskussion mit einem analytischen Psychotherapeuten diskutierten wir bei einem Seminar auf der Uni über das Problem, ob Regeln helfen. Es ist wichtig, dass Regeln flexibel angewendet werden können. Ethisch gesehen werden Prinzipien des guten Ver­ haltens leicht zur Prinzipienreiterei. Den eigenen Willen zu entwi­ ckeln, ist ein guter Ansatz, Heteronomie aufzugeben. Man muss überlegen, wer ich sein bzw. werden will, und man muss das Hilf­ reiche an Regeln erlernen. Dazu gehört moralische Reife, Regeln zu übertreten. Nur so kann Zusammen-leben zustande kommen. Regeln sind eine Stütze, aber man darf sie nicht zur Tyrannei entarten lassen. Sie helfen, aber sie dürfen uns nicht bevormunden. Sie sind »ein ständiger Sollensanspruch an die menschliche Frei­ heit« (Pieper, HPG 1973, S. 1020), also eine Art Stütze, die man ständig überprüfen muss. Aber ohne Du geht das nicht.

Verhängnis durch Stereotype und Vorurteile Zusammen-leben beruht auf Kontakt. Je mehr Kontakt verzerrt wird, desto weniger funktioniert Zusammen-leben. Verzerrung kommt durch Wahrnehmungseinschränkung zustande. Wenn man die ethische Komponente, oft unter dem Stichwort «Diskriminie­ rung», bedenkt, führen Randunschärfen zu »Vorenthalten« von Grundrechten und Zuschreibung von »Minderwertigkeit« (Voss­ enkuhl, LE 2008, S. 52). Ich berufe mich auf Francis Bacon, einen sehr kritischen Geist aus dem 17. Jahrhundert. Er opponierte gegen die bekannten

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Verhängnis durch Stereotype und Vorurteile

Philosophieschulen, die die Wahrnehmung der Umwelt, v.a. der Natur behinderten. Dazu schrieb er ein Werk über die neue Organisation des Wis­ sens. Von ihm stammt der wichtige Ausdruck »Wissen ist Macht«. Bei ihm findet man auch den Hinweis, dass Wissen auch den sozia­ len Plausibilitätszusammenhang braucht. Entsprechend steht in seinem »Organon« der wichtige Teil über die sog. Idolenlehre (1981 [1620] S. 43–45). Sie meint folgendes: Menschen unterliegen Bil­ dern, die tief im sozialen Zusammenleben wurzeln. Unsere Wert­ schätzung und Plausibilität der Dinge können also eine Art Erkenntnisverzerrung sein, wenn der Denker nicht wirklich denkt. Das ist m.E. vergleichbar mit den Begriffen »Vorurteil«, »Stereo­ typ« und »Ideologie«. Bacon unterscheidet vier Arten von solchen Idolen. Als erstes nennt er das Idol der Benennung von Dingen, deren Begriff nicht mit dem übereinstimmt, was es ist. Bedeutungszusammenhang ist nicht gleich Verwendungszusammenhang. Die zweite Art des Irrtums ist die der individuellen Einstellungen, der Erziehung, des Milieus und der Abhängigkeit von Autoritäten. Die dritte Art wird als Idol des Marktes bezeichnet, das sozialen Beziehungen, sprachlicher Kommunikation und verbalen Assoziationen folgt. Die vierte Irrtumsgruppe wird von weltanschaulich fundierten philosophischen Systemen, Weltbildern und gängigen Argumen­ tationsmethoden geprägt. Alle Idole haben nach Bacon einen Entstehungsgrund in der zwischenmenschlichen Kommunikation und Wahrnehmung. Ver­ wirrend ist, dass er von Idolen der damaligen Gesellschaftsordnung schrieb. Auch für die Gegenwart ist wichtig zu bedenken, dass all unsere Ideen und Probleme einen Zusammenhang von Interessen und Ordnung haben. Begriffe sind Größen, die unsere Wahrneh­ mung prägen und immer Ordnungsinteressen unterliegen. Das gilt für uns, die wir Zusammen-leben wollen und zu wissen vorgeben, was Zusammen-leben ist. Es beruht auf Ideen von Ordnung und dazu passenden Interessen. Das gilt auch für die, die Regeln aufstellen, aber nicht wirklich wissen, was Regulierung und

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Aspekt 11 Randunschärfen und vergessene Opfer

deren Sanktionierung impliziert. Das gilt auch für die, die gegen Regeln generell und insbesondere Coronaregeln sind. Genau in diese Falle der Stereotypen und Vorurteile sollten wir nicht tappen. Es geht nicht nur um Vernunft, sondern um Zusammen-leben. Das vergessen wir leicht.

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Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein« (Hannah Arendt) und die Krise des Zusammen-lebens

Ohne Zusammen-leben ließe sich Freiheit nicht einmal denken. Die aktuelle Coronapolitik legt Grundgesetzartikel, wenn auch zeitlich begrenzt, auf Eis. Kritiker der Freiheitseinschränkung berufen sich auf Freiheit, nicht aber auf Zusammen-leben. In der Überschrift benutzte ich eine Sentenz von Hannah Arendt,32 eine jüdische Philosophin, die in der NS-Zeit 1941 in die USA aus­ wanderte. Bekannt wurde sie durch den Eichmannprozess (»Bana­ lität des Bösen«). Freiheit und das Recht der Menschen sah sie als grundlegend wichtig an und angewiesen auf politische Umsetzung. Aber wie auch immer: Freiheit als Recht, frei zu sein, ist nicht nur politisch zu verstehen, nicht nur Resultat von Revolutionen, wird getragen von einer Art Stolz, Mensch zu sein. Wir können nur, schreibt sie am Ende ihres Essays, »allenfalls darauf hoffen, daß die Freiheit in einem politischen Sinn nicht für weiß Gott wie viele Jahrhunderte von dieser Erde verschwindet« (Ebd., S. 42). Hoffen wir, dass auch Corona unser Freiheitsrecht nicht untergräbt. Zweifel tauchen auf: Nicht mehr der Schutz der Freiheit und unser Zusammen-leben wird zum Problem gemacht, sondern das Verständnis der Paragraphen. 32 Essay von Arendt mit diesem Titel, posthum entdeckt und publiziert 2018 in Washington, deutsche Übersetzung 12. Aufl. 2020.

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Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein«

Das beflügelte mich, Arendt als Kronzeugin für die Bedeutung der Menschenrechte herzunehmen Es ist ihre wiederholte Inten­ tion, sich nicht als Philosophin bezeichnen zu lassen (auch wenn sie eine war), sondern als Denkerin und Historikerin. Sonst hätte sie sicher nicht Arbeiten über Augustinus bis hin zu verschiedenen Revolutionen in ihr Denkrepertoire unterbringen können. Ihre Nachdenklichkeit habe ich gerne übernommen. Das Auftreten von Corona brachte Einschränkungen von Grundrechten mit sich, die als Freiheits- und Sozialrechte ins Grundgesetz aufgenommen wurden. Sie gehören zu den Men­ schenrechten, deren Formulierung und Fixierung eine Jahrhun­ derte alte Traditionen haben. Viele Menschen haben im Kampf für diese Menschenrechte ihr Leben geopfert. Dieser Blutzoll bestätigt die Wichtigkeit, in Freiheit zu leben. In der Zeit von Corona wird über die Einhaltung dieser Rechte vielfach diskutiert. Den einen ist das ziemlich belanglos. Andere, vor allem Anhänger der Opposition und diejenigen, die den Quer­ denkern nahestehen, finden die Einschränkungen von Grundrech­ ten skandalös. Beides reicht mir nicht. Eine juristische Debatte führt in diesem Zusammenhang kaum weiter, hier geht es um die Bedeutung von Zusammen-leben, und dafür reicht Jurispru­ denz nicht. Wir debattieren nicht über Begriffe, sondern um das, was gemeinsames Leben ist. Und das wird m.E. nie zum Thema gemacht. Im Grundgesetz (Art. 20, Absatz 4) heißt es: Gegen jeden, der es unternimmt, die [demokratische, F.J.I.] Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Widerstand o.k., aber Widerstand darf nicht den Sinn der Demo­ kratie infrage stellen, auf deren Basis unser Zusammen-leben steht.

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Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein«

Die Regierung hat dazu das Infektionsschutzgesetz (IfSG)33 erlas­ sen. Sein Zweck (Artikel 1) ist die »hierfür notwendige Mitwirkung und Zusammenarbeit von Institutionen des Bundes, der Länder und der Kommunen, […] sowie sonstigen Beteiligten« aus den betroffenen Wissenschaften. Es gibt Situationen, die zwar ein Merkmal der Freiheit einschränken, aber nicht die Freiheit der Person unmöglich machen, die im Grundgesetz (Art. 2. Abs. 1 und 2) folgendermaßen definiert wird: Art. 2 umfaßt die folgenden Absätze »(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Per­ sönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittenge­ setz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrt­ heit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.« Jedwede Einschränkung braucht laut IfSG ● eine zeitliche Begrenzung, ● den Nachweis, dass kein anderer Mensch geschädigt wird und ● dass sie keine negative Auswirkung auf die gesellschaftliche Ordnung hat und, ● eine parlamentarische Zustimmung. Interessant ist, dass das IfSG in seiner Revision von 2021 den Infektionsschutz debattieren sollte. Aber etwas sehr Wichtiges fehlt: die Selbstverantwortung der Bürger, im Sinne von Arendt gefragt: Kann es Freiheit ohne die Freiheit der Selbstverantwor­ tung geben? IfSG (Infektionsschutzgesetz) heißt: Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen. Die hier zitierte Änderung wurde am 12.11. 2021 (BGBl. I, S. 370) vorgenommen.

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Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein«

Zunächst müssen wir uns die Frage stellen, ob das Grundrecht der Freiheit eine Grundbedingung für das Zusammen-leben ist:

Kann man ohne Freiheit zusammenleben? Menschliches Leben ist, schreibt Arendt, »so viel wie ›unter Men­ schen weilen‹“ (2002, S. 15). Zusammen-leben kann man sich ohne Erfahrung von Freiheit nicht vorstellen, weil Beziehung dem Recht auf Freiheit vorausgeht. Menschenrecht stabilisiert Bezie­ hung, und Beziehung führt allemal zum Menschenrecht. Es dient zur Identifizierung dessen, was unser Zusammen-leben bestimmt, und zur Abwehr staatlicher Übermacht, welche die Selbstbestim­ mung einzelner Personen einschränkt. Arendt setzt noch eins drauf mit ihrem Zitat (2002, S. 252f): »Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen. [...] Die einzige rein materielle Vorbedingung der Machterzeugung ist das menschliche Zusam­ men selbst«. Aber dieses Zusammen scheint es nicht mehr zu geben. Kann man das reparieren? Die Grundrechte haben letzten Endes den Sinn, die Selbstent­ faltung des Menschen zu fördern. Und dazu gehört, mit anderen zusammen leben zu können. Und das ist ein Problem offener oder eingeschränkter Beziehungen. Je verringerter die Funktion der Grundrechte wird, desto eingeschränkter und geringer wird die Möglichkeit eines zufriedenstellenden Zusammen-lebens.

Bedrohung durch das Verantwortungsparadox? Dieses Paradox und sein Begriff sind mir aus der Biomedizin bekannt, es wird, wenn auch etwas umgewandelt, in der Unterneh­

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Die Grundrechte haben letzten Endes den Sinn, die Selbstentfaltung des Menschen zu fördern. Und dazu gehört, mit anderen zusammen leben zu können. Und das ist ein Problem offener oder eingeschränkter Beziehungen. Je verringerter die FunkBedrohung durch das Verantwortungsparadox? tion der Grundrechte wird, desto eingeschränkter und geringer wird die Möglichkeit eines zufriedenstellenden Zusammen-lebens.

mensberatung sowie der psychologischen Beratung angewandt. Je mehr Regeln und externe Kontrollmechanismen, umso leichter die Entstehung von Hilflosigkeit bei den betroffenen Individuen. Die Bedrohung durch das Verantwortungsparadox? Flut von Verboten und Regeln führtmir zum Dieses Paradox und sein Begriff sind aus Verantwortungsverlust der Biomedizin bekannt, es wird, der Betroffenen. wenn auch etwas umgewandelt, in der Unternehmensberatung sowie der psycholoKommen wir angewandt. speziell aufJeCorona zurück: Regularien von gischen Beratung mehr Regeln undDie externe Kontrollmechanismen, umso leichter die Entstehung von Hilflosigkeit den Verboten betroffenenführen Individuen. Die Berlin samt Regeln, Sanktionen und Ge-bei bzw. Flut Kontrollverlust, von Verboten und auch Regeln führtdas zum Verantwortungsverlust Betroffenen. zum wenn Gegenteil angezielt ist.der Gerade wenn sie nicht den gewünschten ErfolgDie haben, entsteht bei Regeln, Kommen wir speziell auf Corona zurück: Regularien vonvielfach Berlin samt Sanktionen Gebzw. Verboten führen zum Führt Kontrollverlust, auch wenn das Geden Bürgernund das Gefühl der Inkompetenz. das zur Rebellion genteil angezielt ist. Gerade wenn sie nicht den gewünschten Erfolg haben, entsteht oder zum Zusammen-leben? vielfach bei den Bürgern das Gefühl der Inkompetenz. Führtin das zur Rebellion oder Demonstrieren wir dieses Verantwortungsparadox einer Gra­ zum Zusammen-leben? phik: Demonstrieren wir dieses Verantwortungsparadox in einer Graphik:

desto weniger bei den Bürgern

Verantwortung Je mehr „Verantwortung“ beim Staat

In der gegenwärtigen Pandemie bedeutet das: „Je mehr der Staat seine Verantwor-

tung umso mehr Verantwortung“ 57)Staat nimmt er den In derausdehnt, gegenwärtigen Pandemie bedeutet(Brenner, das: »Je2020, mehrS.der Bürgern weg, d.h., sie bekommen Rollen zugewiesen, in denen sie keine Verantseine Verantwortung ausdehnt, umso mehr Verantwortung« wortung mehr tragen bzw. nur noch Vorschriften befolgen Bürger werden (Brenner, 2020, S. 57) nimmt er den Bürgern weg, d.h.,dürfen. sie bekom­ degradiert zu Rollenträgern. Andreas Brenner sieht in der Zuschauerposition darin men Rollen zugewiesen, in denen sie keine Verantwortung mehr tragen bzw. nur noch Vorschriften befolgen dürfen. Bürger werden degradiert zu Rollenträgern. Andreas Brenner sieht in der Zuschauerposition darin das Entstehen einer »Schockstarre« (Ebd., S. 36). Selbstverantwortliche Bürger werden weniger. Statistiken über Zustimmung bzw. Ablehnung der Coronaregeln des States erfassen das nicht.

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Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein«

Die Freiheit, frei zu sein? Warum hat das so lange gedauert, bis den Menschen Freiheits­ rechte zugestanden wurden? Reichen die ersten Versuche zurück bis zur Magna Carta in England (1215) oder beginnen sie 1689 mit der Englischen Bill of Rights bzw. mit der Virginia Bill of Rights aus dem gleichen Jahr oder mit der Französischen Revolution (ab 1789) und ihrer berühmten Formel von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Vorher und in den Auseinandersetzungen mit der Französischen Revolution gab es viele Konflikte und Aufstände gegen die absolute Autokratie der Herrscher. Menschenrechte basieren auf der Tatsache, dass Menschen als Menschen Rechte haben. Sie können nicht von Institutionen zuge­ standen werden. Das Recht auf Freiheit ist der erste und wohl auch grundlegendste Artikel der Menschenrechte. In der Erklärung der Menschenrechte von 1948 findet sich folgende Präambel: »Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, […] verkündet die Generalversamm­ lung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten […]« Dieses Ideal ist großartig, fordert Zusammen-leben. Aber taugt es auch für die Praxis? Hannah Arendt mit ihrem Konzept vom »Recht, Rechte zu haben« (vgl. 2008, Kap. 9) schreibt, dass das entrechtete Individuum »seinen angestammten Platz in der Gesellschaft und seine […] Beziehungen zu dem Mitmen­ schen verloren« hat. Damit das Individuum Rechte haben kann, muss die Gesellschaft Zusammen-leben gewährleisten. Es geht ja nicht um Machtzu­

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Woher kommen die Grundrechte?

schreibung, sondern um die Sicherung der Rechte. Geschieht das in Zeiten unserer Pandemie? Trotz aller Kritik an einem kohärenten demokratischen Konzept und ihrer Umsetzung der Menschenrechte in der politischen Praxis kann man in den Grundrechten ein wirkliches Freiheitsrecht sehen, das Machtverzicht fordert und ausbaut. In der Menschenrechts-Präambel wird auf weitere Aspekte hin­ gewiesen: »[…) da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschen­ rechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, daß einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt […]« ist das Freiheitsrecht an oberster Stelle zu beachten. Ich sehe darin nicht das Problem, dass Freiheitsrechte für eine definierte Zeit beschnitten werden. Man sollte sich in der Deu­ tung der Freiheitsrechte nicht auf das Wort »Freiheit« kaprizieren. Freiheit gilt für die, die darauf pochen, aber auch für die, die eventuell, wie es in der Präambel heißt, von Furcht und Not bedroht werden. Menschrechte gelten immer in Gegenseitigkeit, oder sie sind Unfug.

Woher kommen die Grundrechte? Wer erlässt Menschenrechte/Grundrechte? Eigentlich niemand, weil Grundrechte allen Menschen gehören und nicht irgendwel­ chen Menschen, die dazu die Macht haben. Sie kommen »allen Individuen zu« und haben insofern »universalen Charakter«, schreibt der Politikwissenschaftler Ulrich Weiß (1997, S. 231). Was also ist ihr Ursprung? An folgende Bereiche (vgl. ebd., S. 226–234) ist zu denken:

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Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein«

Metaphysik: Gottgeschaffenheit und Gottebenbildlichkeit als Grundbestand des Christentums und anderer Religionen. Humanismus: Der Mensch wird zum Subjekt, Entthronung jeden Souveräns, der nicht von den Subjekten bestimmt wird. Intelligible Welt: Der Mensch hat die Fähigkeit zur gegenseitig geltenden Moral und zur Welt- und Beziehungsgestaltung. Ernst Bloch weist auch auf viele Vorgängermodelle hin. Freiheit ist nicht vom Himmel gefallen. Seine Liste beginnt mit der Natur­ rechtslehre im antiken Rom, mit dem relativen Naturrecht des Thomas von Aquin (13. Jahrhundert) und den neuzeitlichen Natur­ rechtslehren. Wenn man das nicht beachtet und Menschenrechte erst im letzten Jahrhundert beginnen lässt, wird es eine Idee unter vielen anderen. Der Stellenwert der Menschenrechte ist damit klar. Sie sind vorstaatliche Rechte, kommen uneingeschränkt jedem Menschen zu, und niemand kann dieses Recht jemals verlieren. Gegenüber allen Organisationen (Gruppen und insbesondere Staaten) sind sie geschützt. U. Weiß weist darauf hin, dass wir jede Art von Grundrechts­ einschränkung – Relativierung der Freiheit, Rassismus, Nationa­ lismus usw. – vermeiden müssen. Menschenrechte gelten für alle oder überhaupt nicht. »Sie setzen auf den Gefühlsraum eines ›wir‹, in dessen Zusammenhang sich die Plausibilität menschenrechtli­ cher Normen als praktischer Habitus ergibt« (Weiß, 1997, S. 238). Die Praxis der Menschenrechte wird verschlissen, sie geht mehr und mehr schleichend zu Bruch, je stärker Freiheitsrechte und damit Zusammen-leben zur Diskussion gestellt werden.

Bedrohte Rechte als Flop des Zusammen-lebens Die Pandemie und ihren Zusammenhang mit dem Grundgesetz kann man nicht hoch genug ansetzen. Ähnlich bedeutungsvoll

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Bedrohte Rechte als Flop des Zusammen-lebens

ist, dass der Zusammenhalt der Menschen aktuell durch Corona gefährdet wird. Die Schriftsteller Juli Zeh und Ilja Trojanow schrie­ ben in einen offenen Brief – Anlass war das Abhörproblem, aber es betrifft, wenn auch nur indirekt, unser Coronaproblem: »Demokra­ tie ist nicht die Methode zum Ermitteln des besten Ergebnisses«. Welche Regel taugt am meisten für den Infektionsschutz? Das ist nicht die Perspektive der Demokratie, ihre Perspektive ist das Wohl der Menschen und ihr Zusammen-leben. Der Brief der beiden Schriftsteller hat mich fragen gelehrt, ob Zusammen-leben nicht eine grundsätzliche Bedeutung für die Gesellschaft hat. Wir reflektieren das Pandemieproblem nicht deswegen, weil wir um Machtanteile kungeln. Wir wollen handeln, und dabei das Interesse am Zusammen-leben schützen. Orientie­ rung gibt uns das Menschenrecht. Was aber machen wir, wenn wir die Berliner Regeln kritisieren? Vier Möglichkeiten sind wichtig, die ich nach Jürgen Habermas formuliere (vgl. 1999, S. 277–299). Kritik der Regeln muss fol­ gende Möglichkeiten beachten: 1) »Reflexion eines sittlichen Zusammenhangs« Ob eine Regel mit der moralischen Ordnung, die sicher auch auf Menschenrechten aufbauen muss, zusammenhängt, ist zu klären. Demonstrationen sind keine Reflexion, eher ein Macht­ geschacher ohne Diskursbereitschaft. 2) »Demokratische Meinungs- und Willensbildung« Eine Regel kann nur dann legitim sein, wenn sie auf der Mei­ nung und dem Willen aller Betroffenen basiert. Regelkritische Willensbekundungen dürfen keine Gruppenmoral sein, welche die Beachtung der Regeln für die ausschließt, die nicht zur Gruppe gehören. 3) »Rationalität« bedeutet nachvollziehbare Begründung durch vernunftgelei­ tete Argumente, die allen verständlich sind oder verständlich gemacht werden. M.E. liegt diese Verstehbarkeit total brach.

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Aspekt 12 Die »Freiheit, frei zu sein«

4) »Kompromissbildung« Kompromisse sind Interessensausgleich mit dem Signal zur Kooperationsbereitschaft. Kompromisse setzen voraus, dass keine der Seiten sich für die einzig richtige hält. Diese vier Optionen sind vor dem Hintergrund der Grundrechte formuliert. Sie sind Leitlinien für unser derzeitiges Regelchaos. Den Regelkritikern seien sie ins Stammbuch geschrieben, aber ebenso auch der Regierung. Zwar wird sie von einer repräsentati­ ven Demokratie geleitet, jedoch ist der Anteil an direkter Demokra­ tie sehr gering. Diese ist umso sinnvoller, je stärker Meinungs- und Willensbildung der Bürger ist. Aus der Zeitkolumne von Mely Kiyak las ich, dass das Grund­ gesetz – metaphorisch ausgedrückt – ein »Erziehungsleitfaden« bzw. ein »Fortsetzungsroman mit Bürgerbeteiligung« (ZEIT, 27. 5. 2019, Artikel zu 70 Jahre Grundgesetz) ist. Das Grundgesetz entstand nicht als Gemeinschaftsarbeit von Leuten mit Spaß an intelligenten Entwürfen, sondern nach der NS-Zeit aus den »Trüm­ mern der Menschlichkeit«, es ist auch heute noch die »Summe aus Schmerz, Scham und Schuld« (Ebd.). Wir dürfen es nicht zum Spielball von Machtinteressen machen. Wo ist der Erziehungsleitfaden? Digitaler Unterricht ist nicht wirklich Erziehung. Unterricht in Politik findet da eher nicht statt – vor Corona auch nicht, und jetzt wird er zu knapp. Rechnen kann warten, aber Demokratie nicht. Sie ist sehr wichtig, vor allem, weil sie das Fundament des Zusammen-lebens ist, aber immer mehr in Gefahr gerät. Wir brauchen Leitlinien für die gesellschaftspolitische und moralische Stabilisierung unseres Zusammen-lebens in Zeiten der Pandemie und auch für die Reorganisation des Zusammen-lebens nach der Pandemie. Dazu gehört die Kritik der Freiheitsbeschrän­ kung, aber auch ihr Sinn, der das bedrohte Zusammen-leben berücksichtigt. Machen wir uns über beides Gedanken?

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Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst

Was macht Corona mit unserem Zusammen-leben? Keine Frage: Es löst konkrete Ängste aus. Angst verstehen wir meist im psychiatrisch-psychologischen Sinn, aber sie ist mehr. Was sind die Ebenen der Angst und wie gehen wir mit Angst um? Und was bedeutet Angst für unser Zusammen-leben? Hat sie uns kalt erwischt? Dass Corona bei uns Ängste auslöst, wird immer öfter gesagt. Zum Beispiel ist das die wirtschaftliche Gefahr des Bankrotts, was natürlich auch eine wichtige Störung des Zusammen-lebens ist. Aber da ist noch mehr: Z.B. Ängste im Zusammen-leben von Familien und Freunden. Die Angst, dass eine Lebensphase (Schule, Ausbildung, Studium, Lebensalter) nicht gelingt. Sowie die Angst, infiziert zu werden oder eventuell für längere Zeit oder sogar für immer schwer geschädigt zu bleiben. Selbst mit dem Tod, dem eigenen und von denen, die wir lieben, ist zu rechnen. Das darf sicher nicht verschwiegen werden und wird es auch nicht. Von alldem, was uns Angst macht, wird viel berichtet, manchmal sogar zu viel. Es entsteht der Eindruck, als ob es vor Corona keine Angst gegeben hätte. Aber früher wie heute fehlt etwas. Angst kann man nicht ausmerzen. Man denke an Versiche­ rungen oder an die sog. Netze, die all die auffangen sollen, die in Not (wie Unfall, extreme Wetterlagen usw.) geraten sind usw. Ist das Katastrophenabwehr – mag sein, aber Katastrophen werden damit ja nicht verhindert – oder Angstabwehr?

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Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst

Unterwegs zur angstfreien Gesellschaft: The last best hope of earth (Abraham Lincoln) Die Überschrift klingt falsch, eine angstfreie Gesellschaft gibt es nicht. Und doch ist das Ziel des Fortschritts eine angstfreie Welt. Die Bekämpfung der Angst (vgl. Maciejewski, 2022, S. 80–92) auf unserer Erde ist die wichtigste unserer Hoffnungen. Dazu sollen laut dem amerikanischen Präsidenten Lincoln Technik und beson­ ders Sozialtechnik dienen. Gleich, was die Zukunft und ihre Hoffnung sind: endloser (?) Fortschritt, Rückkehr zum glücklichen Anfang, Einhalt einer katastrophalen Entwicklung. Fortschritt scheint immer gut zu sein und angstfrei zu werden. Eine kurze Bemerkung zu den sog. Querdenkern. Sie kritisie­ ren – m.E. mit Recht – den Weg in den angstfreien Fortschritt. Aber dann: Corona sei fast so ungefährlich wie bestimmte grip­ pale Infekte, Behandlungen ohne Impfung seien möglich, AHARegeln Unfug usw. Was heißt das? Etwa ein Drittel34 unserer Gesellschaft – zumindest in Deutschland – sind unterwegs in die angstfreie Welt. Deswegen ist das Emporlodern der Angst in Zeiten der Pande­ mie erschreckend. Sie wird als Untergang der Fortschrittsideologie empfunden. Aber – was für einen Sinn hat das, an den Sieg des Fortschritts über die Angst zu glauben, zugleich aber auch zu fürchten, von ihr befallen zu werden?

Angst in Zeiten von Corona Angst »zieht uns runter«, Corona zeigt uns das immer mehr. Aber wissen wir, was hinter dieser Angst steckt und was sie so bedrohlich macht? Angst kann man nicht »wegmachen«, man muss mit ihr leben. Die vielen Wellen von Corona scheinen uns das zu lehren. 34

Ungefähre Angabe aufgrund von geschätzten Querdenkeranteilen.

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Angst in Zeiten von Corona

● Angst vor der Infektion COVID-19 betrifft v.a. die Atemwege, aber auch andere Organsys­ teme wie das Herz-Kreislauf-System, das Nervensystem, Leber und Nieren können betroffen sein. Häufig sind Husten, Fieber, Schnupfen, Halsschmerzen sowie Störungen des Geruchs- und/ oder Geschmackssinns. Beobachtet werden auch Atemnot, Kopfund Gliederschmerzen, allgemeine Schwäche oder auch MagenDarm-Beschwerden wie Übelkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Durchfall. Schwere Krankheitsverläufe und Komplikationen an verschie­ denen Organsystemen sind möglich, die teilweise lebensbedroh­ lich werden können. Sie werden auch bei Personen mit gravie­ renden Vorschädigungen oder chronischen Erkrankungen oder geschwächter Immunabwehr beobachtet. Zu Beginn (2020) war es der Aufruf des »Act now« wegen der hohen Inzidenzsteigerung von Corona, die zurzeit nicht mehr festzustellen ist. Mal gehen die Zahlen hoch, mal gehen sie runter, und neue Varianten kommen. Act now? Oder besser: schnell und angemessen handeln? Aber das kostet Zeit. ● Angst vor dem wirtschaftlichen Aus Schön war es, als der erste Lockdown zuende war: Angestellte der Restaurants (und andere) freuten sich, dass sie endlich wieder arbeiten konnten. Als Gast dachte man, dass solch eine Arbeit – und dann auch noch mit Maske – doch nicht zufrieden macht. Aber das stimmte nicht. Zufrieden macht, dass man weiter beschäftigt ist, Geld verdient, sich selbst oder seine Familie versorgen kann, etwas tut, was Anderen nützt usw. Ist das wieder weg? Angst sickerte in alle Bereiche des Arbeitslebens: Denken wir an die Angst vor dem Ende der Wirtschaft: Kurzarbeit, Entlassung, Schließung von Unternehmen, Ende von Neugründungen, die Not von Solisten und Künstlern, die nicht mehr auftreten können usw. Angst regiert das Leben. Wirtschaft ist ein wichtiger Komplex der Arbeit, sie garantiert Wettbewerbsfähigkeit, Austarieren von Löhnen zwischen Arbeit­

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Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst

gebern und Gewerkschaften usw. Finanzielle Unterstützung der Unternehmen als ein Teil der Wirtschaft wird garantiert. Was ist aber mit den anderen Komponenten der Wirtschaft? Kommen Arbeiten-können, etwas leisten, sich etwas zutrauen usw. dabei unter die Räder? Wie es scheint, steigert Corona den Abbau des Zusammen-lebens. Angst wird zur Vokabel der gängigen Rhetorik. ● Angst vor misslingenden Lebensphasen Mindestens genauso schlimm ist die Angst, dass die Lebensphase, in der man sich gerade befindet, nicht glückt. Wenn Ziele weg­ brechen, werden Angst und als Folge Aggression immer größer. Beschreiben wir einige Situationen, in denen Angst die Situation verdunkelt. Das sind z.B.: von Gewalt geprägte Situationen, denen Kinder meist ohnmächtig ausgesetzt sind; von Gewalt geprägte Situationen, vor denen Eltern Kinder nicht schützen können; wenn Kinder nicht verstehen, was Quarantäne ist, warum sie zu Hause bleiben müssen und nicht in die Kita usw. dürfen wie früher; wenn Berufswahl nicht klappt; wenn die feste Anstellung oder deren Weiterführung in den Sternen steht bzw. die langersehnte Höhergruppierung verschoben wird; wenn Partnerwahl wegen finanzieller Probleme nicht möglich ist; wenn Existenzsicherung auf wackligen Beinen steht oder gar scheitert; wenn Beziehungen der Familienmitglieder zueinander und zu Angehörigen sowie Bekannten zerbrechen; wenn Lebensstandard und damit Lebens­ qualität in die Krise gerät usw. Leben wird unsicher. Es ist nicht nur »die Suche nach der verlo­ renen Zeit« (Titel des siebenteiligen Romans von Marcel Proust). Die verlorene Zeit gilt Proust als wirklich vorbei, sie existiert nur in der Erinnerung. Es bleibt auch bei uns heute die Angst vor verlo­ renen Möglichkeiten, Angst, dass Leben endet, Freunde gestorben sind, bevor wir Zeit hatten, uns ihnen zuzuwenden usw. Kann Leben nach Unterbrechung überhaupt einfach fortgesetzt werden? ● Angst vor Einsamkeit In allen Lebensphasen und besonders bei alten Menschen ist Einsamkeit ein Problem, das Leben erstickt. Unterscheiden wir

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Angst in Zeiten von Corona

doch Alleinsein, das wir immer mal wieder brauchen, von Ein­ samkeit, die uns schwer zu schaffen macht. Denken wir weiter: Einsamkeit ist Störung des Zusammenhaltes und Unfähigkeit zum Zusammen-leben. Je mehr sich diese beiden Störungen festsetzen, desto schwerer wird die Rehabilitation. Gab es diese Störungen etwa in Ansätzen auch schon vor Corona? Ist Impfung die Rückkehr zum Zusammen-leben oder nur zur Normalität? Das Gedicht »Kleines Solo« von Erich Kästner (1947) beschreibt diesen Zustand. Solo und Solist weisen auf eine Problematik hin, die sich von den anderen loskoppelt. Im Thema von Kästners Gedicht verbirgt sich hinter dem Wort »Solo« die Einsamkeit und auch – übertragen auf Corona – die Gefahr des Kontakts. Hier eine Strophe aus Kästners Gedicht. Einsam bist du sehr alleine. Aus der Wanduhr tropft die Zeit. Stehst am Fenster. Starrst auf Steine. Träumst von Liebe. Glaubst an keine. Kennst das Leben. Weißt Bescheid. Einsam bist du sehr alleine – und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit. Droht Kommunikationsunfähigkeit und Angst vor Menschen und Situationen? Angst muss und kann man bekämpfen – aber wie? ● Angst vor Ohnmacht Wir konzentrieren uns auf eine Angstform, die uns in der Pandemie ständig begegnet: Angst als Ohnmacht. Oftmals macht uns Angst, nicht mehr der Regisseur unseres eigenen Lebens sein zu können. Eine Quelle des Leidens ist die Übermacht der Natur, soll heißen: Corona hat die Regie übernommen, wir haben sie nicht mehr. Dabei haben wir doch gelernt, Herren unserer Welt zu sein. Seit wir nicht mehr Herren unserer Welt sind, spüren wir immer öfter die Entmachtung, reagieren mit Aufgebrachtheit gegen die Regeln der Regierung, die schließlich zu unserer weiteren Entmachtung beiträgt. Hat die Regierung recht oder haben es

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Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst

diejenigen, die sie kritisieren? Man redet sehr oft vom Diktat des Virus über die Menschen. Das Gefühl der Ohnmacht und der totalen Hilflosigkeit belegen uns mit Beschlag. Besinnen wir uns doch auf unsere Ressourcen. Wir müssen ihnen Raum geben. Gut­ gemeinte Ratschläge helfen nicht. »Rat ist Draht« (Draht zwecks Einzäunung), schrieb Gottfried Keller in »Der grüne Heinrich«. Drehen wir einmal das übliche und gewohnte Verhalten um, dass Ohnmacht Schwäche ist. Schwäche aushalten ist eher Stärke. Ohnmacht kann nicht ausgemerzt werden. Sie ist vielmehr der Schlüssel zur Stärke. Wir können hoffentlich vieles ändern, z.B. Kreativität aufbauen gegen Ohnmacht. Nur keine Normalität wie vor Corona anstreben, wohl aber die Normalität des Miteinanders mobilisieren und erweitern. Mir fällt ein Film ein: »Angst essen Seele auf« (Filmtitel von Fassbinder 1975). Was kann man gegen Angst machen? Sicher sehr wenig. Sie geht nicht weg, aber sie darf nicht Sieger bleiben. Darum gilt es etwas zu tun: Zusammenhänge analysieren, die uns ohnmächtig machen. Fehler eingestehen. Chancen überlegen – am besten zusammen mit Freunden. Korrekturen vornehmen, z.B. in diesem Film das Verhalten des ungleichen Liebespaares.

Blick hinter die Ängste Wir haben das Ausüben von Macht gelernt, finden aber oft kei­ nen Weg aus dem Karussell der Ängste. Der einzige Weg ist Aufmerksamkeit auf das, was gegenwärtig in uns, aber auch in den Menschen um uns herum vor sich geht und warum das so ist. Je mehr Auswege wir kennenlernen, desto weniger blockiert uns die Angst und hält uns in diesem Dilemma gefangen. Manchmal sind die Auswege sogar einfacher, als man denkt. Nicht die vielen Ängste in Zeiten von Corona sind unser Prob­ lem. Vielmehr ist das Problem unsere Fixierung auf die furchtein­ flößenden Momente der Pandemie. Leider sehen wir nicht, was hinter diesen Furchtmomenten steckt.

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Blick hinter die Ängste

Angst ist wie ein Eisberg, Sigmund Freud zum Beispiel hat dieses Bild bereits benutzt (vgl. Watzlawick et al. 2007 [Original 1967]). Wesentlich ist, dass es eine Datenebene und eine Bezie­ hungsebene gibt. Darin ordnen wir die Angst ein, die Zusammenleben behindert. Angst gibt es im Bild von Freud über und unter dem Wasserspiegel.

A N

Ebene der konkreten Ereignisse

G S T

Ebene der Beziehungen und Bedeutung

Lösen wir das Bild auf! Wer die Ebenen trennt, läuft in die Falle, wie bei der Titanic. Unter dem Wasserspiegel lauert die Gefahr; nur den Teil über dem Wasser-spiegel wahrzunehmen, verliert den realistischen Überblick. Der Gefahrenspiegel wird unter-schätzt. Auch bei Corona müssen wir mit dieser Fehleinschätzung rech­ nen. Unter dem Wasserspiegel liegt das, was unsere Angst zu einem Desaster des Zu-sammen-lebens macht. Näheres dazu in den nächsten beiden Punkten. Sind dann die Ängste, die man im Corona-Alltag hat, zweitran­ gig? Nein, sie weisen auf das grundsätzliche In-der-Angst-Leben hin. Sie sind aber nur die Spitze des Eisbergs, die man sieht und in Diagnosen presst, das Eis unter der Wasseroberfläche kann noch gefährlicher sein, als man denkt. Aber genau diesen Blick hinter die Ängste wagen nur wenige.

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Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst

Angst: Sprache des Lebens Geht Leben mit Angst? Entweder tut man alles, und wenn es sein muss mit Pharmaka, um sie wegzumachen. Oder man geht der Angst auf den Grund, wie die Angst vor dem Absturz auch erfahrene Bergsteiger trifft, also mehr als reale Momente betrifft. Angst gehört zum Menschen. Je gestörter das Zusammen-leben, desto größer die Angst. Bedeutsam sind die Gedanken des Theologen Romano Guardini in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Er notierte in seinen Vorlesungsentwürfen (Vorlesungsnotizen. Wintersemester 1950/51–1954/55. Nachlass 1993, S. 1048): »Das Dasein steht in Angst, weil es fühlt, daß es ist, wie es nicht sein soll […] Wir haben heute […] eine Journalistik der Angst. […] Es ist [das] Nichts, das jedem, der zu unterscheiden vermag, verrät, daß hier sich etwas pervertiert.« Pervertiert? Das sind bei Guardini: Hybris und das Nichts. Hybris leitet den Menschen, der meint, alles im Griff zu haben. Und das Nichts ist die Leere, Untergang der Hoffnung, Rettung usw. In Zeiten von Corona hofft der Mensch, auch das Virus bald im Griff zu haben. Medizinischer Forschung scheint das zu glücken. Ist Angst dann gebändigt? Aber wie Guardini schrieb, ist da immer noch die »Journalistik der Angst«. Er dachte zwar nicht an Pandemien. Aber der Gedanke an das Coronavirus, das man nicht in den Griff bekommt, liegt nahe. Corona sei, so hofft man, bald vorbei. »Journalistik der Angst« vertreibt diese Hoffnung, nährt die Angst. Wir können nicht mehr sehen, was schon vorher hinter den Dingen und unseren Kontakten lauerte, und dies eventuell korrigieren. Fjodor Michailowitsch Dostojewski beschritt einen Weg, der dem von Guardini grundverschieden ist und unserer Mentalität eher entspricht. Gemeinsam ist ihnen: Angst ist unabwendbar. Je weniger man sich darüber Gedanken macht, desto mehr wird man

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Angst: Sprache des Lebens

von ihr gefangen. Dostojewski schrieb in den «Dämonen»,35 wohl auf dem Höhepunkt seiner Hoffnungslosigkeit: »Das Leben ist Schmerz, das Leben ist Angst, und der Mensch ist unglücklich. Jetzt ist alles Schmerz und Angst. […] Wer Schmerz und Angst besiegen wird, der wird selbst Gott sein. Aber jenen Gott [aus früherer Zeit, F.J.I.] wird es dann nicht mehr geben«. Schmerz und Angst besiegen bedeutet: Selber-Gott-sein, so Dost­ ojewski, aber sein Problem ist, dass es nach seiner Lesart den Gott der Religionen dann nicht mehr gibt. Das ist Dostojewskis atheistische Phase, verbunden mit seiner tiefen Hoffnungslosigkeit und seinem tiefen Zweifel an gelingen­ dem Zusammen-leben. Seine und unsere Zeit sind vielleicht sehr verschieden, aber er lebte in einer Zeit der Suche, er konnte auf nichts zurückgreifen, was die Menschen rettet.36 Insofern ist sein und unser Problem ähnlich, ob wir mit oder ohne Gott leben. Kann man sich mit einem Leben in Angst zurechtfinden oder es in unser Zusammen-leben einbringen? Irgendetwas läuft an der Angst vorbei, auch wenn unsere Medien dauernd davon reden. Mit Angst zurechtkommen müssen wir selber. Aber wie? Mit dem Hybrisverbot à la Guardini? Oder mit Dostojewskis Angstakzeptanz? »Doch wer misst eigentlich neben der Viruslast die Seelenlast?«, fragt der Arzt Werner Bartens (SZ vom 27./28.2. 2021). Richtig, es sind nicht nur die physischen Probleme, sondern auch die psy­ chische Last, die uns belastet. Eine Antwort auf diese Frage haben wir an einigen Stellen versucht, mehr als Andeutungen schaffen wir bei diesem Thema nicht. Zusammengefasst und als Anregung zum Oder in neuerer Übersetzung von Swetlana Geier »Böse Geister«. Dieser Titel ist m.E. viel genauer, weil Dostojewski als Revolutionsfreund zum Tode verurteilt, kurz vor den Todesschüssen aber begnadigt und nach Sibirien deportiert wurde. Böse Geister, sprich Angst, beherrschten ihn danach. 36 Höchstens ein Erlebnis auf seinem Abtransport nach der Verurteilung, dass eine alte Frau ihm zu trinken gab. Er vergaß das nie. Ist das ein Bild von Zusam­ men-leben? 35

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Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst

Nachdenken: Die Pandemie erzeugt Angst, aber wir sind zwischen »Hybris« und »Angst vor der Angst« stehen geblieben.

Angst und ihre philosophische Begriffswelt Angst, von Corona so strapaziert, ist in der existentialistischen Philosophie ein besonders ausgeprägtes Thema: Dasein in der Welt bedeutet Angst. Am Beginn des Existentialismus steht der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, dessen Schilderungen wir auswählen. Ihn interessiert nicht, was etwas ist, sondern wie das auf Menschen wirkt. Konkretes später: Ob die Angst von Corona ausgelöst wird oder schon vorher da war, ist grundsätzlich betrachtet zwar wichtig, würde Kierkegaard sagen, aber es ist etwas typisch Menschliches (2020 [1844], S. 72). »Man kann die Angst mit einem Schwindel vergleichen. Wer in eine gähnende Tiefe hinunterschauen muß, dem wird schwinde­ lig«. Lösen wir das Bild von der Tiefe auf, dann schreibt Kierkegaard: »den Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn die Freiheit nun hinunter in die eigene Möglichkeit schaut« (Ebd.). Auf Corona übertragen könnte das heißen: Freiheit ist die Entde­ ckung der eigenen Möglichkeiten, den Infektionsschutz für mich selber und die Mitmenschen zu beachten. Guardini schrieb über die Schwermut Kierkegaards ein Buch. Daraus zitiere ich den ersten Satz, das Wort »Schwermut« (von Kierkegaard) ersetze ich mit »Angst«: Die Angst »reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als daß wir sie den Psychiatern überlassen dürften« (1949, S. 7). Unser menschliches Problem dürfen wir nicht outsourcen oder der Presse überlassen. Wir haben unsere eigenen Gefahren und – hoffentlich – auch unsere eigenen Lösungsmöglichkeiten.

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Angst und ihre philosophische Begriffswelt

Angst ist: Leere unter sich spüren. Angst in Zeiten der Pandemie ist demnach Absturz ins Ungewisse. Man darf und kann sie nicht einfach negieren und sich nach der angeblich angstfreien Zeit vor Corona sehnen. Harald Welzer schlug in einer Konferenz einen Arbeitskreis vor, der nicht zustande kam (2021, S. 23): »What if we fail?« (seine Übersetzung: Was geschieht, wenn wir falsch liegen)? Es geht bei ihm um Ökologie. In der Coronaszene ist interessant, dass sich niemand der Frage stellt, wenn unsere Impfstrategie nicht funktioniert. »What if we fail?« Aushalten-lernen ist das einzig Mögliche. Aber das lehrt uns keiner. Wenn man in Medien liest, wie schlimm die Konkurse kleinerer Geschäfte sind, wie sehr Menschen an fehlenden Kontak­ ten leiden, Krisen sie zerstören usw., wer ist dann schuld? Oder brauchen wir dann schlicht und einfach Zuwendung, um mit der Angst leben zu können? Mit anderen Worten: Gerade in Zeiten der Seuche brauchen wir den anderen mehr als viele denken. Nicht das Virus ist an allem schuld. Corona konfrontiert uns mit der eigenen Freiheit. Wir können so werden, wie wir immer schon waren – wir können aber auch anders werden, mit uns besser zurechtkommen, mit der Freiheit leben, unser Selbst zu gestalten. Also die Freiheit, für sich und andere zu denken, als Chance nutzen. Die Freiheit des eigenen Selbst ist auch die Freiheit der Gemein­ samkeit. Der Philosoph Joachim Boldt bezeichnete darum Kierke­ gaards Ethik als »Ethik der Angewiesenheit« (2008, S. 117) und als Grund seiner Angst die Not der Hinwendung zum anderen. Natürlich hilft uns die Psychologie. Kierkegaard schrieb das sehr oft. Aber er betonte, dass Angst eine Grundstimmung im Leben ist; alle Existentialphilosophen, allen voran Sartre und Heidegger, sahen das Leben als von Angst geprägt, wie Kierkegaard. Durch Corona scheint die Freiheit reduziert zu werden, aber wir wissen ja nicht einmal mehr, wofür diese Freiheit gut sein soll. Es gibt keinen Gegensatz zwischen der Angst im Alltag, sagen wir: der psychischen Angst, und der existentiellen Angst, wie sie Kierkegaard beschrieben hat. Auffallend ist, dass nur die psychische Angst benannt, manchmal sogar in Richtung Panik hochstilisiert wird. Im Frühjahr 2021 wurde viel über Angst und

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Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst

Panik diskutiert, die durch den drohenden Zusammenbruch der Intensivstationen ausgelöst wurden. Und wieder droht Schwindel der Bodenlosigkeit, die Angst, dass der Andere einen nicht trägt. Wieder einmal mischte der Betrug mit, dass Intensivbetten nur scheinbar eingerichtet wurden, um Gelder vom Bund zu kassieren. Das belegt die Demontage der Angewiesenheit auf den Anderen. Bei Franz Kafka spielte Kierkegaard eine wichtige Rolle. Auch Kierkegaard hatte einen übermächtigen Vater (vgl. dazu Th. Anz, 2005). Bei Kafka war die spanische Grippe fast vorbei, er schreibt m.E., wie wir heute denken, im Oktober des Jahres 1921 in sein Tagebuch: »Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie beim richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.« Die Weltsichten von Kafka und Kierkegaard gehören zusammen, der Melancholiker Kafka hat den Melancholiker Kierkegaard gele­ sen, eine Zeitlang sogar begeistert (vgl. ebd.). Das Elend der Welt hat beide beschäftigt. Nach 1917 jedoch lehnte Kafka seinen ehemaligen Freund Kierkegaard ab. Aber eine gewisse Nähe seiner Weltsicht ist geblieben. Das betrifft auch uns. In uns ist das Vertrauen auf den anderen in Gefahr. Man muss es freilegen und nicht nur als Risiko ansehen. Sonst begräbt uns die Angst. Kann jemand dabei helfen?

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Mit Angst leben?

Mit Angst leben? In der medizinischen Ethik und der sog. Ethikberatung hat man sehr oft mit schwerer Krankheit und dem wahrscheinlich beängs­ tigenden Ausgang (Behandlungsabbruch u.ä.) zu tun. Neben vie­ len anderen Situationen habe ich oft mit einem befreundeten Psychiater diskutiert, wie man Suizidenten, Suizidwilligen und Suizidgefährdeten begegnet. Wir haben uns am sog. Coping (engl. für »Umgang«) orientiert, wie man mit Angst und dem Blick ins Nichts zurechtkommt. Muster war die Erklärung des Copings bei Dietrich von Engelhardt (vgl. 1986), das nicht durch die Schwere des Ereignisses, sondern durch die subjektiven, perspektivischen Fähigkeiten getragen wird. Wenn sie aktiviert werden, können sie aufbauend sein. Resultat der Gespräche über das Suizidproblem mit dem Psychi­ ater war: Nicht nur am Problem herumlaborieren, indem man sich auf Medikamente, Gespräche, therapeutische Interventionen etc. konzentriert. Wir müssen die getroffene oder mögliche Entschei­ dung des Patienten respektieren und neue Bewertungen erarbeiten. Der Patient ist sein eigener, auch an Werten orientierter Souverän, nicht wir, die Ärzte und Ethiker, sind die Wertegurus. Übertragen auf die Situation von Corona heißt das: Wir dür­ fen nicht im Problem stecken bleiben. Auch wenn das bei einer Pandemie besonders schwerfällt. Aber das Pandemiedrama ist den genannten Phänomenen ähnlich, darum gilt diese Copingstrategie (vgl. von Engelhardt, 1986 und Lazarus, 1999) natürlich auch hier. Standard ist die Einzelberatung, aber es müssen sehr viele Menschen erreicht werden. Wir brauchen dazu keine Einzel- und Gruppentherapien, stattdessen müssen wir andere Wege finden (z.B. Fortbildung, TV-Sendungen usw.), um Copingstrategien zu erklären und uns näherzubringen. Wenn wir in Problemen stecken bleiben, wird der Weg ins Zusammen-leben blockiert. Angst gehört zum Leben. Also sollten wir Angst nicht reduzie­ ren, sondern – auch wenn das hart klingt – ins Leben integrieren, weil es immer mehr oder weniger angsterfüllte Momente und

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Aspekt 13 Seuche als Verstärker der Angst

Phasen gibt. Und diese Angstmomente und -phasen lassen ihren existentiell wichtigen Hintergrund mitleben. Dann ist Angst nicht einfach nur schlimm, und es hilft vor allem nicht, wenn man angstauslösende Ereignisse oft und immer wieder – als wenn es nichts als Angst gäbe – mitgeteilt bekommt. Aber sie kann bedeutend und aufbauend werden, wenn man ihr auf den Grund geht. Nicht mehr sie beherrscht uns, sondern wir die Angst, weil sie uns Möglichkeiten eröffnet.

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Aspekt 14 Der Graben zwischen Information und Verstehen

Unsere Sprache über Corona ist eine naturwissenschaftlichinformierende Sprache. Leider keine, die uns verstehen hilft. Zusammen-leben scheitert oft am Unverständnis der PandemieMaßnahmen. Handeln und Reagieren werden oft blockiert. Vom Philosophieprofessor Andreas Brenner stammt das Zitat: »Solange man nicht anerkennt, dass Zahlen und Daten primär vollkommen sinnlose Informationen sind« (2020, S. 32), sind die Informationen keine Verstehenshilfen. Sie helfen uns nur dann, wenn sie durch den Erkenntniskontext Sinn erhalten. Zahlen und Daten über Corona, die wir zuhauf mitgeteilt bekommen, sagen uns wenig. Ist das das Schicksal unserer sog. Wissensgesellschaft? Alles speichern, aber wenig verstehen? Gehen wir von einem auf den ersten Blick anders gearteten Metier aus. In einem Roman beschrieb der Ire John Banville in »Die See« (2005) die alten Erinnerungen nach dem Tod seiner krebs­ kranken Frau Anna. Die beiden haben nach den vorangegangenen Untersuchungen einen Termin bei einem Chefarzt der Onkologie. Es ergibt sich folgende Szene: »Mr. Todd [onkologischer Chefarzt, F.J.I.] holte aus zu einer flammenden Rede, einer Rede, die so abgenutzt war, dass sie schon glänzte; er redete von vielversprechenden Therapien, von neuen Medikamenten, von dem gewaltigen Arsenal chemischer Waffen, über das er regiere; er hätte genauso gut von Zauber­ tränken reden können oder von Alchimie. Anna schaute immer

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Aspekt 14 Der Graben zwischen Information und Verstehen

noch versonnen ihre Hände an; sie hörte nicht zu. Irgendwann gab er es auf und saß einfach da und glotzte sie wie zuvor mit diesem hoffnungslosen, hasenhaften Ausdruck an, atmete hörbar, hat die Lippen zu einer Art Grinsen hochgezogen […]« Die beiden bleiben im Auto sitzen, bevor sie wieder ins Haus gehen. Schweigen. Hilflosigkeit. Was ist passiert? Der Arzt hat sicher richtig informiert, aber der Patientin und ihrem Mann nicht geholfen. Erst damit wären die Informationen sinnvoll gewesen. Vergleichen wir das mit der Corona-Situation. Ähnlichkeiten hier wie da. Informationen wer­ den vorgelegt, die uns nicht wirklich helfen. Banvilles Zitat hat das gezeigt. In der Medizin benutzt man Gesprächsmodelle und das Muster des »breaking bad news«37 (Standardübersetzung: »Über­ bringen schlechter Nachrichten«). Das wichtigste Moment dabei ist das Wahrnehmen von Betroffenheit und Not beim Anderen. Ähnliches geschieht in der Corona-Szene – bis auf wenige Ausnahmen, z.B. in den NDR-Kommentaren von Prof. Drosten und einigen wenigen Medizinjournalisten (einige davon habe ich zitiert), die offensichtlich mit der Betroffenheit sehr vieler rechnen. Normalerweise bekommen wir Begriffe vorgesetzt, die unverständlich sind. (Wir haben die Corona-Begriffe schon einmal in Aspekt 8 aufgelistet.) Jetzt decken wir damit deren Unverständ­ lichkeit auf. Wenn man diese Begriffe liest, ohne ihren Sinn zu verstehen, bleibt der Zusammenhang verborgen.

37 Ein in der Medizin oft benutzter Begriff nach dem SPIKES-Modell. SPIKES = Situation, Patientenwissen, Informationsbedarf, Kenntnisse vermitteln, Explora­ tion, Strategie.

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Aspekt 14 Der Graben zwischen Information und Verstehen

Hier die erweiterte Begriffsliste: Abstand Ausbruch der Epidemie Ausgangsbeschränkung Beatmung Beherbergungsver­ bot China-Virus Contact-Tracing Coronadiktatur (Unwort des Jahres) Corona-Gegner Corona-Leugner Corona-Maßnahmen Corona-Party Corona-Krise Flatten the curve Grenzen schließen Handlungsfähig bleiben Händedesinfektion Herdenimmunität Home schooling

Hotspot Hygiene Immunsystem Impfung Impf-/Test-Strate­ gie Impfverweigerer Intensivbehandlung Inkubationszeit Infektionszahl Kontaktbeschränkung Inzidenz Lockdown-light Lockerung Lüften Massentest Maskenpflicht Maskenmuffel Mindestabstand Mutanten Neuinfektionen Obergrenze Quarantäne R-Wert

Risiko-Gruppen Remdesivir Teil-Lockdown Triage Shut down Sars-Cov-2 Sars-Covid-19 Selbsttest Selbstisolation Selbstschutz Super spreader event Social-distancingshaming Symptomfreiheit Systemkollaps Systemrelevanz Testen Versorgungsengpass Vulnerable Gruppen Übertragungswege Wellenbrecherlockdown

Wer diese Begriffe nicht versteht, kann nicht mitdenken, geschweige denn: mitreden. Wer versteht sie wirklich, nicht nur ungefähr? Sagen wir so: Die allermeisten, auch und gerade die Begriffe der medizinischen Experten, helfen uns nicht, das Problem des Zusammenhalts zu verstehen. Vielen von uns würde es wie Anna im Zitat von John Banville gehen. Wir schweigen und sind hilflos. Oder wir reden, obwohl wir besser schweigen sollten. Angst und Hoffnungslosigkeit beherrschen das Feld. Von ihnen wird

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Aspekt 14 Der Graben zwischen Information und Verstehen

Zusammen-leben blockiert. Kann man etwas dagegen tun? Ja, es gibt ein paar Ansätze. Hier einige Vorschläge:

Jemanden abholen, wo er steht Ich bin in einem Alter, in dem man kitschige Filme erwähnen darf. In der »Feuerzangenbowle« (1944, verfilmte Romanvorlage von Heinrich Spoerl) sagte der Physiklehrer aus dem Rheinland: »Wat is eʼne Dampfmaschin? Stelle mer uns mal janz dumm […]« Wir? Als ich das sah, dachte ich an meine Schule und dass ich ein schlechter Physikschüler war. Zurück zur Feuerzangenbowle: Nicht nur die Schüler, sondern auch der Lehrer ist dumm? Er redet ja von »wir«, auch wenn er weiß, wie eine Dampfmaschine funktioniert. Heute ein veraltetes Beispiel, führt aber direkt zu Corona. Der Lehrer geht davon aus, dass seine Schüler nicht wissen, wie eine Dampfmaschine funktioniert, macht aber kein Drama daraus. Er holt seine Schüler da ab, wo sie stehen, also dort, wo sie Dinge verstehen, die in ihr Leben passen. Und da kamen damals Dampfmaschinen vor. Der Lehrer zeigt, wie man versteht. In ihr Leben passen? Genau das ist auch unser Problem? Hand aufs Herz: Passen die Informationen, sowohl die von den Medien als auch die von Experten und Politikern, in unser Leben? Nur wenn man die Fakten kommentiert. Ich gehe davon aus, dass solche Informationen auf Dauer – und Corona scheint zu dauern – als Fremdkörper abgestoßen werden. Was wir alle nachvollziehen können: Die Auflagen, Verpflich­ tungen und Regeln zu Corona verlieren an Plausibilität. Man bleibt auf der »Suche nach Gangbarem in unbekanntem Terrain« (Münk­ ler & Münkler, 2020, S. 105). Aber bevor man sich an die Explo­ ration des Unbekannten heranwagt, muss man sich im Bekannten zurechtfinden, erst dann klappt das breaking of bad news – bei Corona sowie auch bei Anna im Roman von Banville, also in allem, was man verstehen will.

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Respektieren, nicht bewerten

Respektieren, nicht bewerten Vielleicht ist das eines der größten Probleme in Zeiten von Corona. Fragen wir uns doch einmal, ob man Andersdenkende respektieren kann. Ja man kann. Nur Respektieren ist etwas anderes ist als Bewerten. Respektieren Andersdenkender ist ein demokratisches Prinzip, deren Theorien dagegen zu bewerten, ist Privatsache. Da beginnt der Schlamassel. Respektieren führt uns in ein selt­ sames Dilemma. Die Querdenker halten die Coronamaßnahmen für unsinnig, die Kritiker der Querdenker halten deren Theorien für unsinnig. Dabei kommt es nicht auf den Streit an, wer am Ende recht hat, doch eher auf die Bekämpfung der Pandemie. Es ist schlimm, wenn Zusammen-leben am Dogmenstreit scheitert. Anfang 2021 diskutierte man viel über Impfen. Ich bin Impfbe­ fürworter. Immer wieder spreche ich mit Bekannten, die gegen das Impfen sind. Anfangs habe ich oft diskutiert – v.a. über Selbstschutz versus Schutz anderer. Nach ein, zwei Wochen hatte mein Bekannter die gleiche Meinung wie beim ersten Mal. Sollte ich besser still sein? Still sein, nur antworten, wenn er mich fragt, warum ich etwa für das Impfen bin? Natürlich ist Diskutieren wichtig, es ist aber fair, die Meinung des Anderen zu respektieren und sie nicht zu bewerten. Mir hat sehr imponiert, was der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell in seinen »zehn Geboten des Liberalismus« geschrieben hat. Mir imponiert das Zitat, weil ich selber gern glaube, der Klügere zu sein. Russells Gebot heißt (1951, Nr. 10): »Blicke nicht neidisch auf das Glücklichsein derer, die im Paradies der Dummen leben; denn nur ein Dummer meint, dass es Glück­ lichsein ist«. Die Frage ist, wer die Dummen sind. Meistens sind es die anderen, meinen die einen. Oder bin ich selbst im Paradies der Dummen?

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Aspekt 14 Der Graben zwischen Information und Verstehen

»Erklären« ist noch lange nicht »Verstehen« Manchmal denke ich, dass Situationen wie die gerade beschrie­ bene, aber auch unsere üblichen Informationen aus TV und Zei­ tungen am Wesentlichen vorbeigehen. Die Dinge, die erklärt wer­ den, sind das eine. Die Zusammenhänge, unsere Probleme und Nöte, die Auswirkungen auf unser Zusammen-leben usw. sind kein Bestandteil der Information, sondern des Verstehens. Der bekannte Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen machte aus Pandemie eine »Infodemie« (2021, S. 8), d.h. eine Medienkultur, die Faktenvermittlung ohne Verstehen zulässt. Wurde unsere Pandemie zur »Infodemie«? Wir beziehen uns auf die Philosophie der Hermeneutik, die diesen Konflikt von Erklären und Verstehen reflektiert. Damit ist gemeint, dass Erklären eine wichtige Funktion der Naturwissen­ schaften ist, Verstehen eine Funktion der Geisteswissenschaften. Wir stehen auf Information. Und wo bleibt das Verstehen? In den Geisteswissenschaften geht man hermeneutisch vor, man versucht den Gegenstand des Interesses nicht zuletzt durch Einfühlung und intuitives Vorgehen zu verstehen. Wer interessiert sich dafür? Hermeneutik und Corona? Das scheint keine wichtige Verbin­ dung zu sein. Oder doch? Bundesoberbehörden und Ethik-Kom­ missionen kümmern sich bei Studien um Patienteninformationen hinsichtlich der Bekämpfung von Corona. Doch zum Verstehen der eingesetzten Mittel, z.B. der Impfung, tragen diese Informationen wenig bei. Ich bekam zwar einen Waschzettel bei der Impfung, aber der streng getaktete Ablauf ließ kaum Zeit, um auf meine Fragen einzugehen.

Stehen, Ver-stehen, Zusammen-stehen In einem Zen-Meditationskurs (Einführung ins Kinhin [= achtsa­ mes Gehen]) habe ich erfahren, dass Bewegung für das Verstehen wichtig ist. Sehr bedeutend fand ich einen Hinweis von Friedrich

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Stehen, Ver-stehen, Zusammen-stehen

Nietzsche in seiner Warnung: »Keinem Gedanken Glauben schen­ ken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung«.38 Ist Peripathein (Wandeln, Begriff aus antiken Philosophenschulen) eine Bedingung des Verstehens, ähnlich dem meditativen Kinhin? Irgendwie bin ich sicher. Verstehen ist 1) keine Theorie, die aus Fakten besteht, sondern 2) etwas, das der ganze Körper verarbeiten muss, und 3) nur Ideen in Bewegung können mehr sein als Dog­ men. Verstehen, auch das der sog. Fakten über Corona, betrifft den ganzen Menschen. Noch deutlicher ist sein Zitat: »Alle Bewegungen sind eine Art Sprache, wodurch sich die Kräfte verstehen« (Nietzsche, 1965. S. 96). Bei diesem Zitat sehe ich die Bewegung von Stehen und Zusammenstehen im Verstehen. Wann werden Informationen zu einer Art Sprache? Nietzsche ist für mich kein Systembildner, eher ein Anreger für Nachdenklichkeit. Die Fakten von Corona werden nur dann eine Art Sprache, die uns etwas mitteilt, wenn wir mit anderen darüber sprechen und unsere Erkenntnisse mit anderen teilen. Noch ein Nachdenk-Moment aus der Zen-Meditation. Stehen und Verstehen hängen zusammen. Wer versteht, steht auch zu seiner Meinung, heißt auch: vor jemandem schützend stehen. Auch etymologisch sind Stehen und Zusammenstehen verbunden. Der Ursprung von Verstehen ist altenglisch, in seiner deutschen Weiterentwicklung finden wir den Zusammenhang von »einsehen und verstehen«. Man muss lernen, dass der, der ver-steht, auch wirklich steht und mit anderen zusammensteht. Seltsam, dass wir diesen Zusammenhang vergessen, vielleicht sogar bewusst ausgeblendet haben. Etymologie macht keine Moral, sicher, aber zeigt einen Verstehenshorizont auf. Der ist mir wichtig, und den darf man nicht ausblenden.

Zitat in der von Mirella Carbone und Joachim Jung herausgegebenen Textzu­ sammenstellung über Gesundheit bei Nietzsche, 2014, S. 46.

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Aspekt 14 Der Graben zwischen Information und Verstehen

Ausmusterung des Vorbilds? Was hilft dem Menschen, etwas zu verstehen? Sicher nicht nur die Vermittlung von Informationen, eher die Diskussion, die Ver­ arbeitung von Informationen. Dabei fällt ein wichtiger Punkt auf: Verarbeitung von Information geht – bewusst oder unbewusst – nicht ohne Vorbilder. Aber genau damit gibt es Probleme in der Impfproblematik: Absagen von Impfterminen und Impfmüdigkeit, wobei anfangs das Impfen nicht schnell genug ging. Wie kann man Impfstrategien beflügeln? Hier eine kurze Anmerkung: Impfen, auch die weiteren Auffrischungsimpfungen, müsse, damit es vorangeht, belohnt werden (vgl. Slavik, SZ vom 3./4. 6. 2021). Die Bundesstaaten der USA Ohio, New York, Kalifornien usw. verlosten sog. Pieks-Prämien für eine Lotterie bis zu 116 Mio. $. Westvirginia bietet Wertpapiere für 100 $ pro Impfung. Eine Drogeriekette verlost Karibik-Kreuzfahrten, Supermärkte spen­ dieren Rabatte. Andere Länder locken mit Impfkonzerten. Hat es etwas genützt? Deutschland macht es weniger kapitalistisch. Hier setzte man auf Vorbilder. Günther Jauch, Uschi Glas, David Hasselhoff (Bay­ watch-Star), Winfried Kretschmann und andere Vertreter der »Ärmel hoch«-Werbung setzen auf Identifikation, die die Lücke zwischen Informieren und Verstehen schließen soll. Impfung darf kein konsumorientierter Faktor sein. Es geht doch um Verstehen, nicht um Konsum. Die Vorbilder, die hier ausgesucht wurden, sind meist recht alt, der jüngste ist Ende 60 und nicht alle sind für das Impfen wichtig geworden. Ist das für die jüngeren Impf-Kandidaten Grund zur Identifikation? Zieht die Werbung? Eher nicht. Diese Art von Vorbilderwerbung orientiert sich an der Wahlwerbung, deren Erfolg ja auch recht fragwürdig geworden ist. Ein Konterfeit ist keine Verstehenshilfe. Dazu bräuchte es ein paar Begriffe, die eingängig sind und einen Zusammenhang für die Entscheidung aufzeigen. Dann spielte das Alter derer, die Corona und angemessenes Verhalten versinnbildlichen, keine Rolle. Viel eher der Gewinn von Vertrauen, das mehr und mehr kaputtgeht.

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Kann man den Graben überwinden?

Kann man den Graben überwinden? Um im Bild zu bleiben: Es dauert zu lange, den Graben zwischen Information und Verstehen zuzuschütten. Das geht nur, wenn man die denkende sowie auch die andersdenkende Person respektiert. Etwa Impfgegner und Impfbefürworter benutzen die Fakten, Sta­ tistiken usw., die sie bekommen. Wer auf Verstehen setzt, muss sich natürlich mit einigen Fakten auskennen. Das reicht aber nur, wenn sie als vernünftig (aber was ist »vernünftig«?) anerkannt werden. Wir müssen verstehen, also Zusammenhänge begreifen und uns für entsprechendes Verhalten entscheiden. Oder sind wir Millionen von Laienvirologen mit TV-Examen, aber ohne Schulung des Verstehens? Information und Verstehen verbindet eine gemeinsame Frage: Was hilft uns, das Pandemieproblem in den Griff zu bekommen? Habermas – natürlich ohne damals mit der Pandemieproblematik zu rechnen – schrieb, dass unsere Fragen auf Vernunft – und das ist nicht nur Rationalität, sondern wohl v.a. Dialogfähigkeit – beruhen. Nur so wird man sensibel für das, was wichtig und wert­ voll ist. Man wird gleichsam ein »Kandidat für eine Wertgenerali­ sierung« (Habermas 1999, S. 103). Perspektiveneinnehmen, Wünschen, Interessenhaben scheinen das Natürlichste von der Welt zu sein. Aber allein das Aussprechen dessen, was uns warum wichtig ist und wie wir das sehen, ist ein Riesenschritt. Gedanken müssen in Sprache übersetzt werden. Vernunft kommt nicht ohne den Bezug auf die Gemeinschaft der Betroffenen aus. Und das heißt dann: Verstehen ist niemals eine Vernunft ohne Subjekte. Jeder darf mitreden und muss es sogar. Einen Graben überwinden ohne subjektive Perspektive des Ich und der anderen ist nicht möglich. Ihn überwinden kann man nur, wenn man unser Subjektsein mitleben und mitagieren lässt. So gesehen fehlt eine Streitkultur für Zusammen-leben ohne Spaltung. Natürlich ist das sehr komplex, aber man sollte es mal probieren.

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Aspekt 15 Corona und die Begründung der Regeln

Zusammen-leben wird von Regeln bestimmt, aber sicher nicht nur von Regeln. Wenn man weiß, warum sie gelten und warum man sie befolgt, helfen sie, wenn nicht, stören sie nur. Fehlende Begründung führt zum Chaos: Der Common Sense greift nicht mehr, und wir stehen im Regen. Zuerst kümmern wir uns um das, was von außen auf uns zukommt und uns in Pflicht nimmt, also um die Regeln, Gesetze, Vorschriften usw. Erst im nächsten Aspekt denken wir über den Menschen nach, der Regeln, Gesetze, Vorschriften usw. hält bzw. nicht hält. Bei einer Reise war ich erstaunt, dass in Palermo Autos in doppelter Reihe vor den Geschäften parkten. Die in der ersten Reihe, dachte ich mir, wollen sicher zuerst weiterfahren, aber können nicht weg wegen der zweiten Reihe. Ich erfuhr, dass es zwar eine Verbotsregel gibt. Aber in Palermo sah man das offensichtlich differenziert: Auf andere warten ist bei denen erstens nicht schlimm und zweitens kein Grund für Ärger. Bei uns wäre das anders. Nicht überall in Italien werden Regeln so lax gehandhabt; zumindest aber sollte festgehalten werden: Regeln müssen begrün­ det werden. Solange es diese Begründung nicht gibt und Impfgeg­ ner gegen Impfbefürworter aufstehen, gibt es keine Begründung, die von allen als vernünftig angesehen wird. Vernünftig heißt auch kommunikativ. Und die Coronaregeln? Meistens werden Ordnungsstrafen angedroht, wenn man sich nicht an eine der Regeln hält. Warum gelten sie dann (vgl. Prechtl & Burkard, MPL 1999, S. 222)? Wegen

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der Sanktion? Weil es vernünftig ist? Weil sie mit anderen Regeln harmonieren? Weil sie Ordnung garantieren? Alle vier Fragen kann man mit Ja beantworten, die erste Frage ist wohl am wenigsten bedeutend. Weswegen halten wir sie dann ein? Die Pflicht, Regeln einzuhal­ ten, ist moralisch-ethischer Natur. Sie ist die freie Entscheidung des Einzelnen. Heinrich von Kleist erzählte im »Michael Kohlhaas« eine Geschichte, die unsere Regeln des Zusammen-lebens betrifft. Als ich die Erzählung las, machte sie mich betroffen (und wütend). Hier in Kürze der Inhalt: Schlimmes widerfuhr dem reichen Bauern Michael Kohlhaas, der auf die Gerechtigkeit der Gerichte vertraute, aber ständig mit Betrug und Korruption konfrontiert wurde. Emotional am meisten geschockt hat mich, dass seine Frau gewaltsam starb, als sie, auf eine Beilegung des Konflikts hoffend, eine Bittschrift an den Landesherrn überreichen wollte. Michael Kohlhaas übte Rache, mit viel Erfolg, steckte zwei Städte in Brand. Am Schluss stellt er sich jedoch und akzeptierte sein Todesurteil. Diese Erzählung wurde vielfach von Philosophen als Paradigma der Moral genommen. Besonders überzeugend fand ich den Kommen­ tar von Ernst Bloch. Der Rachefeldzug von Michael Kohlhaas, sicher unrecht und weit übertrieben, basierte auf dem Völker- bzw. Menschenrecht. Nicht die Verteidigung der Rache ist das eigentli­ che Problem, sondern der gerade, ungebeugte Rücken in einer ungerechten Gesellschaft. Das ist m.E. der Respekt davor, dass ein Zusammen-leben mit Hass (vgl. Ernst Bloch 1972, S. 93–102) unmöglich ist. Laut Bayertz sind moralische Regeln besonders schwer zu ver­ stehen. Sie haben den Geschmack von Gewalt, aber ihre Begrün­ dung liegt im Schutz der Interessen anderer Personen. Denken wir an die Regeln zum Lockdown in den späteren Wellen. Was verstärkt die Widerstände? M.E. sind es folgende Momente:

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Begründung der Regeln

● Unverständlichkeit, ● schlechte Begründung der Regeln, v.a. ihres moralischen Hin­ tergrundes, ● fehlende Angabe von Bedingungen und Dauer, ● Fehlen von Ziel und Perspektive der Gültigkeit, ● Schutz anderer Personen als nicht deutlich gemachte Verpflich­ tung. Regeln greifen in unseren Corona-Alltag ein. Sagen wir es pole­ misch und ungeschützt: Corona-Müdigkeit ist zu einem großen Teil sehr verständlich. Aber sie ist auch zu einem beträchtlichen Teil auf die unzureichende, fehlende Begründung der Regeln zurückzu­ führen. Und das ist beklemmend. Nur Regeln, die man versteht, kann man beachten. Immer wieder – und bei Corona erst recht – stehen wir vor der Frage, wie und warum wir rechtliche und moralische Probleme lösen können. Klar, es geht um Schutz der anderen und um Verantwortung. Aber ist das wirklich verständlich? Sind Schutz und Verantwortung Gummibegriffe, die Zusammen-leben nicht lenken können? Oder wurden sie unscharf vermittelt? Ich glaube Letzteres.

Begründung der Regeln In diesem Aspekt konzentrieren wir uns auf die Begründung der Regeln in dieser Pandemie. Von Jürgen Habermas stammt ein Zitat (Interview mit Schwering, 2020), das dieses Problem kom­ mentiert: »So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.« Wichtig ist der Ausdruck im Zitat »unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen«. Das verlangt Regeln – Regeln, die verständlich, akzeptabel und fair sein müssen. Ihr Erfolg mag unsicher sein. So müssen wir Vorschriften hinnehmen, die nicht endgültig und sicher

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sind. Kennen wir die Bedingung gültiger Regeln? Über den Sinn der Regel schreibt Bayertz: »Aus der Vogelperspektive erscheint sie als eine soziale Institution zur Minimierung anthropogener Übel« (2014, S. 40). Minimierung der Übel ist niemals hundertprozentig. Wie weit reicht der Stopp der Übel, und ist er eine Garantie des Zusammen-lebens? Man kann und konnte doch auch trotz man­ cher Übel Zusammen-leben. Deswegen müssen Regeln verständ­ lich und bedeutsam sein – besonders die Coronaregeln. Als Coronas erster Lockdown kam, dachte ich, bald würde die Pandemie vorbei sein. Aber dann stiegen die Infektionszahlen (Winter 2020) wieder, und man redete von der zweiten Welle. Anfang 2021 war die dritte Welle da, und man fürchtet eine vierte wegen neuer Mutanten. Eine Novelle des InfektionsSchutzGeset­ zes (IfSG) wurde beschlossen. Danach kam die sog. Notbremse, weil die Gemeinsamkeit der Regeln durch die Länderchefs blockiert wurde. Auf die Delta-Variante folgte die nächste Novelle des IfSG. Eine fünfte Welle der Omikron-Variante machte uns zu schaffen, und wieder gab es eine weitere Novelle des IfSG. Nicht dieser Multimix von Regeln ist verwirrend, sondern dass wir das nicht verstehen, was dieses Regelwerk bedeutet. Nicht nur, dass wir dieses IfSG kaum verstehen. Es umfasst so viele Paragraphen, dass wir alle einen Tag Urlaub bekommen sollten, um zu begreifen, was wir warum lesen und überlegen sollten. Bei pharmakologischen Studien und zugelassenen Arzneimitteln sind sog. Patienteninformationen notwendig, weil jede medizinische Maßnahme (verständliche) Information seitens der Medizin und Zustimmung des Patienten umfassen muss. Nicht so beim Infekti­ onsschutz. Wie kann Gemeinsamkeit, sprich Zusammen-leben, funktio­ nieren, wenn von höchsten Stellen vorexerziert wird, dass Zusam­ men-leben nicht klappt? Ministerpräsidenten sind oft nicht einver­ standen mit Regeln, die der Bund erlässt. Von Zielen unserer Regeln ist selten die Rede gewesen, wohl von ihrer Wirksamkeit. Und dass selbst rechtliche Regeln geronnene Moral (vgl. Bloch, 1972) sind, scheint nicht bedacht zu werden.

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Ethik – Moral – Recht

Welche Begriffe werden benutzt? Gebräuchlich sind Regel, Geund Verbot, Vorschrift, Norm, Imperativ, Maxime, Prinzip. Außer den letzten dreien werden alle meist ethisch und juristisch ver­ wendet. Der Imperativ stammt aus der Grammatik. Nur Maxime und Prinzip haben fast immer einen moralphilosophischen Hinter­ grund. Übrigens, »norma« im Lateinischen bedeutet einerseits die Regel, und dem zugrunde liegt die Bedeutung »Winkelmaß«. Diese Begriffe sind nicht nur im Bereich von Technik und Her­ stellung auf Gewohnheit, Konvention, Autorität u.ä. gegründet. Warum beanspruchen die Norm und ähnliche Begriffe allgemeine Gültigkeit? Weil sie »appellativen Charakter« (Pieper, HPG 1973, S. 1020) und den Anspruch haben, »Bewußtsein der persönlichen Verantwortlichkeit« (Ebd., S. 1019) einzulösen. Ob und wie kann man die Coronaregeln begründen? Noch­ mal: nicht der Rückgriff auf Konventionen ist entscheidend, son­ dern der Beitrag einer Entscheidung zur Verantwortlichkeit. Dazu einige Überlegungen:

Ethik – Moral – Recht Diese drei Bereiche spielen sich gegenseitig zu. Beispiel: Die AHARegeln, später erweitert durch das »L« (= Lüftung) sind rechtlicher Natur, begründet werden sie durch den moralischen Wert »Schutz« und die ethische Reflexion der »Solidarität«. Definieren wir die drei Grundbegriffe in Kürze: Moral konkrete Orientierung des Verhaltens an Zielen einer Gruppe Ethik

Reflexion über die Moral und ihre moralische Orientierung ohne Letztbegründung durch eine Gruppe

Recht Erlassung von Regeln auf der Grundlage von Moral und Ethik zur Willkürbegrenzung, Konfliktlösung und Frei­ heitssicherung

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Aspekt 15 Corona und die Begründung der Regeln

Das Recht wird selten auf Moral und Ethik gegründet. Die Vermitt­ lung von rechtlichen Regeln ohne die moralische und ethische Basis ist nur bedingt nachvollziehbar. Oft werden Regeln darum wohl auch vielfach kritisiert. In Zeiten der Pandemie gibt es das verbreitete Phänomen, Regeln einzuhalten. Nehmen wir als Beispiel das Social-distan­ cing-shaming (jmd. beschämen wegen zu wenig Abstand). Men­ schen, die diese Abstandsregel nicht einhalten, werden zur Ord­ nung gerufen und bloßgestellt. Was ist da passiert? Regeln erscheinen oft als etwas, das eingehalten werden muss, ohne dass man weiß, warum sie gelten oder wer sie wie kontrolliert und sanktioniert. Da bekommen Regeln leicht juristische Bedeu­ tung: Recht will Gerechtigkeit im Zusammen-leben der Menschen ermöglichen, Moral will den Menschen zeigen, wie einerseits Ver­ halten der Menschen begründet wird und andererseits bestimmte Verhaltensweisen ein gutes Zusammenleben untergraben. So kann Zusammen-leben ohne Fairness nicht klappen. Fairness ist unser Grundprinzip – auch jenseits der Jurisprudenz. Nicht nur im Parlament ist der Anteil der juristischen Berufe (2021: 115 Jurist*innen von insgesamt 709 Parlamentarier*innen) viel größer als der Anteil anderer Berufsgruppen. Juristische Perspektiven sind dominant, sicher auch bei Corona. Aber welche Perspektiven können eine Pandemie regeln ohne Rückgriff auf Fairness?

Politik als Schwarzer Peter In Zeiten von Corona haben wir in der vergangenen Zeit – und daran wird sich wahrscheinlich nichts ändern – erfahren müssen, dass die regulativen Maßnahmen problematisch sind. Gemeint ist damit nicht nur der Inhalt der Regeln, sondern die Quellen, die zu Rate gezogen werden. Das sind hier in Deutschland die Regierung, manchmal inklusive Parlament, die Ministerpräsidenten und die von der Regierung ernannten Berater. Jedes Bundesland verfügt über ein eigenes Beratungsgremium, das bei den Bund-LänderGesprächen vor der Sitzung beraten hat.

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Politik als Schwarzer Peter

Der bekannte Lyriker Durs Grünbein sagte in einem Interview 2017 (also noch vor der Pandemie), dass die »politische Sprache […] ein Spiel von Täuschung, Camouflage, Euphemismus« (Spie­ gelinterview vom 25.08.2017) ist. Je mehr Informationen aus der Politik kommen, desto mehr Unklarheit entsteht und desto weniger Klarheit, was die Regeln anzielen, warum sie gelten sollen und ob es Ausnahmen gibt, um mehr Gerechtigkeit herzustellen. Wenn Coronaregeln beraten werden, geht ein Mix ein 1. aus ver­ schiedenen medizinischen Disziplinen, 2. aus politischen Maßstä­ ben, die die Länderchefs beurteilen für ihr jeweiliges Bundesland, und 3. aus moralischen Regeln, die vom Nationalen Ethikrat u.a. diskutiert werden. Nicht mitreden dürfen die Betroffenen; es geht ja nicht nur um fachliche Expertisen, sondern auch um Interessen, Rechte usw. Ist das, wie es so schön heißt, »repräsentative Demo­ kratie«? Wer repräsentiert hier was? Besondere Probleme entstehen dadurch, dass dieser Regelmix von der Politik beherrscht wird. Das führt, wie es der Freiburger Juraprofessor Ernst Benda39 beschrieb, entweder zur »Politisierung der Justiz« oder aber zur »Juridifizierung der Politik« (2010, S. 885). Das soll heißen: Politik wird zu einem juristischen Geschäft, das ihre moralische Basis verloren hat. Rechtliche Ori­ entierung der Politik verliert zunehmend die alltagspraktische Basis. Aus einer Talkshow berichtete der Physiker Meyer-Hermann (Abteilungsleiter System Immunologie, Braunschweig), wie fehl­ geleitet seitens der Politik die Fakten der Experten in politisches Handeln umgesetzt werden. Politiker nehmen die Ratschläge der Experten längst nicht immer auf, nur wenn es passt. Regeln bleiben mehr oder weniger frei von den Einschätzungen der Experten. Und was ist dabei die Aufgabe von Moral? Regeln dienen, so nochmals Kurt Bayertz, »zur Minimierung anthropogener Übel« (2014, S. 40). Ethik, von vielen gern als Privatsache abgetan und als politisch unwichtig degradiert, spielt keine wichtige Rolle mehr, leider. Begründungskontrolle politischer Regeln wird damit immer 39

1968–69 Innenminister im Kabinett von Kurt Georg Kiesinger.

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Aspekt 15 Corona und die Begründung der Regeln

schwerer. Sechs Formen der Ablehnung (vgl. ebd., 2014, S. 20–30) von Regeln zeigen die Schwächen des Zusammen-lebens: Naivität

Unwissenheit über die Konsequenzen einer Handlung

Protest

Überdruss und Protest gegen die Konventionen der üblichen Regeln

Ausbeutung

Nutzlosigkeit dieser oder jener Regel (nicht der Moral insgesamt)

Skeptizismus

Zweifel an der Erkennbarkeit dessen, was mora­ lisch und rechtlich richtig oder falsch ist

Amoralismus

Nicht-hinreichend begründete Regeln werden nicht eingehalten

Immoralismus Grundsätzliche Sinnlosigkeit oder Schädlichkeit von Moral Die Gefährdung von Zusammen-leben in einer Wissensgesell­ schaft ist insofern nicht überraschend, weil Wissen dominiert, nicht Handeln. Regeln abzulehnen ist recht verbreitet. Oft werden sie abgelehnt, weil die ethische Basis nicht passt. Die kann und muss man diskutieren, aber kann und darf sie nicht ablehnen, wenn damit das Zusammen-leben in die Brüche geht. Das würde die soziale Verantwortung kosten. Fehlende Begründung der Fakten und der moralischen Basis müssen nachgefordert werden.

Vier Prinzipien der Ethik Viele Menschen sehen Vorschriften gern als etwas an, das nur gilt, solange man nicht erwischt wird. Oder sie erkennen etwas nur an, was sie selber sagen. Sieht man das so, sieht man Moral meist nur als Außensteuerung. Z.B. denke ich da oft an das neudeutsch so formulierte »social distancing shaming« (vgl. Ute Frevert, 2020, S. 16). Man verlangt von anderen, sich an Vorschriften, etwa an das

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Vier Prinzipien der Ethik

Beachten der Abstandsregel, zu halten, gleich ob man das selber tut oder nicht. Orientierung an Prinzipien funktioniert anders. Hier eine kurze Erklärung: Das Modell der Prinzipienethik stammt von zwei amerika­ nischen Autoren, vom Philosophen Tom Beauchamp und dem Theologen und Philosophen James Childress (vgl. 2001). Sie stellten vier Prinzipien auf, mit denen medizin-ethische Probleme gelöst werden sollten. Seit der ersten Auflage 1973 (insgesamt 7 Auflagen) gilt dieses Buch als Klassiker, manchmal persifliert als Washington-Mantra. Sein Renommee hat dieses Buch vor allem 1) weil es praktisch und 2) in allen Ländern anwendbar sein sollte. Beauchamp und Childress argumentieren zwar mit Nützlich­ keitserwägungen und Konsequenzenabschätzungen, aber auch mit Prinzipien. Nicht das System hilft in praktischen Fragen, sondern die Sachdienlichkeit. Die praktische Anwendbarkeit zeigt sich in folgendem Schema: Autonomie

Eine Handlung muss dem Prinzip der Autono­ mie entsprechen, das natürlich für den Arzt und den Patienten gilt.

Fürsorge Eine Handlung muss dem Prinzip der Fürsorge (Orig. principle entsprechen. Fürsorge fügt dem oder den ande­ of beneficence) ren nur Gutes (so wörtl.) zu, also Dinge, die ihm nützen. Schadensverbot (Orig. Principle of nonmaleficence)

Eine Handlung muss dem Prinzip des Scha­ densverbotes entsprechen. Nichts darf dem oder den anderen getan werden, was ihm bzw. ihnen zum Schaden gereicht.

Fairness/ Gerechtigkeit

Handlungen müssen gerecht/fair sein und niemanden anhaltend benachteiligen.

Es geht nicht um eine Rangordnung á la 1. Platz versus 4. Platz. Wir müssen analysieren und sondieren, was für die Betroffenen die Hintergründe der Regeln sind. Das geht nur in einer Debatte, aber leider gibt es sie bei Corona nicht. Es gibt Ansätze in der

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Aspekt 15 Corona und die Begründung der Regeln

klinischen Medizin, offensichtlich z.B. mit dem Nationalen (seit Merkel »Deutschen«) Ethikrat auch in der Politik. Aber werden wir Normalbürger gefragt? Was für die medizinische Ethik gedacht war, kann auch als Matrize für die Pandemie angewendet werden. M.E. ist der Rück­ griff auf das Prinzipienmodell hilfreich. Spielen wir das einmal an einem Beispiel durch: Impfen z.B. bei Menschen, die der Anste­ ckungsgefahr sehr stark ausgesetzt sind, muss 1. hinsichtlich ihrer auf Information beruhenden freien Zustim­ mung überprüft, 2. auf Nutzen sowie 3. Schaden (Nebenwirkungen, Komplikationen und Konsequen­ zen) eingeschätzt und 4. auf Fairness bzw. soziale Gerechtigkeit in ihrem Lebensbereich analysiert werden. Soweit die Prinzipienmoral. Wenn man die berücksichtigt, merkt man erst, wie wenig Ethik in den Berliner Beschlüssen steckt. Nicht Demos korrigieren das mit dem Ziel, den Staat bloßzustellen, sondern Interventionen an unsere Abgeordneten im Bundestag und moralische Aufrüstung unseres Rechtsstaats durch Debatten im kleinen und großen Umfeld. »Grundrechte« begründen nicht »meine« Rechte, sondern »unser aller« Recht. Solche und ähnliche Fragen stellt sich auch der Deut­ sche Ethikrat. Der soll die Politik beraten. Und wer berät uns? Unter der Last von Corona gewöhnen sich viele die eigenständige mora­ lische Verantwortung ab, stattdessen entgleist der Pandemieschutz mehr und mehr zur Disziplinierung.

Tyrannei der Prinzipien Leider ist die Moraltheorie v.a. gegenwärtig in den Verdacht gekommen, dass Moral mit alltäglichen Problemen wenig zu tun

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Tyrannei der Prinzipien

hat. Deswegen haben sich der amerikanische Bioethiker Albert R. Jonsen und der britische Philosoph Stephan Toulmin gegen die »Tyrannei der Prinzipien« (1988, S. 5) gewendet: »Wir müssen hinter die naiven Regeln und Prinzipien zurückgehen und sehen, was sie [die Lösungen, F.J.I.] begründet« (ebd.). Moralische Ent­ scheidungen mussten getroffen werden, bevor es ausformulierte Prinzipien geben konnte. Und das waren Fälle, medizinisch ausge­ drückt »Kasuistiken«, also Bewertungen einer konkreten Hand­ lung. Ethische Stellungnahmen beginnen nicht mit Prinzipien, sondern mit Handlungsanalysen. Das ist gerade bei Fragen von Corona hilfreich. Der Anwen­ dungsbezug unserer Regeln muss unbedingt überlegt werden. Unsere ethische Sozialisation gründet meist auf Prinzipien, die in unserem Alltag, auch dem von Corona mitbestimmten, wenig bewirkten. Gehen wir nach Jonsen und Toulmin vor: Nicht Regeln und Prinzipien prägen unsere Entscheidungen, sondern Fälle, die unsere Konflikte konkret und praktisch machen. Sie fordern uns heraus, Dilemmata dieser Art zu lösen. Ein ungelös­ ter Fall macht uns Kopfzerbrechen. Muster von vielen Fällen, die zu einer erfolgreichen Entschei­ dung geführt haben. Nicht zu vergessen sind gescheiterte Lösungen vergleichbarer Fälle, die uns gelehrt haben, dass es so nicht geht. Erfahrung in der Lösung von Konflikten, die den betreffenden zum Experten in moralischen Fragen machen. Erst dann brauchen wir Prinzipen, quasi als Bestätigung ihrer Ver­ bindlichkeit. Karl-Otto Apel, ein Philosophenkollege von Habermas in Frankfurt, zählt zu den Diskurs- und eher Prinzipienorientierten Philosophen. Beide (Habermas und Apel) setzen zwar auf den Konsens als Ideal einer moralischen Entscheidung. Apel setzt aber auf einen Plan B seiner Moraltheorie, also eine am Fall orientierte Regel, die nicht mit dem Prinzip identisch ist. Gemeint ist damit eine Lösung zwischen »idealer und realer Kommunikationsge­ meinschaft« (Apel, 1988, S. 34), mit anderen Worten: moralische

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Lösungen, die nicht ideal sind, aber den Blick aufs Ideal nicht ver­ lieren. Beratung bei privaten, gesellschaftlichen und politischen Kon­ flikten – in meinem Fall bei medizinethischen Konflikten – hat den Konsens im Hinterkopf. Aber darüber hinaus sind Apels Plan B wie auch die Kasuistik von Jonsen und Toulmin sehr hilfreich. Gibt es nicht auch bei Fragen von Corona einen Plan B? Man hört nichts davon in der parlamentarischen Pandemiedebatte.

WIRund die Regeln Besinnen wir uns auf eines: Bei Corona ging es immer nur um die biomedizinischen Fakten (Virologie usw.). Verstehen geht aber weiter: um das, was hinter den Fakten steht. Dahinter steht das Wir. Das haben wir leider ausgeblendet. Der berühmte deutsche Philosoph und Psychiater Karl Jaspers widersetzte sich dem Versuch, an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg ein psychoanalytisches Institut, das Sigmund-Freud-Institut, einzurichten. Der Punkt war nicht, die Medizin von ihren psychischen Aspekten freizuhalten, ganz im Gegenteil. Er wollte klar machen und insbesondere in der Medizin­ ausbildung festhalten, dass hinter einer Erkrankung mehr steckt als nur Psychologie. Eine große Rolle spielen bei ihm Ganzheit des Menschen, geistige Entscheidung bzw. Wahl, Offenheit gegen sich und andere, Selbstverwirklichung etc. (vgl. K. Jaspers, 1986). So begibt sich derjenige, der diese Momente in sein Leben inte­ griert, auf einen Weg jenseits der Psychologie. Das Höchste für den Helfer ist, schreibt Jaspers, »Schicksalsgefährte zu werden mit dem Kranken, Vernunft mit Vernunft, Mensch mit Mensch« (ebd., S. 18), d.h., die wirklich existentielle Prägung dieser Beziehung ist ein zentraler Punkt. Nicht Schema, sondern Beziehung. Philoso­ phisch betrachtet: Hinter einer Krankheit stecken Beziehungen zu einer Welt, die immer auch die Welt der anderen ist. Es werden nicht einfach Gesundheitsziele verabredet, sondern die Beteiligten entdecken, wer sie sind, und müssen entscheiden,

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Regeln gehören zum Zusammen-leben

wer sie sein wollen. Gesundheitsziele bleiben extern (»extrin­ sisch«, wie man in der Ethik sagt). Wer sind wir bzw. wollen wir sein in diesem Drama des richtigen Verhaltens? Wir müssen wissen, warum »uns« (und nicht irgendwelchen Erdenbewohnern) diese Regeln auferlegt werden. Darum sollte man sich viel mehr küm­ mern. Übertragen auf Corona heißt das: Wir werden überschüttet mit Regeln, aber es scheint keine Rolle zu spielen, wer wir sind bzw. werden wollen. Und es gibt keinen Dialog, dafür Spaltung.

Regeln gehören zum Zusammen-leben Eine Regel ist ein seltsames Problem: Man braucht sie, aber man hat Schwierigkeiten, sie zu begründen. Hier ein paar Hinweise: ● Rollentausch: Mich beschäftigte ein Roman des Psychotherapeuten (und Begrün­ ders der Gruppenpsychotherapie) Irvin D. Yalom »Und Nietzsche weinte«. Nietzsche geriet in eine Existenzkrise, als sich Lou Andreas-Salomé (später Mitarbeiterin im Institut von Sigmund Freud) von ihm abwandte. Sie suchte Josef Breuer (Lehrer von Freud) auf, den sie als den besten Arzt für den Umgang mit Seelenleiden hielt. (Welcher männliche Arzt lässt sich das von einer hübschen Frau zweimal sagen?) Nach der Exploration ging es um Ratschläge für Nietzsches Therapie. Interessanterweise vertauschten Nietzsche und Breuer bald die Rollen: Nietzsche wurde zum Therapeuten Breuers mit seinen Eheproblemen. The­ rapievorschläge wurden nur durch Dialog gefunden, nicht durch professionelle Rollen. Für Probleme rechtlicher und moralischer Art, sicher auch für unsere Coronaregeln, passt der Rollentausch. Auch der, der die Regeln erlässt, kann Betroffener sein.

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● Perspektivenwechsel Man versucht, schreibt John Leslie Mackie, »die Sachlage zugleich aus der eigenen wie aus der Sicht des anderen zu betrachten und nach handlungsanleitenden Prinzipien [...] zu suchen, die aus bei­ den Blickwinkeln annehmbar erscheinen« (1983, S. 114). Es ist bedeutsam, weil wir nie gelernt haben, dass etwas nur dann richtig ist, wenn es aus verschiedenen Perspektiven als richtig erkannt wird. Angenommen, Impfbefürworter diskutieren mit Impfverweige­ rern. Dann ist es sehr hilfreich, wenn wir gewohnt sind, richtig und falsch aus verschiedenen Perspektiven zu sehen. Perspektiven­ wechsel ist dann sicher noch keine Lösung, aber zumindest ein Schritt in Richtung Respekt für die kontroverse Einschätzung. Manchmal spüren wir auch, dass eine Regel weniger uns, dafür umso mehr anderen Mitbürgern nützen soll. Wir tragen Verant­ wortung, nicht nur die Regierung. ● Diskursfähigkeit Diskursfähigkeit ist auch etwas, was wir nicht gelernt haben. Sehr überzeugend ist als Begründung der Ethik die Diskurstheorie, die wir schon mehrfach angedeutet haben. Die Theorie klingt überzeu­ gend, aber m.E. liegt das Erlernen der diskursiven Argumentation total brach. Beunruhigend klingt die Diskussion der beiden Pädagogen Rei­ chenbach und Pongratz hinsichtlich der gemeinsamkeitsverstär­ kenden Praxis des Diskurses in der Schule. Sie loben zwar in ihrer Publikation das Programm der Bund-Länder-Kommission mit dem Titel »Demokratie lernen und leben«, beklagen aber das Fehlen der »Diskursfähigkeit als Bildungsziel« (2009, S. 833) im Gegensatz zur kritischen Erziehungswissenschaft v.a. der 70er Jahre des letz­ ten Jahrhunderts. Dass weite Kreise (nicht nur) der Deutschen in der Beurteilung von Regeln die Diskursivität eher geringachten, ist dann nicht mehr erstaunlich.

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Was sind vor allem moralischen Fähigkeiten, die sich mit den politischen im Unterricht weitgehend decken? Einige davon will ich benennen: den Blickpunkt des Anderen einnehmen, den Anderen als vernünftiges Wesen anerkennen, die eigenen und fremden Interessen identifizieren, den Dissens benennen und begründen, von den Meinungen anderer lernen, weil auch die eigenen Meinungen entwicklungsfähig sind, ● in einem argumentativen Dialog auf jede Art von Herrschaft zu verzichten.

● ● ● ● ●

Zusammen-leben funktioniert nur, wenn man auf Wir geeicht ist. Diese hier aufgezählten Optionen erscheinen mir als Bedingungen eines Zusammenlebens. Hoffentlich haben wir durch Corona diese soziale Eichung nicht verloren.

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Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun?

Zusammen-leben ist nicht nur Sache der Regeln, Vorschriften und Werte, sondern unsere Sache. Wer sich daran orientiert und Handeln danach ausrichtet, wird vielfach als «moral agent« bezeichnet. Stattdessen fixieren wir Regeln als etwas, was von außen kommt, nicht als etwas, das aus uns selbst kommt, sich entwickelt und durch unser Handeln wächst. Was ist ein »moral agent«? Ein moralischer Akteur, genauer: ein moralisch Handlungsfähiger. Dieser fällt Handlungsentscheide, indem er Taten und Vorsätze als gut oder schlecht ausmacht sowie für Handlungen mit dieser Ausrichtung verantwortlich ist. Was aber macht den Handelnden zu einem »moralisch Handelnden«?

Das Prinzip der Gegenseitigkeit Man versteht moralische Verantwortung nicht als einen Verant­ wortungsmodus unter anderen, vielmehr als universalgültiges grundlegendes Pflichtgefühl gegenüber einer jeden Entscheidung. Regeln basieren auf Gegenseitigkeit. Eigennützigkeit geht nicht ohne Fremdnützigkeit. Der Philosoph Dieter Birnbacher schreibt (1995, S. 164): »Ohne Verantwortlichkeiten gegenüber anderen können wir keinem moralische Vorwürfe machen, dass er das eigene Leben, die eigene Gesundheit oder das eigene Glück aufs Spiel setzt oder seine Fähigkeiten brachliegen lässt«.

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Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun?

Das bedeutet: Verantwortlichkeit ist die Basis von Sorge. Das klingt zunächst nicht aufregend, beinahe simpel. Aber das ist nicht so. Angenommen, wir handeln ohne Verantwortlichkeit, dann sind unsere Ratschläge bloßes Gerede. Zusammen-leben und Regeln der Sorge wären sinnlos. Seltsam, im Fernsehen wurde eine junge Mutter interviewt, die ihre Kinder gegen Kinderkrankheiten geimpft hatte, aber ihre eigene Coronaimpfung ablehnt, weil sie sich nicht für vulnerabel hält. Eine infizierte Frau kann natürlich nicht so wie früher für ihr Kind sorgen. Sie aber will sich für eine Impfung erst endgültig entscheiden, wenn andere sich haben impfen lassen und positive Ergebnisse – die gibt es ja schon – vorliegen. Würde das nicht bedeuten, dass der Andere als Objekt eines Blindversuchs und dem eigenen Interesse dient? Das ist zwar verbreitet, aber hat nichts mit Verantwortung zu tun. Es gibt leider viele andere ähnliche Geschichten. Aber was ist das Überzeugende solcher Entscheidungen? Das Bauchgefühl? Sind Argumente, die auch anderen sinnvoll erscheinen und Momente für Diskussionen sind, nicht besser, v.a. wenn sie auf Statistiken beruhen? Selbst die besten Statistiken ersetzen nicht die riskante Entscheidung und deren Gültigkeit, die immer wechselseitig gilt – oder nie. Der Begriff «Verantwortung» ist überraschend, auch wenn er zum Plastikwort verkommen ist. Der Begriff setzt voraus, dass eine Antwort gegeben wird, dem eine Frage vorausgeht. Wir müssen uns in uns selbst und den Anderen hineinfühlen. Wir müssen erkennen, was der Andere von uns erwartet – seine Frage –, und wie wir darauf reagieren können – unsere Antwort (also Ver-antwort-ung). Natürlich geht und gilt das auch anders herum: Was in dem simplen Begriff »Verantwortung« alles steckt, müs­ sen wir in dem Kosmos der Regeln – oder ist das eher ein Chaos der Regeln? – beachten. Zurzeit scheint sich der Verantwortungs- und Sorgecharakter der Regeln immer mehr aufzulösen. Verantwortung setzt unausgesprochen eine dialogische Situa­ tion voraus. Die müssen wir aufbauen, nicht den Dogmatismus der Rechthaberei.

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Der vergessene »moral agent«

Der vergessene »moral agent« Wichtig ist, dass wir, die Bürger, Verantwortung tragen. Die Poli­ tiker sind nicht die allein Verantwortlichen, wir alle tragen Verant­ wortung. Dass da etwas nicht rund läuft, kann nicht verleugnet werden, ist aber kein Grund, uns nicht mehr verantwortlich zu fühlen. Man könnte ja mal ein Gedankenexperiment machen: Angenommen, die Regierung würde keine Regeln vorgeben, dann würden wir vor einem Chaos von gegensätzlichen Vorschlägen stehen. Und wer kontrolliert das Ganze? Die Querdenker? Es gibt einen verrückten Satz, der Ethiker zum Aufbrausen bringt: »Was nicht verboten ist, ist erlaubt«, wie Schiller im »Wallenstein« ironisch meinte. Der Satz dient gelegentlich als Rechtsgrundsatz. Und wo bleibt die Moral? Aber egal: Regeln, Paragraphen usw. brauchen eine Begründung, Jurisprudenz macht keine Moral. Wer Befolgen der Regeln ablehnt, lehnt auch das Funktionieren des Gemeinwesens ab? Warum »moral« agent, wenn es bei Regeln doch auch um Recht geht? Der Philosoph Ulrich Hommes definiert Recht als »Ordnung menschlicher Gemeinschaft« (1973, Bd. 4, S. 1195). Für Moral und Ethik gilt dieselbe Zielsetzung wie für die rechtlichen Regelungen. Mithin haben Recht und Moral leider auch die gleichen oder ähn­ liche Schwierigkeiten mit ihrer praktischen Anwendung. Die gemeinsame Schwierigkeit liegt in der unsensiblen Praxis der Regeln. Richard Rorty beschreibt die Einstellung eines Roman­ ciers – hier Charles Dickens, den ich früher erwähnt habe – so (1993, S. 97): »Er [der Roman, F.J.I.] will, daß die Menschen die anderen, denen sie auf der Straße begegnen, zur Kenntnis nehmen und verstehen lernen. Er will nicht, daß die Menschen durch das Anheften von moralischen Etiketten einander Unbehagen berei­ ten«. Verantwortung bedeutet nicht moralische Be- bzw. Verurteilung, z.B. wenn über das Fehlen von Solidarität usw. geurteilt wird. Stattdessen, wie Rorty im letzten Zitat schrieb, müssen Menschen

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Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun?

verstehen lernen, wie Solidarität funktioniert. Die setzt immer zwei voraus, die sich Sorgen machen. Zusammen-leben ohne Regeln geht nicht. Was wir von politi­ schen Institutionen verlangen, müssen wir auch als unsere eigene verantwortliche Herausforderung ansehen. Mit anderen Worten: Wir dürfen nicht nur nach gültigen Regeln rufen, wenn wir sie nicht als unseren eigenen Auftrag ansehen. Regeln-Erlassen, auch mithilfe von Experten, ist gut und schön, aber es geht um unsere Verantwortung, nicht um die Verantwortung der Politiker. Beispiel: In Baden-Württemberg galt (Januar 2021) eine Aus­ gangsbeschränkung nach 20 Uhr, in Bayern nach 19 Uhr, und im Elsass ab 18 Uhr. Irgendetwas stimmt da nicht. Soll man sich an unverständliche Regeln halten? Die Nicht-Befolgung sol­ cher Regeln wäre bußgeldpflichtig, sich an diese Regeln zu hal­ ten würde Bußgeldzahlungen umgehen. Aber sichern wir damit Zusammen-leben oder das Gefühl, dass unsere Regeln nicht in Ordnung sind? Zugegeben, soziale Verantwortung wird durch solche Regeln erschwert. Es gäbe da noch sehr viele Beispiele, die unsere Verantwortung ruinieren, die wir aber so dringend brauchen. Es gibt viele imponierende Entscheidungen in solchen Dilem­ mata. Ein schon fast abgenutztes Beispiel ist Sokrates, der im antiken Athen wohl aufgrund einer fadenscheinigen Rechtsbe­ stimmung zum Tod verurteilt wurde. Seine Schüler boten ihm durch Bestechung der Wächter die Flucht an. Aber er lehnte das ab, um die damalige (Vorläufer der Demokratie?) Judikative nicht zu unterlaufen und Unrecht nicht mit Unrecht zu beantworten. Er entschied sich für den Schierlingsbecher. Ein gutes Beispiel für moralische Verantwortung – ein gutes Beispiel auch für das Dilemma, wie man Entscheidungen treffen sollte, wenn die Regeln offensichtlich verkehrt sind. Im Zweifel für die Gemeinschaft. Ein (fast) moralisches Beispiel aus der Pandemieszene: Die Journalistin Kristina Dunz (2020) beachtete die Coronare­ geln immer minutiös – bis auf einen kurzen Moment. Bei einem Treffen der Familie trug sie einmal einen Tisch vom Garten ins

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Kritik der Regeln

Haus ohne Maske und Sicherheitsabstand zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Schwager. Alle drei waren infiziert, und es sah ganz so aus, als seien auch die Eltern infiziert worden. Das Schlimmste sei für sie die Angst gewesen, andere angesteckt zu haben – eventuell auch die Eltern, die in dem Fall wahrschein­ lich einen schweren Krankheitsverlauf gehabt hätten. Dann wurde allerdings klar, dass sie nicht angesteckt waren. Für eine gewisse Zeit wurde sie das Gefühl nicht los, aus Unachtsamkeit jemandem geschadet zu haben.

Kritik der Regeln Was mich immer wieder nachdenklich macht, ist die Kritik an Regeln. Diese Kritik basiert meistens auf Theorien, mal albern, mal ernst. Aber Theorien sind doch nicht unser Problem. Regeln haben das Ziel, eigenes Leid sowie das der anderen zu verhindern. Regeln brauchen Ziele, und die werden zu selten – auch medial nicht – verbreitet. Regeltreue scheint einfach. Als Katholik kann man die Regeln der kirchlichen Sexualmoral (Empfängnisverhütung, Recht auf Leben bei ungeborenen Kindern etc.) befolgen. Aber von einem Kirchenrechtler hörte ich das freche Sprichwort: »Die Römer (= der Vatikan) machen die Gesetze, und die Deutschen halten sie«. Einige Menschen, etwa manche Italiener, halten sich nicht an Regeln, ohne die Umstände ihrer Gültigkeit zu kennen. Hilft uns das? Ja. Sie sollen unsere Handlungsbereitschaft unterstützen, nicht Moral- oder Rechtstheorien. Das bedeutet, dass man für das eigene Tun und Unterlassen einsteht und die Konsequenzen dafür trägt. Natürlich dürfen bzw. müssen wir Regeln kritisieren, aber wir müssen ihren Sinn entdecken. Wir dürfen das aber nicht aus dem Auge verlieren, dass wir selber verantwortlich sind und niemandem – auch uns selber nicht – schaden dürfen. Wenn das nicht klar ist, sind die Regeln nicht verbindlich. Ich denke, fast immer erschrocken, an Wolfgang Borcherts

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Stück «Draußen vor der Tür». Für mich ist es nicht nur die soge­ nannte Trümmerliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg, vielmehr das Ende eines Theaterstücks mit dem dramatischen Satz: »Warum antwortet mir denn keiner?« Es geht ja nicht nur um hintergründige Fragen, sondern um Antworten, d.h. Ver-Antworten, gerade in der Pandemie und ihren vielen Katastrophen.

Moral entwickelt sich Das heißt zweierlei: Die Gültigkeit der Regeln entwickelt sich und die Regeln an sich entstehen durch Erfahrung und Sensibilität für Praxisprobleme. Beides war eine große Frage in den vielen Pande­ mien im Laufe der Jahrhunderte (wie in Aspekt 6 beschrieben). Aussagestark sind die moralpsychologischen Untersuchungen des Amerikaners Lawrence Kohlberg. Übergehen wir die Kritik, die ist nicht entscheidend für unser Thema. Er orientiert sich an Jean Piagets Moralpsychologie. Dessen Frage: Wie entwickelt sich bei Kindern Moral bzw. Regeltreue? Am Beispiel des Murmelspiels hat er verschiedene Altersstufen (6–7, 8–9 und 10–12 Jahre alte Kin­ der) im Hinblick auf Moral- und Regel-Orientierung untersucht. Kohlberg entwickelt daraus ein sechsstufiges Modell (vgl. sein Buch von 1978). Seine sechs Stufen, seine angedeutete Stufe 7 und die Kritik an seinem Schema kann ich hier nicht kommentieren. Ebenfalls verzichte ich auf die einzelnen Stufen außer der ersten, der mittleren (Stufe 3) und der letzten (Stufe 6). Hier also die reduzierte Skizze. Die Moralentwicklung beginnt bei Kohlberg mit Strafe und Gehorsam (Stufe 1), d.h., ich befolge Regeln, weil Strafe droht. Auf Stufe 3, der des Durchschnittsamerikaners (bei Habermas auch des Durchschnittsdeutschen), befindet sich unsere Regelorientierung, die zur konventionellen Ebene zählt. Wer sich an Regeln hält, heißt bei Kohlberg »good boy« bzw. »nice girl«. Die/der so Eingestufte ist noch nicht in der Lage, Prinzipien zu entwickeln und sich an ihnen zu orientieren. Kohlbergs Modell endet mit der Orientierung

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Moral entwickelt sich

an dem allgemeingültigen ethischen Prinzip, z.B. der Verantwor­ tung (Stufe 6). Er ordnet diese Stufe der postkonventionellen Ebene zu. Aufgegriffen wurde Kohlbergs Moralpsychologie zuerst von Habermas. Er erweiterte Kohlbergs Stufe 6 (Prinzip) um die Fähig­ keit des Diskurses im politisch-öffentlichen Bereich (vgl. 1983). Bleiben wir einen Moment bei Kohlbergs Stufe 6. Das Verständ­ nis für die grundlegenden handlungsleitenden Prinzipien erreichen wir selten bis nie, auch wenn Verantwortung, Fürsorge oder Soli­ darität zu den meistgebrauchten Begriffen der Weihnachtsanspra­ chen der deutschen Chefs gehören. Nachdem das Chaos der Impfstoffbeschaffung erledigt war, kehrte Impfmüdigkeit ein. Zwei Gründe sehe ich: 1) Weiß man wirklich, was Solidarität ist? Allzu oft denkt man an noch ausste­ hende Erklärungen. 2) Impfen bedeutet Schutz für einen selber und Schutz des Anderen, auch wenn es kein totaler Schutz ist, so doch ein günstigerer Verlauf der Infektion für beide. Also, auf welcher Stufe befinden wir uns in Deutschland bei der Pandemiebekämpfung? Wohl auf Stufe 3, wie schon gesagt. Das liegt nicht unbedingt daran, dass unsere Mitmenschen bei der Pandemiebekämpfung nicht ethisch denken. Stattdessen – und da bin ich mir ganz sicher – liegt es daran, dass wir Ethik nicht für wichtig halten und ständig vorgelebt bekommen, wie wir uns eine Lösung der Pandemie vorstellen sollten – eine Lösung, die »man« (nicht wir?) anstreben soll. Das fremdgesteuerte Ich? Ich habe vor Jahren in einem Krankenhaus einen Ethikbera­ tungskurs mit Kohlberg begonnen. Dabei war der Verwaltungschef, der von der Ethik erwartete, dass mal endlich die Chirurgen einen vor den Latz kriegen. Ethik bedeutet Dialog und nicht Dogma. Der Verwaltungschef kam nicht mehr, Pech gehabt. Diskussion im Krankenhaus ging noch nicht – oder? Zurück zum Thema. Kohlberg wie Habermas u.a. denken darüber nach, wie eine Moral, gerade auch eine politische Moral aussähe, die an Prinzipien (Stufe 6) orientiert ist. Ein Prinzip ist, so Maximilian Forschner, der »letzte Maßstab praktischen Argu­ mentierens« (2008, S. 217). Wir haben – nicht nur von Kant und

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Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun?

Habermas – gelernt, dass ein Prinzip nur dann gilt, wenn es auf Gegenseitigkeit gebaut ist. Wohlgemerkt: auf Gegenseitigkeit und Miteinanderreden, nicht auf absoluter Richtigkeit der Regel. Man hörte in Zeiten von Corona öfters den Vorwurf, dass Men­ schen, die Verantwortung, Fürsorge oder Solidarität vermissen ließen, nach größeren Zusammenkünften infiziert wurden und die Infektion weitertrugen. Das klingt nach Kohlbergs Stufe 6, ist es aber nicht. Beunruhigend ist, dass Prinzipien aus dem Hut gezaubert wer­ den wie die Kaninchen durch den Zauberer. Dabei sind Prinzipien in Recht und Moral extrem wichtig. Aber Verantwortung, Fürsorge oder Solidarität dürfen nicht als moralisch aufgeladene Worthülsen gebraucht werden, sondern müssen in Gesprächen und Geschich­ ten über unser Zusammen-leben vorkommen. Sie werden gern als Moralprügel instrumentalisiert. Der Umgang mit Regeln ist dann auf ziemlich infantilem Niveau stehen geblieben (Kohlbergs Stufe 1). Moral entwickelt sich. Das bedeutet, dass die Moral, die sich in unseren (Corona-)Regeln spiegelt, nicht ein ewig bleibendes und gültiges Urgestein ist. Jean Piaget wurde im Zusammenhang mit Kohlberg kurz erwähnt. Von ihm habe ich im Hinblick auf Corona drei Dinge gelernt: 1) Wer die Gültigkeit der Spielregeln – auch Spielregeln sind Regeln – nicht begreift, begreift auch die Coronaregeln nicht. 2) Wir begreifen Regeln nur dann, wenn wir mit ihnen arbeiten. Piaget hat mit Kindern gearbeitet und heraus­ gefunden, dass die Gültigkeit der Spielregeln vom lieben Gott, von Papa, von Lust und Laune usw. (je nach Alter und sozialem Hintergrund) abhängt. 3) Wir alle, Politiker und Wähler, denken auf einer verschiedenen Entwicklungsstufe von Moral. Die Berliner Regeln erreichen längst nicht alle. Die Regierung reflektiert zu wenig den Inhalt und die Gültigkeit der Regeln. Sind wir weiter als die 12-Jährigen bei Piaget, auch wenn wir andere Wörter benutzen? Und ist es wirklich anders, wenn wir mit den Regeln für die Virusinfektion statt mit den Spielregeln für das Murmelspiel arbeiten?

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Provisorische Moral

Provisorische Moral Descartes prägte im 3. Teil seines »Discours de la méthode« den Begriff »Morale par provision« (provisorische Moral). Die Her­ kunft dieses Begriffs kommt auch aus der Biographie von René Descartes her, der nicht nur die neuzeitliche Philosophie (auch die Medizin) prägte, sondern auch als Offizier im Dreißigjährigen Krieg arbeitete. Die Zerstörung der Städte und Gehöfte war sein Alltag. Das wurde seine Metapher, auch in seiner Philosophie. Er schrieb über die »Destruktion allen Herkommens [der, F.J.I.] beginnenden Wissenschaft. Die Destruktion zieht auch die bishe­ rige naturrechtliche M(oral) der Begründung in Mitleidenschaft« (Spaemann, 1984, S. 172). In einer solchen Situation greift Descartes auf das Bild zurück, wie man ein neues Haus baut. Während des Neubaus braucht man – das alte ist möglicherweise zerstört oder abgerissen – ein Haus, in dem man für die Zwischenzeit gut untergebracht ist. So auch die Situation der Lebensführung und der noch nicht fertigen neuen Wissenschaften und Regeln. Hier einige wichtige Maximen: 1) Einhalten der zurzeit gültigen Gesetze, 2) Wahl des Wahrscheinlichen, 3) Unterordnung der eigenen Wünsche und 4) Beschränkung auf das Mögliche. Vielleicht haben wir andere Erwartungen an die Regeln im Fall von Corona. Aber es bringt nichts, die provisorische Ordnung zu unterlaufen, um Ideen dagegenzusetzen, die endgültig zu sein vorgeben. Gibt es das Endgültige und braucht man das überhaupt? Gehen wir zurück auf die vier Maximen von Descartes. Provi­ sorische Moral ist m.E. Absage an das Endgültige, weil es keine andere Moral als diese provisorische gibt. Bezogen auf Corona heißt das: Nicht das Endgültige ist wichtig für unsere Situation, sondern die Unterordnung der eigenen Wünsche unter das, was unser Ziel ist: das neue Haus, um in Descartesʼ Bild zu bleiben. Also nicht Duckmäusertum bezüglich Regularien, sondern Zielori­ entierung ist unser Problem. Nicht Regeln für endgültig halten, sondern das Ziel vor Augen halten. Unser aller Ziel ist das Zusam­ men-leben.

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Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun?

Mit Regeln umgehen ist nicht einfach. Imponiert hat mir der Roman »Der Untertan« von Heinrich Mann. Hier kurz eine Inter­ pretation: Heinrich Mann beschreibt darin den Antihelden Diederich Heß­ ling. Der hebt die Macht aufgrund eigener Schwäche auf einen Sockel und zeigt damit überall, wie mächtig er ist. Er wird dabei aber zum Untertanen, weil er die Mächtigen – also die, die die Regeln erlassen können – verehrt. Konsequenz: Er unterwirft gnadenlos auch andere. Mann karikiert die typisch deutsche Mentalität des Untertan-seins. Wer sind die Schwächeren? Die Schwächeren sind diejenigen, die Hilfe brauchen. Und Stärke zeigen die, die anderen helfen. Die sog. Querdenker sind oft diejenigen, die ihre gekränkte Seele streicheln – und überzeugt sind, die Mächtigeren zu sein. Oder sind sie doch die Untertanen, auch wenn sie die aufgemotzten Muskeln spielen lassen?

Regelvermittlung Zielen moralische und rechtliche Regeln auf Einladung statt auf In-Kraft-Setzung von Regeln? Bei Moral dächte man eher an Einladung, bei Recht eher an In-Kraft-Setzung. Sollten wir uns an Regeln halten, auch wenn wir nicht sicher sind, dass sie helfen? Wir sollten es, aber nicht ohne Diskussion. Ein Leitfaden der Regelvermittlung ist in den Medien noch nie erwähnt worden. Begnügen wir uns also mit marginalen Richtli­ nien: Regelvermittlung sollte ● narrativ sein »Narrativ« (als Substantiv) bedeutet Erzählung. Man kann Regeln nicht verstehen (höchstens auf einer theoretischen Ebene), ohne dass Geschichten dahinterstehen. Wenn Politik (etwa durch Pochen auf das Infektionsschutzgesetz mit seinen 77 Paragraphen) juridi­

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Regelvermittlung

fiziert daherkommt, kann man dann seine Regeln verstehen? Wohl eher nicht. Regeln beruhen v.a. in der Psychologie auf Storytelling. Eine lebendig erzählte Geschichte gewinnt die Aufmerksamkeit ande­ rer Menschen leichter als eine logisch-sachliche Darlegung von Fakten. Dies geschieht über die Personifizierung mit betroffen Personen der Geschichte. Wer diese Geschichte(n) erlebt, wird sogar in Angst, Wut, Freude, Begierde etc. verwickelt. Viele Aufgaben sind damit verbunden: Erfahrung, Sachinfor­ mation und Wissensvermittlung, Problemlösungen und Denkpro­ zesse anstoßen, Rollenerwartungen definieren, Verhaltensände­ rung anregen, Verhaltensweisen erweitern, Normen und Werte vermitteln, Motivation, Hoffnung und Sinn stiften etc. ● den Lebenskontext erfassen, um Maßnahmen zur Verhinderung von Leid treffen zu können Ein seltsames Fernsehinterview war das mit einer jungen Frau, Mitte 20, im Rollstuhl, erhebliche Verletzungen der Wirbelsäule nach einem schweren Unfall. Ziel der Sendung: Rettungsgassen bilden. Nicht Gesetze machen das Bilden von Rettungsgassen verständlich, sondern das Gefühl, so etwas könnte mir auch blühen und einer hat’s gehabt, der darüber erzählt. Uns fehlen Geschich­ ten. Gleiches gilt auch für Coronaregeln. Das Leid der anderen ist auch meine Gefahr. Identifikationsprozesse werden eingeleitet. Solidarität keimt auf – doch im Parlament, in den Medien und sonstwo wird stattdessen der moralische Knüppel geschwungen. Dabei würde das Erzählen von Lebenskontexten reichen. Die Regeln sollen schlicht und einfach Leid verhindern. Das muss immer klarer werden. Mit Leiden konfrontiert zu wer­ den, erzeugt Betroffenheit. Das heißt auch für Coronaregeln: Je mehr Betroffenheit, desto mehr Akzeptanz der Regeln. Sie sind situationsbedingt, basieren auf Gegenseitigkeit. Nur so festigen sie unser Leben und Zusammen-leben.

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Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun?

Bedeutung der »Moral« in Zeiten der Pandemie Bayertz (2014, S. 265) schreibt: »Moral ist kein Regelwerk, aber eine wichtige Bedingung für das Zusammen-leben. Der Rückgriff auf Sanktionen ist keine Flucht in sozialen Druck und staatliche Gewalt, der legitime Selbstschutz der [der Moralanhänger, F.J.I.] vor [deren F.J.I.] Amoralismus«. Moral regelt Zusammen-leben, und das ist immer auch Sache der anderen. Wenn man jedoch fragt, wie man diese Regeln begründet, gibt es wohl nur private Annahmen und Theorien, die man sehr ernst nehmen muss, auch wenn sie nicht endgültig sind. Mir erzählte einmal ein Patient in einem Ethik-Konsil: Man brauche ja schließlich die Religion, um Gesetzen und Regeln zu folgen. Das sah ich zwar anders, aber stellte den Mann nicht ins Abseits. Ernstnehmen bedeutet, Regeln für diskutabel zu halten und auf ihre Zweckdienlichkeit hin zu prüfen. Wer diese Annahmen und Theorien nicht zur Diskussion stellt, verweigert Zusammen-leben. In Zeiten der Pandemie verstummen all die nicht, die Regeln und anscheinend bessere Begründungen infrage stellen. Halten wir fest: Zusammen-leben geht nicht ohne Regeln. Wäre Moralischsein ohne Regeln nicht reine Utopie? Nicht alle würden Angst haben, jemanden infiziert zu haben, wie in dem oben genannten Fall von Frau Dunz, oder es für schlecht halten, wenn man Infizier­ ten trotz Risiko nicht helfen würde. Leider ist so etwas nicht üblich. Wir fürchten uns vor dem Virus und seinen Mutanten, jedoch ebenso stark vor dem Chaos von Regeln und Stufenplänen. Vor allem: Zahlen dirigieren die Situation, nicht Menschen und ihre Interessen. Irritierend ist die schleichende Inhumanität. Immer wieder lesen oder hören wir von der Corona-Müdigkeit. Jeder versteht das ohne groß nachzudenken. Eine Praxis, die mit der Zeit immer mürber macht, ist sehr verständlich: Akzeptanz kippt um in Aggression, wenn auch noch unsinnige Regeln dazu­ kommen. Gibt es wirklich die Pflicht, Regeln einzuhalten?

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Bedeutung der »Moral« in Zeiten der Pandemie

Sehr wichtig, wenn auch anders als in dern 68er Jahren der Studentenrevolution, ist mir der Roman »Deutschstunde« von Siegfried Lenz. Sein Resümee ist nicht, dass Regeln eine Art Tyrannei sind, sondern dass Regeln – auch die Coronaregeln – nur dann human und produktiv sein können, wenn man Menschen hilft – hilft, auch wenn man damit Regeln unterläuft. Eine Beschreibung des Romans in Kürze: Siggi Jepsen sitzt mit ca. 20 Jahren in einer Jugendstrafanstalt wegen Raub der Bilder von seinem Patenonkel Max Ludwig Nansen und bekommt vor der Entlassung eine Strafarbeit auf: »Die Freuden der Pflicht«. Das wird eine riesige Arbeit, fast eine Biographie: Siggi steht bereits im Vorschulalter zwischen den beiden Hauptfiguren des Romans: Zwischen seinem Vater, dem Dorfpolizisten im NS-Auftrag, Jens Ole Jepsen, und dem Maler Max Ludwig Nansen (Figur von Emil Nolde), bis dahin dem Freund des Vaters. Vater Jepsen überbringt dem Maler das von Berlin erlassene Malverbot und überwacht es minutiös. Der Maler ist das Opfer dieser grausamen Pflichtauffassung. Die Kritik des Malers am System ist nicht einfach das Unterlau­ fen der Pflicht, sie ist das Unterstützen der Anderen, die auch ihre Probleme haben. Er riskiert sehr viel, wenn er weiter malt, Siggi abstraktes Malen beibringt, dem aus der Armee wegen Selbstverstümmelung geflüchteten Bruder von Siggi vor dem brutalen Vater versteckt usw. In einem Streitgespräch sagte der Maler seinem ehemaligen Freund, also Siggis Vater: »wenn du glaubst, daß man seine Pflicht tun muß, dann sage ich dir das Gegenteil. (..) Es ist unvermeidlich, daß man etwas tut, was sie nicht verlangt.« Oder ein paar Seiten weiter: »Wenn wir zu etwas verpflichtet sind, dann dazu: vorauszusehen.«

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Aspekt 16 »Moral agent« – Was warum wie tun?

Voraussehen – ethisch gesagt: Konsequenzen einschätzen – bedeu­ tet überlegen und abwägen, welche Situationen aus unseren Ent­ scheidungen entstehen können. Lenz zeigt uns die eher weiche Linie des Malers: Seinen Mitmenschen helfen und Folgen einschät­ zen – was alles andere als einfach ist. Er stellt aufgrund von Humanität Legitimität gegen Legalität. Lenz beschreibt die Not des Jungen, die auf seiner psychischen Entgleisung beruht. Siggi sagt voller Wut dem Direktor der Jugend­ strafanstalt, dass sein Vater mit seinen verrückten Pflichten eher Erziehung braucht als er. Und der letzte Satz in dem Roman ist die hoffnungslose Sentenz, dass der Direktor und Siggi bei dessen Entlassung »sich reglos gegenübersitzen, zufrieden mit sich selbst, weil jeder das Gefühl hat, gewonnen zu haben«. Genau das darf bei Corona nicht passieren. Wir dürfen nicht in die Falle von Siggi laufen, und die einen zu Vertretern der vernunftlosen Regelbefolgung, also Legalität, und die anderen zu Verächtern der Solidarität abstempeln. Wir sind Befürworter der Kommunikation, aber im Fall der Impfverweigerer sind wir auch noch mit Kommunikationsverweigerung konfrontiert. Ist das nicht beschämend? Wenn ich Lenz richtig verstehe, ist Kritik ohne Humanität reines Geschwätz. Das ist unser Problem. Schauen wir auf die vielen Menschen, die Sorgen und Bedenken haben und die man nicht einfach in die Ecke stellen darf. Abspal­ tung von Teilen der menschlichen Gesellschaft ist der Ruin der Demokratie. Es kann doch nicht sein, wie Lenz im letzten Satz seines Romans schrieb, dass jeder das Gefühl hat, gewonnen zu haben. Man darf man nicht Legitimität gegen Legalität ausspielen. Und noch eins: Man darf und muss Regeln kritisieren, das gehört zur Demokratie, man muss aber auch helfen können, das gehört ebenso zur Demokratie. Wir müssen die Kommunikation zu einem Instrument machen, das allen hilft: denen, die Ängste haben, und denen, die manche Regel für unfair halten. Es geht ja nicht darum, ob die einen richtig ticken und die anderen nicht. Das einzig Wichtige ist, die Coronakrise so klein wie möglich zu halten und allen (!) zu helfen.

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Bedeutung der »Moral« in Zeiten der Pandemie

Denken wir an Lessing, der sich an Boccaccio (vgl. Aspekt 4, Pt 2) orientierte. Ihm geht es nicht um (christliche, jüdische und islamische) Moraltheorien, sondern um den Beweis der Liebe. M.E. hat eine Moral, die nur sich respektiert und sonst niemanden, keinen Wert.

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Aspekt 17 Die verwundbaren Helden

Was ist das Besondere am Corona-Heldentum der medizinischen und pflegerischen Arbeit? Nicht der riskante Einsatz und die schwere Arbeit. Das gilt auch für andere Berufe. Heldentum ist der Ersatz für die fehlende Gesinnung unserer Gesellschaft. »Helden« sind ein antiquierter Begriff, aber wir haben keinen anderen. Nicht nur eine hervorragende Leistung ist ein Kriterium, sondern auch die Nichtbeachtung des Risikos, das sie eingehen. Dieses Risiko ist nicht bestimmbar, es reicht im Umgang mit Seu­ chen von Null-Infizierung bis Tod. Risikotoleranz ist ein Ausdruck von spontaner Sorge für andere. Es gibt mehrere Berufsgruppen, die eine solche Risikotoleranz aufweisen, das sind sog. kritische Berufe wie Krankenwagenfahrer*innen, Polizisten*innen, Pädago­ gische Berufsgruppen von Erzieher*innen bis Lehrer*innen. Wohl das höchste Risiko tragen m.E. die therapeutischen Berufsgruppen. Laut Angaben von Christina Berndt (vgl. SZ vom 21./22. 11. 2020) wurden Mitte Oktober 2020 knapp 600 infi­ zierte Helfer gezählt. Am 19. November 2020 waren es bereits 2.678. In der später grassierenden Omikron-Welle kam es zu mehr Infektiosität, aber mit mäßigerem Verlauf. Und zurzeit gehen die Infektionszahlen in vielen Staaten wieder runter. Das bedeutet: Intensivbehandlung wird weniger, Krankenhausbehandlung nimmt zu. Soweit die Zahlen, von denen viele weitere angeführt werden könnten. Aber was ist mit der Qualität der Behandlung, also mit den Anforderungen an eine »gute« Behandlung? Kündigun­ gen, Alter, Schutzkleidung, Zeichen physischer und psychischer

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Aspekt 17 Die verwundbaren Helden

Erschöpfung usw. sind die Symptome einer – teilweise schon lange andauernden – Überforderung. Wird Infizierte zu behandeln zum klinischen Normalfall? Sind wir darauf vorbereitet?

Ein Mythos Es gibt das mythologische Bild des «verwundeten Heilers». Der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung beschrieb es als Archetyp und griff auf den griechischen Mythos des Chiron (Archetyp des Heilers) zurück. Übergehen wir die irritierenden, weil antiken, Seiten der Geschichte und konzentrieren uns auf die Helfer-Pati­ ent-Beziehung! Hier in Kürze die alte Geschichte: Chirons Gestalt bestand aus Hinterleib und Beinen eines Pfer­ des. Kopf, Torso und Arme waren menschlich. Er war der Sohn eines griechischen Titanen und einer Nymphe. Beide Elternteile verließen ihren verkrüppelten Sohn. Der wurde von Apollon in die therapeutische Kunst eingeführt. Bei einem Fest, bei dem reichlich Wein floss, wurde Chiron versehentlich von einem Pfeil des Herakles getroffen. Trotz seiner Unsterblichkeit, die er als Halbgott besaß, vermochte er selbst seine eigene Wunde nicht zu heilen. Zwar war er in der Lage, die Wunden anderer von Pfeilen Getroffener zu heilen, hinsichtlich seiner eigenen Verwundung war ihm dies jedoch nicht möglich40. Entmythologisieren wir den alten Mythos. Er verrät uns die Beson­ derheit der heilenden Berufe in der pandemischen Situation: (1) die Ausnahmestellung der therapeutischen Berufe, (2) die gesteigerte Verletzbarkeit als Voraussetzung und (3) Einsatz für die bedrohten Werte der Humanität. Was heißt das? Trotz der Ausnahmestellung der therapeutischen Berufe wird ihnen nicht die Achtung und soziale Stellung zuteil, die sie ver­ dienen. 40

Die Zusammenfassung orientiert sich an Hofmann und Roesler, 2010, S. 1.

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Behandlung: die Faszination des Taktilen

Verletzbarkeit bedeutet etwa das Burnout des Helfers, die stän­ dige Konfrontation mit dem Tod, dem eigenen sowie dem der Patienten, das Versagen der Behandlung usw. Die bedrohten Werte der Humanität sind die säkularisierte Form der göttergleichen Herkunft des Heilens im Mythos. Hei­ len ist kein Herstellen von irgendetwas, und mag es noch so wichtig sein. Stattdessen wie Jaspers (Aspekt 15, Nr. 7) schrieb: Beziehung von Mensch zu Mensch, von Vernunft zu Vernunft. Schade, dass das so selten thematisiert wird, gerade in Zeiten nicht, in denen die Infektion und die Strapazen Berufsrisiko sind, aber wenig gewürdigt wird.

Behandlung: die Faszination des Taktilen Woher kommt eigentlich das Wort »Behandlung«? Es ist ein technischer Begriff, abgeleitet von In-die-Hand-nehmen. Darunter steckt ein Bild, Behandlung und Hand (Lexem) gehören zusam­ men. Auch wenn es um medizinische Behandlung geht: das Taktile und das Umgehen mit dem Körper können nicht getrennt werden. Darin liegt die besondere Bedeutung der Therapie von Patienten, die während der Covid-Therapie im Krankenhaus oder in einer Praxis behandelt werden müssen. Eine therapeutische Intervention unterläuft den Dualismus von Geist und Körper, der seit Descartes in die Medizin eingezogen ist. Kurz und gut: Descartes – und vielleicht schon Augustinus (vgl. Nettling, Deutschlandfunk am 06.12.2009) – trennte den Menschen in eine res extensa (ausgedehnte Substanz) und eine res cogitans (denkende Substanz). Wieder war es ein französischer Philosoph, Maurice Merleau-Ponty,41 der nicht als einziger spä­ terer Denker, aber auf eindrucksvolle Weise diesen Dualismus 41 Er war (bis kurz vor seinem Tod 1961) mit Sartre befreundet und hat sich sehr intensiv mit den Freiburger Philosophen E. Husserl und M. Heidegger befasst. Besonders interessant ist seine Beschäftigung mit dem Heidelberger

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Aspekt 17 Die verwundbaren Helden

aufgehoben hat. Seine Devise: Körper ist der Berührungspunkt mit der äußeren Welt, keineswegs nur der Spielplatz von Biologie und Genetik. Übertragen auf die medizinische Behandlung heißt das: Wer den Körper behandelt, behandelt »seine« Welt, also die Welt des Pati­ enten. Der Unterschied zu Descartes ist die Wechselseitigkeit, Behandeln bedeutet nicht nur Diagnostik und Therapie, sondern immer auch die Welt des anderen verstehen, und umgekehrt: Der Patient, auch wenn er kaum noch ansprechbar ist, nimmt die medi­ zinische Intervention als Hilfe und Beziehung wahr. Angst-haben, Hoffen, Sich-schlecht-fühlen, Einsamkeitsgefühle, Sorgen und alles, was irgendwie mit Denken zu tun hat, »ist ernsthaft allein durch den Körper. Die Seele ohne den Körper brächte nur Kalauer hervor – und Theorien«, notierte Merleau-Pontys Freund, der Dichter Paul Valéry (Valéry, Cahier Bd.3, S. 306, zitiert aus Nett­ ling, Deutschlandfunk am 06.12.2009). Also sollte dieser spre­ chende Körper nicht allzu sehr auf Biologie und Genetik reduziert werden. Merleau-Ponty bringt (nicht nur) in seinem Buch »Phänomeno­ logie der Wahrnehmung« (1966) das Beispiel der linken Hand, die die rechte berührt. In dem Moment des Berührens ist das Spüren der Hand ein Innen und Außen zugleich, obwohl gemessen an der biologischen Struktur beide Hände zum gleichen Körper gehören.42 Dieses Bild offenbart den Menschen als gleichzeitig der Welt zugehörig (da von außen berühr- und sichtbar) sowie von innen spürbar. Das körperliche Ding und der erlebende Leib sind keine Gegensätze wie noch bei Descartes. Gerade in der therapeutischen Situation spielen viele Dinge zusammen. Kommen wir zur Medizin, in deren Umkreis sich das Besondere, sagen wir das Heldenhafte, inszeniert (vgl. Illhardt, 1998. S. 197–

Medizinprofessor Viktor von Weizsäcker, dem Begründer der anthropologischen (psychosomatischen) Medizin. 42 Interessant ist, dass Viktor von Weizsäcker in seinem »Gestaltkreis« (1939) ein vergleichbares verkoppeltes Bild vom Körper zeichnet.

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Therapeutische Ethik des Wir

201). Das Besondere bei Merleau-Ponty besteht aus zwei Prinzi­ pien: 1. Jeder Kontakt ist Berühren und Berührt-werden, Sehen und Gesehen-werden usw. Es entsteht eine mehr oder weniger tiefe Beziehung, gewissermaßen »ein natürlicher Prozess« (Mer­ leau-Ponty, 1966, S. 14). 2. Jeder Patient ist verkoppelt mit anderen Menschen, die in sei­ nem Leben eine wichtige Rolle spielen (vgl. ebd., S. 52f). Jede Art der Behandlung ist natürlich von der jeweiligen Diagnose abhängig. Aber sie muss gerade bei dieser viralen Infektion nicht unbedingt spezifiziert werden – bei andauernden und chronischen Erkrankungen (auch bei Long-COVID) ist die psychosomatische Behandlung sicher sehr wichtig, vor allem wenn der Körper als lebendiges Subjekt sehr wichtig genommen wird, wenn er nicht nur pauschal wichtig ist quasi als Körper unter tausenden und wie tausend andere Körper. Beinahe alle Berufe produzieren etwas. Medizin und Pflege sind anders, sie stellen nichts her, sie praktizieren etwas. Aristoteles definierte das als den Unterschied zwischen poíesis [herstellen­ des Tun] und prâxis [praktisches Tun] (Nikomachische Ethik, 1139b2ff). Genau das ist das Besondere an Medizin und Pflege. Sie dienen keinem Produktionszweck, sondern dem Handlungszweck selber und fallen damit gewissermaßen aus dem Rahmen des Üblichen. Ihr Maß ist die Beziehung zum Patienten – und zu sich selber.

Therapeutische Ethik des WIR Die therapeutische Ethik steht und fällt mit dem Wir. Gibt es dieses Wir? Viktor von Weizsäcker kritisierte die damals wie heute so genannte medizinische Ethik (früher auch »ärztliche Ethik« genannt). Seine Kritik fußte auf der Beobachtung, dass keine

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Aspekt 17 Die verwundbaren Helden

medizinische Problematik nur auf der Behandlung von Ärzten43 beruht, sondern immer auf der Trias von Medizin, Patient und Gesellschaft (vgl. von Weizsäcker, 1987). Was aber geschieht, wenn eine oder zwei Seiten dieser Trias mehr oder weniger ausfallen, gefährdet sind oder wegen Personal­ knappheit reduziert werden müssen? Es geht nicht nur, aber sicher vordringlich um die Frage, ob das Personal strategisch ausreichend besetzt ist, ob Patienten mit künstlicher Beatmung, die im Koma liegen oder mit anderen somatischen Problemen auf Intensiv- oder auf Normalstationen, ausreichend versorgt werden können. Unterbesetzung führt auch dazu, dass die Nöte der Patienten nicht hinreichend besprochen werden können, weil zu wenig the­ rapeutische Ansprechpartner da sind. Beinahe »üblich« sind Pro­ bleme wie: Warum ich (psychologisch: Why me)? Werde ich wieder gesund? Wie lange bin ich von meiner Familie getrennt? Gibt es Spätfolgen und welche Organe sind betroffen? Wie können meine geliebten Mitmenschen damit leben usw. Probleme dieser Art müssen unbedingt gelöst werden. Dafür aber muss es Behandler geben, die nicht selber riesige Probleme haben. Kommen wir noch einmal auf die Ethik des Wir und die Gefahr der Unterbesetzung zurück. Hoffentlich wird u.a. die Zahl der kleinen Krankenhäuser nicht noch weiter heruntergefahren und damit die Dominanz des Profitstrebens statt einer menschlich guten Gesundheitsversorgung festgeschrieben. Natürlich können kleine Krankenhäuser keine Maximalversorgung mit bestausge­ statteten Intensivstationen vorhalten, aber sie könnten stattdessen sich auf zeitintensive Betreuung konzentrieren, die den gerade angedeuteten Fragen der Patienten gerecht wird. Natürlich gibt es diese auch in großen Krankenhäusern, aber die zeitlich hohe Taktung folgt oft anderen Anforderungen.

Besser: Ärzte*innen sowie Schwestern, Pfleger und andere Therapeu­ ten*innen, in der englischsprachigen Medizinethik »caregivers« genannt. M.E. eine sehr treffende Bezeichnung; weil sie schlecht übersetzbar ist, benutze ich in meinen medizinethischen Arbeiten dafür den deutschen Ausdruck »Behandler«. 43

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Fragile Macht

Anscheinend nähert sich Corona gegenwärtig dem Ende oder wird von Pandemie auf Epidemie herabgestuft. Und schon ist eine neue Mutante von CoV-2 das beherrschende Thema. Die gerade aufgelisteten Probleme unserer verwundbaren Helden der ersten Phasen sind keineswegs vorbei. Wie lange unsere Impfungen bei den neuen Mutanten helfen, wissen wir noch nicht. Und haben wir aus den ersten Phasen der Pandemie gelernt? Vermutlich genauso viel wie aus der Geschichte der Seuchen.

Fragile Macht Greifen wir auf das Arztbild des letzten Jahrhunderts zurück, es ist gleichsam das Erbe, das unser Jahrhundert angetreten hat. Vor Jahren kam für den Arzt der Ausdruck vom »Herrgott in Weiß« auf. Dahinter stand die Kritik am Arzt und seiner Macht, die gewissermaßen vom Himmel und seinen säkularen Nachfolgern legitimiert schien. Seine Diagnosen und alles, was er sagte, kamen anscheinend aus der Tiefe des Wissens, das nur Ärzte haben konn­ ten. Dagegen steht heute eine ganz andere Begründung von Macht. Nach Michel Foucault ist sie nicht etwas, das man erwerben, besit­ zen, halten oder verlieren kann, sie beruht vielmehr auf komplexen sozialen Netzwerken (vgl. Foucault, 2008). Aber was hat das mit der Therapie von Covid-19 zu tun? Dieses Netz scheint es nicht mehr zu geben. Je mehr Covid-19Patienten behandelt werden müssen, desto mehr Behandler müs­ sen mit diesem Ansturm von Patienten und ihrem Behandlungs­ plan fertig werden. Sie müssen aus sozialer Motivation heraus bis zur Erschöpfung behandeln. Selber infiziert zu werden ist trotz aller Schutzmöglichkeiten nicht auszuschließen. Zudem erschweren Schutzmaßnahmen die Behandlung. Viele Patienten können nicht als geheilt entlassen werden, weil eine komplette Heilung nicht erreicht werden konnte. Dazu kommt noch die Nachricht, dass manche Therapeuten den Stress der

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Hospitalisierungsrate nicht mehr aushalten oder gar kündigen bzw. wegen der berufsbezogenen Impfpflicht nicht mehr arbeiten dür­ fen. Die Macht der Behandler ist fragil, weil ihre Ziele nicht mehr erreichbar sind. Sie müssen Versagen einplanen, was alles andere als einfach ist und in der Ausbildung – sei es zur Pflegekraft oder bis zum Facharzt – kein Thema war.

Die Helden und unsere Dankbarkeit Stutzig macht, dass Medizin mehr und mehr zum wirtschaftlichen Vorgang verkommt (vgl. Maio 2014). Corona zeigt, dass Medizin mehr ist und mehr von ihr verlangt wird: Heilung versuchen, Hoffnung stärken bzw. den Mut haben, schlechte Nachrichten zu überbringen, Risiken ertragen usw. Die Nachricht von der Überforderung der Corona-Behandlung war und ist erschreckend. Nicht nur, weil in anstrengenden Berufen ein Burnout drohen kann, sondern weil der Beruf der Behandler nicht nur anstrengend, sondern auch riskant ist und existentielle Grenzerfahrungen – die die eigene Person und die Kranken betref­ fen – zum Tagesgeschäft gehören. Zudem ist er ein Beruf, der nicht Arbeit am Kranken, sondern auch Beziehungspflege umfasst. Ein wundersamer Aufruf (ich weiß nicht mehr, aus welcher Zeitung) mit werbewirksamem Hintergrund, beinahe zum Lachen: Volkswagen und der DFB (Deutscher Fußballbund) suchten 15 Menschen für den Heldenkader mit Einladung zum EM-Finale. Genau das brauchen Helden? Erste Gehaltsvereinbarungen gab es kürzlich, aber die hätten großzügiger ausfallen können. Beim Applaus aus den Fenstern für Männer und Frauen, die in der Coronakrise Besonderes geleistet haben, klang das weitherziger. Aber wir brauchen »Helden« nicht nur für die durch Corona besonders dramatisch gewordene Arbeit, sondern – so folgert der Philosoph Dieter Thomä – als entschlossene Verteidiger der Demokratie. Aber er fürchtet eine »Heldeninflation, mit der von

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Ein historischer Zwischenruf: Das vierte Gelübde in der frühen Neuzeit

Missständen abgelenkt werden soll« (Thomä 2020, S. 55). Infla­ tion deswegen, weil jede Großtat zum Heldentum avanciert, es aber nicht um arbeitstechnische Großtaten geht (à la »Helden der Arbeit« in der früheren DDR), sondern um humanitäre Großtaten. Der 72-jährige Psychiater Josef Aldenhoff erkrankte, sein Arzt schickte ihn ins Krankenhaus, weil seine Verdachtsdiagnose Corona war. In der Süddeutschen Zeitung (vom 29./30.5.2021) schrieb er über seinen Krankenhausaufenthalt. Statt eines spiritu­ ellen Gesprächs mit einem Seelsorger bekam er etwas »Besseres, nämlich die klare, einfache schlichte zwischenmenschliche Zuwen­ dung, bei Tag und bei Nacht, manchmal verbunden mit einem Kaffee […] Ich sah nur die Augen dieser Menschen, ohne die ich das alles nicht geschafft hätte, ohne die ich endgültig verrückt geworden wäre«. Dieser not-wendende Teil der Behandlung ist sicher ein Grund für Dankbarkeit unserer Gesellschaft. Wie weit reicht unsere Dankbarkeit wohl? Wird das System korrigiert oder nur mit Geld ausgebügelt?

Ein historischer Zwischenruf: Das vierte Gelübde in der frühen Neuzeit Normalerweise hatten männliche und weibliche Orden wie auch die Priester außerhalb eines Ordens drei Gelübde (Armut, Gehor­ sam und Ehelosigkeit). Der Orden des hl. Camillus (gegründet 1586) hatte ein viertes Gelübde (vgl. Seidler, 1993, S. 132), nämlich die Betreuung Pestkranker. Das war insofern etwas sehr Beachtliches, als sehr oft seit dem ersten Auftreten der Seuche im Mittelalter und der zahlreichen Wellen der Pest vielfach Betreuungspersonal (Ärzte, pflegende Nonnen und Beginen, Angehörige, Totengräber usw.) flüchtete, um der Pest zu entkommen. Jede körperliche Berührung konnte tödlich sein. Das vierte Gelübde des Kamillianerordens hatte dann eine weitere Bedeutung: Belohnung im Himmel für eine solche Heldentat galt als selbstverständlich.

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Wir stellen das einfach historisch fest. Für uns heute ist der Vergleich bemerkenswert. Wie wird die Pflege und Betreuung infizierter Patienten in Zeiten von Corona in einer säkularen Gesellschaft honoriert? Belohnung im Himmel ist heute kaum noch ein Motiv für Risikotoleranz. Und bessere Bezahlung steht noch aus. Ist aus dem Heroismus des vierten Gelübdes gleichsam ein rechtlich verbrieftes Berufsrisiko geworden? Fast skurril ist eine Szene, die durch viele TV-Sender und Print­ medien geisterte: Vor Fenstern und auf Balkonen applaudierten die Gesunden den Helden in Krankenhäusern und Praxen. Allerdings werden wir mit solchen medialen Gesten weder mehr Humanität in der Gesellschaft noch – wie Havel schrieb – eine »sittliche Rekonstruktion der Gesellschaft« erreichen. Gemeint ist damit sicher kein Revival der Alltagsmoral, sondern der Aufbau einer wertorientierten Gesellschaft. Sind wir parat? Nein. Hier ein paar Gründe: Wenn wir Menschen, die in therapeutischen Berufen arbeiten, als Helden einstufen und ihre Probleme anerkennen, bedeutet das: mehr Geld, mehr Personal, gerechtere Versicherung und eine verbesserte Gesundheitsversor­ gung, die nicht nur auf Wirtschaftlichkeit beruhen. Auch wenn das politisch nahezu utopisch ist. Religionen tun sich mit dem weltlichen Engagement schwer. Humaner Einsatz ist im Vergleich mit früheren Belohnungssyste­ men flach geworden. Eine Säkularisierung hat zwar in verschieden Epochen seitdem stattgefunden, aber viele Theologen deuten sie als wichtige Emanzipation (z.B. Dietrich Bonhoeffer, Romano Guardini u.a.), also als Leben mit der Herausforderung und Beloh­ nung (»etsi deus non daretur«, deutsch: selbst wenn es keinen Gott gäbe).

»Unglücklich das Land, das Helden nötig hat« Diese Überschrift stammt von Bertolt Brecht (1963) aus «Das Leben des Galilei» (13. Bild). Es wurde 1943 uraufgeführt. Brecht

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»Unglücklich das Land, das Helden nötig hat«

kritisierte damit das NS-Regime und beklagte den Verkauf der Wissenschaft an die Politik, als Galilei sein neues Weltbild zurück­ nahm und damit die vatikanische Anklage der Ketzerei akzeptierte. Vergleichbar ist das mit Camusʼ Pest, auch er verglich die von den Nazis zerstörte Gesellschaft mit der Pest. Eine Gesellschaft, in der vieles im Argen liegt, muss sich verändern. Der Psychiater Aldenhoff beendete den bereits zitierten Abschnitt seines Berichts mit folgendem Hinweis: »Ich glaube, dass Covid-19 unsere Gesellschaft nicht wirklich verändern wird. Unsere Stärken und unsere Erbärmlichkeiten treten klar zutage« (SZ vom 29./30.5.2021). Es geht um die Erfahrung, dass Huma­ nität auf dem Spiel steht. Daran müssen wir arbeiten. Und der Kommentar einer Krankenschwester: »Es fühlt sich erniedrigend an, so (Kündigung nach der Ausbildung trotz Arbeit bis zum Anschlag, F.J.I) behandelt zu werden«. Brechts und die vorher zitierten Gedanken Havels sind recht ähnlich: Brecht und seine Feststellung, dass Helden Zeichen einer defekten Gesellschaft sind, und Havels Gedanke, dass eine »sittli­ che Rekonstruktion der Gesellschaft« kommen muss – eine gesell­ schaftliche Entwicklung, die auf vielfältige Weise Humanität achtet und fördert – wie ist sie zu erreichen? Das Land braucht Helden. Gott sei Dank haben wir sie. Nur fürchte ich, wenn der Spuk der Pandemie vorbei ist, hat die Gesell­ schaft die Notwenigkeit der Helden und der Humanität vergessen. Brecht und Havel haben wieder recht. Alles Zukunftsmusik? Wir wollen hoffen, dass die Pandemie ein gutes Ende haben wird. Begraben wir dann all unsere Erwägungen, die mit Schlimmem gerechnet haben? Die einfachste Entwicklung wäre: Verdrängen, also Zuschütten, aber es wäre auch die folgenreichste. Darum denke ich an eine andere Lösung: »Erinnerung«, im Sinne von Habermas verstanden als Freiheitsgeschichte, d.h., wir sollten nicht historisieren, sondern freilegen, was die Motive und Hintergründe der Coronageschichte sind. Johann Baptist Metz, 2021 verstorbener Münsteraner Theologe und Philosoph, Bewun­ derer von Habermas, zählte folgende Charakteristika auf (vgl. HpG 1973, S. 386–396): Erinnerung ist

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Gegenwart des Vergangenen Kritische Hinterfragung der geschichtlichen Ereignisse Freiheitsgedenken Leidensgedenken

Was in der Pandemie alles geschehen ist, muss erinnert werden. Nur dann wird es ein Teil des Zusammen-lebens. Eine sehr wichtige Erinnerung verdanke ich der klaren Formu­ lierung von Heribert Prantl (SZ vom 26./27. Juni 2021). Wenn wir nach Corona zu unserer alten Praxis zurückkehren, sollten wir eins in diesem Zusammenhang nicht vergessen: Seit der Kostendämp­ fungspolitik (ab 1985) sind wir ständig dabei, aus Kostengründen eine regionale stationäre Krankenversorgung mit den kleinen Häu­ sern auf dem Land abzubauen. Immer öfter wurden private Kran­ kenhäuser zu gewinnbringenden Einrichtungen umfunktioniert. Wir dürfen der Kosten-Nutzen-Analyse zuliebe nicht die humani­ täre Gesinnung unseres Gemeinwesens aufgeben. Es ist damit zu rechnen, dass wir mit dem Virus leben müssen. Das heißt auch, dass die Virusinfektion zum Normalfall in Kliniken und Krankenhäusern wird. Die Zahl der intensivpflichtig infizier­ ten Patienten geht zurück, aber nicht die Behandlungsbedürftigkeit der Patienten. Sind wir auf die neuen »Normal«-Situationen einge­ stellt? Nein. All das klingt beunruhigend. Beunruhigend ist die Tatsache, dass wir nicht vorbereitet sind, Patienten mit der Virusinfektion zu betreuen und zu begleiten. »Wird schon wieder …« reicht hinten und vorne nicht aus. Dann wird die Aufgabe der Ärzte*innen und der Pflegenden, Patienten im Krankenhaus oder auf Intensiv­ stationen ganzheitlich (d.h. pflegetechnisch und psychisch gut) zu betreuen, immer größer. Mehr Krankenhäuser und Behandler, aber auch möglichst ausgefeilte und spezialisierte Behandlungs­ konzepte wären sicher eine gute Lösung. Aber sie wird uns – wie so oft – zu teuer sein. Wie bei der Cholera in Hamburg (vgl. Aspekt 4).

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Nachdenklichkeit am Schluss: »Sie tanzen allein (Cueca solo)«

Ist Corona eine Katastrophe oder nicht? Antworten aus naturwis­ senschaftlicher Sicht helfen uns nicht, weil uns die Folgen des Zusammen-lebens am Herzen liegen. Wir zählen zurzeit (März 2022) in Deutschland ca. 129.000 Tote. Nachdenklichkeit hat sich festgesetzt: Wenn Corona vorbeigeht, und das hoffen wir, was kommt danach? Und noch etwas: Wie viele Menschen haben einen Verlust zu betrauern, eine Leerstelle in ihrem Zusammen-leben? Da kommen viele Anstrengungen und viel – wie Sigmund Freud das ausdrückte – »Trauerarbeit« auf uns zu. Nicht die Frage, wie man trauert, oder die Debatte, ob eine Impfung oder die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen, die einzig wichtigen Punkte sind. Eine große Rolle, die uns erhebliche Kopf­ schmerzen macht, spielt die Ratlosigkeit, was wir nachher tun. Wir müssen ohne die leben, die uns lieb sind, oder mit denen, die für lange Zeit mit Schäden zurechtkommen müssen, und mit einer zerbrochenen Mit- und Umwelt. Als ich die Jazzvertonung von SingerPur, einem bisher nur mit alter Musik berühmt gewordenen Chor, und zwar den Song des Popmusikers Sting »They dance alone« hörte, dachte ich sofort an Corona. Es geht bei diesem Lied zwar um den chilenischen Juntachef Pinochet und die Verwüstung des Zusammen-lebens – von Roberto Livi stammt das zugrundeliegende Gedicht. Aber der Song heißt »They dance alone«. Zusammen-leben hat seinen Charme verloren, d.h. den Aus­ druck seiner Überzeugungskraft und seiner Faszination. Ein geliebter Mensch fehlt, Lebenskonzepte sind zu Bruch gegangen,

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Nachdenklichkeit am Schluss:»Sie tanzen allein (Cueca solo)«

Gesundheit ist bei vielen für lange Zeit ruiniert. Grundvorausset­ zungen für das Zusammen-leben während und nach der Pandemie sind verloren gegangen. Tanzen ist schön und drückt z.B. Sehnsucht nach Beziehung aus. Sehnsucht nach gelungenem Zusammen-leben. Darum passt der Song. Hier eine Strophe des Textes von »They Dance Alone (Cueca solo)« Warum tanzen diese Frauen hier für sich allein? Warum ist diese Traurigkeit in ihren Augen? […] Sie tanzen mit den Toten Sie tanzen mit den Unsichtbaren Ihr Kummer ist unausgesprochen. Sie tanzen mit ihren Vätern Sie tanzen mit ihren Söhnen Sie tanzen mit ihren Ehemännern Sie tanzen allein … Der übersetzte Text, übernommen von Google, beschreibt das südamerikanische Bild der alleintanzenden Menschen, wo doch der Tango mit seinen Milongas (Tanzveranstaltungen) in Argen­ tinien und auch in Chile beispielhaft für das Zusammensein ist. Von Land zu Land ist Tanzen von verschiedener Bedeutung, in Chile essentiell für das Zusammen-leben. In Deutschland ist das anscheinend anders. Was aber bleibt ist das Bild, die Angst vor dem Alleingelassen-Sein. Nicht die Zahlen der Corona-Toten. Im Februar 2023 waren es laut WHO weltweit fast 7 Mio., und allein die Infizierten von Corona waren fast 700 Mio. Solche Befunde präsentieren alles, was wir verloren haben: Freunde, Gesundheit, Vertrauen, Zusammenleben usw. Vielleicht kann man das ge- und verstörte und in manchen Fällen auch zerstörte Zusammen-leben »reparieren«, aber es kostet sehr viel Zeit und sehr viel Trauer. Mir fiel der Roman »Die

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Nachdenklichkeit am Schluss:»Sie tanzen allein (Cueca solo)«

größere Hoffnung« von Ilse Aichinger ein. Hoffnung bauchen wir. Suchen wir sie wenigstens? Aichinger beschrieb eine Welt, die in Scherben liegt. Ihre erste Fassung von 1948 konzentrierte sich auf den Zweiten Weltkrieg und die NS-Verbrechen gegen das jüdische Volk. 1960 hat Aichinger den Roman aktualisiert, weil sie darin mehr sah als einen Trümmeroman. Was macht dieser Roman mit uns? Es geht nicht um Krieg, sondern um die Suche nach einer Welt, in der Zusammen-leben wieder möglich ist. Konkrete Szenen aus dem von Hitler heimgeholten Österreich verband Aichinger mit surrealistischen Szenen, die in Wien spielen44 und uns heute zu denken geben. Das junge jüdische Mädchen Ellen hatte eine Frage, die wir alle haben und auf die wir eine Antwort suchen: Eine Welt hinter den Trümmern. Wir suchen sie, auch wenn unaussprechlich ist, was wir suchen. Sie und ein Freund, den Ellen getroffen hat, suchen nach der Brücke, die zu ihrem Elternhaus führt, aber die Brücke ist zerstört. Es gibt ein Zuhause, aber wir kommen nicht dahin. Sind wir gemeint? Die Pandemie kann zu einer demolierten Welt ohne Brücke führen, nach deren Sinn wir suchen. Rückkehr in eine Welt vor 2019 hilft uns nicht. Die Probleme bleiben leider, und das Leben ist nicht mehr so wie früher. Um es mit Aichinger zu sagen: Das »Zuhause« ist da, aber die Brücke dahin ist kaputt. M.E. ist Ellen nicht nur ein jüdisches Mädchen aus Wien. Man sieht in ihr sich selbst. Wie schön wäre es, wenn die zerstörte Brücke, also unsere kaputte Welt, repariert würde. Dann und nur dann gibt es Hoffnung – eine größere Hoff­ nung.

44 Meine Deutung steht gegen den Nachruf von Kristina Maidt-Zinke, SZ vom 11.11.2016. Von ihr habe ich einige gute biographische Notizen.

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Nachdenklichkeit am Schluss:»Sie tanzen allein (Cueca solo)«

Die indisch-amerikanische Schriftstellerin Arundhati Roy (zitiert in Aspekt 6) schrieb: »Corona is a portal«. Mit Aichinger verstehe ich »portal« als Tür in das Haus, wenn man die Brücke überschreiten könnte. Aktuell scheint Corona fast vorbei zu sein, aber ist die Krise wirklich vorbei? Und könnte sie nicht wiederkommen? Ist sie schon bewältigt? Oder müsste man Frau Roys Satz umformulieren in: Corona is a locked portal (verschlossene Tür) oder schärfer, wie meine deutsch-amerikanischen Freunde schrie­ ben Corona was a dead end (Sackgasse)?

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Zusammenfassung

Grund dieser Arbeit ist die Befürchtung, dass wir vor, während und nach Corona das Problem des Zusammen-lebens aus den Augen verloren haben. Eine Menge von Aspekten wurde angesprochen, niemals ausdiskutiert, weil wir nicht eine Synthese aller Momente versuchen, eher eine gleichrangige Aneinanderreihung (Parataxe) von Argumenten und Begründungsfiguren. Es geht um Begriffe, aber auch um sehr konkrete Lebensgeschichten, die einen verbor­ genen Sinn aufdecken. Was unbedingt festgehalten werden soll, sind die folgen­ den Punkte: 1. Nachdenken ist unser Ziel. Eine Information wird uns offeriert, und wir brauchen Denkmaterial, damit wir über diese Infor­ mation reflektieren können. Nachdenken bedeutet also, eine Information zu bestreiten oder auch zu akzeptieren. Dieses Manuskript bezieht keine Position, sondern fordert uns auf, sich über Wege des Zusammen-lebens Gedanken zu machen. 2. Zusammen-leben kann nicht definiert werden. Was unsere Zeit darunter versteht, ist nur ein Aspekt, nicht einmal der wesent­ lichste. Etwa als sehr wesentlich wird die Infektionsvermeidung angesehen, nicht die Lebensqualität. In manchen Debatten (z.B. der Biomedizin) steht Lebensqualität vornean. Denken wir also nicht mehr plakativ. Inhalte des Zusammenlebens wie die von A bis Z, also Akzeptanz bis Zusammenarbeit (siehe Aspekt 3) sind m.E. mindestens genauso wichtig, aber werden aktuell in Zeiten von Corona kaum diskutiert. 3. Kommunikation ist nicht gleich Kommunikation. Offene Kom­ munikation ist die Art, wie man wichtige Momente, Überzeu­ gungen, auch Fehler, falsche Betonungen usw. mitteilt und

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Zusammenfassung

die der Anderen zu verstehen versucht. Brauchen wir weniger Faktencheck, aber mehr Kommunikationscheck? 4. Beachtet werden muss unbedingt, dass die sog. Fakten diskutiert werden müssen. Ohne Diskussion – eine zentrale Form der Kommunikation – bleibt nichts als Gehorsam oder Protest. Das führt zur Spaltung der Gesellschaft, dem genauen Gegenteil von Zusammen-leben. 5. Bedenklich ist, dass in der langen Zeit der Pandemie der Hinter­ grund der Regeln nicht erforscht wurde. Wann ist eine Regel – und sei es nur die Gesichtsschutzmaske – und unter welchen Konditionen hilfreich und wann nicht? Wissen wir, warum wir etwas tun und für wen? Was haben wir in dieser Zeit gelernt? Vor Corona ist nach Corona.

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Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei denen, die mir bei der Erstellung des Buches geholfen haben. Meiner Frau, die viele Aspekte gelesen, Bücher besorgt, Hilfe­ stellung am PC gegeben und mich immer wieder erinnert hat, dass es neben dem Schreiben noch andere Dimensionen des Lebens gibt. Meinem Schwager, F. Scherle, der als Lehrer für Geschichte, Latein und Politik natürlich meine Artikel v.a. im ersten Stadium gegengelesen und mich auf geschichtliche wie politische Zusam­ menhänge hingewiesen hat. Mehrere Freunde aus dem näheren Umfeld haben mit mir diskutiert und mich auf Dinge aufmerksam gemacht, die ich übersehen hatte. Gefreut haben mich die Zusagen zur Buchkorrektur zweier Kollegen: Einmal die von Dr. theol. G. Brunner. Als er aus Amerika zurückkam, hat er mir von den Vorlesungen des Moralpsychologen Lawrence Kohlberg erzählt und mich mit seinen Ideen elektrisiert. Ein zweiter Aspekt, der auch heute noch für mich wichtig ist: Wir haben oft über die sog. Grundwerte der Politiker aus den 70er und 80er Jahren diskutiert. Zum anderen hat PD Dr. phil. J. Boldt viel mit mir über Kierkegaard diskutiert und in einem meiner medizinethischen Bücher einen Beitrag über ihn geschrieben. Zusammen haben wir viele Ethikberatungen an der Freiburger Uniklinik mit Fallanalysen vorher und nachher durchgeführt. Sehr oft diskutierten wir auch Hintergründe des Falles weiter. Sein kritischer Kommentar war, was ich mit meinem Manuskript sagen will. Was jetzt noch an Fehlern auftaucht, geht auf mein Konto. Ich habe mein Manuskript oft nachträglich korrigiert. Alle, die es gegengelesen haben, konnten die neuen Fehler natürlich nicht sehen.

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Danksagung

Besonderen Dank schulde ich Herrn L. Trabert, dem Lektor des Verlags. Er hat viele Verbesserungsvorschläge gemacht, die die Essenz meines Buches verdeutlichen. Herr Trabert ist Philosoph, vor vielen Jahren wurde ich vom Philosophieprofessor Karl-Otto Apel eingeladen. Nach meinem Referat sagte er: »Jetzt verstehe ich nichts mehr.« Kein Wunder. Herr Trabert hat es ja auch nicht durch­ gesehen.

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Anmerkungen

1. Abkürzung der Zeitungen/Zeitschriften BZ

Badische Zeitung

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FR

Frankfurter Rundschau

FT

Financial Times

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

LI

Lettre International

SZ

Süddeutsche Zeitung

ZEIT

DIE ZEIT

2. Abkürzungen der Lexika HWbP

Historisches Wörterbuch der Philosophie

HpG

Handbuch philosophischer Grundbegriffe

LE

Lexikon der Ethik

LPW

Lexikon der Politikwissenschaft

MPL

Metzler Philosophie Lexikon

NDME

The New Dictionary of Medical Ethics

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Anmerkungen

3. Genutzte Literatur Adorno, Theodor W.: Parataxis. In: Rolf Tiedemann (Hrsg.): Theodor Adorno. Gesammelte Schriften Bd. 11. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, S. 447–491 *,*: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001 Aichinger, Ilse: Die größere Hoffnung, 2. Version. S. Fischer 1960 Aldenhoff, Josef: In die Sonne. Süddeutsche Zeitung 29./30. Mai 2021 Androutsopoulos, Jannis: Die Sprachlandschaft in der Pandemie. UHH Newspaper vom Mai 2020 Antes, Gerd: Die Zahlen sind vollkommen unzuverlässig. Der Spiegel vom 31. März 2020 Anz, Thomas: Der göttliche Vater und die Vergewaltigung der Welt. Rezen­ sionsforum. 12. Dez. 2005. Schwerpunkt: Religion. Literaturkritik.de (deutschsprachige Literaturzeitschrift im Netz seit 1999) Apel, Karl-Otto: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Suhrkamp: Frankfurt/M 1988 Arendt, Hannah: Über die Revolution. Warum die Revolution den Krieg ablöste. München Piper 1963 *,*: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpre­ tation. Hg. Kurbacher, Frauke A. (Philosophische Bibliothek) F. Meiner 2018 (Hannah Arendts Dissertation von 1929) -.-: Über Imperialismus. In: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frank­ furt/M 1. Aufl. 1976, S. 12–31 -.-: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München Piper, 3. Auflage 2002 -.-: Die Freiheit, frei zu sein. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2018 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Olof Gigon, 2., überarbeitete Auflage, Artemis, Zürich 1967 Assmann, Aleida; Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen. C.H. Beck: München 2020 Bacon, Francis: Neues Organon der Wissenschaften (1620). Übers. u. hrsg. Brück A. Unveränd. reprograph. Nachdruck d. Ausgabe Leipzig 1830. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981 Baudelaire, Charles: Fleure du Mal / Die Blumen des Bösen. Übers. Fried­ helm Kemp. Zweisprachige Ausgabe, München, Deutscher Taschenbuch Verlag 1997 (Erste Fassung 1857) Banville, John: Die See. Übers. Christa Schuenke. Köln, Kiepenheuer & Witsch 2006.

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3. Genutzte Literatur

Bartens, Werner: Seele und Seuche. Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 2. 2021, S. 35 *,*: Wann sind wir da? Süddeutsche Zeitung vom 5./6. Dez. 2020 Bauchmüller, Michael: Qualm aus dem Maschinenraum. Süddeutsche Zei­ tung vom 27./28.2. 2021, S. 8 Bayertz, Kurt: Warum überhaupt moralisch sein? München: Beck 2014 Beauchamp, Tom L. & Childress, James F.: Principles of Biomedical Ethics. New York: Oxford University Press. 6th ed., p. 2009 (1. Aufl. 1988) Benda, Ernst: Recht und Politik. In: Nohlen, Dieter & Schultze, Rainer-Olaf (Hg): Lexikon der Politikwissenschaft Bd. 2. München C.H. Beck. 4. Aufl. 2010, S. 884–886 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Illuminationen. Gesammelte Schriften Bd. I-2. Suhrkamp, Frankfurt 1980. S. 691–704 *,*: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M: Suhrkamp. 1993 Benvenuto, Sergio: Nancys Parcours. Lettre international. Ausgabe 131 (Herbst 2021). S. 130f Bermes, Christian: Meinungskrise und Meinungsbildung. Eine Philosophie der Doxa. Felix Meiner 2021. Berndt, Christina: Krank am Krankenbett. Süddeutsche Zeitung, 1. Novem­ ber 2020 Bielicki, Jan & Ludwig, Kristina: Die Seuche in den Städten. Süddeutsche Zeitung 10./11. Okt. 2020 Bieri, Peter: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Frank­ furt/M, 3. Aufl. 2019 Birnbacher, Dieter: Grenzen der Verantwortung. In: Kurt Bayertz (Hrsg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem? Wissenschaftliche Buchgesell­ schaft, Darmstadt 1995 Blatz, Anika & Weinmann, Lea: Große Städte, große Sorgen. Süddeutsche Zeitung 10./11. Okt. 2020 Bloch, Ernst: Über Rechtsleidenschaft innerhalb des positiven Gesetzes. Kohlhaas und der Ernst des Minos. In: Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt/M: Suhrkamp. Gesamtausgabe Bd. 6, 1972. S. 93–96 *,*: Das Prinzip Hoffnung. Teil 1. Frankfurt: Suhrkamp 1959 Boccaccio, Giovanni: Dekameron. Vollständige Ausgabe. Hrsg. und übers. Karl Witte. Frankfurt/M: Fischer 7. Aufl. 2008 Boldt, Joachim: Autonomie bei Kierkegaard. In: Illhardt, Franz Josef (Hg.): Die ausgeblendete Seite der Autonomie. Kritik eines bioethischen Prinzips. Münster, LIT-Verlag 2008, S. 113 – 124 Bollnow, Otto Friedrich: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung. Kohlhammer, Stuttgart, 5. Auflage 1977

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Anmerkungen

Boyd, Kenneth M. / Higgs, Roger & Pinching, Anthony J.: The New Dictionary of Medical Ethics. BMJ Publishing Group: Tavistock Square London 1997 Brecht, Bert: Der Zweifler (Gedicht entstanden 1937). In: Die Gedichte, Berlin, Suhrkamp 2007 *,*: Das Leben des Galilei (Uraufführung in Zürich 1943, 3. überarbeitete Fassung 1955/56) Berlin, Suhrkamp 1963 Brenner, Andreas: Corona Ethik. Ein Fall von Global-Verantwortung. Würz­ burg: Königshausen & Neumann 2020 Brockmann, Dirk: Im Wald vor lauter Bäumen. Unsere komplexe Welt besser verstehen, München DTV 2021 Bude, Heinz: Nicht die Welt geht unter, sondern die Welt der Menschen. Interview: Stephan Lebert. DIE ZEIT vom 23. Dezember 2020 Burckhardt, Martin: Apokalypse now! Über die Mechanik endzeitlichen Den­ kens. Lettre international Nr. 131. Winter 2020. S. 7–14 Büschemann, Karl-Heinz: Mehr Anstand, bitte. Die Korona-Krise bietet das perfekte Klima für Korruption. Süddeutsche Zeitung vom 13.14. März 2021 Budnik, Christian: Vertrauen als politische Kategorie in Zeiten von Corona. In: Keil, Geert & Jaster, Romy (Hg.): Nachdenken über Corona. Philoso­ phische Essays über die Pandemie und ihre Folgen. Reclam: Stuttgart 2021, S. 19–31 Butter, Michael: Verschwörungstheorien. Zehn Erkenntnisse aus der Pande­ mie. In: Kortmann & Schulz (Hrsg.) Jenseits von Corona. 2020, S, 225–231 Camus, Albert: Die Pest (Original: Paris 1947). Übers. Guido C. Meister. Hamburg, Rowohlt 1950) *,*: Die metaphysische Revolte. In: Der Mensch in der Revolte. (Paris 1951) S. 43–137 *,*: Die historische Revolte. In: Der Mensch in der Revolte. (Paris 1951) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1951 (20. Aufl. 2013), S. 143–328 *,*: Eine absurde Betrachtung. In: Der Mythos Sisyphos. Reinbek bei Ham­ burg: Rowohlt 1999 (Neuübersetzung. Paris 1942). 24. Aufl. 2019, S. 15– 22 *,*: Die absurden Mauern. In: Der Mythos des Sisyphos. Reinbek bei Ham­ burg: Rowohlt 1999 (Neuübersetzung. Paris 1942). 24. Aufl. 2019, S. 22– 40 Childress James F.: Who Shall Live When Not All Can Live? 1970 Reprinted in: Reiser SJ, Dyck AJ, Curran WJ (eds) Historical Perspectives and Con­ temporary Concerns. MIT Press: Cambridge (Mass.), London, 1977, pp. 619–626

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3. Genutzte Literatur

Comte-Sponville, André: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein klei­ nes Brevier der Tugenden & Werte. Hamburg: Rowohlt, 4. Aufl. 2014 Ćosić, Bora: Das Dekameron. Lettre international Nr. 129, Sommer 2020. S. 46–54 Dickens, Charles: Little Dorrit (Fortsetzungsroman von 1855 bis 1857, erschienen 1856). Übers. Carl Kolb, Margit Meyer & Gustav Meyrink. Villingen-Schwenningen, nexx 2020 Dietrich, Frank: Medizin am Limit. Wie umgehen mit Versorgungsengpässen in der Pandemie? In: Keil, Geert & Jaster, Romy (Hg.): Nachdenken über Corona. Philosophische Essays über die Pandemie und ihre Folgen. Reclam: Stuttgart 2021, S. 84–97 Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswis­ senschaften. Hrsg. Manfred Riedel. Frankfurt/M: Suhrkamp 1981 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch: Die Dämonen. München, Ana­ conda 2012 Dunz, Kristina: Die Angst um die Ansteckung – ein Erfahrungsbericht. Rheinische Post 22.10.2020 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Hamburg, Die Arche 1992 Eigenmann, Susanne: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Diszi­ plin. J.B. Metzler, Stuttgart 1994. S. 45–95 Engelhardt, Dietrich von: Mit der Krankheit leben. Grundlagen und Perspek­ tiven der Copingstruktur des Patienten. Heidelberg: Verlag für Medizin Dr. Ewald Fischer 1986 Feuerbach, Ludwig: Vom Wesen des Christentums. In: Schuffenhauer, Walter (Hrsg.): Gesammelte Werke. Bd. 5. Berlin: De Gruyter 2006 Flasch, Kurt: Giovanni Boccaccio. Männer und Frauen. Geschichten aus dem Decameron. München, Wien: Hanser 1997 Forschner, Maximilian: Moralprinzip. Lexikon der Ethik. München: Beck, 7. Aufl. 2008, S. 217–219 *,*: Common sense. Ebd. S. 44f Foucault, Michel (2004) Biopolitik: Die Positionen. Vorlesungen am Collège de France 1978–79. Frankfurt/M: Edition Suhrkamp *,*: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 9. Auflage. Frankfurt/M: Suhrkamp-Taschenbuch 2008 Frevert, Ute (2020): Corona-Gefühle. In: Kortmann & Schulz (Hg.) Jenseits von Corona. 2020, S. 3–20 Frisch, Johann Leonhard: Teutsch-lateinisches Wörter-Buch. Verlegt bei Christoph Gottlieb Nicolai, 1741 Gabriel, Markus: Das Virus als soziale Entität. In: Bernd Kortmann und Günther G. Schulz (Hrsg.) Jenseits von Corona. 2020, 137–146

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Anmerkungen

Giordano, Paolo: In Zeiten der Ansteckung. Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert. Hamburg: Rowohlt 2020 Grossman, David & Galdieri, Dado: Die Virenjäger. Süddeutsche Zeitung vom 3./4. 06. 2021, S. 33 Gruber, Bettina: Vom Umbau des Subjektes. Variationen des klassischen Subjektkonzeptes in der Literatur der Moderne. In: Lauterbach, Doro­ thea / Spörl, Uwe & Wunderlich, Uli (Hg.) Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S. 25–45 Grünbein, Durs: Politiksprech »Schickt alle Politiker in einen Rhetorik­ kurs«. Interview mit Christiane Hoffmann und Britta Stuff. Der SPIEGEL 25.08. 2017 Guardini, Romano: Vom Sinn der Schwermut. Zürich: Verlags-AG Die Arche 1949 (Neuauflage 1968) *,*: Ethik. Vorlesungen an der Universität München. Aus dem Nachlass hrsg. von Hans Mercker. Bd. 2. Mainz u. Paderborn: M. Grünewald u. F. Schö­ ningh 1993 Habekuss, Fritz: In Ruhe lassen. Die Zeit. 14. Januar 2021 (Titelseite) Habermas, Jürgen: Moralisches Bewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt Suhrkamp 1983 *,*: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frank­ furt: Suhrkamp 1999. Darin der Aufsatz: Drei normative Modelle der Demokratie. S. 277–292 *,*: Glauben und Wissen. (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001) Frankfurt/M: Suhrkamp 2001 Hage, Volker: Zum Tode José Saramagos: »Der Mensch hat aufgehört, sich selbst zu achten«. In: Spiegel-Kultur (online): 19.06. 2010 Haunhorst, Charlotte: Jugend verzichtet. SZ 24./25. Okt. 2020 Havel, Václav: Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek: Rowohlt (Neuauf­ lage) 1990 Heine, Heinrich: Ich rede von der Cholera. Ein Bericht aus Paris von 1832. Faksimile, Hamburg, Hoffmann & Campe, 2. Aufl. 2020 Hobbes, Thomas: Leviathan: oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt/M: Suhrkamp, 11. Aufl. 2011 Höffe, Otfried: Metaethik. Lexikon der Ethik. München: Beck 8. Auflage. 2008, S. 204–206 Hölderlin, Friedrich: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, Frankfurt am Main und Leipzig, Insel 1979 Hofmann, Liane & Roesler, Christian: Der Archetyp des verwundeten Hei­ lers. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 16(1), 2010, S. 75– 90

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3. Genutzte Literatur

Hommes, Ulrich: Recht. Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Studien­ ausgabe. München, Kösel 1973 Bd. 4, S. 1188–1202 Illhardt, Franz Josef: Ownership of the Human Body: Deontological Approaches. In: Ten Have, H.A.M.J., Welie, J.V.M. (eds) Ownership of the Human Body. Philosophy and Medicine, vol. 59, Springer, Dordrecht 1998, pp. 187–206 *,*: Allokation von Ressourcen und Behandlungsentscheidungen aus ethi­ scher Sicht. Notfall- und Rettungsmedizin 2007, Jg.10: 179–181 *,*: The relationship between health professionals and patients. In: Pegoraro, Renzo / Putoto, Giovanni & Wray, Emma (Hg) Hospital Based Bioethics. A European Perspektive. Piccin: Italy 2007. Pp. 57–76 Illich, Ivan: David Cayley: In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gesprä­ che über Religion und Gesellschaft mit David Cayley. Beck, München 2006 Ishiguro, Kazuo: Die Ungetrösteten. Deutschsprachige Ausgabe: München, Karl Blessing in der Penguin Random House 2021 Janker, Karin: Erst gefeiert, dann gefeuert. Süddeutsche Zeitung 29./30. Mai 2021 Jaspers, Karl: (1999). Die Idee des Arztes. In: Hersch. J. (Hrsg.): Der Arzt im technischen Zeitalter. 2. Aufl. Mainz, München: Piper 1999, 7–18 Jonsen Albert R. & Toulmin, Stephen: The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning. Berkely, Los Angeles, London: University of California Press 1988 Kammerer, Peter: Vorwort (1998) zu Pasolini, Pier Paolo, Freibeuterschriften. ebd. 7–15 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst – besonders in der Male­ rei. Neuauflage. Bern: Benteli, 3. Aufl. 2009 Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785). Hrsg. v. Vorländer K. Phil. Bibliothek Bd. 41. Meiner, Hamburg, 2. Aufl. 2016 (= Akademieausgabe Bd. 4, 387–463) Kafka, Franz: Der Prozess. Frankfurt/M: Fischer 1960 Kermani, Navid: Dankrede zur Verleihung des Friedrich-Hölderlin-Preises, Nov. 2020 *,*: Die Zufluchtsorte des Geistigen: Was passiert, wenn wir Musik hören? Neue Züricher Zeitung vom 1.4.2021 *.*: Die heroische Schwäche. In: Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen. München: C.H. Beck 2014. S. 90–120 Kedziersky, Marek: Verstörungen. Theatermacher/innen sprechen und schweigen zu ihrer Arbeit im Staat. Lettre international Nr. 130, Herbst 2020, S. 102–105

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Anmerkungen

Kertész, Imre: Europas bedrückende Erbschaft. Übers.: Kristin Schwamm. Leicht gekürzte Fassung des Vortrags auf dem Kongress »Perspektive Europa«, Juni 2007 Kersting, Wolfgang: MacIntyre. In: Julian Nida-Rümelin & Elif Özmen (Hg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Krö­ ner, 3. Aufl. 2007, S. 413–418 Kierkegaard, Søren (1814): Der Begriff Angst. Stuttgart: Reclam 2020 Kiyak, Mely: Kiyaks Deutschstunde / 70 Jahre Grundgesetz: Die Summe aus Schmerz, Scham und Schuld. Die ZEIT vom 22.5. 2019 Kleist, Heinrich von: Michael Kohlhaas. Textausgabe mit Kommentar und Materialien, Stuttgart, Reclam 2007 Knubben, Thomas: Hölderlin. Eine Winterreise. Tübingen, Klöpfer & Meyer, 2. Aufl. 2012 Kohlberg, Lawrence: Moral stage scoring manual. Cambridge University Press, New York 2nd Ed. 1978 Kramer, Bernd: Interview: Robert Sutton über Arschlöcher. Süddeutsche Zei­ tung vom 27./28. Februar 2021 *,*: Mehr Dank, mehr Lob. Süddeutsche Zeitung vom 15./16. Mai 2021 Kunkel, Christina: Was man nicht sieht. Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 3. 2021 Lamm, Richard D.: Abuse of intergenerational equity. Saving the earth one byte at a time. Posted in »Computing for Sustainability«. September 4, 2011 Lazarus, Richard: Stress and Emotion. A new Synthesis. Free Association Books, London 1999 Lenz, Siegfried: Deutschstunde. München, Deutscher Taschenbuch Ver­ lag 1968 Leven, Karl-Heinz: Die Geschichte der Infektionskrankheiten. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Landsberg: ecomed 1997 *,*: Leben mit der Pandemie: »Es wird sich eine neue Normalität entwickeln«. Badische Zeitung vom 06. Februar 2021 Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänome­ nologie und Sozialphilosophie. Übers. u. hrsg. von Krewani, Wolfgang Nikolaus. Freiburg: Alber Litvack, Leon: Charles Dickens wrote about the diphtheria crisis of 1856 – and it asounds very familiar. (The Queens University profile page) The Conversation, 29.07. 2020 Lorenz, Konrad: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. München, Pieper 1973

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3. Genutzte Literatur

Lübbe, Hermann: Erfahrungsverluste und Kompensationen. Zum philoso­ phischen Problem der Erfahrung in der gegenwärtigen Welt. In: Der Mensch als Orientierungswaise? Ein interdisziplinärer Erkundungsgang. Freiburg/München: Karl Alber1982, S. 145–168 Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion von sozialer Komplexität. Stuttgart, Suhrkamp 1973 (6. Aufl. 2021) *,*: Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Habermas J., Luhmann N.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die System­ forschung? Suhrkamp: Frankfurt/M 1971, S. 25–100 Maciejewski, Franz: Melancholia 2020. Über den Blues unserer Tage. Lettre international Nr. 132. 2020. S. 15–18 *,*: Begierde nach Rettung. »Tatenarm und gedankenvoll« – Hölderlins Stimme in Zeiten von Corona. Lettre international 133, 2021, S. 25–28 *,*: Garküche der Zukunft. Lettre international Nr. 136, 2022, S. 80–92 Mackie, John Leslie: Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen. Stuttgart: Reclam 1986 Maid-Zinke, Kristina: Voller Sehnsucht nach dem Verschwinden. Zum Tode von Ilse Aichinger. Süddeutsche Zeitung vom 11.11.2016 Maio, Giovanni (2014): Geschäftsmodell Gesundheit: Wie der Markt die Heilkunst abschafft. Frankfurt/M: Suhrkamp Mann, Thomas: Der Zauberberg, Frankfurt/M: S. Fischer 1981 Marquez, Gabriel Maria: Die Liebe in Zeiten der Cholera. Übers. Dagmar Ploetz. Köln, Kiepenheuer & Witsch 2012 Merleau-Ponty, Maurice (1964) Das Auge und sein Geist. In: Das Auge und sein Geist. Philosophische Essays. Hrsg. u. übers. v. Arndt, Hans Werner. Philosophische Bibliothek Bd.357. Hamburg: Meiner 1984, S. 13–44 *,*: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus d. Französischen übers. v. Boehm, Rudolf. Berlin: De Gruyter 1966 Metz, Johann Baptist: Erinnerung. Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 2. München: Kösel 1973, S. 386–396 Meyer, Kirsten: Was schulden wir künftigen Generationen? Nachhaltigkeit und die Idee des Generationenvertrags. Journal für Philosophie, der blaue Reiter. Ausgabe 48 (2/2021), S., 70–73 Milton, John: Paradise Lost. Philadelphia, Open University Press 1992 Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern: Grund­ lagen kollektiven Verhaltens. München: Pieper 1965 Molinsky, Waldemar: Verantwortung. In: Herders Theologisches Lexikon. Hg. Rahner, Karl. Bd. 8. Freiburg, Wien: Herder 1973. S. 34–41 Muscionico, Daniele: Das Seuchen-Sprech: Wieso das Virus gefährlicher ist als angenommen. Neue Zürcher Zeitung vom 27.4. 2020

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Anmerkungen

Münkler, Herfried & Münkler, Marina: Der Einbruch des Unvorhersehbaren, In: Kortmann & Schulz (Hg.) Jenseits von Corona. 2020, S. 101–109 Nancy, Jean-Luc: Die fragile Haut der Welt. Zürich: diaphanes 2021 (franz. Orig. Paris 2020) Nietzsche, Friedrich: Die Unschuld des Werdens. Sämtliche Werke in 12 Bänden. Taschenausgabe Bd. 83. Stuttgart: Kröner 1965 *,*: Die Kunst der Gesundheit. Hrsg. V. Carbone, Mirella & Jung, Joachim, Freiburg: Alber, 2. Aufl. 2014 Nettling, Astrid: Man muss sich auf die Welt und die Dinge einlassen. Deutschlandfunk am 06.12.2009 Nooteboom, Cees: Allerseelen. Übers. Helga van Beuningen: Frankfurt/M: Suhrkamp 1999 Oesterle, Kurt: Ein Vers wie ein Kugelblitz. In: Knubben, Thomas, Kutter, Uta & Klöpfer, Hubert (Hg.) Wächst das Rettende auch? Eine Preisfrage. Krö­ ner, Stuttgart 2021, S. 227–239 Pasolini, Pier Paolo, Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Ein­ zelnen durch die Konsumgesellschaft. Hrsg. Klaus Wagenbach. Berlin: Wagenbach-Verlag, 2. Aufl. 2008. Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 1956 (spanisches Original: 1929. Deutsche Erstübersetzung 1931) Pavese, Cesare: Das Haus auf dem Hügel. Übers. Maja Pflug. Zürich, Dioge­ nes 2020 Pieper, Annemarie: Norm. In: Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner & Christoph Wild (Hg.) Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Mün­ chen: Kösel1973, S. 1009 – 1021 Pörksen, Bernhard: Lügen, Bullshit und Corona – Wahrheit in Zeiten der Pandemie. Kultur neu entdecken – Sendung des SWR2 vom 10.1.2021 Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Fischer, Frankfurt am Main 1985 Prantl, Heribert: Lull mich ein. Die Wahlprogramme nach der Pandemie. Süddeutsche Zeitung vom 26./27. Juni 2021 *,*: Verbotspolitik. Süddeutsche Zeitung vom 11./12. 09. 2021, S. 5 Prechtl, Peter & Burkard, Franz-Peter: Metzler Philosophie Lexikon. Stutt­ gart, Weimar: Verlag J.B. Metzler. 2. Aufl. 1999 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übers. Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart, Philipp Reclam 2017 Radisch, Iris: Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. 7. Aufl. 2013 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übers. Von Hermann Vetter. Suhrkamp, Frankfurt 1975

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3. Genutzte Literatur

Reichenbach, Roland & Pongratz, Ludwig: Einleitung. Kritik der politischen Bildung. Zeitschrift für Pädagogik Jg. 55 (Heft 6, Nov./Dez. 2009), S. 833 – 836 Rohkrämer, Thomas: Mensch und Natur im technischen Zeitalter. In: Journal für Philosophie. Der blaue Reiter. Ausgabe 48, Heft 2, 2021, S. 58–63 Rorty, Richard: Heidegger, Kundera und Dickens. In: Eine Kultur ohne Zen­ trum. Vier philosophische Essays und ein Vorwort. Stuttgart: Reclam 1993, S. 72–103 Rose, Jaqueline: Es geht weiter ums Ganze. »Die Pest« von Albert Camus als verborgene Wahrheit einer korrupten Welt. Lettre international Nr. 129, Sommer 2020, S. 43–45 Roth, Philip: Nemesis. Übers. Dirk van Gunsteren. München, Carl Hanser 2011 Roy, Arundhati: The pandemic is a portal. Financial times, April 3 2020 Russell, Bertrand: The best answer to fanaticism: Liberalism. Ten command­ ments of critical thinking. New York Times Magazine, 16. Dezember 1951 Rütter, Susanne: Herausforderung angesichts des Anderen. Von Feuerbach über Buber zu Lévinas. Freiburg i.Br., München: Alber 2000 Saramago, José: Die Stadt der Blinden. Übers.: Ray-Güde Mertin. Hamburg, Rowohlt 1997 Sartre, Jean-Paul: Das Spiel ist aus. Übers. Alfred Dürr. Hamburg, Rowohlt 1974 *,*: Zum Existentialismus. Eine Klarstellung. In: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, Hg. Vincent von Wroblewski, Rowohlt, 6. Auflage 2012 Scharnigg, Max: Zeit der Zärtlichkeit. Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 2021, S. 17 Scheidt, Carl-Eduard: Abschied vom Handschlag. In: Kortmann/Schulze (Hgg.) Jenseits von Corona. 2020, S. 43–60 Schiller, Friedrich: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. In: Berghahn, Klaus L. (Hg.) Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Stuttgart: Reclam, S. 3–13 Schöne-Seifert, Bettina: Grundlagen der Medizinethik. Alfred Kröner, Stutt­ gart 2007 Schönlau, Rolf: Noppenball. Lettre international Nr. 130, Herbst 2020, S. 6f Schrappe, Matthias: Ausschuss für Gesundheit des deutschen Bundestags. 20. Okt. 2020 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2020): Covid-19-Pandemie: Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit. 3. aktualisierte Version vom 3. Nov. 2020

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Anmerkungen

Schwering, Markus: Jürgen Habermas über Corona: »So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie«. Frankfurter Rundschau, 7.4.2020 Seidler, Eduard: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege. 6. Aufl. Stuttgart Berlin Köln: Kohlhammer 1993 Simon, Violetta: Wegen Verwirrung geschlossen. Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 2021, S. 12 Slavik, Angelika: Vorbilder gesucht. Süddeutsche Zeitung vom 3./4.06. 2021, S. 1 Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Berlin: Duncker & Humblot, 2018 Spaemann, Robert: »Moral, provisorische«. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 6. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel: Schwabe 1984, S. 172–174 Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut: Beschluss der STIKO zur 1. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung. Aktualisierung vom 8. Januar 2021 Strasser, Helmut & Röhrich, Wilfried (2010) Vergesellschaftung. In: Lexikon der Politikwissenschaft. Hg. Nohlen, Dieter & Schultze, Rainer-Olaf. Bd. 2. München, Beck, 4. Aufl. S. 1145 – 1153 Strasser, Helmut (2010) Vergemeinschaftung. In: Lexikon der Politikwis­ senschaft. Hg. Nohlen, Dieter & Schultze, Rainer-Olaf. Bd. 2. München, Beck, 4. Aufl. S. 1145 Striet, Magnus (2020) Nichts gewesen? Ein theologischer Versuch im Zei­ chen der Pandemie. In: Kortmann/Schulze (Hgg.) Jenseits von Corona. 2020, S. 157–164 Sutton, Robert: Interview über Arschlöcher. Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 2. 2021 Temkin, Owsei: Zur Geschichte von Moral und Syphilis. Archiv für Geschichte der Medizin 19, 1927, S. 331–48 Thein, Christian: Kann man zum Guten erziehen? Über die Beziehung von Erziehung und Bildung zur Kritik. In: Der blaue Reiter. Journal für Philo­ sophie. Heft: Leben lernen. Über die Erziehung des Menschen. Jg. 46, 2/2020, S. 48–51 Thomä, Dieter: Die Spaltung der Corona-Gesellschaft und die Feier der All­ tagshelden. In: Bernd Kortmann und Günther G. Schulz (Hg.) Jenseits von Corona. 2020, S. 51–58 Treumann, Rudolf Alexander: Pandemie – Pandämonie. Autopsie einer pre­ kären Situation. Lettre international Nr. 132, Winter 2020. S. 21–28 Uhlmann, Berit: (Interview mit Lothar Wieler) »Die Gefahr ist immer noch hoch«. 22./23./24. Mai 2021

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3. Genutzte Literatur

-.-: Die wirklich wichtigen Fragen. Süddeutsche Zeitung 29./30. Mai 2021 Vossenkuhl, Wilhelm: Diskriminierung. In: Höffe, Otfried (Hg): Lexikon der Ethik. 8. Aufl. München, Beck 2008, S. 51–53 Waal, Alex de: Pathogen und Politik. Wissenschaft und Aufklärung – Die Hamburger Choleraepidemie 1892. Lettre international Nr. 129, Sommer 2020, S. 12–20 *-*: Militarizing Global Health. Boston Review vom 11. Nov. 2014 Wackwitz, Stephan: Zivile Heroen: Unter parzellierten Seelen. Interview mit Dieter Thomä. Süddeutsche Zeitung vom 27. November 2019 Watzlawick, Paul / Beavin, Janet H. / Jackson, Don D.: Menschliche Kommu­ nikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 11. unveränderte Auflage, Hans Huber, Bern 2007 (Original 1987) Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Sozio­ logie [1922] (darin 3. Kap.: Typen der Herrschaft, und 9. Kap.: Soziologie der Herrschaft). Tübingen: Studienausgabe. 5. Aufl. (J. Winckelmann. [J.C.B. Mohr, P. Siebeck]), 1972, S. 122–176 und 551–579 Weiß, Ulrich: Menschenwürde/Menschenrechte: Normative Grundorientie­ rung für eine globale Politik. In: Lütterfels, Wilhelm & Mohrs, Thomas (Hgg.) Eine Welt – eine Moral? Eine kontroverse Debatte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 217–243 Weizsäcker, Christian Ferdinand von: Die Einheit der Natur. München 1986 Weizsäcker, Viktor von: Der Arzt und der Kranke. Stücke einer medizinischen Anthropologie (Erstpubl. 1926). Gesammelte Schiften in zehn Bänden, Bd. 5. Suhrkamp: Frankfurt/M 1987, S. 177–194 Welzer, Harald: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. Frank­ furt/M 2021 Wetzel, Hermann H.: Vorwort. In: Brost, Eberhard (Hg): Liebe und Leiden­ schaft. Italienische Novellen. Darmstadt: Lambert Schneider (Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft) 2012, S. 5–16 Westermilies, Inga: Ärztliche Handlungsstrategien im Umgang mit auslän­ dischen Patienten: Medizinisch-ethische Aspekte. Münster LIT-Verlag 2004 (Promotionsarbeit) Wolters, Dierk: Selberbestimmung. Ein Essay. In: Knubben, Thomas, Kutter, Uta & Klöpfer, Hubert (Hg.) Wächst das Rettende auch? Eine Preisfrage. Kröner, Stuttgart 2021, S. 35–45 Yalom, Irvin D.: Die Schopenhauer-Kur. Übers. Almuth Carstens. München, btb aus der Verlagsgruppe Random House 2005

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Anmerkungen

*,*: Und Nietzsche weinte. Übers. Uda Strätling, Hamburg, Ernst Kabel 1996 Zoglauer, Thomas: Die Methode des Überlegungsgleichgewichts in der mora­ lischen Urteilsbildung. In: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Die Zukunft des Wissens. 18. Deutscher Kongress für Philosophie, Workshop-Beiträge, Konstanz Universitätsverlag, 1999, S. 977–984

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