Die Geschichte der agrarischen Bewegung in Deutschland [Reprint 2019 ed.] 9783111604534, 9783111229348


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German Pages 269 [280] Year 1909

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Kapitel I. Theoretische Strömungen
Kapitel II. Begründung landwirtschaftlicher Interessenvertretungen
Kapitel III. Die Verschuldungsfrage
Kapitel IV. Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft und Schutzzoll
Kapitel V. Der Zolltarif von 1879
Kapitel VI. Die Zollerhöhungen von 1885 und 1887
Kapitel VII. Die Herabsetzung der Schutzzölle und die Begründung des Bundes der Landwirte
Kapitel VIII. Die Politik der „großen Mittel" und der Antrag Kanitz
Kapitel IX. Die Börsenreform
Kapitel X. Die Währungsfrage
Kapitel XI. Der Zolltarif von 1902
Schluß
Register
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Die Geschichte der agrarischen Bewegung in Deutschland [Reprint 2019 ed.]
 9783111604534, 9783111229348

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Die Geschichte der

Agrarischen Bewegung in Deutschland von

Dr. Johannes Croner

Berlin Druck und Verlag von Georg Reimer

1909

Motto: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit 10 höhten, die Mitwelt sam Nntcen suktlnftiger Jahre su belehren, beigemessen. So hoher Amter nnterwindet sich gegenwärtiger Versuch nioht; er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen." B ä n k e : Vorrede au den Gesohiehten der romanischen and germanischen Volker.

Meiner Fran

Vorwort Die Geschieht« der agrarischen Bewegung ist vom parteipolitischen Standpunkt

aus, wenigstens in einzelnen Partien,

schon öfter behandelt worden.

Die Absicht des Verfassers war,

im Sinne des u n p a r t e i i s c h e n l e i d e n s c h a f t s l o s e n n i s t e n ein Stack Zeitgeschichte zu geben. literatur

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Die ganze Streitblieb

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ursprünglichen Quellen

selbst

die Schriften

der Vertreter

agrarischer Theorien, die Reichstagsverhandlungen, die Berichte der Steuer- und Wirtschaftsreformer, des Kongresses deutscher Landwirte, des Landwirtschaftsrats,

Landesökonomiekollegiums

usw. die Grundlage der Darstellung gewesen. Als einen bescheidenen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der neuesten Zeit übergebe ich diese Arbeit der Öffentlichkeit. B e r l i n , Oktober 1909.

Der Verfasser.

Inhaltsverzeichnis. Seite

Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel

I. II.

Theoretische Strömungen 1 — 22 Begründung landwirtschaftlicher Interessenvertretungen 23— 33 III. Die Verschuldungsfrage 3 4 — 57 IV. Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft und Schutzzoll 68— 88 V. Der Zolltarif von 1879. Fürst Bismarck und die politischen Parteien 89—106 VI. Die Zollerhöhungen von 1886 und 1887 . . . . 109—128 VII. Die Herabsetzung der Schutzzölle und die Begründung des Bundes der Landwirte . . . . 129—149 VIII. Die Politik der „großen Mittel" nnd der Antrag Kanitz 150—172 IX. Die Börsenreform 173—191 X. Die Währnngsfrage 192—241 XI. Der Zolltarif von 1902 242—261 262

Kapitel Kapitel Kapitel Schluß Register I. Personenregister II. Sachregister

263—266 267—269

Kapitel I.

Theoretische Strömungen. Die politischen Ideen der großen französischen Revolution und die volkswirtschaftlichen Gedanken von Adam Smith beherrschten im Verein mit dem Rationalismus in der Religion und der vorwiegend klaasischen Richtung in der Literatur die Gemüter Deutschlands zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Aber schon im ersten Viertel dieses Zeitabschnittes zeigt sich auf allen Gebieten ein Rückschlag, der einer Umgestaltung des gesamten Wirtschaftslebens von Anfang an Vorurteile und Befürchtungen hindernd in den Weg legt. Wie Schleiermacher die religiösen Gefühle aus den Tiefen des Rationalismus wieder auf die Höhe zu führen sucht, wie in der Jurisprudenz die historische Schule den Kampf mit dem Vernunftrecht beginnt, so lösen auch in der Literatur die Romantiker mit ihrem mangelnden Wirklichkeitssinn und ihrem forcierten Drange nach rückwärts die klassische Schule deutscher Dichtung ab. Man sucht in der Vergangenheit das Glück, das die Gegenwart zu geben sich weigert. Die romantische Schule aber wurde die Lehrmeisterin einer neuen Richtung auch in der Volkswirtschaft und hier wie in der Politik die Trägerin einer feudal-aristokratischen Reaktion. Mochte E. M. Arndt den Industrialismus angreifen, gegen die Maschinen und den Dampfeifern und für Abschließung des Adels in einem goldenen Buche eintreten, oder K. L. von Haller gegen die Lehren Rottecks und Dahlmanns den Satz aufstellen, daß der Staat nur eine privatrechtliche Genossenschaft, der Fürst dagegen der einzige vollkommen unabhängige Mensch sei; der ausschlaggebende Grund bei beiden war stets die Furcht vor der Revolution. Als Abwehr gegen sie diente C r o n e r , Agrtrlaehe Bewegung.

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Kapitel I.

ein Einspinnen in die feudal-romantischen Ideen des Lehnsstaates mit Ständeteilung und patriarchalischer Verfassung. Jede Neuerung hat zuerst das Gesetz der Trägheit und des Indifferentismus zu überwinden und begegnet bei ihrem ersten Aufkommen einer optimistischen und einer pessimistischen Auffassung. So wurde das Aufkommen der Maschinenfabrikation im allgemeinen zwar als ein unermeßlicher Fortschritt bejubelt, von einer starken Minderheit jedoch mit einem gewissen Bangen vor dem Ungewissen und in dem oft berechtigten Hinweis auf die möglichen sozialen Schäden heftig befehdet. Der Übergang vom örtlich beschränkten, leicht zu überblickenden landwirtschaftlichen oder handwerks- und hausindustriellen Geschäft zum modernen Großbetrieb und zur Internationalisierung verletzte viele Interessensphären. Leicht mußte dem Verteidiger der alten bewährten Zustände auch jede freiere Regung des wirtschaftlichen Lebens als ein weiterer Schritt zur politischen Revolution erscheinen. Nahmen doch damals die englischen Tories sogar an, das Fabriksystem sei dem Christentum entgegengesetzt, und den deutschen Konservativen schien das Abströmen der Kleinbauern und Tagelöhner in die Reihen der städtischen Arbeiter, das durch die Eisenbahnen hervorgerufen und erleichtert wurde, als ein nicht wieder gut zu machendes Unglück für den ganzen Staat. Diese Ansichten fanden ihre genialste Vertretung in den Theorien des gefürchteten „Restaurators der Staatswissenschaften" C a r l L u d w i g v o n H a l l e r ( l 7 6 8 — 1 8 5 4 ) . Nach dem Ideengang dieses Berner Patriziers sind die bisherigen theoretischen Versuche, die Staaten aus der Distinktion zwischen einem sogenannten Stand der Natur und dem Stand der Gesellschaft, aus einem bürgerlichen Kontrakt und der vom Volk delegierten Gewalt abzuleiten, gescheitert. Es bedarf daher einer „Restauration der Staatswissenschaft". Hallers Frage lautet: „Statt die Befugnisse der Herrschenden auf Rechte zu gründen, die sie von ihren Untergebenen empfangen haben sollen, dürften sie nicht viel einfacher und befriedigender aus eigenen (natürlichen und erworbenen) Rechten fließen und eben dadurch einerseits fester begründet, andererseits mehr, als man glaubte, beschränkt sein? Statt zur Erklärung ihrer Pflichten künstliche

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Theoretische Strömungen.

Verträge oder Aufträge vorauszusetzen, sollten sie nicht vielmehr in allgemeinen Menschenpflichten des Rechts und des Wohlwollens bestehen ? Statt der Natur zuwider eine unmögliche Unabhängigkeit a l l e r Menschen anzunehmen, wird es nicht besser sein, bei der möglichen Unabhängigkeit e i n z e l n e r anzufangen und ohne daß irgendeiner etwas aufopfert, an sie die dienstbaren Verhältnisse der übrigen anzuknüpfen? Statt endlich den Oberen durch die Unteren schaffen zu lassen, sollten wir nicht auch hier den Gang der Natur vermuten, welche in dem ganzen Lauf des menschlichen Lebens, in allen Beziehungen der Menschen immer den Oberen vor dem Unteren existieren läßt ?" Die ganze Schöpfung, argumentiert Haller, ist von dem Gesetze beherrscht, daß der Mächtigere herrsche. Natürliche Überlegenheit ist der Grund aller Herrschaft, Bedürfnisse sind der Grund aller Abhängigkeit und Dienstbarkeit. Allen Menschen wohnt ein Hang inne, sich freiwillig dem Mächtigeren anzuschließen und seiner Leitung gern zu folgen. Wie alle Menschen, so sind jedoch auch die Mächtigen im Gebrauch ihrer Freiheit durch das von Gott selbst gegebene Pflichtgesetz beschränkt: „Meide Böses und tue Gutes", „Beleidige niemanden, sondern nutze, wo du kannst". Besteht demnach die Gesellschaftsordnung lediglich in idealen Herrschaftsverhältnissen, so unterscheiden sich die Staaten von anderen gewöhnlichen Dienst- und Sozietätsverhältnissen nicht ihrer Natur, sondern nur dem Grade nach durch höhere Macht und Freiheit. Die höchste Gewalt, die fürstliche, besteht in nichts anderem, als in der eigenen Unabhängigkeit; diese Unabhängigkeit ist nur eine Folge zureichender Macht, oder äußerer Glücksgüter und kann bald von einzelnen Menschen, bald von Korporationen auf verschiedene Weise rechtmäßig erworben und wieder verloren werden. Aus diesen Voraussetzungen ergeben sich für Haller als Folgerungen: Die Fürsten, sie seien Individuen (wie in der Monarchie) oder Korporationen (wie in der Republik) herrschen nicht aus anvertrautem, sondern aus eigenem Recht. Sie sind also nicht ') Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, 1. Band S. 326. 1*

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Kapitel I.

von dem Volk gesetzt oder geschaffen, sondern sie haben im Gegenteil dieses Volk (die Summe aller ihrer Untergebenen) nach und nach um sich versammelt, in ihren Dienst aufgenommen; sie sind die Stifter und Väter dieses wechselseitigen Verbandes. Die Fürsten sind nicht Administratoren eines gemeinen Wesens, nicht die ersten Diener des Staates, nicht die obersten Beamten des Volks, nicht bloßes Oberhaupt des Staates, sondern die Fürsten sind a l l e i n s e l b s t ä n d i g e Personen, unabhängige Herren, die gleich anderen Herren wesentlich und nach den Regeln der Gerechtigkeit nicht fremde, sondern nur ihre eigene Sache regieren. Die Befugnis und die Ausübung jenes Regierens ist daher in ihren Händen ein Recht und nicht eine Pflicht. Nur die Art der Regierung ist eine Pflicht, darin nämlich, daß sie nicht fremde Rechte beleidige, sondern vielmehr fördere und begünstige. Gleichwie die Fürsten nicht v o n dem Volk geschaffen sind, so sind sie auch nicht allein f ü r das Volk geschaffen, sondern vor allem aus und im wesentlichen für sich selbst, wie jeder andere Mensch. Ebenso sind aber auch die Untertanen nicht allein für den Fürsten und seinen Nutzen vorhanden. Energisch betont Haller den privatrechtlichen Charakter des Staates. Ein Fürstentum, sei es auch so groß, daß man es eine Monarchie nennt, ist kein gemeines Wesen, sondern seinem wesentlichen Charakter nach eine Privatexistenz, ein herrschaftlicher und Dienstverband, ein Hauswesen (magna familia). Daher ist auch der Ursprung des Grundeigentums für Haller rein privatrechtlicher Natur: „Sobald der Mensch vermöge seiner natürlichen Freiheit befugt ist, sein Leben nicht nur notdürftig, sondern mit möglichster Bequemlichkeit zu erhalten, sobald er sogar nach dem in sein Herz geschriebenen Gesetz des Wohlwollens die Pflicht hat, sich und anderen zu nützen, ihre Existenz zu sichern und ihren Zustand zu vervollkommnen: so muß er auch notwendig berechtigt sein, diejenigen äußeren Dinge und Produkte des Erdbodens zu gebrauchen, ohne welche er jene Befugnis nicht ausüben, oder diese Pflicht nicht erfüllen kann; alles jedoch, insofern er dadurch keinen anderen in seinem Recht beleidigt, denn ohne diese Beschränkung behaupte ich, daß er auch nicht einmal das Recht

Theoretische Strömungen.

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zu leben habe." ' ) Nun sind die äußeren Dinge und Naturprodukte ursprünglich herrenlos (res nullius), und wer sie also zuerst in Besitz nimmt, der beleidigt kein fremdes Recht. „Demnach bleibt es ewig wahr, daß die Okkupation oder Besitznahme einer niemandem gehörigen Sache mit dem geäußerten Willen der Zueignung die ursprünglich rechtmäßige Entstehungsart des Eigentums ist, und wer hier der erste an der Zeit gewesen, der ist auch der vorzüglichere am R e c h t . " 4 ) Von den beiden Arten von Staaten, die Haller unterscheidet, Fürstentümern oder Monarchien und Republiken oder freien Kommunitäten, behandelt er mit besonderer Vorliebe die Fürstentümer. Diese entstehen aus der Natur der Dinge selbst und sind daher die ersten, zahlreichsten und dauerhaftesten Staaten. Die Republiken dagegen sind künstliche Institute. Die Natur selbst bringt keine Kommunitäten hervor; die Menschen sind zu ihnen, ohne ganz besondere Vorteile, überhaupt von Natur nicht geneigt. Die Republiken werden ihrer Natur nach stets eine seltene Erscheinung bleiben, darum, weil es weniger Korporationen als Individuen auf dem Erdboden gibt und weil es den ersteren viel seltener als den letzteren gelingt, große Güter zu erwerben und mittels derselben zur gänzlichen Unabhängigkeit zu gelangen. Die Vorteile der Republiken werden von ihren Nachteilen weit überwogen; doch ist daraus nicht der Schluß zu ziehen, daß alle Republiken zu verwerfen und in Fürstentümer umzuwandeln seien. Die Monarchien teilt Haller nach den verschiedenen Prinzipien der Oberherrschaft ein in erb- und grundhcrrlichc, militärische und geistliche. Diesen verschiedenen Arten der Monarchien liegt zugrunde das Verhältnis des Haus- und Grundherrn zu seinen Dienern, Leuten und andern Hörigen (Patrimonialstaaten), das Verhältnis des Anführers zu seinen Begleitern und Getreuen (Generalstaat) und das des Lehrers zu seinen Jüngern und Gläubigen (Hierarchien, Theokratien). Doch sind diese drei verschiedenen Kräfte oder Prinzipien der Oberherrschaft sehr oft miteinander vereinigt. „So ' ) a. a. 0 . Bd. 2 S. 40. ») a. a. 0 . Bd. 2 S. 40—41.

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Kapitel I.

kann z. B . der Hausvater oder Landeigentümer zugleich Anführer und Lehrer sein, mithin nebst der grundherrlichen Macht auch eine militärische und geistige besitzen.

Ebenso können die Feldherren

und Priester durch mancherlei Erwerbstitel in der Folge liegende Güter erwerben, mithin die grundherrliche Gewalt mit der militärischen oder geistlichen vereinigen.

Die Verbindung mit der

Grundherrschaft ist ihnen sogar unentbehrlich notwendig, wenn sie eigentliche Fürsten werden und die Dauer ihrer Herrschaft sichern wollen.

„Denn am Ende kann doch niemand unabhängig sein

oder bleiben, er müsse dann einen eigenen freien Grund und Boden besitzen, auf welchem er niemand zu dienen genötigt ist

Daher

beweist auch die ganze Geschichte, daß die militärischen und geistlichen Staaten am Ende immer mit der Grundherrlichkeit zusammenschmelzen und bei derselben allein eine Garantie ihrer Fortdauer finden."1)

„Mit einem Wort: das Patrimonial-Verband ist immer

das erste und letzte, die Natur geht in der Gründung der Staaten von demselben aus und führt zuletzt die Menschen, freiwillig oder unfreiwillig, immer wieder auf dasselbe zurück." 2 ) Haller betont dann immer wieder, „daß dieser grundherrlichc Verband das mildeste und freundlichste Band ist, welches sich denken läßt, daß hier die menschliche Freiheit nicht den mindesten Abbruch erlitten hat, und alles, was man Herrschaft und Dienstbarkeit nennt, nur in freiwilligen Privatverträgen, in reziproker Hilfeleistung, in einem Austausch wechselseitiger Wohltaten besteht. Indem die Natur durch dieses Verband die Staaten stiftet und überhaupt die Menschen durch lauter Liebe aneinanderkniipft, hat sie es mit unserer persönlichen Freiheit, mit unserem Glück und selbst mit dem erlaubten Hang des Emporstrebens viel besser gemeint als alle Sophisten mit ihren erdichteten Vernunftstaaten, ihren willkürlichen

Rechtsgenossenschaften

und

widrigen

Zwingan-

stalten".3) Mit wuchtigen Keulenschlägen h a t t e Haller das Naturrecht getroffen.

Alle Gegner der Revolution jubelten auf.

') a. a. 0. 2. Bd. S. 15. s ) a. a. 0. 3. Bd. S. 169. *) a. a. 0. 3. Bd. S. 159—160.

Den Feudal-

Theoretische Strömungen.

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gesinnten gefiel die Anschauung, die den Monarchen nur als ersten Grundbesitzer betrachtete, den Anhängern des Absolutismus die Idee, daß erst der Fürst und dann das Volk gewesen sei, den Ultramontanen das Lob des Gottesstaates. An den letzten Gedankengang knüpfte der ungleich gewandtere, aber schwunglose und gekünstelte A d a m M ü 11 e r (1779—1829) an, der völlig in romantischen Banden befangen, die innere Verwandtschaft zwischen Romantik und Ultramontanismus nicht verleugnen konnte. Ein theokratischer Zug liegt in seinem System. Die Religion ist die Stifterin eines lebendigen Friedens, und Christus ist nicht bloß für die Menschheit, sondern auch für den Staat gestorben 1 ). So nähere man sich dem dritten Zeitalter, nach dem die Menschheit strebe, dem „Zeitalter eines großen Bundes unter den Staaten der Erde" 2 ). Nicht von dem „seichten Begriffe eines ewigen Friedens" sei die Rede, sondern von einem „wahren freien und ewigen Bunde", „einer Eidgenossenschaft unter den Staaten" 3 ). Müllers System besteht in einer Mischung von Religion und Recht, von der Autorität des Gottesgnadentums der Krone und den rein menschlichen Institutionen. Seine Abneigung gegen die Schule von Adam Smith ließ ihn volkswirtschaftlich auf die Physiokraten zurückgreifen. Die in den Werken Adam Smiths aufgestellte Lehre der Handels- und Gewerbefreiheit nimmt ihm zu wenig Rücksicht auf die geschlossene Persönlichkeit der Staaten, auf ihren abgesonderten Charakter und auf ihre notwendige kriegerische Stellung untereinander Mit den vielfachen Zergliederungen und Appretierungen jenes Buches (wealth of nations) durch politische Schriftsteller und seinwollende Philosophen, welche aus seinem praktischen Gehalte nur Resultate förderten, die allein für den Wert haben, der in die Handels- und Denkweise Smiths eingegangen ist, stellten sich, nach Müllers Auffassung, die (damaligen) Theoretiker den alten Praktikern aus der Schule Colberts und Friedrichs II. gegenüber. Die Gründe, die ihnen jetzt noch für die Handelssperre fehlten, biete ihnen die Unwissenheit der Theoretiker dar. Bei diesem ') A. Müller: Elemente der Staatskunst I. S. 18. 2 ) a. a. 0. I. S. 89. ä ) a. a. 0. I. S. 90.

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Kapitel 1.

Streite verliere niemand mehr als der unglückliche Staat. Der Ackerbau gilt, nach physiokratischen Lehren, auch für Adam Müller als der „einzige Quell aller Reichtümer". Es ist durchaus nicht zweckmäßig, nun etwa die Majoratsgesetze aufheben zu wollen, denn der große Eigentümer könne bei einem ausbrechenden Kriege viel größere Aufopferungen machen als alle die kleineren an seiner Stelle zusammen. Er werde es auch tun, da er mehr an das Interesse des Staates gebunden sei als jene 1 ). Anders wäre es, wenn es sich um eine Aufhebung und Auseinandersetzung der Gemeinheiten handle. Es müsse vom Staatsmanne der Vorteil gegen das widerstreitende Gesetz abgewogen werden 2 ). — Der Staatsmann repräsentiere so „die Idee des Nationalvorteils, des Nationalreichtums" 3 ). — Die Unveräußcrlichkeit aller Familiengüter sei ein Gesetz, worüber zwar jeder Modejünger der Nationalökonomie spotte, das aber, wie es auch entstanden sein möge, schon deshalb ernsthafte Betrachtungen verdiene, weil es durch die Sitte ganzer Jahrhunderte aufrecht erhalten, befestigt und gekräftigt worden sei — es sei ein herrliches Muster, wonach alles Eigentum im Staate sich richten und formen sollte 4 ). Die begeisterte Empfehlung der alten Stände und Zünfte erzeugt in Müller Haß und Mißtrauen gegen die Industrie, die dem Ackerbau gegenüber zurücktreten muß. Der Staatswirt muß dem Segen, den der Anteil am Welthandel mit sich bringt, „weise Schranken" errichten, indem er als Grundsatz festzuhalten hat, daß nur durch eine Gruppierung der Haushaltungen und durch ihren Zusammentritt in einen Nationalhaushalt ein ökonomisches Gedeihen möglich ist. Um sein Ziel zu erreichen, sei der Staatsmann allerdings gezwungen, Ein- und Ausfuhrverbote, Handelsbeschränkungen zu erlassen, bei alten, anscheinend unvollkommeneren Einrichtungen zu verharren. „Die Notwendigkeit, welche den Staatsmann von den vermeintlichen einfachen Prinzipien der Nationalökonomie abzieht und welche die deutschen Nachbeter AdamSmiths ') >) J ) «)

a. a. a. a.

a. a. a. a.

0. 0. 0. 0.

I. I. I. I.

S. S. S. S.

89. 90. 92. 228.

Theoretische Ström ongen.

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zu ohnmächtigen Widerbellern verdammt" 1 ), hält Müller für die Retterin des letzten Nationalreichtums, der uns noch verblieben sei. „Der Boden muß in seiner ganz eigentümlichen Natur, als bleibendes ewiges Erbstück der ganzen unsterblichen Staatsfamilie, bearbeitet und in allen ökonomischen und Rechtsverhältnissen auch so behandelt werden; er muß durch Familien und nicht durch einzelne repräsentiert werden." 2) Im Getreidehandel hält Müller 3 ) es für Aufgabe der Regierung, Bedürfnis und Vorrat im Gleichgewicht zu halten, wobei der Käufer als Repräsentant eines unendlich dringenden Bedürfnisses zu begünstigen sei. Letzteres hätte zu geschehen z. B. durch Erlaubnis der Einfuhr, gänzliche Sperrung des Getreidehandels, Verbot aller Fabrikation, deren Material Getreide ist, usw., also durch Beschränkung des Getreidemarktes und möglichste Verminderung der Nachfrage. Allerdings sei weder die unbedingte Freiheit noch die unbedingte Sperrung des Getreidehandels zweckmäßig, sondern ein jedes Mittel müsse nach Maßgabe der Umstände zu seiner Zeit eingreifen. Für eine der schrecklichsten Folgen von allzu großer Freiheit des Getreidehandels hält Müller die, „daß der Grundeigentümer zum Kaufmann wird und daß der Geist merkantilischer Spekulation das ganze ehrwürdige Geschäft des Ackerbaues verdirbt und demselben einen beweglichen, fabrikenartigen Charakter unterlegt"; das richtige sei eine mäßige und kluge Freiheit dieses Handels, „deshalb können unbedingte Sperren und besonders strenge Verbote der Aufkäuferei und des Monopolisierens, während sie dem Käufer des Getreides einen augenblicklichen Vorteil verschaffen, das Streben des produzierenden Verkäufers auf mehrere Jahre hemmen" 4). Der „alte, heilige, auf lange Zeiträume und auf die Gestirne gerichtete Charakter der Feldarbeiten" muß gegen die permanente und steigende Teuerung, die „aus Exzessen der städtischen Industrie herrühre", geschützt werden. „Der städtischen Industrie müssen Schranken angewiesen werden, sobald die •) a. a. 0 . ») a. a. 0 . >) a. a. 0 . a. a. 0 .

III. III. III. III.

S. 5. S. 36. S. 872. S. 112 ff.

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Kapitel I.

ländliche nicht mehr mit ihr Schritt halten kann, weil die letztere über kurz oder lang die erstere unter Schmerzen und Konvulsionen in solche Schranken zurückzwingt." *) Daher soll der Staatsmann die „allzu lebhafte städtische Industrie lieber beschränken, als das andere, schwächere Glied, die ländliche Ökonomie, zu einem Fluge, einem Progreß nötigen, der nicht in ihrer Natur liegt, oder als durch künstliche Mittel der städtischen Industrie einen Vorrat von Lebensmitteln aus dem Ausland verschaffen, der ausbleiben oder versagt werden kann" 2). Auch die Schlagworte der späteren Zeit tauchen schon bei Adam Müller auf. „Die Möglichkeit einer durch wahre Staatskunst zu erzeugenden Wechselwirkung der politischen Elemente muß da sein, wenn die Unabhängigkeit möglich sein soll, nicht bloß, damit der Staat n i c h t d e s A u s l a n d e s b e d ü r f e , nicht bloß, damit er die dringenden Lebensbedürfnisse selbst erzeuge, sondern damit überhaupt nur ein produktives Nationalleben erzeugt werden könne." 3 ) Es kommt nach Müller dabei auf die Schonung der U n a b h ä n g i g k e i t an, deren Bedingung das innere ökonomische Gleichgewicht ist. Kurz und klar wird die Forderung gestellt, daß der Staat im Notfall sogar die ländliche Industrie auf Kosten der städtischen heben muß, um in seiner Getreideproduktion unabhängig vom Auslande zu sein. War die beginnende agrarische Bewegung zunächst auf die Waffen beschränkt, die Haller und Müller der konservativen Weltanschauung lieferten, so suchte die folgende Generation im Zeitalter des Schutzzolles auch den Theoretiker auf ihre Seite zu ziehen, der den Getreidezoll mit ausdrücklichen Worten verwarf. Es erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, wenn man Fr. L i s t (1789—1846) unter die Theoretiker der agrarischen Bewegung rechnet. Die Vertreter der Schutzzollpolitik in den siebziger Jahren, voran der Zentralverband deutscher Industrieller, haben sich seiner als des besten Vorkämpfers ihrer Ideen bedient. Bei dem späteren Bündnis ») a. a. 0 . III. S. 115. ') a. a. 0 . III. S. 126/127. ' ) ibid.

Theoretische Strömungen.

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zwischen schwerer Industrie und Landwirtschaft war es naturgemäß, daß Listsche Ansichten über den Schutzzoll auch in die Meinungen der Agrarier eindrangen. Die ausdrückliche Ablehnung der Getreidezölle durch List störte die Agrarier nicht. Man meinte, wenn List die Not der Landwirtschaft erlebt hätte, würde er auch für sie Schutzzölle gefordert haben. Kurzerhand wird die Landwirtschaft in den Deduktionen der siebziger Jahre der Industrie gegenüber als ein „Gewerbe" hingestellt. Von diesem Gesichtspunkte aus konnte man dann die Listschen Beweise für die Notwendigkeit des Schutzzolles auch auf das „Gewerbe der Landwirtschaft" anführen. Während in Adam Müllers System der Schutz des Ackerbaues in die Mitte der Wirtschaftspolitik gestellt wird, sind für Fr. List die Interessen der Landwirtschaft und Industrie keineswegs einander entgegenstehend, sondern gehen Hand in Hand. Um den zurückgebliebenen Manufakturen zu helfen, empfiehlt sich für sie das Schutzzollsystem, in weiser Mäßigung angewendet und die richtige Mitte haltend zwischen den beiden gleich fehlerhaften Extremen, dem alten Prohibitivsystem und dem Freihandelsprinzipe. Das Inland soll mit dem Auslande nur al pari gestellt werden. Das System soll nichts sein als eine pädagogische Maßregel zur industriellen Erziehung der Nation. Es ist nur auf die Aneignungsperiode berechnet, will daher allmählich wieder abgetragen sein, um zu dem letzten Ziele, der Handelsfreiheit, zu gelangen. Lists Ziel war die Freiheit des Handels und des Verkehrs, allerdings beschränkt durch ein auf dem Grundsatz der „Retorsion" beruhendes Zollsystem 1 ). „Handel, Gewerbe und Ackerbau der Deutschen," sagt er 2 ), „die ganze Produktivkraft der Nation ist gefesselt und gelähmt durch die Zölle, welche die deutschen Staaten gegenseitig ansetzen und durch die Beschränkungen, welche die übrigen Nationen Europas ihrer Industrie in den Weg legen. Dem deutschen Nahrungszustande steht bei der Fortdauer dieser Verhältnisse ein totaler Umsturz seines ökonomischen Zustandes bevor. Wie müßte der Bergbau, der Ackerbau, die Viehzucht aufDenkschrift an den Deutschen Bundestag 20. April 1819. •) Eingabe an den Wiener Kongreß, zit. in Goldschmidt: Deutschlands großer Volkswirt. Berlin 1878.

Fr. List,

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Kapitel I.

blühen, dürfte jeder Zweig der Überproduktion seinen naturgemäßen Abfluß nehmen". Die Nationen müßten, schrieb List 1839, wie die Geschichte lehre, nach Maßgabe ihrer Fortschritte mit ihrem System wechseln, „indem sie durch freien Handel mit weiter vorgerückten Nationen sich aus der Barbarei erheben und ihren Ackerbau emporbringen, hierauf durch Beschränkungen das Aufkommen ihrer Manufakturen, ihrer Fischereien, ihrer Schiffahrt und ihres auswärtigen Handels befördern, und endlich auf der höchsten Stufe der Industrie und Macht angelangt, durch allmähliche Einführung des freien Handels und der freien Konkurrenz auf den eigenen wie auf den fremden Märkten ihre Landwirte, Manufakturisten und Kaufleutc gegen Indolenz bewahren und sie anspornen, das erlangte Ubergewicht zu behaupten". Gegen die in England begonnene Bewegung zur Abschaffung des Korneinfuhrverbots sagte List in der „Allgemeine Zeitung", die englischen Grundbesitzer „wollen beweisen, daß eine Nation, die Getreide importiere, von dem Auslande abhängig sei, während nichts so gewiß ist, als daß bloße Ackerbaustaatcn in jeder Beziehung von den mit ihnen in Verkehr stehenden Manufakturstaaten abhängig sind". Nichts hält List für die nationale Manufakturkraft eines Volkes für notwendiger, als f r e i e E i n f u h r d e r R o h p r o d u k t e , verbunden mit einem Zoll zum Schutze vor allzu großer Einfuhr fremder Waren, bis zur Erstarkung der nationalen Gewcrbstätigkeit. Denn eine vor Wechsclfällen geschützte Industrie nährt und belebt den Ackerbau. Es vermehrt sich die Nachfrage nach Getreide und Vieh. „Nur offenbare Sophisterei oder praktischer Unverstand kann unter solchen Umständen den Ackerbau treibenden Volksklassen ins Gesicht behaupten, die Schutzzölle seien lediglich zum Privatvorteil der Manufakturisten ersonnen." Der bloße Ackerbaustaat mit seinem obligaten Handwerk und Kramhandel vermag nach List nur den kleinsten Teil seiner natürlichen Ausstattung nutzbar zu machen. Erst mit Hilfe einer eigenen Industrie läßt sich die ganze Summe der in seinem Boden l ) Uber die Beziehungen der Landwirtschaft zur Industrie und zum Handel, Vortrag gehalten von List zu München 1844 o. c.

Theoretische Strömlingeil.

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schlummernden Naturschätze von einem Volke heben und in wirklichen Reichtum verwandeln. Vor allem aber haben die Ackerprodukte selbst im Ackerbaustaate nur einen geringen Wert bei dünner Bevölkerung und einer Exportfähigkeit, die sich beim Mangel eines entwickelten und wohlfeilen Transportwesens, das sich selbst erst im Gefolge der Industrie einzustellen pflegt, auf die Küstenstriche und Uferlandschaften der Flüsse beschränkt. Die landwirtschaftlichen Nebenprodukte bringen auch dem Landwirte nur bei dichter Bevölkerung höchsten Ertrag. Deshalb erhebt List zum Gesetz: Die Produktivität der Landwirtschaft wie sämtlicher Urgewerbe wächst mit der Nähe des Absatzmarktes für ihre Produkte, und ferner: um die Landwirtschaft, um sämtliche Zweige der Urproduktion in einem Lande zur Blüte zu bringen, muß man die natürlichen Verbraucher ihrer Produkte, die großen verarbeitenden Gewerbszweige, Fabriken und Manufakturen in ihrer Mitte haben, und wenn sich dieselben bisher im Auslande befanden, durch eine entsprechende Handelspolitik im Inlande selber hervorrufen. Seine Lehre gipfelt in dem Prinzipe: Das Ziel, das erreicht werden muß, ist der freie Handel aller Nationen miteinander. Das ist aber nur zu erreichen, indem man die Industrie zu einer Tätigkeit zu erziehen sucht, die nach bestimmter Zeit dem Auslande gleichwertige Produkte schafft. Ist dieses Ziel erreicht, dann hat der Schutzzoll seine erzieherische Wirksamkeit beendet. Das nun zum Manne erzogene Kind, die Industrie, hat dann das Recht und die Pflicht, sich in Freiheit von allen Schranken zu bewegen. Von Adam Müller und Fr. List ist die aktive agrarische Bewegung um ein halbes Jahrhundert getrennt. Zwischen dem Tode Lists (1846) und der Gründung des Bundes der Landwirte (1893) liegt die Zeit der Ausdehnung der Dampfbeförderung und des Eisenbahnnetzes. Erst nach dieser Zeit verdichten sich die Abstraktionen einzelner Denker und die vagen Gefühle der Massen zu einem neuen agrarischen Programme. Zunächst waren Adam Müller sowohl wie Fr. List noch Feldherren ohne Truppen; die großen Massen standen hinter keinem von beiden. Nur darin waren die Agrarier den Industriellen unterlegen, als bei den letzteren wenig-

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Kapitel I.

stens der Ansatz zu einem festen Zusammenschließen der Klasseninteressen zu einem starken Parteigefüge gegeben war. Bald folgte aber den Heerführern eine Anzahl Theoretiker, die das folgende halbe Jahrhundert mit ihren Klagen über „die Not der Landwirtschaft" erfüllten. Mit anerkennenswerter Objektivität prüften Bülow-Cummerow, Rodbertus, R. Meyer, allerdings in rein akademischen Abstraktionen und theoretischen Schulmeinungen, die Gründe zu diesen Klagen. Auf allen Programmen und Sitzungen landwirtschaftlicher Interessenvertretungen figurieren sie, und manchmal tönt schon leise der Ruf nach Staatshilfe heraus. Auch andere Schlagworte, die später eine große Rolle im wirtschaftlichen Kampfe spielen, werden schon gehört. Mit besonderer Vorliebe wählten aber die späteren Kämpfer für die Getreidezölle, Freunde wie Gegner, ihre S c h l a g w o r t e aus dem reichen Lager, das die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts in dem Reden- und Broschürenmaterial der Kornzollbewegung in England aufgespeichert hatten. Hier sind die meisten und beliebtesten Worte und Beweismittel entstanden, die dreißig Jahre später in Deutschland auftauchen und dann allmählich aus der wissenschaftlichen Literatur in die Tagespresse, in die Vereinsund Versammlungsreden übergehen. Schon bei der großen Agrarkrisis Ende der sechziger Jahre, bei der noch die rein akademischen Abstraktionen und theoretischen Schulmeinungen das Feld beherrschen, holen sich Rodbertus, Schäffle, R. Meyer ihre Gründe gern aus dem Lager der englischen Schutzzöllner. Bei der großen Umkehr der Wirtschaftspolitik im-Jahre 1879 dringen diese Argumente auch zu den Wortführern der Parlamente. Zwar bezieht man sich in der Begründung der Schutzzollpolitik meistens auf List und Carey, aber die Worte, die die Massen bestechen, nehmen die agrarischen Wortführer und mit ihnen Fürst Bismarck, schon gern aus der englischen Literatur der vierziger Jahre. Aber erst durch den dritten und stärksten agrarischen Vorstoß, die Begründung des Bundes der Landwirte, kamen die bisher nur von nationalökonomischen Theoretikern und Parlamentariern gebrauchten Stich- und Schlagworte in die breiten Massen des Volkes, ohne daß man sich ihrer Herkunft noch bewußt war. Kaum eine nennens-

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werte neue Begründung haben die Vertreter der landwirtschaftlichen Interessen hinzufügen können, die sich nicht schon in den englischen Kornzollkämpfen wiederfände, und es scheint sich fast das Wort Martineaus zu bestätigen: „Die Not der Landwirtschaft ist so alt wie die Landwirtschaft selbst." Es ist daher von historischem Interesse, an einigen dieser Schlagworte der Agrarier und ihrer Gegner das Ursprungsland und ihre Verwendung im Kampfe der deutschen Getreidezölle zu zeigen. Das älteste Schlagwort ist das Verlangen der „ U n a b h ä n g i g k e i t v o m A u s l a n d e " und damit verbunden des „ S c h u t z e s der n a t i o n a l e n A r b e i t " . Gerade diese beiden Schlagworte sind allerdings deutschen Ursprunges. Schon Adam Müller gebraucht sie in seinen Elementen der Staatskunst 1 ). Die Lehre von der wirtschaftlichen Unabhängigkeit haben aber erst die englischen Kornzöllner scharf ausgedrückt und für die deutschen Agrarier benutzbar gemacht. „Der Wahnsinn, von fremden Ländern in seinem Daseinsrecht abhängig zu sein, ist durchaus selbstmörderisch", sagte eine englische Zeitung im Jahre 1838 2 ). Auch die heute noch oft geäußerte Furcht, daß das Ausland durch Sperrung der Häfen eine Hungersnot hervorbringen könnte, ist zu erkennen in dem Satze einer englischen Zeitschrift: „Wenn wir von fremden Getreidezufuhren abhängig sind, können wir selbst den Schatten der Unabhängigkeit nicht aufrechterhalten, weil fremde Nationen in jedem Augenblick durch Schließung ihrer Häfen unser Volk zur Verzweiflung, unsere Regierung zur Unterwerfung bringen können" 3 ). „Überhaupt ist ein Land, das für die *) s. Elemente der Staatskunst III S. 126, 127 und in diesem Buche S. 10. 8 ) The madness of depending on foreing countries for the staff of life is absolutely suicidal. Hull Packet 14. Sept. 1838. 3 ) If we are dependent on foreign supplies for grain we cannot maintain even the shadow of independence because foreign nations can at any moment, by simple closing their harbours reduce our people to desperation and our Government to submission. Blackwoods Edinburgh Magazine for September 1838: The reciprocity and Colonial Systems.

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Ernährung seines Volkes von seinen Feinden oder Nebenbuhlern abhängt, niemals sicher." *) Im Anschluß an diese Unabhängigkeit vom Auslande wurde der Schutz der „nationalen Arbeit" in den Meetings für die Kornzölle proklamiert. Lord Wharncliffe, der Präsident des englischen Ministerrates, scheint dieses neue Schlagwort mit Vorliebe gebraucht zu haben, denn die Redner der Antikornzolliga wenden sich an ihn, wenn sie es widerlegen wollen *). Die Kornzölle wären nötig, behauptete Lord Wharncliffe, um die vaterländische Industrie zu schützen, um den Landarbeitern Beschäftigung zu sichern, um das Land in einen Zustand der Unabhängigkeit gegenüber dem Auslande zu versetzen 8 ). Naturgemäß muß auch nach dieser Annahme ein Aufgeben des Getreidezolles den Untergang aller Klassen zur Folge haben 4 ). Seit dieser Zeit begann das Operieren mit dem Schlagwort „national", durch das man den „internationalen Freihandel" der „nationalen Arbeit" entgegenstellte, ein Schlagwort, das seit 1879 rasch die großen Massen gewonnen hat. Ein anderes Stichwort lautet, daß die Landwirtschaft als solche gegenüber allen andern Ständen „ein Recht auf Schutz" ' ) For a country which depends upon its enemies or its rivals for the food oi its people is never safe. An Adress to the People of the United kingdom on the Corn Laws By I. D. C. London 1839. ' ) . . . elles (die Korngesetze) étaient nécessaires — pour protéger l'industrie nationale—pour assurer de l'emploi aux ouvriers des campagnes — pour placer le pays dans un état d'indépendance à l'égard de l'étranger. Rede von M. Gibson in dem Meeting vom 5. April 1843. M. Gibson fâhrt dann fort: D'abord en ce qui touche le t r a v a i l n a t i o n a l , l a protection n'est qu'un mot spécieux. II implique une faveur conférée par la législature aux personnes protégées. Quand on y regarde de prés, en effet, on s'aperçoit que tout se réduit à décourager quelques branches d'industrie pour en encourager d'autres, c'est à dire i gratifier de certaines faveurs des classes déterminées. Ich zitiere nach Bastiat, œuvres tom III Cobden et la ligue p. 134 u. ff. ' ) Ce lord (Wharncliffe) a conclu que la protection était nécessaire au perfectionnement de l'industrie nationale. L'argument fondé sur la nécessité de protéger l'industrie nationale me parait reposer sur une illusion. 1. c. p. 101. ' ) The ruin of all classes can only be accomplished by one measure, the withdrawal of protection to the British farmer. Hull Packet 7 Sept. 1838.

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habe, und daß ein Zoll auf landwirtschaftliche Produkte nur ein Akt der „Gerechtigkeit" sei. Auch dieses Argument wurde in den toryistischen Meetings der Verteidiger der Brotzölle bis zu den äußersten Konsequenzen verfochten. „Das augenblickliche System der Korngesetze", sagte der Marquis of Chandos, „ist dem gerechten Schutz des Landwirts bewunderungswürdig angepaßt." „Kornzölle sind die schöne und gerechte Begünstigung des Landwirts, auf die er einen gerechten Anspruch hat 2 ). Die konservative Presse gab denn auch den Landleuten den Katschlag, wenn die Bewegung gegen die Kornzölle nicht aufhöre, ihr überall mit dem Rufe „Gerechtigkeit für den Landmann" und „gleiche Rechte und gleiche Privilegien" mit den Stadtbewohnern zu begegnen3). Schon griff die damalige englische Schutzzollpartei in ihrer äußersten Not, wie die Agrarier unserer Tage, zu dem letzten Mittel, der Empfehlung des völligen Freihandels. Sie sagte: „Vielleicht wäre der wirkungsvollste Weg für das ländliche Interesse, das sinnlose Geschrei über diesen Gegenstand aufzuhalten, der, das Parlament mit Bittschriften zu bestürmen, daß, falls die Kornzölle aufgehoben würden, auch alle Zölle für ausländische Manufakturwaren zur selben Zeit fortgefegt würden" 4). Im allgemeinen gilt der Satz: „Landwirtschaft beschützen heißt das ganze ') The present system oi Cornlaws is admirably adapted to the just protection of the farmer. Speech ol the Marquis oi Chandos at the Aylesbury Market. Ordinary from the Bucks Herald of October 20, 1838. ') Cornlaws which are the fair and just protection to the farmer, to which he has a just right; ib. s ) If however the Whigs continue their agitation upon either the Cornlaws or the fifty pound clause we would seriously advise the agriculturists througout the country to meet them with the cry of „Justice to the farmers" and insist upon having „equal rights" and „equal privileges" with the inhabitants of the towns. Conservative Journal and Church of England Gazette 22 Sept. 1838. 4

) Perhaps the most effectual way to stop the senseless clamour on this subject would be for the agricultural interest to besiege Parliament with petitions that in the event of the Cornlaws being repealed all duties on foreign manufactures shoula at the same time be swept away. Blackwoods Edinburgh Magazine Nr. 27 for November 1838 Art. The Corn Laws. C r o a e r , Agrarische Bewegung.

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Volk beschützen. Der Ackerbau ist das große Gewerbe, das jede Regierung schützen sollte." *) Die Konsequenz dieser Bestrebungen zeigt dann noch zuletzt der Satz eines anonymen Gegners der Kornzölle: „Der Farmer sagt, es geschieht pro bono publico, er sollte mit mehr Aufrichtigkeit hinzufügen „et meo" und wenn man die Wahrheit sagen soll, so sollte er das Wort „publico" ausstreichen und dafür „meo" setzen." 2 ) In den vierziger Jahren bediente sich besonders Lord Wharncliffe in den Spalten der Morning Post gern des Schlagwortes „Überproduktion". Die Gegner der Getreidezölle wußten ihm zu antworten: „Unsere Gegner schreiben alle unsere Leiden der Überproduktion zu. . . . Wenn sie die wahre Quelle unserer Leiden wäre, würden sie bald zu verschwinden beginnen. Leider ist es so, daß im selben Maße, wie die Produktion abnimmt, Elend und Entkräftung sich im Lande verbreiten." 8 ) Daß die Getreidezölle bei Mißernten den Preis erhöhen, sonst aber keine Preisregulierung herbeiführen, wird als weiteres Argument angeführt: „So oft ein derartiger Mangel vorhanden war, haben die Kornzölle den Preis erhöht, aber sooft es Gott gefiel uns eine außergewöhnlich reiche Ernte zu bescheeren, haben sie sich als kraftlos erwiesen, die Preise zu erhöhen, wie sie zu allen Zeiten kraftlos sein werden, sie zu regulieren Unsere Preise

') Agriculture is the great art which every government ought to protect. Code of Agriculture by the Right Honourable Sir John Sinclair Bart. Ch. V. *) He (the farmer) says, it is „pro bono publico" he ought to add with much more sincerity ,,et meo" and if tho truth were told, he ought to erase the word „publico" and substitute „meo" in its place. An adress to the people etc. p. 21. ') Il est un autre argument dont s'est servi lord Wharncliffe et que je dois rale ver. C'est celui tiré de la surproduction. Nos adversaires attribuent toutes nos souffrances à la surproduction. Je pense que c'est là une maladie dont nous sommes en bon train de guérir radicalement. . . . C'est l i je pense une grave atteinte & cette surabondance de production qui est l'objet de tant de plaintes; et si elle était la vraie cause de nos maux, certes ils commenceraient à disparaître. Malheureusement il se trouve qu'à mesure que la production diminue la misère et l'inanition s'étendent sur le pays. Wilson in einem Meeting am 30. M&rz 1843. Bastiat o. c. III p. 101.

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iür alle Getreidearten sind hoch und werden wohl so bleiben, bis das Schicksal der nächsten Ernte sicher ist, obgleich wir Weizen und Mehlvorräte aus allen Gegenden zu den niedrigsten Zöllen empfangen. Sollte die nächste Ernte reich sein und eine ähnliche Ernte in den kornausführenden Ländern stattfinden, dann ist zu erwarten, daß deren ganzer Überschuß, falls unsere Kornzölle aufgehoben werden, seinen Weg hierher finden wird, da hier der einzige Markt ist, auf den sie rechnen können. Mögen diese Uberschüsse so groß sein, wie sie wollen, man braucht sie nicht mehr als Zuschuß zu unseren eigenen reichen Ernten, sie sind gezwungen, auf den Markt zu gehen; dann mögen fallende Preise zu erwarten sein und leicht immer weiter fallen, bis sie auf den niedrigen Stand sinken, den die Industrie für ihre Wohlfahrt für nötig erachtet. Daraus folgt, daß diese Preise niedriger sein werden als diejenigen, die wir als notwendige Entschädigung für den Landmann zu zahlen gewohnt sind" 1). In Deutschland zeigen sich zwei bekannte Stich- und Schlagworte bereits Ende der sechziger Jahre. Es sind dies: „Not der ') Whenever they have been aided by a scarcity oi this description, the Corn Laws have raised prices; but whenever it pleased God to bless us with more than ordinary abundance they have been as powerless to raise prices as they have been at all times powerless to regulate them Our prices for all kinds of grain are high, and may continue so until the fate oi the next harvest is ascertained, although we are open to receive supplies of wheat and flour from all quarters at the lowest rates of duty. Should the next harvest prove abundant the produce sufficient to meet the whole consumption and that a similar season and harvest should take place in those countries that raise corn for export (or whenever such events may take place), it is to be expected that the whole of their surpluses, in the event of the repeal of our Corn Laws, will find their way here, this being the only market they are likely to have open to receive them. These supplies, whatever may be their extent, not being then required in addition to our own abundant growths, would be forced upon the market, when falling prices may be expected to ensue, and likely to continue declining until they sunk to those low rates which the manufacturers consider necessary for their welfare. It follows that these prices will be under those we have been accustomed to pay, as necessary to remunerate our farmers. Third address to the Land owners of England on the Corn Laws by Earl Fitzwilliams London 1839 p. 12 u. 16. 2*

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Landwirtschaft" und die „Staatshilfe". Von beiden Schlagworten war in den Sitzungen der landwirtschaftlichen Kongresse allerdings noch nicht die Rede gewesen. Aber am 19. Februar 1869 schrieb die Berliner Revue: „daß dieser Stand nicht nur schwer zu leiden habe, sondern in seinen Grundvesten erschüttert sei, ja, daß auch die letzten Fundamente wanken". Man war sich ferner darüber klar, „daß man der H i l f e d e r R e g i e r u n g e n nicht wird entraten können, mindestens insoweit, daß dieselben bei der Gesetzgebung in ganz Norddeutschland nach gemeinsamen Prinzipien verfahren, welche man lediglich des Standesinteresses wegen adoptiert hat" 1). In der gleichen Zeit schrieb die Berliner Revue: „Zur Kreditnot und dem Aufheben der Wuchergesetze kommt, w i e d e s Gr u n d b e s i t z e r s t a n d e s wenn der R u i n beschlossen wäre, eine dritte Kalamität gegen die noch gar kein Mittel sichtbar ist, die Konkurrenz des jungfräulichen Bodens in den überseeischen Ländern 2 )." Auch in der Petition eines Kongresses norddeutscher Landwirte gegen die Erhöhung der Branntweinsteuer im März 1869 wird erklärt: „Wir glauben nicht zu viel zu behaupten, wenn wir das (landwirtschaftliche) Gewerbe als am Rand einer Krisis stehend bezeichnen." Wenige Jahre später akzeptiert Bismarck 3 ) ganz besonders diese Schlagworte, ohne sich allerdings ihres englischen Ursprungs bewußt zu sein. Auch das Schlagwort „Schutz der nationalen Arbeit" hat er sich ganz zu eigen gemacht. Er verlangt in seinen Reichstagsreden einen „mäßigen Schutz der einheimischen Arbeit, da die jetzige Veranlagung unserer indirekten Steuern der einheimischen vaterländischen Arbeit nicht das Maß von Schutz gewährt, welches ihr gewährt werden kann, ohne die allgemeinen Interessen zu gefährden. „Auch die „Überproduktion" zitiert er. „Wir sind bisher durch die weit geöffneten Tore unserer Einfuhr die Ablagerungs') Berliner Revue, 1869, S. 251. ») Berliner Revue, 1869, S. 146* ») Reichstagsrede vom 21. Mai 1879.

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stätte aller Überproduktion des Auslandes geworden Die Hasse der Überflutung Deutschlands mit der Überproduktion aller Länder ist es, was unsere Preise und den Entwicklungsgang unserer Industrie, die Belebung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse m. E. am allermeisten drückt." Der ausgesprochene Zweck der Zollgesetze ist: „Der einheimischen nationalen Arbeit und Produktion im Felde sowohl wie in der Stadt und in der Industrie als auch in der Landwirtschaft den Schutz zu gewähren, den wir leisten können, ohne unsere Gesamtheit in wichtigen Interessen zu schädigen." Das Stichwort „Gerechtigkeit und Recht auf Schutz" finden wir in den Reichstagsreden der Jahre 1879 und 1885 häufig. Ich zitiere: „Wir wollen alle mit gleichen Schultern tragen und die Gerechtigkeit in der Verteilung für Lasten soll für alle sein, auch für den geduldigen Landmann. Aber ich habe das Vertrauen, daß, wenn das Bewußtsein einmal durchgedrungen ist, die Vertreter der Landwirtschaft in ruhiger Festigkeit auch den Kampf nicht einstellen werden, bis sie Gerechtigkeit erlangt haben". In der bedeutungsvollen Rede über die Getreidezölle in der Reichstagssitzung vom 21. Mai 1879 sprach Bismarck seine Überzeugung dahin aus, daß niedrige Getreidepreise in wirtschaftlicher Beziehung als kein Glück anzusehen wären. Bei der 6 Jahre später erfolgten Erhöhung der Getreidezölle wiederholte Bismarck am 10. Februar 1885 diese Ä u ß e r u n g b e i d e m a l mit der Begründung, daß dann die „Ostländer mit ihren wohlfeilen Getreidepreisen die glücklichsten, wohlhabendsten, kräftigst entwickelten Länder in Europa" sein müßten 2 ). Dieselben Beweise gegen die Vorteile billigen Getreides hatte man bereits im Jahre 1838 in England. ') „Die Idee, daß niedrige Kornpreise überhaupt glücklich machen und zur Basis eines glücklichen Lebens überhaupt erforderlich sind, habe ich vor 6 oder 6 Jahren mit einer Breite hier bekämpft, die mich davon entbindet, das heute nochmals zu tun. Ich habe mich darauf berufen, daß in dem Falle der Litauer, der die wohlfeilsten Preise bei uns hat, sehr viel glücklicher sein müßte als der Rheinländer, daß der Südrusse und der Rumänier mehr prosperieren müßten in ihren ganzen wirtschaftlichen Verhältnissen als der Franzose und der Belgier." Poschinger, Fürst Bismarck als Volkswirt III, p. 34. ') Reichstagsrede vom 21. Mai 1879.

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„Getreide ist unvergleichlich billiger in Polen und Kußland als bei uns; aber werden die polnischen oder russischen Bauern halb so anständig ernährt, wohnen sie so bequem oder kleiden sie sich so gut wie die entsprechenden Klassen bei uns? . . . . Sie sind in Wahrheit die elendeste Arbeiterbevölkerung Europas und leben von schlechtem Roggenbrot inmitten glänzendster Weizenernten, die sie für die reicheren Konsumenten bei uns aufheben"1). Daß Bismarck sich auch das Schlagwort „Recht auf Schutz" angeeignet hat, erhellt aus einer Rede vom 10. Februar 1885: Wenn irgendein Gewerbe ein Recht auf Schutz hat, so ist es doch in unseren konstitutionellen Verhältnissen, wo die Majorität entscheidet, dasjenige, an dem die Majorität hängt, das der Landwirtschaft. Zum Schluß sei auch noch das populäre Schlagwort „ohne Manufakturwaren kann ein Volk bestehen, ohne Brot nicht" auf seinen englischen Ursprung zurückgeführt. Es heißt wörtlich: Ein Volk kann ohne Bodenprodukte nicht bestehen, aber es kann in reichlichem Maße glücklich sein ohne die Manufakturerzeugnisse, deren Existenz Theoretiker törichterweise so große Wichtigkeit beimessen *). Diese Beispiele mögen genügen, um zu beweisen, daß fast alle bedeutsamen Schlagworte der Agrarier und ihrer Gegner aus dem Lager der englischen Kornzollfreunde und Gegner geholt sind. >) Provisions are incomparably cheaper in Poland and in Russia than in this country; but are the Polish or Russian peasants half as comfortably feed, lodged or clothed, as the corresponding classes in this country? they are in truth the most miserable labourers in Europe and feed upon miserable rye bread in the midst of splendid wheat crops which they raise for the more opulent consumers in this country. Blackwoods Edinburgh Magazine No. 27 for November 1838 Art The Corn Laws. *) A nation cannot subsist without the productions of the soil but it can abundantly prosper without those manufactures, to the existence of which, theoretical writers absurdly attribute so much importance. On the corn laws by the R. H. Sir John Sinclair Bart Oct. 1, 1832. Addenda to the Code of Agriculture No. XV.

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Begründung landwirtschaftlicher Interessenvertretungen. Die Bauernbefreiung hatte zwar eine Geltendmachung selbständiger Interessen der landwirtschaftlichen Bevölkerung ermöglicht, doch gab erst die Umwälzung in der Betriebstechnik anfangs der vierziger Jahre durch Thünen, Thaer und Liebig die unmittelbare Veranlassung zum Zusammenschluß und zur Gründung von Interessenvertretungen, zunächst in der Form von Vereinen. Die Ziele aller dieser landwirtschaftlichen Vereine, Verbände usw. lagen jedoch ausschließlich in der Verbesserung der landwirtschaftlichen Technik. Auch die Zentralstelle für alle in Preußen bestehenden Vereine, das L a n d e s ö k o n o m i e k o l l e g i u m , wurde um die gleiche Zeit ins Leben gerufen wie die meisten der von ihm abhängigen Vereine. Der Plan, eine solche Behörde zu errichten, die eine Vermittlungsstelle zwischen der Regierung einerseits und den Landwirten und landwirtschaftlichen Vereinen andrerseits bilden sollte, rührte in seinen Anfängen aus der gleichen Zeit her, in der überhaupt der Versuch gemacht wurde, die agrarischen Verhältnisse des Landes durch neue Gesetze zu ordnen. Schon das Landeskulturedikt vom 14. September 1811 sprach in § 39 von der „Errichtung eines Zentralbureaus in Unserer Residenz, welches diese verschiedenen Assoziationen in Unseren sämtlichen Staaten in eine gewisse Verbindung setzt. . . . Auch wird dieses Zentralbureau gerechte und zweckmäßige Wünsche des ländlichen Publikums, die ihm durch die Assoziationen zukommen,

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den obersten Staatsbehörden vortragen und empfehlen." Es lag in den politischen Verhältnissen, daß die Gründung dieses Institutes, zu dessen Leitung Thaer ausersehen war, verschoben wurde. Erst 1838 nahm der Minister von Rochow diesen Plan wieder ernstlich auf, und am 16. Januar 1842 erfolgte die Gründung des Landesökonomie-Kollegiums, das zunächst dem Ministerium des Innern unterstellt wurde. Das Kollegium erhielt die später auch bei ähnlichen Instituten beliebte Doppelstellung. Es war bestimmt, die landwirtschaftlichen Vereine in den Provinzen in ihrer gemeinnützigen Tätigkeit zu unterstützen, ihre Wirksamkeit zu befördern und ihre Verbindung untereinander und mit den Staatsbehörden zu vermitteln. Andererseits aber sollte es auch dem Ministerium teils als technische Deputation, teils als Organ zur Ausführung der ihm zu erteilenden Aufträge dienen. Neben den Bestrebungen, in landwirtschaftlichen Kreis- und Provinzialvereinen die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung and praktischer Erfahrung einander zugängig zu machen, laufen seit den sechziger Jahren die Versuche, die Elite des ganzen Standes zu gemeinsamer nationaler Arbeit aufzufordern und in einer großen Gesellschaft zu vereinigen. Die Versammlungen deutscher Landwirte, die, später als Wanderversammlungen deutscher Land- und Forstwirte, von 1837 bis 1869 tagten, und die 1861 nach englischem Vorbilde gegründete Deutsche Ackerbau-Gesellschaft waren die ersten derartigen losen Organisationen. Aber diese großen Wanderversammlungen der deutschen — bis 1866 deutsch-österreichischen — Landund Forstwirte fristeten nach dem deutsch-österreichischen Kriege nur ein kümmerliches Dasein und gingen ebenso wie die Ackerbaugesellschaft noch vor dem deutsch-französischen Kriege zugrunde. Wirtschaftliche Probleme hatten ihnen stets ferngelegen, sie hatten nur die rein wirtschaftlichen und technischen Fragen der Landwirtschaft zu lösen versucht. Da gab der im Jahre 1866 gegründete Klub der Landwirte die Anregung zu einem geschlossenen Auftreten des ganzen Standes. Er bildete im Juli 1867 einen Ausschuß, der mit Hinzuziehung anderer Landwirte aus den verschiedenen Gegenden Deutschlands ein vorbereitendes Komitee ernannte. Sein Programm vom 21. Ok-

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tober 1867 forderte die Berufung eines Kongresses norddeutscher Landwirte, die keine Deputiertenversammlung landwirtschaftlicher Vereine sein sollte, obwohl die Regierung dringend Leute mit speziellen Mandaten wünschte, sondern ein freier Kongreß aller interessierten Landwirte Norddeutschlands. Dieser Standpunkt kam gleich in der konstituierenden Versammlung des ersten K o n g r e s s e s N o r d d e u t s c h e r L a n d w i r t e vom 17.—22. Febr. 1868 zum Ausdruck. „Wir sind nicht Vertreter der Norddeutschen Landwirte," sagte ein Redner, „sondern wir sind nur Landwirte . . . , die das erreichen wollen, was vor uns die Industrie und der Handel erreicht haben." Als Tendenz des Kongresses bezeichnete der erste Präsident v. Sänger: „Wir wollen uns den bestehenden Organisationen nicht entgegenstellen. Wir wollen sie nicht hindern und stören; wir wollen ihnen unterstützend zur Seite gehen." s ) Als Zweck und Wirkungskreis des Kongresses wurde in den Statuten bestimmt: „Durch die Gründung des Kongresses Norddeutscher Landwirte soll ein Organ zu gemeinsamem Zusammenwirken behufs Wahrnehmung der Interessen der Landwirtschaft im ganzen Umfange des norddeutschen Bundesgebietes geschaffen werden. Die Teilnahme der süddeutschen Landwirte ist willkommen". Uber den Wirkungskreis des Kongresses äußerten sich die Statuten dahin, daß der Kongreß es als eine seiner wesentlichen Aufgaben erachten werde, neben allgemein technischen solche wirtschaftspolitischen Fragen zu verhandeln, bei denen die deutsche Landwirtschaft besonders beteiligt ist, und die aus den Verhandlungen sich ergebenden Beschlüsse auf dem im einzelnen Falle sich empfehlenden Wege zur Geltung zu bringen, eventuell dieselben den gesetzlichen Organen des Norddeutschen Bundes zur Kenntnisnahme zu unterbreiten. In den Verhandlungen des dreihundert Mitglieder zählenden ersten Kongresses bildete die Unzulänglichkeit des bestehenden landwirtschaftlichen Vereinswesens, die unvollkommene Vertretung der landwirtschaftlichen Interessen durch das preußische Landes') Verhandlungen des ersten Kongresses norddeutscher Landwirte S. 6. ') a. a. 0. S. 28.

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Ökonomiekollegium einen großen Teil der Klagen. Zum ersten Male wurde das Stichwort „Vertretung landwirtschaftlicher Interessen" gehört. Ein Antrag (Rüder) wünschte bei den Wahlen zu den deutschen Abgeordnetenhäusern und dem norddeutschen Reichstage dahin zu wirken, „daß die wirtschaftlichen Interessen in den genannten Vertretungen durch für das parlamentarische Wirken befähigte Landwirte und dem Landwirtschaftsgewerbe nahestehende Männer stets geeignete kräftige Vorkämpfer finden". Heftiger Widerspruch erhob sich aus den Reihen der altpreußischen liberalen Grundbesitzer, die der Meinung waren, der Abgeordnete solle Vertreter des g a n z e n Volkes, nicht einer e i n z e l n e n E r w e r b s k l a s s e sein. Der Antrag fiel und konnte auch auf dem zweiten Kongresse norddeutscher Landwirte vom 18. bis 23. Februar 1869 nicht durchgebracht werden. In der Zwischenzeit arbeiteten die agrarischen Theoretiker, wie Rodbertus und Rudolf Meyer, an dem Plane der Umbildung des Kongresses oder an der Begründung einer eigentlichen Grundbesitzerpartei. Wie Lasalle fünf Jahre früher die Arbeiterkongresse als Helfer für die Not des Arbeiterstandes geschaffen hatte, so sollte der Kongreß norddeutscher Landwirte die Ursachen der sich verschlechternden Lebensverhältnisse in der Landwirtschaft zu erforschen und zu beseitigen versuchen. So entwickelten sich die beiden extremen Parteien des Deutschen Reiches, Agrarier und Sozialdemokraten, von der gleichen Grnndlage aus und fast zur gleichen Zeit. Beide betrachteten als gemeinsamen Gegner zunächst das mobile Kapital; beide Parteien konnten aber nur dann auf einen Erfolg ihrer Bestrebungen hoffen, wenn sie als feste, in sich geschlossene Interessengruppen auftraten. Dies Ziel suchten die agrarischen Theoretiker zunächst in der ihnen zu Gebote stehenden Presse zu erreichen. Ihr führendes Organ war die Weser-Zeitung *), und die Zeitschrift „die Berliner Revue"; die übrige Presse wandte sich, wie der Kongreß klagte, mit Geringschätzung von diesen Bestrebungen ab. ' ) a. a. 0 . S. 242. *) Jetzt ein ausgesprochen freisinniges Organ.

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Schon für den dritten Kongreß norddeutscher Landwirte, der vom 14. bis 19. Februar 1870 tagte, waren bessere Vorbereitungen getroffen. Die Agitation in der Presse, das Bündnis, das Rodbertus und Meyer mit praktischen Landwirten wie Anton Niendorf und Eisner v. Gronow geschlossen hatten, taten ihre Schuldigkeit. Man nahm den auf den ersten beiden Kongressen fehlgeschlagenen Antrag Rüder wieder auf und ersetzte ihn durch eine Resolution Wedemeyer. Mit großer Majorität wurde beschlossen, auf eine „stärkere Vertretung der landwirtschaftlichen Interessen in den gesetzgebenden Körpern mit größerer Energie hinzuwirken". Das Endergebnis war schließlich das Breslauer Programm einer sich nun wirklich bildenden Grundbesitzerpartei, das am 18. Februar 1870 von Wedemeyer, Niendorf, Eisner v. Gronow und v. DiestDaber veröffentlicht wurde. „Auf dem Boden des unbedingt anerkannten Freihandels stehend", verlangte die Landwirtschaft in diesem Programm keinen besonderen Schutz für ihre Produkte, dagegen auch freie Einfuhr der ihr nötigen Bedürfnisse, wie Eisen und Bekleidungsgegenstände. Auch die Forderung der Verminderung der indirekten Steuern sowie des Fallens aller Gewerbeschranken, auch der Schlacht- und Mahlsteuern, stimmte mit den liberalen Tendenzen vollkommen überein. Ganz freihändlerisch, aber doch schon von vielen bekämpft, war der letzte Punkt des Programms, der ein Aufhören der Bevormundung von Seiten des Staates, namentlich im Kredit- und Versicherungswesen der ländlichen Bevölkerung, verlangte 1 ). Ein weiteres Streben des neugegründeten Kongresses ging auf die Begründung einer wirksamen, staatlich anerkannten Interessenvertretung der ganzen deutschen Landwirtschaft, die einen Einfluß auf die wirtschaftliche Leitung Deutschlands — in ähnlicher Weise wie das Landesökonomie-Kollegium auf die preußischen Verhältnisse — ausüben sollte. Schon der zweite Kongreß norddeutscher Landwirte hatte 1869 die Angelegenheit in die Hand genommen und seinen Ausschuß beauftragt, „dem Kongreß einen Organisationsplan J

) Verhandlungen des III. Kongresses norddeutscher Landwirte passim.

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für eine aus Wahlen hervorgehende, gesetzlich begründete Vertretung der norddeutschen Landwirtschaft vorzulegen" 1 ). Diese Bewegung begegnete sich mit einer gleichen Richtung, welche vom Hauptdirektorium des landwirtschaftlichen Provinzialvereins für die Mark Brandenburg und die Niederlausitz ausging. Von dieser Stelle wurden 1869 sämtliche landwirtschaftlichen Zentralvereine des Norddeutschen Bundes zu einem Delegiertentage eingeladen, der die Angelegenheit gleichfalls einem Ausschuß überwies. Beide Ausschüsse faßten im wesentlichen gleiche Beschlüsse, insbesondere wurde der Eintritt der süddeutschen Staaten vorgesehen. Nach Vereinbarung beider wurde der Vorstand des landwirtschaftlichen Provinzialvereins für die Mark Brandenburg mit der Ausführung der Beschlüsse beauftragt. Das Produkt dieser Arbeit: der Deutsche Landwirtschaftsrat, trat des Krieges wegen aber erst im Jahre 1872 ins Leben, nun auch gleich das geeinte Deutschland, nicht mehr Norddeutschland allein umfassend. Der deutsche Landwirtschafterat hatte nach seinen Statuten den Zweck, die landwirtschaftlichen Interessen im Gesamtumfange des Deutschen Reiches wahrzunehmen und überall, wo dieselben durch die Reichsgesetzgebung oder durch Anordnungen und Maßregeln der Reichsverwaltung gefördert werden können oder geschädigt zu werden Gefahr laufen, nicht nur die etwa von ihm geforderten Gutachten abzugeben, sondern auch unaufgefordert und beizeiten an den Reichskanzler motivierte Vorstellungen zu richten oder sich mit Anträgen an den Reichstag zu wenden 2 ). E r setzte sich zusammen aus Delegierten der landwirtschaftlichen Zentralvertretungen der deutschen Einzelstaaten. In der Anzahl der Delegierten hatte man sich zuerst an die Zahlen der Stimmenverteilung im Bundesrat gehalten. Seit 1893 ist jedoch den größeren Bundesstaaten mit Rücksicht auf ihr politisches und wirtschaftliches Übergewicht eine größere Anzahl Delegierter eingeräumt worden, und die Gesamtziffer stieg so auf 74 Delegierte. Die Delegierten werden für eine >) Zur Feier des 26 j&hrigen Bestehens des Deutschen Landwirtschaftsrat« 1872—1897 S. 3. ») a. a. 0. S. 4.

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dreijährige Periode gewählt. Der Sitz ist Berlin, wo in der Regel die Plenarversammlung stattfindet. Als ausführende und verantwortliche Organe des deutschen Landwirtschaftsrates fungieren der Vorstand und der Ausschuß, welche zusammen den ständigen Ausschuß bilden. Seit 1895 ist dieser ständige Ausschuß befugt, in dringenden Fällen selbständig mit Vorstellungen und Anträgen an die Reichsregierung vorzugehen. Während aber der Kongreß deutscher Landwirte — auch bei der Begründung des Deutschen Landwirtschaftsrates — in der Hauptsache nur die rein technischen Interessen der Landwirtschaft im Auge hatte, ließen die folgenden Jahre eine Vereinigung entstehen, in der das wirtschaftspolitische Programm der Großgrundbesitzer für lange Zeit zum energischsten Ausdruck kam, die Vereinigung der S t e u e r - u n d W i r t s c h a f t s r e f o r m e r . „Mit der Zersetzung der alten Herrschaftsverhältnisse und genossenschaftlichen Organisationen, welche der konservativen Partei als Stützpunkt dienten, ist ihre Macht geschwunden. Nur wo der Einfluß des Königtums oder der Kirche ihr zustatten kommt, erzielt sie bei den Wahlen Erfolge. In den evangelischen Landesteilen ist für den konservativen Teil der Bevölkerung in der Regel die Stellung zur Regierung, in den katholischen Landesteilen die Stellung zur Kirche entscheidend." Mit diesen Worten hatte bereits Wilmans, der geistreiche Verfasser der Broschüre „Die goldenen Internationale", im Jahre 1876 den Verfall der konservativen Partei beklagt. „Wir leben in einer Zeit der materiellen Interessen", so lautete der Grundsatz, nach dem man der ersten Generalversammlung im Jahre 1876 die Statuten einer neugegründeten Interessenvertretung, der „Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer", vorlegte. Wenn man auch anfangs weniger den Wunsch hatte, einseitig landwirtschaftliche Interessen zu verfechten, sondern vielmehr, nach der Aussöhnung der Konservativen mit Bismarck, eine gemeinsame politisch-konservative Gesinnung vertreten wollte, so kamen die Gründer doch gleich im Anfang zu der Ansicht, daß eine konservative Partei, welche die kirchlichen und staatlichen Verfassungsfragen in den Vordergrund ihres Programms stellte, leicht der Gefahr ausgesetzt

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wäre, Formen ohne Inhalt zu schaffen. Wirtschaftliche Interessen wären jetzt das wesentliche, nicht allgemeine Prinzipien. Man dürfe zwar, nach der Ansicht der Begründer, von den Prinzipien nichts opfern, aber man müsse anknüpfen an das, was das Volk am meisten bewege. Von diesem Prinzip ausgehend, suchte der neue Verein die Unterlassungssünde, die die konservative Partei nach ihrer Ansicht begangen hatte und der sie größtenteils ihren Verfall zuschreiben mußte, wieder gut zu machen. Die Stichworte einer starken konservativen Partei müßten sein „monarchisch, national und sozial". Das letzte Stichwort hatte die konservative Partei nicht ausgegeben und bezüglich der Arbeiterfrage sich immer nur mit einigen allgemeinen Sätzen von der Wiederherstellung eines „patriarchalischen Verhältnisses, von christlichem Geist durchtränkt", durchgeholfen. Nur für den Handwerker, dessen Unglück die freiheitliche Gewerbeordnung sei, und für den industriellen Arbeiter waren sie bereit, die Hilfe des Staates anzurufen, für den ländlichen Arbeiter dagegen nicht. Während aber diese Gruppe in allen wirtschaftlichen und politischen Fragen den Grundsätzen des Liberalismus entgegengesetzt war, stand sie in der äußeren Handelspolitik zunächst noch auf dem Boden des Freihandels. Bei der Aufstellung der Statuten im Februar 1876 hatte man den § 2 Abs. 1 nach den wiederholten Beschlüssen des Kongresses deutscher Landwirte geformt: „Auf der Grundlage des Freihandels stehend, sind wir Gegner der Schutzzölle." Diese These wurde allerdings abgeschwächt durch denNachsatz: „Jedoch behandeln wir die Eingangszölle und Konsumtionssteuern als eine offene Frage." Die Entstehungsgeschichte dieses in sich so widerspruchsvollen Paragraphen ist interessant genug, um ihr einige Worte zu widmen. In der konstituierenden Versammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer vom 22., 23. und 24. Februar 1876 kam bei der Beratung des Statuts auch die Stellung der Vereinigung gegenüber der Handelspolitik zur Sprache. In dem von Anton Niendorf verfaßten 1 ) Entwurf des Statuts hieß es ursprüng*) Berichte über die Verhandlungen der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer zu Berlin am 22., 23., 24. Februar 1876, S. 4.

Begründung landwirtschaftlicher Interessenvertretungen.

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lieh: „Alle Schutzzölle sind zu beseitigen, die Zölle und indirekten Steuern auf Kaffee, Tee, Kolonialwaren, Branntwein, Bier, Wein, Zucker, Salz sind nach dem Gewicht zu erheben" 1 ). Diese Formulierung war, wie Niendorf mitteilte, auf Grund mehrfacher Beschlüsse des Kongresses deutscher Landwirte gewählt worden 2 ). In der Diskussion wurden gegen den Antrag Niendorf von Eisner v. Gronow Einwendungen erhoben, der die Erklärung zugunsten des Freihandels zwar abgeschwächt wissen wollte, dennoch aber zunächst riet, am Freihandel festzuhalten, damit die Landwirte eine Waffe den Großindustriellen gegenüber behielten 3 ). Er beantragte daher folgende Fassung: „Auf der Grundlage des Freihandels stehend, sind wir gegen die Schutzzölle, behandeln jedoch die Eingangszölle und Konsumtionssteuera als eine offene Frage." Auch Freiherr v. Roell bekämpfte den Antrag Niendorf im Interesse der Verständigung zwischen Landwirtschaft und Industrie 4 ) und schlug vor, zu sagen: „Die Frage, ob Schutzzoll oder Freihandel, ist keine prinzipielle, sondern eine reine Frage des praktischen Bedürfnisses." Desgleichen erklärte sich v. Kameke gegen den Antrag Niendorf: „Ich betrachte in den fünf Worten: alle Schutzzölle sind zu beseitigen, einfach das Grab für den Erfolg unserer ganzen Tendenz. Wir haben die süddeutsche und die ganze rheinische Industrie gegen uns" 5 ). Schließlich einigte man sich jedoch auf die oben genannte Kompromißfassung, die dann als § 2 der Satzungen bis 1879 bestand. Endlich ist noch ein dritter Versuch gemacht worden, die Elite der deutschen Landwirtschaft zu vereinen. Von den beiden Systemen, nach der technischen Seite, wie der Kongreß deutscher Landwirte, oder nach der wirtschaftspolitischen Seite, wie die Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, vorzugehen, griff man wieder auf das erste zurück. Opferwillige und für die deutsche Landwirt') *) ») 4 ) »)

a. a. 0 . a. a. 0 . a. a. 0. a. a. 0. a. a. 0.

S. 15. Unter „Zöllen" sind hier nur FinanzzöUe zu verstehen S. 16. S. 16. S. 17. S. 18.

Kapitel II.

32

schaft begeisterte Männer riefen 1886 nach dem Vorbilde der Royal agricultural society die D e u t s c h e gesellschaft

Landwirtschafts-

ins Leben.

Obwohl es ihre Aufgabe ist, die Interessen der Landwirtschaft nur auf technischem Gebiete zu fördern und die deutsche Landwirtschaft innerlich zu vervollkommnen, obwohl sie sich an diese Aufgabe strikt gehalten und niemals versucht hat, auf die Wirtschaftspolitik Einfluß zu gewinnen, hat doch der von ihr ausgehende Einfluß auch andere als technische Erfolge gezeitigt.

Insbesondere haben

die Ausstellungen der deutschen Landwirtschaftsgesellschaft außerordentlich viel dazu beigetragen, die landwirtschaftlichen

Kreise

aus den verschiedenen Himmelsgegenden Deutschlands einander zu nähern.

Dieses Resultat ist dann auch den politische Erfolge

erstrebenden anderen Interessenvertretungen zugute gekommen. Rein äußerlich wird ein Zusammenhang schon dokumentiert durch das zeitliche Zusammenfallen der Sitzungen

aller

land-

wirtschaftlichen Interessenvertretungen im Februar jeden

Jahres

in der großen

landwirtschaftlichen Woche, deren Führerin die

Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft ist. Der Gedanke,

der

zu ihrer Gründung führte,

knüpfte

an

das landwirtschaftliche Vereinswesen an, wie es sich in Deutschland am Anfange des 19. Jahrhunderts im engen Anschluß an die

politische

wickeln

Einteilung

begann.

Mehr

der noch

Staaten

und Provinzen zu ent-

aber waren

es die

Sonderver-

einigungen, die aus dem Bedürfnis hervorgegangen waren, die Kräfte

der Landwirtschaft

zu ganz bestimmten

Zwecken

zu-

sammenzufassen, wie die Gesellschaften für Moorkultur, Milchwirtschaft, Hopfenbau usw.,

und ihre Erfolge, welche den Ge-

danken wachriefen, eine allgemeine landwirtschaftliche

Vereini-

gung für ganz Deutschland zu schaffen, die für die gesamten Interessen der Landwirtschaft das fehlende Band des Zusammenfassens der besten Kräfte schaffen sollte. Das direkte Vorbild der Gesellschaft, die Royal Agricultural Society of England, gab einem württembergischen Ingenieur, Max Eyth, den Gedanken ein, die deutschen Landwirte zu einer Vereinigung zu organisieren, die bestrebt sein sollte, auf Wissenschaft-

Begründung landwirtschaftlicher Interessenvertretungen.

33

lichem und technischem Wege zur Kräftigung. Erhebung und Fortentwicklung der ganzen vaterländischen Landwirtschaft zu dienen. Man fand eine Zahl von Männern der Wissenschaft und der Praxis, die bereit waren, diesen Gedanken zur Ausführung zu bringen. Nach Überwindung mancher Schwierigkeiten konnte man endlich ein Provisorium ins Leben rufen, in dem die Zahl von 2500 Mitgliedern erreicht wurde, und am 11. Dezember 1885 wurde endgültig die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft konstituiert. Damit war die Ära der Begründungen von landwirtschaftlichen Interessenvertretungen vor der Hand beendigt. Ebenso wie die Begründung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft, als größten Vertretung technisch landwirtschaftlicher Interessen ein Jahrzehnt nach der Begründung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, der wichtigsten wirtschaftspolitischen Interessenvertretung der Landwirtschaft erfolgte, so kam es abermals nach einem Jahrzehnt zur Begründung derjenigen Interessenvertretung, welche — die Technik mit der Wirtschaftspolitik zusammenfassend — bald den größten Einfluß auf die Geschicke des landwirtschaftlichen Standes und auf die Gesamtentwicklung des deutschen Wirtschaftslebens gewinnen sollte, des B u n d e s d e r Landwirte.

Croner, Agrarische Bewegung.

3

Kapitel III.

Die Verschuldungsfrage. Wie seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Frage der Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft und das Problem der Kornzölle debattiert wurden, so war in der Mitte des Jahrhunderts die Frage der Überschuldung des Großgrundbesitzes das akute Diskussionsthema geworden. Von den verschiedenen Arten landwirtschaftlicher Krisen, die Deutschland im 19. Jahrhundert durchlief, der Absatzkrisis in den zwanziger Jahren, der Mißerntenkrisis in den fünfziger Jahren und der Kreditkrisis in den sechziger Jahren, hat allein die letztere einen Beitrag zur Geschichte der agrarischen Bewegung geliefert. Aber auch diejenigen, die in der Kreditnot den schlimmsten Feind der Landwirtschaft sahen, blieben zunächst auf dem Gebiete theoretischer Erörterungen stehen. Man versuchte zwar, wenn auch zuerst noch schüchtern, künstliche Preisgarantien zu schaffen, aber es blieb ein Streit der Führer auf dem Gebiete der Wissenschaft. In die Massen drang dieser Kampf ebensowenig, wie in früheren Jahren die Doktrinen Hallers und Müllers. Die Verfechter der Idee, daß man den Landwirt zuerst aus der Kreditkrisis befreien müßte, sahen in der Bindung der Freiheit des Grundbesitzes und in einer Festsetzung der Möglichkeitsgrenzen seiner Verschuldung das Allheilmittel der landwirtschaftlichen Not. In das 18. Jahrhundert gingen sie zurück, um sich zunächst gegen die unbeschränkte Freiheit des privaten Grundeigentums zu wenden und den von der Scholle nicht zu trennenden Bauernstand wieder als die eigentliche Grundlage des Staates zu proklamieren. Diese Gedanken waren in ihrer Ursprünglichkeit vertreten bei J u s t u s M o s e r (1720—1794).

Die Venchnldnngsfrage.

86

Justus Möser sah in den Bauern die wichtigsten Bestandteile der Nation, da sie die Hauptlast der Steuern trügen. Er bekämpfte zwar die in Osnabrück zu seinen Zeiten noch bestehende Leibeigenschaft; ihre Ersetzung durch freie bäuerliche Eigentümer jedoch hielt er für falsch, vielmehr forderte er die Verwandlung der Leibeigenen in abgabe- und dienstpflichtige Erbpächter. Als Ideal schwebte ihm der altsächsische Lite vor, ein Mann, der zu zwei Drittel leibeigen und zu einem Drittel frei gewesen sei Dieses Verhältnis tue sowohl den Absichten des Staates wie denen des Grundherrn Genüge. Es schütze den Liten vor Mißhandlungen und den Grundherrn davor, daß ihm der abhängige Mann entlaufe und ihm seine Kinder ohne Freibrief entziehe '). Die Verwandlung der Leibeigenen in abgabe- und dienstpflichtige Erbpächter sucht er den Gutsherren durch folgende Argumentation schmackhaft zu machen: Die Leibeigenen konnten zwar ihre Höfe nur mit Genehmigung ihrer Gutsherren mit Schulden belasten, trotzdem waren sie vielfach überschuldet. Die Gläubiger durften jedoch, um zu ihrem Gelde zu kommen, die Höfe ihrer Schuldner nicht in der Zwangsversteigerung verkaufen lassen, da das Eigentum daran den Gutsherren zustand. Die verschuldeten Höfe wurden vielmehr dann zugunsten der Gläubiger verpachtet. Der Grundherr erhielt seine Dienste und Abgaben, der Regt der Pacht floß dem Gläubiger zu. Möser versuchte nun, den Grundherren klar zu machen, daß es viel vorteilhafter für Bie sei, wenn dem Gläubiger gestattet würde, die Höfe ihrer Schuldner mit Vorbehalt des Rechtes des Grundherrn zu veräußern. Bei einem von seinen Gläubigern ausgezogenen Leibeigenen finde der Grundherr nichts zu erben und könne auch nichts für seinen Freibrief fordern. Bei der Verpachtung zugunsten der Gläubiger litten ferner Land und Gebäude. Der Grundherr erhalte ferner von dem neuen Käufer noch 10% als Laudemium, d. i. eine Besitzwechselabgabe, welche der Bauer an den Grundherrn zu zahlen hat. Außerdem v«rtausche er seinen schlechten Wirtschafter mit einem freudigen Pächter, und für den Leibeigenen bilde die Furcht, daß er bei schlechter >) Justus Möser, Sämtl. Werke ed. Abeken, 2. Ausg.

Berlin 1868. 3*

36

Kapitel III.

Wirtschaft unter Umständen ebenso wie ein freier Mann seine Stelle verlieren könne, einen heilsamen Ansporn zu guter Wirtschaft. Moser versucht in Anlehnung an die herrschenden Naturrechtsideen, insbesondere die Vertragsstaatstheorie nachzuweisen, daß die Gebundenheit des Grundeigentums in dem Augenblick mit Notwendigkeit entstand, als die ursprünglichen Landeigentümer den Originalkontrakt zu gemeinsamer Verteidigung schlössen und damit den Staat errichteten. Er bemüht sich, zu zeigen, daß es sich bei den Beschränkungen in der Verfügung über das Grundeigentum nicht um historische, sondern um absolute Kategorien handele. Es sei Irrtum, sie auf die Unfreiheit zurückzuführen, vielmehr wurzelten sie in der Pflicht der Landbewohner gegenüber dem Staate. Als ideale Agrarverfassung erscheint ihm damit folgender Zustand: Der Bauer ist nicht freier Eigentümer seines Hofes, sondern über ihm stehen der Staat und ein Gutsherr, denen er Abgaben, Renten und Dienste schuldet. Auch hat er nicht die freie Verfügung über seinen Hof, er darf ohne Genehmigung des Gutsherrn kein Holz schlagen, seinen Hof nicht zerteilen und ihn nicht mit Schulden beschweren. Jeder steuerpflichtige Hof ist ein öffentliches Fideikommiß, an welchem zwar der Staat und der Gutsherr ihre Rechte behalten, auf den aber kein Gläubiger jemals einen Anspruch erheben kann. Eine Überschuldung des Hofes soll durch dreierlei Vorschriften verhindert werden: 1. Der Grund und Boden darf niemals mit einer kündbaren verzinslichen Kapitalschuld belastet werden. Die Kündbarkeit der Schuld widerspricht der Natur des Grundeigentums, da der Besitzer eines Gutes nicht zu der Erde sagen könne: Gib mir nach einem halben Jahre so viel wieder, als ich in mein Gut gesteckt habe. Statt des kündbaren Darlehns sei der Rentenkauf oder das Darlehen gegen Annuitäten, d. h. zur Abtragung einer Schuld dienende jährliche Zahlungen, wieder einzuführen. 2. Aus den Gebäuden auf dem Hofe und der Hofwehr ist unter gutsherrlicher Garantie ein F r e i s t a m m , d. h. ein Kapital, das vor allem richterlichen Angriff sicher ist, zu bilden und gerichtlich einzutragen. Für alle Schulden des Hofbesitzers sowie für all seine Verpflichtungen gegenüber dem Staate soll in erster Linie sein

Die Verschnldnngsirage.

37

übriges Vermögen haften, die Hofwehr erst dann, wenn dieses zur Deckung nicht ausreicht. In diesem Falle sollen die Schulden gerichtlich als Belastung des Freistammes eingetragen werden. Erst wenn die Summe der Schulden die Höhe des Freistammes erreicht, darf und soll zur Vertreibung des Bauern geschritten werden, und der Hof dem Grundherrn übergeben werden, damit er ihn weiter besetze. Der Grundherr hat die eingetragenen Schulden zu tilgen; die von ihm gezahlten Beträge werden an die Gläubiger nach ihrer Rangordnung verteilt. Der Grundherr hat den Hof binnen bestimmter Frist wieder zu besetzen, widrigenfalls die Besetzung durch den Landesherrn als obersten Kriegsherrn geschieht. Er kann von dem neuen Besitzer das für die Schuldentilgung ausgelegte Geld sowie ein billiges Laudemium fordern. 3. Ein drittes Mittel, das Moser zur Verhütung der Verschuldung empfiehlt, ist das A n e r b e n r e c h t. Das jüngste Kind des Bauern soll den Hof erhalten, seine Geschwister sollen abgefunden werden. Die abgehenden Söhne sollen Kost und Kleidung im elterlichen Hause bis ins 21. Jahr erhalten, dann haben sie das Recht, zur Aussteuer sechs Hemden, ein vollständiges Kleid und einen Malter Korn zu fordern. Die Töchter werden bis zum 18. Jahr frei im elterlichen Hause unterhalten; sie bekommen bei ihrer Verheiratung einen Brautwagen, so wie ihn die drei ältesten Bauern bestimmen. All diese Abfindungen und Ausstattungen dürfen nicht nach dem Werte des Hofes, sondern lediglich nach dem des Freistammes bemessen werden. Je höher dieser verschuldet ist, desto geringer sollen jene sein. Aus dem Vermögen, welches die Eltern über den Freistamm hinaus haben, dürfen sie den abgehenden Kindern nach freiem Ermessen Abfindungen gewähren. Moser ist, wie man daraus sieht, ein entschiedener Gegner des römischen Erbrechts. Kein freier Hof könne auf die Dauer bestehen, wenn jedes abgehende Kind einen Pflichtteil davon erhalten solle, und dem Staate sei doch daran gelegen, daß der steuerbare Hof erhalten werde. „Der Edelmann selbst würde nicht bestehen, wenn er mit seinen Geschwistern gleich teilen müßte, und noch weniger ein geringer Landsasse, der die öffentlichen Lasten tragen muß; daher auch die mehrsten, welche sich freikaufen, sich die

38

Kapitel III.

wohlangenommenen Rechte der Leibeigenen in jenen Fällen vorbehalten, oder ein Minoratfideikommiß stiften, nachdem man vergessen hat, daß die Höfe von Natur Staatsfideikommisse sind." Die Aufsicht darüber, daß die Vorschriften Ober die Verschuldung des bäuerlichen Gutes beobachtet werden, führt der Grundherr. Die gerichtlich auf den Freistamm eingetragenen Schulden eines jeden Bauern müssen in seinem Pachtbuche verzeichnet werden. Damit die gerichtliche Eintragung nicht unterlassen wird, wird bestimmt, daß ohne sie die Gläubiger keinerlei Sicherheit für ihr Darlehen haben. So ist Möser der Begründer derjenigen volkswirtschaftlichen Ideenrichtung geworden, die in dem Bauernstande das ewigbleibende Fundament des gesamten Staatslebens sieht. Viele Gedanken Mösers sind heute antiquiert, was er aber z. B. über das Anerbenrecht sagt, wird mit einigen Modifikationen noch heute vielfach für annehmbar gehalten. Seine Nachfolger im 19. Jahrhundert haben seine Sätze dahin erweitert, daß ohne Landwirtschaft überhaupt ein Staat gar nicht zu existieren vermöge. Daß sich Möser auch für völlige Freiheit des Getreidehandels ausgesprochen hat, wurde jedoch von diesen Nachfolgern übersehen1). Der erste, der dann in dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Möserschen Ideen über die Verschuldung des Grundbesitzes wieder aufgriff und weiterführte, war B ü l o w - C u m m e r o w . 2 ) Nach seiner Theorie kann der Grundbesitz seinen Zweck nur erfüllen, wenn er nicht zu hoch verschuldet ist. Die Ursachen der Verschuldung erblickt er in der gleichen Erbteilung und den Meliorationen; beim Großgrundbesitz ferner noch im „Absentismus" des Grundherrn, in den vor allem ihm noch (aus früherer Zeit) auferlegten Kriegslasten und in dem durch die neuere Gesetzgebung bedingten hohen Aufwände für die Bewirtschaftung. Die Folgen der hohen Verschuldung seien beim bäuerlichen Besitze häufiger Wechsel der Eigentümer, schäd') o. c. II, 3. ' ) s. Levy: Zur Genesis der heutigen agrarischen Ideen in Preußen, Stattgart 1898. S. 92 fi.

Die Verschaldoogafrage.

39

liehe Zerstückelungen, Schädigung des Wirtschaftsbetriebes und der Moralität infolge Entstehung von Unordnung, Liederlichkeit und Prozeßsucht. Die ritterschaftlichen Kreditvereine beförderten durch Aufstellung glaubwürdiger Taxen die Verschuldung und bedürften der Ergänzung durch eine Schuldentilgungsanstalt. Die Hypothekenbücher untergrüben durch offene Darlegung der Schulden den Kredit der Grundbesitzer. Als Mittel zur Abhilfe empfiehlt Bülow-Cummerow: 1. die Einführung einer Verschuldungsgrenze beim Realkredit, die nur ganz ausnahmsweise bei Erbteilung, Abverkäufen und anderen dringenden Anlässen überschritten werden dürfe; 2. das gänzliche Verbot der Aufnahme einer Kapitalschuld; beim Realkredit dürfe lediglich eine Verpflichtung zur Rentenzahlung zugelassen werden; 3. Amortisationszwang bei jeder Aufnahme einer Realschuld; 4. Ausschluß von Realhaftung für Personalschulden und umgekehrt. Nur der Teil der Revenuen solle für Personalschulden haften, der nach Leistung aller Realverpflichtungen und Abzug des mäßigen Unterhaltes für den Besitzer verbleibt. Um die Durchführung dieser Vorschläge zu ermöglichen, sollen sich alle ländlichen wie städtischen Grundbesitzer jeder Provinz zu einem Kreditverbande zusammentun, der nicht einzelne Bauern, sondern nur ganze Gemeinden aufnehmen dürfe. In dieser Organisation solle das Prinzip der Solidarhaftung durchgeführt, die Pfandbriefe möglichst bald in Rentenbriefe umgewandelt werden und Amortisationszwang herrschen. Die notwendige Reform der Agrargesetzgebung, besonders des ländlichen Kreditwesens betonte endlich, teils im Einverständnis, teils im Gegensatz zu Bülow-Cummerow ein Schriftsteller, der sich theoretisch wie praktisch mit der Agrarpolitik beschäftigte und den man den Klassiker der Verschuldungsfrage nennen kann, Rodbertus-Jagetzow. „Seit länger als einem Jahrzehnt, wie allgemein anerkannt ist," schreibt Rodbertus im Jahre 1868, „befindet sich in ganz Deutschland der ländliche wie der städtische Grundbesitz in einer sehr gedrückten Lage. Dieser Druck tritt als Kreditnot auf, die auB einem Kapitalmangel zu entspringen scheint, und zwar sowohl beim Immobiliarkredit (Hypothekenkapital), als beim Personal-

40

Kapitel III.

kredit (Betriebskapital, Wechselkapital)." x ) Die Ursachen dieser Kreditnot zu erforschen und Vorschläge zur Abhilfe zu machen hat sich Rodbertus zur Aufgabe gemacht. Ländlicher, d. h. solcher Grundbesitz, mit dem eine landwirtschaftliche Produktion untrennbar verbunden gedacht wird, ist, nach Rodbertus, nicht willkürlich vermehrbar, an sich selbst kein Produkt und erhält seinen Wert erst mittelbar aus der auf ihm betriebenen Produktion; städtischer Grundbesitz ist selbst schon Produkt, willkürlich vermehrbar und erhält seinen Wert nicht vermittelst einer darauf betriebenen Produktion, sondern unmittelbar aus der bezeichneten Nutzung. Immobiliarkredit, d. h. diejenigen Obligationen, die der Grundbesitz als solcher auf sich nimmt, repräsentiert im wesentlichen nur einen ideellen Anteil am nationalen Grundbesitz; Personalkredit, d. h. diejenigen Obligationen, die auf einem Produktionsbetrieb selbst basiert sind, repräsentiert einen Anteil am wirklichen Nationalkapital. Beim ländlichen Grundbesitz kommen beide Arten des Kredits in Betracht, beim städtischen Grundbesitz nur der Immobiliarkredit. „Landwirtschaftlicher Grundbesitz ist, volkswirtschaftlich, kein Kapital. Kapital ist selbst schon Produkt, hat daher auch schon an sich, ohne Rücksicht auf seinen Ertrag, einen Wert, setzt sich auch, wo es nicht als fixes Kapital zu sehr die Natur eines Immobils angenommen, unter der Produktion diesem ganzen Werte nach um und wirft nach diesem seinem eigenen WTertbetrage unter seinem produktiven Betriebe, in Gewinn und Zins, seinen Ertrag ab. Landwirtschaftlicher Grundbesitz hingegen ist selbst noch kein Produkt, hat daher auch an sich, ohne Rücksicht auf seinen Ertrag, noch keinen Wert, setzt sich auch unter der Produktion gar nicht nach einem solchen Werte um, erhält vielmehr erst einen Wert aus seinen Produkten, und sein Ertrag kann sich daher auch gar nicht nach seinem Wertbetrage, sondern umgekehrt sein Wertbetrag muß sich nach seinem Ertrage richten. Der Reinertrag ist daher nicht sowohl die einzige natürliche B a s i s des Wertes des ' ) Carl Rodbertus-Jagetzow, Zur Erklärung Und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grundbesitzes. 2. Auflage, herausgeg. von Rud. Meyer, Berlin 1893, S. 3.

Die Verschuldungsfrage.

41

Grundbesitzes, als daß er diesen Wert repräsentiert, der Grundbesitz hat an sich nur Ertragswert, aber keinen Kapitalwert." 1 ) Die Hauptsache der Kreditnot des Grundbesitzes liegt nun für Rodbertus in dem Zusammenwirken dreier Umstände: 1. des Verschuldungszwanges, den die Freiheit des Grundeigentums auf den Grundbesitz ausübt, 2. der Verschuldungsform des Grundbesitzes nach Kapitalwert, einer Form, die seinem natürlichen Wert vollkommen widerspricht, 3. einer Fluktuation des Zinsfußes, die nach einer Periode des Fallens wieder in eine Periode des Steigens übergeht und dadurch den ohnehin schon in jenem Verschuldungszwange und jener Verschuldungsform liegenden Druck bis zur Unerträglichkeit steigert a ). „Ein Gut, dessen Reinertrag von 4000 auf 8000 gestiegen, oder von 8000 auf 4000 gefallen wäre, sollte in seinem Werte auch stets und allein nach diesem Verhältnis höher oder niedriger geschätzt werden." 3 ) Die tatsächlichen Verhältnisse jedoch sind andere. „Es hat sich das Verfahren eingebürgert, den Reinertrag nach dem laufenden Zinsfuß zu kapitalisieren und die so gefundene Summe als den Kapitalwert des Grundstückes anzusehen."*) Nun könnte ja, argumentiert Rodbertus weiter, diese falsche Behandlung des Grundbesitzes nach Kapitalwert niemals praktische Nachteile nach sich führen, wenn der Grundbesitz gar keines Immobilienkredits bedürfte. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr ist der Grundbesitz bei uns durch die in dem Prinzip der Freiheit des Grundeigentums liegenden Rechtskonsequenzen zu hoher und, unter Voraussetzung immer blühenderer Kultur, sogar zu immer höherer Immobiliarverschuldung gezwungen. Von den vier Verschuldungsgründen: Unwirtschaftlichkeit, Unglücksfälle, Meliorationen und Besitzveränderungen ist der letzte der wichtigste. Der bei weitem größte Teil der Immobiliarverschuldung ist aus Erbgeldern und rückständigen Kaufgeldern aufgelaufen. Die Behandlung des Bodens

') a. a. 0. •) a.a.O. ') a. a. 0. «) a. a. 0.

S. 6/7. S. 76. S. 7/8. S. 8.

Kapitel DI.

42

nach Kapitalwert wäre ferner viel weniger bedenklich, als sie tatsächlich ist, wenn der Zinsfuß immer gleich hoch bliebe. Dann würde der Kapitalswert immer in demselben Verhältnisse steigen und fallen. „Der natürliche Wert des Grundstücks wäre also zwar auf einen fremden Ausdruck gebracht; allein weil dieses Medium vorausgesetztermaßen ein unwandelbares, in sich konstantes Maß wäre, so würden auch alle Veränderungen jenes natürlichen Wertes sich genau in dem fremden Ausdruck abspiegeln. Dieses könnte wenigstens niemals zu einem falschen Ausdruck werden. Es bliebe jedenfalls immer ein genauer Wertzeiger des Grundbesitzes, wie das Thermometer ein genauer Wärmezeiger ist." *) Keinesfalls könnte bei sich gleichbleibendem Zinsfuß führt Rodbertus weiter aus, der nominelle Kapitalwertbetrag zu einem fiktiven Wertbetrag werden, einem Wert, der absolut in der Luft schwebt, weil er kein reales Substrat an einem adäquaten Ertragswert mehr unter den Füßen hat. Der Grundbesitzer könnte nicht gezwungen werden, fiktiven Wert als wirklichen Wert für seine Rechnung mit Erb- und Kaufgeldern zu belasten und schließlich auch noch solchen fiktiven Wert, der gar keinen Ertragswert mehr zur Unterlage hat, als wirkliches Kapital auszahlen. Nun fluktuiert aber der Zinsfuß. Infolgedessen ist der Kapitalwert kein richtiger Wertzeiger des natürlichen Wertes des Grundbesitzes mehr. Der Kapitalwert steigt nicht nur, wenn der Ertragswert steigt, sondern auch schon, wenn der Zinsfuß fällt, der Kapitalwert fällt nicht nur, wenn der Ertragswert fällt, sondern auch schon, wenn der Zinsfuß steigt. Der Wertzusatz aber, den ein Grundstück durch das Sinken des Zinsfußes erhält und der durch sein Steigen wiederum vernichtet wird, ist rein fiktiv. Diese fiktive Wertsteigerung verstärkt noch den Verschuldungszwang, dem der Grundbesitz unterliegt „Das schuldenfreie Gut von 4000 Mark Rente, das, einen Zinsfuß von 5% als Ausgangspunkt angenommen, unter vier Erben mit 60 000 Mark Erbgeldern belastet werden mußte, muß, nachdem der Zinsfuß auf 4% gefallen, mit 75 000 belastet werden, ohne daß sein Ertragswert sich im geringsten verändert ') A.a.O. S. 14.

Die Verschnldnngsfrage.

43

hätte." 1 ) Steigt später der Zinsfuß wiederum auf 5%, so vermindert sich der Kapitalwert des Gutes von 100 000 auf 80000. Da aber die Schuld von 75 000 in voller Höhe bestehen bleibt, so beträgt der Anteil des Übernehmers des Gutes statt 20 000 nur noch 5000, d. h. er ist von einem Viertel auf ein Sechzehntel zurückgegangen. Aber der Übernehmer verliert nicht nur vier Fünftel seines Kapitalvermögens, er wird sogar des wieder gestiegenen Zinsfußes wegen durch die Kündbarkeit gezwungen, noch nachträglich 8000 von seinem Rentenerbteil abzutreten. Er verliert jetzt auch vier Fünftel seines Einkommens. Die Kreditnot des Grundbesitzes zur Zeit von Rodbertus ist, nach seiner Meinung, darauf zurückzuführen, daß der Zinsfuß von Mitte der dreißiger Jahre bis Mitte der fünfziger Jahre andauernd gefallen ist, aber seitdem unausgesetzt im Steigen begriffen ist. Der Ertragswert des norddeutschen Grundbesitzes dagegen ist seit den dreißiger Jahren entschieden gestiegen, steigt noch heute und hat begründete Aussicht, auch noch weiter zu steigen, und zwar deshalb, weil dessen beide Faktoren, Produktmasse und Produktwert, gestiegen sind, und noch höher steigen können und werden. In der Periode 1835—1864 hat nach den Angaben von Rodbertus in den Provinzen Preußen, Pommern (mit Ausnahme von Neu-Vorpommern), Posen, Schlesien, Brandenburg, Sachsen und Westfalen jedes Rittergut durchschnittlich zweimal den Besitzer gewechselt. Diese ungeheure Anzahl von Besitzveränderungen hat außerordentlich viel zur Verschuldung des Grundbesitzes beigetragen. Nachdem Rodbertus so die wahre Ursache der I m m o b i l i a r k r e d i t n o t des Grundbesitzes nach seiner Auffassung aufgefunden hat, widerlegt er einige falsche Ansichten. Er behauptet, daß alle sonstigen Entstehungsgründe, die man für diese Not angeführt hat, falsch sind. Die Not ist weder entstanden durch den Übergang der Naturalwirtschaft in die Geldwirtschaft, noch durch die Konkurrenz des Staatsschulden- und Aktienwesens mit dem Hypothekenkapital, noch durch die Unfähigkeit des Grundbesitzes, mit dem mobilen Kapital im Gewinn konkurrieren zu können, noch durch Güter') a.a.O. S. 17.

44

Kapitel III.

Schwindel und Güterschacher oder durch die größere Steigerung des landwirtschaftlichen Betriebskapitals infolge intensiverer Bewirtschaftung, noch durch bloße Qualitäten des heutigen Hypothekenkapitals oder die schwerfälligen und kostspieligen gerichtlichen Prozeduren der Ein- und Übertragung der Schulddokumente, die Garantielosigkeit der Einzelhypothek, den Mangel richtiger und beglaubigter Taxen und allgemeiner fester Kapital- und Zinstermine-Qualitäten, die nur den Markt der vollwertigen Hypotheken verengern, ja nicht einmal durch die bloße Kündbarkeit des Hypothekenkapitals, obwohl diese ein großer Ubelstand ist. Im Gegensatz zur Immobiliarkreditnot rührt nach Rodbertus die P e r s o n a l k r e d i t n o t des ländlichen Grundbesitzes daher, „daß sich auch in der Landwirtschaft das Bedürfnis nach produktivem Kapital gesteigert hat, daß der Grundbesitzer, der bei uns selbst der landwirtschaftliche Unternehmer ist, wegen der gleichzeitigen Hypothekennot gegenwärtig nicht aus eigenen Mitteln dies gestiegene Bedürfnis zu befriedigen vermag; daß die bestehenden öffentlichen und privaten Anstalten, die den übrigen produktiven Betrieben der Nation einen Kredit dieser Art gewähren, den landwirtschaftlichen Betrieben nicht zugänglich sind, daß also der Grundbesitz allein es ist, der sich ohne solche Unterstützungsanstalten heute befindet." Der städtische Grundbesitz kann nach dieser Auffassung im Gegensatz zum ländlichen Grundbesitz nur unter einer Immobiliarkreditnot leiden. Die Hauptursache der Not liegt bei ihm aber nicht „in der Steigerung des Zinsfußes, die, auch bei gleichgebüebener Rente, nur den Kapitalwert des Grundstücks verringerte, sie liegt in einer lokalen überproduktiou solcher Grundstücke selbst, in der Übertreibung einer partikularen Kapitalisation, einer Übertreibung, die selbst sogar aus übertriebenem Kredit entsprang und die nun zeitweilig den Kapitalwert dieser Grundstücke auch noch deshalb herabdrückt, weil sie auch noch deren Rente herabdrückt." 2 ) Hier ist also die Immobiliarkreditnot aus einem ursprünglichen Personalkreditüberfluß entstanden. l

) a. a. 0. S. 76. ») a. a. 0. S. 77.

Die VerschuldaDgsfrage.

45

Das laissez-faire-System, fährt Rodbertus fort, sorgt zwar für das Ende der Hypothekenkreditnot, aber auch für deren Wiederkehr; statt den Grundbesitzkrisen abzuhelfen, macht es sie periodisch wiederkehrend, ebenso wie Handelskrisen und Pauperismus. Auch die Vorschläge des reinen Kapitalismus können nicht helfen; diese laufen darauf hinaus, durch „Verbesserungen" des Hypothekenrechts und der Hypothekenordnung, durch Erweiterung des Hypothekenmarktes mittelst zweckdienlicher Taxen und zweckdienlicher Terminplätze, vor allem durch Mobilisierung der Hypothekenbriefe, und endlich, zur Krönung dieser Verbesserungen, durch ein schnelleres Exekutions- und Subhastationsverfahren die Aufnahme von Kapitalschulden zu erleichtern. Auch die Unkündbarkeit und Amortisation der Kapitalgrundschuld beseitigen das Übel nicht. „Die Wirksamkeit der Unkündbarkeit ist schon qualitativ unvollständig, denn selbst, wenn alle Kapitalgrundschulden unkündbar gemacht werden könnten, in der Kündbarkeit liegt gar nicht das Unheil allein, welches das Kapitalisationsprinzip über den Grundbesitz bringt. — Sie ist es aber auch noch quantitativ auf ihrem eigenen Gebiet. Denn es können gar nicht alle Kapitalschulden unkündbar gemacht werden, selbst nicht in normalen, von keiner Not heimgesuchten Zeiten. Aber die Unkündbarkeit versagt sogar auf diesem ihrem eigenen Gebiet um so mehr ihren Dienst, je mehr in einer Zeit der Not der Grundbesitz dieses Dienstes bedürftig i s t . " D i e Amortisation endlich führt, vom Interesse des Grundbesitzes aus betrachtet, mehr Nachteile als Vorteile mit sich. Das einzige und das spezifische Mittel gegen solche Krisen, wie die damalige Kreditkrisis, sei das R e n t e n p r i n z i p und damit kommt Rodbertus zu seinem Hauptvorschlage. Dieser besteht darin, daß der landwirtschaftliche Grundbesitz in allen ihn betreffenden Rechtsgeschäften nur als das behandelt wird, was er ist, als ein immerwährender Rentenfonds. Die Ausflüsse dieses Prinzips lassen sich, in ihrer praktischen Anwendung, in folgenden Grundzügen zusammenfassen: ») a. a. 0. S. 119.

46

Kapitel III.

1. Die Abschätzung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes geschieht nur nach Ertragswert oder Rentengrundwert, (L h. dem Rentenbetrage, den das Grundstück abwirft. 2. Der Rentengrundwert ist in allen den Grundbesitz betreffenden Rechtsgeschäften der allein maßgebende Wert. 3. Miterben an einem Grundstück haben nur Anspruch auf einen ihrer Erbquote entsprechenden Rentenanteil, auf eine immerwährende Rentenabfindung. Das schließt eine freie Vereinbarung über eine Auszahlung der Erbteile nicht aus, die sowohl in Landrentenbriefen als in Kapital erfolgen kann. Erfolgt die Auszahlung in Kapital, so muß natürlich auch ein Zinsfuß vereinbart werden, nach welchem die zur Auszahlung kommende Rentenerbportion in Kapital umzurechnen ist. Findet keine Vereinbarung unter den Erben über die Tilgung statt, so hat jeder Miterbe das Recht, auf öffentlichen Verkauf anzutragen. Da aber dieser nach Rentenrecht erfolgt, so würden gerade auf diesem Wege sämtliche Erben nur zu Rentenabfindungen gelangen. 4 Verkäufer eines Grundstückes haben für den rückständigen Preis eines Kaufgrundstückes — ex jure reservati dominii — nur Anspruch auf einen diesem Teil entsprechenden Rentenanteil, auf eine immerwährende Rentenabfindung. Damit wird aber natürlich nicht die Deckung des Kaufpreises durch Zahlung ausgeschlossen. Auch diese kann ganz oder teilweise, je nach der Vereinbarung der Kontrahenten, durch Landrentenbriefe oder durch Kapital erfolgen, nur daß auch hier, im letzteren Falle, im Kaufkontrakt der Zinsfuß zu bemerken ist, nach welchem der Rentenkaufpreis ganz oder zum Teil zu Kapital umgerechnet oder getilgt worden ist Es kann selbst der Freiheit der Kontrahenten überlassen bleiben, daß dies Kapital nicht bar ausgezahlt, sondern in einer persönlichen Schuldform übernommen wird. Nur wäre diese neue Schuld kein rückständiger Kaufpreis mehr, sondern aus dem Kaufkontrakt wäre Zahlung geleistet. 5. Darlehen auf Grundbesitz können nur in Form des Rentenkaufs aufgenommen werden. Da die Höhe der Rente, die der Grundbesitz für einen bestimmten Kapitalbetrag hinzugeben hat, sich nach dem dermaligen Zinsfuß richtet, so entgeht bei Kapital-

Die Venchnlduigsfrage.

47

aufnahmen der Grundbesitzer allerdings den Fluktuationen des Zinsfußes auch durch den Rentenkauf nicht völlig. 6. Alle den Grundbesitz aus Erbteilungen, Verkäufen oder Kapitalaufnahmen dinglich belastenden Obligationen sind selbständige Rentenobligationen. 7. Die urkundliche Form für die den Grundbesitz dinglich belastenden Obligationen ist der Rentenbrief. Dieser enthält: a) den Namen des mit Rente belasteten Gutes, b) dessen letztherausgestellten Rentenwert, c) den Namen des Rentengläubigers, d) die aus der betreffenden Obligation schuldige Rentensumme, e) die dieser Summe vorangehende Rentenschuldsumme. 8. Es werden qualifizierte oder Landrentenbriefe kreiert. Solche Qualiiikationen erhalten diejenigen Rentenbriefe, die in der Inhaberform und unter solidarischer Verhaftung des Grundbesitzes des Landes ausgestellt sind. 9. Landrentenbriefe sind das gesetzliche Lösungs- oder Zahlungsmittel iür alle Rentenobligationen. Die Landrentenbriefe erfüllen die Idee des Geldes innerhalb der Sphäre des Grundbesitzverkehrs; denn sie sind zugleich Wertmaß und Quittungsanweisung. Die Landrentenbriefe werden an der Börse gehandelt. 10. In allen Verkäufen unter öffentlicher Autorität darf die Deckung des Kaufpreises nur entweder durch Übernahme von Rentenschulden oder durch Rentenzahlung mittels Landrentenbriefe erfolgen. 11. Um dem bezeichneten Teil der Rentenbriefe die Qualifikation der Landrentenbriefe zu verleihen, wird aus den verbundenen Grundbesitzern eine Behörde errichtet, welche die Grenze bestimmt, bis zu der Rentenbriefe dieser Qualifikation auf jedes Gut ausgefertigt werden dürfen, die der Ausfertigung dieser Briefe vorsteht, die pünktliche Zahlung der Renten vermittelt, für die Förderung des Kurses der Briefe tätig ist, den Wirtschaftsbetrieb der Grundbesitzer überwacht, kurz (analog den heutigen Landschaftsbehörden) die ganze Kompetenz, die zur gedeihlichen Leitung eines solchen Landrentenbriefinstituts erforderlich ist, ausübt.

48

Kapitel III.

Rodbertus sucht dann ausführlich alle Einwendungen zu widerlegen, die aus der Natur des Grundwertes, aus der Freiheit des Grundeigentums, aus dem Rechte des Kapitals, aus dem Interesse des Grundbesitzes und aus der Schwierigkeit der Konvertierung der heutigen Kapitalbriefe in Rentenbriefe gegen das Rentenprinzip geltend gemacht worden sind oder geltend gemacht werden könnten. Hierauf erörtert er die Mittel zur Abhilfe der Personalkreditnot: Die Personalkreditnot ist dadurch entstanden, daß bei der Landwirtschaft das Begehren nach Betriebskapital außerordentlich gestiegen, das Angebot darin hingegen vollständig zurückgeblieben ist, nicht, weil das Kapital selbst fehlte, sondern nur, weil die „Vehikel" fehlten, um es ihr ebenso wie der Industrie und dem Handel zuzuführen. Die allgemeine Frage nach Abhilfe dieser Personalkreditnot löst sich ihm also in die beiden besonderen Fragen auf: 1. Wo ist das Kapital zu finden, das an sich nicht fehlt, und doch nicht den gesteigerten Bedürfnissen der Landwirtschaft zu Hilfe kommt? 2. Wie verschaffen wir uns die Vehikel, die allein imstande sind, es der Landwirtschaft zuzuführen? Die Antwort auf diese Fragen lautet: Das Kapital dieser Art findet sich in großen Massen in den zerstreuten und nutzlosen Beständen, die zeitweilig tot in den eigenen Kassen der Landwirte liegen. Eine Landwirtschaftsbank für jeden Kreis, welche diese Bestände von den Landwirten aufnähme und seiner Zeit wieder als Darlehen an sie austäte, wäre die Anstalt, um ihrem Personalkredit alle Kapitalien, deren er bedarf, in vollem Maße zuzuführen. Die materiellen Prinzipien einer Kreditorganisation für ländlichen Grundbesitz und Landwirtschaft heißen demnach, was den Immobiliarkredit der Landbesitzer betrifft: Rentenbriefsform für jede Hypothek und Scheidung der Rentenbriefe in Land- und Gutsrentenbriefe, was den Personalkredit der Landwirte betrifft: ein auf die eigenen Mittel und eine beschränkte Notenemission gestützter Bankkredit durch alle Kreise. Die formalen Prinzipien faßt Rodbertus in dem Gedanken zusammen: Selbstverwaltung dieses gesamten

Die Verschnldongsfrage.

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Kredits, Verwaltung durch den Grundbesitzerstand selbst, mittelst einer allgemeinen Landesanstalt, die durch sämtliche Kreise des Staats verzweigt und, durch eine gemeinschaftliche Zentralbehörde zusammenhängend, in zwei Abteilungen, Immobiliar- und Personalkredit, die betreffenden Geschäfte führte. Obwohl der städtische Grundbesitz dem landwirtschaftlichen ähnelt, behält er dennoch, weil er Produkt und deshalb der Überproduktion unterworfen ist, weil er ferner, wie Kapital, nach Maßgabe seiner Abnutzung, in das Produkt übergeht, weil endlich seine Fixierung nicht derart ist, daß er weit mehr als landwirtschaftlicher Grundbesitz den veränderten Gewinnrichtungen zu folgen vermöchte, überwiegend die Kapitalnatur bei. „Deshalb muß der städtische Grundbesitz in seiner Hypotheken- und Kreditgesetzgebung auch als Kapital behandelt werden; für ihn bleibt die Kapitalschuld indiziert, wie 6s für den landwirtschaftlichen Grundbesitz die Rentenschuld ist." Für die p r a k t i s c h e Verwirklichung seiner Ideen faßt Rodbertus drei Möglichkeiten ins Auge: 1. Der Staat könnte die Initiative zur Durchführung dieser Pläne ergreifen. 2. Die preußischen Provinziallandschaften könnten sich freiwillig zu einer Zentrallandschaft vereinigen, und diese könnte alsdann mit einer Staatskommission zusammentreten, um die betreffenden Gesetz- und Reglemententwürfe zu beraten. 3. Der nichtbepfandbriefte Teil des Grundbesitzes könnte sich zu einer Rentenbriefkonkurrenz mit den Pfandbriefinstituten aufschwingen. Auch hier hätte der Staat wieder die Wahl, entweder imperativ oder auf dem Wege der Verhandlung mit einer berufenen Kommission aus dem nichtbepfandbrieften Teil des Grundbesitzes vorzugehen. Um die Verbreitung der Ideen von Rodbertus hat sich der konservative Politiker R u d o l f M e y e r sehr verdient gemacht. In der Vorrede der von ihm herausgegebenen zweiten Auflage von Rodbertus' Buch: „Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen >) a. a. 0 . S. 277. C r o n e r , Agrarische Bewegung.

4

50

Kapitel III.

Kreditnot des Grundbesitzes" nennt sich Meyer den e i n z i g e n , dem Rodbertus in einem Punkte seines Systems ein Zugeständnis gemacht habe. Es lag dies in der Möglichkeit, mit dem Rentenprinzip eine Amortisation zu verbinden, einer Möglichkeit, die Rodbertus anfänglich bestritten hatte, dann aber Meyer zugeben mußte. In der preußischen Rentengutsgesetzgebung von 1880 und 1890 erblickte Meyer eine nur sehr unvollkommene Verwirklichung Rodbertusscher Ideen 1 ). Inwieweit die Ideen von Rodbertus und seinen Anhängern praktische Verwertung gefunden haben, sieht man aus den Grundsätzen, die der deutsche L a n d w i r t s c h a f t s r a t in den Jahren 1897 bis 1901 aufgestellt hat. 2 ) Die beste Organisation des landwirtschaftlichen Realkredits sieht der Landwirtschaftsrat in der unkündbaren Tilgungshypothek. Seitens der landwirtschaftlichen Interessenvertretungen (Landwirtschaftskammern, landwirtschaftliche Vereine) sei auf eine möglichst allgemeine Umwandlung der nicht tilgbaren Hypotheken in unkündbare Tilgungshypotheken unter Bevorzugung der gemeinnützigen und öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute, wo solche bestehen, hinzuwirken. Eine Reform der unkündbaren Tilgungshypothek sei von den genannten Kreditinstituten nach folgenden Richtungen hin durchzuführen: 1. Die Tilgung ist für die ganze innerhalb der Beleihungsgrenze stehendo Schuld obligatorisch zu gestalten. 2. Als Minimalsatz ist bei neuer Schuldaufnahme in der Regel nicht weniger als dreiviertel Prozent der von dem Kreditinstitut gewährten Gesamtbeleihung in Aussicht zu nehmen. 3. Die Tilgungsbedingungen sind möglichst beweglich zu gestalten. 4. Die Herausgabe des Tilgungsfonds ist auf die Fälle des Besitzwechsels und der Abstoßung von höher verzinslichen Nachhypotheken zu beschränken. 5. Eine gesetzliche Anerkennung der Unpfändbarkeit des Tilgungsfonds unkündbarer Tilgungshypotheken ist zu erstreben. Zur Erleichterung der Durchführung vorstehender Vorschläge empfiehlt daher der Deutsche Landwirtschaftsrat: ») Näheres in „Neue Zeit", Jahrgang 1892/1893, Nr. 33—36 (Stuttgart). ') s. Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrates 1901, S. 349/60.

51

Die Verschtüdungsfrage.

1. Die Erhöhung einer bestehenden Beleihung und die Gewährung möglichst beweglicher Tilgungsbedingungen ist davon abhängig zu machen, daß der Schuldner sich für die frühere Beleihung den neuen Grundsätzen unterwirft, 2. für die Benutzung der reformierten unkündbaren Tilgungshypothek ist durch folgende Maßregeln ein finanzieller Anreiz zu schaffen: Ermäßigung der Verwaltungskostenbeiträge der Landschaften, geringe Ermäßigung des Zinssatzes, tunlichste Verstärkung der Amortisation aus eigenen Mitteln, Abzugsfähigkeit des Tilgungsbeitrages von der staatlichen Einkommensteuer, Gebührenfreiheit für die Umwandlung kündbarer Hypotheken in unkündbare Tilgungshypotheken. Auch von der Lebensversicherung erwartet der Landwirtschaftsrat eine wirksame Förderung der Schuldentilgung. Er hält sowohl die auf das 65. Lebensjahr abgekürzte einfache Lebensversicherung als auch die auf das 65. Lebensjahr einzugehende Tilgungsversicherung nach dem System Hecht 1 ) für geeignet für diese Zwecke. Für die Ablösung der sogenannten Nachhypotheken hat die Kreditkommission der preußischen L a n d w i r t s c h a f t s k a m m e r n der Staatsregierung folgende Vorschläge unterbreitet. 2 ) Die Landschaften übernehmen die Nachhypotheken in Höhe bis zu fünf Sechstel resp. ausnahmsweise sechs Sechstel der landwirtschaftlichen Taxe und geben für sie an die Gläubiger Pfandbriefe aus oder zahlen die Valuta an die Gläubiger aus dem Erlöse dieser Pfandbriefe, wobei etwaige Kursdifferenzen durch Zuschußdarlehen gedeckt werden. Die Sicherstellung der Nachhypothekcn erfolgt: 1. durch schnelle Amortisation, indem die Amortisationsquote der ganzen landwirtschaftlichen Schuld zur Abbürdung verwendet wird, 2. durch Bereitstellung von Staatsmitteln, sei es durch Einstellung einer entsprechenden Summe in den Etat, behufs Deckung von Ausfällen an Zinsen und Kapital, sei es durch Ausgabe eines unverzinslichen Darlehens seitens des Staates in Höhe von etwa 10% ') Dieses System stellt die organische Verbindung der Aufnahme eines hypothekarischen Darlehns mit dem Abschluß einer Lebensversicherung dar. ') s. Archiv des Deutschen Landwirtschaitsrates 1900, S. 438. 4*

52

Kapitel III.

der übernommenen Hypotheken, 3. durch die Solidarhaft des ganzen innerhalb der betroffenen Provinz der Landwirtschaftskammer angeschlossenen Grundbesitzes. Die gesamte Maßregel ist aber nicht als eine dauernde Einrichtung ins Auge zu fassen. Bedingungen für die Ablösung sind: Eintragung einer Verschuldungsgrenze, ererbter oder mehrjähriger Besitz des Grundstücks und sorgfältige Prüfung der lokalen und individuellen Verhältnisse durch die Organe der Landwirtschaftskammer, endlich Unterwerfung unter ständige Kontrolle seitens der Landschaften. Auch auf die provinziellen und kommunalständischen öffentlichen Kreditinstitute sollen all diese Bestimmungen sinngemäße Anwendung linden. Den Forderungen der Landwirtschaft nach finanzieller Beteiligung des Staates an den Entschuldungsmaßnahmen gegenüber verhielt sich die preußische Regierung ablehnend. In der Begründung des Entwurfes eines Gesetzes betreffend die Zulassung einer Verschuldungsgrenze für land- oder forstwirtschaftlich genutzte Grundstücke heißt es, zunächst müßten die auf diesem Gebiet bestehenden zahlreichen Zweifelspunkte durch praktische Versuche geklärt werden. „Die Anstellung solcher Versuche wird zunächst geeigneten Kreditanstalten überlassen bleiben müssen. Auf eine Mitwirkung des Staates in Form einer finanziellen Beteiligung oder Garantieleistung ist dabei zurzeit nicht zu rechnen, denn ganz abgesehen davon, ob der Weg eines finanziellen Eingreifens des Staates auf dem Gebiete der Entschuldung überhaupt gangbar sein würde, ist eine Stellungnahme der Staatsregierung zu der ganzen Frage erst dann möglich, wenn die Ergebnisse praktischer Versuche vorliegen werden." Um jedoch den Erfolg der von den Landschaften und anderen Kreditinstituten geplanten Entschuldungsmaßnahmen auch für die Zukunft sicher zu stellen, schlug die preußische Regierung im Jahre 1906 dem Landtage die Einführung einer fakultativen Verschuldungsgrenze für land- und forstwirtschaftlich genutzte Grundstücke vor. Nach § 1 dieses Gesetzes vom 20. August 1906 kann ein solches Grundstück, das von einer öffentlichen Kreditanstalt beliehen werden darf, nicht über die nach der Verfassung der Anstalt zulässige Beleihung hinaus mit Hypotheken, Grundschulden

Die Verschnldungsfrage.

53

oder Rentenschulden oder mit beständigen oder für eine bestimmte Zeit zu entrichtenden festen Geldrenten belastet werden, wenn diese Beschränkung (Verschuldungsgrenze) im Grundbuch eingetragen 181. Nach § 2 erfolgt die Eintragung der Verschuldungsgrenze auf Antrag des Eigentümers. Das gleiche Ziel, eine Uberschuldung der Landgüter zu verhindern, verfolgen auch die Bestrebungen zur Förderung des A n erbenrechts.

Die Höfegesetze

und Landgüterordnungen

siebenziger und achtziger Jahre brachten tative) Anerbenrecht.

der

das „indirekte" (fakul-

Sie bestätigten zum Teil nur einen bereits

bestehenden Zustand und bedeuteten insofern eher einen Rückschritt in der Entwickelung

nach dem Anerbenrecht

hin,

als

sie dieses Erbrecht künftig nur als ein Ausnahmerecht bestehen ließen.

Das

Intestatanerbenrecht

greift nämlich

nach

diesen

Gesetzen nur für solche Stellen Platz, welche auf Antrag des Eigentümers in ein öffentliches Register (Höferolle, Landgüterrolle) eingetragen sind.

Praktische Bedeutung hat im wesentlichen nur das

hannoversche Gesetz vom 2. Juni 1874 erlangt.

Daa sogenannte

„direkte" Anerbenrecht wurde für Westfalen und 5 niederrheinische Kreise durch Gesetz vom 2. Juli 1878 eingeführt.

Danach unter-

liegen dem Intestatanerbenrecht alle ihrem Hauptzweck nach zum Betriebe der Land- oder Forstwirtschaft bestimmten zur selbständigen Nahrungsstelle geeigneten Besitzungen, die mit einem Wohnhaus versehen sind und deren Grundsteuerreinertrag wenigstens 6 0 Mark beträgt.

Sie werden von Amts wegen auf Antrag der

landwirtschaftlichen Verwaltung (des Spezialkommissars) im Grundbuch als Anerbengüter vermerkt.

In solchen Bezirken, für welche

die vorhergehende amtliche Erhebung eine Anerbensitte nicht festgestellt hatte und für alle kleineren Güter erfolgt die Eintragung nur auf Antrag.

Die Anerbengutseigenschaft wird gelöscht, wenn

die Besitzung die Merkmale des selbständigen Landgutes eingebüßt hat.

Der Erblasser kann außer durch Testament den Eintritt des

Anerbenrechts auch durch eine öffentlich beglaubigte Erklärung für den einzelnen Erbfall ausschließen.

Durch Gesetz vom 8. Juni

1896 ist das Intestatanerbenrecht bei den preußischen Rentengütern eingeführt worden.

In Baden ist im Jahre 1898 ein neues

54

Kapitel III.

Anerbengesetz für die geschlossenen Hofgüter auf dem Schwarzwald erlassen worden. Abgesehen von diesen Bestimmungen über das Erbrecht enthält die preußische R e n t e n g u t s g e s e t z g e b u n g auch in dem Grundgedanken vieles, was in der Richtung von Rodbertus liegt. Die preußische Rentengutsgesetzgebung schafft, wie Rudolf Meyer ausführt, dem Großgrundbesitzer die Möglichkeit, sich billige Arbeiter zu verschaffen, und dem untergehenden mittleren Grundbesitzer die Möglichkeit, gut zu verkaufen. Der kleine Wirt zahlt erfahrungsgemäß für ein Gut im Verhältnis mehr als der große, nicht weil er pro Hektar einen höheren Ertrag herauswirtschaftet, dieser ist vielmehr beim Großgrundbesitz höher, sondern weil er billiger lebt und alles, was er für den notdürftigsten Lebensunterhalt von seinem Gute erhält, als Rente auffaßt, die dann kapitalisiert den Preis des Gutes ausmacht. Für den R i t t e r g u t s b e s i t z e r , dessen Stand, wie Meyer behauptet, im Aussterben begriffen ist, ist es mithin v o r t e i l h a f t e r , sein G u t zu z e r s c h l a g e n und an Bauern und Kossäten zu verkaufen als an die Latifundienbesitzer. Bei den Rentengütern handelt es sich um eine neue Leibeigenschaft, und zwar um eine Leibeigenschaft der schlimmsten Art, um eine Wiederherstellung der Glebae adscriptio. „Der alte Fronpflichtige ist nicht Herr seiner Arbeitskraft; deshalb ist seine Arbeit nicht produktiv genug, denn er hat ja kein Interesse daran, daß sie produktiv sei. Der freie Arbeiter ist Herr seiner Arbeitskraft, und deshalb ist sie produktiver; denn sonst kann er sie nicht verkaufen und von ihrem Verkauf muß er ja leben. Aber durch die Konkurrenz Amerikas und der Industriedistrikte mit höheren Arbeitslöhnen wird der Grundbesitzer gezwungen, ihm höhere Löhne zu zahlen, wenn er ihn fesseln will. Der neue Leibeigene, der Rentengütler vereinigt beide Vorzüge und vermeidet die Nachteile: seine Arbeitskraft gehört dem Verkäufer, dem er sie verpfändet hat, und er ist an die Scholle gebunden; und sie ist noch produktiver als die des freien Arbeiters, weil sie erstens durch den drohenden Hunger angestachelt wird wenn es bloß eine Arbeiterstelle ist; oder durch den drohenden Verlust des angezahlten Kapitals, im Fall einer größeren Stelle; zweitens aber ja

Die Verschaldungsfrage.

55

nicht bloß durch den Lohn allein reproduziert zu werden braucht, sondern einen Teil ihrer Reproduktionskosten von der Scholle bestreitet." x ) Meyer übt hierauf scharfe Kritik an den einzelnen Gesetzbestimmungen und an den vielfach mit Rentengutskäufern abgeschlossenen Verträgen. Besonders tadelt er die Beschränkungen der Verfügungs- und Abzahlungsfreiheit des Käufers. Er entwickelt alsdann ein Programm, wie der altdeutsche Zusammenhang zwischen Grundbesitz und Wehrpflicht wieder hergestellt werden könne. Danach sollen die Invaliden die freie Wahl haben, ob sie ihre Jahrespensionen weiter beziehen oder sich kapitalisiert auszahlen lassen und Rentengütcr annehmen wollten. „Für Gemeino mit kleiner Pension hätten Kossätenstellen, für Unteroffiziere und Subalternoffiziere mit mittlerer Pension Bauerngüter, für höhere Offiziere kleine Rittergüter geschaffen werden können. Besaß der Gemeine eigenes Kapital außer seiner kapitalisierten Pension, so hätte er ein Bauerngut erhalten können, ein Unteroffizier im selben Falle ein kleines Rittergut. Seine kapitalisierte Pension und eventl. sein eigenes Kapital könnte er zur Anschaffung der häuslichen Einrichtung und, wenn es reichte, zu einer Baranzahlung benützen." ») Darüber hinaus wollte Meyer im Gegensatz zu Rodbertus die Idee der Produktivassoziation mittels Staatszuschuß auf Grundbesitz und Landwirtschaft ausdehnen. „Der Staat kauft ein Rittergut in der Subhastation und überläßt es gegen drei Prozent Rente zum Kaufpreis an eine Anzahl von Arbeitern, die für dessen Bestellung genügen, eröffnet ihnen Betriebskredit und gibt ihnen das Recht, einen Wirtschaftsleiter zu wählen, der eine nachgewiesene technische Ausbildung besitzt, überwacht aber, so lange die Produktivassoziation ihm noch Kapital schuldet, die wirtschaftliche Gebarung, später nicht mehr. Dies Verfahren ist ökonomischer, als das Rittergut in eine Anzahl Bauern- und Kossätenhöfe zu (eilen, weil man auf jedem Wohn- und Wirtschaftsgebäude aufführen muß" 3). >) Die Neue Zeit, redigiert von Karl Kautsky, 10. Jahre. 2. Bd. S. 179. ') a. a. 0. S. 277/8. ») a. a. a. 0. S. 278.

56

Kapitel III.

Ein umfangreiches Programm zur Entschuldung der Landwirtschaft hat endlich noch der Bund der deutschen Bodenreformer aufgestellt 1 ). Dieses Programm fordert folgende Maßnahmen: Zunächst soll eine neue Einschätzung des ländlichen Bodens, und zwar nach dem Verkaufswerte stattfinden. Sodann wird eine Grenze gezogen, bis zu der jedes Grundstück verschuldet werden darf. Innerhalb dieser Grenze hat jeder Landwirt ein Recht darauf, aus den öffentlichen Kassen Geld zu bestimmtem Zinsfuß zu erhalten. Der Einwand, daß eine Verschuldungsgrenzc den Landwirt dazu treibt, zur Befriedigung des darüber hinaus liegenden Kredits Wucherern in die Hände zu fallen, erscheint den Bodenreformern als unberechtigt. Die Verschuldungsgrenzc wird von selbst eine andere Gestaltung des Personalkredits und eine Kräftigung der Genossenschaftsbewegung zur Folge haben. Auch den Bauern muß der billige Kredit zugänglich gemacht werden, den schon heute der Großgrundbesitz genießt, „öffentliche Kassen erhalten heute zu 3 * 4 % Geld. Rechnen wir y 4 % für die Verwaltungskosten — das ist sehr hoch gerechnet — und y2% zur Amortisation des Kapitals, so könnte der Landmann zu 4 % die Hypothek bis zur Verschuldungsgrenzc erhalten, und in diesen 4 % Zinsen schon die Schuld selbst abtragen" 2 ). Mit der Hypothekenreform muß nach Ansicht der Bodenreformer noch eine Steuerreform verbunden sein. Unterhalb der Verschuldungsgrenzc wird noch eine andere Grenze gezogen. Sie soll den Wert des Bodeneigentums an sich, d. h. den Wert des Bodens ohne jede Verbesserung, ohne Gebäude usw. darstellen. Bis zur Verschuldungsgrenze geht die Amortisation für den Besitzer vor sich. „Dann aber würde die Amortisation für die Gemeinde selbst bewirkt werden, indem die Gemeinde schrittweise die Schuldscheine einlöst, die sie ausgegeben hat, um das Geld für die Hypotheken zu erhalten. Die Zinsen für dieses letzte Viertel des Wertes blieben dann als dauernde Last auf dem Boden ruhen. Jetzt würde ' ) Vgl. Damaschke, Die Bodenreform, 4. Auflage, S. 127—142. *) a. a. 0 . S. 131,

Die Verschuldmigsfrage.

57

die Gemeinde von ihren so gewonnenen Einnahmen natürlich in steigendem Maße ihre Bedürfnisse befriedigen und in demselben Maße auf Steuern verzichten können. Die Zinsen für das letzte Viertel würden ungefähr die Rente für den reinen Bodenwert darstellen und nach und nach den Charakter der einzigen wesentlichen Steuer, der Grundrentensteuer, auf dem Lande annehmen1). Auch mit diesen Versuchen ist das Problem der agrarischen Verschuldungsfragc nicht gelöst worden. Es wird noch für lange Zeit ein dankbares Versuchsfeld für Theoretiker und Praktiker, die sich mit der Agrarfrage beschäftigen, bleiben. ») a. a. 0. S. 135.

Kapitel IV.

Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. und Schutzzoll.

Landwirtschaft

Bis zum Jahre 1877 war der Schutzzollgedanke einzig und allein in der kleinen Gruppe der Industriellen verkörpert, deren Führung der 1876 gegründete Zentralverband deutscher Industrieller übernommen

hatte, Landwirtschaft

und Handel

dagegen

reichten sich nach dem Fallen der letzten Eisenzölle im Jahre 1873, die Hände in vollständigem Freihandel. Auch die Regierung bewegte sich ganz auf dem Boden ihrer bisherigen Freihandelspolitik.

Das

Patentgesetz, das durch seine Ausdehnung des staatlichen Schutzes auf neue, eine gewerbliche Verwertung gestattende Erfindungen, dem laisser faire des Manchestertums zu widersprechen schien, wurde zwar am 3. Mai 1877 angenommen, ein Gesetzentwurf betreffend Erhebung einer Ausgleichsabgabe für importiertes Eisen, a 1 s d e r bisherigen

Handelspolitik

widersprechend,

dagegen am 27. April 1877 ebenso abgelehnt, wie am 28. April ein Antrag Varnbüler, der eine kommissarische Untersuchung der Produktions- und Absatzverhältnisse der deutschen Industrie und Landwirtschaft verlangte und vor Beendigung dieser Untersuchung und Feststellung der sich aus ihr ergebenden Resultate keine Handelsverträge abschließen lassen wollte. Wie stark unter den Landwirten noch der Gedanke des Freihandels war, bezeugt u. a. eine Petition der Landwirte Ostpreußens aus dem Jahre 1876 um Ablehnung der Eisenzölle. In dieser Petition wird wörtlich gesagt: . . . „Wir weisen jedoch einen solchen Gedanken (des Schutzzolles) weit von uns, weil wir den wirtschaftlichen Erfolg und das Gedeihen unseres Gewerbes nicht auf Kosten

Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft nnd Schatzzoll.

59

der übrigen Berufsarten und nicht auf Kosten unserer Mitbürger herbeiführen wollen. Dagegen glauben wir auch einen vollen und gerechten Anspruch darauf zu haben, daß wir nicht ferner zugunsten eines Erwerbszweiges besteuert werden, dessen ephemerer Aufschwung vorzugsweise unserem. Gewerbe nicht nur durch Verteuerung des Eisens, sondern in weit höherem Grade durch Entziehung der Arbeitskräfte und durch Steigerung der wirtschaftlichen Kosten tiefe Wunden geschlagen hat." 1 ) Auf dem Boden des völligen Freihandels stand aber außer der die Landwirtschaft eigentlich repräsentierenden politischen Partei, den Deutsch-Konscrvativen und in gewissem Sinne auch der Deutschen Reichspartei, auch die Vertretung der Landwirtschaft außerhalb des parlamentarischen Lebens, der Kongreß deutscher Landwirte und ihre, in gewiss°r Weise, offiziöse Vertretung, der deutsche Landwirtschaftsrat. Eine etwas unklare Stellung nahm die dritte Repräsentantin der Landwirtschaft, der erst vor kurzem gegründete Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer, ein, der, in der Hauptsache den Großgrundbesitz umfassend, eine scharf präzisierte Position in der Zollfrage noch nicht gewonnen hatte und daher den geeigneten Einsatzpunkt zu bieten schien, von dem aus eine Bekehrung der Landwirtschaft zum Schutzzoll stattfinden konnte. Wie wir gesehen haben, bestand schon bei Begründung des Vereins in ihm eine starke schutzzöllnerische Tendenz, und man dachte keineswegs daran, sich als Steuer r e f o r m e r für die Zukunft die Hände zu binden. Der erste Satz des § 2 der Statuten, „Auf der Grundlage des Freihandels stehend, sind wir Gegner der Schutzzölle", war für einen aus Landwirten bestehenden Verein im Jahre 1876 einfach selbstverständlich, so vollkommen waren Landwirtschaft und Freihandel miteinander identisch geworden. Wenn die „Reformer" hierin eine Änderung schaffen wollten, so mußten sie langsam und vorsichtig reformieren. Wie sehr sie aber schon bei der Gründung des Vereins an die Möglichkeit ') Dritter Bericht d. Petit.-Komm. R. T. S. 221 ff.

Drucks. Anlag. 1876/76

60

Kapitel IV.

einer Reform dachten, scheint aus dem Nachsatze, Eingangszölle und Konsumtionssteuern als offene Frage zu behandeln, deutlich hervorzugehen.

Ohne

diesen Zusatz wäre ihnen das Bündnis

mit der schutzzöllnerischen Industrie, das sie bald schließen sollten, als Prinzipienlosigkeit ausgelegt worden, hatten man

m it

sie sich einen Ausweg offengelassen. allerdings

die

Tragweite

ihies

diesem Zusätze Andererseits darf

Freihandelsbekenntnisses

überhaupt nicht allzu hoch einschätzen.

Die Terminologie der

Steuer- und Wirtschaftsreformer verstand nämlich unter Schutzzöllen nur solche Zölle, die ein einzelnes Gewerbe auf Kosten der übrigen begünstigen.

Ein gleichmäßig von allen Waren erhobener

Zoll war nach ihrer Ansicht kein Schutzzoll. Umgekehrt verstanden sie auch unter Freihandel keineswegs die Beseitigung aller Zölle. Auf der zweiten Generalversammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer am 16. Februar 1877 kam die Handelspolitik zur Sprache.

Dr. Frege als Referent führte aus,

daß die Frage Schutzzoll oder Freihandel keine Prinzipienfrage, sondern lediglich eine Frage des praktischen Bedürfnisses sei. will . . .

Sie nicht

ermüden",

sagte der

Referent,

„mit

„Ich Be-

weisen, daß ich den absoluten Freihandel, wenn heute plötzlich die ganze Welt eine große handelspolitische Familie bildete und nicht einzelne rivalisierende Nationen und Länder vorhanden wären, entschieden auch als das Arcanuni der Volkswirtschaft akzeptieren würde, daß ich aber,

solange insbesondere ganz

Europa seine

ultima ratio erblickt in Kruppschen Geschützen und den besten Gewehren, solange wir genötigt sind, bis an die Zähne bewaffnet zu sein, um uns die großen Errungenschaften der letzten Jahre zu sichern, diesen absoluten Freihandel als eine sehr schöne Theorie, aber auch als nichts weiteres betrachte.

Anders steht es mit den

Forderungen nach Handelsfreiheit, die seit Jahrzehnten die Parole der Landwirtschaft gebildet hat. die Industrie a l l e i n

Diese Parole war berechtigt, weil

Schutzzoll genoß und die Landwirte nicht

bloß nicht geschützt waren, sondern unter den Zöllen zu leiden hatten und noch leiden.

Dadurch, daß ich dies offen zugestehe,

hoffe ich, daß diejenigen Herren unter uns, die sich Freihändler nennen, sich überzeugen werden, daß ich kein Schutzzöllner bin,

Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft nnd Schutzzoll.

61

wohl aber muß ich unter den jetzigen Verhältnissen im Interesse der deutschen Landwirtschaft und dadurch, wie ich gesagt habe, des ganzen Volkes wünschen und hoffen, daß, so wenig Schutzzölle einseitig für einzelne Industrien bestehen bleiben dürfen, so wenig alle Zölle fallen sollen, weil ich die deutsche Landwirtschaft nicht für fähig halte, mit der Getreide- und Fleischproduktion der östlichen europäischen und der amerikanischen Länder in einen Wettkampf einzutreten auf dem sogenannten Weltmarkt."*) Am Schlüsse seiner Ausführungen betonte der Redner noch einmal, das Streben nach Freihandel sei als Waffe in der Hand der Landwirtschaft gegenüber der Industrie so lange berechtigt gewesen, als die Industrie dem landwirtschaftlichen Gewerbe nicht die volle Gleichberechtigung in der Zollfrage zugestand. „Die Industrie ist aber zugleich unser natürlicher Alliierter gegenüber den internationalen Manchester-Doktrinen, und sie wird im Kampf gegen diese gezwungen sein, unsere Interessen zu berücksichtigen und sich mit uns zu einigen über einen gleichmäßig prozentischen Wertzoll." 2 ) M. Anton Niendorf als Korreferent führte aus: So lange der Zolltarif so eingerichtet war, daß er einseitig die Landwirtschaft schädigte und einzelne Industriezweige bevorzugte, hätten die Landwirte Freihändler sein müssen. Seit der Beseitigung der Eisenzölle seien aber die Industriellen geneigt, der Landwirtschaft entgegenzukommen. Da sei es nun Pflicht der Landwirte, sich der Industrie zu nähern und zu sagen: Wenn du uns redlich behandeln willst in Zollsachen, so wollen wir dir auch redlich entgegenkommen. Niendorf sprach sich alsdann für Wertzölle und für Retorsionszölle aus. In der Diskussion polemisierte Reder-Bucheck gegen die von den Referenten vorgeschlagene allgemeine Wertverzollung. Diese würde eine vollständige Umwälzung auf allen Gebieten des Erwerbes und der Produktion und in den Beziehungen zum Auslande herbeiführen. „Produktionen, die früher nie geschützt gewesen sind und nie einen Schutz beansprucht haben, würden mit einem •) Verhandlungen der Steuer- und Wirtschaftsreformer 1877, S. 86/86. ') a. a. 0 . S. 87.

Kapitel IV.

62

Male ungebetenerweise einen Schutz bekommen, ebenso würden andererseits Produktionen, die früher einen viel höheren Schutzzoll genossen, in den Zollverhältnissen herabgesetzt werden. . . . Österreich oder Frankreich . . . würden sich keinesfalls gefallen lassen, daß wir mit einem Male Waren, die früher unversteuert bei uns eingingen, jetzt versteuern wollten, sie würden also mit Zollerhöhungen antworten." Udo Graf zu Stolberg erklärte, auf Retorsionszölle großes Gewicht zu legen, Dr. Perrot wünschte nicht komplizierte Wertzölle, sondern einfache Zölle und möglichst niedrige Zölle. „Vom Standpunkte eines Freihändlers", der jedoch lediglich aus opportunistischen, nicht prinzipiellen Erwägungen für den Freihandel eintrat, opponierte Graf Dürkheim gegen den Vorschlag der allgemeinen Wertverzollung: „Wir haben in unserer konstituierenden Versammlung, in unserem Programm das Panier des Freihandels erhoben. In allen Versammlungen, die in den Provinzen von Mitgliedern unserer Vereinigung abgehalten wurden, sind dessen Prinzipien verkündigt worden. Wir haben im allgemeinen keinen Schutz für die Produkte der Landwirtschaft, wollen ihn aber in dem Sinne gleichen wirtschaftlichen Rechtes auch nicht für andere Erwerbsgruppen bestehen sehen oder eingeführt wissen. Es liegt nahe, daß nach Fassung der empfohlenen Beschlüsse uns der Vorwurf nicht fehlen wird, wir hätten unsere Anschauungen rasch gewandelt, wir seien nun definitiv zu den Schutzzöllnern übergegangen. Das Prinzip gleichen Rechtes erfordert entweder Schutz für alle oder für keinen. Der Schutz für alle wird aber schwerlich jemals zu erreichen sein, wohl aber die Durchführung des vollkommenen Freihandelsprinzips, ganz abgesehen von der größeren wirtschaftlichen Berechtigung des einen oder des andern." x ) Niendorf erwiderte auf diese Ausführungen des Grafen Dürkheim, von einem Übergang zum Schutzzoll sei gar nicht die Rede. „Wenn alle Zölle gleichmäßig prozentisch erhoben werden, dann leben wir in dem wahren Ideal des Freihandels, dann haben wir ») a. a. 0. S. 94.

Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft und Schutzzoll.

63

erst denjenigen Freihandel, der überhaupt für uns im Deutschen Reich möglich ist." „Schutzzoll heißt: besondere Gunstzölle für einzelne Industrien zu statuieren, und das wollen wir nicht; prozentisch gleichwertige Zölle auf alle Waren verwandeln alle Zölle in Finanzzölle, und damit erst stehen wir auf dem klaren Standpunkt des redlichen Handels, den ich Freihandel nennen will, weil es sonst keinen Freihandel g i b t " * ) Man möge endlich ablassen — fuhr Niendorf fort — von der „abscheulichen und staatsgefährlichen" Wirtschaftsdoktrin: Fabrikate zu schützen, Produkte frei eingehen zu lassen. „Man führe Wertzölle ein, so sind wir bereit, hierauf mit der Industrie zu paktieren." 2 ) Die Verhandlungen endeten damit, daß folgende, größtenteils auf Niendorf und Frege als Urheber zurückführende Resolution angenommen wurde: „1. Angesichts der bestehenden Reichsverfassung, welche in ihren Steuereinnahmen zum größten Teil auf die indirekten Intraden und die Zölle angewiesen ist, erscheint der absolute Freihandel als durchaus undurchführbar. 2. Die erste Anforderung an ein rationelles Zollsystem ist darin zu suchen, daß die einzelnen Zollpositionen nicht zu einem besonderen Schutzzoll für einzelne Industriezweige ausarten. 3. Die auf sämtliche Einfuhrartikel in das deutsche Zollgebiet zu legenden Zölle sind womöglich nach dem Wert zu bemessen. 4. Die Zölle auf Kolonialwaren aller Art können in alter Höhe verbleiben, auch sind die Eingangszölle auf Salz, Zucker, Branntwein, Bier, Wein, Tabak den inneren Konsumsteuern adäquat einzurichten, damit nicht Exportprämien durch Rückzölle entstehen. 5. Unter Innehaltung obiger vier Gesichtspunkte spricht sich die Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer für die Bevollmächtigung des Reichskanzleramtes zur eventuellen Anwendung von Retorsionszöllen aus: erstens zur wirksamen Handhabe bei dem Abschluß von Zollverträgen mit den Nachbarstaaten, zweitens zur ') a. a. 0 . S. 96. *) a. a. 0 . S. 97.

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Kapitel IV.

Abwendung von Schädigungen unserer heimischen Produktion durch die Zollpraktiken derselben Nachbarstaaten." Bei den immerhin bestehenden Unstimmigkeiten über die Frage Schutzzoll oder Freihandel gingen die Bestrebungen zu einer grundlegenden Änderung der wirtschaftlichen Gesetzgebung nicht aus den Kreisen des Vereins selbst hervor, sondern wurden von Außenstehenden in ihn hineingetragen. Im Oktober 1877 fand in Berlin auf eine Aufforderung von Vertretern der Industrie an das geschäftsführende Komitee des Vereins der Steuer- und Wirtschaftsreformer eine Zusammenkunft zur unverbindlichen Besprechung wirtschaftlicher Streitfragen statt. An dieser nahmen von seiten des Vereins Graf v. Wilamowitz-Möllendorf-Gadow und Herr v. Treskow-Grocholin, von den Vertretern der Industrie zwei Mitglieder des Zentralverbandes deutscher Industrieller die Herren Hessel und Lohren, alle jedoch ohne offiziellen Auftrag 1 ), teil. Man besprach unverbindlich die verschiedenen wirtschaftlichen Tagesfragen und einigte sich dahin, daß in der nächsten Generalversammlung der Steuer- und Wirtschaftsreformer die Vertreter der Industrie ihren Standpunkt darlegen sollten. Auf der Tagesordnung dieser Generalversammlung am 14. und 15. Februar 1878 zu Berlin stand eine Besprechung über die Ursachen der allgemeinen Erwerbslosigkeit und die Mittel zu ihrer Abhilfe. Als Referenten sprachen von seiten des Vereins Lehmann-Badomitz, als Korreferent von seiten des Zentralverbandes sein Mitglied, der Fabrikant Hessel. Der Referent Lehmann sang das in den siebziger Jahren schon unzählige Male gehörte alte Lied, in dem der Niedergang des deutschen Wirtschaftslebens auf die Einführung der Goldwährung geschoben wurde und sagte damit den Mitgliedern des Vereins durchaus nichts Neues. Der Korreferent Hessel schlug ganz andere, im Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer noch nicht in dieser Stärke gehörte Töne an. Die wichtigste, ja die einzige Ursache des Niederganges war — nach seiner Meinung — der Freihandel. Er erinnerte an die Politik des Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelms I. ') a. a. 0 . S. 98/99. Diese Besprechung ist in dem Buche von Bueck: Der Zentralverband deutscher Industrieller 1876—1901 wahrscheinlich aus dem oben angeführten Grunde unerwähnt geblieben.

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und Friedrich des Großen. Diese Herrscher hätten in erster Linie sich bemüht, Arbeit im Lande zu schaffen. Zu Zeiten des Schutzzolles, in den Jahren 1836 bis 1865, habe sich der Wohlstand des Landes außerordentlich gehoben. „Wir haben", sagte der Referent, „bis zum Jahre 1865 das große Nationalvermögen erarbeitet, und zwar die Landwirtschaft in Gemeinschaft mit der Industrie. Wir haben das Eisenbahnnetz erweitert, neue Städte gebaut und dem Auslande Milliarden geliehen. Das Ausland wurde uns tributär; noch im Jahre 1854 hatten wir einen Mehrexport von 108 Millionen Talern, aber im Jahre 1867 hatten wir bereits ein Minus von 60 Millionen Talern. Vom 1. Juli 1865 an haben wir laut statistischen Nachrichten 12 Milliarden Mark verloren. Wir stehen mitten im nationalen Bankrott, nur fühlt das selten jemand vollständig, gerade so wie der Mensch in der Stadt während der Epidemie dagegen abstumpft. Man graut sich nicht mehr vor dem Tode. Man sieht, der wird begraben, und sagt: an dich wird vielleicht die Reihe nicht kommen. Sehen Sie, meine Herren! Dahin sind wir gekommen, und wem haben wir es zu verdanken ? Der Manchestertheorie, die uns so systematisch angebohrt hat." *) Ein Land, das in klimatischer Beziehung stiefmütterlich bedacht sei — fuhr der Redner fort — und dessen Nachbarstaaten durch hohe Schutzzölle abgeschlossen seien, müsse wirtschaftlich zugrunde gehen, wenn es durch keinen Zoll, nicht einmal einen geringen Finanzzoll, geschützt werde. Man müsse darauf achten, daß das Geld im Lande zirkuliere und nicht ins Ausland abfließe, damit die Arbeit, die es schaffte, dem Inlande zugute komme. Daher dürften Verbrauchsartikel, die im Inlande hergestellt werden könnten, nicht aus dem Auslande importiert werden, selbst wenn sie dort etwas billiger erhältlich wären. Aber nicht bloß die Industrie würde durch den Freihandel geschädigt, sondern auch die Landwirtschaft. Es sei deshalb ein Zoll für landwirtschaftliche und industrielle Erzeugnisse zu fordern, dessen Höhe der Redner auf 1 bis 5 bzw. 8 bis 10% vom Werte normierte. Mit einem Hinweis auf die guten Erfolge

' ) Berichte über die Verhandlungen der Generalversammlungen der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer. 3. Generalversammlung. S. 15. C r o n e r , Agrarische Bewegung.

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der Schutzzollpolitik in Frankreich und Beispielen von der „verheerenden Wirkung der direkten Steuern" schloß der Vortrag. Die Diskussion, die sich an diese beiden Referate anschloß, beschäftigte sich naturgemäß fast gar nicht mit dem ersten Referenten, da das Für und Wider der Goldwährung schon oft genug erörtert war, sondern fast ausschließlich mit der Frage des Schutzzolles. Besonders trat dies am zweiten Verhandlungstage (15. Februar) in die Erscheinung, als dem Fabrikanten Hessel bei der Beratung des Entwurfes eines Wertzolltarifes, der noch von dem vor kurzem verstorbenen Anton Niendorf aufgestellt war, nochmals Gelegenheit gegeben war, das Wort zu ergreifen. Den Rednern der Debatte war es wenig darum zu tun, ihre im Prinzip etwa abweichende Meinung zu dokumentieren, die meisten verliehen nur der Furcht Ausdruck, ob die Freundschaftsbeteuerungen der Industrie für die Landwirtschaft auch ehrlich gemeint seien. So sagte Dr. Perrot 1 ): „Herr Hessel hat uns gesagt, daß er ein sehr warmes Herz für die Landwirtschaft habe, und daß auch die Fabrikanten dasselbe Gefühl hätten. Es ist das sehr erfreulich. Ich erinnere mich allerdings, daß früher, als Herr List die Schutzzollbewegung in Deutschland inaugurierte, er da gesagt hat, nur die Industrie brauche den Schutzzoll, man solle aber der Landwirtschaft keinen geben. Neuerdings aber, da unsere Fabrikanten den Schutzzoll bei uns einzuführen suchen, haben sie sich dahin ausgesprochen, daß ein solcher Schutzzoll auch der Landwirtschaft zu gewähren sei. Das ist an und für sich sehr erfreulich, sehr liebenswürdig, aber, meine Herren, ich weiß noch nicht, wie die Sache nachher weitergehen wird, wenn es zur Verhandlung über die Zollfrage in den gesetzgebenden Körpern kommt, ob wir dann durch die Unterstützung der Fabrikanten den der Landwirtschaft so notwendigen Schutz erhalten werden. Ich habe einen gewissen Zweifel in dieser Beziehung noch nicht überwinden können." 2 ) Dasselbe Mißtrauen gegenüber der Industrie kam auch in den Ausführungen Reder-Buchecks zum Ausdruck. „Ich glaube," ') a. a. 0. S. 42. ») a. a. 0. S. 21/22.

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sagte er, „daß, nachdem unser Organ den Schutzzöllnern erst einen Finger, dann eine Hand gereicht hat, die Gefahr droht, daß wir uns in einem Augenblick, in dem wir überredet sind, verleiten lassen, ihnen gleich beide Hände zu geben, ja womöglich ganz und gar hineinzuspringen in ihren Verein." *) Mehrere Redner gaben ferner der Befürchtung Ausdruck, daß, wenn die Landwirte sich mit den Industriellen zum Kampfe für Schutzzölle verbündeten, sie zwar der Industrie einen wertvollen Dienst leisten würden, ohne jedoch für sich selbst etwas zu erreichen. So sagte der Kammerherr v. Buggenhagen: „Ich würde den Tag segnen, an welchem ich mit Herrn Hessel im Reichstag für dasselbe Ziel kämpfen könnte, und erkenne an, daß die Interessen der Landwirtschaft und Industrie sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr identisch sind. Bei dem gegenwärtigen Wahlgesetze zum Reichstage bleibt aber ein gemeinsamer, erfolgreicher Kampf beider Berufsschichten ein frommer Wunsch. Wie die Verhältnisse heute liegen, würde die Industrie, wenn sie unsere ausgesprochene Unterstützung hat, mit beantragten Schutzzöllen reüssieren, die Landwirtschaft aber leer ausgehen zum Nachteil aller." *) Ähnliche Ausführungen machte Graf v. DürkheimBundhorst; „Ich will nicht darüber sprechen, ob die Industrie des Schutzzolles bedarf; durch unsere Hilfe würde vielleicht die Industrie denselben erlangen, wir selbst aber nicht, dann aber träte zu deren Gunsten wieder die Kapitalverschiebung ein, für uns aber alle jene Nachteile des Arbeiterabzuges, der Arbeitsverteuerung, die der selige v. Wedemeyer so trefflich erörterte." *) Gegenüber diesen pessimistischen Ansichten über das Bündnis zwischen Industrie und Landwirtschaft brachte besonders der Freiherr v. ThüngenRoßbach, der eifrigste Vorkämpfer der Schutzzollpolitik unter den Landwirten, eine mehr optimistische Auffassung zur Geltung. Er suchte die Zweifel an der Ehrlichkeit der von den Industriellen angebotenen Freundschaft zu zerstreuen, indem er ausführte: „Dr. Perrot meinte, die Fabrikanten könnten ein falsches Spiel >) a. a. 0. S. 22. •) a. a. 0. S. 42. ') a. a. 0. S. 43. 6*

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mit uns treiben. Nun, das liegt nicht außer dem Bereich der Möglichkeit. Ich vertraue aber doch dem gegebenen Wort, daß es diesmal nicht so sein wird. Die Fabrikanten befinden sich augenblicklich in einer großen Notlage, das Wasser steigt ihnen selbst bis an den Hals, und deshalb sehen sie sich nach treuen Bundes genossen um. Ich hoffe, daß sie mit uns Bundesgenossenschaft schließen auf Treu und Glauben!" x ) Er richtete dann an die Versammlung die dringende Aufforderung, die von den Industriellen angebotene Freundschaft anzunehmen: „Die Industriellen haben wiederholt ihr Einverständnis mit landwirtschaftlichen Zöllen ausgesprochen, sie bieten uns die Hand zum Bunde, schlagen wir getrost ein, schließen wir mit ihnen ein Schutz- und Trutzbündnis auf Treu und Glauben zum eigenen Frommen und zum Segen der gesamten vaterländischen Arbeit." 2) Der lebhafte Beifall, den die Berichte nach diesen Worten verzeichnen, scheint anzudeuten, daß die Mehrheit der Anwesenden mit den Ansichten des Freiherrn v. Thüngen-Roßbach eher als mit den Anschauungen der oben erwähnten Zweifler und Pessimisten übereinstimmte. Der Verlauf der Verhandlungen gab dem Freiherrn v. ThüngenRoßbach später noch einmal Gelegenheit, ausführlich auf die Schutzpolitik zurückzukommen. Es geschah dies bei der Erörterung der Finanzlage des Reiches und des Reichsdefizits. Er hatte das Referat über diesen Gegenstand und trat entschieden für Zölle als Einnahmequelle des Reiches ein. Einen autonomen Zolltarif erklärte er für wünschenswerter als Handelsverträge, zumal solche mit der Meistbegünstigungsklausel, welche die Hände binde und die freie Bewegung hemme. Dann fuhr er fort: „Ich stehe also auf dem Standpunkte einer möglichst gleichmäßigen, dem jeweiligen Zustande der heimischen Produktion angemessenen Verzollung sämtlicher Eingangswaren, womöglich nach ihrem Werte, jedoch, wo es die Bequemlichkeit der Erhebung erfordert, gut staffeiförmig nach dem Gewichte ausgerechnet, nicht so hoch, daß die ausländische Konkurrenz ganz beseitigt wird, aber auch nicht so niedrig, daß ') a. a. 0. S. 26. ») a. a. 0. S. 40.

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die vaterländische Produktion derselben unterliegt. Eine solche a l l g e m e i n e Verzollung kann man nicht mehr Schutzzoll nennen; denn dieser tritt nur da ein und ist nur dann mit Härten verknüpft, wenn nur einzelne Produktionszweige durch ihn geschützt sind, andere nicht. Sind aber alle gleichmäßig geschützt, dann verwandelt sich der Schutzzoll in einen Finanzzoll, welcher die Reichskasse bestens füllt und den Stachel der Sondergunst vermeidet. Und von diesem Gesichtspunkte fordere ich einen Zoll von 7% des Wertes für alle Produkte der Land- und Forstwirtschaft, welche seither gar nicht oder mit weniger als 7% des Wertes geschützt waren, nämlich auf Getreide, Mehl, Tiere, tierische Nahrung, Wolle, Hanf, Flachs* Federn, Haare, Häute, Felle, Leder, Horn, Fette, öle, Teer, Pech, Sämereien, Hopfen, Früchte, Bau-, Nutz- und Brennholz, Gerbstoffe (wobei es mir leicht begegnet sein kann, daß ich einen oder den andern Gegenstand übersehen habe) und auf diejenigen Gegenstände der Einfuhr, welche den Bau landwirtschaftlicher Nutzpflanzen gefährden, nämlich Petroleum, welches den Kapsbau, und Baumwolle, welche den Bau von Hanf und Flachs beeinträchtigt. Bei der Baumwolle würde ich mich, da sie im Inlande nicht gebaut werden kann, und den Stoff zu einer ausgebreiteten, ohnehin nur mit größter Anstrengung gegen die ausländische Konkurrenz ringenden Industrie bildet, auch mit einem geringeren, etwa dreiprozentigen Wertzoll begnügen." „Auf die Produkte des Bergbaues, nämlich Erden, Erze, Steine, rohe Metalle, fossile Brennstoffe, dann die Düngstoffe und Abfälle der Landwirtschaft dürfte ein Zoll von 3% des Wertes genügen." 2 ) Die Zollsätze für die Halb- und Ganzfabrikate — fuhr der Redner fort — dürften nicht so hoch sein, daß sie die Konkurrenz des Auslandes ganz abhielten und dann wirklich die Waren verteuerten. Sie müßten nach und nach, je nach dem Erstarken der Industrie, so weit herabgesetzt werden, daß sich Deutschland allmählich dem Zustande gleicher Wertverzollung und damit den reinen Finanzzöllen nähere 8). „Die Zölle auf ausländische Delikal

) a. a. 0. S. 70/71. ») a. a. 0. S. 73. 3 ) a. a. 0. S. 73/74.

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tessen und Genußmittel nämlich Reis, Kaffee, Tee, Schokolade, Spirituosen, Südfrüchte, Heringe, feine Seefische, Austern, Kaviar, Konfitüren, Saucen, Gewürze, Gegenstände, die vornehmlich dem Luxus und Genüsse der Wohlhabenden dienen,

könnten

ebenfalls eine Steigerung erfahren." Ferner erklärte der Redner noch den Einwand, das Brot werde durch den Getreidezoll verteuert, für unrichtig. Erstens werde der größte Teil des Zolles durch die Importländer, Österreich-Ungarn, Rußland und die Donauländer, getragen werden. Ferner werde die Verteuerung des Getreides nur vorübergehend sein. „Denn die durch den Zoll herbeigeführte momentane Preissteigerung wird die inländische Konkurrenz aneifern, es werden eine Menge Flächen, die seither dem Getreidebau entzogen waren, weil er nicht mehr lohnte, demselben wieder zugewendet werden, es wird der Körnerbau wieder intensiver und mit Anwendung aller möglichen Hilfsmittel betrieben werden und der Erfolg wird sein, daß mehr inländisches Getreide auf den Markt gelangt und daß die kleine Preisdifferenz rasch wieder ausgeglichen sein wird." *) Aber selbst wenn der Getreidepreis wirklich erhöht würde, so bedeutete dies, nach Ansicht des Redners, noch keineswegs eine Erhöhung des Brotpreises, sondern nur eine Verringerung des Gewinnes des Bäckers, Müllers und Händlers. Die durch den Zoll hervorgerufene Preissteigerung komme gar nicht in Betracht gegenüber derjenigen, welche durch die zwischen Produzent und Konsument sich einschiebenden Zwischenglieder verursacht werde. Endlich sei noch zu bedenken, daß für den ganzen, mit der Landwirtschaft beschäftigten Teil der Bevölkerung, der in Deutschland über die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmache, ohnehin keine Verteuerung eintrete, weil derselbe von eigengebautem Getreide lebe 2 ). In der Diskussion bekannte sich als unbedingter Gegner aller landwirtschaftlichen Schutzzölle nur ein Redner, Ottomar Beta, der jedoch mit seinen Argumenten kaum von der Versammlung ernst genommen wurde. Andere Redner sahen die Hauptursache >) a. a. O. S. 72. ') a. a. 0. S. 72.

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der wirtschaftlichen Not nicht im Freihandel, sondern kamen immer wieder auf die alten und beliebten Steckenpferde, Währungsfrage, Aktiengesetzgebung usw. zurück. Einer der einflußreichsten Männer im Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer, RederBucheck, führte aus: „Die Beweise des Herrn Hessel waren zwar verführerisch, aber ich hoffe, er wird bei uns keine Propaganda machen. Ich bin der Meinung, daß eine der Hauptursachen unserer jetzigen Notlage ganz wo anders liegt. Schon der Referent Herr Lehmann hat dies in einem längeren Vortrage klar zu machen versucht, indem er die Währungsfrage berührte." x ) Ähnlich äußerten sich Dr. Perrot und Eggers. Dennoch war die Versammlung im Prinzip vollkommen darin einig, daß die Zeit gekommen sei, durch einen mäßigen Zoll auch für Agrarprodukte die ausländische Konkurrenz abzuschwächen. Während sie aber die Sache wollte, hütete sie sich vor dem Namen. Der Name „Schutzzöllner" hatte für sie den Beigeschmack der Geringschätzigkeit und Gehässigkeit, den Bibelfesten schwebten die „Zöllner und Sünder" vor. Ja, man machte dem Fabrikanten Hessel sogar zum Vorwurf, daß er sich Schutzzöllner nenne, während er doch nur ein ganz gemäßigter Steuerreformer sei 2 ). Am leichtesten kamen natürlich diejenigen über den Mangel der Prinzipien fort, die den geforderten Eingangszoll als Finanzzoll betrachteten, obwohl man von ihm, wie der Graf v. Dürkheim-Bundhorst, auch eine Preiserhöhung erhoffte s ). Freiherr v. Thüngen-Roßbach dagegen entfernte sich logisch nicht von dem alten Programm, wenn er auseinandersetzte, daß bei gleichmäßigem Schutze aller Produktionszweige der Schutzzoll ohne Erhöhung der Preise sich in einen Finanzzoll verwandeln müsse. Die Furcht vor dem Namen „Schutzzöllner" kam deutlich bei der Beratung eines von v. Diest-Daber gestellten Antrages auf Abänderung der Statuten zum Ausdruck. Der Antrag lautete : „Die Versammlung beschließt, so schleunig als möglich eine Änderung des Passus 3 des Programms der Steuer- und Wirtschafts») a. a. 0. S. 23. ») a. a. 0. S. 32. ») a. a. 0. S. 43.

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reformer nach folgenden maßgebenden Gesichtspunkten herbeizuführen l ): In der Erkenntnis, daß das absolute Freihandelssystem sich in dem internationalen Handelsverkehr als undurchführbar erwiesen hat, erscheint der Schutz der nationalen Gesamtarbeit und Produktion erforderlich." Dieser Antrag wurde besonders von Freiherrn v. Stein-Kochberg bekämpft. Er erklärte zwar, daß er mit der in dem Antrage v. Diest-Daber niedergelegten Ansicht übereinstimme, den Wortlaut des Antrages aber für bedenklich halte. „Es ist die Frage an uns herangetreten: Sollen wir mehr Zölle erstreben, und was für Zölle sollen wir erstreben ? Wir haben zwei Ausdrücke: Finanzzoll und Schutzzoll, welche ineinander übergehen und zwischen denen es keine bestimmte Grenze gibt. Es hat zwar Hessel Ihnen eine Skala aufgestellt, und danach könnte man annehmen, daß ein Unterschied zwischen Finanzzoll und Schutzzoll existiert, aber niemand ist imstande, ihn zu definieren. In dem v. Diestschen Antrage heißt es am Schlüsse: „Danach scheint der Schutz der nationalen Gesamtarbeit und Produktion erforderlich." Das Wort Schutzzoll ist hier nicht direkt gebraucht, aber aus dem Zusammenhange der Worte ergibt sich doch das Wort Schutzzoll. Das wird bei vielen Anstoß erregen, auch unter uns. Deshalb glaube ich, daß im gegenwärtigen Augenblick auch eine Gefahr darin hegt, diesen Antrag in dieser Form anzunehmen." 2 ) Der Redner brachte dann selbst einen Antrag ein: „In Erwägung, daß der Punkt 3 des Programms der Steuer und Wirtschaftsreformer in seiner jetzigen Fassung die nötige Klarheit vermissen läßt und zu mißverständlicher Auffassung Veranlassung gibt, beschließt die Versammlung ihren Vorstand zu beauftragen, eine Neufassung der Nr. 3 des Programms auf die Tagesordnung der nächsten Versammlung zu setzen." Man einigte sich schließlich dahin, daß der Antrag v. DiestDaber zurückgezogen, der Antrag des Freiherrn von Stein dagegen angenommen wurde. ») a. a. 0. S. 70. ') a. a. 0. S. 46/46.

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Zwischen dieser Versammlung im Jahre 1878 und derjenigen, die die Steuer- und Wirtschaftsreformer am 26. und 27. Februar 1879 abhielten, lagen als Wendepunkt der deutschen Wirtschaftspolitik die beiden Schreiben des Fürsten Bismarck an den Bundesrat vom 12. November und 15. Dezember 1878, die an anderer Stelle besprochen werden'). In einer vom Freiherrn v. Thüngen entworfenen Adresse an den Fürsten bekannten sich die Steuer- und Wirtschaftsreformer in dieser Versammlung zu den in dem Bismarckschen Schreiben ausgesprochenen Grundsätzen der Steuer-, Zoll- und Eisenbahnpolitik und begrüßten sie mit Freuden als den „Wendepunkt der inneren deutschen Geschichte, als den Anfang der lange ersehnten Besserung." In der Adresse setzte ferner der Ausschuß der Steuer- und Wirtschaftsreformer den Fürsten davon in Kenntnis, daß ihm bisher 138 landwirtschaftliche Vereine Zustimmungsadressen zu der neuen Wirtschaftspolitik gesandt hätten. In der 4. Generalversammlung des Vereins am 26. Februar 1879 referierte Freiherr v. Mirbach über die Stellungnahme des Vereins zu dem neuen Zoll- und Wirtschaftsprogramm des Reichskanzlers. Bismarcks Grundsatz, die direkte Steuerlast zu mindern unter Vermehrung der auf indirekten Abgaben beruhenden Einnahmen des Reiches fand die volle Zustimmung des Referenten. Das höchste Gewicht glaubte der Berichterstatter vom Standpunkte der Landwirtschaft aus auf die Erklärung des Reichskanzlers, man müsse zu dem Prinzip der Zollpflichtigkeit aller über die Grenze eingehenden Gegenstände zurückkehren, legen zu müssen. „Dieses Prinzip entspricht der ausgleichenden Gerechtigkeit." Der Referent stimmte dem Reichskanzler ferner darin bei, daß ein von schutzzöllnerischen Staaten umgebenes Land wie Deutschland nicht einseitig freihändlerische Politik treiben könne; eine solche Politik führe eine ungünstige Handelsbilanz und damit eine Verarmung des Landes herbei. Mit ganz besonderer Genugtuung begrüßte der Referent die Äußerung des Reichskanzlers, daß Schutzzölle für e i n z e l n e Industries. S. 94 fl.

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zweige die Xatur von Privilegien hätten, und in der Tat hatte Bismarck damit nur einen alten Gedanken der Steuer- und Wirtschaftsreformer zu dem seinigen gemacht 1 ). Der Referent fuhr darauf wörtlich fort: „Die Landwirtschaft hat ihrem Wesen nach eine zweifache Natur: Als Konsument industrieller Produkte möchte sie freihändlerisch sein, aber als Produzent landwirtschaftlicher Produkte neigt sie zum Schutzzoll; sie steht also, wie eigentlich alle Produzenten, in der Mitte zwischen Schutzzoll und Freihandel, während der Handel allein zum reinen freihändlerischen Prinzip neigt. Wir haben uns früher gegen Eisenzölle ausgesprochen und zwar nicht ohne Uberzeugung, weil wir Privilegien beseitigen wollte«. Wir haben unsere Farbe nach keiner Seite hin gewechselt. Wir Landwirte sind keine Schutzzöllner, wir verlangen nur Gleichstellung mit der ausländischen Produktion, keine Bevorzugung." 2 ) Der Redner führte dann weiter den wichtigen Gedanken aus, daß die Zahl der reinen Konsumenten, welche durch die neue Wirtschaftspolitik vielleicht geschädigt werden würden, ganz unbedeutend sei und daß auch die Arbeiter überwiegend von den Produzenten beschäftigt würden. Die Wertschwankungen vieler Artikel, namentlich des Getreides, infolge der Handelskonjunktur seien, wie der Reichskanzler mit Recht hervorhebe, so groß, daß eine Verteuerung durch die Zölle gar nicht ins Gewicht fallen könne. Wenn ein Land, so rechnete Mirbach, zum Konsum eine Million Zentner Getreide brauche und Vio dieser Summe, also 100 000 Zentner zu einem Zoll von 1 Mark pro Zentner importiere, so werde der Preis des Getreidequantums höchstens um 100000 Mark, verteilt auf den ganzen Betrag von 1 Million Zentner, also höchstens um 10 Pfennig pro Zentner erhöht. Ferner trage den Zoll größtenteils der ausländische Produzent, namentlich wenn er auf den deutschen Markt angewiesen sei, wie dies von Österreich und Rußland, zum Teil auch von Amerika gelte. Man dürfe schließlich nicht die Getreide- und Viehpreise mit den Brot- und Fleischpreisen verwechseln. Der Referent schloß dann

>) s. S. 61 ff. *) Verhandlungen der Steuer- und Wirtschaftsreformer 1879, S. 13.

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damit, daß er die Eisenbahntariffrage für wichtiger halte als die Zollfrage, und gab endlich der Hoffnung Ausdruck, daß der Reichskanzler von der Klausel der meistbegünstigten Nationen absehen werde, die in der Tat ganz geeignet wäre, immerfort in den Zolletat Schwankungen hineinzubringen und aus politischen Rücksichten das ausgezeichnete System des alten Zollvereins zu durchbrechen und abzuschwächen. Die Rede des Korreferenten Senators Godeffroy-Hamburg war dadurch bemerkenswert, daß sich ein Vertreter des größten deutschen Seehafens im Sinne der Schutzzollpolitik aussprach. Der Redner trat für Wertzölle ein, weil durch die Gewichtszölle die gröberen Erzeugnisse mehr geschützt würden als die feineren und dadurch die Feinindustrie geschädigt würde. Charakteristisch für den Stimmungsumschwung, der sich in den Kreisen der Steuer- und Wirtschaftsreformer im Laufe eines Jahres gegenüber den Absichten der Industrie vollzogen hatte, war noch eine Äußerung v. Buggenhagens mit Bezug auf eine Rede Hessels: „Ich habe im vergangenen Jahre ein Unrecht begangen, indem ich warnte, sich nicht von der Rednergabe dieses Herrn hinreißen zu lassen. Ich bin schon jetzt überzeugt, daß er recht hat. Ich hatte eine gewisse Besorgnis, daß wir nach wie vor die Prügelknaben bleiben werden, daß nur die Massen aufgereizt und wir schließlich leer ausgehen würden. Ich bin überzeugt, daß die Industrie voll und ganz erkannt hat, daß unsere Interessen identisch sind." 1 ) In der Debatte führte Schönfeld-Wriezen aus, es komme besonders darauf an, die Bauern zu gewinnen. Man müsse verhindern, daß sie falschen Agitatoren, die besonders lebhaft im Bauernstande agitierten, in die Hände fielen. Die Ausdehnung der Agitation auf die Handwerker und kleinen Gewerbetreibenden empfahl Regierungsrat Schück vom Zentralverbande deutscher Industrieller. Schließlich wurde folgende Resolution angenommen: „Die Generalversammlung der Steuer- und Wirtschaftsreformer spricht dem zoll- und wirtschaftspolitischen Programm des Fürsten >) a. a. 0. S. 43.

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Bismarck in finanzieller Richtung seine vollkommene Zustimmung aus. Sie hält das in demselben empfohlene Prinzip einer möglichst gleichmäßigen Besteuerung aller belangreichen Importartikel für geboten, einerseits im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit, andererseits zur Erreichung großer finanzieller Erträge im Interesse des Beiches und zur Entlastung von der drückenden Doppelbelastung im Gebiete der direkten Steuern." Eine weitere Resolution forderte eine verbesserte Handels- und Produktionsstatistik als Grundlage der Wirtschaftspolitik. Ganz anders als der Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer stellte sich zu der prinzipiellen Frage: „Schutzzoll oder Freihandel", die ältere Vertretung der deutschen Landwirtschaft, der Deutsche Landwirtschaftsrat. Er hatte auf die Tagesordnung seiner Hauptversammlung am 28. Januar 1879 die mit einander kombinierten Punkte gesetzt: Indirekte Steuern, Zolltarif, Handelsverträge und Eisenbahndifferenzialtarife1). Zum Thema „Indirekte Steuern" führten die beiden Referenten, Nobbe-Niedertopfstedt und Rottmann-Karlsruhe, ganz im Bismarckschen Sinne aus, daß eine Ausdehnung der indirekten Reichssteuern gefordert werden müsse, um dadurch eine Entlastung der Einzelstaaten von den Matrikularbeiträgen herbeizuführen, ihre direkte Steuerkraft zu schonen und sie womöglich in die Lage zu bringen, auf einen Teil der staatlichen Grund- und Gebäudesteuer zugunsten der Kommunalverbände verzichten zu können. Die Berichterstatter empfahlen für eine Erhöhung der bestehenden Verbrauchssteuern besonders die Steuern auf Bier und Tabak. Den weitaus größten Teil der Verhandlungen nahmen die beiden folgenden Punkte Zolltarif und Handelsverträge ein. Als Referenten waren Professor Richter-Tharand und ökonomierat KornBreslau, ein Theoretiker und ein Praktiker, bestellt. Beide Berichterstatter warnten vor dem Bündnis mit der Industrie, bei dem die Landwirtschaft zuletzt doch der hintergangene Teil sein würde. Am energischsten wandten sich beide aber gegen die projektierten ') Bericht über die Verhandlungen der siebenten Versammlung des Deutschen Landwirtschaftsrats S. 197.

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Getreidezölle. „In keinem Falle," sagte Professor Richter, „dürfen wir in den Fehler verfallen, durch Einführung von Getreidezöllen dahin wirken zu wollen, daß wieder ein großer Getreidebau in Deutschland eingeführt wird." Einen wirklichen Schutz würden der Landwirtschaft nur Zölle von 1,5 — 2 Mark auf den Zentner geben. Wenn aber die Landwirte solche Zölle vorschlügen, dann würden die Industriellen mit einer noch stärkeren Gegenforderung antworten, und das würde für das ganze Erwerbsleben ein außerordentlich schwerer Schlag sein. Zölle von 50 oder 25 Pfennigen auf den Zentner dagegen würden der Landwirtschaft gar nichts nützen. Eine gute Ernte in den Getreideexportgebieten (hierunter sind damals die osteuropäischen Länder zu verstehen) falle meist mit einer solchen in den angrenzenden deutschen Provinzen, eine schlechte Ernte dort mit einer schlechten Ernte hier zusammen. Zur Zeit einer guten Ernte, wo bei uns die Getreidepreise niedrig stünden, würde der Zoll unwirksam sein, da in diesem Falle das Ausland Mühe hätte, sein Getreide abzusetzen, und daher den Zoll tragen müßte. Zur Zeit einer schlechten Ernte, wo bei uns die Preise hoch wären und wir auf den Import ausländischen Getreides angewiesen wären, müßten wir selbst den Zoll tragen. Die hierdurch hervorgerufene Preiserhöhung würde vervielfacht durch Händler, Müller und Bäcker auf den Konsumenten abgewälzt werden und allgemein eine solche Erbitterung hervorrufen, daß sich im Reichstage eine Mehrheit für die Wiederabschaffung der Zölle finden würde. Die Industrie dagegen würde ihre hohen, als Äquivalent für die Getreidezölle eingeführten Schutzzölle behalten. Höchstens als Finanzzoll wäre ein Getreidezoll zulässig. Der Referent sprach sich ferner im Interesse der Landwirtschaft f ü r den Abschluß von Handelsverträgen mit dem Rechte der meistbegünstigten Nation und in der Eisenbahntariffrage für Beseitigung der Differentialfrachtsätze der Eisenbahnen aus. Nach der Ansicht des Korreferenten Korn-Breslau eigneten sich die Getreidezölle nicht als Einnahmequelle für das Reich, da sich in Zeiten der Not ihre Herabsetzung als unerläßlich erweisen würde >) a. a. 0. S. 207.

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und die Finanzen des Reiches, wenn sie auf die Einnahmen aus Getreidezöllen fundiert werden würden, auf eine sehr schwankende Grundlage gestellt werden würden. „Ich gehe ganz darüber hinweg," fuhr der Referent fort, „daß die Industrie, die uns jetzt so weit die Hand entgegenstreckt, wenn wir einen Importzoll von irgendeiner Bedeutung in Aussicht nehmen, diese Hand wahrscheinlich schleunigst zurückzieht. Sie wird niemals dafür stimmen, daß eine wirksame derartige Maßregel zum Gesetz erhoben wird. Die Industrie weiß nur zu genau, daß das verteuerte Brot ihr am wenigsten nutzen kann, daß das versteuerte Brot ihr die Löhne steigern muß und daß durch billige Löhne die erste Grundbedingung zu einer gedeihlichen und konkurrenzfähigen Produktion gegeben ist. Zur Einführung von w i r k s a m e n Getreidezöllen haben Sie auf die Mithilfe der Industrie niemals zu rechnen." Der Redner protestierte dann noch energisch gegen die „leichtfertige Weise", mit der Freiherr v. Thüngen-Roßbach für die Getreidezölle agitiere, und warnte zum Schlüsse seines Referats vor den Schlagworten des Schutzzolles: „Es heißt, mit ernstem Willen und vollem Verständnis an die konkrete Arbeit herangehen, sich nicht mit Schlagworten, wie „Schutz der nationalen Arbeit," „autonomer Tarif", „Handelsbilanz" usw. begnügen. Mit diesen Schlagworten und mit diesen angepaßten Resolutionen leisten wir absolut nichts. Die wirtschaftliche Erkrankung geht durch die ganze Kulturwelt: es krankt Amerika in kolossaler Weise, — das Land der Schutz- und Prohibitionszölle par excellence; es krankt England seit dem Zusammenbruch der Glasgowbank bis zu der gegenwärtigen Arbeiternot und der Not der Farmer, England — das Land des Freihandels. Es krankt — wenn auch zum Teil noch latent — Frankreich, was stets widersprochen wird, obgleich die déroute in der Seidenindustrie eine große Arbeiteraot zur Folge hatte und ein vollständiger Ruin unter den kleinen Pächtern der Normandie zu konstatieren ist. Letztere leiden ebenso wie unsere Landwirtschaft." •) ») a. a. 0. S. 214 ») a. a. 0. S. 218.

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In der Diskussion trat Günther-Saalhausen (Sachsen) der Forderung hoher Schutzzölle für Getreide entgegen, forderte jedoch im finanziellen Interesse die Erhebung mäßiger „Übergangsabgaben". Sollten diese Abgaben wider Erwarten noch den Erfolg haben, der Landwirtschaft einen kleinen Schutz zu gewähren, so habe sie darauf die berechtigsten Ansprüche. Die Industrie habe Interesse daran, stets niedrige Getreidepreise zu halten, um dadurch billige Löhne zu bekommen, denn diese wären die Quelle ihres Wohlbefindens. Die kleine Abgabe des Getreidezolles aber könne der Industrie sehr gleichgültig sein, weil eine Verteuerung dadurch nicht hervorgebracht würde. Der Redner warnte dann, sich der Industrie schutzlos in die Hände zu geben 1 ). Ein radikaler Freihändler kam in der Person von Rabe-Hamburg zum Wort. Er trat für Beseitigung sämtücher Zollschranken zwischen den einzelnen Ländern ein und erhoffte von dieser Maßnahme auch eine Förderung des Friedens und eine Verminderung der Ausgaben für das Militär. Zur Hebung der finanziellen Schwierigkeiten empfahl er die Einführung einer außerordentlichen Verbrauchssteuer vom Werte der Ware für Tabak, Wein und Spirituosen. Als Vertreter der ostpreußischen Landwirte führte FrentzelNoruszatschen aus, daß die Klagen über die Belastung der Landwirtschaft durch die Matrikularbeiträge übertrieben seien. Vollkommen falsch sei die Ansicht, daß die indirekten Steuern weniger drückend und gerechter seien. Durch die Agitation für Schutzzölle würden die bösesten Leidenschaften aufgeregt. Energisch sprach sich der Redner gegen die Bismarcksche Schutzzollpolitik aus. „Wir kennen ja alle den berühmten Brief, wo nach Plötz den Leuten einfach gesagt wird: Ja, wenn ihr Getreidezölle haben wollt, dann schickt nur solche Leute in den Reichstag, verständige Landwirte, die ein Interesse dafür haben. Ja, meine Herren, danach sind Sie fast alle für sehr schlechte Landwirte durch den Fürsten Bismarck erklärt worden. Sie haben ferner gehört von einer Dankadresse des Fürsten, die nach Sachsen, an eine landwirtschaftliche Körper>) a. a. 0. S. 223.

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schaft gegangen ist, die bekanntlich für Schutzzölle agitiert hat. So werden die Leidenschaften in der landwirtschaftlichen Bevölkerung erregt. Nun werden sie weiter erregt werden in den industriellen Kreisen. Der eine will Eisenzölle haben, der andere dies, der dritte das." »Wir können nicht zum Fürsten Bismarck sagen: ja Zölle wollen wir wohl geben, das sollen Finanzzölle sein, aber laßt uns mit den anderen Zöllen in Ruhe — und meinen, daß diese dann nicht kommen werden. Rühren wir an dem Zolltarif, dann kommen Zölle überall, Schutzzölle in der Industrie, in der Landwirtschaft; wir werden in ein Chaos hineinkommen und nicht wissen, wie wir wieder herauskommen sollen."*) Ein in früheren Jahren oft wiederholtes Argument betonte auch Pogge-Roggow (Mecklenburg - Schwerin). Die wichtigste Ursache der Notlage der Landwirtschaft sei weder in der Konkurrenz des Auslandes, noch in den Differentialtarifen, in denen allerdings Wandel geschaffen werden müsse, noch in der hohen Besteuerung zu erblicken. „Nach meiner Ansicht liegt der Kernpunkt der Sache ganz wo anders; er liegt darin, daß der Landwirt f a l s c h g e r e c h n e t hat, daß er eine lange Reihe von Jahren hindurch sich Illusionen hingegeben hat, die tatsächlich nicht begründet waren; er hat sich durch diese Illusionen bewegen lassen, Verpflichtungen einzugehen, denen er aus den Erträgen der Landwirtschaft nicht gerecht werden konnte; er hat, mit einem Worte, zu hoch gepachtet, er hat zu hochgekauft. "*) Mögen durch die Zölle auf landwirtschaftliche Produkte die Preise erhöht werden oder nicht, in jedem Falle werde dadurch die Landwirtschaft geschädigt. Finde eine Erhöhung der Preise nicht statt, dann erreiche die Landwirtschaft mit den Zöllen nur, daß die Industrie nun ihrerseits mit mächtigen Ansprüchen auf Schutz hervortrete. „Wir sind dann in der Lage, alle unsere Konsumartikel teuer bezahlen zu müssen, und die Industrie macht die Arbeitskräfte, deren wir benötigt sind, teuer; nun frage ich Sie, wo denn da der Vorteil für die Landwirtschaft stecken soll ?"») Trete jedoch ») a. a. 0. S. 231 und 232. ») a. a. 0. S. 234. ») a. a. 0. S. 236.

Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft und Schatzzoll.

81

eine Erhöhung der Preise für landwirtschaftliche Produkte ein, so verliere die landwirtschaftliche Produktion die gesunde Basis. „Was würde die Folge sein, wenn eine irgendwie erhebliche Erhöhung für die landwirtschaftlichen Produkte eintritt? Die augenblicklichen Besitzer und die Pächter mögen einen Vorteil davon haben, soweit er durch die verteuerten Konsumtionsartikel ihnen nicht wieder genommen wird; aber wenigstens ihre Produkte würden im Preise steigen. Wie wird es aber schon bei dem nächsten Pächter, der wieder eine Pachtung antritt? Wird der nicht sagen: wir haben ja jetzt Getreide- und Viehzölle, wir haben höhere Preise; wenn ich also bisher 1000 Mark für eine Pachtung geben konnte, kann ich künftig 1200 Mark oder mehr geben. Da würden wir zu ähnlichen Erscheinungen kommen, wie uns das die Geschichte der Kornzölle in England lehrt, die von 1815 bis 1845 bestanden haben, wo man bekanntlich bis 1828 so weit ging, daß der Weizen auf 80 Schilling pro Quarter gehalten werden sollte, nachher auf 64 Schilling. Und in dieser Zeit hat fünfmal das Parlament sich mit einer Enquete beschäftigt, wie der Not der Landwirte zu begegnen wäre, und erst von der Zeit an, wo die Kornzölle beseitigt wurden, hat wirklich die Landwirtschaft und Industrie in England einen Aufschwung genommen." Der Redner schloß mit der Prophezeiung, daß die Getreide- und Viehzölle in erster Linie geopfert werden würden, wenn es einmal gelte im Interesse der Industrie von anderen Ländern Konzessionen zu erlangen. Professor Stengel-Heidelberg verwarf die Getreidezölle, nicht bloß als Mittel des Schutzes für die Landwirtschaft, sondern auch als Einnahmequelle für das Reich. „Wird der Zoll von den inländischen Konsumenten ausschließlich oder auch nur zum größeren Teile getragen, so heißt das: dem armen Manne das Brot verteuern und ihn in höherem Maße für den Staat in Anspruch nehmen, als solches geschieht für den wohlhabenden Teil der Bevölkerung." l ) Auch Geibel-Unterrohn (Sachsen-Meiningen) sprach gegen die Getreidezölle. „Das wissen wir ja alle, daß der Abschluß von ') a. a. 0. S. 237. •) a. a. 0. S. 239. C r o n e r , Agrarische Bewegung.

ß

82

Kapitel IV.

Handelsverträgen für die Landwirtschaft unbedingt notwendig ist." *) Gerade um Handelsverträge zu erreichen, müsse man aber den Fürsten Bismarck in dem Plan, einen autonomen Tarif aufzustellen, durchaus unterstützen, in der Hoffnung, daß er nie zur Anwendung komme. Der Redner schloß mit den Worten: „Nun ist noch hier gesagt, wenn die Industrie hohe Schutzzölle hat, dann müßten wir sie auch haben. Nun meine Herren, bis jetzt haben wir beschlossen, wir sind gegen Schutzzölle und höchstens für Beibehaltung, aber gegen Erhöhung der jetzigen Schutzzölle, und dabei müssen wir bleiben. Wir müssen alles tun, daß die Industrie keinen höheren Schutzzoll, als sie jetzt hat, bekommt, dagegen müssen wir uns entschieden für zweckmäßige Finanzzölle aussprechen. — Ich bitte Sie also dringend, gegen jeglichen Getreidezoll zu stimmen." *) Freiherr v. Hammerstein-Loxten (Hannover) brachte durch eine Polemik gegen das Großkapital ein agitatorisches Moment in die Verhandlungen hinein: „Man hat das Großkapital von allen Fesseln moralischer und gesetzlicher Ordnung freigemacht, man hat, während die Milliarden in unser Reich hereinkamen, die gefährlichste Gewalt des Geldes freigemacht und hat dadurch eine vielleicht an sich unvermeidliche wirtschaftliche Krisis erheblich verschärft." 8 ) Mit diesen Anschauungen stand der Redner allerdings in der Versammlung, wie es scheint, ziemlich allein. Freiherr v. Guttenberg-Würzburg berichtete über die Haltung der bayerischen Landwirte gegenüber der Zollpolitik. Der Wunsch einen Getreidezoll zu erlangen, sei von bayerischen Landwirten in größerer Zahl nicht speziell ausgesprochen worden. Nachdem aber von verschiedenen Seiten und zuletzt vom Reichskanzler auch Äußerungen dahin ergangen seien, daß man auf dem Wege der Schutzzölle eine Erhöhung der Einnahmen des Reiches beschaffen und auch Schutz für die zurzeit darniederhegende Industrie und Landwirtschaft suchen müsse, hätten die bayerischen Landwirte ») a. a. 0. S. 246. •) a. a. 0. S. 248. «) a. a. 0. S. 240.

Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft and Schatzzoll.

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geglaubt, daß, wenn man durch mäßige Zölle für den Schutz der Industrie etwas tun wolle, man die Landwirtschaft nicht ausschließen möge, und daß man mäßige Zölle auf landwirtschaftliche Massenprodukte nicht a limine abweisen solle 1 ). Braumüller-Waldeck (Württemberg) schilderte die Stimmung der württembergischen Landwirte. Er legte die Not der Landwirtschaft dar und fuhr dann fort: „Es ist sehr begreiflich, daß man sich nun gefragt hat, wie dieser üblen Lage der Landwirtschaft abzuhelfen sei, und da war man denn von verschiedenen Seiten her, insbesondere von Seiten der Industriellen, aber auch von sehr hoher maßgebender Seite, die augenblickliche Notlage benutzend, emsig bemüht, in die bäuerlichen Kreise das Stichwort „Getreidezölle" hineinzuwerfen, weil dadurch die Einnahmen des einzelnen sollen gesteigert werden können; und es hat, ich kann es nicht leugnen, gehörig verfangen. Beinahe in allen Bauernorten und deren Kreisen, die sich nie mit Zollfragen bis dahin beschäftigt hatten, also auch gewiß kein Verständnis von der Tragweite derselben haben können, hörte man Tag für Tag nichts anderes als: Getreidezölle, Getreidezölle, Getreidezölle! Das hat denn auch gebildeten Landwirten Veranlassung gegeben, diese Frage gerade in bäuerlichen Versammlungen genauer zu ventilieren, und wenn trotzdem bei uns in Württemberg heute noch eine Minderzahl von solchen Landwirten und Bauern sich findet, welche für Getreidezölle schwärmen, so stehe ich nicht an zu behaupten, es ist dies ein künstliches Produkt." Der Landwirtschaftsrat lehnte schließlich einen Antrag Beraberg zugunsten des Programms des Reichskanzlers mit 46 gegen 11 Stimmen ab *) und nahm den Antrag der Kommission an, der sich für Einführung neuer indirekter Reichssteuern aus finanzpolitischen Gründen aussprach und dazu eine Erhöhung der Tabaks- und Biersteuern und der Zölle auf Petroleum und auf Genußmittel wie Wein, Kaffee u. dergl. forderte. Der Absatz der Resolution: „Ist aus finanzpolitischen Gründen bei der in Aussicht genommenen •) a. a. 0. S. 249. «) a. a. 0. S. 263. 6»

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Kapitel IV.

Revision des jetzt geltenden Zolltarifs eine Belastung bisher zollfrei eingehender Artikel unvermeidlich und müssen für dieselben deshalb niedrige Finanzzölle (Eingangsgebühren) eingeführt werden, so erwartet der deutsche Landwirtschaftsrat, daß dabei die Interessen der Landwirtschaft in derselben Weise Berücksichtigung finden, wie die Interessen der Industrie," kam den Absichten der Regierung zwar entgegen, dokumentierte aber, daß nach Ansicht der deutschen Landwirtschaft Zölle auf landwirtschaftliche Produkte nicht erforderlich seien. Man wollte jedoch nicht schlechter, als die Industrie behandelt werden. Um die gleiche Zeit, wie der Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer, am 24. und 25. Februar 1879 beschäftigte sich auch der Kongreß deutscher Landwirte mit dem Reformprogramm des Fürsten Bismarck. Das Referat hatte ein Mitglied des Zentralverbandes deutscher Industrieller, Direktor A. Lohren-Neundorf, der schon 1877 im Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer eine Rolle gespielt hatte. Der Vortragende betonte, es sei stets sein Bestreben gewesen, alle produzierenden Klassen als ein harmonisches Ganze aufzufassen, die Solidarität der Interessen höher zu stellen, als den momentanen Erfolg von Sonderbestrebungen, getreu der patriotischen Devise: „Schutz der nationalen Arbeit, wo immer sie des Schutzes bedarf, sei es in der Fabrik oder in der Werkstatt, im Gewerbe oder im Ackerbau, zu Wasser oder zu Lande." Durch einen, mit statistischen Angaben reichlich ausgestatteten, allerdings nicht immer ganz einwandfreien Rückblick auf die Handelspolitik des Zollvereins suchte er die Behauptung zu beweisen: „Uberall, wo wir genügend hohe Schutzzölle behalten haben, da steigert sich die Produktion, da exportieren wir mehr als wir importieren, da verkaufen wir ebenso billig und billiger als das Ausland. Überall, wo wir Freihandel treiben, da geht unsere Produktion rückwärts, da verlieren wir den inländischen Markt, da produzieren wir teurer als das Ausland 1 )." Durch einen Getreidezoll würde Deutschland nach Ansicht des Redners in den Stand gesetzt werden, noch auf lange Zeit hinaus die Nahrungsmittel, welche es für seine wachsende ') Verhandlungen des Kongresses deutscher Landwirte, 1879, S. 15.

Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft und Schutzzoll.

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Bevölkerung brauche, selbst zu produzieren. Für die Steigerung der Produktivität machte Lohren noch folgenden fQr die spätere Zeit interessanten Vorschlag: „Die Anlage eines mächtigen Kanals1) vom Osten Deutschlands nach Westen, welcher die Fabriken und Eisenlager Westfalens und der Rheinprovinz in direkte Verbindung setzt mit den Getreidekammern Schlesiens und Preußens, das wäre im höchsten Maße eine Schöpfung, welche den Namen eines Rückgrates verdient, denn sie müßte eine Hauptader des wirtschaftlichen Erwerbs- und Verkehrslebens Deutschlands werden*)." Weiter führte der Redner aus: Auch die Zahlen, welche Delbrück in seinem gegen die Getreidezölle gerichteten Briefe an die Zolltarifkommission wiedergebe, bewiesen deutlich, daß der Preis des Getreides in der Zeit des Schutzzolles niedrig gewesen sei und daß er in der Freihandelsperiode stetig höher geworden wäre. Die passive Handelsbilanz Deutschlands, eine Folge des Freihandels, führe zur Verarmung des Landes. Deutschland müßte ein Hauptgewicht darauf legen, besonders dasjenige zu produzieren, was es am allernötigsten brauche, also landwirtschaftliche Produkte, Roh- und Hilfsstoffe für die Industrie, in zweiter Linie das, was andere Käufer von ihm kaufen möchten, und in letzter Reihe das, was es im Überfluß besitze, was andere Völker ebenfalls im Überflusse produzieren und deshalb nur mit Widerstreben von ihm kaufen wollten, d. h. die meisten Fabrikate '). Um die deutsche Handelsbilanz günstiger zu gestalten, müsse man die Einfuhr erschweren und die Ausfuhr erleichtern. Der Redner gab seiner Freude Ausdruck , daß die Delegierten des Zentralverbandes deutscher Industrieller gegen mäßige Zölle auf Rohstoffe nichts einzuwenden hätten, falls die Positionen für Halbfabrikate und fertige Ware dementsprechend erhöht und diese Rohstoffzölle beim Export wieder zurückerstattet würden. Der Ausschuß des Kongresses deutscher Landwirte habe es jedoch, um der Reform des Reichskanzlers nicht neue Hindernisse in den Weg zu legen, für ratsam *) Jenes Kanals, der später als „Mittellandkanal" unversönliche Gegnerschaft gerade bei den Landwirten fand. ») a. a. 0. S. 17. ») a. a. 0. S. 24.

86

Kapitel IV.

gehalten, vorläufig die Zölle für Rohstoffe niedriger anzunehmen, so

daß

Einfluß

sie

auf

den

Preis

ausüben könnten,

E x p o r t ausgeschlossen wie Petroleum, wirtschaft

der

Ware

keinen

nennenswerten

mithin eine Zollrückvergütung

bleibe.

beim

Nur in bezug auf Gegenstände,

Schmalz, zubereitetes Fleisch, welche der Land-

empfindliche

Konkurrenz

bereiteten,

die

Industrie

wenig oder gar nicht tangierten und die Unabhängigkeit in der Ernährungsfähigkeit bedrohten, aus notwendig.

erschienen höhere Zölle durch-

Um Handel und Schiffahrt zu fördern,

müsse

man bestimmen, daß alle außereuropäischen Waren, welche nicht direkt, sondern über ausländische Märkte und Hafenplätze nach Deutschland befördert würden, den doppelten Eingangszoll

zu

tragen hätten x ). In der Debatte wurde das Bündnis zwischen Industrie und Landwirtschaft besiegelt durch eine Erklärung des Vorsitzenden des Zentralverbandes deutscher Industrieller, Schwarzkopff:

„Ich

habe nur namens des Zentralverbandes zu erklären, daß wir uns, wo die Gefahr für uns alle eine immer drohendere wird, gewiß jetzt einmütig zusammenscharen werden, um das hohe Ziel zu erreichen, welches unser Fürst-Reichskanzler als sein Programm ausgesprochen hat * ) . "

Schwarzkopff erinnerte dann an die Resolution, welche

der Zentralverband soeben angenommen hatte und welche folgendermaßen lautete: „Der Zentralverband deutscher Industrieller spricht seine volle Zustimmung zu dem in dem Schreiben des FürstenReichskanzlers vom 15. Dezember v. J . entwickelten System einer ausgiebigen indirekten Besteuerung, namentlich zu einer Besteuerung ausländischer Konsumtionsartikel aus, insbesondere erklärt derselbe, daß er vom Standpunkte einer geschützten nationalen Industrie und Gewerbstätigkeit

aus gegen den

entsprechenden

Schutz der vaterländischen Landwirtschaft, also auch gegen einen mäßigen Getreide- und Viehzoll, nichts zu erinnern findet und davon keinen Nachteil weder für die deutsche Industrie noch für die in derselben beschäftigten Arbeiter befürchtet." ') a. a. 0. S. 23. •) a. a. 0. S. 34. ») a. a. 0. S. 36.

s

)

Die Umkehr der Wirtschaftspolitik. Landwirtschaft and Schatzzoll.

87

Während sich noch in der Versammlung der Steuer- und Wirtschaftsreformer im Jahre 1878 lebhaftes Mißtrauen gegen die Freundschaftsversicherungen der Industrie geltend gemacht hatte, fand jetzt Freiherr v. Mirbach nicht den geringsten Widerspruch, als er erklärte: „Ich glaube, wir alle, die wir hier versammelt sind, haben keinen Grund, daran zu zweifeln, daß das Entgegenkommen der Industrie ein vollständig klares, ein unverbrüchliches Bündnis involviert. Meine Herren, ich bitte Sie, aber auch unsererseits dasselbe Verhalten einzuschlagen und dankbar die Hand zu akzeptieren, die uns gereicht wird 1 )." Die beiden folgenden Referenten und die übrigen Diskussionsredner brachten keine neuen Gesichtspunkte von erheblicher Bedeutung bei. Bemerkenswert war nur noch eine Äußerung des Regierungsrats Schück vom Präsidium des Zentralverbandes deutscher Industrieller, der der Landwirtschaft den Rang vor Handwerk und Industrie einräumte und den Untergang Deutschlands in Aussicht stellte für den Fall, daß diese Stufenfolge außer acht gelassen würde. Dr. Stolp suchte die Getreidepreise zu stabilieren, indem er vorschlug, daß seitens der Staatsgewalt zunächst der angemessene Preis für die Produkte der Landwirtschaft ermittelt werden müsse. Dann müsse durch Erhebung von Preisdifferenzzöllen dafür gesorgt werden, daß dieser Preis erhalten bleibe. Dr. Frege-Abtnaundorf meinte, daß die Forderung nach Einführung von Agrarzöllen gerade im Interesse der kleinen Bauern gestellt werden müsse; vom Standpunkte des Großgrundbesitzes aus wären vielleicht Tarifermäßigungen für den Spiritusabsatz und Frachtvergünstigungen für einzelne Artikel, die zu den technischen Nebengewerben der Landwirtschaft gehörten, vorzuziehen. Der Versammlung war der Entwurf eines Zolltarifes für landwirtschaftliche Produkte vorgelegt worden, der aber dem Ausschuß zur Umarbeitung zurückgegeben wurde, da unter seinen einzelnen Positionen keine genügende Gleichmäßigkeit zu bestehen schien. Die Umarbeitung erfolgte noch am Abend des ersten Verhandlungstages in beinahe fünfstündiger Sitzung. Der neue Tarifvorschlag >) a. a. 0. S. 36.

88

Kapitel IV.

wies durchschnittlich Sätze von 5 bis 8 % des Wertes auf; nur in einigen wenigen Fällen betrugen die Zollsätze fast 10%, und bei Wolle begnügte man sich mit i y 2 bis 2 % . Der umgearbeitete Tarif wurde mit allen gegen 7 Stimmen angenommen. Doch wurde mit Bezug auf den Zolltarif nach dem Antrag Gontard-Mockau folgende Resolution angenommen: „Der Kongreß deutscher Landwirte erklärt sich mit den ihm von seinem Ausschuß vorgelegten Zollpositionen, insbesondere den für Getreide und Hülsenfrüchte, ausdrücklich nur unter der Voraussetzung einverstanden, daß die Bemühungen des Herrn Reichskanzlers, die Differential- und Ausnahmefrachtsätze mindestens für ausländische Zerealien in Wegfall zu bringen, mit Erfolg gekrönt sein würden. Andernfalls hätte der Kongreß seine Forderungen viel höher stellen müssen, um eine genügende Rentabilität der deutschen Landwirtschaft zu sichern." Ferner beauftragte der Kongreß seinen Ausschuß, dem FürstenReichskanzler durch eine Deputation den Dank des Kongresses „für die in der Zoll-, Steuer- und Eisenbahnpolitik ergriffene hochherzige Initiative" auszusprechen. Von Dr. Calberla lag dem Kongreß dann noch ein Antrag vor, in dem der Wunsch ausgesprochen war, daß alle erheblichen Importartikel gleichmäßig mit Zöllen belegt werden möchten, und zwar unter Berücksichtigung ihres Wertes oder, soweit es sich ermitteln lasse, je nach dem in Arbeitszeit ausgedrücktem Quantum deutscher Arbeit, welches in ihnen vergegenständlicht sei. Dieser Antrag wurde an den Ausschuß verwiesen. So standen denn die ausschlaggebenden Körperschaften, die die landwirtschaftlichen Interessen vertraten, in ihrer Mehrzahl mehr oder weniger überzeugt, auf dem neuen wirtschaftspolitischen Programm des Fürsten Bismarck. Außerhalb des Reichstages waren Industrie und Landwirtschaft für die Schutzzölle gewonnen. Es galt nun, die gleiche Majorität auch in der gesetzgebenden Körperschaft zu erhalten.

Kapitel V.

Der Zolltarif von 1879. Fürst Bismarck und die politischen Parteien. Die Entscheidung in diesen wirtschaftspolitischen Kämpfen brachten weder Massenversammlungen und Petitionen noch geistreiche Bücher, wie Wilmanns „goldene Internationale", die „zur Emanzipation der redlichen Erwerbsmacht von der Herrschaft der privilegierten Geldmacht" aufriefen, sondern andere Faktoren. Schon die Wahlen des Jahres 1877 hatten die Zusammensetzung des Deutschen Reichstages nicht unerheblich geändert. Die nationalliberale Partei hatte ihre maßgebende Stellung verloren, sie war von 152 auf 127 Mitglieder zurückgegangen und nicht mehr imstande, mit der Fortschrittspartei, die von 49 auf 35 Sitze gesunken war, die Mehrheit zu bilden.

Trotzdem faßte Bismarck

im Laufe des Jahres 1877 den Entschluß, den Nationalliberalen Aufnahme in das preußische Ministerium zu gewähren, und bot zu diesem Zwecke Bennigsen im Juli und im Dezember 1877, als Nachfolger Eulenburgs, einen Sitz im Ministerium an.

Bennigsens

Forderung, noch zwei andere Führer der Partei, Forckenbeck und Stauffenberg, gleichfalls in leitende Stellen im Reiche und in Preußen zu übernehmen, lehnte Bismarck sofort als „ SystemWechsel" ab und ließ dann, auf einen gereizten Brief des Kaisers, in den letzten Tagen des Jahres 1877 die Kandidatur Bennigsens überhaupt fallen, da auch dieser sich energisch gegen das von Bismarck

projektierte

Tabaksmonopol

aussprach 1 ).

Einen

Stützpunkt in der Zentrumspartei zu finden, war für den Mann ' ) Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, I I S. 181.

90

Kapitel V.

des Kulturkampfes unmöglich zu einer Zeit, da der Papst im Mai 1877 sich dazu verstieg, von einem deutschen Attila zu sprechen. Wilhelm I. betrachtete es überhaupt als eine „Zumutung, daß er aufhören solle, konservativ zu regieren" 1 ). Zu Anfang des Jahres 1877 war in wirtschaftspolitischer Beziehung keine Änderung in der Haltung der Begierung zu ersehen. Die Thronrede zur Eröffnung des Beichstages am 22. Februar 1877 versuchte demnach auch nicht, die andauernd gedrückte Lage durch die inneren Zustände des Beiches zu erklären. Ein Abweichen von der bisherigen Politik konnte höchstens in der Ankündigung eines Entwurfes zu einem Patentgesetz erblickt werden, das den Klagen über den Mangel einer gemeinsamen Gesetzgebung zum Schutze gewerblicher Erfindungen abhelfen sollte. Nicht ohne Bedenken sah man in den Kreisen der radikalen Freihändler auch schon dieser Beschränkung des laisser aller-Prinzipes entgegen. Das ganze Freihandelssystem hatte faktisch schon seit 1875 abzubröckeln begonnen. Die Landwirtschaft, die den Wunsch haben mußte, ihre Geräte und Maschinen möglichst billig aus England zu beziehen, war bis dahin stets für Ermäßigung oder Abschaffung der Eisenzölle eingetreten. Dazu kam die Furcht, nach Einführung von industriellen Schutzzöllen höhere Arbeitslöhne zahlen zu müssen und die instinktive Abneigung der ackerbautreibenden bodenständigen Bevölkerung gegen die vagierende, Menschenkraft durch Maschinen ersetzende Industrie. Die deutsche Landwirtschaft, besonders die preußischen und pommerschen Großgrundbesitzer, konnte sich auch von einem Getreideschutzzoll keinen Vorteil versprechen, denn Deutschland war bis dahin ein im Getreideverkehr überwiegend exportierendes Land. Betrug doch der Weizenexport aus Deutschland im Jahre 1875 noch 5,7 Mill. Meterzentner. Das Hauptabsatzgebiet war England, das man sich nicht verschließen wollte. Nach 1875 änderte sich das Bild. Indien trat als Weizenexportland auf, die Vereinigten Staaten und Bußland vergrößerten ihre Ausfuhr. Die deutsche ') ibid. S. 183.

Der Zolltarif von 1879.

91

Weizenausfuhr war bis zum Jahre 1880 auf 1,8 Mill. Meterzentner gesunken.

In gleichem Maße stieg auch die Weizeneinfuhr nach

Deutschland

von

4 , 9 Mill. Meterzentner

10,6 MilL Meterzentner im Jahre 1878. zweiten Hälfte der

im

Jahre

1875

auf

Die eigene Not in der

70 er Jahre drängte die Landwirte an die

Seite der Industrie. Der Stimmungsumschwung des Volkes kam aber Ausdruck

in den

erst zum

auf die Auflösung des Reichstages folgenden

Neuwahlen des Jahres 1878.

War der Reichstag auch aufgelöst

worden, weil er das auf die Attentate gegen Wilhelm I. eingebrachte Sozialistengesetz nicht annehmen wollte,

so kamen die

Resultate doch noch mehr der inzwischen neugewonnenen wirtschaftlichen Richtung zugute. servativen

Parteien

Die Zahl der den beiden kon-

angehörenden Abgeordneten war nach den

Wahlen von 78 auf 115 gestiegen, die Zahl der nationalliberalen Mandate von 127 auf 98, die der fortschrittlichen von 3 5 auf 26 gesunken.

Das Zentrum behielt seine 9 3 Abgeordneten unver-

ändert. Es galt nun zunächst, die Unterstützung einer der beiden Parteien des Reichstages, der Nationalliberalen oder des Zentrums, für die konservativ agrarischen Zwecke der Steuer- und Wirtschaftsreformer zu gewinnen. Bereits im März 1878, noch vor der Auflösung des Reichstages, hatte sich unter der Ägide des früheren württembergischen Ministers Varnbüler eine freie Vereinigung schutzzöllnerischer Abgeordneten

aus Mitgliedern verschiedener

gebildet, die zu Anfang nur 60 Stimmen zählte.

Parteien

Nach der Auf-

lösung bestand der neugewählte Reichstag aus drei annähernd gleich starken Parteien, dem Zentrum, den Konservativen und den Liberalen aller Schattierungen. liberalen

in

Doch während die National-

wirtschaftlichen Fragen

gespalten

waren —

eine

schutzzöllnerische Minorität unter Löwe löste sich von den freihändlerischen Prinzipien Laskers

und Bambergers ab —,

fast das ganze Zentrum, 87 Mann stark,

trat

unter Windhorst und

v. Schorlemer-Alst der wirtschaftlichen Vereinigung der Schutzzöllner bei,

die nun mit der Mehrheit der Konservativen (75)

und der Minderheit

der

Nationalliberalen

(27)

und

anderen

Kapitel V.

92

Parteien in ihrem Programm mit 204 Unterschriften die weitaus stärkste Fraktion in wirtschaftspolitischen Fragen darstellte. Die Partei der Schutzzöllner hatte alles vermieden, was das Zentrum hätte verletzen können, und dieses erkannte auch mit einigen Einschränkungen an, daß das Programm der Steuerund Wirtschaftsreformer entschieden objektiv gehalten sei *). Mit aufrichtiger Genugtuung konnten die Klerikalen konstatieren, daß selbst der Verfasser der goldenen Internationale, der es in diesem Buche an Seitenhieben auf den Ultramontanismus nicht hatte fehlen lassen, jetzt auf demselben konservativen Standpunkte und folglich in gleichem Gegensatze zu der Maigesetzgebung stehe, wie die Ultramontanen selbst a ). Es schien daher auch im Interesse der Steuer- und Wirtschaftsreformer zu liegen, dem Zentrum die Hand zu reichen, wie es ihnen auch eine Forderung des konservativen Prinzips war. Die ultramontane Fabel, daß die Nationalliberalen den Kulturkampf nur inszeniert hätten, um bei den Börsen- und Gründeroperationen im Trüben fischen zu können, wurde jetzt auch in protestantischen Kreisen zitiert, deren preußisch-monarchische Loyalität übpr jeden Zweifel erhaben war 3 ). Ein besonderes Lob wurde den Schutzzöllnern von der katholischen Presse erteilt. Die historisch - politischen Blätter der Görres - Gesellschaft fügten einer Besprechung des agrarischen Parteiprogramms die Worte hinzu: Die Anschauung der neuen Partei grenze schon sehr nahe „an die billige Würdigung des deutschen Mittelalters" und fügte dann noch hinzu, „man könne darum immer noch ein guter Protestant sein". Als nun der Interessenkampf losbrach, da war die Zentrumspartei der tertius gaudens, und triumphierend verkündeten ihre Blätter: Auf die Katholiken fällt bei diesem Kampfe kein Odium; sie haben die volkswirtschaftlichen Ubelstände nicht gemacht und können bei dem großen Streite die Unparteiischen darstellen 4 ). Und es war auch nicht zweifelhaft, auf welcher Seite diese Unparteiischen stehen ') ») 3 ) 4 )

Hist. pol. Blätter f. d. kath. Deutschland, 1877 S. 609. a. a. O. 1877 S. 819 ff. a. a. O. 1876 S. 661. a. a. 0. 1878 S. 629.

Der Zolltarif von 1879. würden.

93

Meist gewählt in den rein industriellen Bezirken des

Rheinlandes und Westfalens unter der Führerschaft von Windhorst und des Freiherrn v. Schorlemer-Alst, des „westfälischen Bauernkönigs", hätten sie ihre ganze Vergangenheit verleugnet, wenn sie nicht schon im Gegensatz zum ökonomischen Liberalismus in überwiegender

Mehrheit

für

„wahrhafte"

Schutzzölle

eingetreten

wären *). Über den Nutzen des Getreidezolles selbst sprach man sich in den Reihen der Partei allerdings damals noch ziemlich skeptisch aus.

So äußerten sich die Historisch-politischen Blätter im J a h r e

1879:

„Uberhaupt dürfte sich die Landwirtschaft sehr täuschen,

wenn sie von den vorgeschlagenen Vieh- und Getreidezöllen, die gegenüber gewissen industriellen ohnehin auffallend niedrig bemessen sind, einen wesentlichen Schutz ihrer Produktion erwartet. Den großen Grundbesitzern mag die Maßregel einigermaßen zugute kommen, die kleinen werden unter der unausbleiblichen Folge, nämlich unter der allgemeinen Verteuerung der Lebensmittel,

selbst

mitzuleiden haben.

notwendigsten

Die Konkurrenz

der

überseeischen und anderen fremden Länder aber, welche noch unausgesogenen Boden haben, der um ein billiges zu erwerben, mit Schulden und Steuern nicht überlastet ist, wird durch solche Zölle doch nicht ausgeschlossen.

Die neuen Kommunikationsmittel zu

Wasser und zu Lande, aus Rußland, aus Amerika und Australien, sie sind der Feind unserer Landwirtschaft, und dieser Feind wird unüberwindlich sein, die Zukunft unserer Landwirtschaft

wird

trübe bleiben und sich noch trüber gestalten, wenn man ihre Existenz nicht erleichtert, anstatt sie abermals wieder mit Finanzzöllen und neuen indirekten Steuern zu belasten.

Die 160 Millionen Mark

oder mehr, was die Zoll- und Steuerreform in die Reichskasse bringen soll, werden doch auch wieder aus den Taschen des Volkes und nicht zum mindesten aus denen der Bauern genommen.

Die

letzteren werden vielleicht erfahren, daß mit der einen Hand mehr genommen, als mit der andern gegeben wird. 2 )"

Trotzdem

war

zunächst das Zentrum für die Schutzzollidee gewonnen worden. •) a. a. 0. 1879 S. 793. ») a. a. 0 . 1879 S. 791.

Kapitel V.

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Die Zielpunkte der Wirtschaftlichen Vereinigung lauteten im wesentlichen: Schutzzölle für die Industrien, mäßige Getreidezölle, Abschaffung der Differentialtarife. Ihr Wortführer, der frühere württembergische Minister Varnbüler, richtete in einem Schreiben vom 19. Oktober 1878 die Frage an den Kanzler, ob es seine Absicht sei, dem Reichstage bei der nächsten Session den Entwurf eines revidierten Zolltarifes vorzulegen, und ob, bis dies geschehe, die Regierung einen neuen Konventionaltarif abschließen werde. Der Kanzler antwortete am 25. Oktober ganz im Sinne des Varnbülerschen Antrages, daß er eine umfassende Revision des Zolltarifes herbeiführen und bis zur Erledigung dieser Frage keine neuen Handelsverträge mit Konventionaltarifen abschließen werde. Bismarck hatte seine Wendung vom Freihandel zum Schutzzoll vollbracht. Ein treffendes Urteil über die volkswirtschaftliche Stellung des ersten Reichskanzlers hat Schmoller gefällt, wenn er sagt: „Bismarck steht auf der Grenzscheide zwischen einem manchesterlich und einem sozialistisch gefärbten Zeitalter. . . . Er konnte nicht ohne eine gewisse sozialpolitische Ader sein, weil er die soziale Umbildung der Klassen und die ganze Neugestaltung der Volkswirtschaft im allgemeinen richtig erfaßt hatte. . . . Aber er war andererseits ein knorriger Aristokrat, der in seinem Hause, auf seinem Gute, in seiner Fabrik von keinem Staatsbeamten kontrolliert sein wollte 1 )." Es ist ganz und gar unmöglich, bei Bismarck viel mehr noch als bei jedem andern Staatsmanne, den Politiker von dem Volkswirt zu trennen. Der plötzlich erscheinende Umschwung der ganzen Bismarckschen Wirtschaftspolitik kann daher nur im Rahmen der innerpolitischen Geschichte der Jahre 1877 und 1878 erfaßt und verstanden werden. Bismarck war alles andere, nur kein Theoretiker. Die Schulmeinungen der Adam Smithschen Richtung waren ihm ebenso gleichgültig wie die von List und später die der Kathedersozialisten. 1

S. 27.

) Schmoller, Vier sozialpolitische Briefe an die Soziale Praxis.

1899,

Der Zolltarif von 1879.

95

Sein realpraktischer Sinn fragte stets nur danach, was unter den augenblicklich gegebenen Verhältnissen das Nützlichste sei. Bei den gewaltigen Aufgaben, welche dem Kanzler in den sechziger und siebziger Jahren gestellt waren, mußte ihm zunächst das Interesse für wirtschaftliche Dinge ferner liegen, zumal es sein Grundsatz war: quieta non movere. Die Landw rtschaft und der mit ihr eng verbundene Handel, die beiden bis dahin weitaus mächtigsten Gruppen des deutschen Volkes, fanden bis gegen die Mitte der siebziger Jahre ihr reichliches Unterkommen in dem Gebäude, das der Freihandel ihnen errichtet hatte. Nur einzelne Industrien waren schutzlos dem Eindringen der fremden Elemente preisgegeben. Bis dahin hielt es Bismarck, der stets die Majoritäten betonte, nicht für seine Aufgabe, durch eine Einführung schutzzöllnerischer Ideen diesen wenigen auf Kosten der Gesamtheit zu helfen. Als sich später dieses Gleichgewicht zu verschieben begann, als der Export landwirtschaftlicher Produkte aufhörte und der ungeheure Aufschwung der Industrie erfolgte, machte Bismarck einfach die entsprechende Schwenkung mit, und als die Mehrzahl des deutschen Volkes sich dem protektionistischen System zuzuneigen begann, wurde er, weil er das Interesse der Mehrheit des Volkes gewahrt wissen wollte, ihr eifrigster Wortführer. Den Blick in die Zukunft des deutschen Wirtschaftslebens konnte Bismarck im Jahre 1878 allerdings noch nicht haben, den glänzenden Aufschwung der deutschen Industrie durch die Schutzzölle noch nicht ahnen. Es waren daher auch nicht so sehr wirtschaftspolitische Motive, die Bismarck aus einem Freihändler zum Schutzzöllner machten, als vielmehr in erster Linie f i n a n z p o l i t i s c h e . Ihm lag in der Hauptsache daran, das Reich finanziell auf eigene Füße zu stellen, es aus einem „Kostgänger der Einzelstaaten zu ihrem freigebigen Versorger" zu machen. Ihm waren auch die Schutzzölle in diesem wichtigen Abschnitte seines Wirkens nicht ein Resultat volkswirtschaftlicher Überlegungen, sondern einfach eine Erwägung der Finanzpolitik. Monopole oder Zölle war die Alternative, die er dem Volke zur Befriedigung der Reichsbedürfnisse stellte. Wäre ihm im Jahre 1878 das Tabaks-

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Kapitel V.

monopol vom Reichstage bewilligt worden, er wäre vielleicht nie, sicher aber erst in weit späteren Jahren von der Freihandelspolitik abgewichen. Durch die Ablehnung der Monopole gezwungen, suchte er nach andern indirekten Steuern und fand sie in den Zöllen. Denn er sah in den Zöllen im allgemeinen nur Finanzzölle. Sein Hauptbestreben war stets, das Reich den Einzelstaaten gegenüber in finanzieller Beziehung auf eigene Füße zu stellen. Als Reichs einnahmen betrachtete er die Zölle, und von demselben Standpunkt aus später die, meist nicht geglückten, Versuche einer Verstaatlichung der Eisenbahnen durch das Reich. Dahin ging Bismarcks Ideal, möglichst ausschließlich durch indirekte Steuern den Staatsbedarf aufzubringen. Die Gehässigkeit der direkten Steuern, besonders der Grundsteuer, verwarf er und schwärmte für die Ausbildung der indirekten Steuern in England und Frankreich, die mit dem steigenden Wohlstande den Regierungen immer reichere Mittel in die Hände gaben. Von diesem Standpunkt der indirekten Steuern aus betrachtete er auch die Zollfragen. Die zweite Session der dritten Legislaturperiode des Deutschen Reichstages wurde am 6. Februar 1878 eröffnet. In der Thronrede wurde eine höhere Besteuerung des Tabaks angekündigt, wodurch einer Erhöhung der Matrikularbeiträge vorgebeugt und die eigenen Einnahmen des Reiches erhöht werden sollten. In der Beratung über diesen Gesetzentwurf am 22. Februar erklärte der Reichskanzler, daß er auf dem Wege der Monopole und indirekten Steuern zu einer Gesamtreform der Reichssteuern überhaupt zu gelangen hoffe. „Sie wissen von mir," sagte er, „daß ich ein Gegner der direkten, ein Freund der indirekten Steuern bin, daß ich auf diesem Gebiete eine umfassende Reform anstrebe, die das Reich aus arm, wie es jetzt ist, wirklich reich macht. Mein Ideal ist nicht ein Reich, das vor den Türen der Einzelstaaten seine Matrikularbeiträge einsammeln muß, sondern ein Reich, welches, da es d i e H a u p t quelle guter F i n a n z e n , die i n d i r e k t e n S t e u e r n , unter Verschluß hält, imstande wäre, an alle Partikular gtaaten herauszuzahlen" *) . . . . In diesen Worten liegt der ') Bismarcks parlam. Reden Bd. IX, S. 86.

Der Zolltarif von 1879.

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Schlüssel zur Umkehr der deutschen Wirtschaftspolitik im Jahre 1878. Allerdings konnte der Kanzler sich nicht verhehlen, daß eine so völlige Umgestaltung der ganzen Wirtschaftspolitik ein ungeheuer weittragendes Unternehmen sei. Doch gerade der bevorstehende Kampf schien seine Kräfte zu stählen. „Wenn ein Jäger," sagte er schon im Januar 1877 in einem seiner prächtigen Vergleiche, „den die Jahre zu drücken anfangen, einen halben Tag auf der Hühnerjagd zugebracht hat, immer nur Kartoffelkraut unter sich und die Aussicht auf das kleine Geflügel vor sich, so verliert sich die Lust an der Sache; er denkt an den Mittag und den Lehnstuhl und gibt die Völker auf, die er vielleicht noch aufspüren könnte. Wird ihm aber gemeldet, daß einige starke Keiler eingespürt sind, so erwacht die alte Passion, und er fühlt sich wieder jeder Anstrengung g e w a c h s e n . " Z u der Jagd, die er nun anstellte, suchte er vor allem die Streitigkeiten im Lager seiner Jagdgenossen zu beseitigen. Noch war das gegenseitige Mißtrauen über das unnatürlich scheinende Bündnis zwischen Landwirtschaft und Industrie in beiden Lagern keineswegs geschwunden. Die Landwirte sagten sich wohl, daß ihr Vorteil bei billiger Einfuhr von Industrieerzeugnissen wohl die Getreidezölle aufwiege, und die Großindustriellen konnten ihrerseits kein Interesse an landwirtschaftlichen Schutzzöllen haben, die ihren Arbeitern die notwendigsten Lebensbedürfnisse verteuerten und dadurch den Lohn steigerten. Fürst Bismarck baute die Brücke, um diese widerstreitenden Interessen zu vereinigen. „Die Weihnachtsglocken des Jahres 1878 läuten eine-vollständig neue Ära in allen Wirtschaftsfragen ein", so begrüßte die Volkswirtschaftliche Korrespondenz die beiden Schreiben des Reichskanzlers an den Bundesrat, betreffend die Ziele bei der Tarifreform. In seinem ersten Schreiben an den Bundesrat vom 12. November 1878 hatte der Fürst neben der Befriedigung der finanziellen Bedürfnisse des Reiches als wünschenswert hingestellt, den nationalen Erzeugnissen in erhöhtem Maße auch die Vcr') PoechiiLger, Fürst Bismarck als Volkswirt, I S. 111. Croner, Agrarische Bnr«rnng. 7

Kapitel V.

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sorgung des heimischen Marktes vorzubehalten.

Er beantragte

die Einsetzung einer Sachverständigenkommission, die dem Bundesrate Vorschläge zur Revision des Zolltarifes machen sollte.

Der

Bundesrat kam dem Wunsche nach und beschloß die Einsetzung einer Kommission von 15 Mitgliedern, von denen der Reichskanzler und Preußen je drei, Bayern zwei und sieben andere Staaten je ein Mitglied zu ernennen hatten.

In dem zweiten Schreiben

vom 15. Dezember desselben Jahres an den Bundesrat setzte Bismarck seine wirtschaftlichen Theorien auseinander.

Durchweg ging

er hierin von dem Standpunkte aus, daß die Zölle reine Finanzzölle, d. h. lediglich Einnahmequellen des Reiches sein so lten. Er betonte die Notwendigkeit des Ausbaues der indirekten Steuern, indem er nachzuweisen

suchte,

daß

die

Doppelbesteuerung

des

Grund-

besitzers durch Staat und Kommunen auf 12 bis 20% gestiegen sei.

In

volkswirtschaftlicher

Beziehung

wollte

er nicht

ent-

scheiden, ob ein Zustand vollkommen gegenseitiger Freiheit des internationalen Verkehrs dem Interesse Deutschlands entsprechen würde.

Solange aber die meisten anderen Länder sich mit Zoll-

schranken umgäben, erscheine es im wirtschaftlichen Interesse der Nation geboten, deutschen Produkten einen Vorzug zu gewähren. Bei allen Artikeln, die das Inland selbst in beträchtlichem Umfange hervorbringe, werde das Ausland den Zoll ganz oder teilweise tragen müssen. Mit diesem Manifest hatte der Kanzler endgültig mit dem Freihandel gebrochen und sich, mit Jubel von den Schutzzöllnern begrüßt,

an ihre

in rascheren Fluß.

Spitze

gestellt.

Damit

kam

die

Bewegung

Schon am 3. Januar 1879 hielt die Tarifkom-

mission unter dem Vorsitz des Abgeordneten Freiherrn v. Varnbüler ihre erste Sitzung.

A m 12. Februar wurde der Reichstag

persönlich vom Kaiser mit einer Thronrede eröSnet, in der es hieß: „ I c h halte es für meine Pflicht, dahin zu wirken, daß wenigstens der deutsche Markt der nationalen Produktion insoweit erhalten werde, als dies mit unseren Gesamtinteressen verträglich ist, und daß demgemäß unsere Zollgesetzgebung den bewährten Grundsätzen wieder nähertrete, auf welchem die gedeihliche Wirksamkeit des Zollvereins fast ein halbes Jahrhundert beruht und welche in

Der Zolltarif von 1879.

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unserer Handelspolitik seit dem Jahre 1865 in wesentlichen Teilen verlassen worden sind. Ich vermag nicht zu erkennen, daß tatsächliche Erfolge dieser Wendung unserer Zollpolitik zur Seite gestanden haben." Am gleichen Tage begann man die Beratung der Tarifreform. Die Uberale Mehrheit, die Bismarck bis dahin unterstützt hatte, war zusammengeschmolzen und gespalten. Die Fortschrittler waren gegen den Tarif, die Nationalliberalen der Fraktion Löwe für industrielle Schutzzölle, der Laskersche Teil für Finanzzölle. Die Sozialdemokraten, an Zahl gering und wenig beachtct infolge der Attentate des vorigen Jahres, waren gegen den Tarif, besonders gegen die Getreidezölle. Die konservative Partei war bis auf einen ganz kleinen Teil, der am Freihändlertum festhielt, für die Tarifreform. Mit Freuden begrüßte der Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer, dem jetzt die Mehrzahl der Konservativen angehörten, das Schreiben Bismarcks als „den Wendepunkt der inneren deutschen Geschichte, als den Anfang der lange ersehnten Besserung" 2). Die einflußreichsten Redner des Vereins, Frege, Thüngen und Mirbach, gehörten der Wirtschaftlichen Vereinigung an. Am 16 Dezember 1878 war mit Österreich-Ungarn auf ein Jahr ein Handelsvertrag abgeschlossen. Nachdem am 20. Februar 1879 in der ersten Beratung über diesen Handelsvertrag der Abgeordnete Richter (Hagen) sich für den Vertrag ausgesprochen hatte und dabei den Kanzler, „der jetzt vor uns erscheint als ein Schutzzöllner, wie er sonst überhaupt nicht mehr vorkommt und vor dem es den eigentlichen Schutzzöllnern sogar unheimlich zu werden anfängt", heftig angriff, antwortete Bismarck am 21. Februar. Der Kanzler nahm hierbei Gelegenheit, sich weniger über den vorliegenden Handelsvertrag als über seine gesamte neugewonnene wirtschaftliche Stellung auszusprechen. Der Fürst erklärte, daß er zur Zeit des preußisch-französischen Handelsvertrages 1862 wirtschaftliche Tendenzen überhaupt noch nicht gehabt, sondern sich vertrauensvoll der Führung Delbrücks überlassen ') Thronrede zur Eröffnung des Deutschen Reichstages vom 12. Febr. 1879. In Horst Kohl: Dreißig Jahre preußisch-deutscher Geschichte, S. 225. •) Verhdl. der Steuer- und Wirtschaftsreformer, 1879. S. 7. 7*

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Kapitel V.

habe, der die erste Autorität in wirtschaftlichen Dingen damals gewesen sei. Er selbst sei ein Mann, der an Autoritäten glaube. Jetzt nach Delbrücks Rücktritt sei er gezwungen, sich selbst eine Meinung über die wirtschaftlichen Fragen zu bilden, in denen er früher der Führung Delbrücks gefolgt sei. Der Fürst erklärte dann noch, daß es sein Ideal gewesen sei, den Zolltarif auf wenige Finanzzölle zurückzuführen, und erinnerte dann an das ihm abgeschlagene Tabakmonopol. Dem Kanzler antworteten von freihändlerischer Seite die Abgeordneten Richter, Bamberger, Oechelhäuser und Bunsen, von den Schutzzöllnern LöweBochum und v. Kardorff. Der Handelsvertrag mit Österreich wurde in der dritten Lesung am 25. Februar 1879 fast einstimmig genehmigt. Nach den Osterferien fand die Beratung des Zolltarifentwurfes in der von der freien volkswirtschaftlichen Vereinigung des Reichstages vorgeschlagenen Form statt, nach der 21 Positionen des Tarifs, darunter die für Eisen, Getreide, Holz und Vieh, im Plenum beraten, alle anderen einer Kommission überwiesen wurden. Die Zeit zwischen den einzelnen Beratungen des Zolltarifs füllte Bismarck damit aus, die Bande zwischen Landwirtschaft und Industrie enger zu knüpfen. Noch nie hatte er so lebhaft agitiert wie in dieser Frage. Seine „Bauernbriefe", seine parlamentarischen und sonstigen Reden hallten von diesem Wunsche immer wider; Landwirtschaft und Industrie sollten zusammenhalten in dem Bewußtsein, daß beiden das Bedürfnis gemein sei, gegen die Vorteile vertreten zu werden, welche die bisherige Gesetzgebung dem Auslande gewährt habe 1 ). Dieselbe Mahnung erteilte er auf ein Schreiben aus industriellen Kreisen: „Der Landwirtschaft schuldet der Staat die gleiche Beachtung wie der Industrie; wenn beide nicht Hand in Hand gehen, wird keine ohne die andere stark genug sein, sich zu helfen" *). Den Höhepunkt seiner Bemühungen bildete aber ein Brief an den Freiherrn v. Thüngen ') Schreiben an den Bürgermeister Kerckhoff zu Altenburg vom 24. Januar 1873. Poschinger, Fürst Bismarck als Volkswirt, I S. 184 >) Schreiben an das Stadtverordnetenkollegium in Barmen vom 20. Januar 1873. Poschinger a. a. 0.

Der Zolltarif von 1879.

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vom 16. April 1879, in dem sich der Reichskanzler offen für einen noch höheren Schutz der Landwirtschaft aussprach, als er ihn in den Verhandlungen im Bundesrat habe erhalten können. Er hatte im Widerspruch zu den meisten süd- und mitteldeutschen Bundesstaaten einen Roggenzoll von 1 M. pro 100 kg statt des vorgeschlagenen von 50 Pf. für nötig gehalten. In der 36. Sitzung des Reichstages, am 2. Mai, gelangte der Gesetzentwurf betreffend den Zolltarif des deutschen Zollgebietes zur ersten Beratung, die am 2., 3., 5., 6., 8., 9. Mai den Reichstag beschäftigte. Eingeleitet wurden die Verhandlungen durch eine Rede Bismarcks. Er legte dar, daß das Bedürfnis einer Finanzreform in Deutschland alt sei und namentlich in Preußen schon vor 1866 bestanden habe. Der Zustand der deutschen Gesamtfinanzen fordere auf das dringlichste zu einer baldigen schleunigen Reform auf. Die Reichsverfassung setze voraus, daß der Zustand der Matrikularbeiträge vorübergehend sei und nur so lange dauern werde, bis Reichssteuern eingeführt wären. Die Matrikularumlage stelle eine gänzlich ungerechte Verteilung der Lasten des Reiches auf die Gliedstaaten dar. Man müsse andere Einnahmen finden. Natürlich sei es nicht der Zweck, wie mehrfach behauptet sei, diese Einnahmen willkürlich über den Bedarf des Reiches zu' steigern, denn mit solchen Geschenken an die Gliedstaaten habe man sich schon bei der Verteilung der Kriegsentschädigung Schwierigkeiten bereitet. Außer diesem Motive, dem Bedürfnis der finanziellen Selbständigkeit des Reiches, liege ein zweites Motiv in der Frage: Ist die Last, die im staatlichen und Reichsinteresse notwendig aufgebracht werden muß, in der Form auferlegt, in der sie am leichtesten zu tragen ist? Dies verneinte der Kanzler und setzte sein Streben auseinander, „direkte Steuern abzuschaffen und das Einkommen, welches sie gewähren, durch indirekte Steuern zu ersetzen". Der dritte Mangel, an dem die Erhebung des Einkommens leide, sei die ungleiche Verteilung der Last zwischen beweglichem und unbeweglichem Vermögen. Der ländliche und städtische Grundbesitz sei durch Steuern im Vergleich zu dem beweglichen Besitz wesentlich „prägraviert". Kein Gewerbe im ganzen Lande sei so hoch besteuert wie die Landwirtschaft. Grund,

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Gebäude-, Kommunal-, Kreis-, Provinzial-, Einkommensteuer müsse der Landwirt zahlen. Die Besteuerung der Getreideproduktion variiere zwischen 20, 30 und mehr Prozent, und demgegenüber finde die Einfuhr unverzollten Getreides statt. Der vierte Vorwurf gegen die augenblicklichen Verhältnisse und zwar einer der gewichtigsten sei, „daß die jetzige Veranlagung unserer indirekten Steuern der einheimischen vaterländischen Arbeit nicht das Maß von Schutz gewährt, welches ihr gewährt werden kann, ohne die allgemeinen Interessen zu gefährden". Mäßig schutzzöllnerisch sei die gemachte Vorlage. „Einen mäßigen Schutz der einheimischen Arbeit verlangen wir." Der erste Redner der Debatte, der frühere Minister, Abg. Delbrück, der genaueste Kenner der Tarife, ging sofort auf die Details ein und bezeichnete die verbesserungsfälligen Punkte, ohne auf die Rede des Kanzlers selbst zu antworten. Im ganzen schädigte, nach seiner Meinung, der Tarif berechtigte bestehende Interessen zugunsten einer nur möglichen Entwicklung. Namens der Fortschrittspartei erklärte sich Richter wohl für eine Steuerreform, aber gegen jede Steuern auf Getreide und Vieh. Der konservative Abgeordnete von Maitzahn - Gültz war einer der wenigen Konservativen, der in der Frage der Finanzzölle auf dem Boden des Tarifes stand, den übrigen Inhalt aber als schädlich für das Wohl des Landes betrachtete. Tatsache sei, sagte der Redner, daß gleichzeitig im Lande eine Agitation entstanden sei und sich auf Kreise, die derartigen Ideen bisher vollständig fern und ablehnend gegenüberstanden, erstreckt habe, eine Agitation, welche seiner Meinung weder der Form noch dem Inhalte nach dem Wohl des Landes entspräche 1 ). In langer ausführlicher Rede wandte sich der Abgeordnete Lasker gegen den Gesetzentwurf. Er wies auf die geschichtliche Entwicklung der Bewegung für den Schutzzoll hin, erinnerte daran, daß seiner Zeit die Eisenzölle aufgehoben worden seien zugunsten der Landwirtschaft und daß es jetzt heiße: Eisenzölle allein seien nicht zu erreichen, man müsse landwirtschaftliche Zölle mit in den Kauf ') Reichstags Verhandlungen 39, Sitzung 6. Mai 1879 S, 1012 ff.

Der Zolltarif von 1879.

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nehmen. Der Redner wandte sich dann der Agitation des Fürsten Bismarck zu und erklärte, der Briefwechsel des Kanzlers mit Herrn vonThüngen habe alles überholt, was bisher irgendwie als wirtschaftliche Politik der Regierung gedacht worden sei. „Es ist die einfache, unbedingte Annahme des Agrarierprogramms und zwar nicht etwa des landwirtschaftlichen Interesses in seiner berechtigten Bedeutung, sondern des Agrarierprogramms in seiner agitatorischen Bedeutung." Der Redner zieh dann den Reichskanzler der Übertreibung wegen seiner Schilderung der Überbürdung der Landwirtschaft. Energisch verwahrte sich der Kanzler am 8. Mai gegen diese Vorwürfe und schloß seine Rede mit den Worten: . . . „daß ich nach wie vor an den Zwecken festhalte, die ich aufstellte: Das Reich selbständiger zu stellen, die Gemeinde zu erleichtern, den zu hoch besteuerten Grundbesitz durch indirekte Steuern zu erleichtern, zu diesem Behufe die Abschaffung der Klassensteuer, ich wiederhole es, in ihrem vollen Umfange zu erstreben, und demnächst als den letzten und nicht geringsten Zweck: der einheimischen und nationalen Arbeit und Produktion im Felde sowohl wie in der Stadt und in der Industrie als auch in der Landwirtschaft den Schutz zu gewähren, den wir leisten können, ohne unsere Gesamtheit in wichtigen Interessen zu schädigen." Am 9. Mai wurde der Gesetzentwurf auf einen Antrag Löwe-Bochum in bezug auf die Eisen-, Getreidezölle einer Kommission von 28 Mitgliedern überwiesen. Bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfes am 15. Mai 1879 erforderte die Frage des Eisenzolles noch eine längere Debatte. Der Abgeordnete Bamberger leugnete die Notwendigkeit eines Eisenzolles energisch und wies als Beispiel dafür, wie eine Nation unter zu großem Schutze in ihren Industrien zurückgehalten würde und wie dann die Befreiung bei ihr wirke, auf die Geschichte der französischen Eisenindustrie vor und nach 1860 hin. Der Abgeordnete von Wedell - Malchow (kons.) wiederholte die Worte des Zentrumsabgeordneten Reichensperger: „wir müssen das Eisen schützen, denn auf dem Eisen beruht die Wohlfahrt des Vaterlandes." Das Bündnis zwischen Industrie und Agrariertum spiegelte sich klar in den weiteren Worten des Redners ab und in dem Bilde, das er

Kapitel V.

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gebrauchte: „Eisen und Roggen gehören unbedingt zusammen, das erkläre ich Ihnen hier ganz offen, denn wir brauchen das Eisen, um Roggen zu produzieren, Sie können aber auch das Eisen nicht aus der Erde herausbekommen, Sie können es nicht in Stahl verwandeln, wenn Sie nicht Roggen haben" 1 ). Dennoch schlug er einen Kompromiß vor und verlangte anstatt des im Tarifentwurf vorgesehenen Satzes von 1M. per 100 kg Roheisen, einen solchen von nur 50 Pf. Energisch setzte sich dagegen der Abgeordnete Stumm (Rp.) für den 1 M.-Zoll ein. Der Antrag Wedell wurde dann auch in namentlicher Abstimmung mit 192 gegen 125 Stimmen abgelehnt, der Satz von 1M. mit 218 gegen 88 angenommen. Am 20. u. 21. Mai folgte die Debatte über die Getreidezölle. Der Abgeordnete von Saucken - Tarputschen, der letzte namhafte Vertreter der liberalen und freihändlerischen Landwirte Ostpreußens, erklärte, der ganze Zweck des Getreidezolles für die Landwirtschaft sei nur der, daß die Lebensmittel verteuert werden und daß die Landwirte dann ihre Produkte teurer absetzen könnten. Er erklärte, daß die Landwirte Ostpreußens in keiner Weise für die Zollgesetze und namentlich nicht für die Getreidezölle einzustehen bereit seien. Die ostpreußische Bevölkerung sei gegen jeden Zollschutz, namentlich auch gegen den Getreidezoll, wenn er als Kompensation für industrielle Schutzzölle betrachtet werde. Die Not der Landwirtschaft, wenigstens für Ostpreußen, bestritt der Redner entschieden, niemals seien die Viehpreise so hoch gewesen. Der Handel der ostpreußischen Seestädte werde vernichtet, sobald der russische Getreidehandel durch Zollerhöhungen gestört werde. Der Abg. von Treitschke wies darauf hin, daß, während sonst alle heilsamen Fortschritte der Handelspolitik unter dem allgemeinen Weheruf sämtlicher Interessenten sich vollzogen hätten, diesmal der Umschwung in der Handelspolitik sich auf die Mehrzahl der Interessenten berufen könne. Dennoch erinnerte er daran, daß die Interessenten ihren Vorteil verkennten. Der Getreidezoll sei nur ein taktisches Mittel der Regierung, um die Zölle überhaupt durchzusetzen. Die Agrarier zögen bei dieser Koalition mit der Industrie den Kürzeren. Eine l

) Reichstagsverhdlg. v. 16. Mai 1879 S. 1238,

Der Zolltarif von 1879.

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schwere Beeinträchtigung der Ostseeprovinzen, über deren Handelsinteressen man doch nicht so souverän hinwegspringen könne, werde die Folge sein. Bei den niedrigen Getreidepreisen werde ein Steigen durch die Zölle von den großen Massen so aufgefaßt werden, daß durch die Getreidezölle das Reich das Brot verteuere. Man dürfe der sozialdemokratischen Agitation nicht dieses Mittel an die Hand geben. Auch der Abgeordnete Delbrück fand die Lage der Landwirtschaft nicht so schlecht, die Roggenpreise hätten sich von 1874 bis 1877 ständig gehoben und die von Jahr zu Jahr steigenden Ergebnisse der Domänenpachtungen seien eher ein Beweis vom Gegenteil. Auf diese Rede ergriff Fürst Bismarck das Wort. Es drängte sich ihm zunächst die Frage auf: Sind niedrige Getreidepreise in wirtschaftlicher Beziehung an sich als Glück anzusehen? Wenn dies bejaht würde, so müßte „das wirtschaftliche Behagen nach Osten hin allmählich steigen und Ostpreußen würde nach meiner Rechnung 25—30% glücklicher sein müssen, als das Elsaß und der Breisgau." Der Getreidezoll sei eine Forderung der Gerechtigkeit. „Soll die Gesamtlast, die für unsere Finanzen auf unseren Kornbedarf gelegt werden kann und gelegt wird, in diesem Übermaß allein auf der inländischen Produktion liegen und soll die ausländische gar nicht herangezogen werden ? . . . Wir beabsichtigen einen Teil der direkten Steuern, die jetzt . . . auf dem Landwirt l a s t e n , . . . . an die Grenze zu verlegen,.., nur ein sehr schwacher Versuch einer ausgleichenden Gerechtigkeit, angesichts der Nachteile, unter denen die Produktion von Getreide im Inlande . . . . bisher leidet." Der Kanzler schloß mit den Worten: „Wir wollen alle mit gleichen Schultern tragen, und die Gerechtigkeit in der Verteilung der Lasten soll für alle sein, auch für den geduldigen Landmann. Aber ich habe das Vertrauen, daß wenn das Bewußtsein einmal durchgedrungen ist, die Vertreter der Landwirtschaft auch den Kampf nicht einstellen werden, bis sie Gerechtigkeit erlangt haben." Der Rest der Debatte lief darauf hinaus, festzustellen, wer den Getreidezoll zu bezahlen hätte, der Konsument oder der Produzent und Zwischenhändler. Das Wesen der Verhandlungen über den Zolltarif zwischen den einzelnen Parteien verglich der Abgeordnete Flügge (nl.) mit dem Kulissentreiben an

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Kapitel V.

der Berliner Börse x ). Der Abg. v. Mirbach empfahl eindringlich einen von ihm eingebrachten Antrag, nach dem der Roggenzoll, entgegen der Regierungsvorlage von 50 Pf. per 100 kg auf 1 M. pro 100 kg bemessen sein sollte. Der Redner legte Gewicht darauf, zu erklären, daß sein Antrag für ihn und eine große Zahl von Abgeordneten eine Conditio sine qua non sei, auf die hohen Zölle für die Eisen- und Textilindustrie ohne weiteres einzugehen. In namentlicher Abstimmung fiel trotzdem der Antrag Mirbach mit 173 gegen 161 Stimmen und die Bundesratsvorlage, die, wie gesagt, nicht im Bismarckschen Sinne war, wurde mit 226 gegen 109 Stimmen am 23. Mai angenommen. Mitten in diese Verhandlungen fiel, im engsten Zusammenhang mit der Frage der Getreidezölle, die Präsidentenkrisis im Deutschen Reichstage. Die Stadt Berlin, deren Oberbürgermeister Forckenbeck gleichzeitig Präsident des Deutschen Reichstages war, hatte zum 17. Mai eine Einladung an alle größeren deutschen Städte erlassen, um zu dem Zolltarif, besonders zu den Getreidezöllen, Stellung zu nehmen. Von 240 Gemeinden hatten aber nur 72 ihre Vertreter entsandt, die wichtigsten süddeutschen Städte, München, Stuttgart, Karlsruhe, Augsburg, auch Leipzig fehlten. Mit 68 gegen 4 Stimmen wurde eine Resolution angenommen, die im Interesse der städtischen Bevölkerung, der Leistungsfähigkeit der Arbeitskraft, der Entwicklung der Handelstätigkeit die Zölle auf Getreide, Vieh und Fleisch als schädlich verwarf. Bei dem Festmahle hatte dann Forckenbeck in Gegenwart mehrerer liberaler Reichstagsabgeordneten, wie Richter und Löwe, eine Rede gehalten, in der er erklärte, daß er als Reichstagspräsident jetzt in eine Stelle gedrängt sei, in der er nur den 4. Teil des Hauses repräsentiere und ') . . . wenn die Herren hier in der Kulisse des Hauses gewesen sind vor der Verhandlung über die Eisenzölle, so ist es ihnen vielleicht ergangen wie mir, wenn ich die ehrlichen Makler einhergehen sah, der eine bot, geben Sie 60 Pf. für Roggen, gebe ich den vollen Eisenzoll, oder verwerfen Sie das von Wedellsche Amendement, so gebe ich Ihnen den Roggen usw. Meine Herren, man zweifelte ja mitunter, man mußte sich besinnen, daß man sich an der Leipziger Straße befand, und nicht etwa in einer sonst auch sehr achtbaren Versammlung an der Burgstraße. Reichstagsverhdlg. 1879, 23. Mai, S. 1395.

Der Zolltarif von 1879.

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seinen baldigen Rücktritt anzeigte. Der Abgeordnete Löwe bezeichnete ihn darauf für diesen Fall als den Führer der sich bildenden liberalen Vereinigung der deutschen Antikornliga. Forckenbeck richtete dann, nachdcm die Angelegenheit am 19. Mai im Reichstage zur Sprache gekommen war, am 20. Mai ein Schreiben an den Reichstag, in dem er „bei dem Gegensatz, in welchen ich in bezug auf tiefgreifende Fragen mit der Majorität des Reichstages gekommen bin," sein Amt als Präsident des Reichstages niederlegte. An seine Stelle wurde am 21. Mai der konservative Abgeordnete von Seydewitz gewählt. Da auch der erste Vizepräsident von Stauffenberg am 23. Mai sein Amt wegen Erkrankung niederlegte, so war das neu gewählte Präsidium: Seydewitz (kons.), Frankenstein (Z.), Dr. v. Lucius (frk.), das genaue Spiegelbild der herrschenden Parteien im Reichstage. Die nationalliberale und die fortschrittliche Partei hatten das Spiel verloren. Zwischen die zweite und die dritte Beratung des Zolltarifs fiel ein Zwischenfall in der für die Zoll- und Steuervorlagen gewählten Kommission. Der Abg. Bennigsen beantragte: Die Höhe des Zollsatzes von Kaffee und die Höhe des Zollsatzes und der Abgabe von Salz werden für jedes Jahr im Etat festgestellt. Ergibt letztere einen Einnahmeüberschuß, so ist er den einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe der Bevölkerung zu überweisen. Demgegenüber lautete ein Antrag Frankenstein: Derjenige Betrag der Zölle und der Tabaksteuer, der die aus dem 3jährigen Durchschnitt des bisherigen Erträgnisses der Zölle und der Tabaksteuer sich ergebenden Summe in einem Jahre übersteigt, ist den Bundesstaaten nach Maßgabe der Matrikularbeiträge zu überweisen. Der letztere Antrag wurde in der Kommission angenommen mit der Abänderung, daß der Betrag, der 130 Mill. in einem Jahre übersteige, den Bundesstaaten überwiesen werden sollte. Am 4. Juli wurde dieser unter dem Namen „Frankensteinsche Klausel" bekannt gewordene Antrag von der Tarifkommission und am 9. Juli mit einem Zusätze, daß die Bestimmung mit dem 1. April 1880 in Kraft treten solle, im Reichstage angenommen. Nachdem so Bestimmungen über die Verwendung der Zölle getroffen waren, erfolgte am 10. Juli die dritte Lesung des Zolltarifgesetzentwurfes. Der Antrag Mirbach, den

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Kapitel V.

Zoll für Roggen auf 1 M. zu erhöhen, wurde wieder eingebracht, und diesmal mit besserem Erfolge. Der Abgeordnete Richter warf dem Reichskanzler vor, daß er das einseitige Klasseninteresse hervorgerufen habe, und sprach von dem Kampf zwischen dem die Großgrundbesitzer beherrschenden Adel und dem Bürgertum, und der Abgeordnete Bamberger bezeichnete den Getreidezoll als den Kaufpreis des Eisenzolles. Mit 186 gegen 160 Stimmen wurde der Antrag Mirbach angenommen, und am 12. Juli der ganze Zolltarif mit 217 gegen 117 Stimmen bei 2 Stimmenenthaltungen. Am gleichen Tage wurde der Reichstag geschlossen.

Kapitel VI.

Die Zollerhöhungen von 1885 und 1887. Das auf die Annahme des Zolltarifes folgende Jahr 1880 zeigte in einigen Nebenpunkten, daß eine Änderung der 1879 gefaßten Beschlüsse notwendig war. So wurden die vereinigten Anträge Stollberg/Rickert auf Beschränkung des Identitätsprinzipes bei der Ausfuhr von Getreide und Mehl angenommen und dadurch den Mühlenbesitzern die zollfreie Einfuhr ausländischen Getreides, das mit inländischem gemischt war, ohne Nachweis der Identität ermöglicht. 1881 wurde außerdem der Zoll für Mehl von 2 auf 3 M. pro 100 kg und der Zoll auf frische Trauben auf 15 M. pro 100 kg erhöht. Die zweite Lesung des Tabakmonopols am 14. Juni 1882 gab Bismarck die erwünschte Gelegenheit, sich energisch besonders für landwirtschaftliche Schutzzölle auszusprechen. Gegenüber dem Abg. Richter stellte der Kanzler den Satz auf: „Alle Nationen, die Schutzzölle haben, befinden sich in einer gewissen Wohlhabenheit" und folgerte weiter: „Es ist eine große Ungerechtigkeit, wenn uns die Tatsache immer vorgehalten wird, daß England seinen Schutzzoll abgeschafft hat, nachdem er ihm die hinreichenden Dienste getan hat." *) In bezug auf die Getreidezölle sagte der Fürst, die Not des Landwirts sei so groß, daß er auch den kleinen Vorteil, den dieser Zoll etwa bringt, nicht verschmähen dürfe. Er selbst bekannte s : ch als Anhänger der Majoritäten. Die Majorität im Deutschen Reiche bestehe nun aber aus Landwirten, Ackerbauern, und für diese Majorität trete er ein, aber wenn auch die stärkste Majorität ihm gegenüberstände, so würde er in der >) Bismarcks Parlament. Reden, ed. Böhm-Dove, Bd. XIII S. 127.

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Kapitel VI.

Beziehung an dem, was an Schutzzöllen bisher für die vaterländische Arbeit gewonnen sei, unbedingt festhalten. Auch am 9. Mai 1884 in der Debatte über die Verlängerung des Sozialistengesetzes trat der Kanzler für die Interessen der Landwirtschaft mit Entschiedenheit ein. „Einen Reichskanzler und Ministerpräsidenten," erklärte er, „der sich für die Landwirtschaft nicht interessiert, den müßten Sie sofort wegjagen, den kann das Land gar nicht brauchen. Es sind 25 Millionen Menschen von unseren 45 Millionen, deren Interessen von dem Wohl und Wehe der Landwirtschaft abhängen." Auch die landwirtschaftlichen Interessenvertretungen beschäftigten sich schon seit 1883 mit der Stellungnahme zu den zu erwartenden Getreidezollerhöhungen. Am 15. Februar 1883 hatte im Landesökonomie-Kollegium der preußische Minister der Landwirtschaft als Direktive für die Landwirtschaftspolitik angegeben: „Es wird fortzufahren sein in allen Bestrebungen des Unterrichtswesens, des Meliorationswesens, im besonderen der Verbesserung des Kreditwesens; man wird aber vor allem in unserer gesammten Zoll- und Steuerpolitik achtsam sein müssen, daß alle Maßregeln, die auf diesem Gebiet möglich sind, mit besonderer Rücksicht auf die Förderung und Steigerung des landwirtschaftlichen Gewerbes und Grundbesitzes getroffen werden." Damit war angedeutet, daß die Regierung dem von den landwirtschaftlichen Interessenten geforderten Fortschreiten auf dem Wege des Schutzzolls nachgab und selbst die Initiative dazu ergreifen werde. Auf den Verhandlungen des 15. Kongresses deutscher Landwirte vom 19. Februar 1884 stand als Punkt 2 der Tagesordnung ein allgemeiner Vortrag über die Lage des ländlichen Grundbesitzes zur Diskussion. Der Referent ökonomierat Nobbe-Niedertopfstedt führte die augenblickliche Krise auf die beiden Hauptursachen: Konkurrenz des billiger produzierenden Auslandes und Entziehung und Verteuerung der Arbeitskräfte durch die Industrie zurück und ging dann zur Beantwortung der Frage über: „Wie tritt der deutsche Grundbesitz in die ihm aufgedrungene Krisis ein ?" Nachdem er die Verschuldungsfrage und die für eine Steuerreform notwendigen Gesichtspunkte aufgestellt hatte, um die Größe der landwirtschaft-

Die Zollerhöhungen von 1885 und 1887.

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liehen Krisis zu zeigen, führte er das aus freihändlerischen Lagern stammende Zitat *) an: „Der Landwirt ist übler dran, als jeder Industrielle. Er hat seine Scholle, an der er klebt! Der Industrielle, welcher sich in seinen Spekulationen geirrt, sei es, daß er an ungünstigem Platze seine Werkstatt aufgemacht, sei es, daß erst später die Produktionsbedingungen dem Weltmarkt gegenüber zu ungünstig geworden sind, kann — wenigstens leichter und mit geringerem Verlust als der Landwirt — seine Werkstatt verlegen, seine Produktion ändern, die Art seiner Erzeugnisse dem Begehr des Weltmarktes anpassen. Ihn bannen nicht Boden und Witterung mit seinen Dispositionen in bestimmte Grenzen, keine elementaren Ereignisse verschaffen ihm ganz plötzlich eine unvorhergesehene Konkurrenz, wenn seine Produktionskosten gestiegen waren. Wie anders steht der deutsche Landwirt im Banne der Elemente, der ihn zu fester Fruchtfolge, zu stabilen Wirtschaftsplänen zwingt. Er kann nicht feiern, er muß säen und ernten, er kann das Feld seiner Tätigkeit nicht willkürlich verlegen, wenn er keinen Käufer findet. Und, wenn eine Mißernte ihn trifft, wenn die Menge des verkäuflichen Produkts auf die Hälfte des Erwarteten zusammenschmilzt, er also die doppelten Produktionskosten tragen soll, dann ersetzen ihm nicht, wie es naturgemäß wäre, verhältnismäßig höhere Preise einen Teil des Ausfalls, nein, dann überschwemmen seinen Markt mit Hilfe der Differentialtarife und Refaktien die gewaltigen Uberschüsse des Erntesegens anderer, von der Jahreswitterung bevorzugt gewesener Ländergebiete, um den Preis des Getreides weit unter das Niveau der eigenen Produktionskosten des deutschen Landwirts zu drücken. Das ist eine Erschwerung seiner Existenz, die von Jahr zu Jahr wächst " Eine solche, wenn auch allmählich verlaufende Krise der Landwirtschaft verursacht, nach der Meinung des Berichterstatters, daß die Bodenkultur wegen mangelnder Betriebsmittel und rationeller Bearbeitung geschwächt, hohe Werte menschlicher Arbeitskraft unbenutzt, Bodenprodukte im Werte von Millionen unerzeugt bleiben und Millionen zur Deckung des hierdurch entstehenden ') Verhdl. des Kongresses deutscher Landwirte zu Berlin 1884, S. 48.

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Kapitel VI.

größeren Defizits an Nahrungsmitteln ins Ausland wandern müssen. Sie verursacht weiter, daß die Verarmung des Grundbesitzes in der Folge auch zur Verarmung der Stadt führt, da sie die 38% der Bevölkerung bilden, als Käufer am Markt der Industrien fehlen, wie denn die Klage der Geschäftsleute über mangelnden Absatz, abgesehen von der Überproduktion und dem Ubermaß von konkurrierendem Angebot, zum Teil heute schon durch die mißliche Lage der Landwirtschaft zu erklären wäre. Sei es unter diesen Umständen nicht geboten, alles zu tun, was in den Händen der Gesetzgebung, der Staatsverwaltung und der Landwirtschaft selbst liegt, um diesem Zustande halt zu gebieten und der heimischen Landwirtschaft den Mut der Produktion zurückzugeben? Man könne sich nicht selbst helfen, wie das oft gesagt wurde, durch Anbau von Handelsgewächsen, weil das durchaus nur örtlich begrenzt möglich sei, und desgleichen sei eine Ausdehnung der Viehzucht auch kein Heilmittel, zumal auch im Fleisch den Landwirten erhebliche Konkurrenz gemacht würde. Soll aber der Landwirtschaft dabei wirklich der Mut nicht sinken, und soll sie fortfahren ihre Schuldigkeit nach jeder Richtung hin zu tun, so muß sie auch das Vertrauen haben, daß die deutschen Regierungen und in erster Linie das Reich, dem die Zollpolitik und ein großer Teil der indirekten Steuern unterstellt sind, sie in diesem Bestreben schützen und unterstützen. Natürlich sei mit einer angemessenen Zollgesetzgebung eine Reihe anderer Reformen zu verbinden, um der Landwirtschaft wirklich und auf die Dauer zu helfen. In der Resolution wurde der Erwartung Ausdruck gegeben, daß gegenüber der schwierigen Lage, in welchc die deutsche Landwirtschaft durch die noch immer anwachsende, meist unter günstigeren Produktionsbedingungen arbeitende ausländische Konkurrenz landwirtschaftlicher Produkte versetzt worden sei, der Grundgedanke der deutschen Zoll- und Wirtschaftspolitik: Schutz jeglicher nationaler Arbeit, festgehalten, wo es nötig sei erweitert und nicht einseitig zum Nachteil des landwirtschaftlichen Gewerbes verschoben werde. — In der Diskussion betonte Lanbinger-Blankenhagen als Vertreter der Bauernschaft noch besonders, daß es notwendig sei, den Bauernstand mobil zu machen, ihn aufzuklären über

Die Zollerhöhungen von 1885 and 1887.

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die Ziele der Wirtschaftspolitik und ihm seine Wahlpflicht einzuschärfen. Dann werde man auch die Mittel haben, die Forderungen der Landwirtschaft durchzusetzen. Auch der folgende XVI. Kongreß deutscher Landwirte am 18. Februar 1885 stand unter dem Eindruck der zu erwartenden Erhöhung der Getreidezölle. Als dritter Gegenstand stand auf der Tagesordnung: Die Stellung der deutschen Landwirtschaft zum Import der Wolle und sonstiger tierischer Produkte. Man kam in den Verhandlungen zu dem Resultat, daß die deutsche Landwirtschaft für die Erzeugung tierischer Produkte dringend des Schutzes durch Eingangszölle — namentlich der Einführung eines Zolles auf Schafwolle — bedürfe. Für die Höhe des Zolles wurde der Vorschlag des Landwirtschaftsrates (pro Doppelzentner 15 M. für Schmutz-, 30 M. für Rücken- und 45 M. für fabrikgewaschene Wolle) angenommen. An der Diskussion über diese Fragen beteiligte sich auch Ehrenfried Hessel. Die Anwesenheit dieses aus dem Zolltarifkampfe von 1879 her bekannten Mannes zeigte, daß das Bündnis zwischen Industrie und Landwirtschaft auch für die Zollerhöhungen des Jahres 1885 standhalten würde. Freiherr von Mirbach sagte denn auch in den Debatten, daß ernste Mißverständnisse zwischen Herrn Hessel und den Teilnehmern des Kongresses deutscher Landwirte überhaupt nicht möglich seien: „Wir werden, soweit unser Einfluß reicht, für ihn (d. h. für industrielle Zölle) dasselbe mit der gleichen Lust und Liebe tun wie für Dinge, die nur die Landwirtschaft angehen." . . . Er (Hessel) weiß, daß wir Bundesgenossen sind und bleiben werden." Die Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer beschäftigte sich weder 1884 noch 1885 mit der Frage der Zollerhöhungen. Nach der am 16. Februar 1885 erfolgten zweiten Lesung der Zolltarifnovelle im Reichstag und dem Ergebnis der Abstimmung war das Schicksal der Novelle auch so gut wie entschieden, und die Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer benützte nur die Gelegenheit, bei ihrer an den Fürsten Bismarck gerichteten Resolution vom 10. Februar 1885 auf Einführung der Doppelwährung >) Verhdl. des Kongr. deutscher Landw., 1886 S. 93. C r o n e r , Agrarische Bewegung.

8

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Kapitel VI.

dem Reichskanzler ihren ehrfurchtsvollen Dank auszusprechen für den Schutz, den derselbe der schwer bedrohten deutschen Landwirtschaft habe zuteil werden lassen. — Charakteristisch für die Änderung der Stimmung in landwirtschaftlichen Kreisen war die Stellung derjenigen Vereinigung, die noch 1879 den schutzzöllnerischen Bestrebungen energische Opposition gemacht hatte, der offiziellen Vertretung der deutschen Landwirtschaft, des deutschen Landwirtschaftsrates. Hier erstattete am 7. Februar 1885 Herr von Below-Saleske ein Referat über „die landwirtschaftlichen Zölle".1) Er erklärte, daß der deutsche Landwirtschaftsrat von Anbeginn seiner Wirksamkeit bis zu dem bedeutsamen Jahre 1879 jederzeit auf dem Boden des Ausgleichs gestanden habe, in der Weise, daß er die nur einseitig wirkenden Schutzzölle bekämpfte. — Im Jahre 1879 mußte diese Richtung der ausgesprochen protektionistischen weichen unter der Parole: „Schutz der nationalen Arbeit." Auch hier habe man wieder auf dem Standpunkt des Ausgleichs gestanden, „wie denn im deutschen Landwirtschaftsrat jederzeit verlangt worden ist, daß sämtliche Gewerbe in bezug auf Zoll- und Handelspolitik gleichgestellt werden". Tatsache sei aber, daß die Landwirtschaft bei dem Ausgleich zu kurz gekommen sei: „Ich muß konstatieren, daß das landwirtschaftliche Gewerbe aus der Zahl aller derjenigen, welche die nationale Produktion bilden, relativ das ungeschützteste ist — bei gleichzeitig größter Konkurrenz. Die Konkurrenzfähigkeit sei der deutschen Landwirtschaft genommen durch die alten Übel der Steuerprägravation, durch die Mängel unserer Verkehrs- und Eisenbahnpolitik, zu denen neuerdings noch in sehr fühlbarer Weise der Nachteil hinzugetreten sei, der sich durch die Demonetisierung des Silbers in bezug auf die Preisbildung geltend mache, und schließlich durch schlechte Ernten in den letzten Jahren. — Diesen erschwerenden Faktoren gegenüber sei die Landwirtschaft vollkommen wehrlos; „und wenn unsere Gegner uns zurufen: seht doch selbst zu, daß ihr wieder mit eigenen Kräften in die Höhe kommt, — so vergessen sie, daß die Gegenstände unserer ') Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrates, 1886 S. 96 ff.

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Die Zollerhöhungen von 1885 and 1887.

alten Klagen außerhalb unserer Einwirkung stehen und eben der Stein sind, der uns zughinde zieht und uns nicht schwimmen läßt. Es ist eine Ungerechtigkeit sondergleichen, wenn wir nicht von diesem Steine beireit werden und doch immer und immer wieder auf Selbsthilfe angewiesen werden. Wir wollen keine Getreideund Schutzzölle für die Landwirtschaft, wenn uns in bezug auf die Steuerprägravation unser Recht würde, wir paritätisch dem Auslande gegenüber auf den Bahnen behandelt werden und Doppelwährung erreichen. So wie aber die Sachen liegen, gibt es allerdings kein anderes Moment, das so rasch und wirksam Luft schaffen kann, . . . . als die Einführung wirksamer Zölle auf sämtliche Produkte der Landwirtschaft. Ist die Beseitigung der früher angezogenen Klagen geeignet, ein festes solides, dauerndes Fundament des Wohlstandes für unser Gewerbe zu schaffen, so sind meiner Ansicht nach die Zölle nichts anderes als, nachdem das Haus fundiert ist, ein Mittel, um unliebsam stechenden Sonnenschein oder störende Zugluft durch einen leichten Schirm zu beseitigen. Wenn die Sonne nicht mehr sticht und der Zugwind nicht mehr stört, nehmen wir das Palliativmittel wieder fort — setzen den Schirm beiseite." Die geplante Zollerhöhung, so schloß der Redner, werde zwar vermutlich doch nur ein Finanzzoll werden und der Landwirtschaft keine höheren Preise bringen. Da es nun aber hohe Zeit sei, daß der Landwirtschaft geholfen werde, so könnte ihr wenigstens auf dem vorgeschlagenen Wege etwas geholfen werden. Vereinzelt stand mit seiner Verwerfung der Zollerhöhung der mecklenburgische Rittergutsbesitzer Pogge-Roggow. Seine Ausführungen gaben eine knappe Zusammenstellung aller gegen die Einführung und Erhöhung landwirtschaftlicher Zölle sprechenden Argumente von a g r a r i s c h e r Seite und gipfelten in folgenden Resolutionen, deren Annahme er, allerdings vergebens, empfahl: „1. Die landwirtschaftlichen Zölle wirken um den Betrag, um den sie die davon betroffenen Artikel im Preise erhöhen, auch v e r t e u e r n d auf die dadurch zu befriedigenden Lebensbedürfnissc. Indirekt werden auch andere Lebensbedürfnisse verteuert, ') a. a. 0 . S. 178 ff. 8*

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Kapitel VI.

weil die Industrie für die aus dem verteuerten Rohmaterial und durch die verteuerte Arbeitskraft herzustellenden Fabrikate einen höheren Preis beanspruchen muß. 2. Die landwirtschaftlichen Zölle wirken u n g l e i c h m ä ß i g , je nach der Entfernung des Ortes, wo die davon betroffenen Artikel produziert werden, von dem Orte, wo sie konsumiert werden. Je größer diese Entfernung ist, desto geringer wird die Einwirkung sich erweisen. Sie hört ganz auf, sobald die Transportkosten so hoch werden, daß der Absatz auf dem ausländischen Markt ein lohnenderer ist als auf dem inländischen. 3. Die landwirtschaftlichen Zölle wirken auch insofern u n g e r e c h t , als sie jedem Landwirt nur in dem Maße zugute kommen, wie seine Produktion seine Konsumtion übersteigt, also vorwiegend dem größeren Landwirt. Ihr Nutzen hört ganz auf, sobald der Landwirt das, was er produziert, auch konsumiert, oder nur soviel verkauft, wie er anderweitig wiederkaufen muß. Außerdem hat dieser dann noch die Verteuerung durch andere Zölle zu tragen. 4. Die gegenwärtige K a l a m i t ä t der Landwirtschaft ist nicht durch niedrige Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse in den letzten Jahren entstanden, sondern nur verschärft. Sie datiert aus längerer Zeit, weil die Landwirte den Grund und Boden über seinen Ertragswert hinaus bezahlt haben, sowohl beim Ankauf, wie bei der Pacht. Eine dauernde Gesundung ist nur dann zu erwarten, wenn Beides wieder miteinander in Einklang gebracht wird. 5. Die künstliche V e r t e u e r u n g der landwirtschaftlichen Erzeugnisse durch Zölle kommt nur den Landwirten zugute, welche augenblicklich im Besitz eines landwirtschaftlichen Betriebes sich befinden. Sie wird aber höchst gefährlich für diejenigen Landwirte, welche künftig Grundstücke durch Kauf oder Pacht erwerben, weil diese daraufhin wieder Verpflichtungen eingehen, welche dem wirklichen Ertragswert nicht entsprechen. „Sie werden abhängig von den zollpolitischen Ansichten der gesetzgebenden Faktoren; falls diese dahingehen, die landwirtschaftlichen Zölle abzumindern oder aufzuheben, müssen neue schwere Kalamitäten entstehen.

Die Zollerhebungen von 1885 and 1887.

117

Bei einer solchen Änderung der Zollpolitik ist anzunehmen, daß die landwirtschaftlichen Zölle zuerst beseitigt werden wegen der dadurch veranlaßten Verteuerung der notwendigsten Lebensbedürfnisse." Die Schlußworte Pogges lauteten: Der deutsche Landwirtschaftsrat hat das Gewicht, welches er in die Wagschale wirft, vorzugsweise darauf zurückzuführen, daß er immer einen objektiven Standpunkt eingenommen hat. Wir haben uns niemals dazu herbeigelassen, einseitige Interessen zu verfolgen. Er hat sich gewissermaßen immer als Sachverständigen angesehen, der aus seiner Sachkenntnis die landwirtschaftlichen Verhältnisse beurteilt, der aber in seinen Beschlüssen sich immer davon hat leiten lassen, ob diese auch vereinbar waren mit dem Gesamtwohl der Nation. Ich fürchte — wenn es auch vielleicht unter der gegenwärtigen Zeitströmung wenig zu befürchten sein mag — daß in Zukunft, wenn Sic auf die Schutzzölle eingehen, hieraus dem Landwirtschaftsrat ein schwerer Vorwurf gemacht wird. Ich möchtc Sie also im Interesse des dauernden Ansehens des deutschen Landwirtschaftsrats bilten, die Vorschläge des Herrn Referenten abzulehnen und die meinigen anzunehmen." Seine Worte fanden trotz vereinzelten Beifalls wenig Anklang und wurden in einer scharfen Gegenrede von dem Reichstagsabgeordneten Dr. Frege beantwortet, aber auch v. HammersteinLoxten mußte zugeben, daß in Hannover, insbesondere in den Küstenstrichen, die Bauern noch durchweg auf dem Standpunkt des Herrn Pogge ständen 1). Die Resolution des Referenten für die Zollerhöhung wurde trotzdem angenommen. Die Zeit für die Einbringung der Getreidezoll-Vorlage war für die Regierung günstig. Die deutsch - freisinnige Partei hatte durch ihren Widerstand gegen die Kolonialerwerbungen weite Kreise der Wählerschaft verloren. Die Reichstagswahlen vom 10. Oktober 1884 ergaben eine konservativ-klerikale Majorität. Die Freisinnigen verloren beinahe 40 Sitze, die Konservativen stiegen von 49 auf 76 Stimmen. Am 15. Januar 1885 legte der Kanzler dem Bundesrat die neue Zolltarifnovelle vor. Sie bezweckte *) a. a. 0. S. 213.

118

Kapitel VI.

die Verdoppelung und Verdreifachung der Getreide- und HolzzöDe und eine starke Erhöhung der Branntwein- und Honigzölle, also vorwiegend

eine

Preissteigerung

landwirtschaftlicher

Produkte.

Eine solche Preiserhöhung war auch in der Thronrede zur Eröffnung des preußischen Landtages, die am gleichen Tage (15. Januar) erfolgte, als dringend notwendig geschildert worden. Am 10. Februar 1885 stand die Novelle zum Zolltarif vom 15. Juli 1879 im Reichstage in erster Lesung auf der Tagesordnung. Sie brachte eine Erhöhung des Weizenzolles von 1 M. auf 3 M., des Zolles auf Roggen, Hafer, Hülsenfrüchte, Gerste, Buchweizen von 1 M. bzw. 0,50 M. auf 2 M., von Malz von 1,20 M. auf 3 M., von Raps und Rübsaat von 0,30 M. auf 1 M. und von Mühlen fabrikaten von 3 M. auf 5 M. 12. Februar statt.

Die Beratung fand vom 10. bis

Auf eine Rede des Abgeordneten Rickert gegen

die Schutzzölle überhaupt, zumal gegen die auf Getreide, von deren Erhöhung er die schlimmsten Folgen für die nationale Wirtschaft und den sozialen Frieden voraussah, antwortete Fürst Bismarck mit dem Hinweise, daß sich alle Prophezeiungen, die im J a h r e 1879 auf eine Erhöhung der Preise, auf eine Beschränkung des Arbeiters in seinem Erwerbe und in seinem Brote und auf die sozialen Fragen gerichtet waren, als falsch erwiesen hätten.

Im

Gegenteil, fuhr der Fürst fort, „das Korn ist wohlfeiler, als es seit langen Jahren war, und nach dem Verhältnis des jetzigen Geldwertes wohlfeiler, als es jemals in diesem Jahrhundert gewesen ist".

Wenn nun jetzt eine Preiserhöhung einträte, wenn der Zoll

verdreifacht werde, so käme diese Verbesserung der Landwirtschaft zugute, träte sie nicht ein, so sei es ein Beweis, daß der Zoll vom Auslande bezahlt werde. Im übrigen müsse er wieder wie 1879 betonen, daß niedrige Kornpreise ein Volk nicht glücklich machen, sonst müßten Littauer und Rumänier bei ihren wohlfeilen Preisen glücklicher sein als die Rheinländer und die Franzosen 1 ).

Endlich

verfocht der Kanzler wieder das Vorrecht der Majoritäten. den 45 Millionen das Gedeihen l

Einwohnern

des Deutschen

hänge

für

Reiches von

25

Von

bis 27 Millionen

dem Gedeihen der

) s. die englische Quelle dieser Äußerung auf S, 22,

Die Zollerhöhungen von 1886 und 1887.

119

Landwirtschaft ab. „Wenn irgendein Gewerbe ein Recht auf Schutz hat, so ist es doch in unseren konstitutionellen Verhältnissen, wo die Majorität entscheidet, dasjenige, an dem die Majorität hängt, das der Landwirtschaft." Auch am dritten Tage der Beratung (12. Februar) fand der Reichskanzler Gelegenheit, in Erwiderung auf die Worte des Abgeordneten Bamberger, der Brotzoll sei ein Blutzoll, in längerer Rede den Notstand der Landwirtschaft auseinanderzusetzen. Dann aber gab er ganz offen zu, daß seine frühere Idee, die Getreidezölle nur als Finanzzölle, d. h. als Reichseinnahmen zu behandeln, sich gewandelt habe. „Nun hat sich gegen mein Erwarten, . . . die Unzulänglichkeit der früheren Zölle — der lediglichen Finanzzölle — so rasch herausgestellt, die Erkenntnis ist schnell in weite Schichten der Bevölkerung durchgedrungen, und jetzt bin ich ganz entschieden für einen Schutzzoll."') Wieder wie in den Tagen des Jahres 1879 bildete sich unter den rechtsstehenden Parteien und dem Zentrum sowie einigen Nationalliberalen eine „Freie wirtschaftliche Vereinigung", an deren Spitze Schorlemer-Alst stand, die das weitere Geschick der Zolltarifnovelle in die Hand nahm. Sie beschloß, da sie an und für sich die Majorität darstellte, die Vorlage noch weiter in schutzzöllnerischem Sinne umzugestalten, und schlug vor, den Roggenzoll von 2 M. auf 3 M. zu erhöhen. Außerdem wurde auf ihren Antrag eine Erhöhung der Viehzölle neu in die Vorlage aufgenommen. Die zweite Beratung des Zolltarifes wurde trotz des Widerspruches der Linken schon auf den 14. Februar, also zwei Tage nach der ersten Beratung, anberaumt. Vergebens forderte der Abgeordnete Rickert angesichts einer solchen wichtigen Vorlage, mit der das Land überrascht sei, ein paar Tage Zeit, um sich auf die Diskussion vorzubereiten. Der Abgeordnete Kardorff antwortete darauf mit einer gewissen nicht ungerechtfertigten Ironie, Neues sei überhaupt in der Frage nicht mehr zu sagen. „Ich könnte die ') Bismarcks Reden a. a. 0. Bd. XIV. S. 220. «) a. a. 0 . S. 242.

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Kapitel VI.

Reden von der Seite (links) halten, wie Sie die Reden von unserer Seite halten könnten", und gab damit offen zu, daß es sich bei der Zollerhöhung einfach um eine Machtfrage handele, die von Beitcn der Majorität bereits zugunsten einer Erhöhung des Roggenzolles entschieden war. Als eigentlichen Grund der beschleunigten zweiten Beratung gab Kardorff jedoch an, daß man nach der Beratung ein Sperrgesetz einbringen wollte, um das Land vor einem in der Zwischenzeit eintretenden Massenimport zu bewahren. Mit 148 gegen 129 Stimmen nahm das Haus die Kardorffsche Tagesordnung am 13. Februar an, und die zweite Beratung des Zolltarifs wurde auf den 14. Februar angesetzt. Wieder trat am 14. und am 16. Februar Fürst Bismarck in begeisterten Reden für die Erhöhung der Getreidezölle ein. Wiederholt betonte er, daß Großgrundbesitzer und Bauern zusammenhalten müßten. Wenn diese beiden Klassen zugrunde gehen sollten, so würde das Land mit zugrunde gehen. Über seinen eigenen „Gesinnungswechsel" sagte der Kanzler: „Ein Abgeordneter kann sich den Luxus des einen, einzigen Gedankens erlauben; ein Minister würde verräterisch an seinem Lande handeln, wenn er ebenso sich der besseren Einsicht verschließen wollte." Der Fürst schätzte sogar jetzt seinen Anteil an der Schutzzollpolitik der letzten sechs Jahre sehr hoch ein. ..Ich halte es für eines meiner größten Verdienste, dazu mitgewirkt zu haben; ich habe es ja nicht allein machen können, aber die Initiative kann ich mir ganz allein vindizieren," sagte er am 16. Februar. Der Antrag des Freiherrn v. Schorlemer, den Roggenzoll auf 3 M. festzusetzen, wurde mit 192 gegen 151 Stimmen, der Weizenzoll von 3 M. mit 229 gegen 113 nach der Regierungsvorlage angenommen. Die Holzzölle wurden nicht, wie die Regierung vorgeschlagen hatte, verdreifacht, sondern nur verdoppelt. Das Sperrgesetz, nach dem die in dieser Beratung erhöhten Getreidezölle sofort in Kraft treten sollten, wurde am 19. Februar angenommen und trat am 21. Februar bereits in Kraft. In der dritten Beratung des Zolltarifes am 11. Mai erklärte der Reichskanzler, daß es ihm gelungen sei, eine Abänderung des spanischen Handelsvertrages zu erreichen, nach der die Einfuhrzölle auf Südfrüchte

Die Zollerhöhungen von 1885 und 1887.

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und Olivenöl ermäßigt werden müßten, wenn die sofortige allgemeine Erhebung des erhöhten Roggenzolls ermöglicht werden sollte. Dieses Ereignis werde, wie er hoffe, den Zollvorlagen weitere Anhänger zuführen. Energisch wandte er sich nochmals gegen den von dem Abgeordneten Bamberger am 12. Februar gebrauchten Ausdruck, der Getreidezoll sei ein Blutzoll. Dann könne man die Grundsteuer ebenso nennen, sie verteuere das im Inland« gebaute Brot. Man könne Blutzoll jede Besteuerung nennen. Der 3 M.-Roggenzoll wurde darauf mit 188 gegen 139 Stimmen angenommen und das ganze Zolltarifgesetz in dritter Lesung am 13. Mai mit 199 gegen 105 bei 4 Stimmenenthaltungen. Am 15. Mai wurde der Reichstag geschlossen. Das folgende Jahr 1886 stand allgemein unter dem Eindruck der Enttäuschung, daß die Zollerhöhung der Landwirtschaft nicht bessere Preise gebracht habe. Es wurden auch verschiedentlich Stimmen laut, welche von einer Erhöhung der Zölle gar keine Hilfe erwarteten. So erklärte im 17. Kongreß deutscher Landwirte 1886 in seinem Referat „Uber den Stand der Währungsfrage" Herr v. Sydow-Dobberphul1): „Ich bin überhaupt ein Gegner jeder Erhöhung der landwirtschaftlichen Zölle, weil uns diese immer wieder ein Palliativmittel bilden, die Wirkungen der Silberentwertung noch etwas länger ertragen zu können." Er sah eben die einzige Rettung nur in der Einführung des Bimetallismus, womit dann von selbst bessere Preise kommen würden. Auf der gleichen Tagung sagte Freiherr v. Erffa-Wernburg als Referent für das Thema „Die Notlage der deutschen Landwirtschaft, unter besonderer Berücksichtigung der Spiritusindustrie und der Wollproduktion": „Ein weiteres Mittel (die Not zu beseitigen), was jetzt ja auch von Seiten der Landwirtschaft, die ja natürlich nach jedem Strohhalme greift, in den Vordergrund geschoben wird, das ist die Erhöhung der Schutzzölle. Ich bin voriges Jahr Referent für die Erhöhung der Getreidezölle im deutschen Landwirtschaftsrat gewesen und habe sie warm befürwortet; ich kann mich aber jetzt für die Erhöhung der Zölle, wenn unsere Notlage nicht noch lange ') S. XVII. Kongreß Deutscher Landwirte, Verhdlg. S. 11.

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Kapitel VI.

andauern sollte, nicht begeistern. Bedenken Sie, wir haben die Zölle erst im vorigen Jahre um das Dreifache erhöht ; die Wirkung kann ja noch nicht eintreten, wir müssen erwägen, daß vor jedem Zollschutz immer erst noch möglichst viel Getreide hereinkommt, ehe die Bude geschlossen wird. Nun, wollen wir uns doch von unsern Gegnern nicht immer vorwerfen lassen, wir wollten ja nicht einmal die ehrliche Probe bestehen, sondern suchten nur in sinnloser Überstürzung von Jahr zu Jahr die Zölle zu erhöhen. Ich halte also den Zeitpunkt für inopportun." In der XI. Generalversammlung der Vereinigung der Steuer und Wirtschaftsreformcr am 3. März 1886 war als dritter Gegenstand der Tagesordnung aufgestellt: „Der Bückgang der Preise der landwirtschaftlichen Produkte, deren Wirkung und Mittel zur Abhilfe." Der Referent, Kaufmann Schlechtendahl-Barmen, begann damit, daß er feststellte, daß die Interessen von Landwirtschaft und Industrie die gleichen seien: „Wenn ich auch nur vom Standpunkt der Industriellen zu Ihnen sprechen kann über die vorliegenden Fragen, so wird dies nichts verschlagen, da das, um was es sich hier handelt, gleiche Anwendung findet auf die Landwirtschaft wie auf die Industrie 1 ). . . . Daß Sie mich gebeten haben, vor Ihnen über diesen Punkt zu referieren, ist mir ein erfreuliches Zeichen dafür, daß das Vorurteil, als ob Landwirtschaft und Industrie entgegengesetzte Interessen hätten, bei Ihnen nicht vorzuwalten scheint; ich persönlich bin der Meinung, daß zwischen beiden eine ganz bedeutende Solidarität herrscht." Der Redner offenbarte sich dann im folgenden als Freund der landwirtschaftlichen Schutzzölle, soweit sie nicht, wie ein Zoll auf Wolle, eine große Industrie vernichten würden. Denn eine Rückzahlung des Zolles bei der Ausfuhr von Fertigfabrikaten sei ausgeschlossen, da sich die Wollbestandteile technisch nicht feststellen ließen. Der Korreferent Freiherr v. Mirbach-Sorquitten betonte gleichfalls die Notwendigkeit des Zusammengehens mit der Industrie ') Bericht über Rcformcr 1886 S. 67.

die

Versammlung

der

Steuer-

lind

Wirtschafts-

123

Die Zollerhöhungen von 1 8 8 3 und 1887.

und die Solidarität der Interessen beider Produktionszweige.

Man

könne den Landwirten wohl nicht verdenken, wenn sie bei den niedrigen Wollpreisen einen Wollzoll haben wollten.

„Aber diese

Anträge sind doch nur in dem Sinne gestellt worden, daß nach Prüfung der entgegenstehenden Bundesrat entscheiden sollten.

Interessen erst Reichstag und In anderem Sinne werden doch

solche Petitionen nicht unterbreitet.

Der springende Punkt ist

der: Ist die Exportbonifikation möglich oder nicht ? Ist sie möglich, dann sehe ich absolut kein Bedenken, einen Wollzoll zu bewilligen. Und ich gehe in bezug auf das Bündnis der Landwirtschaft und Industrie noch weiter als der Vorredner.

Wenn das Bündnis von

Industrie und Landwirtschaft nur den Wert hat, daß man damit gewissermaßen ein Handelsgeschäft betreibt, sich über einzelne Positionen des Zolltarifs einigt, so ist es für mich wertlos. ich nehme einen viel idealeren Standpunkt ein:

Nein,

Wenn die eine

oder die andere Erwerbsart in einzelnen Richtungen oder Produktionsgebieten bedroht ist, so ist es Pflicht des Bundesgenossen, gerade hier ratend und helfend einzugreifen.

Der Bundesgenosse

soll aber nicht gleich einen feindlichen Standpunkt einnehmen und sagen:

„Das ist Unsinn, das sind einseitige Überhebungen."

Auch der 18. Kongreß deutscher Landwirte am 1. und 2. März 1887 behandelte ein ähnliches Thema.

Den ersten Gegenstand der

Tagesordnung bildete die Frage: Muß die Landwirtschaft bei den jetzigen Preisen ihrer Produkte die Erzeugung derselben schränken?

ein-

Der Berichterstatter, Graf Kanitz, gab unumwunden

zu, daß die Hoffnungen, die der Landwirt an den Getreidezoll geknüpft habe, insofern unerfüllt geblieben seien, als eine Besserung der Preise bis jetzt nicht erzielt worden sei. Auch habe die Einfuhr von Getreide seit 1884 ständig abgenommen. Der Redner nahm an, daß die Wirkung des Zolles durch das Heruntergehen der Schiffsfrachten völlig paralysiert worden sei.

Da sich aber ein weiterer

Rückgang der Transportkosten nicht erwarten lasse und der ausländische Weizenbauer sein Produkt nicht noch billiger liefern könne, so glaubte der Redner, daß eine nochmalige Erhöhung der Getreidezölle ihre'Wirkung nicht verfehlen werde.

Allerdings, wenn der

Getreidezoll von 3 M. auch die Preise nicht gehoben habe, so könne

124

Kapitel VI.

man doch sicher sein, daß die Getreidepreise heute noch um 3 M. niedriger sein würden, wenn wir den Zoll nicht hätten. Energisch trat dann in der Debatte der alte v. Diest-Daber, der heftige Gegner Bismarcks aus früheren Zeiten, für die Erhöhung der Getreidezölle ein. Ihm war alles, was von der Regierung für die Landwirtschaft versprochen war, zu wenig. Daß die Getreidezölle erhöht würden, betrachtete er als sicher, aber der Zeitpunkt schien ihm zu weitgerückt. Er verlangte eine sofortige Erhöhung, und zwar die doppelte Höhe der alten Zölle. Mit aller Energie forderte er von den anwesenden Mitgliedern, soweit sie Reichstagsabgeordnete wären, Vertretung dieser Wünsche. Auch Dr. v. Frege-Abtnaundorf nahm in seinem Referat über den Gegenstand: „Der landwirtschaftliche Notstand in seinen Wirkungen auf die Erwerbsverhältnisse in den Städten und Industriebezirken" Stellung zu dem Verhältnis zwischen Landwirtschaft und Industrie und Landwirtschaft und Handwerk. Er bedaurc die Zeiten, in denen Landwirtschaft und Industrie im Kampfe miteinander gestanden hätten. „Aber ebenso, wie ich dieses notwendige Handinhandgehen beider Kreise betone, muß ich auch zugeben, daß wir Landwirte im Zusammenwirken mit der Großindustrie hier und da übervorteilt worden sind; es lag das aber nicht allein an letzterer; der Fehler lag auch zum Teil an'uns, in der ganzen früheren Teilung Deutschlands in Süd- und Norddeutschland, in den getrennten Interessen des Nordostens und des Südwestens1). Aber nicht allein zwischen Landwirtschaft und Industrie muß ein wechselseitiges Mitarbeiten und stete Rücksichtnahme gegenseitiger Interessen stattfinden, wir müssen vor allem, und das scheint mir eine der wichtigsten Aufgaben der Grundbesitzer Deutschlands zu sein, noch einen weiteren großen Erwerbszweig in Deutschland, d a s H a n d w e r k , vor dem Aufsaugen durch das Manchestertum schützen." 2 ) Daß man das hier und da außer acht gelassen habe, habe sich schon zuweilen gerächt, wenn man die Unterstützung des Handwerks Eötig gehabt hätte. ') Verhdlg. des Kongresses deutscher Landwirte, 1887 S. 8, 2 ) a. a. 0 . S. 9.

Die Zollerhöhungen von 1885 und 1887.

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Die Versammlung faßte die Resolution, daß unbeschadet anderer volkswirtschaftlicher Maßnahmen auch eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Schutzzölle wesentlich zur Behebung der landwirtschaftlichen Krisis beitragen würde. Der deutsche Landwirtschaftsrat hatte am 31. März 1887 als Punkt 8 der Tagesordnung eine „Besprechung über die Lage der deutschen Landwirtschaft" aufgestellt, welche den Zweck haben sollte, eine freie Diskussion zu veranlassen, aus welcher für das weitere Vorgehen des deutschen Landwirtschaftsrates der Weg sich ergeben und Material geschöpft werden sollte. Die Verhandlungen ergaben ein sehr ausführliches Bild der Gründe für die landwirtschaftliche Notlage. Einer Erhöhung der Zölle gegenüber verhielt man sich aber im großen und ganzen ablehnend. Herr v. RembergFlamersheim wollte allerdings dafür eintreten, daß eine eventuelle Erhöhung der Zölle in Aussicht zu nehmen und zu befürworten sei 1 ). Auch ökonomierat Schumacher-Zarchlin hielt eine Erhöhung des Getreidezolles und die Einführung eines Wollzolles für diskutabel 2 ), Knauer-Gröber trat für die Gleichstellung des Zolles für Gerste mit Roggen und Weizen ein, zum Schutz gegen das früher erntende Ungarn; aber eine sofortige Erhöhung der landwirtschaftlichen Hauptzölle hielt er, obwohl er selbst Bescheidenheit nicht seine Tugend nannte, für ausgeschlossen: „Wir können doch jetzt nicht wieder anfangen, von Zöllen zu reden; man kann über die Zölle sehr nett denken, man kann sie wünschen; aber man soll doch in der jetzigen Zeit nicht davon reden. Man soll jetzt nur von den Ihnen vorgeschlagenen Dingen reden, die sofort auszuführen sind." 3) Am 14. Januar 1887 war der Reichstag aufgelöst worden, weil die Reichstagsmehrheit gegen die Militärvorlage (Septennat) stimmte. Die Neuwahlen vom 21. Februar ergaben eine Mehrheit der „nationalen" Parteien von 44 Stimmen gegenüber der Opposition (217 gegen 173). Diese Umwandlung war fast ausschließ') Archiv des Deutsehen Land wirtschaftsrates, 1887 S. 210. ') a. a. 0. S. 216. s ) a. a. 0. S. 221 ff.

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Kapitel VI.

lieh auf Kosten der Deutschfreisinnigen und Sozialdemokraten geschehen — also der Parteien, die auch die erbitterten Gegner der Schutzzollpolitik darstellten. In wirtschaftspolitischen Dingen hatte die Regierung völlig freie Hand. Bismarck war nicht mehr der harmlose Finanzzöllner, als den er sich 1879 hingestellt hatte. Er war überzeugter Schutzzöllner geworden. Nicht der Geldeinnahmen wegen wünschte er die Erhöhung der Schutzzölle, sondern in der Überzeugung von ihrer Vortrefflichkeit und weil sie die Mehrheit des Volkes zu wünschen schien. Am 1. Dezember 1887 fand die erste Beratung über den Entwurf eines Gesetzes betreffend die Abänderung des Zolltarifs statt, welcher als Zölle für Weizen und Roggen 6 M. (früher 3 M.), für Hafer 3 M. (früher 1,50 M.), Buchweizen 2 M. (1 M.), Hülsenfrüchte 2 M. (1 M.), Gerste 2,25 M. (1,50 M.) forderte. Fürst Bismarck selbst beteiligte sich an den Verhandlungen nicht. So weit waren die schutzzöllnerischen Ideen schon durchgedrungen und so sicher konnte er einer Majorität im Reichstage sein, daß er zum ersten Male diesen Verhandlungen nicht selbst beiwohnte und seine Vertretung dem Landwirtschaftsminister überließ. Von Staatsminister Dr. Lucius, der in der ersten Beratung die Vorlage vertrat, wurde schärfer als in den früheren Zollverhandlungen betont, daß die diesmalige Zollerhöhung die Notlage der Landwirtschaft beseitigen solle, daß man also eine Verteuerung der Getreidepreise anstrebe. Bisher hätten die Zölle die Preise nicht dauernd hochhalten können. Man müsse also mit einer bedeutenderen Erhöhung kommen. „Wenn in früheren Zeiten", führte auch Herr v. Helldorf an, „oft auch von einzelnen Herren von unserer Seite ausgeführt worden ist, daß in Wirklichkeit die Zölle gar keine Steigerung hervorrufen, so war das gewissermaßen ein Trost für schwache Gemüter; es wirkt ja gewissermaßen bestechend, wenn man sich sagt: wirkt der Zoll nicht, so bringt er wenigstens Geld in die Kasse, und das Ausland zahlt dieses; aber der eigentliche Zweck der Sache — das betone ich ausdrücklich — ist und muß sein die Erhaltung eines Preisniveaus für unser deutsches Getreide, welches den deutschen Getreidebau überhaupt

Die Zollerhöhungen von 1885 und 1887.

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möglich macht gegenüber der wechselnden Konkurrenz des Auslandes." Das andere vorgeschlagene Mittel zur Hebung der landwirtschaftlichen Not, die Änderung der Währung, ließe sich allein von Deutschland nicht wirkungsvoll durchführen, es bliebe eben kein anderes wirksames Mittel als die Zölle. Im übrigen handelte es sich bei der Diskussion hauptsächlich um den Streit, wieviel Prozent der landwirtschaftlichen Bevölkerung einen Vorteil von hohen Getreidepreisen hätten. Hierüber waren die Meinungen außerordentlich geteilt. Ferner kam die Frage der Brotverteuerung zur Verhandlung, welche wieder von beiden Seiten als Beweismittel angeführt wurde. Während die Schutzzöllner anführten, daß das weitere Steigen der Brotpreise nicht den Zöllen zugeschoben werden könne, da ja die Getreidepreise nicht gestiegen seien, wenigstens nicht in einer so fühlbaren Weise, sah die Gegenpartei einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Zollerhöhung und Brotverteuerung. Gleich umstritten oder besser umworben wurde das Argument der Beeinflussung der Industrie. Auf der einen Seite behauptete man, daß erst durch die Getreidezölle der Industrie geholfen wurde, und zwar durch die Erweiterung des inneren Absatzes, auf der andern Seite wurde erklärt, daß gerade durch die Zölle die Industrie geschädigt werde, indem man sie konkurrenzunfähig mache gegenüber dem Auslande. Als unbedingt notwendig sah der Abgeordnete Dr. v. Frege schon eine gründliche Reform der Produktenbörse an. Noch einmal ergriff der Minister Lucius das Wort zu der Mahnung, in den Kommissionsberatungen keine der heiklen Fragen, wie Währungsfrage und Identitätsnachweis mit der Zollerhöhung zu verknüpfen, da sonst die Gefahr bestände, daß eine Einigung gar nicht erzielt und das ganze Werk gefährdet würde. Da gerade bei der Frage der Aufhebung des Identitätsnachweises nicht nur die Meinungen in der Landwirtschaft sich diametral gegenüberständen, sondern auch der deutsche Handelstag zu keiner Klarheit darüber gekommen sei, könne man einstweilen nichts Besseres tun, als es bei dem augenblicklichen Zustande bewenden zu lassen. Auf Grund der Kommissionsverhandlungen erfuhr der Regierungsentwurf in der zweiten Beratung (13. bis 15. Dezember)

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Kapitel VI.

wesentliche Veränderungen. Die Sätze für Hafer und Gerste wurden zwar gemäß der Regierungsvorlage angenommen, weil die auf Abänderung eingebrachten Anträge nicht durchdrangen, aber für Weizen und Roggen wurde die Ermäßigung von 6 auf 5 M. durchgesetzt. In der dritten Lesung wurde die Vorlage am 17. Dezember, nachdem der Landwirtschaftsmiriister in dieser Fassung, nur unter Erhöhung des Haferzolles auf 4 M., das Einverständnis des Bundesrates zugesichert hatte, mit 203 gegen 116 Stimmen angenommen.

Kapitel VII.

Die Herabsetzung der Schutzzölle und die Begründung des Bundes der Landwirte. Trotz der kräftigen Rufe zur Sammlung aus dem Munde des Fürsten Bismarck schien die deutsche Landwirtschaft nach 1879 zunächst keine Veranlassung zu haben, sich zur selbständigen Geltendmachung ihrer wirtschaftlichen Interessen in größerem Stile zu organisieren. Es blieb bei den alten Vereinigungen, der Steuerund Wirtschaftsreformer, des Kongresses deutscher Landwirte und des deutschen Landwirtschaftsrates. Nur einem kleinen Organisationsversuch begegnen wir. Am 31. März 1885 wird von dem ökonomierat Knauer-Gröbers der „Deutsche Bauernbund" gegründet, der sich bemühte, „überall Hand in Hand mit dem Großgrundbesitz und den anderen konservativen Volksklassen zu gehen, so lange dadurch die Interessen des Bauernstandes gesichert sind" x ). Diese Organisation mußte bald einer mächtigeren weichen. Mit dem Sturze des Fürsten Bismarck am 20. März 1890 und der Ernennung Caprivis zum Reichskanzler begann ein Umschwung auch in den wirtschaftspolitischen Anschauungen der Regierung. Wenn der neue Reichskanzler auch vollkommen auf dem Standpunkt stand, daß die deutsche Landwirtschaft sowohl um ihrer selbst willen als auch im Interesse des ganzen Staates eines Schutzes bedürfe, daß man sie nicht der Konkurrenz des Auslandes einfach preisgeben dürfe, und daß man deshalb auch der Zölle nicht entraten könne, so hatte er doch andere Ansichten über den Wert ') Zehn Jahre wirtschaftspolitischen Kampfes. Historische Darstellung der Gründung, des Werdeganges und des bisherigen Wirkens des Bundes der Landwirte. 1903. 9 C r o n e r, Agrarische Bewegnng.

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Kapitel VII.

dieses Schutzmittels als sein Vorgänger und sah in hohen Schutzzöllen eine Gefahr für die Gesamtbevölkerung. Der hauptsächlichste Nachteil so hoher landwirtschaftlicher Zölle war nach seiner Ansicht der, daß der internationale Güteraustausch dadurch gehindert würde, da sich die anderen Staaten genötigt sähen, sich in gleicher Weise abzuschließen. Deshalb müsse man Handelsverträge abschließen, um möglichst viele und mehr als bisher deutsche Waren im Auslande zu verkaufen, um in der Form des Geldes einen Zuwachs von Kaufkraft und Wohlstand aus dem Auslande hineinzuziehen. Der Verlust des Absatzes im Auslande, wie er nach der bisherigen Wirtschaftspolitik als unvermeidlich sich herausstellte, sei eine Kalamität; ein Betrieb nach dem andern laufe Gefahr, eingestellt zu werden. „Wir müssen exportieren: entweder wir exportieren Waren oder wir exportieren Menschen. Mit dieser steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende Industrie sind wir nicht in der Lage, weiter zu leben. Wir haben mehr Menschen im Inlande zu ernähren, und wir müssen für mehr Hände Arbeit schaffen. Der innere Markt genügt nicht mehr." 1 ) In diesen Aussprüchen Caprivis zeigte sich der volle Gegensatz gegenüber dem von den Landwirten geforderten „Schutz der nationalen Arbeit". Der Gedankengang des Kanzlers war: Die Interessen der Landwirtschaft müssen so weit zurücktreten, als das Gesamtwohl es erfordert. Da wir exportieren müssen und keine Menschen exportieren wollen und keine landwirtschaftlichen Produkte exportieren können, so müssen wir eben industrielle Produkte exportieren, und damit wir das können, müssen wir die Ländei mit Uberproduktion in Rohstoffen, welche nur sie nötig haben, durch Handelsverträge, d. h. durch Ermäßigung unserer landwirtschaftlichen Zölle, geneigt machen, von uns Waren zu kaufen. — Die bisher bestehenden Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Italien und Belgien erloschen im Jahre 1892. Am 7. Dez. 1891 wurden der zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn abgeschlossene neue Handelsund Zollvertrag, ebenso wie die Verträge mit Italien und Belgien vom Bundesrat genehmigt. Die Zugeständnisse Deutschlands be-

') Siehe Reichstagsverhandlungen vom 10. Dezember 1891, S. 330 ff.

Herabsetzung der Schutzzölle, Begründung des Bandes der Landwirte.

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standen in Zollherabsetzungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und der Gewinn neben der zwölfjährigen Vertragsdauer in dem erleichterten Absatz unserer Industrieerzeugnisse auf den fremden Märkten. Diese neue Richtung der Politik, deren Kosten unzweifelhaft zunächst die Landwirtschaft tragen mußte, gab den Anlaß zu einer allgemeinen Bewegung in den Kreisen der Landwirtschaft, die sich lediglich auf die Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen gründete. Die erste Anregung zu einer Politik der Sammlung deutscher Landwirte gegen die Caprivische Wirtschaftspolitik gab ein Artikel des Grafen Limburg-Stirum in der Kreuzzeitung vom 14. Dezember 1891, „Zu den Handelsverträgen". Er sprach sich in energischer Tonart gegen die Stellung der Regierung aus und schloß mit den Worten: „Wenn die konservative Partei einsehen könnte, daß das der Landwirtschaft zugemutete Opfer wirklich zum Wohle des Staates nötig sei, so wäre es gebracht worden ohne Murren. Aber d a s unnötigerweise preisgegeben zu sehen, wofür die konservative Partei jahrelang mit aller Energie gekämpft hat, muß das bittere Gefühl hervorbringen, welches entsteht, wenn man für loyale und treue Unterstützung ungerechte Behandlung erfährt." Die Regierung bestrafte den Artikelschreiber mit Dienstentlassung und Entziehung seines Ruhegehaltes; er war zur Disposition gestellter preußischer Gesandter. Die Bewegung aber war damit nicht zu ertöten. Fast genau ein Jahr darauf erscholl aus Bunzlau ein Feldgeschrei, das in allen Teilen Deutschlands widerhallte. Der Generalpächter RuprechtRansern veröffentlichte am 21. Dezember 1892 in der „Landwirtschaftlichen Tierzucht" einen „Vorschlag zur Besserung unserer Lage". Nach einigen einleitenden Worten fuhr dieser berühmt gewordene Aufruf fort: „Ich schlage nichts mehr und nichts weniger vor, als daß wir unter die Sozialdemokraten gehen und ernstlich gegen die Regierung Front machen, ihr zeigen, daß wir nicht gewillt sind, uns weiter so schlecht behandeln zu lassen wie bisher, und sie unsere Macht fühlen lassen. . . . Wir müssen aufhören, zu klagen . . . , wir müssen schreien. . . . Wir müssen schreien, daß es das 9*

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Kapitel ATI.

ganze Land hört, wir müssen schreien, daß es bis in die Parlamentssäle und Ministerien dringt —, wir müssen schreien, daß es bis an die Stufen des Thrones vernommen wird. Aber wir müssen, damit unser Geschrei nicht auch wieder unbeachtet verhallt, gleichzeitig handeln. Wir müssen handeln, indem wir aufhören, was wir bis jetzt immer für selbstverständlich hielten, für die Regierung in unseren Bezirken die Wahl zu machen, wir müssen alle Ehrenämter ablehnen . . . , wir müssen es dahin bringen, daß unsere Herren Landräte nach oben berichten, in den Kreisen der Landwirtschaft herrscht die größte Unzufriedenheit, so daß ihre frühere so regierungsfreundliche Gesinnung in das Gegenteil umgeschlagen ist. Wir müssen . . . Politik, und zwar Interessenpolitik treiben; haben wir doch den Mut, den Namen Agrarier, den die landwirtschaftsfeindliche Presse uns so oft unberechtigt gegeben hat, nun mit Recht zu tragen; denn nur dadurch, daß wir rücksichtslose und ungeschminkte Interessenpolitik treiben, kann vielleicht die Existenz der heutigen Landwirte . . . gerettet werden. Deshalb müssen wir aufhören, liberal, ultramontan oder konservativ zu sein und zu wählen, vielmehr müssen wir uns zu einer einzigen großen agrarischen Partei zusammenschließen und dadurch mehr Einfluß auf die Parlamente und die Gesetzgebung zu gewinnen suchen." Dieser Aufruf fand in der landwirtschaftlichen Bevölkerung des ganzen Deutschen Reiches Widerhall. Auf Anregung des Freiherrn v. Wangenheim-Kl.-Spiegel trat eine Anzahl Landwirte zusammen, die am 28. Januar 1893 gleichfalls in der „Landwirtschaftlichen Tierzucht" einen zweiten Aufruf erließen: „Eine Frage an die Regierung, eine Mahnung an die deutschen Landwirte." In ihm war der Zustand der Haupterwerbsquellen der Landwirtschaft und die Hauptbeschwerdepunkte aufgeführt. Es waren: die Unrentabilität des Kornbaues wegen der Herabsetzung der Zölle, die Ertraglosigkeit der Schafhaltung ohne Wollzoll, die Unsicherheit der Schweinemästung wegen der wechselnden Einfuhrbestimmungen und der daraus folgenden rapiden Preisstürze, die Überschwemmung mit ausländischem Rindvieh, die mangelnde Grenzsperre gegen

Herabsetzung der Schutzzölle, Begründung des Bandes der Landwirte.

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Maul- und Klauenseuche, die Beseitigung der Ausfuhrvergütung für die Zuckerindustrie, die dadurch nicht mehr konkurrenzfähig sei, die Erschwerung des Spiritusexports durch die spanischen Zollerhöhungen, das Fehlen reichlicher und billiger Transportwege, besonders von Tertiärbahnen, und die Forderung einer großen Berufsgenossenschaft iür die Landwirtschaft mit allen ihren Nebengewerben. Demgegenüber wurden als Ziele für die Landwirtschaft hingestellt: eine starke Gesamtvertretung der Landwirtschaft in Landwirtschaftskammern mit maßgebenden Stimmen in allen wirtschaftlichen Fragen, ein Landwirtschaftsminister, entschlossen, das landwirtschaftliche Interesse zu schützen und zu fördern, weiser Zollschutz, Vervollkommnung der Transportmittel, praktische Ausbildung der Beamten, Förderung des landwirtschaftlichen Versuchsund Meliorationswesens, eine große Wirtschaftspartei in den Parlamenten, ein gut geleitetes Preßorgan. Der Aufruf lud zum Schlüsse die Berufsgenossen zu einer konstituierenden Versammlung in Berlin ein. Am 4. Februar 1893 tagte im Klub der Landwirte in Berlin diese Vorversammlung, einberufen von Ruprecht, Freiherrn v. Wangenheim und dem Herausgeber der „Landwirtschaftlichen Tierzucht", Felix Teige, zu der sich etwa 130 Landwirte aus allen Landesteilen eingefunden hatten. Vierzehn Tage darauf, am 18. Februar, wurde im Saale der Tivoli-Brauerei in Berlin die konstituierende Versammlung des Bundes der Landwirte in zwei aufeinanderfolgenden Versammlungen von dem Hauptmann a. D. v. Ploetz-Döllingen eröffnet. Seine Einführungsrede gipfelte in dem Satze: „So kann es nicht weiter gehen, wir verlangen Schutz und Schirm für die deutsche Landwirtschaft, sonst geht dieselbe elend zugrunde." Um dies zu verhindern, sollte der Verein gegründet werden, obwohl viele Stimmen sich ursprünglich gegen die Gründung einer neuen Verbindung erklärt hatten und das gleiche Ziel eher im Anschluß an bestehende politische Parteien suchen wollten. Der Bund der Landwirte sollte ein Verein sein, der, frei von jedem politischen Parteizwange und frei von jeder Fraktionspolitik, alle wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragen behandele und besonders für die Parlamentswahlen tätig sei. Nur solche Männer

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Kapitel VII.

dürften gewählt werden, die eine Garantie böten, daß sie diese Forderungen verträten. Von lebhaftem Beifall begrüßt, wies dann Ruprecht-Ransern, der Rufer im Streit, darauf hin, daß die Staatsund Königstreue, die den Landwirten im Blute liege, auch eventuell in eine energische Opposition sich wandeln könne, wenn es sich um die Existenz handele. Und das wäre der Fall, denn die Regierung stände dem Antrag der Konservativen, daß bei neuen Handelsvertragsverhandlungen die Interessen der Landwirtschaft besser gewahrt werden müßten, kühl bis ans Herz hinan gegenüber. Freiherr v. Wangenheim-Kl.-Spiegel entschuldigte die stürmische Eile, mit der die Vorbereitungen zu der Versammlung getroffen seien, damit, daß man durch eine imposante Kundgebung hätte Front machen wollen gegen die drohenden neuen Handelsverträge. Er gab dann eine Übersicht über die beabsichtigte Organisation des Bundes: einen Zentralvorstand in Berlin, Provinzialvorstände und weiterhin Kreisvorstände in allen deutschen Landesteilen und bis in die kleinsten Orte hinein Vertrauensmänner, so daß „in Berlin nur auf den Knopf gedrückt zu werden braucht, und die deutsche Landwirtschaft hat ihr gewichtiges Wort zu rechter Zeit ausgesprochen." Zum Schlüsse seiner Ausführungen verglich er noch die Bewegung mit den Befreiungskriegen, in denen das Vaterland sich erhob, als die Not am höchsten gestiegen war. Für Dr. v. Frege-Abtnaundorf lag die Bedeutung der deutschen Nation nicht auf dem Asphaltpflaster, sondern bei den eisenbeschlagenen Schuhen der Agrarier, wenn auch ihre Steuerquote vielleicht hinter der der Großstädte zurückstehe. Ihm war es ein Kampf der drei römischen Horatier gegen die drei Curiatier. Die drei Horatier waren ihm: der landwirtschaftliche Besitzer, der landwirtschaftliche Pächter, der landwirtschaftliche Arbeiter. Sie nahmen den Kampf auf gegen die drei Curiatier: Großstanddünkel, Freisinn und Sozialdemokratie. Der verneinenden Antwort sicher, warf Herr v. Frege zum Schluß die Frage auf, ob jemand in der Versammlung zu sagen wage, daß der Ackerbau, die Viehzucht nicht mehr das produzieren können, was die deutsche Nation zu ihrem Leben brauche. Die Landwirtschaft könne das in friedlichen Zeiten und wolle es auch, wenn sie das billige Betriebs-

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kapital und die Unterstützung der Regierung da habe, wo sie sie brauche. Nachdem noch Vertreter aus Sachsen, Bayern, Posen, darunter der Vorsitzende des bayrischen Bauernbundes, Lutz, und Freiherr v. Thüngen-Roßbach sowie der Landtagsabgeordnete Graf v. Limburg-Stirum vom Vorstande der konservativen Partei in gleichem Sinne gesprochen hatte, gab zum Schlüsse noch auf Verlangen der Versammlung Graf v. Mirbach-Sorquitten dem Wunsche Ausdruck: „daß diese Bewegung, der agrarische Tropfen, der den Stein des Widerstandes gehöhlt hat, der zu Wogen geworden ist, daß die Wogen dieser agrarischen Bewegung nicht ineinander schlagen und sich gegenseitig zerstören möchten, so daß diese Bewegung der Wogen am Ufer zerschellt; ich habe den Wunsch, daß aus dieser Bewegung eine mächtige Kraft hervorgeht, die dauernd unsere Landwirtschaft in die Wege leitet, in die sie geleitet werden muß, das heißt nicht in die Wege der Zerstörung, sondern des Aufbaues." 1 ) Mit lebhaftem Beifall wurde dann das Programm des Bundes der Landwirte angenommen. Es lautete: „1. Genügender Zollschutz für die Erzeugnisse der Landwirtschaft und deren Nebengewerbe. 2. Deshalb keinerlei Ermäßigung der bestehenden Zölle, keine Handelsverträge mit Rußland und andern Ländern, welche die Herabsetzung der deutschen landwirtschaftlichen Zölle zur Folge haben, und eine entsprechende Regelung unseres Verhältnisses zu Amerika. 3. Schonung der landwirtschaftlichen, besonders der bäuerlichen Nebengewerbe in steuerlicher Beziehung. 4. Absperrung der Vieheinfuhr aus seuchenverdächtigen Ländern. 5. Einführung der Doppelwährung als wirksamsten Schutz gegen den Rückgang des Preises der landwirtschaftlichen Erzeugnisse. 6. Gesetzlich geregelte Vertretung der Landwirtschaft durch Bildung von Landwirtschaftskammern. ') Korrespondenz des Bundes der Landwirte 1893.

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7. Anderweitige Regelung der Gesetzgebung über den Unterstützungswohnsitz, die Freizügigkeit und den Kontraktbruch der Arbeiter. 8. Revision der Arbeiterschutzgesetzgebung, Beseitigung des Markenzwanges und Verbilligung der Verwaltung. 9. Schärfere staatliche Beaufsichtigung der Produktenbörse, um eine willkürliche, Landwirtschaft und Konsum gleichmäßig schädigende Preisbildung zu verhindern. 10. Ausbildung des privaten und öffentlichen Rechts, auch der Verschuldungsformen des Grundbesitzes und der Heimstättengesetzgebung auf Grundlage des deutschen Rechtsbewußtseins, damit den Interessen von Grundbesitz und Landwirtschaft besser als bisher genügt wird. 11. Möglichste Entlastung der ländlichen Organe der Selbstverwaltung." Um jedoch außer der einen Tat, der Gründung des Bundes, die für die Z u k u n f t helfen sollte, noch eine Tat auszuführen, die als Abhilfe für die G e g e n w a r t bestimmt war, beschloß man, auf Antrag des Dr. Rösicke-Görsdorf gegen den beabsichtigten Handelsvertrag mit Rußland noch folgende Resolution anzunehmen: „Die heute hier versammelten vielen tausend Vertreter der Landwirtschaft aus allen Teilen Deutschlands erklären: Wir verlangen, daß die Grundlagen, auf welchen die Stärke unseres Vaterlandes beruht, unversehrt erhalten bleiben. Von diesem Verlangen beseelt und überzeugt, daß nach außen nur eine starke Militärmacht uns den Frieden, dessen wir bedürfen, erhalten kann, sind wir zu jedem Opfer bereit, welches hierfür verlangt wird. Wir sind aber von der festen Überzeugung durchdrungen, daß die dauerndste und sicherste Grundlage für unseres Vaterlandes Macht und Größe in dem Gedeihen der Landwirtschaft beruht. Die Gesetzgebung der letzten Jahre, verbunden mit den abgeschlossenen Handelsverträgen, hat aber diese Grundlage so gewaltig erschüttert, daß die Existenzfähigkeit der deutschen Landwirtschaft gefährdet erscheint.

Herabsetzung der Schatzzölle, Begründung des Bandes der Landwirte.

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Wir erkennen namentlich in der drohenden Gewährung weiterer Einfuhrvergünstigungen an das Ausland eine unerträgliche Schädigung unseres Gewerbes. Wir richten daher an den hohen Reichstag die dringende Bitte, derselbe wolle allen weiteren Handelsverträgen, soweit sie eine Herabsetzung der bestehenden Zölle enthalten, unbedingt seine Zustimmung versagen und auf eine Förderung auch der landwirtschaftlichen Ausfuhr Bedacht nehmen, damit die deutsche Landwirtschaft blühen könne zum Segen des gesamten Vaterlandes." Der erste Vorstand des Bundes der Landwirte für das ganze Reich wurde aus folgenden Herren zusammengesetzt: v. Ploetz, Dr. Roesicke, Graf Mirbach, Ruprecht, Dr. von Frege, Kreuzer, Kolmar. Die Bewegung griff rasch nach Süddeutschland und Westelbien über (siehe die Tabelle). Am 13. Februar 1893 schlössen Mitgliederzahl des Bundes der Landwirte 1896 1896 1897 1898 1899 1900 1901

... 188 620 189796 ... ... 184264 ... 187000 . . . . . . r. 188000 . . . . . . r. 206000 . . . . . . r. 232000

1902 1903 1904 1906 1906 1907 1908

am 1. Februar.

. . . . . . r . 260000 . . . . . . r. 260000 . . . . . . r.260000 . . . . . . r. 260000 . . . . . . r. 272000 . . . . . . T. 282 000 . . . . . . r. 290000.

sich die Württemberger Landwirte dem Bunde an, am 24. März 5000 Landwirte in Mainz. Die unter katholischer Führung stehenden Bauernvereine im Großherzogtum Hessen, in Schlesien, am Rhein, in Nassau, Sachsen und Posen lehnten zunächst den Anschluß ab; die niederbayerischen Landwirte in Straubing gründeten einen besonderen Bund, ähnlich dem kurz vor dem Bunde der Landwirte gegründeten fränkischen Bauernbund. Am 17. Juni beschloß dagegen die Generalversammlung des Deutschen Bauernbundes seine Auflösung und sein Aufgehen in den Bund der Landwirte. ') Nach den auf den Generalversammlungen gemachten Angaben s. Korrespondenz des Bundes der Landwitte von 1895 bis 1908.

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Die Reichsregierung sah der wachsenden agrarischen Bewegung mit steigender Besorgnis entgegen. Der Kaiser empfing zwar am 22. Februar 1893 eine Abordnung landwirtschaftlicher Vereine aus den östlichen Provinzen unter Führung des Rittergutsbesitzers v. Below-Saleske und sagte ihr eingehende Prüfung und möglichste Berücksichtigung ihrer Wünsche zu, die Reichsregierung wies jedoch durch den Mund des Reichskanzlers die Bestrebungen des Bundes der Landwirte als unvereinbar mit dem Wohle der Allgemeinheit zurück. Kurz nach seiner Konstituierung wurde der Bund sofort auf eine harte Probe gestellt. Am 6. Mai 1893 wurde der Reichstag aufgelöst, weil er die Vervollständigung der Waffenrüstung des Reiches durch die vorgeschlagene Armeereorganisation nicht bewilligen wollte. Zum ersten Male trat der Bund in die Wahlbewegung. Sein Wahlprogramm lautete: Erhaltung der landwirtschaftlichen Zölle, Ablehnung aller Handelsverträge, die sie herabsetzen wollen, Sperrung der Grenzen gegen Vieh aus verseuchten Ländern, Entschädigung für die durch Maul- und Klauenseuche erlittenen Verluste, Beschränkung des Börsenspiels mit Nahrungsmitteln, Vereinfachung und Verbilligung der Versicherungsgesetzgebung und Klärung und internationale Regelung der Währungsfrage. Der Bund verlangte endlich noch von den durch ihn gewählten Abgeordneten, daß sie sich in ähnlicher Weise wie 1879 zu einer wirtschaftlichen Vereinigung zusammentun müßten. Das direkte Wahlergebnis war für den Bund nicht günstig. Nur sein Vorsitzender, Herr v. Ploetz, trat in den Reichstag ein, doch wurden 140 Abgeordnete gewählt, die sich auf den Boden seiner wirtschaftlichen Anschauungen stellten und sich am 13. Juli 1893 zu einer „Wirtschaftlichen Vereinigung" zusammentaten, zu deren Vorsitzendem Herr v. Ploetz gewählt wurde. Das Zentrum hatte seinen Mitgliedern den Beitritt zu dieser Vereirigung nicht gestattet, und die Vereinigung war daher genötigt, außer bei den konservativen Parteien in der Hauptsache bei den Polen und Antisemiten die nötige Verstärkung zu suchen. — Am 23. November begann im Reichstage die Beratung über die Handelsverträge mit Rumänien, Spanien und Serbien.

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Im Vertrage mit Spanien war der bis vor wenigen Jahren wichtigste deutsche Ausfuhrartikel nach diesem Lande, Spiritus, leer ausgegangen, alle Anstrengungen der deutschen Spiritusbrennereien, den spanischen Markt wieder zu öffnen, waren erfolglos geblieben, dagegen war in dem Vertrage mit Rumänien dem dortigen Getreide der ermäßigte Zollsatz von 3,50 M. gewährt worden; der serbische Vertrag hatte geringe Bedeutung. Unter den schärfsten Angriffen, die in dem Korrespondenzblatte des Bundes auf den Reichskanzler und den Freiherrn v. Marschall gerichtet wurden, kam man auf agrarischer Seite zu dem Schlüsse, daß unter Caprivi die wahren Stützen von Thron und Altar das Recht und die Pflicht zur Opposition hätten. Unzufrieden mit der herrschenden Tonart, traten einige hervorragende Agrarier im Oktober aus dem Bunde aus, der rühmlichst bekannte Abgeordnete Schulz-Lupitz mit der öffentlichen Erklärung: „Wohin ich blicke bei den Maßnahmen des Bundesvorstandes, sehe ich nur Mißgriffe, nur Niederreißen und Verwirrung." Bei den Reichstagsverhandlungen vom 23. bis 25. November 1893 war von einer eigentlichen Debatte über die zur Beratung stehenden Verträge selbst kaum die Rede, sie drehte sich vielmehr fast ausschließlich um die Lage der deutschen Landwirtschaft, die bisherigen Handelsverträge und den in naher Aussicht stehenden Handelsvertrag mit Rußland. Die Gegensätze zwischen der Regierung und den konservativen Parteien waren noch nie so schroff zum Ausdruck gekommen. Der konservative Graf Limburg-Stirum warnte die Regierung vor der allgemeinen Mißstimmung im Lande, worauf ihm der Regierungsvertreter, Freiherr v. Marschall, antwortete, daß diese Mißstimmung erst von den Konservativen selbst erzeugt und geschürt sei. Den Bund der Landwirte verteidigte sein Vorsitzender, v. Ploetz; der Bund habe die Erregung nicht hervorgerufen, sondern sei nur geschaffen, um weitere Ausschreitungen zu verhüten, die aus der schon vorher gegen die Regierung vorhanden gewesenen Mißstimmung hervorgehen könnten. Der Reichskanzler Graf Caprivi hielt die Gründung des Bundes an sich für gut, sein Gebaren aber rufe Bedenken hervor. Auch sei er arm an schöpferischen Gedanken, und die Gefahr sei nahe, daß seine

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Agitation unverträglich mit den konservativen Grundsätzen werde, indem er den Egoismus gegenüber dem Staate fördere. Noch schärfer sprach am 25. November der Staatssekretär v. Marschall, der den Nachweis forderte, daß die Landwirtschaft durch die Handelsverträge geschädigt werde und erklärte, wenn von der „Kreuzzeitung" die Königstreue mit dem 5-M.-Zoll in Verbindung gebracht werde, so sei das das Maßloseste an Aufreizung, was je vorgekommen sei. Die erste Beratung der Handelsverträge schloß mit ihrer Verweisung an eine Kommission, aus der sie am 12. Dezember zur zweiten Beratung gelangte. Hier wurde der entscheidende § 1 mit 189 Stimmen der freisinnigen, Parteien, Polen, Sozialdemokraten und eines Teiles der übrigen Parteien gegen 165 Stimmen angenommen. Bei der dritten Lesung, am 15. Dezember, schlugen die Grafen Kanitz und Herbert Bismarck vor, den Vertrag mit Rumänien nur auf ein Jahr zu schließen, was von dem Staatssekretär v. Marschall als Persiflage auf die durch den Vertrag zu erlangende Stabilität der wirtschaftlichen Verhältnisse bezeichnet wurde. Der Antrag wurde abgelehnt und die drei Handelsverträge angenommen. Die Angriffe der konservativen und der agrarischen Presse auf die Regierung und die Politik des Kanzlers wurden nach der Annahme der Handelsverträge immer schärfer. Sie erblickte in der Amtsführung Caprivis „ein einziges Trauerspiel für die Landwirtschaft" („Reichsbote"), der „Kanzler hätte kein Monopol auf zündende Gedanken und lichtvolle Ideen" („Volk"), sein Vorgehen hatte „eine unüberbrückbare Kluft" („Kreuzzeitung") zwischen Konservativen und der Regierung geschaffen, man wünschte ihm eine Heimstätte, auf welcher er seinen Kohl bauen könnte usw. Andererseits wurde auch die Haltung des Bundes der Landwirte in den Kämpfen um die Handelsverträge einer scharfen Kritik unterzogen. Die Stellung der politischen Parteien zu dieser neugegründeten agrarischen Vereinigung war ihren sonstigen Programmen entsprechend. Die liberalen Parteien erklärten sich „in voller Würdigung der Tragweite der agrarischen Bewegung" energisch gegen den Bund. Die Sozialdemokratie setzte die Agrarfrage auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages von 1894 zu Frank-

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furt a M. Das Zentrum erklärte in einer von Dr. Lieber am 4. Januar 1894 zu Frankfurt a. M. gehaltenen Rede, daß der Bund der Landwirte keine Daseinsberechtigung habe, weil er sieh auf der unwahren Behauptung gründe, daß die Interessen der Groß- und Kleingrundbesitzer die gleichen seien und weil er die Wahlen in unsittlicher Weise zu beeinflussen suche. Schwerwiegend für das Gedeihen des Bundes war dagegen die Zustimmung, deren er sich von Seiten des Fürsten Bismarck erfreuen durfte. Schon am 24. April 1893 hatte der Fürst auf ein Begrüßungstelegramm geantwortet, daß er mit Befriedigung die Entwicklung des Bundes verfolge und hoffe, daß dieser zu einem dauernden Schutzmittel der deutschen Landwirtschaft werde. Im Juli 1894 wünschte er den Bestrebungen des Bundes „das Gedeihen, ohne welches wir schwierigen Verhältnissen entgegengehen. Soviel ich zum selben Zweck in meinem Privatleben zu tun vermag, will ich gern leisten". Mit vollen Segeln steuerte der Bund nach dem Zustandekommen der „kleinen" Handelsverträge in den Kampf gegen den russischen Handelsvertrag. Als sein offizielles Organ, in dem der Kampf literarisch geführt wurde, erschienen neben der „Landwirtschaftlichen Tierzucht", die dann 1893 in die „Illustrierte Landwirtschaftliche Zeitung" umgewandelt wurde, seit dem 1. April 1893 eine Wochenschrift „Bund der Landwirte" und seit dem 11. April 1893 die „Korrespondenz des Bundes der Landwirte". Zu Beginn des Jahres 1894 setzte der Kampf für und gegen den russischen Handelsvertrag ein. Deutschlands Absicht war von vornherein gewesen, seinen Vertragstarif nur den Meistbegünstigungsstaaten zuzuwenden, um andere Länder, besonders Rußland, dadurch zum Verhandeln zu zwingen. Da Rußland 1893 eine gute Ernte hatte, so verlangte es Meistbegünstigung, während Deutschland Konzessionen, wie von Österreich, verlangte. Nach einem kurzen Zollkrieg kam es zu Verhandlungen, die am 15. Januar 1894 zum Abschluß eines Handelsvertrages führten, der dem Reichstage vorgelegt wurde.

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Ein Vorspiel der Stimmung auf agrarischer Seite gab die erste Generalversammlung des Bundes am 17. Februar 1894, auf der auch die Organisation des Bundes festgelegt wurde. Mitglied des Bundes konnte danach jeder Landwirt und jeder Freund der Landwirtschaft werden, der deutscher Reichsangehöriger und christlichen Bekenntnisses war. Der Ausschluß nichtchristlicher Mitglieder erfolgte auf ausdrücklichen Beschluß der Generalversammlung. Den Unterbau der Organisation bildeten die Ortsgruppen, d. h. die in einer Ortschaft seßhaften Mitglieder. Die Ortsgruppen schlössen sich zu einer Hauptgruppe zusammen, die Hauptgruppen eines politischen Kreises dann zu Bezirksabteilungen. Die Bezirksabteilungen eines Wahlkreises bildeten eine Wahlkreisabteilung, die dann wieder in Provinzial- oder Bundesabteilungen zusammengefaßt waren. Die Leitung und Vertretung des Bundes besorgte die Generalversammlung, der Ausschuß, der Bundesvorstand und als ausführendes Organ das Direktorium. Den Ausschuß, der seinerseits wieder den Vorstand aus 14 Mitgliedern und den Direktor wählte, bildeten die Provinzial- und Bundesvorsitzenden. Der Vorsitzende v. Ploetz erklärte in der Begrüßungsrede, das im Vorjahre gesprochene Wort „So kann, so darf es nicht weitergehen" gelte weiter und in erhöhtem Maße, denn die Verhältnisse hätten sich seitdem verschlechtert, und das Wohlwollen der Regierung stehe nur auf dem Papier. Deutschland sei noch nicht so tief gesunken, daß es sich durch Kriegsdrohungen einen so jammervollen Vertrag (wie den russischen) abringen zu lassen brauche. Der Bauer Lutz aus Bayern sagte, daß durch den Handelsvertrag die Landwirtschaft der Vernichtung preisgegeben werde. Ein Redner aus Schlesien sprach dem Reichskanzler das richtige Gefühl für seine ministerielle Verantwortlichkeit ab, und v. Wangenheim erklärte, die Landwirte würden auch dann nicht mit den Sozialdemokraten gehen, wenn der Reichskanzler noch so vergnügt auf dem Strome derselben schwimme. Unter solchen Auspizien auf agrarischer Seite begannen die Reichstagsverhandlungen über den am 15. Januar auf 10 Jahre mit Rußland geschlossenen Handelsvertrag, der für Deutschland eine Reihe wichtiger Verkehrserleichterungen für bedeutende

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deutsche Gewerbe, für Kohlen und elektrische Kabel eine Zollermäßigung um 50% enthielt und die Textil-, Eisen- und chemische Industrie in erster Reihe berücksichtigte. Als Gegenleistung war Rußland die Anwendung des 1891 Österreich-Ungarn und den übrigen Meistbegünstigungsstaaten zugestandenen Vertrages eingeräumt worden, also eine Ermäßigung der Getreidezölle auf 3,50 M. Eine viertägige Debatte vom 26. Februar bis 1. März 1894 gab Freunden und Feinden des Handelsvertrages Gelegenheit, das Für und Wider zu beleuchten. Nach einer maßvollen Rede des konservativen Abgeordneten v. Mirbach, der sich zwar energisch gegen den Handelsvertrag aussprach, den Bund der Landwirte jedoch etwas abschüttelte, indem er den Vorsitzenden als einen Abgeordneten bezeichnete, der in der konservativen Partei keine verantwortliche Stellung einnehme, sprach der Staatssekretär Freiherr v. Marschall für den Vertrag. Die Verstimmung der Landwirtschaft weise freilich auf Wunden hin, die zu heilen die Regierungen sich bestreben müßten, aber sie könnten sich nicht Bestrebungen hingeben, über deren Endziel die Führer der Bewegung selbst sich nicht klar seien. Auch der Führer der Reichspartei, v. Kardorff, erklärte sich zu dem Opfer des Handelsvertrages bereit, allerdings für Zugeständnisse in der Währungsfrage. Der Reichskanzler Graf v. Caprivi warf dem Bunde der Landwirte vor, er habe den Osten und Westen getrennt und sei jetzt sogar dabei, den Groß- und Kleingrundbesitz zu trennen. Nachdem noch Lutz den Bund in Schutz genommen und erklärt hatte, wenn früher gesagt worden wäre, daß der Vertrag mit Rußland kommen werde, so würde auch schon der österreichische Handelsvertrag abgelehnt worden sein, kündigte Lieber die Zustimmung des Zentrums an aus allgemeinen Friedenstendenzen. Der preußische Finanzminister Miquel hob die weitgehende Anerkennung der gefährdeten und peinlichen Lage der Landwirtschaft hervor, hielt aber die Entscheidung über den russischen Handelsvertrag durch den Abschluß des Vertrages mit Österreich schon für gegeben. Von konservativer Seite erklärte noch Graf Kanitz die Handelsverträge seit 1891 überhaupt und den mit Rußland im besonderen für schwere politische und wirtschaftliche Fehler, und v. Ploetz erklärte, der Bund der Landwirte greife nicht

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Kapitel VII.

die Pereon des Reichskanzlers, sondern seine Deutschland nicht zum Heile dienende Wirtschaftspolitik an. Wenn es dem Bauer ans Leder gehe, spreche er selbstverständlich nicht im Salonton. Der Vertrag wurde dann an die Kommission verwiesen. Bei der zweiten Beratung des Handelsvertrages am 10. bis 13. März 1894 war die Opposition schon gebrochen. Der wichtigste § 1 wurde mit 200 gegen 146 Stimmen angenommen. Für ihn stimmten die freisinnigen Parteien, die süddeutsche Volkspartei, Polen, Weifen, Elsässer, die Mehrheit des Zentrums und der Nationalliberalen, neun Abgeordnete der Reichspartei und sechs der konservativen Partei. Die dritte Beratung am 16. März brachte nur noch Liebermann v. Sonnenbergs Wort, der den Handelsvertrag ein „inneres Jena" nannte. Gewissermaßen als Entschädigung für die Nachteile, die ihr aus den Handelsverträgen entstanden, wurden der Landwirtschaft Konzessionen auf andern Gebieten gemacht: die Aufhebung des Identitätsnachweises und die Begründung von Landwirtschaftskammern. Die Frage der Aufhebung des I d e n t i t ä t s n a c h w e i s e s spielte schon seit einigen Jahren. Der Identitätsnachweis war 1879 eingeführt worden, und zwar in der Form, daß vom Eingangszoll nur das bestimmte individuelle ausländische Getreide freigelassen wurde, das aus demselben Lager, in das es bei der Einfuhr eingebracht worden war, zur Wiederausfuhr gelangte oder in ein anderes gleichartiges Lager überging. Die Aufhebung des Nachweises war 1889 im preußischen Landwirtschaftsrat angeregt worden, der Bundesrat hatte sich ablehnend verhalten, und im Reichstage war ein Dezember 1889 auf Aufhebung gestellter Antrag nicht mehr zur Beratung gelangt. Auf einen Antrag des ostpreußischen konservativen Vereins zu Königsberg vom 21. Dezember 1893 antwortete jetzt der Kanzler am 5. Januar 1894 dahin, daß er mit der Aufhebung des Identitätsnachweises einverstanden sei. Ein Teil der Agrarier betrachtete dieses Zugeständnis als „Köder für die Leimrute" des russischen Handelsvertrages. Für den Handel war die Aufhebung die Befreiung von einer lästigen Fessel, denn es wurde hierdurch möglich, ostdeutsches Getreide auf den Welt-

Herabsetzung der Schutzzölle, Begründung des Bundes der Landwirte.

145

markt zu werfen, wo es mit Vorliebe zu Mischungen mit andern Sorten verwertet werden konnte. Weniger zufrieden waren die südund westdeutschen Landwirte. Sie fühlten sich schon ohnehin durch die preußischen

Staffeltarife geschädigt,

die zu

ausnahmsweise

billigen Sätzen das ostdeutsche Getreide auf den süd- und mitteldeutschen Markt warfen.

Sie waren der Ansicht, daß nach A u f -

hebung des Identitätsnachweises

nun noch eine weitere

Über-

schwemmung durch fremdes Getreide kommen würde. Die bayrische und sächsische Volksvertretung verlangte daher für die Aufhebung des Nachweises ungestüm den Wegfall der preußischen Staffeltarife. Dieses Verlangen konnte auch ohne Schaden der ostelbischen Landwirtschaft erfüllt werden.

So lange der Identitätsnachweis

bestehen blieb, war allerdings eine möglichst niedrige Eisenbahnfracht die einzige Möglichkeit für den Osten, wenigstens etwas höhere Preise von dem Zoll zu haben.

Denn durch den Zoll war

zunächst eine Schranke gezogen gegen den Import ausländischen Getreides, der heimische Markt sollte möglichst mit heimischem Getreide versorgt werden.

Das

hieß

aber,

daß

der

getreide-

reiche Osten seinen Überfluß nach dem Westen senden mußte, wo Mangel an Getreide war.

D a der Preis im Westen nun niemals

höher sein konnte als Weltmarktpreis plus Zoll, so bedeutete das für den Landwirt im Osten einen Preis, der um die Eisenbahnfracht niedriger war als dieser höchste Preis im Westen. — Mit der A u f hebung des Identitätsnachweises und der gleichzeitigen Einführung der Einfuhrscheine ändeite sich die Sachlage vollständig.

Jetzt

konnte ostpreußischer Roggen wie vor Einführung der Zölle auf dem Seewege ausgeführt werden, und zwar unter Genuß des Zollschutzes auch für die exportierte Ware; denn der „Einfuhrschein", den der Exporteur bei der Ausfuhr erhielt und der auf den vollen Zollbetrag für ein gleichgroßes Quantum Getreide lautete, gestattete ihm oder dem Inhaber des Einfuhrscheines, an irgendeiner Stelle des Reiches das gleiche Quantum Getreide irgendwelcher Herkunft (ja sogar auch anderer Waren, was hier unberücksichtigt bleiben kann) einzuführen und den Einfuhrschein als Zollzahlungsmittel zu benutzen.

D a die Fracht bis zur See im Osten in der Regel

bedeutend billiger war als die Fracht nach den Absatzgebieten C r o n e r , Agrarische Bewegung.

10

146

Kapitel VII.

des Westens, so hörte das Interesse für Staffeltarife in der Hauptsache auf. Nachdem sich der preußische Landeseisenbahnrat am 6. März 1894 für die Aufhebung der Staffeltarife ausgesprochen hatte, genehmigte der Reichstag am 14. März die Aufhebung des Identitätsnachweises. Die zweite Entschädigung für die Handelsverträge sollte, nach Ansicht der Regierung, in der Gewährung von L a n d w i r t s c h a f t s k a m m e r n bestehen. Schon am 4. März 1884 war dem Landesökonomiekollegium die Frage vorgelegt worden, auf welche Weise die Tätigkeit der landwirtschaftlichen Vereine erweitert und ihre Wirksamkeit neu belebt werden könne. Es sollte nach einem Antrage v. Hammerstein-Loxten erwogen werden, ob es ratsam sei, den landwirtschaftlichen Vereinen zur Förderung ihrer Bestrebungen neben den (schon bestehenden) Staatszuschüssen durch Einräumung eines Besteuerungsrechtes größere Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Beratung über diese Frage am 11. November 1885 führte aber zu einem ablehnenden Beschlüsse, da „die Vereine selbst nach den von ihnen abgegebenen Erklärungen auf ein solches Recht (der Besteuerung) wenigstens zurzeit keinen Wert legen" 1 ). Der landwirtschaftliche Zentralverein der Provinz Sachsen stellte dann im November 1890 einen Antrag an das Landesökonomiekollegium, in dem er bat, den Zentralvereinen ein beschränktes Besteuerungsrecht einzuräumen und auf dieser Grundlage Landwirtschaftskammern zu begründen. Die Folge dieses Antrages war, daß das Landesökonomiekollegium dieses Ersuchen dem Landwirtschaftsminister zur Erwägung anheimstellte, um hierdurch, ähnlich den Handelskammern, die Wirksamkeit und finanzielle Selbständigkeit der landwirtschaftlichen Zentralvereine zu steigern. Auch in der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer am 16. Februar 1891 war „die Vertretung der Landwirtschaft" als zweiter Punkt auf die Tagesordnung gesetzt worden. Eine Resolution Nobbe—Graf Arnim betr. die Errichtung von Landwirtschaftskammern wurde angenommen. Die Regierung ') Verhandlungen d. Preuß. Landesökon.-Kolleg. v. 11. Nov. 1886 in Landwirtsch. Jahrb. XIV, Suppl. III, S. 287ff.

Herabsetznng der Schutzzölle, Begründung des Bandes der Landwirte.

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hatte vor einer Stellungnahme die einzelnen Zentralvereine über ihre Auffassung befragt. Die weitaus größte Mehrzahl der Vereine war aber für den Gedanken nicht zu haben. Das Ökonomiekollegium sprach sich dennoch wenigstens für eine fakultative Errichtung der Kammern aus. Am 18. Januar 1894 legte der Landwirtschaftsminister von Heyden dem preußischen Abgeordnetenhause einen Gesetzentwurf betr. die obligatorische Errichtung von Landwirtschaftskammern vor. Ihre Aufgaben sollten sein: Vertretung aller Interessen der Landwirtschaft, Mitwirkung bei Vorberatung resp. Anhörung derselben über Gesetze, welche die Landwirtschaft interessieren, Förderung der landwirtschaftlich-technischen Aufgaben, Unterstützung oder Insichaufnahme der landwirtschaftlichen Zentralvereine. In der ersten Lesung des Gesetzes am 6. Februar 1894 fand die Vorlage jedoch durchaus nicht den erwarteten Beifall. Das Gesetz wurde, gerade von konservativer Seite, vielfach als „Abschlagszahlung," als ein „leerer Rahmen, in dem nichts enthalten sei," und als „ein schönes Kleid für den kranken Körper der Landwirtschaft, das diese noch obendrein bezahlen müsse," betrachtet. Besonders häufig wurde die Befürchtung geäußert, daß die Kammern die alten beliebten Vereine verdrängen würden. Von konservativer (v. Puttkamer-Plauth) wie von liberaler Seite (Eugen Richter) wurde übereinstimmend der Standpunkt vertreten, daß eine freie Organisation wirksamer die Berufsinteressen vertrete, als Zwangsvereinigungen. Der Entwurf wurde am 8. Februar einer Kommission von 28 Mitgliedern überwiesen, aus der er am 23. April zur zweiten Lesung gelangte. Es waren entsprechend den zahlreichen Wünschen viele Änderungen vorgenommen worden, der Kreis der Wahlberechtigten war erweitert, die Rechte der Kammern waren vermehrt worden. Von freisinniger Seite (Rickert) wurde behauptet, die Regierung habe das Gesetz gemacht, um damit dem Bunde der Landwirte 1 ) Konkurrenz zu machen und ihn kalt zu stellen. Ein Antrag (Reinecke), die Kammern falkultativ zu gestalten wurde verworfen und die Regierungsvorlage für eine ») s. o. S. 135. 10*

148

Kapitel VII.

obligatorische Errichtung mit 239 gegen 109 Stimmen am 24. April angenommen. — Uber eine Anzahl von Paragraphen konnte sich das Haus nicht einigen, am meisten forderte das Wahlrecht zu Widersprüchen auf. Zwischen der zweiten und der dritten Lesung (am 21. Mai) fanden unter Ausschluß des Zentrums zwischen den beiden konservativen Parteien und den Nationalliberalen Verhandlungen statt, die zu einer Einigung führten. Die Errichtung von Landwirtschaftskammern sollte von königlicher Verordnung, nach Anhörung der Provinziallandtage abhängig gemacht werden; als Wahlkörper waren die Kreistage bestimmt. Am 22. Mai wurde das Gesetz in dritter Lesung mit namentlicher Abstimmung, 213 gegen 126 Stimmen angenommen und am 30. Juni 1894 verkündet. Um der Landwirtschaft jedoch noch vor Inkrafttreten dieses Gesetzes ein Eintreten in sachliche Erörterungen der wichtigen Fragen zu ermöglichen und um den zukünftigen Landwirtschaftskammern eine Direktive zu geben, auf welche Gebiete sich ihre Arbeiten erstrecken sollten, erließ der Landwirtschaftsminister am 10. Mai 1894 an 32 Männer der Wissenschaft und Praxis Einladungen zu einer Konferenz, in welcher einzelne Vorarbeiten von Gesetzen zum Zwecke der Erhaltung und Kräftigung des ländlichen Grundbesitzes und der heimishcen Landwirtschaft erörtert werden sollten. Diese A g r a r k o n f e r e n z tagte vom 28. Mai bis 2. Juni 1894 in Berlin. 1 ) Die Klagen über den Niedergang der Landwirtschaft waren allgemein und die Ursache darüber suchte man auf den verschiedensten Gebieten. Vor allem beklagte man das Anschwellen der Verschuldung. Die Wünsche gingen einmal darauf, daß die Landwirtschaftskammern mit den Gläubigern in Unterhandlung treten sollten, um eine freiwillige Schuldenreduktion zu erzielen. Als notwendig erschien auch eine Bekämpfung der fortwirkenden Ursachen der Verschuldung durch Ausbildung einer neuen Grundeigentumsordnung und eine Herabsetzung der hohen Grundrente in den Industriegebieten des Westens und Mitteldeutschlands, sowie in den großen Städten. Dazu wurde eine Reduzierung der zu großen ') Bericht über die Verhandlungen der zur Erörterung agrarpolitischer Maßnahmen einberufenen Konferenz, 1894.

Herabsetzung der Schatzzölle, Begründung des Bandes der Landwirte.

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Lasten der Grundsteuer, Kreisabgaben, der Ausgaben für die Volksschule und die Armenpflege verlangt. Eine außerordentliche Verschlimmerung der Lage sah man auch in der ungenügenden Organisation des ländlichen Kreditwesens und in einer der Natur des Grundbesitzes nicht entsprechenden Kündbarkeit der überdies meist viel zu hoch verzinslichen Privathypotheken. Deshalb forderte man die Herstellung einer verbesserten Kreditorganisation durch Gewährung billigen Kredits seitens genossenschaftlicher oder öffentlicher Banken, Ersatz der kündbaren Privathypotheken durch unkündbare Rentenschulden, einen weiteren Ausbau des Mobiliar- und Personalkreditwesens und die Entwicklung des landwirtschaftlichen Lombardkredits. Über die Einführung von Verschuldungsbeschränkungen gingen die Meinungen auseinander. Dringend empfohlen wurde von allen Seiten zur Sicherung des erblichen Uberganges des ländlichen Grundbesitzes auf e i n e n Familienangehörigen die Einführung des Höferechts und des Anerbenrechts als gesetzliches Intestaterbrecht für die selbständigen ländlichen Besitzungen. Weitere Forderungen betrafen die Fortbildung der Renten gutsgesetzgebung zunächst in der Richtung einer Erweiterung der Verpflichtungen, für die eine Rente auf das Rentengut gelegt und auf diese übernommen werden sollte. Man berührte die drohende Latifundienbildung durch zu große Konzentrierung vielen Grundbesitzes in einer Hand,wünschte aber andererseits eineErleichterung der Gründung von Fideikommissen namentlich für den kleinen Grundbesitz. Eine Hilfe versprach man sich ferner von dem Ausbau der Wegegesetze, des Meliorationswesens, von der Aufhebung des Immobilienstempels, vor allem aber von einer Hebung der Preise landwirtschaftlicher Produkte. Neben einer besseren Absperrung der Grenzen gegen ausländisches Vieh wünschte man Verbesserung des Schutzes gegen unlautere Konkurrenz z. B. in der Margarinefabrikation, eine Abänderung der ungerechtfertigten Klassifizierung in den Gütertarifen für die Güter der Landwirtschaft gegenüber den Produkten der Industrie, endlich genügende Fürsorge für Hagel-, Vieh- und Feuerversicherung una Errichtung von Agrargerichten.

Kapitel VIII.

Die Politik der „großen Mittel" und der Antrag Kanitz. Die große Schlappe, die die Agrarier durch das Zustandekommen der Handelsverträge erlitten hatten, konnte nach ihrer Meinung nur auf einem andern Wege wieder gutgemacht werden. Seit der Unterbrechung der Ära der fortgesetzten Zollerhöhungen durch die Caprivischen Handelsverträge suchten sie die Beseitigung des landwirtschaftlichen Notstandes durch Ersatzmittel für die Zollherabsetzungen zu erreichen. Es beginnt die Politik der „ g r o ß e n M i t t e l " . Unter diesen großen Mitteln verstand man: den Antrag Kanitz, die Börsengesetzreform und die Lösung der Währungsfrage im bimetallistischen Sinne. Als erstes der „großen Mittel" brachten am 7. April 1894 30 konservative Abgeordnete, an ihrer Spitze Graf K a n i t z , einen seitdem nach dem letzteren genannten A n t r a g ein. Nach diesem Antrage sollte der Ein- und Verkauf des zum Verbrauch bestimmten ausländischen Getreides, einschließlich der Mühlenfabrikate, nur auf Rechnung des Reiches erfolgen und die Verkaufspreise auf einen Mindestertrag festgesetzt werden. Der Antrag Kanitz, der keineswegs neu dem Haupte des Antragstellers entsprungen war, hatte bereits eine längere Vorgesch chte. Der österreichische Kunstmüller V. Till aus Bruck a. d. Mur hatte in einer schon 1890 herausgegebenen Broschüre, „Das Jahr 1910", sein Getreide- und Brotmonopolgesetz dargelegt und über denselben Gegenstand 1894 auf dem Kongreß des Vereins für Sozialpolitik in Wien einen Vortrag gehalten.

Die Politik der „großen Mittel" und der Antrag Kanitz.

151

Das Tillsche Projekt stellte einen Versuch dar, dem Landwirt höhere Getreidepreise zu verschaffen, ohne das Brot zu verteuern. Nach Till war das schlecht und fehlerhaft arbeitende Brotgewerbe (Müllerei und Bäckerei) die Ursache der hohen Brotpreise. In einem Briefe an den Grafen Kanitz vom 9. April 1894 sprach er sich darüber folgendermaßen aus: „Ende 1892 hatten Sie in Berlin einen Roggenpreis von 13,08 M. und einen Brotpreis von 22,45 M. pro Zentner. Bei diesem Roggenpreise können die Landwirte nicht bestehen, sie wollen 16,5 M. haben. Bei dem Roggenpreise von 13,08 M. bezahlten die Bewohner von Berlin 22,45 M. für Brot und waren vollständig zufrieden und klagten nicht über zu hohen Brotpreis; höchstens über schlechten Geschäftsgang im allgemeinen. Nun, Herr Graf, lassen Sie die Berliner bei ihrer Zufriedenheit und halten Sie den Brotpreis von 22,45 M. strenge ein, übergeben Sie jedoch die Broterzeugung einer möglichst sicheren, geschickten Hand und sorgen Sie dafür, daß bei der Umwandlung des Getreides in Brot keine überflüssigen Spesen gemacht werden, und es werden Ihnen dann bei einem Brotpreise von 22,45 M. 19 M. für den Roggen übiig bleiben, nach Abrechnung aller und aller Spesen." Die rationellere Brotproduktion wollte Till durch Einführung eines Müllerei- und Bäckereimonopols erreichen. Die Grundzüge seine» Systems waren folgende: 1. der Staat bestimmt den Getreidepreis, 2. der Staat übernimmt sämtliches Getreide von den Landwirten zu diesem Preise, 3. einen etwaigen Abgang an Getreide hat der Staat im Auslande zu kaufen, 4. der Staat darf aus dem Brotmonopol keinen oder nur einen sehr geringen Nutzen ziehen und muß die Broterzeugung möglichst rationell durchführen. Wir werden sehen, in wievielen Punkten sich das Tillsche Projekt mit dem Antrag Kanitz deckt. 1 ) Der Antrag Kanitz selbst hatte folgende Form: ') Im folgenden nach den Reichstagsverhandlnngen der Jahre 1894 bis 1896.

152

Kapitel VIII.

„Der Reichskanzler wird um die baldige Vorlage eines Gesetzentwurfes ersucht, wonach 1. der Ein- und Verkauf des zum Gebrauch im Zollgebiet bestimmten a u s l ä n d i s c h e n Getreides, mit Einschluß der Mahlenfabrikate, ausschließlich für Rechnung des Reiches erfolgt; 2. die Verkaufspreise im Mindestbetrage wie folgt festgesetzt werden: a) für Weizen auf 215 M. pro Tonne b) „ Roggen „ 165 Ii Ii 11 c) „ Gerste „ 155 „ „ d) „ Hafer „ 155 „ „ e) „ Hülsenfrüchte „ 185 „ „ „ f) „ Lupinen „ 80 „ „ g) „ Malz „ 175 „ „ h) „ Mais „ 155 „ „ i) „ Mühlen und Mühlenfabrikate entsprechend dem für das Getreide festgesetzten Mindestpreise, nach dem gesetzlichen Ausbeuteverhältnis." Die Antragsteller gaben sich keiner Täuschung darüber hin, daß es ihnen nicht auf den ersten Schlag gelingen würde, die Majorität des Reichstages für diesen Antrag zu gewinnen. Sagte doch in der Debatte, die am 13. und 14. April über den Antrag Kanitz stattfand, der Antragsteller: „Sie wissen ebensogut wie wir, daß der Reichstag heute oder, falls wir die Debatte noch fortsetzen sollten, morgen sich mit großer Majorität gegen unsern Antrag entscheiden wird. Aber dies Gefecht ist nur ein Vorpostengefecht; der entscheidende Kampf wird erst kommen, nicht in dieser, aber in der nächsten Session, wenn man sich im Lande die Bedeutung und Tragweite dieses Antrages gehörig klar gemacht haben wird, wenn das Land Stellung dazu genommen haben wird." Graf Kanitz gab in seiner Begründungsrede am 13. April zunächst eine ausführliche Schilderung der Notlage der Landwirtschaft. Die Höhe der beantragten Mindestpreise von Weizen und Roggen entspräche, so führte er weiter aus, den Durchschnittspreisen der Periode 1850 bis 1880. Die Produktionskosten des Roggens seien vor zehn Jahren in Ostpreußen auf 150 M. per Tonne

Die Politik der „großen Mittel" and der Antrag Kanitz. berechnet worden.

153

Berücksichtige man, daß der für Roggen vorge-

schlagene Preis von 165 M. sich für Ostdeutschland um die Kosten der F r a c h t nach dem Westen in Höhe von mindestens 15 M. ermäßige, so sehe man, daß durch den vorgeschlagenen Mindestpreis gerade bloß die Produktionskosten gedeckt würden.

Obwohl in

der Periode von 1850 bis 1880 alle Arbeitslöhne sehr viel niedriger gewesen seien als gegenwärtig, hätte sich doch trotz der hohen Getreidepreise jedermann sattessen können. Wenn in dem Antrage eine sozialistische Tendenz enthalten sei, dann liege sie eben in jedem Schutzzolle.

Eine gesetzliche Fixierung des Arbeitslohnes

sei keineswegs die notwendige Folge des Antrages.

Auch eine

Schädigung des Importhandels sei nicht zu befürchten. „ E s werden nach wie vor dieselben Quantitäten Getreide von denselben Firmen angekauft und ins Land hineingebracht werden; sie erhalten denIeh fürchte sogar — und das ist sogar

selben Preis wie früher.

für mich ein kleines Bedenken in der Sache — , man wird den Händlern höhere Preise zahlen. in der Preisanbietung.

Das Reich wird sehr kulant sein

Der Getreidehandel wird jedenfalls gute

Geschäfte dabei machen."

Nur der Terminhandel in

Waren höre mit Verwirklichung des Antrages auf. insofern

eine kleine Verschiebung

eintreten,

fingierten

Ferner werde

als Rußland

Österreich beim Einkauf vor den überseeischen Ländern

und etwas

bevorzugt werden würden. Große Entschädigungen an die Händler wären daher nicht zu zahlen.

Der Antrag verschaffe ferner dem

Reiche große Einnahmen und helfe so der Finanznot ab.

E r biete

ferner Deutschland die Möglichkeit, Vorräte für den Kriegsfall zu schaffen und dadurch die Aushungerung des Landes zu verhindern. In der Diskussion erklärten sich die Redner des Zentrums, der Nationalliberalen, der Freisinnigen, der Sozialdemokraten und der Weifen gegen den Antrag; für ihn waren nur die Antisemiten und Konservativen, darunter die Vertreter des Bundes der Landwirte. Als hauptsächlichste Gründe gegen den Antrag wurden angeführt: die Verwirklichung seines Grundgedankens bedeute einen Bruch der Handelsverträge mit Rußland und Österreich-Ungarn. Denn der Zweck dieser Verträge bestehe seitens der fremden Staaten darin, bei dem internationalen Wettbewerbe dem deutschen Ge-

154

Kapitel VIII.

treide auf deutschen Märkten keinen weiteren Vorsprung einzuräumen , als er in dem Vertragsgesetze zum Ausdruck komme. Der Importhandel werde durch den Antrag ruiniert. „Welcher Importeur" sagte der Abgeordnete Barth, „wird denn aufs Geratewohl große Quantitäten von Getreide kommen lassen, um das Risiko zu laufen, daß, wenn das Reich nicht ihn, sondern einen seiner Konkurrenten begünstigt, er mit dem Getreide festsitzt, das er für den inländischen Markt gar nicht mehr verwerten kann?" Das Ziel des Antrages, die Getreidepreise zu fixieren, werde sich nur erreichen lassen, wenn auch der Handel mit dem im Inlande produzierten Getreide verstaatlicht würde; sei aber erst der gesamte Getreidehandel verstaatlicht, dann werde die Entwicklung darauf hindrängen, daß auch die Produktion verstaatlicht werde. Abgeordneter Bachem schätzte das Getreidequantum, das der Staat in jedem Jahre im Durchschnitt verkaufen müsse, auf rund 461 Millionen Mark. Um ein solches Quantum zu lagern, bedürfe es natürlich vieler Vorratshäuser. Danach könne man bemessen, von welcher Größe das Betriebskapital sei, das der Staat im Getreidehandel investieren müsse. Ferner sei die Gefahr, daß der Staat durch falsche Spekulationen Verluste erleide, sehr groß. „Halten Sie es für unmöglich," fuhr der Redner fort, „daß der Staat sich verspekuliert ? Sie sehen doch, daß die intelligentesten Getreidehändler sich tausendmal verspekulieren, viel öfter als irgendwelche andere Handlungen. Glauben Sie, daß staatliche Beamte, Geheimräte und Unterstaatssekretäre für den Getreidehandel besser in der Lage sind, die Weltlage des Getreidemarktes zu beurteilen, als unsere alten, geschickten, mit allen Hunden gehetzten Getreidehändler?" Wenn man erst die Getreidepreise fixiert habe, werde man auch die Preise für Vieh und andere Produkte fixieren müssen. Fixiere man die Rente der landwirtschaftlichen Betriebsleiter, dann müsse man ferner auch die Löhne der Arbeiter fixieren. Der Antrag Kanitz führe somit zum allgemeinen Sozialismus. Die Garantie einer bestimmten Rente ländlicher Grundstücke seitens des Staates werde, wie der Abgeordnete Richter ausführte, nur zur Folge haben, daß der Preis der Grundstücke entsprechend steigen werde, die ganze Maßregel werde also nur

Die Politik der „großen Mittel" und der Antrag Kanitz.

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den gegenwärtigen Besitzern, nicht aber ihren Nachfolgern zugute kommen. Der Antrag sei, fuhr Richter fort, deshalb sogar willkommen zu heißen, weil er vollständig das Band zerreiße, welches die Schutzzöllner in der Landwirtschaft mit den Schutzzöllnern in der Industrie bisher verbunden habe. Auch der Reichskanzler Graf v. Caprivi wandte sich scharf gegen den Antrag. Die Motivierung sei unzulänglich. Der Antrag stehe mit der früheren Haltung der konservativen Partei in Widerspruch. Die dem Antrage zugrunde liegende Berechnung der Produktionskosten widerspreche den Angaben des Verbandes der Zentralvereine ostelbischer Landwirte, wonach die Herstellungskosten für unsere Körner nach sorgfältiger Schätzung im Durchschnitt bei Weizen auf 160, bei Roggen auf 140 und bei Hafer auf 120 M. käme. Dies seien 55, 25 und 35 M. weniger, als der Antrag Kanitz ansetze. Der Reichskanzler setzte dann die Schwierigkeiten auseinander, die sich aus der Annahme des Antrages für die äußere und innere Politik des Reiches ergeben würden. „Ich habe mir", fuhr er fort, „vor Monaten schon erlaubt, die Herren vor gewissen Dingen zu warnen; ich habe Sie gebeten, nicht auf die Majoritäten sich zu basieren und die Autoritäten gering anzuschlagen; es hat nichts geholfen, Sie sind in den Angriffen auf Autoritäten sehr hoch hinaufgegangen in Ihrer Presse, und schließlich haben Sie, fürchte ich, Ihre eigene Autorität in Ihren eigenen Kreisen so weit verloren, daß Sie nicht mehr schieben, sondern geschoben werden. Und ich als ein konservativer Mann beklage dies, wenn die konservative Partei auf die abschüssige Fläche gerät und so schnell auf ihr heruntergleitet." „69 Prozent aller derjenigen, die vom landwirtschaftlichen Gewerbe als Besitzende leben, sind kleine Parzellenbesitzer. Diese Leute werden Sie gegen sich bekommen; die verkaufen kein Getreide. Diese Leute werden sich sagen: wenn die Herren für die große Landwirtschaft sorgen, — nun mal heran auch für unser Schwein, auch für das, was wir verkaufen!" Der Reichskanzler warnte die Antragsteller in ernsten Worten vor der Befolgung agitatorischer Methoden, der Benutzung des Antisemitismus, der in dasselbe Faß laufe, aus dem die Sozialdemokraten schöpften, und vor der Erregung von Unzufriedenheit.

156

Kapitel VIII.

Der Antrag Kanitz wurde schließlich mit 159 gegen 46 Stimmen abgelehnt. Für das zweimalige Versagen ihrer Wünsche, in der Frage der Handelsverträge und des Antrages Kanitz suchten sich die Agrarier auf einem Gebiete zu rächen, auf dem sie noch die Macht in Händen hatten. Sie konnten damit der ihnen verhaßten Regierung einen argen Schlag versetzen und suchten sich dafür ein Feld aus, „wo sie", wie sich eine nationalliberale Zeitung ausdrückte, „den Monarchen persönlich kränken konnten". Dem preußischen Landtage wurde nach den Pfingstferien 1894 eine Regierungsforderung von 55,65 Mill. M. eingebracht zur Ausführung eines S c h i f f a h r t s k a n a l s zwecks Verbindung des Dortmund-Ems-Kanals mit dem Rhein. Dieser Antrag eines sogenannten Mittellandkanals wurde von den konservativen Parteien mit der Begründung der Notlage der Landwirtschaft abgelehnt. Der Vorschlag fiel in der Kommission des Abgeordnetenhauses trotz wärmster Empfehlung der Regierung mit 12 konservativen Stimmen gegen 8 und wurde in der zweiten Lesung am 10. Mai 1894 mit 186 gegen 116 Stimmen abgelehnt. Die Konservativen machten gar kein Hehl daraus, daß die Nichterfüllung ihrer Wünsche für die Landwirtschaft der eigentliche Grund ihrer Ablehnung sei. Schienen bis dahin die Tendenzen der Reichsregierung und des Kaisers in der agrarischen Frage die gleichen zu sein, so trat in diesem Verhältnis im Herbste 1894 eine Änderung ein. Mochte der Monarch durch die ihn umgebende Hofgesellschaft, Fürst Eulenburg an der Spitze, zu einer andern Auffassung der Agrarfrage bewogen sein, oder waren es Anfeindungen persönlicher Natur gegen den Reichskanzler, das wird sich schwer entscheiden lassen. Der Kaiser empfing am 20. Oktober eine Abordnung des Bundes der Landwirte in Ostpreußen in Gegenwart des Ministerpräsidenten Grafen Eulenburg und des Landwirtschaftsministers. In diesem Empfange glaubte Graf v. Caprivi eine Desavouierung seiner Politik erblicken zu müssen. Am 26. Oktober trat der Kanzler von seiner Stellung zurück, gleichzeitig aber auch sein Gegner, der preußische Ministerpräsident Graf Eulenburg. Am 29. Oktober erfolgte die

Die Politik der „großen Mittel" and der Antrag Kanitz.

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Ernennung des Fürsten zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten. Die Änderung in der Haltung der Regierung gegenüber dem Bunde der Landwirte wurde sofort deutlicher. Der Generalversammlung des Bundes ging am 17. Februar 1895 der Empfang einer Abordnung des Bundes beim Kaiser voraus. 1 ) Der Vorsitzende des Bundes, v. Ploetz, überreichte eine Adresse, in der zum Schlüsse gesagt war: „Der deutsche Bauernstand ringt um seine Existenz; mit ihm steht und fällt die Zukunft des deutschen Vaterlandes." Der Kaiser antwortete, daß der Empfang der Abordnung beweise, wie ernst es ihm um das Wohl und Wehe seiner Bauern zu tun sei; doch hätten die Mitglieder des Bundes sich im vorigen Jahre zu einer Agitation in Wort und Schrift verführen lassen, die über den Rahmen des Zulässigen hinausgehend sein landesväterliches Herz tief habe kränken müssen. Er gebe den Rat, sich jeder sensationellen Agitation zu enthalten. Die Generalversammlung des Bundes, die am folgenden Tage, dem 18. Februar, stattfand, ignorierte die Mahnungen des Monarchen vollständig, hielt sich nur an die Tatsache des Empfanges und begrüßte mit freudigem Triumphe diese Wendung der Dinge. Der Vorsitzende v. Ploetz gab einen Überblick über die wirtschaftliche Lage der Landwirtschaft seit Gründung des Bundes. Der Bund sei jetzt eine Macht geworden im Vaterlande, leider habe man die verderbenbringenden Handelsverträge nicht verhindern können, die für die Industrie wenig oder gar keine Vorteile gebracht hätten, für die Landwirtschaft aber zum Kirchhof geworden wären. Die Forderungen, die der Bund aufgestellt hätte, wurden aufrechterhalten und dahin erweitert, daß man jetzt auch für den gesamten Mittelstand in Stadt und Land eintrat, „besonders auch für den Handwerker und den redlichen christlichen Gewerbetreibenden". Auch die Kreditfrage habe man in das Reich der Beratungen gezogen und trete für Erleichterung und Verbilligung des Kredites ein. Allerdings müsse man zugeben, daß durch eine Zinsherabsetzung unendlich viel kleine Leute geschädigt würden, aber „fragen jene danach, wie es uns geht, ob wir die hohen Zinsen zahlen können? Gel

) Korrespondenz des Bundes der Landwirte 1895 ff.

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Kapitel VIII.

rechtigkeit verlangt die Landwirtschaft und nicht Zurücksetzung gegen das Kapital". Der Geschäftsführer des Bundes, Direktor Dr. Suchsland, bedauerte gleichfalls die Annahme des russischen Handelsvertrages, der aber gleichzeitig den Wendepunkt der früheren Politik gebildet habe. Mit politischer Notwendigkeit habe sich ein Ergebnis entwickelt, das von allen Landwirten mit Sehnsucht herbeigewünscht war, der Rücktritt Caprivis. Man hätte keine Ursache, zu bestreiten, daß sein Sturz eine Wirkung der Agitation des Bundes der Landwirte gewesen sei. Die weiteren Verhandlungen wurden mit Reden über den Antrag Kanitz ausgefüllt. Graf Kanitz selbst äußerte sich nur ganz kurz und überließ die Vertretung seiner Ansichten den Herren v. Wangenheim, Bock, Dr. Ruhland. Da es natürlich in diesem Kreise zu keiner D e b a t t e über den Antrag kommen konnte, so wurde einstimmig eine Resolution angenommen, wonach die „gesetzliche Verwirklichung des Antrages Kanitz als das wirksamste Mittel erklärt wurde, um die für die deutsche Landwirtschaft geradezu vernichtende Wirkung der jetzigen Getreidepreise, welche nicht entfernt die Produktionskosten deckten, schnell und erfolgreich zu bekämpfen". Gleichzeitig erblickte die Versammlung „eine unabweisbare Förderung für die Gesundung unseres gesamten Erwerbslebens in der internationalen Regelung der Währungsverhältnisse und des Börsenwesens, auf der Basis des effektiven Geschäftes mit wirklicher Ware". Nachdem Dr. Hahn noch die Grüße des Fürsten Bismarck, „Ihres Gewerbsgenossen", überbracht hatte, der gesagt hatte, er sei ja auch ein deutscher Bauer, nahm die Versammlung noch eine Resolution betreffend Deutschlands Viehzucht und die Konkurrenz des Auslandes an und sprach sich für eine energische Unterstützung des neugegründeten Parteiorgans, der „Deutschen Tageszeitung", aus. Sofort wollte man nun die Probe auf das Exempel machen, inwieweit die neue Reichsregierung unter dem neuen Kanzler den agrarischen Wünschen entgegenzukommen bereit sei. Am 12. März 1895 wurde der Antrag Kanitz in etwas veränderter Form wieder eingebracht. Die neue Fassung unterschied

Die Politik der „großen Mittel" und der Antrag Kanitz. sich von der alten dadurch, daß keine b e s t i m m t e n

159

Minimal-

preise angegeben waren, vielmehr gefordert wurde, daß die Verkaufspreise des Getreides nach den inländischen Durchschnittspreisen der Periode 1850 bis 1890, die Verkaufspreise der Mühlenfabrikate nach dem wirklichen Ausbeuteverhältnis, den Getreidepreisen

entsprechend,

bemessen würden,

solange hierdurch die

Einkaufspreise gedeckt seien, während bei höheren Einkaufspreisen auch die Verkaufspreise entsprechend zu erhöhen seien.

Ferner

traf der neue Antrag in Abweichung von dem alten über die Verwendung der aus dem Verkauf des Getreides und der Mühlenfabrikate zu erzielenden Uberschüsse Bestimmung, und zwar derart, daß alljährlich eine den bisherigen Getreidezolleinnahmen mindestens gleichkommende Summe an die Reichskasse abgeführt werden solle, daß zur Ansammlung von Vorräten für außerordentliche Bedürfnisse (Kriegsfälle usw.) die nötigen Mittel bereitzustellen seien und daß ein Reservefonds gebildet werden solle, um in Zeiten hoher In- und Auslandspreise die Zahlung der an die Reichskasse jährlich abzuführenden Summe sicherzustellen. Die dem Antrage beigegebene Begründung suchte alle erhobenen Bedenken zu zerstreuen.

Eine nähere Prüfung des Wortlautes

der in den Jahren 1892 bis 1894 abgeschlossenen Handelsverträge ergebe, daß der Antrag nicht unvereinbar mit diesen sei. „Überdies lassen sich Mittel und Wege finden, um von den hier in Betracht kommenden benachbarten Staaten, Österreich-Ungarn und Rußland, jede aus der vorgeschlagenen Einrichtung etwa zu befürchtenden Nachteile abzuwenden."

Gegen den Einwand, der Antrag

habe eine sozialistische Tendenz, sei geltend zu machen, daß der sozialistischen Bewegung nichts mehr zustatten komme als der Fortbestand der jetzigen Notlage der Landwirtschaft, und daß jedes Mittel, welches diese Notlage zu mildern geeignet sei, auch gegen die sozialistische Bewegung seine Wirkung äußern müsse. „Daß

diese Anschauung

selbst

von

der

sozialdemokratischen

Partei

geteilt wird, beweist deren Abstimmung über den Antrag

vom 7. April v. J .

Mindestens darf also nicht behauptet werden,

daß die Tendenz des Antrages sozial d e m o k r a t i s c h

sei; sie

kann vielmehr im höchsten Grade s o z i a l k o n s e r v a t i v



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Kapitel VIII.

d. h. g e s e l l s c h a f t s e r h a l t e n d — genannt werden; denn was der Antrag in erster Linie bezweckt, ist die wirtschaftliche Erhaltung unserer bestehenden Berufsstände, vor allem des Bauernstandes und des Handwerkerstandes, auf deren Untergang die Sozialdemokratie wartet." Die preissteigernde Wirkung der vorgeschlagenen Maßregel höre in Zeiten hoher Auslandspreise auf, während die der Schutzzölle fortbestehe. Darin liege ein unschätzbarer Vorteil dieses Systems für die Brotkäufer. Diese hätten vielmehr das größte Interesse an der durch die vorgeschlagene Maßnahme bewirkten Verhütung erheblicher Getreidepreisschwankungen. Auch die Bedenken gegen die praktische Durchführbarkeit des Vorschlages seien nicht stichhaltig. „Alle kostspieligen Einrichtungen sind leicht zu vermeiden und der Getreidehandel, welchem nach wie vor die Heranschaffung des erforderlichen Getreides überlassen werden soll, wird in keiner Weise geschädigt werden." Durch ihre eifrige Agitation war es den Freunden des Antrages gelungen, 97 Unterschriften zu erhalten, während sie im Jahre 1894 nur 30 gehabt hatten. Am 29. März 1895 gelangte der Antrag im Reichstage zur Verhandlung. Graf Kanitz suchte zunächst die Notwendigkeit, die Schutzzölle durch ein neues Schutzmittel zu ersetzen, darzulegen. Die Herabminderung des agrarischen Schutzzolles in den Handelsverträgen trage nicht die Hauptschuld an der Notlage der Landwirtschaft. Auch Länder mit höherem Schutzzoll, wie z. B. Frankreich, Italien und Spanien, befänden sich in ähnlich kritischer Lage. Die festen Zollsätze hätten ihre Berechtigung, wo es sich um die Steigerung des Preises von Waren handele, deren Angebot auf dem Weltmarkte keinen großen Schwankungen unterliege. Bei Waren, deren Preis so heftig schwanke, wie Getreide, erfüllten sie nicht ihren Zweck. In klarer Erkenntnis dieser Tatsache sei man in England auf die gleitende Skala verfallen, mit der sich aber befriedigende Ergebnisse nicht erzielen ließen. Gegenwärtig ständen die Getreidepreise erheblich unter den Produktionskosten. Eine beliebige Herabminderung der Produktionskosten sei aber in der Landwirtschaft nicht möglich. Der gegenwärtige Zustand der Uber-

Die Politik der „großen Mittel" und der Antrag Kanitz.

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Produktion an Getreide in allen Ländern der Welt werde allerdings nicht lange andauern können; es werde wiederum eine Produktionsbeschränkung eintreten müssen. „Aber wo wird diese Beschränkung zuerst eintreten ? Nicht in den durch Natur und Klima bevorzugten exotischen Ländern, sondern hier in Europa, in den alten Kulturstaaten." Die praktische Durchführung des Antrages biete keine Schwierigkeiten. Im Miihlenlagerverkehr würde beim Eingang des Getreides in das Lager die Differenz zwischen den Weltmarktpreisen und den staatlich festgesetzten Verkaufspreisen berechnet werden, und diese Differenz werde der Inhaber des Mühlenlagers, wenn er das Mehl in den freien Verkehr setze, ebenso zu bezahlen haben, wie er heute den Zoll bezahle. Im übrigen werde es nach wie vor Aufgabe des Getreidehandels sein, das benötigte Getreide im Auslande zu kaufen und bis an die Grenze zu schaffen. Es müsse eine Reichsbehörde eingesetzt werden, welche die Einkaufspreise nach den täglich vom Auslande einlaufenden Marktberichten festsetze, also den Weltmarktpreis ermittle, und zu diesem Preise werde dem Händler sein Getreide von den Zollämtern abgekauft. Konveniere dem Händler der Preis nicht, so könne er das Getreide einstweilen in eine Niederlage nehmen und erst dann in den freien Verkehr setzen, wenn die Preise sich günstiger gestellt hätten. Für die weitere Abwicklung des Geschäftes böten sich dann zwei Wege. Das Getreide könne entweder sofort an den Importeur für den gesetzlich festgesetzten Preis wieder verkauft werden und ihm überlassen werden, es dahin zu schicken, wo der Konsum es verlange. Oder das Reich übernehme auch den Verkauf für eigene Rechnung. Die heute bestehenden regionalen Preisunterschiede würden bestehen bleiben. Erhebliche Kosten für Magazine würden nicht entstehen. Überdies würden sich die Einnahmen des Reiches bei der Ausführung des Vorschlages gegenüber den mit 76 Millionen etwa anzunehmenden jährlichen Zolleinnahmen um 150 Millionen höher stellen. In Zeiten der Not stelle die vorgeschlagene Maßnahme gegenüber dem jetzigen System eine Brotverbilligung dar; denn während die Schutzzölle auch bei hohen Getreidepreisen weiter bestehen blieben, höre bei dem vorgeschlagenen System die Mehrbelastung auf, sobald der Weltmarktpreis den gesetzlich C r o u e r, Agrarische Bewegimg.

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vorgeschriebenen Preis erreicht habe. Das neue System biete ferner die Möglichkeit, die Getreideversorgung Deutschlands in Kriegszeiten sicherzustellen. Wichtiger als billiges Brot sei für die Industrie ein aufnahmefähiger innerer Markt. „Weil der einheimische Markt ruiniert ist, weil die Großindustrie nicht mehr soviel wie bisher im Lande absetzen kann, deshalb ist sie in eine bedrängte Lage geraten, und der Export nach dem Auslande entschädige sie nicht im entferntesten für den Verlust, den sie im Lande erleidet. Auf eine Hebung dieses Exports ist aber in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Denn immer höher werden die Zollschranken, mit denen der ausländische Markt sich umgibt. In allen Ländern tritt das Bestreben hervor, sich eine eigene Industrie großzuziehen und diese durch hohe Zölle zu schützen — und hieran werden auch alle Handelsverträge nichts ändern". Das Ziel, welches Rußland und Österreich mit den Handelsverträgen verfolgten, ihrem Getreide den deutschen Absatzmarkt zu sichern, sei nicht erreicht worden; immer weiter würden diese beiden Länder durch die überseeische Konkurrenz zurückgedrängt. Da biete nun der Antrag die Möglichkeit, den Getreidebedarf von Deutschland in derselben Weise wieder von den Ländern zu beziehen, welche Deutschland früher dieses Getreide geliefert hätten und dafür auch uns einen erleichterten Eingang für unsere Industrieprodukte zugesichert hätten. Wenn die Regierung auf diesem Wege mit den befreundeten Regierungen Fühlung suche, so würden die sogenannten handelspolitischen Bedenken nicht ganz unüberwindlich erscheinen. Die Festsetzung von Mindestpreisen enthalte kein sozialistisches Prinzip; denn dem Landwirt werde dadurch noch lange nicht ein festes Einkommen gesichert, da nichts größeren Schwankungen unterworfen sei als der Ertrag der von allem Wind und Wetter abhängigen Landwirtschaft. Die Monopolisierung des Handels mit ausländischem Getreide Bei ebenso wenig sozialistisch wie das Salz-, Branntwein-, Tabak- und Eisenbahnmonopol. Die Antwort des Reichskanzlers Fürsten Hohenlohe war zwar im Ton viel entgegenkommender als die des Grafen v. Caprivi, in der Sache aber ebenso entschieden ablehnend. Der Reichskanzler bezweifelte, ob die Verhandlungen mit den vertragschließen-

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den Mächten zu einem günstigen Resultate führen würden. „ I c h habe allen Grund dazu, das Gegenteil anzunehmen. Jedenfalls ist es ratsam und auch der Würde des Reiches entsprechend, solche Verhandlungen jetzt, nachdem die Verträge einmal abgeschlossen sind, nicht sofort wieder in Angriff zu nehmen und bei den Vertragsmächten um eine Modifikation derselben zu bitten." Die Erörterung über das Verhältnis des Antrages zu den Handelsverträgen sei übrigens müßig; denn der Antrag sei nicht ausführbar. Nach Äußerungen aus kaufmännischen Kreisen werde der Privatgetreidehandel mit auswärtigem Getreide aufhören. „Sie (die Kaufleute) sagen: Wenn der Kaufmann im Auslande Getreide kauft, das zur Einfuhr nach Deutschland bestimmt ist, so hat er den ganzen deutschen Markt zu seiner Verfügung; er kann sich jeden Käufer aussuchen, der ihm paßt, der ihm die nötigen Garantien bietet, und gegen die Erlegung des Zolls kann er sein Getreide ins Inland bringen, da kann er sofort erkennen, welchen Vorteil das Geschäft ihm bringen wird, wenn aber der Kanitzsche Antrag zur Annahme käme, so würde der Kaufmann, der das Getreide vom Ausland uns verkaufen will, es verkaufen müssen, ohne zu wissen, welchen Vorteil er daraus ziehen kann, er würde erst, wenn er mit seinem Getreide an die Grenze kommt, erfahren, welcher Preis ihm geboten wird, denn der Preis soll ja nach dem Willen des Antragstellers jeden Tag bestimmt werden, und da zwischen dem Vertrag über den Kauf des Getreides und der Ablieferung Wochen und Monate liegen werden, so schwebt der Kaufmann in dieser ganzen Zeit in Unsicherheit, welchen Gewinn er ziehen wird und ob er überhaupt das Geschäft machen kann. Er weiß nicht einmal, ob ihm das Getreide abgenommen wird; denn das Reich ist nicht verpflichtet, das Getreide, das der Händler an die Grenze bringt, zu kaufen; der Händler also ist der Gefahr ausgesetzt, daß der betreffende Beamte ihm sagt: „Ich brauche kein Getreide", dann ist er genötigt, mit seiner Ladung in eine andere Gegend zu gehen. Nun, auf solche Geschäfte — so sagen mir wenigstens alle Kaufleute — kann sich kein Kaufmann einlassen; der Getreidehandel mit auswärtigem Getreide hört also sofort auf." An Stelle des Handels werde ein Reichsgetreideversorgungsamt treten müssen 11*

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mit zahlreichen Agenten, die im In- und Auslande die nötigen Beobachtungen anstellen. „Kommt es dann zum Einkauf, so handelt es sich um die Qualität, um den Geschmack des Publikums, um die Bedürfnisse der Industrie — alles Dinge, die jedes Jahr wechseln und deren Beurteilung eine große Sachkenntnis erfordert, zu der die vielen dazu anzustellenden Staatsbeamten kaum geeignet sein werden." Der Reichskanzler machte sich hierauf die Befürchtung zu eigen, daß dem Monopol des Handels mit ausländischem Getreide leicht das Monopol des Getreidehandels im Inland und die Bodenverstaatlichung folgen könne. 76 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe hätten von dem Antrag Kanitz keinen Vorteil, da sie kein Getreide zu verkaufen hätten; von 19 Millionen landwirtschaftlicher Bevölkerung hätten nur 4 Millionen von dem Antrag einen Nutzen, die übrigen 15 Millionen hätten durch die Verteuerung ihrer Lebenshaltung direkt Schaden. Der Reichskanzler schloß seine Rede, indem er der Landwirtschaft an Stelle des Antrages Kanitz eine Reihe anderer Heilmittel in Aussicht stellte, die Börsen reform, die Branntweinsteuer, die Einschränkung der Transitlager, die Zuckersteuer, die Herabsetzung der Eisenbahn- und Wasserstraßentarife, eine finanzielle Unterstützung der Rentengüter und ihre Ausdehnung auf die Gründung von Arbeiterstellen. In der Diskussion erklärte sich Paasche im Namen des größten Teiles der nationalliberalen Partei scharf gegen den Antrag. Einen Weltmarktpreis zu konstruieren, mit dem das praktische Leben arbeiten könnte, sei rein undenkbar. Wenn man die Preisnotizen an unseren Märkten durchgehe, finde man tagtäglich beim Roggen, Weizen und Hafer Preisdifferenzen von 20, 30 und noch mehr Mark in den verschiedenen Sorten. Der Antrag Kanitz könne der Landwirtschaft gar nicht helfen; denn die hohen Preise würden zu einer Ausdehnung der Produktion und damit zu einer Überproduktion im Auslande führen. Die Steigerung der Rente des landwirtschaftlichen Betriebes werde ferner in den Bodenpreisen kapitalisiert werden; das würde nur zu einer erhöhten Verschuldung des Grundbesitzes infolge der Eintragung größerer Kaufpreisreste führen. Der Redner machte dann noch für seine Person den Vorschlag, man möge den Ländern, mit denen man keine Tarifverträge hätte

Die Politik der „großen Mittel" und der Antrag Kanitz.

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und die uns gerade jetzt gefährlich würden, eine Surtaxe auferlegen, um sie zu zwingen, Handelsverträge mit uns einzugehen; dann hätten wir auch ein Äquivalent zu bieten dafür, daß Rußland und Österreich in eine Erhöhung der deutschen Getreidezölle willigten. Ferner möge man die gemischten Transitlager auflösen und bestimmen, daß für Termingeschäfte nur inländisches Getreide lieferbar sei. Abgeordneter v. Ploetz (Bund der Landwirte) bestritt die Richtigkeit der Ausführungen des Reichskanzlers, daß die kleinen Bauern, weil sie kein Getreide verkauften, kein Interesse am Antrage Kanitz hätten. Freiherr v. Hammerstein-Loxten wies darauf hin, daß im Artikel 5 des russischen Handelsvertrages ausdrücklich vorgesehen sei, daß, im Falle ein Artikel zum Gegenstand eines staatlichen Monopols gemacht werde, für denselben Ein- und Ausfuhrverbote erlassen werden könnten, und daß dies auch geschehen könne „aus andern gewichtigen Gründen". Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Freiherr Marschall v. Biberstein, lehnte es jedoch mit aller Entschiedenheit ab, auf Grund des Antrages Kanitz mit den Vertragsstaaten in Verhandlung einzutreten. Für den Redner des Zentrums, Graf v. Galen, war der Antrag Kanitz zu verwerfen, weil er den Stempel der „mechanistischen" Weltanschauung auf der Stirn trage. Der Geist des Staatssozialismus werde durch den Antrag gesetzlich eingeführt. Im Widerspruch mit dieser scharfen prinzipiellen Verurteilung schloß der Redner mit dem Antrage, den Antrag einer Kommission von 28 Mitgliedern zu überweisen. Scharf gegen den Antrag sprachen ferner noch von den Freisinnigen Richter und Barth und von den Sozialdemokraten v. Vollmar. Barth führte aus, der Antrag laufe im wesentlichen auf die Auferlegung einer Kopfsteuer von etwa 400 Millionen Mark auf die inländischen Brotesser hinaus. Der Antrag würde nur den Landwirten, oder richtiger ausgedrückt Grundbesitzern, nicht der Landwirtschaft nützen. Die Rede Vollmars enthielt trotz entschiedener Gegnerschaft das Zugeständnis, daß in der landwirtschaftlichen Produktion tatsächlich eine Notlage vorhanden sei. Der Abgeordnete Holtz suchte nachzuweisen, daß auch der kleine Bauer, der kein Getreide verkauft, Interesse an dem Antrag habe;

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dieser sei vielfach genötigt, Beschäftigung zu suchen. wenn der große Bauer sich nötigt sei, an Arbeitslöhnen

als Tagelöhner beim größeren Bauer Guten Verdienst finde er aber nur, in guter Lage befinde und nicht gezu sparen.

Schließlich wurde der Antrag des Grafen v. Galen, den Antrag Kanitz an eine Kommission von 28 Mitgliedern zu verweisen, mit großer Mehrheit angenommen. Die Beratungen dieser Kommission kamen jedoch infolge des Schlusses des Reichstages nicht zum Abschluß. Die ersten Tage des folgenden Jahres 1896 brachten eine Wiederkehr des Antrages Kanitz. Zum dritten Male beschäftigte er am 16. Januar 1896 in veränderter Gestalt den Reichstag. Danach sollte der Reichskanzler ersucht werden, dem Reichstage baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach für d i e D a u e r d e r b e s t e h e n d e n H a n d e l s v e r t r ä g e zum Zweck einer Befestigung der Getreidepreise auf mittlerer Höhe 1. der Ein- und Verkauf des zum Verbrauch im Zollgebiete bestimmten ausländischen Getreides, mit Einschluß der Mühlenfabrikatc, i n ' e i n e r d e n v o n 1891 b i s 1894 abgeschlossenen Handelsverträgen nicht widersprechenden oder mit beteiligten Vertragss t a a t e n n ä h e r z u v e r e i n b a r e n d e n W e i s e ausschließlich für Rechnung des Reiches erfolgen solle; 2. die Verkaufspreise des Getreides nach den inländischen Durchschnittspreisen der Periode von 1850 bis 1890, die Verkaufspreise der Mühlenfabrikate nach dem wirklichen Ausbeuteverhältnis, den Getreidepreisen entsprechend, bemessen würden; 3. über die Verwendung der aus dem Verkaufe des Getreides und der Mühlenfabrikate zu erzielenden Uberschüsse derart Bestimmung getroffen werde, daß a) alljährlich eine den durchschnittlichen Getreidezolleinnahmen seit dem 1. April 1892 gleichkommende Summe an die Reichskasse abgeliefert werde, b) ein Reservefonds gebildet werde, um in Zeiten hoher Inund Auslandspreise die Zahlung der an die Reichskasse jährlich abzuführenden Summe sub a und den Verkauf des ausländischen

Die Politik der „großen Mittel" nnd der Antrag Kanitz.

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Getreides zu den sub 2 festgesetzten Preisen auch bei höheren Einkaufspreisen zu ermöglichen; 4. bei Erschöpfung dieses Reservefonds die ad 2 bestimmten Verkaufspreise des Reiches um so viel zu erhöhen seien, daß sie der Reichskasse einen Überschuß in Höhe der durchschnittlichen Getreidezolleinnahmen seit dem 1. April 1892 gewährten. Der Antrag kam am 16. und 17. Januar zur Verhandlung. Graf Kanitz führte aus, die Prophezeiung, welche die Gegner des Antrages im Jahre 1895 ausgesprochen hätten, der Tiefstand der Getreidepreise sei ein vorübergehender, habe sich als falsch erwiesen. In den überseeischen Ländern, die durch Klima, Bodenbeschaffenheit und niedrige Arbeitslöhne weit mehr zum Getreidebau geeignet seien als die alten Kulturstaaten Europas, welche außerdem durch die Valutadifferenz vor der deutschen Landwirtschaft einen Vorsprung hätten, sei man trotz des gegenwärtigen niedrigen Preisstandes noch nicht an der Grenze der Produktionskosten angelangt; man denke nicht daran, den Getreidebau einzuschränken. „Mit jeder Ausdehnung der Verkehrsgebiete werden neue Anbaugebietc erschlossen, und nach meiner Uberzeugung haben wir es mit einer unabsehbaren Periode des Tiefstandes zu tun." Die Einfuhr ausländischen Getreides sei zeitweise erheblich über den Bedarf des Landes hinausgegangen. „Das wichtigste Produkt der deutschen Landwirtschaft — und das ist eben das Getreide — kann nur mit Verlust hergestellt werden. Die Landwirtschaft arbeitet Jahr für Jahr mit Unterbilanz. Dieser Zustand kann eine Weile fortdauern, muß aber früher oder später zum Zusammenbruch führen." Das Gespenst der Brotverteuerung sei nicht zu fürchten. Die Brotpreise folgten zwar den Getreidepreisen, aber nach oben sehr schnell und nach unten sehr langsam, und diese Differenz zwischen Getreide- und Brotpreisen habe sich in letzter Zeit ganz erheblich zum Nachteil des Konsumenten verschoben. Wenn man in den Verhandlungen mit den ausländischen Regierungen auf anderem Wege nicht zum Ziele komme, dann möge man den betreffenden Regierungen die Frage stellen, was sie lieber wollten: ein Monopol des Getreidehandels, das ja mit den Handelsverträgen unter allen Umständen vereinbar sei, oder ein System

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Kapitel VIII.

nach Maßgabe des Antrags Kanitz. Wenn die Sozialdemokraten v. Volhnar und Herbert in der Kommission immer und immer wieder betont hätten, der Antrag sei sozialistisch, warum hätten sie nicht dafür gestimmt? Den Antragstellern antwortete diesmal nicht der Reichskanzler selbst, sondern der Staatssekretär des Auswärtigen, Freiherr Marschall v. Bieberstein. Dieser sagt: „Als eine Verbesserung des Antrags erkenne ich an, daß er die Frage der Vereinbarung dieses Antrags mit unseren Handelsverträgen zur Erörterung stellt. Ich fürchte nur, daß die Verbündeten Regierungen das Vertrauen nicht zu rechtfertigen vermögen, was er ihnen dadurch bekundete, daß er es ihnen anheimstellte, die Lösung dieser Aufgabe zu finden. Diese Aufgabe ist nicht lösbar." Der Antrag Kanitz stehe mit dem Begriff eines Handelsvertrages im Widerspruch. „Denn jeder Staat, der einen solchen abschließt, hat in allererster Reihe die Absicht, seine Produkte in dem andern Lande gegen die Behandlung sicherzustellen, die der Antrag Kanitz dem fremden Getreide angedeihen lassen will." Die Durchführung des Antrages Kanitz gebe dem Bauern nicht die Garantie, daß er sein Getreide jederzeit zu den im Antrag vorgesehenen Preisen verkaufen könne. Der Bauer werde daher den Anspruch stellen, daß er auch einen Käufer findet, der ihm den normalen Preis des Antrags Kanitz bezahlt. „Will man einen normalen Preis für Getreide schaffen, so bleibt nur ein Mittel, das ist das Ganzmonopol, das sich nicht bloß auf das ausländische, sondern auch auf das inländische Getreide bezieht. Aber dann muß man auch dem deutschen Bauern vollkommen klaren Wein einschenken, was ihm bevorsteht, daß er nicht mehr auf seinem eigenen Acker machen kann, was er will, daß der Getreidebau kontingentiert wird, daß ihm die Sorten vorgeschrieben werden, die er pflanzen muß, daß ein Heer von Beamten aufgestellt wird, welches ihn dann Tag und Nacht kontrolliert, kurz, daß alle die Einrichtungen getroffen werden, von denen ich behaupte, nach meiner Kenntnis des deutschen Bauemstandes: sie sind dem deutschen Bauern die allerverhaßtesten". Der Staatssekretär stellte hierauf „dem großen Mittel" des Antrags Kanitz das Programm der „kleinen Mittel" entgegen.

Die Politik der „großen Mittel" und der Antrag Kanitz.

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Der Redner des Zentrums, Graf v. Galen, erklärt sich diesmal noch viel schärfer als im vorigen Jahre gegen den Antrag und schloß mit den Worten: „Nach dem, was ich vorgetragen habe, wird es bei Ihnen keinem Zweifel unterliegen, welchen Standpunkt das Zentrum in dieser Frage einnimmt. Es ist kein Antrag auf Kommission gestellt; ich erwarte auch nicht, daß er gestellt wird; sollte er gestellt werden, so sagt das Zentrum diesmal vollzählig: „Nein!" Ebenso stehen wir dem ganzen Antrage gegenüber und werden wie ein Mann gegen den Antrag stimmen." Graf v. Schwerin-Löwitz erörterte besonders ausführlich an der Hand einiger von Dr. Ruhland und Klapper auf Grund amtlichen Materials entworfener graphischer Darstellungen das Verhältnis der Brot- zu den Getreidepreisen. Die Brotpreise folgten zwar bis zu einem gewissen Grade dem Getreidepreise, machten aber die Schwankungen nach unten nicht vollständig mit, so, daß bei jeder Schwankung die Differenz zwischen dem Getreideund Brotpreise zunehme, mit andern Worten also, der Brotpreis sich im Verhältnis zum Getreidepreise verteuere. Die Schwankungen der Getreidepreise als solche bewirkten eine sehr erhebliche Steigerung der Differenz zwischen den Getreide- und Brotpreisen; sie bedeuteten einfach eine Brotverteuerung. Das sei auch erklärlich, wenn man bedenke, daß die Zwischengewerbe für das ungeheure Risiko, welches sie zu tragen hätten, eine gewisse Entschädigung finden müßten. Die Beseitigung der Getreidepreisschwankungen durch den Antrag Kanitz bedeute daher eine Brotverbilligung. Nur das Gewerbe der Getreidespekulanten würde durch den Antrag zu Tode getroffen werden, und daher sei es auch begreiflich, daß, während von diesen Herren und ihren Organen die Börsenreform kühl lächelnd aufgenommen worden sei, sie auf das äußerste in Harnisch gerieten, wenn die Verwirklichung des Antrages Kanitz ihnen nahetrete. „So lange überhaupt die Schwankungen (des Getreidepreises) bleiben, wird auch die schärfste Börsenreform nichts ändern, da immer, wo auf der einen Seite große Verluste gemacht werden können, auch auf der andern Seite große Gewinne gemacht werden müssen." Die Sozialdemokratie sei deshalb gegen den Antrag Kanitz, weil der niedrige Stand der Getreidepreise

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Kapitel VIII.

nicht nur die Proletarisierung des Bauernstandes, sondern auch die Herabsetzung der landwirtschaftlichen Löhne und damit auch die Zugänglichkeit der landwirtschaftlichen Arbeiter für die Sozialdemokratie bedeutet. Der Abgeordnete Rickert, der gleichfalls scharf gegen den Antrag Kanitz sprach, wies darauf hin, daß Herr v. Ploetz am 3. Januar 1894 sich über die dem Antrag Kanitz verwandten Vorschläge des österreichischen Kunstmüllers Till in Bruck dem Urheber dieses Gedankens gegenüber folgendermaßen geäußert habe: „So sympathisch manche Ihrer Vorschläge mir auch sind, halte ich es doch für sehr schwierig, dieselben durchzuführen, und um so mehr, da sie uns sehr dem sozialistischen Staate näher führen würden." Dem Abgeordneten Rickert folgte in Graf v. Bismarck-Schönhausen wieder ein Freund des Antrages, während Graf BernstorffUelzen und Fürst Radziwill dagegen sprachen. Der Abgeordnete v. Bennigsen machte darauf aufmerksam, daß Graf Kanitz zur Durchführung seiner Ideen zwei Wege vorgeschlagen habe. Der eine bestehe darin, daß die Reichsverwaltung die Lieferung desjenigen Getreides, welches sie als Bedarf für Deutschland erkannt habe, ausschreibe, daß dann der Privathandel das Getreide beschaffe und an das Deutsche Reich verkaufe. Der zweite Weg sei folgender: Der Privatmann besorge nach wie vor den ganzen Einkauf des Getreides im Auslande auf seine Rechnung, bezahle dann an der Grenze außer dem Zoll auch die Differenz gegen den angenommenen Normalpreis und suche mit diesem Getreide in Deutschland Käufer. Im ersten Falle könne sich ein irgend erheblicher Handel in Getreide garnicht entwickeln. Im zweiten Falle, wo keine strenge Bemessung des Bedarfs seitens des Reiches stattfinde, die Kaufleute vielmehr kaufen könnten, was sie loszuwerden glaubten, sei gar keine Garantie gegeben gegen die Möglichkeit, daß eine Uberfüllung des Marktes mit Ware und ein verhängnisvoller Preissturz auf Kosten der Händler und Produzenten eintrete. Von einer Stetigkeit der Preise könne im zweiten Falle nicht die Rede sein. Auch der Landwirtschaftsminister Freiherr v. HammersteinLoxten trat den Antragstellern entschieden entgegen. Der Minister erinnerte zunächst an den von der portugiesischen Regierung im

Die Politik der ,.groBen Mittel" und der Antrag Kanitz.

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Jahre 1889 unternommenen verfehlten Versuch, durch eine sehr weitgehende Beschränkung der Weizen-, Mais- und Mehleinfuhr und durch Übertragung dieser Einfuhr auf die Müller auf die Bildung des Mehlpreises einzuwirken. Die Folgen dieses Experimentes seien der Ruin des Kleinbetriebes in der Müllerei und eine bedenkliche Brotverteuerung gewesen; die Vorteile seien allein den Latifundienbesitzern, nicht aber dem mittleren und kleineren Grundbesitz zugefallen ; der landwirtschaftliche Betrieb selbst sei zurückgegangen. Der Hauptzweck des Antrages Kanitz sei nicht, wie die Antragsteller vorgäben, Ausgleichung, sondern vielmehr Hebung der Getreidepreise. Die landwirtschaftliche Krisis könne durch eine Hebung der Getreidepreise nicht beseitigt werden. Denn diese seien nicht die Ursache der Krisis. Zugegeben könne nur so viel werden, daß die Krisis dadurch, daß neben den latenten Ursachen nun auch das Sinken der Preise eintrat, zu einer akuten geworden sei. Der gegenwärtige Tiefstand der Getreidepreise sei aber nur ein vorübergehender. Ein bisher in der Diskussion noch nicht berührter Punkt sei die Notwendigkeit, einen großen Teil dei Getreidehändler staatlich zu entschädigen. Der Minister schloß mit einer ernsten Warnung an die Adresse des Bundes der Landwirte. „Da der Glaube immer mehr um sich greift, die Regierung könne helfen, sie wolle aber nicht helfen, woran die Agitation des Bundes die Schuld trägt, — meine Herren, so liegt darin eine große Gefahr für unsere bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung." Der Minister gab der Hoffnung Ausdruck, daß, wenn der Reichstag den Antrag Kanitz ablehne, so viel Patriotismus bestehe, daß die Agitation für Lösung dieses Problems, die geradezu gemeingefährlich sei, aufgegeben werde, daß wieder ruhiger und objektiver geprüft werde, wie der Notlage der Landwirtschaft zu begegnen sei. „Das ist die Pflicht jedes loyal denkenden Untertanen, und zwar besonders in der jetzigen Zeit, wo wir wahrlich schon genug Zündstoff haben, der nicht noch von sogenannter konservativer Seite vermehrt werden sollte." Der sozialistische Abgeordnete Herbert wies dann noch darauf hin, daß der Antrag Kanitz auf den Kopf der Bevölkerung eine Mehrausgabe von 10 M. bedeute.

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Kapitel VIII.

v. Kardorf! führte aus, daß der Vorwurf des Staatssozialismus, welcher dem alten Antrage Kanitz gegenüber eine gewisse Berechtigung gehabt habe, dem neuen Antrage gegenüber nicht berechtigt sei. Die durch den Getreideimport hervorgerufene Handelsunterbilanz Deutschlands sei so groß, daß sie von den Zinsen, die Deutschland vom Auslande zu bekommen habe, nicht gedeckt werden könne. England mit seiner insularen Lage könne den Verlust seiner Landwirtschaft vertragen, das Deutsche Reich könne das nicht. „Es kann nicht den Weg gehen, welchen England gegangen ist, die ganze Landwirtschaft in Latifundien aufgehen zu sehen; denn das ist dasjenige, wohin die Not der Landwirtschaft, das massenhafte Verkaufen von kleinen Gütern, immer führen wird. In England liegt die Sache noch anders; England konnte deshalb die Sache ruhig ansehen, weil der englische Freeholder und der Yeoman, wenn er von Haus und Hof durch die Umstände vertrieben wird, über dem Ozean immer ein weiteres England findet; er mag nach Kanada, nach dem Kap der Guten Hoffnung oder nach Australien gehen — überall ist er Untertan Ihrer Majestät der Königin Viktoria und gut englischer Bürger. Wo geht aber der deutsche Freisteller hin, der Haus und Hof verlassen muß? Und wenn er in fremde Weltteile geht, — ist nicht die Erfahrung die, daß er in kurzer Zeit die deutsche Nationalität verloren h a t ? " Nach einer Rede des Abgeordneten Richter wurde die Diskussion geschlossen. In einer persönlichen Bemerkung gab Graf Kanitz mit Rücksicht auf gewisse Fraktionsbeschlüsse dem Zweifel Ausdruck, ob alle Abgeordneten frei nach ihrer innersten Überzeugung abstimmen könnten. Das Schlußwort hatte Liebermann v. Sonnenburg. Dieser feiert in erster Linie den Antrag Kanitz als die Festsetzung der alten friderizianischen Getreidepolitik und berief sich auf die Zustimmung des Fürsten Bismarck. Der Antrag wurde schließlich mit 219 gegen 97 Stimmen in namentlicher Abstimmung abgelehnt.

Kapitel I X .

Die Bfirsenreform. Der Kampf der Agrarier gegen die Börse ist fast so alt wie die agrarische Partei selbst. Von dem Augenblicke an, wo sich eine selbständige Grundbesitzerpartei bildete, von dem Jahre 1869 ab, beginnt sie auch, sich gegen die „Bevorzugung des mobilen Kapitals" aufzulehnen. Man sucht zuerst die Börse finanziell zu schwächen, indem man ihr besondere Steuern auferlegt, und als dieses Mittel nicht genügend zu helfen scheint, sucht man durch einschränkende Gesetze ihre volkswirtschaftliche Bedeutung zu unterbinden. So ergeben sich von selbst die beiden Perioden in der agrarischen Bewegung gegen die Börse: die Einführung der B ö r s e n s t e u e r n und das B ö r s e n g e s e t z . Schon der Finanzminister v. d. Heydt in Preußen ging kurz vor der Beendigung seiner Laufbahn mit dem Projekt einer Börsensteuer um. 1869 wurde dem Reichstage des Norddeutschen Bundes ein Entwurf zu einem B ö r s e n s t e u c r g e s e t z vorgelegt, der aber abgelehnt wurde. April 1871 stellte der konservative Abgeordnete Wilmanns, der Verfasser der „Goldenen Internationale", im deutschen Reichstage einen neuen Antrag auf Einführung einer Börsen Steuer, jedoch mit dem gleichen Mißerfolge. Im Herbst des folgenden Jahres faßte auf Grund eines Referates von Dr. Perrot der Mecklenburgische Handelstag mit großer Majorität eine Resolution zugunsten einer solchen Steuer. Nach dem großen „Krach" im Mai 1873 schien auch die Reichsregierung ernstlicher an eine BörsenSteuer zu denken. Angeregt durch einen Beschluß des Ausschusses des Kongresses deutscher Landwirte zugunsten der Börsensteuer im Herbst 1875, legte kurz darauf der Minister Camphausen dem Reichstage ein Börsensteuerprojekt vor, nachdem jeder Schlußschein

Kapitel IX.

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an der Börse, ohne Rücksicht auf die Summe, mit 25 Pf. besteuert werden sollte.

Der Ansatz scheint jedoch dem Bundesrat zu

hoch gewesen zu sein, denn er machte den Vorschlag, die Steuer auf 10 Pf. herabzusetzen.

Neben dem Kongreß deutscher Land-

wirte plädierte vor allem die neugegründete Vereinigung der Steuer und Wirtschaftsreformer für eine Börsensteuer.

Schon in ihrem

ersten Statut 1876 hielt sie „die Einführung einer Börsenumsatzsteuer nach dem Werte sowie eine Besteuerung der ausländischen Wertpapiere für dringend geboten". Auf ihrer dritten Generalversammlung am 14. und 15. F e bruar 1878 wurde bei Punkt 3 der Tagesordnung, der das Defizit des Reiches und die Mittel zur Deckung behandelte, folgender Antrag des Dr. Perrot angenommen, „die Besteuerung der Börsenumsätze im Verhältnis zur Höhe der umgesetzten Summe erscheint der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer als eine Forderung der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, und wird der Ausschuß der Vereinigung beauftragt, diesen Beschluß der (und dem Reichstage) mitzuteilen".

Reichsregierung

In dem Referat und in der

Debatte kamen Äußerungen zutage, die eine heftige Feindschaft gegen die Börse bekundeten, so, wenn Dr. Perrot sagte:

„Ich

würde es für ein sehr großes Glück halten, wenn diese Umsätze mittels einer tüchtigen

Börsensteuer recht

sehr

eingeschränkt

würden. Sollte es dahin kommen, daß diese Umsätze ganz beseitigt würden, um so besser" 1 ). Auch der Kongreß deutscher Landwirte beschäftigte sich im folgenden Jahre 1879 bei der „Wucher- und Wechselfrage" mit dem Verlangen einer Börsensteuer.

Der Berichterstatter, Freiherr

v. Thüngen, betrachtete „Courtage, Arbitrage, Reportgeschäft alles als nur verschiedene Bezeichnungen und Arten des Großwuchers, wie er an der Börse getrieben wird" 2 ). E r verlangte eine Börsensteuer nach Prozenten des Umsatzes und eine hohe Besteuerung der ausländischen Anleihen und Wertpapiere. ihm

1

/ 6 bis 1 / 3 P r o z e n t

Als Höhe schien

als „sicher nicht zu hoch". Die Re-

' ) Verhdlg. d. St. - u. W.-R. 1878 S. 79. *) Verhdlg. des Kongresses deutscher Landwirte 1879 S. 109.

Die Börsenreform.

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Solution des Kongresses lautete dementsprechend: „Dem großen Wucher, wie er bei der Börse . . . hervortritt, ist folgendermaßen zu begegnen: es ist eine prozentische Besteuerung der Börsen- und Bankgeschäfte einzuführen, wobei ausländische Anleihen und Wertpapiere höher zu treffen sind als inländische." Im folgenden Jahre, am 17. Februar 1880, steht die Besprechung der Börsensteuer schon als selbständiger Punkt auf der Tagesordnung der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer. In der Zwischenzeit hat sich aber die allgemeine Stimmung in Publikum, Parlament und Regierung zuungunsten der Börse geändert. In diese Zeit fallen die Äußerungen des Ministers Maybach von „dem Giftbaum der Börse" und des Abgeordneten Lasker von der Börse als „Akademie für straflose Umgehung der Gesetze". Auch die Äußerung des Spekulanten Strousberg: „Die Art, wie die Börsenkurse gemacht und notiert werden, bietet die nötige und bezweckte Handhabe für den Betrug" wurde als Beweis für die Schädlichkeit der Börse oft zitiert. Den Steuer- und Wirtschaftsreformern erschien nach ihrer Resolution von 1880 eine Besteuerung der Börsengeschäfte sowohl vom reinen finanziellen Standpunkte aus für zweckmäßig und geboten wie auch in Anbetracht der hohen Stempelgebühr beim Umsatz von Immobilien als eine Forderung der Gerechtigkeit. Als Höhe der Steuer wurde mindestens 1 pro Mille für alle Umsätze verlangt. In der Thronrede bei Eröffnung des Reichstages vom 15. F e bruar 1881 wurde bei dem Stempelsteuergesetz auch eine Börsensteuer angekündigt. Am 28. März 1881 fand die erste Beratung des Gesetzentwurfes betreffend die Erhebung der Reichsstempelabgaben statt. Fürst Bismarck war bei der Beratung zwar zugegen, ergriff aber das Wort hauptsächlich zu der Frage der Brausteuer. Die Börsensteuer wurde in den Debatten von den Abgeordneten Benda, Löwe-Bochum nur gestreift, dagegen von dem Abgeordneten Wiggers scharf bekämpft. Nachdem der Konservative v. Wedeil-Malchow noch die „Billigkeit und Gerechtigkeit der Vorlage" betont hatte, ging sie an eine Kommission von 21 Mitgliedern, aus der sie am 27. Mai wieder fast unverändert zur zweiten Lesung kam. Uber die Petitionen des Handelsstandes wie der

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Kapitel IX.

Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, der sich 34 Handelskammern angeschlossen hatten, ging man hinweg. Es stellte sich heraus, daß man mit wenigen Ausnahmen von der Gerechtigkeit der Steuer überzeugt war und sich nur noch nicht über die Modalitäten einigen konnte. Diese Einigung trat bei der dritten Lesung am 13. Juni ein, in der das Gesetz mit großer Majorität angenommen wurde. Nach dem Inhalt dieses Börsensteuergesetzes vom 1. Juli 1881 wurden Emission und Handel in Wertpapieren besteuert. Inländische Aktien zahlten bei der Emission, ausländische bei der Einführung x/i Prozent. Außerdem wurde jeder Umsatz, über den eine Schlußnote gewechselt war, mit einem Fixstempel von 20 Pf. für Kassageschäfte und 1 M. für Termingeschäfte belegt. Das Ergebnis der Steuer, das in den Kreisen der Agrarier auf mindestens 100 Millionen Mark pro Jahr berechnet hatte, war eine arge Enttäuschung. Für 1882 brachte die Steuer 5,5 für 1883 7,2 Millionen Mark ein. Dementsprechend erschienen auf der siebenten Generalversammlung der Steuer- und Wirtschaftsreformer am 18. Februar 1882 bei der Beratung der Börsensteuer verschiedene Vorschläge für ihre Erhöhung. Die Fixstcuer von 1 M. wurde verworfen und an ihre Stelle wenigstens 1 pro Mille des Umsatzes verlangt. Auch die Grundlage zum späteren Börsengesetz wurde schon gelegt durch das Verlangen, daß sämtliche Abschlüsse bei Strafe vereideten Beamten angemeldet und hier registriert werden müßten, widrigenfalls sie weder rechtskräftig noch einklagbar sein sollten 1 ). Für die eigentliche Besteuerung wünschte der Referent, Landtagsabgeordneter Mooren, abgestufte Prozentualsätze, nicht ad valorem, sondern nach dein eigentlichen Nennwerte. „Kämpfen wir mutig dafür, daß die eiserne Pflugschar nicht von der goldenen Couponschere beherrscht werde", von diesem Grundsatze ausgehend, nahm die Versammlung eine Resolution an, die verlangte, daß alle Börsenumsätze nach ihrem Proportionsverhältnisse, und zwar mit mindestens 1 pro Mille der umgesetzten Beträge, zu besteuern seien. Im ») Verhdlg. d. St.- und W.-R. 1882 S. 122.

Die Börsenreform.

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folgenden Jahre 1883 wurde in der gleichen Vereinigung schon der Wunsch, neben der Erhöhung der Börsensteuer ein strenges Börsengesetz zu erhalten, immer lauter. Alle Forderungen der Agrarier wurden hier schon in dem Referat des Dr. Perrot aufgeführt: Staatsaufsicht, Börsenregister, Verbot des Terminhandels. Die Resolution verlangte dann auch „angesichts der außerordentlichen sozialpolitischen Bedeutung, welche die modernen Börsenumsätze ihrer Natur und ihrem Umfange nach erlangt haben, daß den gefahrdrohenden Übelständen auf diesem Gebiet nicht nur durch eine prozentuale Börsensteuer, sondern auch durch ein deutsches Börsengesetz entgegengewirkt werden muß, welches der ferneren Ausbeutung der Bevölkerung durch die Börse sowie dem weiteren Betriebe des öffentlichen Spieles an derselben energisch ein Ziel setzt". Diesen Wünschen entsprechend brachte die Regierung 1884 den Entwurf einer Novelle zum Reichsstempelgesetz ein, in der an Stelle des fixen Umsatzstempels ein prozentualer Stempel gesetzt war. Die Auflösung des Reichstages ließ die Vorlage zwar unerledigt bleiben, doch schon im nächsten Jahre wurde die nur wenig abgeänderte Vorlage durch den konservativen Abgeordneten v. Wedeil-Malchow wieder dem Reichstage unterbreitet, während ihr ein anderer Antrag in börsenfreundlicher Richtung von der Seite der Deutsch-Freisinnigen entgegengestellt wurde. Nach der ersten Beratung am 21. Januar 1885 wurde der Vorschlag eines neuen Börsensteuergesetzes an eine Kommission verwiesen. Diese beschloß, den agrarischen Grundgedanken des Wedellschen Antrages, eine prozentuale Besteuerung der Börsengeschäfte, anzunehmen, dagegen aus dem liberalen Entwurf den bloßen Schlußnotenzwang anstatt der Kontrolle durch Buch- oder Registerzwang zu entnehmen. In der zweiten Lesung am 4. Mai 1885 nahm Fürst Bismarck das Wort, indem er sich auf die Beratungen des preußischen Staatsrates bezog, dem der Wedellsche Entwurf vorher zur Begutachtung vorgelegt worden war. Er sprach sich im allgemeinen nicht gerade für die Gesetzesvorlage aus; zum Staunen der Konservativen und zur Freude der Liberalen betonte er die Schattenseiten der Börsensteuer und beleuchtete besonders die Nachteile, C r o n e r , Agrarische Bewegung.

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Kapitel IX.

die das Gesetz gerade für die landwirtschaftlichen Produzenten haben könnte. Am folgenden Tage suchte der Kanzler allerdings die Wirkung seines Widerstandes abzuschwächen, sprach sich aber gegen den konservativen Antrag einer Kontrolle der Geschäfte aus. In der Abstimmung erzielte denn auch der gemischte Antrag der Kommission die Majorität, und am 8. Mai wurde der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit 214 gegen 41 meist freisinnige Stimmen angenommen. Die in ausländischer Währung zahlbaren Wechsel und Banknoten wurden mit x /io P r 0 1000, Kaufgeschäfte mit */io pro 1000 belastet. Bismaroks Hauptwunsch, nach dem Kaufgeschäfte über Waren, die einer der Kontrahenten selbst erzeugt hatte, freibleiben sollten, wurde erfüllt und damit der Landwirtschaft eine Bevorzugung zuteil. Die folgenden Jahre verliefen ohne neue Anstrengungen für eine Erhöhung der Börsensteuer. Auf der 13. Generalversammlung der Reformer am 22. Februar 1888 wurde die Frage der Börsensteuer und eines Börsengesetzes nur gestreift. Auf der Tagesordnung stand: Der Zwischenhandel, seine Bedeutung, seine Gefahren für die Produktion, insbesondere für die Landwirtschaft. Der Berichterstatter von Mendel erging sich hierbei in langen Ausführungen über die schädlichen Zustände an den Getreidebörsen. Die Resolution enthielt jedoch keine direkten Hinweise auf diesen Gegenstand. Die folgenden Jahre ließen das Börsenthema von den Tagesordnungen der Vereinigung fast ganz verschwinden. Nur 1890 stellte Graf v. Mirbach bei der Frage der Reform der direkten Steuern fest, daß man zwar mit dem Freihandelsprinzip seit 1879 gebrochen habe. „Nur nach einer Richtung", fuhr er fort, „haben wir noch absoluten Freihandel, nämlich in bezug auf die ausländischen Wertpapiere." Daher verlangte eine Resolution der Vereinigung die Erhebung eines besonderen Zuschlages bei der Kapitalrentensteuer für Einkommen aus ausländischen Wertpapieren. Erst nach fast 10 jähriger Pause befand sich unter den verschiedenen Steuervorlagen der Reichsregierung zur Deckung der Kosten des Militärgesetzes von 1893 neben der Erhöhung der Bierund Branntweinbesteuerung wieder ein Gesetzesvorschlag betr. eine

Die Börsenreform.

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Erhöhung der Börsensteuer. Er war bereite in der Thronrede vom 22. November 1892 angekündigt und forderte eine Verdoppelung des Umsatzstempels. Nach der Ablehnung der Militärvorlage (6. Mai 1893) wurde die Vorlage wieder eingebracht. Dem nach der Auflösung zum 4. Juli einberufenen neuen Reichstage wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, der eine wesentliche Erhöhung der Steuer brachte. Die Steuersätze waren in ihm verdoppelt und verdreifacht. Der Emissionsstempel für inländische Aktien wurde auf 1%, für ausländische auf 1%% festgesetzt. Inländische Renten unterlagen einer Steuer von 4, ausländische einer solchen von 6 pro Mille. Die Umsatzsteuer wurde verdoppelt. Effekten zahlten 2/10, Waren */10 pro Mille. Das Gesetz trat, ohne daß seine Beratung große Debatten hervorgerufen hatte, am 1. Mai 1894 in Kraft. Waren die Börsensteuergesetze auch von fast allen Parteien des Reichstages mit überwiegender Majorität angenommen worden, da sie den Wünschen des Volkes zu entsprechen schienen, so war die reichsgesetzliche Regelung des Börsenwesens, wie sie im B ö r s e n g e s e t z vom 22. Juni 1896 zutage trat, einzig und allein auf das Drängen der Agrarier zurückzuführen. Die ersten Anregungen aus landwirtschaftlichen Kreisen sind bei der Besprechung der Börsensteuer schon erwähnt worden. Die erste parlamentarische Anregung wurde in der Reichstagssession von 1887/88 gegeben. Der Landwirtschaftliche Verein zu Nossen im KönigreichSachsen hatte sich in einerPetition vom 25. November 1887 an den Reichstag gewandt und um eine Prüfung der Mißstände an der Berliner Produktenbörse und um deren Abstellung gebeten. Die Petitionskommission verhandelte am 23. und 24. Februar 1888 hierüber, wobei der Kommissar des Reichsamts des Innern die Erklärung abgab, daß bisher keinerlei Beschwerden über diese Verhältnisse an die Reichsregierung herangetreten wären und er daher nicht wisse, wie sich Bundesrat und Reichskanzler zu diesen Wünschen stellen würden. Trotzdem erlangte der Antrag, die Petition dem Reichskanzler zur Erwägung zu überweisen, in der Kommission mit 10 gegen 6 Stimmen die Majorität. Auch in der folgenden Legislaturperiode 1888/89 beschloß der Reichstag eine ähnliche Petition, die sich mit Mißständen im Hamburger Kaffeetermin12*

Kapitel IX.

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handel beschäftigte, dem Reichskanzler zur Erwägung zu überweisen.

Die Ausschreitungen des Börsengeschäftes im Jahre 1891

gaben dann den äußeren Anstoß zu dem von dem Abgeordneten Graf v. Ballestrem, Graf v. Behr, Freiherrn v. Manteuffel gestellten und von 186 Abgeordneten, fast der Hälfte des Reichstages, unterstützten Antrage, eine Gesetzesvorlage einzubringen gegen den Mißbrauch des Zeitgeschäftes, namentlich in Getreide, und dahin zu wirken, daß die Börsen einer wirksamen staatlichen Aufsicht unterstellt würden. Der Reichskanzler berief daraufhin auf Grund eines kaiserlichen Erlasses am 6. Februar 1892 eine Börsenenquetekommission zur Untersuchung der zutage getretenen Mißstände und zur Ausarbeitung eines Börsenreformgesetzes. Diese B ö r s e n e n q u e t e k o m m i s s i o n

bestand aus 23,

dann 28 Mitgliedern unter dem Vorsitz des Reichsbankpräsidenten Koch.

Von den Mitgliedern gehörten 4 dem Bankfach, 9 Handel

und Gewerbe, 6 dem Großgrundbesitz an, 6 waren Staatsbeamte und 3 Vertreter der Wissenschaft.

Die Sitzungen der Kommission

wurden am 6. April 1892 in Berlin eröffnet. E s wurden 56 Sitzungen abgehalten, die sämtlich nicht öffentlich waren, und 115 Sachverständige vernommen, darunter 3 9 Vertreter des Effektenhandels, 16 Vertreter des Getreidehandels, 10 Großgrundbesitzer, 10 Vertreter des Müllereigewerbes, 9 des Kaffeehandels, 6 des Spiritushandels, 7 des Zuckerhandels,

5 der Textilbranche, 6 Juristen,

5 Vertreter der Presse und 2 Professoren der Staatswissenschaft. Die Vernehmung erfolgte auf Grund eines von der Regierung entworfenen und von der Kommission abgeänderten

Fragebogens.

Die Aufgabe der Kommission war eine doppelte: „tatsächliche Feststellung der Zustände des Börsenwesens und, nach Abschluß der Verhandlung Abgabe eines Gutachtens, welches den Boden für die etwa zu fassenden Entschlüsse abgeben könne." Dieser Aufgabe entsprechend reichte die Kommission, als sie ihre Sitzungen nach 19 Monaten am 11. November 1893 schloß, dem Reichskanzler als Endergebnis ihrer Arbeiten ihre sogenannten „Beschlüsse" ein, die durch Stimmenmehrheit entstanden waren und nach Ansicht der jeweiligen Majorität die geeigneten Wege angaben, um den im

Die Börsenreform.

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Börsenwesen hervorgetretenen Mißständen zu begegnen 1 ). Die Aussagen der Sachverständigen wurden in wortgetreuer Wiedergabe dem Bericht beigefügt. Unter Berücksichtigung der so gewonnenen Aufklärungen hatte sich die Kommission über die zu empfehlenden Maßregeln schlüssig gemacht und formulierte ihre Vorschläge. Ihr Bericht mit sämtlichen Anlagen wurde Bundesrat und Reichstag vorgelegt. Der Reichstag beschloß darauf am 19. April 1894, die verbündeten Regierungen zu ersuchen, auf Grund der Ergebnisse der Börsenenquete ein Börsengesetz tunlichst bald vorzulegen. Auf der 19. Generalversammlung der Steuer- und Wirtschaftsreformer am 20. Februar 1894 stand „die Reform der Produktenbörsen" als erster Gegenstand auf der Tagesordnung. Der Reichstagsabgeordnete Graf v. Arnim-Muskau referierte über die Einrichtungen der Berliner Börse und über die sich hieraus ergebenden Schädigungen für die Landwirtschaft. Er verlangte eine Börsenaufsieht, Eintritt der Vertreter der Landwirtschaft in den Vorstand, Anstellung eines Staatskommissars, Verbot des Terminhandels in bestimmten Waren, Börsenregister, Disziplinarhof usw. Außer diesen üblichen Forderungen verlangte die Vereinigung noch in ihrer Resolution, daß an allen Produktenbörsen für den Abschluß von Termingeschäften öffentliche, unter Staatsaufsicht stehende Kassen errichtet werden sollten, in welche für jedes Geschäft von beiden Kontrahenten ein mindestens 25% des Wertes betragender Einschuß einzuzahlen sei, der in Getreide bei Schwankungen von je 5 M. pro Tonne durch Nachschüsse auf gleicher Höhe zu halten sei. Man wollte dadurch, wie der Korreferent Landrat Gescher ausführte, den kleinen Mann am Spekulieren hindern. Noch weitergehend nach der andern Richtung war sein Vorschlag, daß Getreidehändlern im Falle gemeinschädlicher Geschäftsführung die Ausübung des Gewerbes durch die Polizei sollte untersagt werden können. Nachdem in der Diskussion sich noch Herr von Knebel-Döberitz für Getreidesilos erwärmt hatte, wurde eine Resolution angenommen, die ein Börsengesetz in der oben skiz') Bericht und Beschlüsse der Börsen-Enquete-Kommission, Berlin 1894.

182

Kapitel IX.

zierten Form forderte.

Auch die These des Referenten Gescher

wurde zur Resolution erhoben. Noch energischer als die Steuer- und

Wirtschaftsreformer

setzte der kurz vorher gegründete Bund der Landwirte alle seine Kräfte für ein Börsengesetz ein.

Neben dem Antrag Kanitz und

der Einführung der Doppelwährung war das Börsengesetz

das

dritte „große Mittel", mit dem er die Not der Landwirtschaft zu endigen hoffte. Auch die Reichsregierung schien sich von der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Börsenverhältnisse überzeugt zu haben und

am 3. Dezember 1895 legte

der Reichskanzler den

Entwurf eines Börsengesetzes vor. Die erste Lesung fand vom 9. bis 11. Januar 1896 statt. Die Reichsregierung stellte sich von vornherein auf den Standpunkt der Börsenenquetekommission. Dem Handelsminister v. Berlepsch erschienen die Börsengeschäfte nach zwei Seiten hin ganz bedenkliche Richtungen eingeschlagen zu haben; „erstens dahin, daß eine große Zahl von Personen, die weder ihren Kenntnissen noch ihrem Vermögen nach geeignet erschienen

zum Abschluß von

Börsengeschäften, im Börsenspiel ihre Existenz aufs Spiel setzt, und zweitens dahin,

daß die Preisgestaltung im Effekten- und

Warenverkehr beim Terminhandel sich nicht nur nach den berechtigten Faktoren von Wert und Bedarf — ich sage absichtlich nicht: von Angebot und Nachfrage — richtet, sondern nach den Spekulationsbedürfnissen der Börse, ja, wie die letzte Vergangenheit es wieder gezeigt hat, nach den Spekulationsbedürfnissen einzelner Firmen und Personen". Die Angriffe, die in der Öffentlichkeit wie im Parlament gegen das Börsengesetz gerichtet wurden, wandten sich in der Hauptsache gegen die verstärkte Staatsaufsicht und gegen deren Organ, den Börsenkommissar, sowie gegen das Börsenregister. Aber gerade diese

beiden

Punkte

des

Gesetzentwurfes

wurden

auf

das

energischste verteidigt von den Agrariern, deren Vertretung Graf v. Kanitz und Dr. Hahn übernahmen. den

Beratungen

Graf Kanitz betonte in

des Reichstages zunächst den scharfen Unter-

schied zwischen dem eigentlichen Handelsstand und der Börse,

Die Börsenreform.

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von denen der erstere einer Reform geneigt sei. Die Börse sei zwar an und für sich notwendig und nützlich, aber die Funktionen von Angebot und Nachfrage seien heute vielfach gestört, einesteils durch eine künstliche Steigerung des Angebotes mit Hilfe von immensen Quantitäten fingierter, gar nicht vorhandener Waren, andererseits aber auch dadurch, daß die Ware künstlich vom Markte verdrängt oder ferngehalten würde und somit das Angebot sich verringere. Es sei zu untersuchen, welches die überwiegenden Interessen seien; wie die Prüfung aber auch ausfallen möge, das Resultat sei sicher, daß den wenigen Interessenten, den wenigen Gruppen des Erwerbslebens, die ein nachgewiesenes Interesse am Terminhandel hätten, eine sehr viel größere Zahl von Interessenten gegenüberstehe, denen ein viel größerer Nachteil davon erwachse. An eine sehr erhebliche, eo ipso eintretende Steigerung der Getreidepreise nach der Börsenreform schien der Redner nicht zu glauben, eine gewisse Steigerung werde zwar eintreten, aber schwerlich eine so große, wie sie die Landwirtschaft zu wünschen berechtigt sei. Zum Schlüsse wünschte der Redner in verschiedenen Punkten eine Verschärfung der Vorlage. Die gleichen Gründe, nur in verstärkter Tonart, führte der Vertreter des Bundes der Landwirte, Dr. Hahn, an. Er gab offen zu, daß man seit der Zeit, in der die Börse im Vordergrunde derer gestanden habe, die für die Handelsvertragspolitik eingetreten seien, auf agrarischer Seite keine Veranlassung habe, ihr besonders gewogen zu sein. Nachdem noch der Abgeordnete Gamp von der Reichspartei bedauert hatte, daß eine solche Reform nicht von den Börsenkreisen selber ausgegangen sei, und der Zentrumsabgeordnete Fritzen hervorgehoben hatte, daß, wenn die Börsenreform nicht jetzt energisch in Angriff genommen werde, sie auf unabsehbare Zeit vertagt würde, sprachen gegen die Vorlage nur die Vertreter der freisinnigen Parteien, Meyer und Fischbeck. Meyer betonte die Notwendigkeit des Börsenverkehrs für das wirtschaftliche Leben und prophezeite das Aufsaugen der kleinen Bankiers durch die großen Banken. Der Abgeordnete Fischbeck hielt wohl die Zeit für gekommen, daß die Gesetzgebung den veränderten Verhältnissen entsprechend umgestaltet werde, wandte sich aber energisch

184

Kapitel IX.

gegen die Paragraphen wegen des Staatskommissars, der die Freiheit des Verkehrs einenge und in das Recht der kaufmännischen Selbstverwaltung eingreife. Die Bestimmungen über den Termin handel bedeuteten ihm „ein Entgegenkommen gegen die, welche nicht die Auswüchse des Handels bekämpfen, sondern welchen vielmehr der Handel in seiner Tätigkeit als Vermittler auf dem Weltmarkt überhaupt ein Dorn im Auge ist. Die Bestimmung dieses Paragraphen ist ein Entgegenkommen gegen diejenigen, welche, wie das schon im Antrag Kanitz geplant ist, am liebsten die Grenzen unseres Landes verschließen möchten, welche dem Weltmarkt keinen Einfluß auf die Preisbildung der notwendigsten Nahrungsmittel gestatten wollen,, welche den Preis des Getreides in Deutschland einzig und allein der Preisdiktatur der Herren Agrarier überlassen möchten". Nachdem noch endlich der Abgeordnete Schoenlank erklärt hatte, daß die Sozialdemokraten Gegner jeder Prellerei und Übervorteilung seien, auf den Rennplätzen wie auf der Börse, und persönliche Angriffe gegen einen Agrarier gerichtet hatte, der gewerbsmäßiger internationaler Differenzspieler sei, wurde die Vorlage auf den Antrag des nationalliberalen Abgeordneten Cuny an eine Kommission von 21 Mitgliedern verwiesen, aus der sie am 28. April 1896 wieder an das Plenum kam. Auf einen etwas elegischen Ton war trotz des Einbringens des energisch verlangten Gesetzes die dritte Generalversammlung des Bundes der Landwirte am 18. Februar 1896 im Zirkus Busch abgestimmt. Der Vorsitzende v. Ploetz mußte in seiner Ansprache gestehen, daß der Bund noch nicht viel erreicht habe. „Er hat die schweren Zeiten nicht bannen können, und nur in geringem Maße hat er den Landwirten Vorteil gebracht." Man sei sich klar geworden, daß man sich nicht auf einseitig landwirtschaftliche Interessen beschränken dürfe. Man müsse auch für den gesamten Mittelstand gegen rote und goldene Internationale eintreten. Der Redner verbreitete sich dann über die Politik der „kleinen und der großen Mittel" zur Hebung der landwirtschaftlichen Not und erklärte, daß, falls man nichts Besseres biete, die beiden großen Mittel: Antrag Kanitz und Doppelwährung mit

Die Börsenreform.

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absoluter Sicherheit wiederkommen und in Erfüllung gehen würden. Nur solchen Männern, die für diese beiden großen Mittel einzutreten sich verpflichteten, dürfe man bei den Wahlen seine Stimme geben. Die kleinen Mittel würde man zwar auch annehmen, doch müßten sie schnell kommen, sonst könnten sie nur als Blumen der Wehmut auf den Gräbern der Landwirtschaft gelten, deren Totengräber die Handelsverträge wären, aber schützen könnten die kleinen Mittel die Landwirtschaft nicht vor dem Ruin. Der Berichterstatter Dr. Suchsland beklagte die trotz des Sturzes von Caprivi immer weiter zögernde Haltung der Regierung in den wichtigsten Fragen. Unter scharfem Tadel der Minister, denen es an „zielbewußten und tatkräftigen Initiativen" fehle, wurde geäußert, man müsse „das Aschenbrödel der deutschen Gesetzgebung zur Stellung des Fürstenkindes erheben, welche die deutsche Landwirtschaft, als erstgeborener Stand, als das Muttergewerbe und das Rückgrat des Staates beanspruchen darf". Im gleichen Tone äußerten sich die übrigen Redner, von denen Herr v. Diest-Daber noch unter „Bravo"- und „Sehr richtig"-Rufen erklärte: „Was der Herr v. Hammerstein (Minister für Landwirtschaft) von uns sagte, kann uns sehr schnuppe sein." Die einstimmig angenommene Resolution bezog sich auf die Stellungnahme zu den großen und kleinen Mitteln. Der Bund sprach sich dahin aus, daß er von der Durchführung der sogenannten kleinen Mittel einen bedeutsamen Erfolg nicht erhoffe. Er beklagte die schroffe Zurückweisung des Antrags Kanitz seitens der verbündeten Regierungen, insbesondere seitens des preußischen Landwirtschaftsministers, erwartete, daß unverzüglich und mit aller Kraft an die Lösung der Währungsfrage herangetreten werde, und hielt besonders den Börsengesetzentwurf den berechtigten Forderungen gegenüber für nicht genügend. Der dem Reichstage vorgelegte Entwurf des Börsengesetzes wurde denn auch diesen Wünschen entsprechend in der Reichs tagskommission vielfachen Änderungen unterworfen. Der § 2 wurde durch die Befugnis der Landesbehörden erweitert, statt eines Kommissars auch mehrere für eine Börse zu bestellen. Das dem Kommissar in der ersten Losung gegebene Recht, an allen

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Kapitel IX.

Beratungen der Börsenorgane teilzunehmen, wurde in der zweiten Lesung gestrichen, indem man man von der Voraussetzung ausging, daß die Landesregierung die Teilnahme des Staatskommissars an denjenigen Sitzungen anordnen würde, in denen Gegenstände von allgemeinerem Interesse verhandelt würden. Die Stellung des Börsenausschusses (§ 3) wurde durch die Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre (statt drei) und durch die Befugnis, Anträge an den Bundesrat zu stellen und Sachverständige zu vernehmen, erweitert. Ein vom Ministerialdirektor Freiherrn v. Stengel unterstützter Antrag, letzteres wieder zu streichen, da man kein Organ wolle, „das sich gesetzlich berufen glaube, aus eigenem Rechte zu jeder Zeit und vielleicht auch zur Unzeit seine Ratschläge und Entwürfe dem Bundesrat sozusagen aufzudrängen 1 )", wurde abgelehnt. Um den Börsenhandel mit ungeeigneten Waren und Wertpapieren sicher verhüten zu können, wurde der § 6 dahin ergänzt, daß der „Bundesrat befugt ist, für bestimmte Geschäftszweige die Benutzung der Börseneinrichtungen zu untersagen oder von Bedingungen abhängig zu machen". Bei der Beratung des Börsenterminhandels wurde beantragt, den Terminhandel in Anteilen und Schuldverschreibungen von Erwerbsgesellschaften allgemein zu untersagen, mit der Ausnahme, daß der Bundesrat davon für den Fall abgehen dürfte, wenn die Anteile und Schuldverschreibungen an einer bzw. zwei außerdeutschen Börsen gehandelt würden und das Kapital der betreffenden Gesellschaften mindestens 50 Millionen Mark betrüge. Von anderer Seite wünschte man die Kapitalhöhe auf weniger als 20 Millionen Mark und das Verbot nur auf Bergwerks- und Industriepapiere zu beschränken. Man entschied sich, da man keine Unzuträglichkeiten erwartete, für den letzteren Antrag. Der in erster Lesung angenommene Antrag, „den börsenmäßigen Terminhandel in Kammzug und andern Ganzund Halbfabrikaten der Textilindustrie zu verbieten", wurde in zweiter Lesung wieder gestrichen. Die Untersagung des Terminhandels in Anteilen von Bergwerks- und Fabrikunternehmungen blieb dagegen bestehen.

') 6er. d. IX. Kommission S. 5.

Die Bdrsenreform.

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Vom 28. April bis 1. Mai 1896 wurde dieser abgeänderte Entwurf das zweite Mal im Plenum beraten. Zu jedem wichtigen Paragraphen lagen Abänderungsvorschläge der agrarischen Partei, durch den Grafen Kanitz vertreten, vor. Der Wunsch der Agrarier, den Vertretern der Landwirtschaft und der landwirtschaftlichen Nebengewerbe, besonders der Müllerei, eine Vertretung im Börsenvorvorstande zu sichern, führte zu dem vom Grafen Kanitz gestellten Antrage, in § 1 betreffend das Aufsichtsrecht über die Börse, den Vertretern der Landwirtschaft einen Platz einzuräumen. Die Abgeordneten Graf Oriola und Fritzen führten demgegenüber richtig aus, daß es sich nicht um Plätze bei der Börsen a u f s i e h t , sondern bei dem Börsen v o r s t ä n d e handele und daher der Antrag des Grafen Kanitz erst zu § 4 gestellt werden könne. Diese technische Ve Schiebung wurde von den Agrariern zugegeben, aber die Diskussion über die Beteiligung der Landwirtschaft am Börsenvorstande schon an dieser Stelle vorweggenommen. Der liberale Abgeordnete Barth sprach vergebens von einer Obervormundschaft der Agrarier über die Börse, die das kaufmännische Selbstgefühl verletzen müßte; ein Bedürfnis, einen besonderen Sachverstand neu in die Produktenbörse einzuführen, liege nicht vor. Es werde gleich im ersten Paragraphen ein agrarischer Geßlerhut auf die Stange gesetzt, damit vor der höheren agrarischen Moralität die Kaufleute ihre Reverenz zu erweisen hätten. In scharfer Tonart verfocht dann Dr. Hahn vom Bunde der Landwirte den Antrag des Grafen Kanitz, der durchaus in den § 1 hineingehöre, wo es sich um die A u f s i c h t über die B ö r s e handele. Der Regierungsvertreter wies diese Auffassung zurück. Es müßten die ernstesten Bedenken dagegen erhoben werden, zum Zwecke der Aufsicht über die Börse, den Handelskammern Vertreter der landwirtschaftlichen Gewerbe beizuordnen, es spräche auch gegen die Verfassung dieser Handelsorgane. Der Antrag sei überhaupt entbehrlich, da durch die §§ 4 und 5 (Börsenordnung) des Gesetzes die Regierungen in der Lage seien, Vorschriften aufzunehmen, durch welche die Wahrnehmung der landwirtschaftlichen Interessen bei der Verwaltung der Börse sichergestellt sei. Wollte man aber trotzdem den Antrag annehmen, so könne es formell und

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Kapitel IX.

sachlich nur zu § 4 geschehen. Auf diese Äußerung wurde der Antrag des Grafen Kanitz bei § 1 zurückgezogen und zu § 4 (Börsenordnung) von neuem gestellt, wo er angenommen wurde. Auch zu § 2 (Börsenkommissar) brachte Graf Kanitz einen Antrag ein, nach dem dem Börsenkommissar nicht bloß eine b e obachtende, sondern eine überwachende Stellung eingeräumt und ihm das Recht zuerkannt wurde, die Beseitigung von Mißständen vom Börsenstande zu v e r l a n g e n . Auf die von dem Abgeordneten Träger gemachte Bemerkung, daß die Einrichtung des Staatskommissars nichts weiter bedeute als die Stellung der Börse unter Polizeiaufsicht, antwortete der Handelsminister v. Berlepsch dahin, daß er neben erfreulichen auch recht unangenehme Erscheinungen an den Börsen wahrgenommen habe, und daß er oft nicht ausreichend und rechtzeitig über Vorgänge orientiert worden sei, die sich an der Börse abgespielt hätten. Der Abgeordnete Singer vertrat den Standpunkt, daß, ebenso wie man jedem Unternehmer den Fabrikinspektor in die Fabrik schicke, um zu kontrollieren, ob die Vorschriften des Gesetzes befolgt würden, man das gleiche auch bei der Börse verlangen könne. Er sah die Institution des Staatskommissars als eine Art finanzpolitischer Gesundheitspolizei für die Börse an. In einem ähnlichen Gleichnis bewegte sich der Abgeordnete Dr. Hahn vom Bund der Landwirte. Für ihn war die Börse ein Markt und sie bedurfte, wie jeder Markt, wo auch öffentliche Interessen in Frage ständen, der Marktpolizei, d. h. des Staatskommissars. Nachdem dann Graf Kanitz seinen Antrag dahin abgeändert hatte, daß die Staatskommissare berechtigt sein sollten, den Sitzungen des Börsenvorstandes beizuwohnen, wurde der Antrag angenommen. Zu § 3 (Börsenausschuß) wünschte ein Antrag Kanitz, der Börse ein Drittel der Mitglieder des Börsenausschusses, Industrie, Landwirtschaft und Handel zwei Drittel zuzugestehen. Hiergegen wurde von der Regierung eingewendet, daß man ursprünglich zwei Drittel des Ausschusses von der Börse hatte wählen lassen wollen und diese Zahl in der Kommission auf die Hälfte herabgemindert sei. Die agrarische Forderung wurde vom Reichstage abgelehnt. Zu lebhaften Erörterungen kam es

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bei der Beratung des § 47 (früher 46) der Kommissionsvorlage. Während die Kommission beschlossen hatte, den Terminhandel in Getreide und Mfihlenfabrikaten von einer Feststellung der Lieferungsqualität abhängig zu machen, hatten die Abgeordneten Fuchs-Schwarze einen Antrag gestellt, den Börsenterminhandel in Getreide und Mühlenfabrikaten ganz zu untersagen. Der Regierungsvertreter hob hervor, daß der zurzeit bestehende Terminhandel in Getreide mit den Bedürfnissen der Produktion und Konsumtion in Widerspruch stehe, betonte aber andererseits, daß man sich doch die Frage vorlegen müsse: „Wird das Verbot des Terminhandels in Getreide nicht auch Nachteile, nicht auch recht empfindliche Nachteile bringen ? . . . Ich kann nur meiner Überzeugung dahin Ausdruck geben, daß es im höchsten Grade zweifelhaft ist, ob das absolute Verbot des Terminhandels im Gesetz nicht der Landwirtschaft den erheblichsten Schaden zufügt." Der Abgeordnete Schoenlank erklärte das Verbot des Terminhandels für eine Prämie auf den Brotwucher. Die Bereicherung durch die Differenzgeschäfte des Terminhandels sei die gleiche wie die Bereicherung der Agrarier durch die Differenz zwischen Getreidezöllen und Weltmarktpreis. Noch einmal warnte der Unterstaatssekretär Rothe als Regierungsvertreter, durch das Verbot des Terminhandels nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten, da die Einschränkungen des Gesetzentwurfes zum Schutze der Landwirtschaft völlig genügten; wenn sich herausstellen würde, daß sie nicht genügten, so werde der Bundesrat sich nicht weigern, das Verbot des Terminhandels auszusprechen. Graf Kanitz gab zu, daß der Reichstag schon lange nicht vor einer so ernsten Frage gestanden hätte, erklärte aber, daß alle Berufskreise, die am Getreidehandel beteiligt seien, kaum ein wirtschaftliches Interesse an dem Fortbestande des Terminhandels hätten und daß die eventuellen kleinen Vorteile von den Nachteilen weit überwogen würden. In namentlicher Abstimmung, bei der Zentrum, Konservative und der größte Teil der Nationalliberalen geschlossen für Aufhebung des Terminhandels stimmten, wurde schließlich der Antrag FuchsSchwarze (Verbot des Terminhandels) mit 200 gegen 39 Stimmen angenommen.

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Kapitel IX.

Die übrigen Paragraphen wurden meist ohne Debatte erledigt. Bei der dritten Beratung des Börsengesetzes am 5. und 6. Juni 1896 entwickelte der Abgeordnete Gamp, daß es sich bei dem Gesetze durchaus nicht um Angriffe auf die kaufmännische Ehre handle. Der Abgeordnete Frese hob dagegen die Nachteile hervor, die der Landwirtschaft selbst aus dem Verbot des Termin handels hervorgehen müßten. Die Agrarier wollten nun noch geschwind die Regierung veranlassen, auch bei ausländischen Staaten auf ein Verbot des Terminhandels einzuwirken. Während dann Graf Arnim den Vorwurf zurückwies, daß die Agrarier Feinde der Börse seien, erblickte Graf Kanitz in dem Verbot des Terminhandels einen Vorteil für die Landwirte und Liebermann von Sonnenburg einen Triumph des antisemitischen Gedankens, wobei er es nur bedauerlich fand, daß sich das Verbot des Terminhandels auf das Getreide beschränke. Unter persönlichen Angriffen zwischen dem Abgeordneten Singer, v. Ploetz und Dr. Hahn schloß die Debatte. Der von dem Abgeordneten Frese erwähnte Antrag Kanitz-Arnim betreffend internationale Verhandlungen wegen allgemeiner Abschaffung des Getreidetermlnhandels und betreffend Organisation der Produktenbörsen, wurde genehmigt und das Börsengesetz in Gesamtabstimmung angenommen. Am 22. Juni 1896 wurde das Gesetz mit Wirkung vom 1. Januar 1897 publiziert und am 5. Juli 1896 das hiermit in Zusammenhang stehende Gesetz betreffend die Pflichten der Kaufleute bei Aufbewahrung fremder Wertpapiere. Die vierte Generalversammlung des Bundes der Landwirte am 16. Februar 1897 konnte sich des ersten unbestrittenen Sieges ihrer Bestrebungen freuen. Der Bund war der Vater des Börsengesetzes vom 24. Juni 1896 gewesen. Das Gesetz, das den Börsenterminhandel in Getreide untersagte, war zwar seit dem 1. Januar 1897 in Kraft, doch hielt es der Bund für angezeigt, in seiner Resolution sein Bedauern darüber auszudrücken, daß Reichs- und Staatsregierung noch keinerlei Maßnahmen getroffen hätten, um dem Gesetze volle Geltung zu verschaffen und die ,,offenkundigen Gesetzesübertretungen an der Fonds- und Produktenbörse wirksam zu verhindern". Noch deutlicher wurde die Resolution in ihrem

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zweiten Teile, in dem die zuversichtliche Erwartung ausgesprochen wurde, daß der „Handelsminister sein Aufsichtsrecht über die preußischen Börsen unverzüglich gegenüber der zurzeit im Feenpalast zu Berlin (in der Burgstraße gegenüber der Börse) etablierten gesetzwidrigen Produktenbörse dem neuen Börsengesetz entsprechend zur Anwendung bringen werde".

Kapitel X.

Die Wfihrungsfrage. Als drittes „großes Mittel", das der Landwirtschaft wieder aufhelfen sollte, wurde eine Reform der deutschen Goldwährung oder die Einführung der D o p p e l w ä h r u n g empfohlen. Von den zivilisierten Staaten besaß zu Anfang der 60 er Jahre nur England eine eigentliche Goldwährung, die durch Gesetz vom 22. Juni 1816 eingeführt, zum ersten Male in der Geschichte praktisch mit aller Strenge durchgeführt war, da Silbermünzen nur als Scheidemünzen und mit beschränkter Zahlkraft zugelassen waren. Außer in England bestand nur noch in Portugal und Brasilien seit 1854 resp. 1849 eine Goldwährung, die jedoch in den letzten beiden Ländern in Wirklichkeit Papiergeldwirtschaft war. Frankreich, das typische Land der Doppelwährung, hatte dies System durch eine Münzkonvention erweitert, die als lateinischer Münzbund am 23. Dezember 1865 zwischen ihm und Belgien, Italien, der Schweiz, später auch Griechenland, Rumänien und endlich noch Spanien abgeschlossen war. Da dem lateinischen Münzbunde die Idee einer internationalen Münzeinigung zugrunde gelegt war, lud Napoleon III. bei Gelegenheit der Pariser Weltausstellung die Regierungen aller zivilisierten Staaten zu einer internationalen Münzkonferenz ein, die vom 17. Juni bis 6. Juli 1867 tagte und von 20 Staaten, darunter Preußen, Bayern, Württemberg, Baden, Großbritannien, Ver. Staaten, Rußland, Belgien, Schweiz, Österreich etc. beschickt war. Die Beschlüsse dieser Konferenz lauteten dahin, daß die Vorteile einer universellen Münzeinigung von allen Seiten anerkannt

193

Die Währungsfrage.

wurden, das System des Pariser Münzvertrages, j e d o c h m i t A n n a h m e d e r a l l e i n i g e n G o l d w ä h r u n g , empfohlen und der Feingehalt aller Goldmünzen auf 9 / 10 bestimmt wurde. Zwei praktische Ereignisse kennzeichneten die folgenden Jahre. Der Bedarf Indiens an Silber hatte seit 1866 erheblich abgenommen. Die Silbereinfuhr nach Indien war von 48,2 MilL Dollars im Jahre 1865 auf 34,1 Mill. Dollars im Jahre 1867 gesunken, dagegen hatte der Goldbedarf, den Indien aus Australien deckte, zugenommen und war von 22,3 Mill. Dollars in 1866 auf 25,2 Mill. Dollars in 1868 gestiegen. Das zweite Ereignis war die stark zunehmende Silberproduktion in den amerikanischen Staaten, westlich von den Rocky Mountains, in deren Folge die Silberpreise zu sinken begannen. Die Silberproduktion betrug im Jahresdurchschnitt: 1831 1841 1861 1866 1861 1866

bis „ „ „ „ „

1840 1860 1866 1860 1866 1870

696 460 780 416 886116 904990 1101160 1339 086

kg „ „ „ „ „

Da dieser Mehrproduktion keine entsprechende Steigerung des Konsums von Silber und zwar weder für Währungszwecke noch für den industriellen Edelmetallgebrauch gegenüberstand, im Gegenteil zeitweise sogar ein Bückgang des Konsums eintrat, so war dementsprechend der Silberpreis im Durchschnitt der Jahre 1851 bis 1860 von 613/„ auf 6015/!, d im Durchschnitt der Jahre 1861 bis 1870 pro Unze gesunken. Gleich nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges Ende Juli 1870 kam in Paris die letzte große Währungsenquete des Conseil Superieur du commerce zum Abschluß, dessen große Majorität sich, trotz des erst 1865 auf dem Boden der Doppelwährung abgeschlossenen lateinischen Münzbundes, entschieden für die Einführung der Goldwährung aussprach. Beinahe der ganze Rat, 17 von 23 Mitgliedern, war der Ansicht, daß die Regierung ermächtigt werden sollte, die Ausprägung der silbernen Fünffrankenstücke zu suspendieren oder zu beschränken. Er bezeichnete dies C r o n e r , Agrarische Bewegung.

13

Kapitel X.

194

schon als „eine vorbeugende Maßregel, um die gegen unseren Geldumlauf gerichteten Angriffe abzuschlagen".

Der Ausbruch des

Deutsch-Französischen Krieges vereitelte dann aber alle weiteren Maßnahmen nach dieser Richtung. Bei diesen Bestrebungen zur Währungseinheit war auch in Deutschland,

seit

im

Jahre

1860 der Kongreß

deutscher

Volkswirte die Frage der Münzeinigung angeregt hatte, dieser Punkt niemals ganz von den Tagesordnungen einigungen

von

Landwirtschaft,

der verschiedenen Ver-

Industrie und

Handel

ver-

schwunden. Zunächst beschäftigte sich der 1861 neugegründete Deutsche Handelstag mit dieser Angelegenheit, indem er in seiner ersten Sitzung in Heidelberg im Mai 1861 über „eine einheitliche rationelle Regulierung der deutschen Münzzustände" verhandelte. E r konnte an eine direkte Empfehlung der Goldwährung damals noch nicht denken, wenn er praktische Erfolge ins Auge fassen wollte, desto intensiver beschäftigte er sich mit der Frage der Münzeinigung. Schon vier J a h r e später trat zu der Frage der Münzeinigung die ebenso wichtige Währungsfrage. Der Wiener Münzvertrag von 1857 war für Deutschland durch den Ausbruch des Preußisch-österreichischen Krieges von 1866 tatsächlich

aufgehoben.

Frieden

von

Österreich

wurde dann

dem Wiener Vertrage entbunden

auch im und

Prager

trat sogar

1867 dem lateinischen Münzbunde bei, ohne daß allerdings dieser Vertrag später ratifiziert wurde. Obwohl für die Staaten des deutschen Zollvereins der Wiener Münzvertrag weiter verbindlich blieb, hatten die nicht zum Norddeutschen Bunde gehörenden süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen in der Ordnung ihrer Münzverhältnisse dennoch freie Hand. Zu den Einflüssen des Pariser Münzvertrages und der sich an ihn anschließenden Münzkonferenz von 1867 trat auch für die deutschen Staaten noch der Umstand, daß seit 1866 der Bedarf Indiens an Silber abgenommen hatte und daß hierdurch sowie durch die gleichzeitige oben erwähnte Vermehrung d e r Silberproduktion

in den amerikanischen Staaten

preise zu sinken begannen.

die Silber-

Die Währungsfrage.

195

Unter diesen veränderten Verhältnissen erklärte sich der deutsche Handelstag am 20. Oktober 1868, unter abermaliger Betonung der Notwendigkeit eines einheitlichen Münzfußes für sämtliche deutschen Staaten — eine Angelegenheit, die aber für so selbstverständlich gehalten wurde, daß sie gar nicht mehr diskutiert wurde —, mit großer Majorität dafür, daß sämtliche deutschen Staaten gleichmäßig die alleinige Goldwährung mit konsequenter Durchführung des Dezimalsystems annähmen; im Anschluß an die von der internationalen Münzkonferenz in Paris empfohlenen Grundsätze. Ein auf Einführung der Doppelwährung gerichteter Antrag war vorher mit 75 gegen 37 Stimmen abgelehnt worden. Auch der im Jahre 1868 tagende volkswirtschaftliche K o n g r e ß s p r a c h sich mit Entschiedenheit für die Goldwährung aus. Der ,,bleibende Ausschuß" des Deutschen Handelstages überreichte für die weitere Förderung der Angelegenheit dem Bundesrate und den süddeutschen Regierungen im Mai 1869 eine ausführliche Denkschrift. Der Bundesrat beschäftigte sich daraufhin näher mit der Münzreform und beschloß im Juni 1870, kurz vor Ausbruch des Krieges mit Frankreich, die Veranstaltung einer „Enquete über die bei der Ordnung des Münzwesens in Betracht kommenden Verhältnisse", zu der die Fragebogen bereits gedruckt vorlagen 2). Die Ergebnisse der Siege von 1870/71, die Milliarden der Kriegsentschädigung, führten, umgekehrt wie in Frankreich, die deutschen Staatsmänner zu dem von den Franzosen aufgegebenen Projekt einer Einführung der Goldwährung. Der Übergang Deutschlands zur Goldwährung war jedoch weder das „Werk einer internationalen Verschwörung" gewesen 8 ) noch die Arbeit einer „mit der größten Eilfertigkeit auf die eigene Uberzeugung ihrer Nützlichkeit ihr Mandat gründenden Kommission" 4), sondern der Anfang einer großen wirtschaftlichen Bewegung, die jetzt fast in der ganzen Welt >) Eine 1868 in Gotha begründete Wanderversammlung für Agitation im Sinne wirtschaftlicher Freiheit, die sich vorzugsweise mit der Gestaltung des Bank- und Münzwesens beschäftigte. ') Die Währungsfrage im Deutschen Handelstage. Berlin 1881. ') Arendt, Wie Deutschland zur Goldwährung kam. Berlin 1894. *) Rochussen, Reichsgold oder Weltgold. Berlin 1894.

13*

196

Kapitel X.

zur Herrschaft gelangt ist und durch ihre Folgen Deutschlands Handeln im Jahre 1873 gerechtfertigt hat. Nach dem Kriege hielt die Regierung des neuen Deutschen Reiches die von dem Bundesrat des Norddeutschen Bundes beabsichtigte Enquete für überflüssig, da sich die öffentliche Meinung immer mehr zugunsten der Goldwährung entschieden hatte. Noch in dem Jahre des Friedensschlusses kam ein vorbereitendes Münzgesetz zustande, das bereits die wichtigsten Grundzüge der Goldwährung enthielt, und V/ 2 Jahre später wurde der gesetzgeberische Teil der Münzreform durch das Gesetz vom 9. Juli 1873 zu Ende gebracht. Das große Werk wurde ohne nennenswerte Schwierigkeiten und mit verhältnismäßig geringen Kosten durchgeführt. Die Ausgaben für das Münzwesen beliefen sich seit dem Beginn der Reform bis Ende 1897/98 auf 132,3 Millionen Mark. Davon entfielen auf die Verluste beim Verkauf der eingeschmolzenen Silbermünzen 98,8 Millionen, und von diesen Verlusten wiederum auf die unterfertige Ausprägung und die Abnutzung der eingeschmolzenen Silbermünzen 24,4 Millionen Mark. Der eigentliche Verkaufsverlust belief sich also auf 74,4 Millionen Mark. Diesen Ausgaben standen große Einnahmen gegenüber, die sich hauptsächlich aus der Goldbeschaffung und der Ausprägung der Reichsscheidemünzen ergaben. Sie beliefen sich im ganzen auf 10ö,4 Millionen Mark, so daß die ganze Münzreform und die Erhaltung des Münzwesens bis 31. März 1898 einen Zuschuß von nur 26,9 Millionen Mark erforderte1). Welche Stellung in jener Zeit gegenüber der Frage nach der Währungsart überhaupt eingenommen wurde, ersieht man aus den Beratungen des ersten Deutschen Reichstages über die Münzreform am 11. November 1871. Die Goldwährung hatte hier an Ludwig Bamberger einen energischen, sachkundigen Vertreter, während der württembergische Partikularist Moritz Mohl nach der internationalen Münzeinigung auf Grund des Frankensystems und nach der Doppelwährung strebte. Nachdem die Wahl der Rechnungseinheit und die staatsrechtliche Organisation des Münz') Helfferich, Zum silbernen Jubiläum der deutschen Goldwährung. (Nation 9. Juli 1898.)

Die Währnngsfrage.

197

wesens festgestellt waren, kam man zur Währungsfrage. Der Entwurf ließ die Entscheidung zwischen Gold- und Doppelwährung selbst in der Schwebe. Am 17. und 18. November wurde die Währungsfrage ausführlich besprochen, eine Abstimmung Aber die Art der neu einzuführenden Währung fand nicht statt, da nirgends ein dähingehender Antrag vorgeschlagen war, doch ging aus der dann festgestellten Fassung des Gesetzes zur Genüge hervor, daß die Goldwährung das Ziel der Münzreform sein sollte. Dieses Gesetz unter dem Titel betreffend die Ausprägung von Reichsgoldmünzen, das am 4. Dezember 1871 publiziert wurde, fand seine Vollendung und seinen Abschluß in dem ersten deutschen Münzgesetz vom 9. Juni 1873, das die Reichsgoldwährung nun offiziell im ersten Artikel proklamiertex). Die folgenden Jahre waren für die Verfechter der Silberprägung verhängnisvoll. Dem Beispiele des Deutschen Reiches folgten 1872 bis 1875 die drei skandinavischen Länder, indem sie auf Grund der zwischen ihnen am 18. Dezember 1872 abgeschlossenen Münzkonvention eine reine Goldwährung einführten. Die Vereinigten Staaten machten durch Gesetz vom 1. April 1873, während sie noch vorwiegend Papiergeld im Umlauf hatten, den Golddollar zur Münzeinheit und unterbrachen die Ausmünzung von Silberdollars. In den Niederlanden wurde Ende 1874 die Prägung der Silbergulden eingestellt und durch Gesetze von 1875 und 1876 die Goldwährung eingeführt. Der lateinische Münzbund, Frankreich, Belgien, Schweiz, Italien, Griechenland beschränkte 1874 die freie Silberprägung und stellte sie 1878 völlig ein. Rußland ging 1876 wenigstens offiziell zur Goldwährung über. Für Deutschland bestanden die Folgen des Münzgesetzes darin, daß die deutsche Regierung gegen Ende 1873 umfangreiche Silberverkäufe vornahm, die hauptsächlich nach Frankreich gingen, von wo das Silber in Fünffrankenstücke umgeprägt, in der Gestalt von Sterlingswechseln oder französischem Golde wieder nach Deutschland zurückkehrte. 1

) Näheres über diese Vorgänge s. Heliferich, Geschichte der deutschen Goldreform, 1898.

198

Kapitel X.

Obgleich die Durchführung der deutschen Münzreform einen unerwartet ruhigen und sicheren Verlauf nahm, machte sich doch schon seit 1876 eine der Goldwährung feindliche Strömung geltend. Das in den siebziger Jahren eintretende Herabgehen der Silberpreise wurde von den Vertretern der bimetallistischen Richtung besonders in England einzig und allein auf Rechnung der deutschen Goldwährung geschoben. Als Ursachen wurden in den Berichten des britischen Parlaments von 1876 hervorgehoben: Die jährliche Silberproduktion sei von 8 bis 9 Millionen £ in 1860 auf 14 Millionen 2 in 1876 gestiegen. Deutschland habe infolge seiner Münzreform bedeutende Beträge demonetisierten Silbers verkauft. Die Einschränkung der Silberprägung in den Staaten des Lateinischen Münzvereins habe einen starken Druck auf den Silbermarkt ausgeübt. Indien und das übrige Ostasien empfange jetzt Zahlungen nicht in so hohem Maße mehr wie frühei durch Silberausfuhr, sondern durch die India Council Bills. Allerdings war die deutsche Regierung zur Ausführung und Vollendung ihrer Münzreform von 1873 bis 1879 zu beträchtlichen Einziehungen und Verkäufen der Silbermünzen geschritten. Mit Ausnahme eines Restes der Talerstücke waren Ende 1879 sämtliche früheren deutschen Landesmünzen eingezogen und außer Kurs gesetzt. Von Talerstücken, Münzen der Taler- und andern Währungen waren zusammen 1080,4 Millionen Mark eingezogen worden. Der Silberpreis in London, dem Weltmarkt für Silber, wo der Preis in Pence (d) für die Unze von Standard-Feinheit notiert wird, hatte er sich von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Jahre 1871 im Jahresdurchschnitt nur unwesentlich geändert. Er betrug durchschnittlich 6 0 1 3 / „ d was dem lange Zeit als normal geltenden („klassischen") Wertverhältnis von Gold zu Silber von 1 : 1 5 % ungefähr entsprach. Sicher sind der Ubergang Deutschlands zur Goldwährung, die hiermit in Verbindung stehenden Goldkäufe und Silberverkäufe von Einfluß auf die Silberpreise gewesen, noch dazu, da eine nennenswerte Vermehrung der Silberproduktion bis 1877 nicht stattfand,

Die Währungsfrage.

199

S i l b e r p r e i s e von Standard-Süber in London im Jahresdurchschnitt in Pence per Unze ä 31,1 g und Relation zu Gold. Silberpreise in Pence in London für die Unze fein *). Jahr

Preis im Jahresdurchschnitt

Relation zu Gold

Jahr

1871 1872 1873 1874 1876 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1886 1886 1887 1888 1889

60 1 /. 60 Vi. 69'/. 68* „ 66'/. 62'/. 64» / „ 62 •/.. 611/. 62*/. 61"/1. 61*/« 50'/,. 60•/• 48'/. 46»/, 44•/. 42'/. 42"/,.

16,61 16,66 16,96 16.06 16,64 17,72 17,24 17,96 18,31 18,18,16 18,17 18,62 18,68 19,44 20,79 21,13 22,07 22,06

1890 1891 1892 1893 1894 1896 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1906 1906 1907 1908

Preis im Jahresdurchschnitt 47»/.. 46'/.. 39"/,. 36*/, 28"/,. 29'/, 304/. 27'/,. 26»/,. 27'/,. 28'/. 27»/,. 24'/. 24'/, 26'/. 27V. 30'/, 30»/,. 24'/,

Relation zu Gold 19,77 20,93 23,68 26,43 32,49 31,60 30,66 34,24 36,02 34,37 33,34 34,68 39,14 38,31 36,68 33,88 30,26 30,92 38,81

aber die deutschen Silberverkäufe von 1873 bis 1879 sind durchweg ohne Überstürzung, mit großer Umsicht und niemals bei sinkenden Preisen vorgenommen worden. Die deutschen Silberverkäufe haben erst n a c h dem tiefsten Sinken des Silbers auf 463/« d im Juli 1876 größere Bedeutung gewonnen. Während der Zeit vom September 1876 bis Mitte 1877, als von Deutschland die größte Menge Silber an den Markt gebracht wurde, stand der Silberpreis im Durchschnitt höher als 54 d. Auch hat der Silberpreis nach Suspendierung der Silberverkäufe im Mai 1879 ') Die Preise sind der Statistik der Metallgesellschaft zu Frankfurt entnommen; die Relation ist bis 1886 nach Soetbeer Materialien etc. Berlin 1886, von da ab nach den Mitteilungen der Metallgesellschaft zu Frankfurt angegeben.

200

Kapitel X.

Silberproduktion 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879

1880 1881 1882 1883 1884

328 600 282 700 310300 313 300 301100 338 200 334100 342 600 369 700 392 900 396 900 363 100

1886 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896

in tausend Mark *).' 310000 371 200 376100 408 700 449 600 627 700 642 000 633 600 618 200 418 000 469 000 446000

1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1906 1906 1907

404000 613 600 428 200 467 900 438 000 410 900 411600 428 700 461200 624 000 664 000

keineswegs, wie man hätte annehmen müssen, seinen früheren Stand von etwa 60 d wieder erreicht, sondern blieb zunächst zwischen 5iy2 und 52% d stehen. Viel bedeutender war der Einfluß der India Council Bills *), denn während von 1871 bis 1879 bei einer Silberproduktion von etwa 3420 Millionen Mark nur 600 Millionen Mark auf die deutschen Silberverkäufe entfielen, kamen 2100 Millionen auf die India Council Bills. Bei dieser Lage war die Einstellung der Silberverkäufe durch die deutsche Regierung, die am 16. Mai 1879 durch Sistierung der Einziehung der Talerstücke verfügt wurde, immerhin merkwürdig. Inwiefern bei diesen Maßnahmen der Regierung, die auf Bismarcks eigene Initiative s ) zurückzuführen ist, das Beispiel der Vereinigten Staaten einwirkte, die am 28. Februar 1878 durch die Bland Bill anordneten, daß monatlich bis zu 4 Millionen Dollars Silber anzukaufen, im alten Gewichtsverhältnis zum Golddollar aus>) Entnommen: für 1873 bis 1894 den Berichten des amerikanischen Münzdirektors, für 1896 bis 1898 der österreichischen Währungsstatistik, für 1899 bis 1907 der Statistik der Frankfurter Metallgesellschaft *) Das sind Wechsel, die das indische Amt in London, das an Zinsen, Pensionen etc. stets große Zahlungen an Europa zu leisten hat, auf die indische Regierung in Calcutta zieht und fortwährend in größeren Posten verkauft. Bei Zahlungen in Indien kann man zwischen diesen Bills und Silber wählen. ') Helfferich a. a. 0 . S. 429 ff.

Die W&hrangsfrage.

201

zuprägen und überall in Zahlung zu nehmen seien, wird sich Schwer feststellen lassen. Die Beibehaltung der deutschen Talerbestände kann damals auch erfolgt sein, weil die Regierung Bedenken trug, entweder durch Nachfrage nach Gold, wie sie durch den Umtausch von 150 Millionen Talern, dem Bestände von 1879, hervorgerufen worden wäre, den Goldpreis zu erhöhen, oder aber, weil sie fürchtete, den Silberwert noch weiter herabzudrücken. Sie hat sich vielleicht auch durch Rücksicht auf andere Mächte bestimmen lassen, denen es bedenklich erscheinen mochte, wenn die deutsche Regierung ihre Silbervorräte vollständig abstieß und möglicherweise dadurch für Frankreich den Impuls gab, gleichfalls zur reinen Goldwährung überzugehen und seine gewaltigen Silbermassen auf den Markt zu werfen. Vielleicht ist jedoch auch dieser Schritt Bismarcks in Verbindung mit der Tarifreform und der Umkehr seiner Wirtschaftspolitik zu bringen. Er hing wohl zusammen mit der neugewonnenen Stellung, die Bismarck zu der konservativen Partei, d. h. zu den Vertretern der Landwirtschaft, einnahm, und das führt zu der Frage, wie haben sich die Vertreter dieser Partei zu der 1873 eingeführten Goldwährung gestellt, aus welchen Gründen haben sie sie zu bekämpfen gesucht, und welches waren die Motive, die sie für die Einführung der Doppelwährung geltend machten. Waren es auch zuerst volkswirtschaftliche Theoretiker, wie Robert Mohl und Prince Smith, die ein ungünstiges Urteil über die seit 1870 eingeschlagene Richtung der westeuropäischen und nordamerikanischen Währungspolitik fällten und den Bimetallismus als Umkehr von dem falschen Wege erfanden und empfahlen, so wurden ihre Lehren erst später von praktischen Politikern ausgebeutet. Fast ausschließlich waren es die Vertreter landwirtschaftlicher Interessen, die in den drei charakteristischen Merkmalen der Doppelwährung: gesetzlichem Wertverhältnis zwischen Gold und Silber, unbedingter gesetzlicher Zahlkraft für Münzen und freier Prägung von Münzen aus beiden Metallen, die Mittel gefunden zu haben glaubten, um goldene Tage für die Landwirtschaft hereinbrechen zu sehen. Die Ursache für die dauernd gedrückten Preise landwirt-

202

Kapitel X.

schaftlicher Erzeugnisse sahen die Vertreter dieser Richtung in der Verteuerung des Goldes und in der den Import erleichternden Wirkung der Silberentwertung. Von dem beständigen Steigen des Goldwertes, den sie aus dem Rückgang der Waren, speziell der Getreidepreise, ableiteten, glaubten sie als Schuldner langfristiger Hypotheken am härtesten betroffen zu sein. Bei freier Silberprägung rechneten sie auf ein Steigen der Preise, wobei diejenigen Betriebe am meisten gewinnen würden, deren Produktionskosten in geringerem Maße steigen würden als der Erlös ihrer Erzeugnisse. Zum ersten Male wurden derartige Einwendungen gegen die Goldwährung in dem Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer schon zwei Jahre nach seiner Begründung erörtert. In der Generalversammlung dieses Vereins am 14. Februar 1878 wurde die deutsche Münzreform von 1873 heftig angegriffen. Das Referat über die Ursachen der allgemeinen Erwerbslosigkeit und die Mittel zu ihrer Abhilfe dienten dem Vortragenden, LehmannRadomitz, als Basis für seine Angriffe. Durch das deutsche Münzgesetz, so führte er aus, sei plötzlich ein großer Bedarf an Gold hervorgerufen worden, und daher sei der Goldpreis gestiegen, während der Silberpreis gefallen sei. Die Goldwährung könne nicht endgültig durchgeführt werden, denn einerseits sei der direkte Goldexport und die Rücksendung vollgültiger Taler oder noch mehr der vollgültigen, aber 1 0 % schlechteren Silbermark, die man verbotenerweise im Auslande herstelle, äußerst lohnend, andererseits müsse Deutschland bedeutende Mengen Getreide importieren, die es nur durch Gold bezahlen könne. Der deutsche Getreideimporteur mache bei den gegenwärtigen Währungsverhältnissen ein gutes Geschäft. „Da nur Silberwährungsländer Getreide exportieren, so reguliert sich der Preis nach dem Silberpreise. Der deutsche Importeur nimmt nun deutsches Gold, vertauscht es im Auslande gegen Silber, wobei er 1 2 % verdient, und kauft mithin auch 1 2 % Getreide mehr" 1 ). E r könne natürlich entsprechend billiger verkaufen und schädige damit die heimische Landwirtschaft. „Der Ackerbau ist aber gezwungen, alle seine Bedürfnisse, die unter dem ' ) Verhandlungen der Steuer- und Wirtschaftsrefonner 1878 S. 11.

Die Wihrnngsfrage.

203

Einfluß der Goldwährung hergestellt wurden, dementsprechend hoch zu bezahlen; da ihm dies seine Einnahmen nicht mehr erlauben, so erlischt seine Kaufkraft für industrielle Bedürfnisse, und die gesamte für ihn arbeitende Industrie wird plötzlich lahmgelegt. Für alle Schuldner wird außerdem die Goldwährung dadurch verhängnisvoll, daß mit ihrer Einführung die Zinsverpflichtung, die in Silber kontrahiert war, um das Fallen des Silbers gestiegen ist." Von Rechts wegen hätten daher alle Schuldverbindlichkeiten um das Fallen des Silbers im Zinsfuß reduziert werden müssen. Der Redner verlangte schließlich, daß die Geltung der Goldkrone von 20 auf 21 Mark erhöht und das Silber wieder vollwertig ausgeprägt werde. „Für Deutschland ist das Silber das naturgemäße Münzmetall, und wenn die dringend notwendige Reorganisation der Münzordnung bald eintritt, so wird es auch bald wieder seinen ihm gebührenden Platz einnehmen" 1 ). In ähnlicher Weise verteidigte Freiherr v. Mirbach vor dem gleichen Auditorium am 16. Februar 1880 die Doppelwährung gegen die Angriffe der Goldwährungsleute. Es sei unrichtig, daß das Silber als Münze zu schwer und zu unbequem sei und für reichere Länder deshalb nichts tauge. Ferner treffe es nicht zu, daß der Wert des Silbers schwankender sei als der des Goldes. Durch die Einführung der Goldwährung im Jahre 1873 habe man ein schreiendes Unrecht gegen die nationale Produktion, und zwar lediglich zugunsten des mobilen Kapitals, begangen. Alle in Goldwert zahlbaren Forderungen, alle in Goldwert fixierten Zinsen usw. seien um etwa 10% erhöht worden, dagegen alle in Grundbesitz, Industrie usw. angelegten Vermögen, ebenso das Einkommen aus Grundbesitz und alle Arbeit, deren Produkte vom Weltmarkt ihre Preisbestimmung erhalten, seien um ebenso viele Prozente verringert worden. Wo eine erhebliche Schuldbelastung in der Zeit der früheren Währung kontrahiert worden sei, da müsse sie jetzt zum Ruin des Belasteten führen. Aus der Wiedereinführung der Silberwährung würde andererseits ein Unrecht erwachsen für diejenigen Kapital- und Zinsforderungen, die seit dem Übergange zur ') a. a. 0. S. 12.

204

Kapitel X.

Goldwährung erworben bzw. in andere Hände übergegangen sind. Doch sei die Zahl dieser unter der Herrschaft der Goldwährung erworbenen Forderungen viergeringer als die Zahl der unter aer Silberwährung erworbenen. Man würde das Unrecht, das man im Jahre 1873 durch Übergang zur Goldwährung begangen habe, nur zum kleinsten Teile wieder gutmachen, wenn man zur Doppelwährung wieder zurückkehrte. Gegen die vereinzelte Einführung der Doppelwährung in einem Lande werde nun angeführt, das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber ließe sich durch den Staat nicht ausreichend fixieren, es fänden fortwährende Preisschwankungen zwischen den beiden Metallen statt, die ein Abströmen des einen oder des andern Metalls, dessen Wert sich gerade erheblich erhöhte, ins Ausland zur Folge hätten. Das führe zu Störungen und Verlusten für Handel und Produktion und bereichere in ungebührlicher Weise die großen Geldspekulanten. Der Referent gab zwar zu, daß in diesen Behauptungen der Gegner etwas Wahres liege, doch ließen sich diese Nachteile vollständig unschädlich machen, sobald von einer Anzahl der bedeutendsten Länder das Wertverhältnis von Silber und Gold gleichmäßig fixiert und damit eine internationale Doppelwährung konstruiert werde. Deutschland würde beim Versuch der Einführung der internationalen Doppelwährung zunächst mit Sicherheit auf Nordamerika, dann auf Frankreich, höchstwahrscheinlich auch auf Österreich als Bundesgenossen rechnen können. Ein so mächtiges Bündnis auf wirtschaftlichem Gebiet würde mindestens auf die übrigen europäischen Staaten eine erhebliche Attraktionskraft ausüben. Dei Referent schlug schließlich eine Resolution vor, in der folgende Forderungen gestellt waren: „Es ist entweder seitens Deutschlands schleunigst, in Ubereinkunft mit andern bedeutenden Ländern, zur (internationalen) Doppelwährung überzugehen oder, falls dieses Ziel in kürzester Frist nicht zu erreichen sein sollte, so sind diejenigen Schritte zu tun, welche, sei es die Einführung der reinen Silberwährung, sei es die Einführung einer Parallelwährung durch Ausprägung einer Welt-Silbermünze, zur umfangreichen Remonetisierung des Silbers als Hauptmünze zu führen geeignet sind."

Die Währungsfrage.

205

Der zweite Referent, Becker-Meseritz, begründete unter heftigen Angriffen auf die „feile, von den Goldwährungsleuten gemietete" Presse und den „sein krasses Konsumenteninteresse zur Richtschnur seines Handelns machenden" Professorenstand eine Resolution, in der er folgendes verlangte: 1. Die Regierung möge das statistische und wissenschaftliche Material zur Beleuchtung der Geldfrage sammeln, bis zur Vollendung der Sammlung sich aber jeder Einziehung und Außerkurssetzung gemünzten Geldes enthalten. 2. Die Regierung möge, so viel an ihr liege, einer internationalen Vereinbarung betreffs Einführung der Doppelwährung die Hand bieten. 3. Sämtliche Beamtengehälter, Besoldungen, Pensionen, Renten u. s. w. sollten in den jeweiligen Geldäquivalenten des mehrjährigen letztvergangenen Durchschnittswertes einer bestimmten Quantität der hauptsächlichsten Landesprodukte fixiert werden. Eggers-Bremen trat dafür ein, daß die Goldwährung für den inneren deutschen Verkehr und für den Verkehr mit den Goldwährungsländern erhalten bleiben solle, während auf der andern Seite für den Verkehr mit Rußland, Österreich und anderen Silberwährungsländern, Doppelwährung einzurichten sei. Zu diesem Zwecke solle das durch die Einführung der Goldwährung in Deutschland überflüssig gewordene Silber zu Silberdollars von 25 g */io fein ausgeprägt werden. Durch diese Maßnahmen hoffte er der Goldverteuerung und Silberentwertung entgegenzuwirken. Freiherr v. Tettau bezweifelte die Möglichkeit einer internationalen Doppelwährung und empfahl, die Eggersschen Vorschläge mit einigen Änderungen anzunehmen. Lehmann-Radomitz dagegen trat für die Mirbachsche Resolution ein. Die Goldwährung bekämpfte er u. a. mit folgender Argumentation: „Es können nicht so viel Menschen teilnehmen an dem Wert des Goldes wie an dem des Silbers, mithin muß die Goldwährung unwillkürlich dahin wirken, daß nur eine kleine Anzahl von Menschen das Gold besitzt, während die große Mehrzahl kein Wertmetall oder nur unterwertiges Metall oder wertloses Papier besitzen kann" x ). Verhandlungen der Steuer- und Wirtschaftsreformer 1880 S. 40.

206

Kapitel X. In der Abstimmung wurden schließlich die Vorschläge des

Freiherrn v. Mirbach mit großer Majorität angenommen. Durch die Einstellung der Silberverkäufe im Jahre 1879 wurden die Vertreter bimetallistischer Interessen

auch im Auslande er-

mutigt. Dort waren es hauptsächlich die Regierungen der Vereinigten Staaten und Frankreichs, die teils durch die Interessen ihrer Grundbesitzer und Silberminenkapitalisten, teils durch ihr eigenes, innerlich entwertetes „silbernes Papiergeld" gedrängt, sich für freie Silberprägung oder mindestens für eine größere Verwendung des Silbers zu Münzzwecken erklärten.

Deutschland und England,

die beiden hauptsächlichsten Goldwährungsländer, verhielten sich zurückhaltend.

Die erste Pariser internationale

Währungskon-

ferenz vom 16. bis 29. August 1878 wurde von den Vereinigten Staaten veranlaßt und von 12 Ländern beschickt, unter denen sich aber Deutschland nicht befand. In der p a r l a m e n t a r i s c h e n

Vertretung Deutschlands

setzte die bimetallistische Bewegung im Jahre 1880 ein.

Bei Be-

ratung des Gesetzentwurfes betreffend Abänderung des Artikels 4 des Münzgesetzes vom 9. Juli 1873, der die Silbermünzenquote von 10 auf 12 M. auf den Kopf der Bevölkerung erhöhen sollte, begann am 24. April 1880

im Deutschen Reichstage die erste

größere Debatte über die Währungsfrage. Der Abgeordnete Bamberger, der alte Führer der Goldwährungspartei, erklärte zwar, die ganze Währungsfrage aus dem Spiele lassen zu wollen, desto energischer verfocht der Abgeordnete v. Kardorff den bimetallistischen Standpunkt,

der mehrfach schon in den Generalver-

sammlungen der Steuer- und Wirtschaftsreformer dargelegt war. Der Plan der Regierung, gewissermaßen auf einem Umwege

die

Talerbestände zu reduzieren, indem man 12 M. pro Kopf der Bevölkerung silberne Scheidemünzen ausprägen wollte, war im Sinne der Vertreter der strikten Goldwährung, die diese Währung als nicht vollständig durchgeführt betrachteten und sie nur durchführen zu können glaubten, wenn man die Taler in silberne Scheidemünzen umwandelte.

Die energische Opposition der Bimetallisten

v. Kardorff und Graf Mirbach brachte damals das Projekt zum Scheitern.

Die Währungsfrage.

207

Auch in anderer Beziehung erzielten in dieser Zeit die Bimetallisten gewisse Erfolge. Ihre Forderung nach einer internationalen Münzkonferenz nahm greifbare Gestalt an. Zwar sprach sich Bismarck in einem Erlaß an den Reichsbankpräsidenten v. Dechend vom 19. Oktober 1880 betreffend Durchführung der Münzreform, Einstellung der Silberverkäufe und Übergang zur Doppelwährung zunächst skeptisch über diese Frage aus. Er bedauert die unverkennbaren Nachteile, welche das Unfertige der Lage unserer Münzreform mit sich bringe, vermochte sich jedoch der Ansicht, daß etwas geschehen müsse, um die Münzreform zum Abschluß zu bringen, nicht anzuschließen. Der Grund zur Sistierung der Silberverkäufe wäre der große Verlust bei diesen Verkäufen gewesen. Von der Durchführung der reinen Goldwährung müsse man zurzeit noch absehen, der Übergang zur Doppelwährung oder die Beteiligung an einem internationalen Münzbunde könne andererseits nicht in Aussicht genommen werden, die Sache müsse in suspenso bleiben. „Weil jede Aktion der Regierung, welche auf eine wesentliche Änderung der gesetzlichen Grundlagen des Münzwesens abzielen würde, den Verkehr beunruhigen und dazu beitragen würde, das Vertrauen des Auslandes . . . zu erschüttern, so halte ich es für angezeigt, bis auf weiteres von jeder Initiative zur Änderung des gesetzlichen Status quo abzusehen" 1 ). Eine rein passive Beteiligung Deutschlands an der II. internationalen Münzkonferenz, die im April und Mai 1881 in Paris stattfand, hielt Bismarck jedoch für unschädlich. Trotz des resultatlosen Verlaufs der I. Münzkonferenz traten im Juli 1881 wieder in Paris, diesmal aber von den Regierungen Frankreichs und der Vereinigten Staaten gemeinsam einberufen, 19 Länder, darunter auch Deutschland, zu einer II. Konferenz zusammen. Der deutsche Delegierte v. Thielemann erklärte hier offiziell: „Wir erkennen ohne Rückhalt an, daß eine Wiederherstellung des Silberwertes wünschenswert ist und erreicht werden könnte durch ') Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck. Poschinger Bd. II S. 19 ff.

Edit.

208

Kapitel X.

die Wiederaufnahme der Silberprägungen in einer Anzahl der bevölkertsten auf dieser Konferenz vertretenen Staaten, die zu diesem Zweck ein festes Wertverhältnis zwischen Gold und Silber annehmen würden." Aber auf mehr als diese theoretische Erklärung wollte sich die deutsche Regierung nicht einlassen. Die Konferenz vertagte schließlich ihre resultatlosen Sitzungen bis zum 12. April 1882, ist aber dann nicht wieder zusammengetreten. Von 1882 bis 1887 hatte die bimetallistische Bewegung keine äußeren Erfolge zu verzeichnen. In den landwirtschaftlichen Interessenvertretungen begann sie jedoch jetzt eine Rolle zu spielen. Am 18. Februar 1882 kam die Währungsfrage in der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer wieder zur Sprache. Der Referent Dr. Arendt führte aus, die Silberentwertung sei nicht, wie vielfach irrtümlich behauptet würde, eine Folge der Zunahme der Silberproduktion oder der Verringerung des Silberexportes nach Asien, sondern allein der Gesetzgebung. Die Goldwährung werde sich infolge der wegen Erschöpfung der Goldvorräte der Erde drohenden Verminderung der Goldproduktion nicht aufrechterhalten lassen. Der Kampf ums Gold zwinge die Zentralnoteninstitute der einzelnen Staaten zu Diskonterhöhungen mit ihren ungünstigen Folgen, Diskonterhöhungen, die unter der Doppelwährung nicht nötig sein würden. Die Goldwährung führe zu einer Verteuerung des Goldgeldes und damit zu einer Schädigung der Schuldner, zu denen überwiegend die produzierenden Klassen und der Staat gehörten. Die Doppelwährung brauche nicht zu einer Geldwertverminderung zu führen. Trete jedoch eine solche ein, so habe die dadurch hervorgerufene Preissteigerung für die gesamte Produktion günstige Folgen. E s sei auch nicht zutreffend, daß große Bankhäuser, wie Rotschild, nur deshalb für die Doppelwährung eingetreten seien, weil diese infolge des Schwankens im Wert beider Edelmetalle ein Arbitragegeschäft und damit fortwährende lukrative Finanztransaktionen ermögliche. Im Gegenteil finde bei einer genügenden Ausdehnung der Doppelwährung ein Schwanken der Wertrelation zwischen beiden Edelmetallen nicht mehr statt. Allerdings könne ein einzelnes Land mit der Einführung der Doppelwährung nicht allein vorgehen; diese könne nur durch

209

Die Währnngsfrage.

einen internationalen Vertrag ins Leben gerufen werden. Eine Änderung der Währungsverhältnisse Deutschlands sei dringend notwendig; denn wenn einmal eine Rrisis über das Deutsche Reich hereinbrechen sollte, dann falle unser ganzes Geld- und Kreditsystem über den Haufen, und zwar deshalb, weil bei uns eine Milliarde entwerteten Silbergeldcs im Verkehr sei, das in solchen Zeiten ein jeder unter Zurückhaltung des Goldes auszugeben bestrebt sein werde. Der Referent schlug schließlich eine Resolution vor, in der an den Fürsten Bismarck das Ersuchen gerichtet wurde, Deutschland auf der bevorstehenden Pariser Münzkonferenz vertreten zu lassen und den Einfluß des Deutschen Reiches für das Zustandekommen der vertragsmäßigen internationalen Doppelwährung geltend zu machen. Die Rede des Korreferenten Lehmann - Gozanowo, der für Fixierung des Wertverhältnisses zwischen Gold und Silber auf dem alten (klassischen) Verhältnis von 1 :15y 2 eintrat, bot nichts Bemerkenswertes. Zum ersten Male trat jedoch eine gewisse Spannung zwischen den Vertretern der Landwirtschaft und den Führern des Zentralverbandes deutscher Industrieller hervor. Lohren, dessen Bemühungen um das Zustandekommen des Bündnisses zwischen Landwirtschaft und Industrie an anderer Stelle *) geschildert wurde, suchte zu beweisen, daß der Bimetallismus für Deutschland ein gefährliches Experiment sein würde. Daß ein einseitiges Vorgehen Deutschlands in der Währungsfrage unmöglich sei, habe ja der Referent bereits zugestanden; aber auch eine internationale Doppelwährung sei undurchführbar. Für eine solche sei ebensowenig wie für eine internationale Goldwährung genügend Gold vorhanden, dagegen reiche das vorhandene Gold zur Durchführung und Aufrechterhaltung der Goldwährung in England, Frankreich, Nordamerika, Deutschland und einzelnen anderen Ländern, welche die reine Goldwährung bereits besäßen, vollkommen aus. Die deutsche Münzreform sei eine große und heilsame Tat gewesen; denn sie habe dazu geführt, daß an die Stelle von 539*4 Millionen Papiergeld ') s. S. 64 u. 84. C r o n a r , Agrarische Bewegung.

14

210

Kapitel X.

ohne inneren Wert und 686 Millionen unterwertiger vollwertige Reichsgoldmünzen getreten sind.

Silbertaler

Das Volk ziehe die

goldenen Zehnmarkstücke den Silbermünzen vor.

Durch die noch

restierenden unterwertigen Silbertaler, die als Banknotendeckung dienten, würde lediglich der Händler, Großindustrielle und Börsen fürsten bedroht. „Die fortwährenden Schwankungen des Diskonts, welche unter der Goldwährung stattfinden, sind nicht von Nachteil, sondern von unberechenbarem Vorteil für Handel und Industrie. Der Wechselkurs ist gleichsam der Regulator für den Gang der nationalen und internationalen Geschäftsbewegung. licher ein Regulator ist, je besser; denn wenn man

J e empfindauch

nur

24 Stunden früher irgendeine Störung im Handel bemerkt als andere Völker, so können innerhalb dieser Stunden viele Tausende von unvorteilhaften Einkäufen vermieden und ebenso konjunkturgemäße Verkäufe perfekt gemacht w e r d e n . " D e r Zinsfuß sei in Deutschland niemals niedriger gewesen als seit der Einführung der Münzreform.

„Der gegenwärtige Stand des Wechseldiskonts von

6 % hat mit der Goldwährung nur wenig zu tun, sondern ist eine Konsequenz der Pariser Börsenkrisis und wird in kurzer Zeit überwunden s e i n . " 2 ) Abweichend von Lohren äußerte Hessel, der ebenfalls als Mitglied des Zentralverbandes deutscher Industrieller sich bei den Verhandlungen des Zolltarifes hervorgetan hatte, seine Zustimmung zum Bimetallismus.

Der österreichische Produzent, der Getreide

oder Holz nach" Deutschland exportiere, werde jetzt in Gold bezahlt. Für dieses Gold erhalte er in Österreich mehr Gulden, als dem Nennwert entspreche.

Die Kaufkraft des Geldes sei aber in Öster-

reich trotzdem dieselbe wie in Deutschland. Der Produzent erhalte also eine Exportprämie von 10%.

Durch einen hohen Wechsel-

diskont werde jeder Geschäftsmann hart bedrückt. Aus Arendts Erwiderung auf die Ausführungen Lohrens verdient hervorgehoben zu werden, was er über die Deckung der Noten durch unterwertige Silbermünzen und ihren Nachteil für den Land' ) Verhandlungen der Steuer- und Wirtschaftsreformer 1882 S. 109. ) a. a. 0 . 1882 S. 110.

2

211

Die Währnngsfrage.

wirt sagte: „Das Silber liegt in der Bank, die Krisis tritt ein, die Note kann nur in Silber eingelöst werden, jetzt entsteht das Goldagio, das Goldagio bedeutet Entwertung des Silbergeldes, und das Silbergeld haben eben die breiten Schichten der Bevölkerung, diese haben es in ihrem Besitz, diese sind geschädigt, nicht aber gerade die Reichen und Wohlhabenden, die natürlich auch geschädigt sind. Wir können nicht zu vollwertigen Silbermünzen kommen, ohne daß die Doppelwährung hergestellt wird, wir brauchen aber vollwertiges Silbergeld auch. Deshalb ist demnach die Doppelwährung eine Notwendigkeit." Die nächste praktische Folge der Durchführung des Bimetallismus werde sein, daß der Diskont und der Zinsfuß niedriger werde, was im Interesse der Produzenten und der Landwirtschaft liege. Trotz des Wiederspruches der Industriellen wurde die von Arendt beantragte Resolution mit großer Majorität angenommen. Auch im Deutschen Landwirtschaftsrate kam die Währungsfrage, und zwar zum ersten Male 1882, zur Sprache. Den Anstoß dazu gab ein Antrag der Königlichen Landwirtschafts-Gesellschaft in Hannover: „Der Deutsche Landwirtschaftsrat wolle gütigst veranlassen, daß Verhandlungen über Einführung einer durch internationale Verträge herbeizuführenden Doppelwährung in einer der nächsten Sitzungen des Deutschen Landwirtschaftsrates gepflogen werden." Der Referent des Landwirtschaftsrates Professor RichterTharand, ging davon aus, daß der in Deutschland herrschende Zustand, demzufolge ein großer Teil der deutschen Münzen, nämlich die Silbermünzen, unterwertig ausgeprägt seien, große Gefahren in sich berge. Aus diesem Zustande heraus gebe es nur zwei Wege. Entweder müsse das Reich die noch vorhandenen Taler verkaufen und ganz zur Goldwährung übergehen. Dabei werde es große Verluste erleiden, und die Reichsbank werde, um unsere Goldmünzen dem Inlande zu erhalten, zu Diskonterhöhungen genötigt sein, was zur Verteuerung des Geldes für die gesamte deutsche Industrie führe. Es bleibe daher nur der Versuch übrig, mit anderen Ländern, die in ähnlichen Verhältnissen ») a. a. 0. S. 211. 14*

212

Kapitel X.

sind, eine Konvention zur Beseitigung der Silberentwertung abzuschließen.

Daß die Möglichkeit vorhanden sei, durch eine solchc

Konvention ein sicheres Verhältnis zwischen Gold und Silber herzustellen, habe die lateinische Münzkonvention bewiesen.

Der Re-

ferent beantragte schließlich, der Deutsche Landwirtschaftsrat möge den Reichskanzler ersuchen, Deutschland auf der in Aussicht genommenen neuen M ü n z k o n f e r e n z v e r t r e t e n

zu lassen, die im

Jahre 1881 auf der Pariser Münzkonferenz gemachten Konzessionen auch ferner aufrechtzuerhalten und unter Wahrung der deutschen Interessen auf eine Beseitigung der Entwertung des Silbers durch das Zustandekommen internationaler Verträge hinzuwirken. Die Ausführungen des Referenten wurden von ökonomierat Korn-Breslau

scharf kritisiert.

In großen

landwirtschaftlichen

Kreisen kenne man bis jetzt noch die Währungsfrage kaum, die Frage sei daher zur Entscheidung noch nicht reif.

Außerordent-

liche Diskontschwankungen seien zu allen Zeiten vorgekommen, auch als wir an die Goldwährung noch nicht gedacht hätten.

Der

Übergang zur Doppelwährung

zur

Folge haben.

werde eine Geldentwertung

Diese werde zwar bewirken, daß die Landwirte für

ihre Produkte eine größere Geldsumme erhalten würden, andererseits würden aber auch die Produktionskosten gesteigert werden. Die Einführung der Doppelwährung schütze auch nicht vor K a t a strophen in kritischen Zeiten, z. B. bei Ausbruch eines Krieges. Die dem Verkauf der noch vorhandenen Silvervorräte entgegenstehenden

Schwierigkeiten

seien nicht

unüberwindlich.

Einer

internationalen Konvention zur Remonetisierung des Silbers gegenüber verhielt sich der Redner sehr skeptisch.

„Mir scheint, daß es

hier ebenso gehen wird wie mit dem Abschluß eines ewigen Friedens. Der ewige Friede wird so lange gehalten, wie es im Interesse der Staaten liegt, und eine ewige Währungskonvention wird so lange aufrecht erhalten bleiben, bis wir mit einer der Vertragsnationen in einen Kampf auf Tod und Leben kommen, wo es dann der betreffenden Nation sehr egal sein wird, welche Münzverträge sie abgeschlossen h a t . " 2 ) ökonomierat Korn sprach dann in erster •) s. o. S. 207. ') Verhandlungen des Deutschen Land wirtschaftsrates 1882 S. 464

Die Währungsfrage.

213

Linie den Wunsch aus, der Antrag des Referenten möge vollständig abgelehnt werden. Eventuell möge man wenigstens von dem Versuche Abstand nehmen, der Regierung dadurch die Hände zu binden, daß man ausdrücklich die Aufrechterhaltung der auf der Pariser Münzkonferenz von 1881 gemachten Zugeständnisse fordere. Der bedenklichste Punkt in dem Antrage des Referenten sei, daß in ihm von der Heranziehung Englands gar nicht die Rede sei. Dr. Adami-Bremcn bat, man möge, soweit es gehe, strenge bei der Goldwährung bleiben. Der Bimetallismus werde zur Folge haben, daß der Kurs der Wechsel auf Deutschland in den Vereinigten Staaten sinken werde, was für das Inland einen jährlichen Verlust von Millionen bedeute. „Wir können nordamerikanische Baumwolle, Leder, auch Petroleum nicht entbehren, wir müssen es bezahlen, und nach Einführung der Silberwährung werden wir diese nordamerikanischen Produkte teuer bezahlen müssen."*) Ein Anhänger der Doppelwährung kam in Freiherrn v. Hammerstein-Loxten zu Worte. Er vermisse an den Ausführungen des Referenten die energische Betonung des Umstandes, daß die Gefahren, welche die vollständige Durchführung der Goldwährung berge, für die Landwirtschaft oder, richtiger gesagt, für den immobilen Besitz weit größer seien als für den mobilen Besitzs. Sie beständen darin, daß infolge der Steigerung des Geldwerte der Wert des Grundbesitzes eine sinkende und die Schuldenlast eine steigende Tendenz annehme. Auch die Industrie, welche nach Ländern der Silberwährung exportiere, sei durch die Goldwährung schwer geschädigt. Infolge der fortwährenden Schwankungen des Silberpreises seien sichere Vertragsabschlüsse über Lieferungen mit Zielzahlung nach diesen Ländern kaum noch möglich, weil sie mit zu großer Verlustgefahr verbunden seien. - An den großen Kapitalien, welche Deutschland zur Zeit der Einführung der Goldwährung in den Silberwährungsländern in industriellen und Handelsunternehmungen angelegt besessen habe und noch besitze, seien ferner infolge des durch die Goldwährung verschuldeten Sinkens des Silberwertes große Verluste eingetreten. ') a. a. 0. S. 467.

Kapitel X.

214

v. Saucken-Tarputschen beantragte unter scharfer Polemik gegen die Bimetallisten einfachen Übergang zur Tagesordnung. „Ich habe den Eindruck," sagte der Redner, „als handelt es sich hier um eine bestimmte politische Parteifrage, die eine bestimmte Parteirichtung in den Landwirtschaftsrat hineinwerfen will, in der Hoffnung, daß derselbe mit seinem Gewicht als Vertreter der landwirtschaftlichen Interessen seiner politischen Richtung einen besonderen Nachdruck gibt. Ich werde, soweit dies der Fall ist, derjenige sein, der solchen Bestrebungen am eifrigsten entgegentritt." *) Für den Antrag v. Sauckcn sprachen noch v. Borries-Eckendorf und Freiherr v. Crailsheim-Amerang. Der letztere führte aus, das wirtschaftliche Leben bedürfe, um zu gedeihen, vor allem der Ruhe, diese aber werde durch das fortwährende Experimentieren mit der Währung gestört. „Ich habe mich mit vielen Handelsleuten, großen und kleinen, ins Vernehmen gesetzt, und sie sowohl wie viele Landwirte haben zugestanden, daß sie mit den gegenwärtigen Verhältnissen zufrieden sind; sie fürchten nur, daß sie sich verschlechtern können und daß neues Lehrgeld bezahlt werden muß, wenn man zu einer anderen Währung übergeht. Wenn wir die Gold- und Silberwährung nebeneinander haben, so besitzen wir zwei Werte, die nie gleich sind, es nie waren und auch nie sein werden." 2 ) Von diesen Differenzen würden nur die großen Finanziers den Vorteil haben, während das Publikum die Zeche bezahlen werde. Zugunsten des Bimetallismus äußerten sich noch ökonomierat Schoffer-Kirchberg und Freiherr v. Rothkirch-SchwarzenfelsAltenberg. Aus dem Schlußwort des Referenten Prof. Richter-Tharand sei noch endlich die Äußerung hervorgehoben, daß nicht eher an die Freigebung der Silberausprägung gedacht werden könne, bevor wir nicht in unseren Scheidemünzen das Verhältnis 1 : 15} i bzw. das in einen neuen internationalen Münzvertrage vereinbarte Verhältnis hergestellt hätten. In der Abstimmung wurde unter Ablehnung des Antrages von Saucken (einfacher Übergang zur Tagesordnung) ein Antrag Pogge') a. a. 0. S. 474. ») a. a. 0 . S. 478/479.

Die Währungsfrage.

215

Roggow auf motivierten Übergang zur Tagesordnung angenommen. Als Motive wurden angegeben: 1. die großen Schwierigkeiten, welche einer Beurteilung der Währungsfrage entgegenständen, 2. der Umstand, daß dabei ein spezielles Interesse der Landwirtschaft gegenüber andern Erwerbszweigen nicht vorliege; 3. der Umstand, daß die Erklärung der Reichsregierung auf der Pariser Münzkonferenz zu der Erwartung berechtige, daß sowohl die Vorteile, welche dem Deutschen Reiche aus der bisherigen Durchführung der Goldwährung erwachsen seien, festgehalten würden, wie den Nachteilen, welche aus einer Entwertung des Silbers entständen, nach Möglichkeit entgegengetreten werde. *) Während so der Deutsche Landwirtschaftsrat die Währungsangelcgenheit nicht weiter verfolgte, ruhte die Frage in der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer nicht. Im folgenden Jahre, 1883, kam sie hier abermals zur Erörterung. Referent war wiederum Dr. Arendt. Dieser führte aus, die Goldwährung habe ihre Hauptstütze im Manchestertum. Nach dessen Theorie müsse alles Ware sein, die der freien Konkurrenz zu unterliegen habe ; bei den Gegnern des Manchestertums dagegen herrsche der Gedanke, daß nicht alles Ware sei, daß gewisse Dinge eine exzeptionelle Stellung im Güterverkehr einzunehmen haben, wie z. B. der Grundbesitz, die menschliche Arbeit und das Geld. Die Edelmetalle unterlägen andern Preisgesetzen als Kattun oder ein anderes Industrieerzeugnis. Es sei durchaus möglich, das Wertverhältnis zwischen Silber und Gold so festzusetzen, daß auf dem Weltmarkte kein anderer Preis beider Edelmetalle zueinander eintreten könne als der, welcher der internationalen Doppelwährung zugrunde gelegt sei. Wenn die Goldwährung beibehalten werde, so müsse der Goldwert steigen. Denn der schon jetzt fühlbare Mangel an Gold müsse infolge zunehmenden Verbrauches für industrielle Zwecke und abnehmender Produktion immer empfindlicher werden. Goldteuerung bedeute aber unter der Goldwährung Geldteuerung, Geldteuerung Entwertung aller Waren und Güter. Die Produzenten erhielten demnach für ihre Produkte weniger, ihre Einnahmen verminderten sich also, während ihre Hypotheken- und r )a.a70. S. 114ff.

216

Kapitel X.

sonstigen Schuldzinsen dieselben blieben. Das treffe besonders für die stark verschuldete Landwirtschaft zu. Die Befürchtung der Gregner, alle, die in festem Solde stünden, würden dürch Einführung des Bimetallismus um 15% geschädigt, halte er für unbegründet. „Die einzige Wirkung des Bimetallismus würde nur die sein können, daß durch das Zulassen des Silbers zu den Bankreservoirs die Metalldeckung der Banknoten eine ausgedehnte sein würde, daß die Banken daher in der Lage sein werden, zu sehr niedrigem Diskont das Geld auszuleihen." *) Der Referent schlug schließlich vor, die bimetallistischen Staaten sollten sich mit England und Deutschland dahin verständigen, daß sie die Silberprägungen ihrerseits aufnähmen, während England und Deutschland gewisse Konzessionen für das Silber machten. „Diese Konzessionen sind für Deutschland in dem Gesetzentwurf enthalten, der von den Herren v. Kardorff, v. Minnigerode, Dr. Schröder (Lippstadt) und v. Schalscha im Reichstage eingebracht worden ist und der seine Entstehung dem Kölner Bimetallistenkongreß verdankt. Dieser Gesetzentwurf beabsichtigt die Beibehaltung des noch jetzt in Deutschland zirkulierenden Silbergeldes und die Einziehung der goldenen Fünfmarkstücke (wogegen wohl niemand etwas einzuwenden haben wird) und die Umprägung der silbernen Zwei- und Fünfmarkstücke in vollwertige Zweimarkstücke. Unsere Zweiund Fünfmarkstücke sind um 25% unterfertig, unsere silbernen Fünfmarkstücke sind gar nur 31/, Mark wirklich wert. Nun, eine Münze, die das Bild unseres Kaisers trägt, sollte nicht in so hohem Maße unterwertig sein." 2 ) Der Referent beantragte schließlich eine Resolution, in welcher die Hoffnung ausgedrückt war, daß die Reichsregierung durch Anregung eines Wiederzusammentritts der vertagten Pariser Münzkonferenz eine Einigung über die Silberfrage anstreben werde. Der Korreferent, Freiherr v. Mirbach, referierte über die Pariser Münzkonferenz von 1881. Er sagte unter anderem: „Für uns, insbesondere unsere Landwirtschaft, ist . . . der niedere Stand der Papiervaluta unserer Nachbarländer, insbesondere Rußlands, •) Verhandlungen der Steuer- u. Wirtschaftsreformer 1883 S. 63. ») a. a. 0. S. 68.

Die Währungsfrage.

217

ein empfindlicher Nachteil. Wir können mit der infolge des Standes der russischen Valuta so außerordentlich billig produzierenden dortigen Landwirtschaft nicht konkurrieren, unsere an sich viel zu niedrigen Grenzzölle werden durch den niedrigen Rubelkurs einfach eliminiert. U1 ) Die Resolution des Referenten wurde auch diesmal angenommen. Auch in der zehnten Generalversammlung des Vereins vom 17. Februar 1885 brachte bei der Besprechung der Reichsbankfrage der Referent Dr. Arendt wiederum die Doppelwährung zur Sprache. Er suchte diesmal besonders nachzuweisen, daß die durch die Doppelwährung hervorgerufene Silberentwertung ein Sinken des Getreidepreises zur Folge habe, indem sie in Indien und anderen Silberwährungsländern den Getreideexport forciere. „Die Engländer mußten ihre Waren nach Indien exportieren, und sie erhielten dafür Wechsel, die durch starke Kursschwankungen, denen sie fortwährend unterlagen, oft stark entwertet wurden. Diese Tatsache führte zu der Frage, ob man denn nicht von den Indiern statt mit Gold sich mit Waren bezahlt machen könnte, um sich so vor den Schwankungen des Silberwertes zu sichern. Und da fand man denn im Weizen eine außerordentlich kulante Ware, die man zurückschickte und in England verkaufen konnte. Es kommt hinzu, daß man diese Ware in Indien in Silber kauft und in England in Gold verkauft. In Indien konnte naturgemäß die Grundrente, Arbeitslohn usw. nicht der Entwertung des Silbers entsprechend sofort steigen, im Gegenteil, die statistischen Nachweise belehren uns, daß in Indien eine Entwertung des Silbers gar nicht stattgefunden hat, sondern daß diese dort sich als eine Verteuerung des Goldes darstellt. Also die Produktionskosten der indischen Landwirte blieben dieselben, der Erlös aber stieg um 20% gegenüber dem Golde. Diese 20% sind eine einfache Exportprämie für indischen Weizen. Würde der Silberwert wiederhergestellt, so würde Indien ein Goldquantum von 20% weniger für seinen Weizen erhalten. Indien würde also gar nicht mehr exportieren können, oder wenigstens nicht mehr zu den jetzigen Preisen." 2 ) ') a. a. 0. S. 72. *) Verhandlungen der Steuer- und Wirtschaftsreformer 1886 S. 8.

218

Kapitel X.

Auf Antrag v. Sydow-Dobberphul wurde einstimmig eine Resolution angenommen, in welcher der Reichskanzler gebeten wurde die internationale Doppelwährung einzuführen, welche allein die sichere Bürgschaft für die Wiederkehr gesegneter wirtschaftlicher Zustände in Deutschland zu bieten vermöge. In der Hauptsache richtete sich jetzt, wie schon aus vorstehender Darstellung ersichtlich ist, die Agitation unter den Vertretern des Bimetallismus darauf, den Reichskanzler für ihre Forderungen zu gewinnen. Auf eine Petition des Vorstandes des Landwirtschaftlichen Vereins zu Alienburg (Ostpr.), der sich 125 landwirtschaftliche Vereine anschlössen, betreffend schleuniger Herstellung der vertragsmäßigen Doppelwährung, nahm jedoch am 6. März 1885 die Regierung bei Beratung des Antrages Kardorff eine kühle Haltung ein und beschränkte sich auf Berichtigung irriger Angaben über die angeblichen Gefahren des herrschenden Münzsystems. Der bimetallistische Antrag wurde abgelehnt 1 ). In vertraulichen Bemerkungen über die Doppelwährung sprach sich Bismarck am 2. März 1886 dahin aus, daß es einerseits ganz sicher sei, daß unser Außenhandel von der internationalen Einführung der Doppelwährung unter Ausschluß Englands schwer leiden werde, dagegen sei der Nachweis andererseits erst zu erbringen, daß die Argumente, auf welche die Anhänger der Doppelwährung sich stützten, zuträfen, und die Folgen, welche sie von deren Einführung erhofften, wirklich zu erwarten seien. Es gehe ihm (Bismarck) da wie auf der Bekassinenjagd, er betrete, wenn er auf dieselbe gehe, ein Terrain, welches ihm nicht genau bekannt sei, nur, nachdem er es vorher sondiert habe. Er bestreite übrigens, daß eine gesetzliche Fixierung des Wertverhältnisses zwischen Gold und Silber überhaupt möglich sei. Diejenigen Vorteile, welche sich die Bimetallisten von der Einführung der Doppelwährung versprächen, ließen sich nur durch Einführung einer unterwertigen Währung (Si'ber-, Papierwährung) erreichen a ). ') Poschinger, Bismarck als Volksw. ») a . a . 0 . S. 166 fi.

Bd. III S. 95.

Die Währungsfrage.

219

Auch später noch im Jahre 1888 äußerte sich der Fürst in einer Unterredung mit Mirbach dahin, daß eine Rückkehr von der Goldwährung nur in sicherer Verbindung mit andern Ländern, insbesondere nicht ohne England erfolgen könne. Andernfalls würde Deutschland mit Silber überflutet werden. Im Jahre 1886 trat die Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer von neuem für den Bimetallismus ein. Die Referenten, Kaufmann Schlechtendahl-Barmen und Freiherr v. Mirbach-Sorquitten, betonten u. a., daß durch die als Exportprämie wirkende Valutaverschlechterung der Silberländer die Wirkung der deutschen Schutzzölle auf landwirtschaftliche Produkte aufgehoben würde. Schlechtendahl forderte Wiederherstellung des alten Wertverhältnisses 1 :15%, freie Silberprägung und Abschluß eines Doppelwährungsbundes auch ohne England. Als einziger Gegner der Doppelwährung trat v. Bredow-Bredow auf, der sich entschieden dagegen erklärte, unter Festsetzung des Wertverhältnisses von 1 :1514 die Silberprägung freizugeben. Endlich wurde fast einstimmig eine Resolution angenommen, in welcher ausgesprochen wurde, der Rückgang der Preise der landwirtschaftlichen Produkte sei wesentlich eine Konsequenz der Goldwährung, und in welcher die internationale Doppelwährung gefordert wurde. Im Jahre 1886 hatte die deutsche Regierung Gelegenheit, sich eines Teiles ihrer Silberbarren und Silbermünzen zu entledigen, weil Ägypten den Wunsch hatte, größere Münzprägungen in Silber vornehmen zu lassen. Im Reichstage beklagte Graf Mirbach bei der Etatsberatung am 14. März 1887 den Verlust, den die Regierung dem Lande durch diesen Verkauf des Silbers zu wesentlich gewichenen Preisen zugefügt habe. Bei der außerordentlichen Not der Landwirtschaft habe man die Verkäufe als einen Schlag ins Gesicht empfunden. Nur in der Rehabilitierung des Silbers könne das alleinige, wirksame und verhältnismäßig dauernde Mittel zur Abhilfe der wirtschaftlichen Not gefunden werden. Der Regierungsvertreter, Staatssekretär des Reichsschatzamtes Jakobi, führte in Wiederholung der schon vielfach in gleichem Sinne von der Regierung abgegebenen Erklärungen aus, daß bezüglich der Währungs') a. a. 0 . S. 103.

220

Kapitel X.

frage, einer so bestrittenen und schwierigen Frage, die Regierung es für angemessen halte, vorläufig eine abwartende Stellung einzunehmen. E r betonte dann, daß ein Druck auf den Silbermarkt durch das Vorgehen der Regierung nicht geübt sei, da die Verkäufe sich völlig im stillen vollzogen hätten und bei einem bereits schon vorher rückgängigen Kurse erfolgt seien. Auch im folgenden Jahre 1888 stand die Währungsfrage wieder auf der Tagesordnung der Generalversammlung der Steuer- und Wirtschaftsreformer. Referenten waren Dr. Arendt und Freiherr v. Thüngen-Roßbach. In der Diskussion äußerte Boltz-Charlottenburg Zweifel, ob ohne England die Währungsfrage angefaßt werden könnte. Gegen Boltz' Ansicht, wenn auch die Währungsfragc nicht gelöst werden könne, so blieben der Landwirtschaft ja immer noch die Zölle, polemisierte v. Diest-Daber; er war der Meinung, daß die Zölle der Landwirtschaft nicht helfen könnten, bevor nicht die Doppelwährung erreicht sei. Es wurde abermals eine Resolution zugunsten der Doppelwährung angenommen. Auf Einladung der amerikanischen Union trat am 22. November 1892 in Brüssel die dritte, von 20 Regierungen, darunter auch der deutschen, beschickte Münzkonferenz zusammen. Verschiedene Vorschläge zur Hebung des Silberwertes wurden gemacht, von denen aber keiner Annahme fand. Resultatlos vertagte sich auch diese Konferenz, und zwar auf den 30. Mai 1893, ist aber dann nicht wieder zusammengetreten. Am 12. Dezember 1892 interpellierte daraufhin Graf v. Mirbach im Reichstage die Regierung dahin: ob es die verbündeten Regierungen billigen, daß die deutschen Delegierten bei der Münzkonferenz in Brüssel sich den auf die Bekämpfung der Silberentwertung gerichteten nahezu einmütigen Bestrebungen aller auf der Konferenz vertretenen Staaten gegenüber ablehnend verhalten? Der Interpellant Graf Mirbach führte aus, nach den Ausführungen „eines großen hiesigen Organs" sei ein von ausländischen Delegierten eingebrachter Antrag, es sollten in allen Ländern die Goldmünzen unter 20 Francs eingezogen werden, lediglich gegen die Stimmen der deutschen Delegierten angenommen worden. Das sei ein wesentliches Abweichen von der Stellungnahme, an der

221

Die Währangsfrage. die verbündeten Regierangen bisher festgehalten hätten.

Während

früher die englischen Bevollmächtigten sich vollständig ablehnend gegen den Bimetallismus verhalten hätten, habe jetzt ein englischer Delegierter erklärt, er sähe in Konzessionen an den Bimetallismus ein entschiedenes Heilmittel der bestehenden Krise; Deutschland würde seinen Widerspruch gegenüber der fast einmütigen zustimmenden Haltung der übrigen Mächte zurückziehen müssen.

Ein

anderer englischer Delegierter habe direkt einen bimetallistischen Vertrag vorgeschlagen.

Die Haltung der deutschen Delegierten

auf der gegenwärtig tagenden Münzkonferenz stehe in Widerspruch mit ihrer Haltung auf der Konferenz von 1881 und den Äußerungen hervorragender Reichsbeamten. Im Jahre 1881 hätten die deutschen Delegierten erklärt, Deutschland erkenne an, daß die Rehabilitierung des Silbers im allgemeinen erwünscht sei und sich durch die Freigabe der Silberausprägung in einer Anzahl der auf der Konferenz vertretenen volksreichsten Staaten nach einem zwischen Gold und Silber zu vereinbarenden Wertverhältnisse erreichen lassen werde, doch könne Deutschland selbst die Silberausprägung nicht freigeben. Sie machten damals schließlich eine Reihe von Vorschlägen, wie man die Rehabilitierung des Silbers fördern könnte.

Graf

Mirbach führte ferner eine private Äußerung des Geheimrats v. Schraut auf der Konferenz von 1881 an, in welcher er es für wünschenswert erklärte, daß allseitig für eine größere Silberzirkulation Raum geschafft würde.

Bemerkenswert sei auch ein Artikel

des früheren Reichsbankpräsidenten v. Dechend in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, in welchem er empfehle, dem Bundesrat die Befugnis zur Außerkurssetzung der Taler zu entziehen.

Ferner sei das Gold und Papiergeld unter 20 M. einzu-

ziehen und dadurch dem Silber Raum zu schaffen für eine größere Zirkulation, welche eine Preissteigerung des Silbers zur Folge haben werde. Es würden diesem Vorschlage, nach Herrn v. Dechend, zweifellos die übrigen Länder folgen. Mit dem Abschluß der Handelsverträge, schloß der Interpellant seine Ausführungen, sei die Währungsfrage in eine ganz andere Beleuchtung eingetreten: sie sei jetzt das einzige allgemein wirksame Mittel, welches geeignet sein könne, der deutschen Produktion wirksam aufzuhelfen.

222

Kapitel X.

Der Reichskanzler Graf v. Caprivi begann seine Antwort mit dem Ausdrucke der Verwunderung, daß während des Verlaufs dieser diplomatischen Verhandlungen deren Gegenstand zur Diskussion im Deutschen Reichstage gezogen werde. Noch auffallender und ungewöhnlicher sei es, wenn er darauf antworte: „Der wesentlichste Grund, der mich hierzu bestimmt, ist, daß ich klar sehe, wie man draußen im Lande bestrebt ist, den Bimetallismus mit dem Antisemitismus vor denselben Wagen zu spannen und mit beiden agitatorisch zu wirken." Die in der Interpellation aufgestellten Behauptungen seien vollständig irrig; vollständig irrig sei auch die Behauptung, daß die in Brüssel zusammentretenden Regierungsbevollmächtigten einmütig bestrebt seien, etwas zustande zu bringen, und ebenso irrig sei es, daß die Verbündeten Regierungen sich demgegenüber ablehnend verhalten hätten.

„Die Verbündeten Regierungen stehen

noch heute auf dem Standpunkt, auf dem sie seit 15 Jahren stehen. Wir sind der Meinung, daß die deutsche Position münzpolitisch eine sehr gute ist, daß es nicht rätlich ist, die Initiative im Interesse anderer zu ergreifen.

Wir beklagen die Entwertung des Silbers,

wir beklagen den Preiswechsel im Silber, und wir würden geneigt sein, wenn es sich nicht um das Prinzip unserer Währung handelte, in Einzelheiten zu Konzessionen zu schreiten, wenn wir uns überzeugt hätten, daß diese Konzessionen erfolgreich denjenigen Ubelständen abhelfen würden, die hier geschildert worden sind."

Die

Äußerungen des Reichsbankpräsidenten stellte der Kanzler als Privatäußerungen hin. Zu der Erklärung des Geheimrats v. Schraut habe Fürst Bismarck selbst in den Akten bemerkt:

„Diese Ver-

heißungen gehen über die vorgezeichnete Verhaltungslinie bedenklich hinaus.

Sie enthalten nichts, was nicht vielleicht von uns

bewilligt werden kann; aber die Kundgebung der Bereitwilligkeit dazu ist verfrüht und in der Form fast ein Versprechen. geeignet, bei den außerdeutschen

Delegierten

Sie ist

mißverständliche

Meinungen über die Opfer zu wecken, welche Deutschland zur Förderung eines Arrangements zu bringen bereit ist." Der Reichskanzler verlas darauf die den deutschen Delegierten erteilte Instruktion, welche ihnen eine informatorische Haltung vorschrieb.

Die Währungsfrage.

223

Der bisherige Verlauf der Konferenz habe diese Instruktion vollkommen gerechtfertigt. In der Diskussion traten für den Standpunkt des Interpellanten ein die Abgeordneten v. Kardorff, Leuschner, v. Schalscha, der aber nur für seine Person, nicht für seine Partei (das Zentrum) das Wort ergriff, ferner Dr. v. Frege und Liebermann v. Sonnenberg, dagegen sprachen Bamberger, Büsing und Bebel. Am bedeutsamsten war die Rede des Abgeordneten Bamberger. Er tadelte die Interpellanten, daß sie die deutsche Regierung vor den ausländischen Regierungen bloßstellten, indem sie ihr während der Verhandlungen der Konferenz ein Dementi erteilten. Der Grund für die Einbringung der Interpellation sei klar: der Beauftragte der deutschen Bimetallisten mußte doch in Brüssel eine Art Figur machen, besonders, wenn er ein Gegengewicht bieten sollte gegen die offizielle Vertretung des Deutschen Reiches. Bamberger wies darauf aus den Protokollen der Konferenz nach, daß die Voraussetzung der Interpellation, daß nämlich alle fremden Regierungen einmütig bestrebt seien, die Silberentwertung zu bekämpfen und Deutschland allein sich widersetze, unzutreffend sei. Besonders gelte dies für England. Amerika habe zuerst gewünscht, daß der Kongreß ausdrücklich zu dem Zwecke einberufen werde, die Frage des Bimetallismus, d. h. die Herstellung eines fixen Verhältnisses zwischen den beiden Metallen durch internationale Konvention, zu beraten. Darauf habe die englische Regierung geantwortet, auf dieses Programm hin werde sie nie einen Kongreß beschicken. Man habe alsdann beschlossen, die Aufgabe des Kongresses so zu formulieren, daß er zu erörtern habe, wie der Wert des Silbeis aufzubessern sei. Von den fünf englischen Delegierten hätten Currie, Freemantle und Rivers Wilson sich entschieden gegen den Bimetallismus ausgesprochen, und selbst Alfred v. Rothschild, der auf der Konferenz den weitestgehenden Vorschlag im Sinne der Silberwertverbesserung gemacht habe, habe erklärt, er sei ein abgesagter Feind des Bimetallismus. Der fünfte Delegierte, William Houldworth, habe einen gänzlich aussichtslosen Vorschlag geifiacht, der darauf hinauslaufe, alle europäischen Staaten sollten zu festen Preisen Silberbarren ankaufen; sie sollten dafür Silbermünzscheine

224

Kapitel X.

ausgeben, und diese sollten im internationalen Verkehr als Geld dienen. Damit war die Interpellation erledigt. Auch auf der Generalversammlung des folgenden Jahres (21. Februar 1893) unternahmen die Steuer- und Wirtschaftsreformer wiederum einen Vorstoß zugunsten des Bimetallismus. Referenten waren Arendt und Dr Stoll-Berlin. In den Verhandlungen kam besonders der Gedanke zum Ausdruck, daß die Bindung der Zölle durch langfristige Handelsverträge angesichts der schwankenden Valuta der Papier- und Silberländer, die hauptsächlich Getreide bei uns einführten, bedenklich sei. In der Resolution wurde erklärt, daß der Preisfall des Silbers der wesentliche Grund des Preisdrucks auf dem Weltmarkte wäre. Die Vereinigung erklärte sich von neuem prinzipiell für die internationale Doppelwährung, stellte jedoch gleichzeitig eine Reihe vorläufiger Forderungen auf: 1. Die Staaten Deutschland, England, der lateinische Münzbund und die Vereinigten Staaten verpflichten sich mittels eines internationalen Übereinkommens, kein Papiergeld und keine Goldmünzen unter 20 Francs bzw. 20 M. in den Verkehr zu bringen. 2. Die in diesen Staaten vorhandenen Goldstücke und Scheine unter 20 Francs bzw. 20 M. werden möglichst bald eingezogen. 3. An Stelle des eingezogenen Gold- und Papiergeldes wird Kurant-Silbcr ausgegeben, dessen Wertverhältnis zum Golde international festgesetzt wird. „Die Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer", fuhr die Resolution fort, „erklärt die Durchführung der Doppelwährung mit dem Wertverhältnis von 1 :15 1 / 2 auch ohne Zutritt Englands für möglich und wünschenswert. Für den Fall, daß die Reichsregierung die Doppelwährung nur in Gemeinschaft mit England annimmt, ersucht die Generalversammlung den Herrn Reichskanzler, erstens eine dahingehende Erklärung bei Wiederzusammentritt der Brüsseler Münzkonferenz abgeben zu lassen, zweitens die dort vertretenen Staaten zum Abschluß eines Währungsvertrages aufzufordern, dessen Inkrafttreten von dem Beitritt Englands abhängig gemacht wird. In diesem Falle ist es Aufgabe der deutschen Vertretung auf der Brüsseler Münzkonferenz, Maßregeln vorzu-

Die Währongsfrage.

225

schlagen, durch welche der Beitritt Englands zur internationalen Doppelwährung gefördert wird, durch welche, bis dieser erfolgt, die Aufrechterhaltung und Hebung des Silberwertes herbeigeführt wird." Ferner wurde eine Resolution Thüngen-Roßbach angenommen, daß vom Abschlüsse eines Handelsvertrages mit Rußland und Rumänien abgesehen werden möge, solange es diesen Staaten nicht gelungen sei, ihre Valuta auf eine feste Basis zu stellen. In den Jahren nach 1892 beginnt nun der Ansturm auf die deutsche Goldwährung energischer zu werden. Allerdings ereignete sich ein Vorfall, der den Vertretern des Bimetallismus einen Strich durch die Rechnung machte. Wie vorauszusehen war, konnte die Regierung der Vereinigten Staaten die Aufspeicherung von Silber, zu der sie durch die Sherman-Akte vom 14. Juli 1890 veranlaßt war, nicht lange fortsetzen. Diese Eventualität, von der ein starker Silbersturz zu gewärtigen war, erschien nach dem ergebnislosen Verlauf der Brüsseler Münzkonferenz unvermeidlich. Um ihr zuvorzukommen, beschloß die Indische Regierung, die letzte Zufluchtsstätte für die freie Silberprägung, die indischen Münzstätten am 26. Juni 1893 zu schließen. Diesem Ereignis folgte einige Monate später, am 1. November 1893, auch die Aufhebung der Sherman-Akte, der zufolge der Finanzminister der Vereinigten Staaten alljährlich ein Drittel der amerikanischen Silberproduktion aufkaufen mußte. Dessen ungeachtet setzte, nachdem durch die Schließung der indischen Münzstätten die Entwertung des Silbers auf den Tiefpunkt gesunken war, die bimetallistische Agitation in den landwirtschaftlichen Kreisen und im Parlamente von 1894 bis 1896 mit aller Kraft von neuem ein. Am 21. Dezember 1893 richtete der ostpreußische, konservative Verein zu Königsberg an den Reichskanzler ein Schreiben, in dem es unter anderem hieß, daß die ostdeutschen Landwirte gegenüber den durch die Handelsverträge mit Rumänien, Spanien und Serbien für die Landwirtschaft entstandenen Nachteilen, einen rechten Ausgleich in der Regelung der Währungsfrage erblicken würden, durch die dem Silber das Recht, als vollwertiges Münzmetall zu dienen, wiedergegeben werde. Am 5. Januar 1894 antwortete der C i o n e r , Agrarische Bewegung.

15

226

Kapitel X.

Reichskanzler dem Verein, daß er bezüglich der Währungsfrage einen neuen Versuch zur Beratung mit fremden Regierungen für erfolglos halte; dagegen werde die Zuziehung von Sachverständigen zu der schon im Gange befindlichen amtlichen Prüfung der Frage über Maßregeln zur Wiederhebung des Silberwertes vorbereitet. Vom 22. Februar bis 6. Juni 1894 fanden die Verhandlungen dieser hierfür berufenen Kommission „behufs Erörterungen von Maßregeln zur Hebung und Befestigung des Silberwertes" in Berlin statt. Unter dem Vorsitze des damaligen Staatssekretärs des Reichsschatzamts, Grafen v. Posadowsky-Wehner, berieten 19 Vertreter aus den Kreisen der Parlamente, Industrieverbände, des Bankwesens und der Wissenschaft in 21 Sitzungen über diese Fragen. Von den Mitgliedern gehörten: Dr. Arendt, Dr. Hammacher, v. Kardorff-Wabnitz, Geh. Bergrat Leuschner, Graf v. Mirbach, Freiherr v. Schorlemer-Alst, v. Schalscha den Parlamenten an, H. A. Bucck, Generalsekretär des Zentralverbandes deutscher Industrieller, A. 0 . Meyer sen. aus Hamburg, 0 . Wülfing aus M.-Gladbach den Kreisen der Industrie, die Bankdirektoren Büsing (Schwerin), Koenigs (Köln), Neustadt (Mannheim), Rüssel (Berlin), Stroell (München), Brüssel (Hamburg) den Finanzkreisen und die Professoren Lexis und Lötz den Kreisen der Wissenschaft an. Als einen der Hauptsachverständigen in der Währungsfrage, der sich am häufigsten und längsten mit den einschlägigen Fragen beschäftigt hatte, war der frühere nationalliberale Abgeordnete Dr. Bamberger berufen worden. Zu Beginn der Verhandlungen schied Graf v. Mirbach aus, „da er seine Beteiligung an den Arbeiten bei der Zusammensetzung der Kommission, deren Mehrheit unbedingt auf dem Standpunkte der einseitigen Goldwährung" stand, für zwecklos hielt. In der Tat erklärten von den ursprünglich 16 Mitgliedern der Kommission (3 traten im Laufe der Verhandlungen für ausgeschiedene Mitglieder ein) zehn, auf dem Boden der Goldwährung zu stehen. Die Reichsregierung stellte sich von vornherein auf den Standpunkt, daß sie nur ein Kollegium von Sachverständigen über die Frage der Silberentwertung hören und jeden Vorschlag einer eingehenden Prüfung unterwerfen wolle, aber gerade deswegen sich gegen jede Abstimmung über die schwebende Frage wende. Die

Die Währangsfrage.

227

zur Beratung stehenden verschiedenen Anträge waren von den Herren Lexis, Koenigs, Neustadt und Arendt ausgearbeitet worden und gelangten nach einer langen Geschäftsordnungsdebatte

in

dieser Reihenfolge zur Verhandlung. Der Vorschlag des Professor Lexis ging dahin: Unter tatsächlicher und grundsätzlicher Aufrechterhaltung der Goldwährung im Deutschen Reiche sollte der Versuch gemacht werden, durch vermehrte Verwendung von Silber zur Münzprägung diesem Metalle wieder eine bessere Wertgrundlage zu verschaffen und es etwa wieder auf 2 /a seines früheren Preises emporzubringen.

Dies könne

nur durch eine internationale Vereinbarung geschehen, indem die beteiligten Staaten sich zunächst für eine bestimmte Reihe von Jahren verpflichteten, keine Silbermünzen einzuziehen, um das Metall zu verkaufen, und jährlich mindestens eine bestimmte Anzahl Kilogramm neues Silber auszuprägen — sei es zu Scheide- oder zu Kurantmünzen —, sofern der Silberpreis in London eine gewisse Grenze nicht überschritten hätte. Die indischen Münzstätten müßten wieder für die unbeschränkte Silberwährung geöffnet werden.

Das

Deutsche Reich sollte zu diesem Zwecke Taler- und Fünfmarkstücke einziehen und aus dem daraus erhaltenen Silber 21/»- oder 2-Markstücke nach dem Wertverhältnis von 21 : 1 zwischen Gold und Silber ausprägen, die als H a u p t s i l b e r m ü n z e n

an öffent-

lichen Kassen unbeschränkt, Privaten gegenüber bis zu 1000 M. angenommen

werden

müßten,

als

vollgültiges

Notendeckungs-

mittel für die Reichsbank gelten, aber ausschließlich für Rechnung des Reiches geprägt werden müßten.

Der Gesamtumlauf von

Reichssilbermünzen würde auf 20 M. pro Kopf der Bevölkerung festgesetzt.

Zur finanziellen Durchführung der Reform würden

zunächst 137 Millionen Mark in Münzscheinen zu 10 und 5 Mark ausgegeben, die hinsichtlich ihrer Zahlungskraft und der Fähigkeit zur Notendeckung den Hauptsilbermünzen gleichstehen sollten. Den Vorschlägen des Professor Lexis wurde wegen ihrer feinen Durcharbeitung von vielen Seiten Anerkennung gezollt. Sie wurden jedoch nicht für geeignet gehalten, den eigentlichen Zweck, Hebung und Befestigung des Silberwertes, zu erreichen. selbst wurden von keiner Seite befürwortet.

Die Vorschläge

Man führte dagegen 16*

228

Kapitel X.

aus, daß erstens nach diesem Vorschlage unsere Silbermünzen minderwertig blieben gegenüber ihrem Nennwert, wenngleich der in ihnen liegende Kreditwert durch Ausführung des Vorschlags verringert würde. Es wurde ferner eingewendet, daß nicht abzusehen sei, inwieweit der Silberwert dadurch im allgemeinen gehoben würde, so daß die Maßregel bei den doch verhältnismäßig geringen Ankäufen, die damit zusammenhingen, jenen Zweck vielleicht auch nur in geringem Umfange erreichen würden. Es wurde endlich dagegen ausgeführt, daß der Hauptzweck der Enquete, die Befestigung des Silberwertes, sicher unerfüllt bliebe und der Übelstand der schwankenden Preise, den gerade die gegenwärtigen Verhältnisse des Silbers mit sich brachten, nach wie vor bestehen bliebe. Nebenbei wurde noch erwähnt, daß man bei Annahme der Vorschläge eine große schwebende Schuld erhalten würde, und daß es zweifelhaft wäre, inwieweit die Münzscheine in Zeiten einer Krisis noch einen Wert behalten würden. Die Vorschläge des Direktors Koenig vom A. Schaafhausensehen Bankverein standen den Lexisschen Vorschlägen noch am nächsten. Er verlangte eine Einigung möglichst vieler Staaten, darunter auch der Vereinigten Staaten und Britisch Indiens darüber, daß die freie Goldprägung überall, wo sie bestand, aufrechterhalten werden sollte und die Indischen Münzstätten der freien Silberprägung wieder geöffnet würden. Silberne Kurant- und größere Scheidemünzen sollten durch Silberkurant, im Verhältnis von etwa 2 4 : 1 geprägt, ersetzt werden und dieser Silberkurant gesetzliches Zahlmittel sein. Jeder Staat solle zu einer Prägegebühr auf Silber von 10 bis 20% verpflichtet sein und auch für Private Silber prägen müssen, jedoch mit der Einschränkung, daß die neuen Silberprägungen nicht mehr als 1 Mark pro Jahr und pro Kopf der Bevölkerung betrügen und daß die Prägungen streng nach der Reihenfolge der Ablieferung des Metalls erfolgen sollten, es aber dem Staate freistehe, auch mehr als das obige Quantum für eigene oder fremde Rechnung zu prägen. Das Urteil, das die Versammlung über den Antrag Koenig fällte, waren fast identisch mit denjenigen über den Antrag Lexis. Es wurde eingewendet, daß der zu erstrebende Zweck

Die Währnngsfrage. nicht

erreicht

werde.

Der

Silberpreis

229 würde

nicht

befestigt

werden, und es sei zweifelhaft, inwieweit er gehoben würde, die Unterwertigkeit der auszuprägenden Münzen bleibe bestehen, und es sei nicht besonders wesentlich, um wieviel derartige Münzen unterwertig seien. Der Einwand, der gegen die gegenwärtig unterwertigen Münzen erhoben werde, nämlich die Gefahr der Nachprägung, bleibe bei dem System Koenigs völlig bestehen.

Die

Münzen würden ja an Zahlwert durch die Prägegebühr künstlich gehoben, doch sei das kein Schutz gegen die Nachprägung. Wesentlich weiter gingen die Vorschläge des Mannheimer Bankdirektors Neustadt zur „Aufstellung eines Vertrages behufs E r richtung einer internationalen Doppelwährung".

Hiernach sollten

sich die Staaten zur Errichtung einer internationalen

Doppel-

währung auf 10 Jahre auf der Basis von 1 : 1 5 y 2 d. h. im W e r t verhältnis von 1 Pfund Gold =

1 5 % Pfund Silber verpflichten.

Beide Münzgattungen, Gold und Silber, sollten stets in gleichen Summen zur Ausprägung gebracht werden; die Ausprägung selbst solle in Verwaltung der einzelnen Staaten genommen, die freie Ausprägung für private Rechnung verboten werden. sollten innerhalb

Beide Metalle

des Staates vollgültiges Zahlungsmittel

sein,

der Preis des zur Ausprägung zu verwendenden Silbers wöchentlich oder monatlich durch eine Kommission der Vertragsstaaten bestimmt werden.

Trete ein Staat nach 10 Jahren aus der Ver-

einigung aus, so müsse er seine sämtlichen zirkulierenden Silbermünzen sollten

innerhalb

eines Jahres

die Vertragsstaaten

gegen Gold

beschließen, die

einlösen. in

Endlich

ihren Gebieten

liegenden Silberbergwerke auf gemeinsame Rechnung zu erwerben und zu verwalten oder, wenn dies nicht möglich sei, die Silberförderung so zu monopolisieren, daß alles gewonnene Silber auf gemeinschaftliche Rechnung in Staatsregie genommen werde. Die letzte Frage einer Monopolisierung oder Regalisierung des Silberbergbaues war nach Ansicht der Versammlung nicht mehr zu diskutieren, da sie einen unausführbaren Gedanken darstellte, weil die Monopolisierung des Silberbergbaues zur Monopolisierung des Bergbaues auch einer Reihe anderer Erze mit Notwendigkeit führen müßte, bei denen Silber als Nebenprodukt vorkomme.

In Ver-

230

Kapitel X.

bindung hiermit sprach sich die Versammlung auch gegen die Monopolisierung des Handels in Feinsilber aus. Die übrigen Punkte des Antrages Neustadt, der zurückgezogen wurde, deckten sich mit dem letzten Antrage, der zur Beratung stand, dem Vorschlag Arendt, v. Kardorff, Leuschner und Wülfing. Er lautete: Die Hebung und Festlegung des Silberwertes erfordert die Durchführung der internationalen Doppelwährung. Um diese herbeizuführen, ist unverzüglich seitens des Deutschen Reiches eine internationale Münzkonferenz nach Berlin einzuberufen, der seitens des Reiches ein Vertrag zur Einführung der internationalen Doppelwährung vorzulegen ist. Bei diesem Vertrage ist vorher zu erwägen, ob er ohne England sofort oder mit England nach dessen Beitritt in Geltung treten soll. Der Konferenz sind Übergangsmaßregeln vorzuschlagen. Die Beratung über diese Anträge beschäftigte die Kommission von ihrer 8. bis 21. Sitzung, vom 22. Mai bis 6. Juni 1894. Im allgemeinen wurde Übereinstimmung erzielt darüber, daß in der Tat mit dem schwankenden und niedrigen Silberpreise gewisse Schädigungen für den Außenhandel und auch für das innere Erwerbsleben verknüpft wären, daß aber Deutschland allein nicht in der Lage sei, wirksame Maßregeln zur Hebung des Silberwertes zu ergreifen und daß eine Hebung des Silberpreises im Wege der Monopolisierung, Kartellierung oder Regalisierung der Silberproduktion jedenfalls nicht ausführbar sei. Streitig blieben die Fragen, ob überhaupt und auf welchem Wege die Steigerung des Silberpreises gegenüber der freien Produktion erreichbar erscheine, welches Schwergewicht den durch den Silbersturz geschädigten Einzelinteressen gegenüber den Interessen des gesamten Wirtschaftslebens beizumessen sei, welche Relation zwischen dem Gold- und Silberpreise für eine internationale Regelung vorzuschlagen wäre, und ob nicht die von verschiedenen Seiten vorgeschlagenen Heilmittel vielleicht gefährlicher wären als die Silberkrankheit selbst. Die Zusammensetzung der Kommission hatte lebhaften Widerspruch bei den Steuer- und Wirtschaftsreformern gefunden, dei auf der Generalversammlung vom 21. Februar 1894, auf welcher abermals über die Währungsfrage debattiert wurde, zum Ausdruck

Die Währangsfrage.

231

kam. Außer Dr. Arendt hatte diesmal Professor Adolf Wagner, der wohl wegen seines ausgesprochen bimetallistischen Standpunktes zu der Enquetekommission nicht hinzugezogen worden war, das Referat. Er sprach sich entschieden im Sinne des Bimetallismus aus; von seinem früheren, der Goldwährung freundlichen Standpunkte habe ihn das Studium der Schriften Dr. Arendts abgebracht. In der Resolution wurde ein Handelsvertrag mit Rußland nur dann für annehmbar erklärt, wenn durch gleichzeitige Wiederherstellung des Silberwertes der Landwirtschaft eine Ausgleichung für die schwere Schädigung durch die Herabsetzung der Getreidezölle geboten werde. Die deutsche Regierung wurde aufgefordert, zwecks Herbeiführung der internationalen Doppelwährung unverzüglich die Initiative für eine neue Münzkonferenz zu ergreifen. Die Resolution schloß folgendermaßen: „Die Generalversammlung protestiert dagegen, daß durch eine einseitig zusammengesetzte Kommission die Währungsfrage untersucht werden soll, und erwartet, daß durch eine Vermehrung der Zahl der Enquetemitglieder den Pflichten der Unparteilichkeit Rechnung getragen wird, andernfalls gibt die Generalversammluug den silberfreundlichen Mitgliedern der Enquete anheim, durch ihren Austritt aus derselben gegen die Bevorzugung der Goldwährungspartei seitens der Reichsregierung Protest zu erheben." Wie man sah, war auch eines der Mitglieder der Kommission, Graf v. Mirbach, diesem Beschlüsse gefolgt und hatte gleich zu Beginn der Konferenz seinen Austritt erklärt; zur Vertretung der bimetallistischen Ansichten waren jedoch die Herren Arendt und v. Kardorff in ihr verblieben. Mitten in die Beratungen der Konferenz, jedoch im engsten Zusammenhange mit ihr, fiel eine Reichstagsinterpellation der Herren v. Kardorff und Graf v. Mirbach, betreffend die Neuausprägung von Reichssilbermünzen, zu deren Beantwortung die Reichsregierung sich am 6. April 1894 bereit erklärte. 1 Der Interpellant v. Kardorff betrachtete die Einberufung der Währungsenquete als ein Zeichen, daß es die Regierung doch der Mühe für wert halte, die Währungsfrage einmal näher anzusehen. Die ganze Bewegung, die in England, Frankreich, in den Vereinigten Staaten,

232

Kapitel X.

überall in der AVeit vor sich gehe, sei ein Beweis, daß diese ungemein wichtige Frage nicht so bleiben könne, wie sie jetzt liege. „Entweder wir müssen, mag es kosten, was es wolle, die alten Silberbestände verkaufen, zur reinen Goldwährung übergehen, den Kleinverkehr auf Papierzettel anweisen, wie wir es ja in anderen Ländern, in Italien usw. haben — da gibt es ja solche kleinen Papierzettel; ob das nützlich ist, will ich dahingestellt sein lassen; so kann es aber nicht bleiben, wie es jetzt ist — oder wir müssen das Silber in sein altes Recht einsetzen." Der Regierungsvertreter Graf v. Posadowsky versicherte, daß die Absicht der Reichsregierung, 22 Millionen Mark Scheidemünzen auszuprägen, durchaus nicht dahin gehe, in schnellerem Tempo die Taler einzuschmelzen und damit schneller zur reinen Goldwährung überzugehen, sondern daß man lediglich dem praktischen Verkehrsbedürfnisse folge. Die Unterstellung Kardorffs, man habe bei der Zusammensetzung der Silberenquete die Vertreter bimetallistischer Richtung hintangesetzt, wies der Regierungsvertreter zurück. Übrigens, glaube er, seien alle Vertreter des Bimetallismus darüber einig, daß Deutschland allein keine Währungsexperimente anstellen könne, sondern daß eine erfolgreiche Abhilfe der vorhandenen Übelstände nur erreicht werden könne durch internationale Vereinbarungen, und daß man auch nur auf diesem Wege dahin gelangen könnte, auf Grund einer andern Relation zwischen Gold und Silber eine eventuelle Umprägung der Silbermünzen vorzunehmen. „Ich glaube aber, auch die eifrigsten Vertreter des Bimetallismus werden zugeben, daß das noch ein sehr weiter Weg ist . . . " In der Besprechung der Interpellation erklärte der Zentrums Vertreter Müller-Fulda, daß es ihm nicht passend erscheine, die Währungsfrage in einem Augenblicke anzuschneiden, wo die Silberkommission tage, die erst das Material zur Beurteilung der Frage liefern solle. Entgegengesetzter Meinung war der liberale Abgeordnete Barth, der seit dem Ausscheiden Bambergers aus dem Reichstage in Fragen der Währungspolitik meist die liberale Partei vertrat. Er meinte, bei der wesentlich demonstrativen Bedeutung dieser währungspolitischen Interpellation gehöre sich auch eine Antwort aus dem Hause selbst. Er sprach es offen aus, daß, wenn

Die Währungsfrage.

233

man warten wolle mit der Befriedigung der praktischen Verkehrsbedürfnisse, bis die Silberkommission den Stein der Weisen gefunden hätte, man lange warten könne.

Wenn die Kommission

resultatlos ende, wie bisher alle ähnlichen Kommissionen, so halte er das noch für die glücklichste Lösung. Wenig angenehm berührt war der Vertreter der konservativen Partei, Graf v. Kanitz, der an Stelle des abwesenden Grafen Mirbach die Partei in der Währungsfrage vertrat, von der Haltung der Regierung und von der beiläufigen Bemerkung ihres Vertreters, daß es bis zum Bimetallismus noch ein sehr weiter Weg sei.

Wenn die Regierung den guten

Willen und die nötige Energie zeige, brauche der Weg nicht so sehr lang zu sein. Eine nochmalige Replik des Reichsschatzsekretärs Grafen v. Posadowsky zog die Rede des holländischen Finanzministers Pierson, eines bekannten Bimetallisten, an, der im holländischen Landtag am 18. Dezember 1893 gesagt hatte:

„ E s will

mir scheinen, daß an eine bimetallistische Union, so wie man sich dieselbe ursprünglich gedacht hat, bei der freie Prägung in einem freien Verhältnis beider Metalle erlaubt sein sollte, nicht mehr zu denken ist, und zwar deshalb, weil in betreff des zu vereinbarenden Verhältnisses keine Einigkeit mehr würde erzielt werden können." Bei einer Basis von 1 : 25 betrüge z. B. das von Frankreich zu bringende Opfer eine Milliarde. Der Abgeordnete v. Kardorff antwortete hierauf, daß nach dem, was Herr Pierson gesagt habe, er nicht mehr als Bimetallist zu betrachten sei, da es vollständig dem widerspräche, was als bimetallistische, orthodoxe Theorie allgemein anerkannt werde.

Die Debatte schloß mit

der Versicherung

des

Interpellanten, daß man diese Wünsche aufrechterhalten müsse. Der deutschen

Landwirtschaft

Zollschutz

10 Jahre

auf

könne, nachdem

versperrt

habe, auf

man keinem

ihr

den

anderen

Wege geholfen werden. Die Jahre 1895 und 1896 brachten den Höhepunkt der bimetallistischen Agitation und einen bedeutenden Erfolg ihrer Bestrebungen.

Am 6. Februar 1895 beschloß die Wirtschaftliche

Vereinigung des Reichstags einstimmig einen Antrag des Grafen v. Mirbach anzunehmen und dem Reichstage zu unterbreiten, des Inhalts:

Die verbündeten Regierungen wollen baldtunlichst Ein-

234

Kapitel X.

ladungen zu einer internationalen Münzkonferenz ergehen lassen betreffend Wiederherstellung des Silbers als Münzmetalles. Am 15. Februar 1895 kam ein mit über 210 Namen unterzeichneter Antrag Dr. Friedberg, v. Kardorff, Dr. Lieber, Graf v. Mirbach, die Währungsfrage betreffend, im Reichstage zur Debatte. Der Antrag lautete, den Wünschen der Parteien entsprechend, etwas abgeändert: Der Reichstag wolle beschließen, an die verbündeten Regierungen das Ersuchen zu richten, dieselben wollen baldtunlichst Einladungen zu einer Münzkonferenz ergehen lassen behufs internationaler Regelung der Währungsfrage1). Der in der Debatt« zum Ausdruck kommende Standpunkt der bimetallistischen Vertreter war in einer Beziehung bedeutend modifiziert worden. Die Einführung des Bimetallismus durch Deutschland allein ohne Rücksicht auf andere Länder wurde jetzt von den Bimetallisten selbst als Utopie bezeichnet. Der Antragsteller, Graf Mirbach, sagte wörtlich: „Alle Verbesserungen im Gebiete der Währung, jede Beseitigung von Übelständen, können Sie nur erreichen durch internationale Vereinbarungen, d. h. Verträge mit anderen Staaten. Ich war sehr erstaunt, von dem Herrn Landwirtschaftsminister das Wort „Erzbimetallisten" zu hören, d. h. einen solchen, der in Deutschland einseitig die Frage lösen will. Ich möchte wirklich bitten, mir einen solchen lebenden Bimetallisten zu zeigen; es wäre für mich von allergrößtem Interesse, einen solchen Herrn wenigstens einmal zu sehen. Ich gebe zu, daß die . . . Presse solche Bimetallisten konstruiert hat, aber in Wirklichkeit existieren sie nicht." Es war gegenüber der Agitation früherer Jahre von großer Wichtigkeit, daß von dem Führer der Bimetallisten hier klar ausgesprochen wurde, daß ohne den Beitritt anderer Staaten, in der Hauptsache Englands, an die Einführung des Bimetallismus in Deutschland gar nicht gedacht werden könnte. Die Debatten des 15. und 16. Februar 1895 gingen denn auch nur darauf hinaus, die ') Die Abweichung des Wortlautes von dem in der Wirtschaftlichen Vereinigung beschlossenen wurde damit erklärt, daß die erste Fassung so aufgefaßt werden könnte, als ob man unter MOnzmetall das Metall verstände, aus dem auch unterwertige, d. h. Scheidemünzen geprägt werden.

Die Währnngsfrage.

235

deutsche Regierung zu einer Initiative, d. h. zum Anknüpfen von Verhandlungen mit England zu bestimmen. Um diese Ansicht der Regierung zu imputieren, suchte Graf Mirbach in seiner Rede zu beweisen, daß der eigentliche Anstoß zu der Bewegung aus dem Auslande, besonders aus Frankreich komme und die deutsche Regierung gewissermaßen nur zu folgen brauche. Von den Rednern der Debatte sprach der freisinnige Abgeordnete Barth die Befürchtung aus, daß der Antrag sicher eine Befruchtung der bimetallistischen Agitation nicht bloß in Deutschland, sondern in der ganzen Welt bewirken werde. Er besprach dann die früheren Münzkonferenzen, die völlig ergebnislos verlaufen wären, und fand es überflüssig, an einer ähnlichen großen Blamage teilzunehmen, wie es die Brüsseler Konferenz von 1892 gewesen sei. Gegen den Grafen Herbert Bismarck, der sich als schroffer Bimetallist aussprach, polemisierte der sozialdemokratische Abgeordnete Schoenlank und erklärte, die deutschen Arbeiter hätten kein Interesse daran, von der großen Masse die Schulden der Agrarier bezahlen zu lassen. Der Zentrumsführer Dr. Lieber erkannte die schwere Schädigung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse auch durch die Währungsfrage an: „Was wir wollen, das ist der redliche Versuch, durch eine internationale Regelung der Währungsfrage zu einer Lösung dieser Wirren und zur Befreiung des wirtschaftlichen Lebens von den daher drohenden Gefahren zu kommen." Es sei die Pflicht des Deutschen Reiches, die Initiative nunmehr selber zu ergreifen. Der Reichskanzler Fürst Hohenlohe gab folgende Erklärung ab, die er selbst „sorgfältig ausgearbeitet und wohlwollend" nannte: „Ohne unsere Reichswährung zu präjudizieren, muß man zugestehen, daß der zunehmende Wertunterschied zwischen den beiden Münzmetallen auch auf unser Erwerbsleben eine nachteilige Rückwirkung ausübt. Im weiteren Verfolg der Bestrebungen, welche zur Einberufung der Silberkommission geführt haben, bin ich deshalb geneigt, mit den verbündeten Regierungen in Erwägung zu ziehen, ob nicht mit andern an der Bewertung des Silbers wesentlich beteiligten Staaten in einen freundlichen Meinungsaustausch über gemeinschaftliche Maßregeln zur Abhilfe einzutreten sein möchte."

Kapitel X.

236

Noch einmal wurde dann in der Debatte von bimetallistischer Seite, von dem Abgeordneten Leuschner, hervorgehoben, daß man keineswegs allein den Bimetallismus einführen wolle, sondern nur auf internationalem Wege, also in Verbindung mit andern Staaten. Nur unter dieser Bedingung, des Anschlusses von England, wollte der nationalliberale Abgeordnete Friedberg der Bewegung beitreten, und nur unter der Voraussetzung, daß das alte Wertverhältnis von 1 : 1 bl/2

nicht wiederhergestellt werde.

Der Reichsschatzsekretär

Graf v. Posadowsky resümierte sich dahin, daß die Frage eine tiefgehende sei, von deren Lösung ein großer Teil der landwirtschaftlichen Bevölkerung Deutschlands sich einen Vorteil verspräche. Gegenüber der Vertretung, die diese Frage von einer überwiegenden Majorität des Reichstages gefunden habe, sei es Pflicht des Reichskanzlers

gewesen,

eine weitere, ernsthafte,

Prüfung der Sache zuzusagen.

wohlwollende

Der Antrag wurde sodann mit

großer Mehrheit angenommen. Der Verein der Steuer- und Wirtschaftsreformer zog aus diesen Debatten und aus seiner sonst beobachteten Stellung in der Währungsfrage die Konsequenz, wenn er wenige Tage nach der Reichstagsdebatte in seiner Generalversammlung v o m 19. Februar 1895 die Forderung des Bimetallismus auch offiziell in seine Statuten aufnahm:

„Die Goldwährung ist durch eine internationale Gold-

und Silberwährung zu ersetzen." Die Reichsregierung zog im Verfolg ihrer Erklärung die Frage der Hebung und Befestigung des Silberwertes in Erwägung.

Als

Vorbedingung jeder internationalen Maßregel zugunsten des Silbers mußte, wie auch von bimetallistischer Seite anerkannt wurde, die Wiedereröffnung der indischen Münzstätten für die unbeschränkte Silberprägung gelten.

Der Reichskanzler Fürst Hohenlohe mußte

aber am 8. Februar 1896 im Reichstage erklären, daß er auf Grund eines vorläufigen Meinungsaustausches mit der englischen Regierung die Überzeugung hätte gewinnen müssen, daß auf die Wiedereröffnung der indischen Münzstätten in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei.

Da sich nach alledem von einer Münzkonferenz zurzeit nicht

erwarten ließe, daß sie die Frage der Hebung und Befestigung des Silberwertes ihrer Lösung praktisch näherrücken würde, so

Die Währungsfrage.

237

erschien es dem Reichskanzler auch nicht ratsam, daß Deutschland die Initiative zur Einberufung einer solchen Konferenz ergriffe. Von dieser Überzeugung geleitet, beschlossen die Verbündeten Regierungen einstimmig, dem Beschluß des Reichstages vom 16. Februar 1895 auf Einberufung einer Münzkonferenz zurzeit keine Folge zu geben. Wenn von Seiten eines andern Staates annehmbare, Erfolg versprechende programmatische Vorschläge gemacht werden sollten, war die Regierung, nach der Erklärung des Reichskanzlers, die er am 8. Februar 1896 abgab, gern bereit, die Beteiligung Deutschlands an einer internationalen Beratung solcher Vorschläge in Aussicht zu nehmen. Am 11. Februar 1896 kam es auf Grund eines schleunigen Antrages des Grafen von Mirbach im Reichstage zu einer Besprechung dieser Erklärung des Kanzlers. Der Antragsteller gab zu, daß in keinem Lande die Schwierigkeiten der Währungsfrage größer wären als in England, und daß die Entscheidung der Frage allerdings in England liege, aber, im Gegensatz zu seiner früheren Meinung erklärte er, zu lösen sei die Frage auch ohne England, ja die Lösung wäre vielleicht vorteilhafter für Deutschland, wenn sie mit Frankreich und Amerika gemacht würde. Da nun aber in Deutschland alle leitenden Staatsmänner, die Majorität im Reichstage und in den Parlamenten auf dem Boden stehe, nur mit England sei eine Lösung möglich, so akzeptiere man auf bimetallistischer Seite, aber lediglich aus praktischen Gründen, den Weg einer Lösung der Währungsfrage nur unter Beitritt Englands. Nachdem der Redner noch die Worte „eines Nichtagrariers", des Professors Sering, zitiert hatte, der den vertragsmäßigen internationalen Bimetallismus als einzigen Ausweg bezeichnet hatte, der mit Aussicht auf praktischen Erfolg eine dauernde Besserung der Preise erstreben könnte, schloß er mit dem ceterum censeo, daß die Währungsfrage ein großes Mittel, ein Mittel zu wirksamer, nachhaltiger Hebung der landwirtschaftlichen Not sei. Die Stimmung im Reichstage hatte jedoch gegenüber der des Vorjahres abgeflaut. Die beiden Seiten des Hauses stritten in der Hauptsache um die Erklärung des Reichskanzlers und versuchten eine geeignete Auslegung zu finden. Da die Rede des Kanzlers,

238

Kapitel X.

wie der sozialdemokratische Abgeordnete Schoenlank bemerkte, von der rechten Seite zweimal mit „sehr richtig", zweimal mit „bravo" und einmal mit „hört hört", von der linken Seite einmal mit „sehr richtig", einmal mit „bravo" und dreimal mit „hört, hört" begrüßt worden war, so schien die Kundgebung der Regierung in gleicher Weise von rechts und links gebilligt worden zu sein. Allerdings zeigte die Darlegung der Regierung doch, wie weit man von der energischen Absage des Jahres 1892 an den Bimetallismus abgekommen war. Wenige Tage später, am 22. Februar, fand bei Gelegenheit der Beratung über Petitionen eine Fortsetzung der Währungsdebatte statt. In der Hauptsache beschäftigte man sich mit der Interpretation einer Rede des englischen Ministers Balfour vom 20. Februar, in der er sich über die Währungsfrage geäußert hatte. Der Regierungsvertreter erklärte dann, der Reichskanzler habe von seiner Erklärung, die er im Reichstage abgegeben habe, der englischen Regierung vorher Kenntnis gegeben, und der Leiter der auswärtigen Angelegenheiten Englands habe erklärt, er sei mit dieser Erklärung einverstanden. Der Antrag der Petitionskommission, die Petitionen betreffend die Währungsfrage dem Reichskanzler als Material zu überweisen, wurde darauf im Reichstage angenommen. Im Preußischen Abgeordnetenhause war die Währungsfrage schon früher, am 20 Mai 1895, zur Sprache gekommen. Dem Hause lag ein Antrag Dr. Arendt und Genossen vor, betreffend die internationale Regelung der Währungsfrage. Der Antrag war eingebracht, um, wie der Antragsteller hervorhob, „einen verfassungsmäßigen Einfluß auf die preußische Staatsregierung dahingehend auszuüben, daß wir auf die Haltung der Regierung im Bundesrat einwirken". In der Debatte, die sich über zwei Sitzungen erstreckte, kamen zwar nicht die gleichen Männer, wie im Reichstage, aber die gleichen Motive für und wider zum Ausdrucke. Der Antrag Arendt-Albers mit dem Endziel eines internationalen Bimetallismus einschließlich Englands wurde angenommen. i Auch im Preußischen Herrenhause war am 16. Mai 1895 in Anlehnung an die Verhandlungen im Abgeordnetenhause ein Antrag

Die Währnngsfrage.

239

Mirbach betreffend Erwirkung möglichst schleuniger Schritte zur Herbeiführung der Regelung der Währungsfrage zur Verhandlung gekommen. Während aber die Antragsteller des zu gleicher Zeit im Reichstage eingebrachten Antrages die Verbündeten Regierungen nur ersuchten, baldtunlichst eine Einladung zu einer Münzkonferenz ergehen zu lassen behufs internationaler Regelung der Währungsfrage, wurde in dem Antrage im Herrenhause die Staatsregierung aufgefordert, den Reichskanzler zu ersuchen, ungesäumt Schritte zu tun zu einer internationalen Regelung der Währungsfrage m i t d e m E n d z i e l e e i n e s i n t e r n a t i o n a l e n Bimetallismus. Über diesen weitergehenden Antrag erklärte der Reichskanzler Fürst Hohenlohe sich zurzeit noch nicht schlüssig machen zu können und riet deshalb, in dem Antrage wenigstens die letzten Worte „mit dem Endziele usw." fallen zu lassen, wobei er von mehreren Rednern unterstützt wurde. Trotzdem wurde der Antrag Mirbach mit dem betreffenden Zusätze angenommen. Ein Jahr darauf, am 13. Juni 1896, stand im Abgeordnetenhause ein Antrag Arendt und Genossen betreffend die Herstellung eines festen Wertverhältnisses zwischen Gold und Silber zur Verhandlung 1 ). Das Verlangen der bimetallistischen Vertreter ging wie im Reichstage dahin, daß Deutschland die ersten Schritte zur Einberufung einer internationalen Münzkonferenz tun solle. Der Finanzminister v. Miquel erklärte dagegen, daß die preußische Regierung für den Fall, daß von anderer maßgebender Seite, insbesondere aber von England, eine Einladung zu einer solchen internationalen Konferenz ergehen sollte, beim Reiche für die Teilnahme an derselben eintreten werde. Die preußische Regierung wies demnach eine Initiative in der Frage ebenso zurück wie die Reichsregierung. Der Antrag wurde dessenungeachtet angenommen. Naturgemäß wirkten diese Verhandlungen in den Parlamenten agitatorisch auf beiden Seiten. Im Februar 1895 trat der Aus') Er lautete wörtlich übereinstimmend mit dem weiter unten besprochenen Antrage, den das englische Unterhaus am 17. März 1896 angenommen hatte.

240

Kapitel X.

schuß des kurz vorher neu gegründeten Deutschen Bimetallisten Bundes zusammen unter dem Vorsitze v. Kardorffs, und nahm als § 2 der Satzungen an: Der Zweck des Bundes ist die Einführung der internationalen Doppelwährung, d. h. der freien Prägung von Gold und Silber zu seinem durch internationale Übereinkunft festgesetzten Wertverhältnis. Ihm gegenüber wurde im Mai 1895 der Verein zum Schutze der Goldwährung gegründet. Versammlungen der Landesabteilungen des Bundes der Landwirte verlangten die baldige Lösung der Silberfrage, den schleunigen Übergang des Deutschen Reiches zur Doppelwährung im Interesse der Erhaltung der Landwirtschaft. Eine von der französischen Bime tallisten-Liga zum 10. bis 12. Dezember 1895 nach Paris einberufene Währungskonferenz lud den Deutschen Bimetallisten bund und die Englische BimetaUisten-Liga ein; von deutscher Seite nahmen v. Kardorff, Mirbach und Arendt an den Sitzungen teil. Das Hauptinteresse der deutschen Bimetallisten konzentrierte sich weiter auf England. Als Mitte März 1895 dort ein konservatives Kabinett gebildet wurde und mehrere Bimetallisten wichtige Posten in ihm erhielten, wurde im Unterhaus am 17. März 1896 ein Antrag Whiteley gestellt: „Das Haus möge sich dahin aussprechen, daß die Unbeständigkeit des Wertverhältnisses von Gold und Silber seit dem Vorgehen der lateinischen Union im Jahre 1873 den wichtigsten Interessen Englands geschadet habe. Demgemäß möge es der Regierung dringend empfehlen, alles, was in ihrer Macht liegt, zu tun, um durch ein internationales Übereinkommen ein stabiles Wertverhältnis zwischen Gold und Silber herzustellen." Die Resolution wurde ohne Abstimmung angenommen. Da aber die englische Regierung auf die Vorschläge sowohl im eigenen Lande wie aus Frankreich und Amerika, dem Silber einen größeren Raum im Lande zu gewähren, nicht einging und auch die indische Regierung, weit davon entfernt, ihre Münzstätten wieder der freien Silberprägung zu öffnen, sich der englischen Goldwährung anschloß, so war seit 1897 den bimetallistischen Bestrebungen in England und damit auch in Deutschland die Kraft gebrochen. In den folgenden Jahren erfolgten eigentliche währungspolitische Debatten im Reichstage überhaupt nicht mehr, hoch-

Die Währangsfrage.

241

stens hatten die Bemühungen konservativer Abgeordneter für eine Erhöhung der Zahlkraft des Silbers einen allerdings von ihnen geleugneten bimetallistischen Hintergrund. Bei der Beratung des Gesetzentwurfs betreffend Änderungen im Münzwesen, der den Gesamtbetrag der Reichssilbermünzen auf 14 M. pro Kopf der Bevölkerung erhöhte, äußerten die Bimetallisten ihre Bedenken, daß man ein so breites Verkehrsbedürfnis wie das nach Silber mit unterwertigen Scheidemünzen ausfüllen wolle. Die Vorlage wurde einer Kommission überwiesen und gelangte aus ihr am 12. März 1900 zur zweiten Beratung im Reichstage. Die Kommission hatte beschlossen, die Erhöhung des Kopfbetrages von 14 auf 15 M. zu beantragen. Im Laufe der Debatte sprachen die konservativen Parteien noch einmal ihre Überzeugung aus, daß die internationale Doppelwährung kommen müsse, und brachten einen Antrag Arendt ein, dem Münzgesetz folgende Artikel beizufügen, der die Silberkopfquote bedeutend erhöhen sollte: Niemand ist verpflichtet, Fünfmarkstücke im Betrage von mehr als 1000 M. und die übrigen Reichssilbermünzen im Betrage von mehr als 50 M. in Zahlung zu nehmen. Die Abstimmung über den Kommissionsantrag fand in der dritten Lesung, am 23. Mai 1900, statt, und ergab die Annahme des Vorschlages der Kommission und die Ablehnung des Antrags Arendt. Die Bestimmungen dieses Münzgesetzes vom 1. Juni 1900 wurden durch das Gesetz vom 19. Mai 1908 dahin ergänzt, daß die Silberquote auf 20 M. pro Kopf der Bevölkerung erhöht wurde. Von ernsthaften bimetallistischen Plänen verlautete bei dieser Gelegenheit und bei der 1907 erfolgenden Einziehung der letzten Taler und damit des Übergangs Deutschlands zur reinen Goldwährung nichts mehr.

C r o n e r , Agrarische Bewegung.

16

Kapitel XI.

Der Zolltarif von 1902. Die in den Jahren 1891 bis 1894 mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, der Schweiz, Serbien, Rumänien und Rußland abgeschlossenen Handelsverträge liefen am 31. Dezember 1903 ab. Als Vorbereitung zum Abschluß neuer Verträge beschäftigte sich die Regierung längere Zeit vorher mit der Neuregelung des deutschen Zolltarifs. Schon im Jahre 1897 wurde ein „Wirtschaftlicher Ausschuß zur Vorbereitung und Begutachtung wirtschaftspolitischer Maßnahmen" berufen. Er trat am 15. November zu seiner ersten Sitzung zusammen und bestand aus 30 Vertretern der landwirtschaftlichen, der industriellen und der Handelsinteressen der Nation. Die Leitung seiner mehrjährigen Arbeiten hatte der Staatssekretär des Innern, Graf Posadowsky. In über 100 Sitzungen und durch Vernehmung von mehr als 2000 Sachverständigen wurden die Grundlagen für den Aufbau des neuen Zolltarifs festgesetzt. Eine Übersicht über die Steigerung der Zölle seit dem Jahre 1879 gewährt die folgende Tabelle, in der die verschiedenen Zollerhöhungen für landwirtschaftliche Produkte nach dem Entwürfe der Regierung und nach den Beschlüssen des Reichstages verzeichnet sind. Schon vor Erscheinen des neuen Zolltarifs stellten die Landwirte eine Reihe von Vorschlägen und Forderungen auf. In der achten Hauptversammlung des Bundes der Landwirte 1 ) am 11. Februar 1901 zu Berlin betonte der Vorsitzende *) Korrespondenz des Bundes der Landwirte 1901.

243

Der Zolltarif von 1902.

1902 Entw.

Weizen. Roggen.

1 —

Gerste

3,—

r -

0,50

Hafer . . Hülsenfrüchte Nicht gen. Getreidearten . Buchweizen..

1 -

1,-

0,60 0,50

2,—

»6 — 5 , -

1,60 3 , — 4 — 1 -

2 , — 2,

2 , — 1.— 2,— 2,— 1,50 1,50 2,25

2,25

MtaidestFordrg. d. Ldw.

H 6,50 M5.60 H 6,— M5 —

Rtg.

7,50

7,50

7,-

H 6,— M 5,—

7,-

4 —

4,-

1,50 3,50 H 4,— M 3,—

1,60

5,— 6 -

5 —

7,50

7,—

» us fi 25 i 10,25 Gerste 14,&. and. Q Getr. 3,— id. Getr. , u s 11 fifl „,, li},0U a ' / . i l brw. 7,60 1 2 , — 10,50 Getr. Mehl S f Hafer 18,76 aus £ 3 /« Hafer ; zoiis Raps, Rübsaat 0,30 0,30 2, 3,— 6,— 5,— 1 — Entw. = Entwurf der Verbündeten Regierungen H = Höchstsatz Rtg. = = Beschluss des Reichstages M = Mindestsatz. Malz .

1,20

1,20

1,20 4 -

4 -

Rösicke-Görsdorf, die Neugestaltung der Handelsbeziehungen zum Auslande sei der „wichtigste Kampf", den der Bund seit seinem Bestehen durchzumachen hätte. Die Handelsvertragspolitik Deutschlands habe verschiedentlich die nationalen Interessen geschädigt. Es sei zu wünschen, daß die Landwirtschaft nicht wieder der hauptsächlich leidende Teil zugunsten anderer Erwerbsstände werde. Die Versammlung beschloß eine Erklärung, in der sie ausführte, es hänge von der Gestaltung des neuen Zolltarifs und der zukünftigen Handelsverträge die endgültige Entscheidung über das Geschick der deutschen Landwirtschaft ab. Eine zweite Periode der Schädigung ihrer Lebensinteressen würde sie nicht überstehen. Man verlangte deshalb bei der bevorstehenden Neuregelung der Bandeisbeziehungen einen gleichmäßigen Schutz aller Produkte der 16*

244

Kapitel XI.

Landwirtschaft, der genügend sein müßte, um ihr für alle Fälle dauerndes Gedeihen zu gewährleisten. Demgemäß wurde gewünscht, die Mindestsätze des neuen Zolltarifs so zu bemessen, daß die Erhaltung auskömmlicher Durchschnittspreise, wie sie die beiden Jahrzehnte 1870 bis 1890 aufwiesen, ermöglicht würde. Diese Sätze sollten nicht unterschritten und nur denjenigen Ländern gewährt werden, die auch ihrerseits Deutschland ein gleiches Entgegenkommen zeigten. Für diejenigen Länder, die Deutschland zollpolitisch ungünstig behandelten, sollten die Sätze eines ausreichend hoch bemessenen Generaltarifs in Anwendung gebracht werden. Bevorzugungen des Handels mit ausländischen Erzeugnissen durch Zollkredite oder Tarifermäßigungen, die die Wirkung der Zölle beeinträchtigten, sollten beseitigt werden. Zur Erreichung eines gleichmäßigen Schutzes aller Erzeugnisse des großen landwirtschaftlichen Gewerbes in allen Landesteilen richtete die Versammlung an die „Berufsgenossen im ganzen deutschen Vaterlande" die dringende Mahnung, Einzelwünsche und lokale Sonderinteressen zurücktreten zu lassen. Am 4. Juni 1901 traten auf Einladung des Reichskanzlers in Berlin die leitenden Minister der größeren deutschen Staaten zu Beratungen über den Zolltarif zusammen. Der Grundgedanke des neuen Tarifs war die Fortsetzung einer „gemäßigten Schutzzollpolitik unter Erhöhung des Schutzes für die deutsche Landwirtschaft". Der dem Reichstage im Jahre 1901 vorgelegte neue Tarif brachte zunächst eine vollkommene veränderte Anordnung und bedeutend größere Spezifikation und Individualisierung der Waren artikel. Dadurch wurde die Abstufung der Zollsätze nach dem Werte der Waren erleichtert, und es war die Möglichkeit einer besseren Abschätzung der gegenseitigen Zugeständnisse beim Abschluß von Handelsverträgen gegeben. Im Vordergrunde standen in wirtschaftlicher, finanz- und parteipolitischer Hinsicht die Agrarzölle. Der Entwurf zeigte ein agrarfreundliches Aussehen. Bei einer prozentualen Verteilung der Zollerhöhungen von 1901 auf die drei bedeutendsten Gruppen der Zölle ergab sich für die Agrarzölle eine

Der Zolltarif von 1902.

246

Erhöhung von etwa 31%, für die Industriezölle von etwa 23%. Die übrigen 46% betrafen die reinen Finanzzölle auf Kolonialwaren usw. Von den Getreidezöllen wurden erhöht der Zoll auf Koggen von 5 M. auf 6 M. (Höchstsatz) bzw. 5 M. (Mindestsatz), der Zoll auf Weizen von 5 M. auf 6,50 M. bzw. 5,50 M., der Zoll auf Gerste von 2,25 M. auf 4 bzw. 3 M., der Zoll auf Hafer von 4 M. auf 6 bzw. 5 M., der Zoll auf Mais von 2 M. auf 4 M. Die Begründung begann bezüglich der landwirtschaftlichen Zölle mit dem Hinweis darauf, daß die Erhaltung der Landwirtschaft zur Versorgung unserer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln unumgänglich notwendig wäre. Über die Zolländerungen für Getreide und Vieh sagten die Motive: „Der Körnerbau und die Viehhaltung bilden die Grundlage der deutschen Landwirtschaft. Sowohl aus technischen wie aus volkswirtschaftlichen Rücksichten muß ihnen diese Stellung gesichert bleiben." Eine bedeutende Befriedigung agrarischer Wünsche lag in der Einführung von Maximal- und Minimalsätzen für die vier Hauptgetreidearten Boggen, Weizen, Gerste und Hafer. Noch mehr allerdings als an den Maximalsätzen, von denen die Landwirtschaft von vornherein annahm, daß sie als Kompensationsobjekte dienen und zum Nutzen der Industrie fallen würden, hatten die Landwirte Interesse an den Normalsätzen. Der Bund der Landwirte verlangte sie so hoch, daß die Produktion geschützt sei. v. Oldenburg-Jannuschau stellte aas Motto auf, das als oberster Leitsatz über dem Zolltarif stehen müsse: „Niemand im Deutschen Reich soll das Recht haben, ein billigeres Produkt zu erwerben, als es sich im eigenen Vaterlande produzieren läßt." 1 ) Nach Auffassung der Gegner wurde allerdings gerade ein solcher Doppeltarif als ein System bezeichnet, das die wirtschaftliche Machtprobe an die Stelle der friedlichen Verständigung setzte und deshalb, wie die Erfahrungen in Frankreich beweisen sollten, zum Zollkrieg führe. „In der Weltpolitik des Deutschen Reiches, die der nationalen Arbeit die fremden Märkte öffnen will, ') Korrespondenz des Bundes der Landwirte 1901.

246

Kapitel XI.

würde der Maximal- und Minimaltarif als ein System veralteter Zollpraxis, vertragsfeindlicher Tendenz und schematischer Gebundenheit in unvereinbarem Gegensatze stehen." Auch die Regierung war sich der Gefahr der Doppeltarife wohl bewußt und sagte in der Begründung bezüglich dieser Durchbrechung des bisherigen Systems: „Die Prüfung der Frage hat zu der Überzeugung geführt, daß im allgemeinen die Nachteile eines solchen Vorgehens die davon zu erwartenden Vorteile überwiegen. Insbesondere würde für Vertragsverhandlungen ein großer Teil der möglichen Erfolge preisgegeben werden, wenn das Ausland von vornherein davon Kenntnis erhielte, bis zu welcher Grenze wir Zollermäßigungen zuzugestehen bereit sind. Die Einführung des Doppeltarifs ist daher als besondere Begünstigung der Landwirtschaft anzusehen." Die Begründung fuhr dann zur Motivierung dieses Zugeständnisses fort: „Eine Ausnahme ist bei den Zöllen für die wichtigsten Getreidearten gemacht worden. Mit Rücksicht auf die weittragende Bedeutung, welche ihrer Bemessung für das Wohl und Wehe der Landwirtschaft und der Gesamtheit innewohnt, erschien es trotz der wichtigen entgegenstehenden Bedenken angezeigt, durch die Gesetzgebung eine Weisung für den bei Vertragsverhandlungen festzuhaltenden Mindestbetrag zu geben und hierdurch einerseits dem Wunsche der Landwirtschaft nach einer Sicherung so weit als tunlich zu entsprechen, sowie andererseits einem Meinungsstreit über das zulässige Ausmaß der vertragsmäßigen Zollherabsetzung möglichst vorzubeugen." Trotzdem wurde die Einführung der Maximal- und Minimalsätze für die vier Getreidearten wegen der „Abhandlungsmöglichkeit" durchaus nicht mit großer Freude von den Agrariern aufgenommen. Der Doppeltarif des Entwurfs unterschied sich erheblich von dem Doppeltarif, wie er z. B. in Frankreich und Amerika bestand. Dort schied mit der Annahme des Doppeltarifs für die tatsächliche Anwendung der Mindestzölle jeder weitere gesetzgeberische Akt aus. In dem deutschen Entwürfe hieß es dagegen: Die Zollsätze des Generaltarifs sollen durch v e r t r a g s m ä ß i g e A b m a c h u n g e n nicht mehr als bis zu diesen Mindestsätzen ermäßigt werden. Es war also hier zur fakti-

Der Zolltarif von 1902.

247

sehen Anwendung stets ein neuer Akt der Gesetzgebung nötig. Die endgültige Einigung über die tatsächlich anzuwendenden Zollsätze war stets noch von gesetzgeberischen Momenten abhängig; verboten war nur der Absch uß von Handelsverträgen, welche die Zölle u n t e r die festgelegten Mindestsätze heruntergehen lassen wollten. Entsprechend den agrarfreundlichen Tendenzen des neuen Tarifs wurde auch von amtlicher Seite bei jeder Gelegenheit betont, wie warm der Regierung das Wohl dee Landwirtschaft am Herzen läge. So sprach sich in einer Rede beim Festmahle des Deutschen Handelstages in Berlin am 30. September 1901 der Handelsminister Möller zwar für die Notwendigkeit langfristiger Handelsverträge aus, betonte aber, daß auch ein höherer Schutz der Landwirtschaft eine Notwendigkeit sei. Auch in einer Rede am 8. November gelegentlich der Einweihung der Handelskammer in Krefeld erklärte er, man dürfe die Landwirtschaft nicht fallen lassen. Man müsse ihr die Möglichkeit der Existenz schaffen, und zwar innerhalb der Grenzen, in denen auch Industrie, Handel und Gewerbe zu bestehen vermögen. Die Aufnahme des Tarifs in landwirtschaftlichen Kreisen war jedoch nichts weniger als freundlich. Es wurden zwar einige Vorteile, die der Tarif brachte, anerkannt; im übrigen fühlten sich die Agrarier aber durchaus gegenüber der Industrie zurückgesetzt und in ihren wichtigsten Interessen verletzt. So waren denn die Erörterungen, Anregungen, Wünsche und Forderungen, die von Seiten landwirtschaftlicher Vertretungen in bezug auf den Entwurf des neuen Zolltarifs an die Öffentlichkeit traten, außerordentlich zahlreich. Am 17. August 1901 fand eine Versammlung des Ausschusses des Bundes der Landwirte im Abgeordnetenhause zu Berlin statt, um zum Zolltarifentwurfe Stellung zu nehmen. Man war darin einig, daß die landwirtschaftlichen Zollsätze sämtlich ungenügend wären und daß an den alten Forderungen des Bundes unbedingt festzuhalten sei. Die Unzufriedenheit äußerte sich in einer eintsimmig angenommenen Resolution, die noch einmal alle agrarischen Forderungen zusammenstellte: 1. Die gemischten Transit-

248

Kapitel XI.

läger haben keine Daseinsberechtigung mehr und sind ganz zu beseitigen. Die Einführung von Ursprungsattesten ist vorzusehen. 2. Der Termin für das Inkrafttreten des Gesetzes ist gesetzlich festzulegen. 3. Das System des Doppeltarifs ist allgemein durchzuführen. 4. Die Mindestzölle für Getreide sind zu erhöhen, die Spannung zwischen diesen und den Maximalsätzen ist zu vergrößern. 5. Die Erzeugnisse der Gärtnerei und des Hackfruchtbaues bedürfen des Schutzes, die Zollsätze für Pferde sind zu erhöhen, diejenigen für Vieh sind nur nach dem Gewicht durchzuführen und ebenso wie diejenigen für Fleisch und sonstige tierische Erzeugnisse zu erhöhen. Der engere Vorstand des Bundes wurde beauftragt, eine Eingabe an den Bundesrat zu richten, in welcher eine Angabe und Begründung der Zollsätze erfolgen sollte, die der Ausschuß des Bundes für ein Gedeihen der deutschen Landwirtschaft' als unbedingt erforderlich erachtete. Am 2. Dezember 1901 fand die erste Beratung über den neuen Zolltarif im Reichstage statt. Bei Übergabe der Vorlage hob der Reichskanzler Graf v. Bülow hervor, daß der Entwurf hervorgegangen sei aus den Bedürfnissen des deutschen Wirtschaftslebens unter möglichst gleichmäßiger Berücksichtigung aller berechtigten Interessen, und daß er in erster Linie den Wünschen nach Erhöhung des Schutzes Rechnung trage, die von der Landwirtschaft erhoben seien und deren Berechtigung innerhalb der durch die nötige Rücksicht auf das Gemeinwohl gezogenen Schranken nicht bestritten werden könne. Diese besondere Fürsorge für die Landwirtschaft begründete der Kanzler weiter damit, daß sie sich nach seiner und der verbündeten Regierungen Überzeugung in vielen Teilen des Reiches lange in besonders schwieriger Lage befunden habe, so daß ihr jedes mit den Grundbedingungen des wirtschaftlichen Lebens vereinbare Maß von Schutz und Hilfe gewährt werden müsse. Trotz der hiernach vorliegenden großen Berücksichtigung landwirtschaftlicher Interessen wurde von Seiten der Landwirte unbeirrt weitergekämpft. In den Reichstagsverhandlungen tauchte bald eine große Anzahl weiterer Forderungen auf. Für alle Getreide-

Der Zolltarif von 1902.

249

arten wünschte man gleichen Zollschutz, ferner höhere Zollsätze für Futtermittel, wie Mais und Klee. Im allgemeinen

waren

und Zentrum darüber einig,

sich

Konservative,

Nationalliberale

daß etwas geschehen müsse,

um

die Notlage der Landwirtschaft zu verbessern. Am 12. Dezember 1901 erklärte Graf Posadowsky noch einmal, daß die Regierungen trotz aller Bekämpfungen an der Vorlage festhielten, die nach sorgfältigsten Vorarbeiten und Informationen unter wirksamster Beihilfe des wirtschaftlichen Ausschusses zustande gekommen sei.

Man verfolge mit den industriellen Zöllen ein sozial-

politisches Ziel, nämlich den deutschen Arbeitern vermehrte Arbeitsgelegenheit zu schaffen und zu erhalten.

Die Vorlage wurde am

gleichen Tage an eine Kommission von 28 Mitgliedern verwiesen. Obgleich prinzipiell die Mehrheit der Bundesregierungen, besonders die größeren Bundesstaaten, die Vorlage des Bundesrates entschieden vertraten, glaubte man doch herausgefühlt zu haben, daß der Reichskanzler zu Zugeständnissen an die Agrarier geneigt sei,

und daß besonders der preußische Landwirtschaftsminister

v. Podbielski den Erhöhungen und Bindungen der landwirtschaftlichen Schutzzölle zuneige.

Demgegenüber wurde von halbamt-

licher Seite wiederholt festgestellt, daß die Regierungen weit davon entfernt wären, sich zu Zugeständnissen in hochschutzzöllnerischer Richtung bestimmen zu lassen, sondern daß sie im Gegenteil derartigen Zumutungen den schärfsten Widerstand würden.

entgegensetzen

Von der agrarischen Presse wurde dieser Widerstand —

vielleicht nicht ohne Absicht — unterschätzt.

Man bezeichnete

die in dem Entwürfe berücksichtigten Zugeständnisse in einer der Landwirtschaft freundlichen Richtung als Almosen und Scheinhilfe und wünschte zusammen mit den Sozialdemokraten, wenn auch aus andern Motiven, die Vorlage scheitern zu sehen. Am 7. Januar 1902 beleuchtete die nationalliberale Partei die Lage der Dinge in den „Mitteilungen für die Vertrauensmänner der nationalliberalen Partei" in folgender Weise:

„Zwischen den

Organen der konservativen Partei und denen des Bundes der Landwirte besteht betreffs der Haltung zum Zolltarife unverkennbar eine Kluft. Dort vorsichtiges Abwarten und Freihalten des Rückens;

250

Kapitel XI.

hier ein rücksichtsloses Betonen von Forderungen, die nicht die geringste Aussicht auf Verwirklichung haben und, wenn sie im Reichstag eine Mehrheit fänden, nur geeignet wären, das ganze Werk am Nein des Bundesrates scheitern zu lassen. Wieweit die Berliner Bundesleitung für diese extremen Forderungen demnächst die Konservativen in Anspruch nehmen wird, und zu welchen Auseinandersetzungen dies dann führt, muß abgewartet werden." In den Verhandlungen des Bundes der Landwirte über den Entwurf wurde eine Reihe von kleinen Verbesserungen zwar anerkennend hervorgehoben, im übrigen aber eine eifrige Bekämpfung der Vorlage in Aussicht gestellt. Die Einführung des Doppeltarifs wurde gelobt, aber man bedauerte, daß er nur auf die vier Getreideposten des Tarifs dusgedehnt worden sei. Das bedeute nur 16 % der Gesamteinfuhr land- und forstwirtschaftlicher Produkte. Nach den Angaben des Bundes waren allein auf land- und forstwirtschaftlichem Gebiete 34% der gesamten Einfuhr ohne jeden Schutz geblieben Die Vorteile, welche die Aufstellung eines Wertzolles bzw. eines Zol es für Lebendgewicht für Pferde, Schlachtochsen, Schweine und Federvieh scheinbar gebracht hätten, wurden bestritten, da die Regierung die Möglichkeit besäße, die Zölle beim Abschluß von Handelsverträgen beliebig herunterzusetzen; sie könnte sie sogar noch unter die geltenden Sätze heruntergehen lassen und eventuell volle Zollfreiheit gewähren. Diese Unsicherheit aber wolle die Landwirtschaft gerade vermeiden. Die völlige Außerachtlassung der deutschen Handelsgärtnerei wurde sehr beklagt, auch der Kartoffelbau entbehre jeden Schutzes. Der Weinbau, der unter der Einfuhr des Auslandes nach Deutschland schwer litte, wäre in seinem Produkt gegenüber dem in Kraft befindlichen Generaltarif nicht besser gestellt; das Gleiche wurde vom Tabak behauptet. Im ganzen sah sich die deutsche Landwirtschaft nach dieser Auffassung gegenüber den der Industrie zuteil gewordenen Vergünstigungen zurückgesetzt. Man kündigte an, daß die verschiedenen Organisationen der deutschen Landwirtschaft bei ihrer Stellungnahme zu dem Tarif der Ansicht Ausdruck geben würden, daß die Landwirtschaft besser tun werde, wenn ihre Vertreter den Ent-

Der Zolltarif von 1902.

251

wurf zu dem vorliegenden Zolltarifgesetze überhaupt ganz ablehnten, anstatt ihn in dieser Form anzunehmen. Man beschloß daher auf dieser neunten Generalversammlung des Bundes am 10. Februar 1902 folgende Erklärung zum Zolltarif abzugeben: „Die Landwirtschaft als solche hat kein Interesse an langfristigen Handelsverträgen, ist aber bereit, an dem Zustandekommen solcher mitzuwirken im Interesse der heimischen Industrie. Sie kann das nur, wenn ihr im neuen Zolltarif dasjenige Maß des Schutzes gewährt wird, dessen sie, neben der blühenden Industrie, gegenüber dem billiger produzierenden Auslande bedarf. Die Vorlage der verbündeten Regierungen ist für die deutsche Landwirtschaft nicht annehmbar. Sollte es nicht gelingen, derselben in der Beratung des Reichstages eine Gestalt zu geben, die den berechtigten Forderungen der deutschen Landwirtschaft entspricht, so erwartet der Bund der Landwirte eine Ablehnung derselben." In gleicher Weise klang eine Resolution aus, die auf der 27. General') Einige wichtige Forderungen des Bundes der Landwirte in einer darauf bezüglichen Eingabe an den Bundesrat und Reichstag waren: für Roggen: Erhöhung des in Vorschlag gebrachten Doppelsatzes für 1 Doppelzentner von 6 bis 5 M. (alter Tarif SM.) auf 7,60 M.; für Weizen und Spelz von 6,50 bis 5,60 M. (6 M.) auf 7,50M.; für Gerste von 4 bis 3 M. (2,26M.) auf 7,60 M.; für Hafer von 6 bis 5M. (4 M.) auf 7,50 M.; für Buchweizen von 3,60 M. (2,00 M.) auf 6 M . ; für Mais und Dan von 4M. (2 M.) auf 5 M , ; andere nicht genannte Getreidearten von 1,60 M. (1 M.) auf 5 M.; für Malz mit Ausnahme des gebrannten und gemahlenen aus Gerste von 6,25 M. (4M.) auf 14 M., aus anderem Getreide von 9 M. (4M.) auf 14 M.; für Leinsaat, Hanfsaat von 0,75 M. (frei) auf 6M.; für Baumwollsamen, Kopra usw. von frei (frei) auf 6 M.; für Rotkleesaat, Weißkleesaat und andere Kleesaaten von 5 M. (frei) auf 30 M.; für Grassaat aller Art von 2 M. (frei) auf 30 M.; für Kartoffeln, frisch in der Zeit vom 15. Februar bis 31. Juli von frei (frei) auf 12 M., in der Zeit vom 1. August bis 14. Februar von frei (frei) auf 1 M.; für Tabakblätter von 86 M. (85 M.) auf 126 M.; für Hopfen von 40 M. (20 M.) auf 100 M.; für Hopfenmehl (Lupulin) von 60 M. (20 M.) auf 250 M.; für Blumen, Blüten, Blütenblätter und Knospen zu Binde- oder Zierzwecken, frisch, auch Fabrikate daraus von frei (frei) auf 300 M.; für Blätter, Gräser, Zweige zu Binde- oder Zierzwecken auch Fabrikate daraus von frei (frei) auf 100 M.; für frische Äpfel, Birnen, Quitten unverpackt von frei (frei) auf 6 M., in Verpackung von 6 M. (frei) auf 15 M.; für Forstsämereien von frei (frei) auf 20 M.; für Pferde im Werte bis 300 M. das Stück von 30 M. (20 M.)

252

Kapitel XI.

Versammlung der Steuer- und Wirtschaftsreformer im Februar 1902 gefaßt wurde: „Das Zolltarifgesetz läßt den Wunsch erkennen, die inländische Landwirtschaft in ihrem gegenwärtigen Besitz stände zu erhalten. Nur unter diesem Gesichtspunkte kann das Ziel einer wirklich nationalen weitsichtigen Handelspolitik erreicht werden: die Hinderung einer einseitigen, vorwiegend industriellen, wesentlich auf unsicheren Auslandabsatz gerichteten Entwicklung und die Erhaltung eines gesunden, die gleichmäßige Förderung der agrarischen und der industriellen Werktätigkeit sichernden Wirtschaftskörpers, der eine Stärke im Inlandsmarkte findet. Die notwendige untere Grenze der Zölle für Getreide (1887 von den verbündeten Regierungen bei Roggen und Weizen auf 6 M. beziffert) ist gegenwärtig nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhange mit der Gestaltung aller sonstigen landwirtschaftlichen Tarifpositionen sowie der für die Landwirtschaft als Verbraucherin in Betracht kommenden Industriezölle zu bemessen. Als Ziel hat hierbei die Erreichung durchschnittlich mittlerer Preise für den Inlandsmarkt zu gelten." Die Generalversammlung sprach zwar ihre Befriedigung darüber aus, daß die Verbündeten Regierungen bei der Zolltarifvorläge im Prinzip zu der nationalen Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck zurückgekehrt wären, konnte jedoch andererseits nicht umhin, ihrer Verwunderung darüber Ausdruck zu geben, daß die gegenwärtigen Zollvorschläge für die Hauptgetreidearten sogar niedriger wären als die ehemals von den verbündeten Regierungen im Jahre 1887 vorgeschlagenen Zollsätze, um so mehr, als man seitdem keine der großen Forderungen der Landwirtschaft erfüllt hätte, ihr im Gegenteil seit 1887 weitere bedeutende Belastungen auferlegt hätte, wodurch sich ihre Notlage seit jener Zeit auf das Äußerste verschärft hätte. Indem auf 76 M., von mehr als 300 bis 1000 M. das Stück, von mehr als 1000 bis 2600 Mdas Stück, von mehr als 2600 M. das Stück von 76, 150, 300 M. (20 M.) auf je 2 6 % vom Werte; für Würste aus Fleisch vom Vieh, Federvieh oder Wild von 46 M. (20 bis 30 M.) auf 80 M.; für Talg von Rindern und Schafen von 2,60 M. (2 M.) auf 30 M. ; für Eier von 6 M. (3 M.) auf 40 M.; für Mehl, auch gebrannt oder geröstet aus Getreide, Reis oder Hülsenfrüchten von 13,60 Mk. (10,60 M.) auf das 3'/jfache des Haferzolles; für Kunstspeisefett von 12,50 M. (10 M.) auf 30 M.; für chemisch zubereitete Nährmittel von frei (frei) auf 150 M. usw.

Der Zolltarif von 1902.

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die Versammlung betonte, daß bei dem Abschluß der gegenwärtigen Handelsverträge ausschließlich die Landwirtschaft Opfer gebracht hätte, sprach sie die zuversichtliche Erwartung aus, daß aus den Beratungen des Zolltarifgesetzentwurfs eine Vereinbarung des Bundesrates und des Reichstages hervorgehen würde, welche „der durch die jetzigen Handelsverträge einseitig geschädigten Landwirtschaft künftig einen wirksamen Zollschutz gewähren würde". Die Resolution nahm dann gegen den Entwurf entschieden Stellung und schloß mit den Worten: „Der dem Reichstage vorgelegte Zolltarifentwurf entspricht nicht den berechtigten Erwartungen der deutschen Landwirtschaft und ist für sie so nicht annehmbar." In der Kommissionssitzung des Reichstages war es auffallend, daß schon bei Beginn der Beratung, als es sich um die Höhe der Getreidezölle und um die Erhöhung und Bindung der Viehzölle handelte, von den Vertretern der verbündeten Regierungen erklärt wurde, daß unter keinen Umständen über die Sätze der Vorlage hinausgegangen werden könnte. Der Bund der Landwirte forderte dagegen 7,50 M. als Getreidezoll, Bindung aller landwirtschaftlichen Zölle, höhere Viehzölle und höhere Zölle auf gärtnerische Produkte und einen Minimalzoll für Getreide von 6 M. Da die Bildung einer Mehrheit den größten Schwierigkeiten begegnete, so einigte man sich zu dem Kompromiß, 6 M. für Weizen und 5,50 M. für die übrigen Getreidearten als Minimalzoll anzusetzen und eine Bindung der Viehzölle von 18 M. pro Doppelzentner vorzunehmen, mit der Bedingung, daß diese Tarifposition nicht um mehr als 20% erniedrigt werden dürfte. Die erste Lesung in der Kommission nahm 102 Sitzungen in Anspruch. Man sah sich daher gezwungen, die zweite Lesung nicht in vollem Umfange in der Kommission stattfinden zu lassen, und beschränkte sich darauf, das Zolltarifgesetz noch einmal durchzuberaten und im übrigen nur 30 bis 40 Einzelpunkte des Tarifs vorzunehmen, die einer Veränderung bedurften. Alle innerhalb der Kommission bzw. gegenüber der Regierungsvorlage streitigen Punkte, z. B. die Erhöhung der Minimalzölle für Getreide, Er') Bericht über die Verhandlungen der Steuer- und Wirtschaftsrefonner 1902 S. 142.

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höhung bzw. Bindung der Viehzölle, wurden ohne weiteres dem Plenum überwiesen. Am 16. Oktober 1902 begann die zweite Beratung des Entwurfs im Plenum des Reichstages. Bei Beginn der Verhandlungen wies der Reichskanzler noch einmal darauf hin, daß ein Ausgleich der verschiedenen Interessen durch Beschreiten einer mittleren Linie möglich wäre. Denn Deutschland wäre weder ganz Agrar- noch ganz Industriestaat, sondern Agrar- u n d Industriestaat. Der vorgelegte Entwurf wäre die besagte Mittelstraße. Der Tarif wäre durchaus geeignet, die Interessen der Landwirtschaft besser wahrzunehmen, als es geschehen könnte, wenn bei einer Ablehnung auf der alten Basis weitergebaut werden müßte. In diesem Sinne richtete der Reichskanzler an die Parteien, denen der Schutz der Landwirtschaft am Herzen läge, die Bitte, „nicht zu vereiteln, was die verbündeten Regierungen in mühsamer Arbeit für die Landwirtschaft erstrebten, die Landwirtschaft nicht um die Vorteile zu bringen, die die verbündeten Regierungen ihr zugedacht hätten und sich auf dem Boden der realen Tatsachen zu halten" Nach § 1 der Regierungsvorlage sollten die Zölle für Roggen und Hafer nicht unter 5 M., für Weizen und Spelz nicht unter 5,50 M., für Gerste nicht unter 3 M. pro Doppelzentner heruntergehen dürfen. Die Erhöhungen, welche die Kommissionsberatungen gebracht hätten, genügten den Agrariern jedoch nicht, und ein Antrag v. Wangenheim wünschte die Mindestzölle für Getreide auf 7,50 M. erhöht zu sehen sowie eine allgemeine Einführung hoher Mindestzölle für sämtliche landwirtschaftlichen Produkte. Am 21. Oktober fand die Abstimmung über die Position 1 des § 1 des Gesetzes, Mindestzoll für Roggen, statt. Der Antrag Wangenheim (Festsetzung eines Minimalzolles von 7,50 M.) wurde mit 289 gegen 44 Stimmen abgelehnt. Dafür stimmten nur die Mitglieder des Bundes der Landwirte, einige andere Konservative und Antisemiten, alle andern Parteien stimmten bei fünf Enthaltungen dagegen. Ebenso wurde ein Antrag Heim betreßend Roggen») Reichstags-Verh. 1902. S. 5683 ff.

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minimalzoll von 6 M. abgelehnt. Darauf wurde der Kommissionsantrag (Roggenminimalzoll von 5,50 M.) mit 187 gegen 152 Stimmen angenommen. Für ihn stimmten das Zentrum, die Reichspartei, die Mehrheit der Konservativen, die Antisemiten, die Polen, der Bund der Landwirte und einige Nationalliberale. In gleicher Weise wurde die entsprechende Position des Tarifs für Roggen nach dem Kommissionsantrage mit 7 M. angenommen. Der Antrag Wangenheim mit 7,50 M. Mindestzoll für Weizen wurde gleichfalls abgelehnt und der Kommissionsantrag 6 M. Mindestzoll mit 194 gegen 145 Stimmen angenommen, ebenso die entsprechende Position des Tarifs für Weizen gemäß dem Kommissionsantrage mit 7,50 M. Nach langen Debatten wurde dann am 23. Oktober der Antrag auf einen Minimalzoll für Gerste von 6 M. abgelehnt, dagegen der Kommissionsantrag von 5,50 M. angenommen, ebenso der Kommissionsantrag von 5,50 M. für Hafer. Somit wurde zwar die allgemeine Forderung der Agrarier eines Minimalsatzes von 7,50 M. für Getreide nicht erfüllt, jedoch bei allen vier Getreidearten eine Erhöhung sowohl des Minimal- als auch des Maximalzolles erzielt, und zwar bei Roggen um 0,50 M. bzw. 1 M.; bei Weizen um 0,50 M. bzw. 1 M.; bei Gerste sogar um 2,50 M. bzw. 3 M.; bei Hafer um 1 M. bzw. 1 M. Der am 24. Oktober angenommene Kommissionsantrag betreffend Mindestzölle für Pferde brachte den Agrariern keine neuen Vorteile, abgesehen von denen, die der Entwurf selbst schon enthielt. Bei der Abstimmung über diese Mindestzölle errangen die Landwirte die Annahme der nach ihrem Wunsche schon in der Kommission auf 18 M. pro Doppelzentner erhöhten Viehzölle. Der Mindestsatz von 14,40 M. wurde nach mehrtägigen Verhandlungen gleichfalls in das Gesetz aufgenommen. Zu langen und erregten Verhandlungen kam es vom 27. November bis 2. Dezember über einen Antrag v. Kardorff, der bei einer Herabsetzung der Zölle auf eine Reihe meist landwirtschaftlicher Gegenstände die En-bloc-Annahme des Entwurfs gemäß den Kommissionsbeschlüssen empfahl. Der Antrag rief eine Geschäftsordnungsdebatte hervor, zu der der Abgeordnete Singer eine Protesterklärung abgab, nach

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der er dieses Verfahren einen „Gewaltstreich" nannte, „um durch einen Bruch der Geschäftsordnung, der Verfassung und des parlamentarischen Rechtes dem deutschen Volk ein Interessengesetz zugunsten einer winzigen Mehrheit aufzuoktroyieren". Mit diesem Antrag habe sich die Mehrheit des deutschen Reichstages außerhalb der Geschäftsordnimg und der Verfassung gestellt. Der Antrag Kardorff wurde mit 198 gegen 45 Stimmen für zulässig erklärt. Mit der Annahme des Antrags mit 184 gegen 136 Stimmen am 13. Dezember war die zweite Lesung des Zolltarife» beendet. Die dritte Lesung am 13. und 14. Dezember setzte sich unter starker Obstruktion, meist von seiten der Sozialdemokraten und unter einer Dauerrede des Abgeordneten Antrick bis 4 Uhr morgens fort. Der agrarischen Partei gingen einige Vorteile wieder verloren. Gemäß den Erklärungen, die der Reichskanzler wiederholt über den Entschluß der Regierungen, an den Sätzen des § 1 festzuhalten, gegeben hatte, betonte er noch einmal die Differenz zwischen der Regierungsvorlage und den Beschlüssen der zweiten Lesung. Graf Bülow versprach aber die Annahme des Tarifs durch den Bundesrat, wenn die Erhöhung und Erweiterung der Mindestzölle in § 1 wieder beseitigt würden. Dazu lag ein Antrag Herold vor, nach welchem die Mindestzölle auf Vieh und Fleisch nicht festgesetzt, die Mindestzölle für Roggen, Weizen und Hafer auf die in der Regierungsvorlage vorgeschlagene Höhe zurückgeführt und ein Mindestzoll für Malzgerste unter Wegfall eines Mindestzolles für andere Gerste eingeführt werden sollte, v. Wangenheim, der Führer des Bundes der Landwirte, faßte dann noch einmal alle Gründe, die gegen diese Herabsetzung sprachen, zusammen und schloß mit den Worten: „So maßvoll die Forderungen der Landwirtschaft gewesen sind, so haben sie doch leider nicht die Zustimmung der Verbündeten Regierungen gefunden. Es ist der Landwirtschaft der notwendigste Schutz versagt worden. Sie haben unsere Anträge, sowohl die auf Erhöhung landwirtschaftlicher Zölle als die auf Herabsetzung industrieller Zölle abgelehnt. Die Minderheit hat doch wenigstens den Anspruch, daß ihre Gründe gehört werden, aber Sie haben alle unsere Anträge mit geringen

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Ausnahmen durch Übergang zur Tagesordnung beseitigt. Auf diese Weise kann man die Sozialdemokraten auf die Dauer nicht bekämpfen, dazu ist eine kräftige Landwirtschaft notwendig. Durch dieses Gesetz wird die Landwirtschaft schwer geschädigt. Wir lehnen es daher ab." Demgemäß stimmten die Vertreter des Bundes gegen den Antrag Herold. Die äußerste Linke schloß sich dem an, von den Sozialdemokraten wurde der Antrag gleichfalls abgelehnt. Die Reichspartei und das Zentrum stimmten „aus politischen Gründen" dafür, die nationalliberale Partei schloß sich dem an. Der Antrag wurde schließlich mit 199 gegen 105 Stimmen angenommen. Die Annahme der ganzen Vorlage erfolgte dann in der Nacht zum 14. Dezember mit 202 Stimmen gegen 100 Stimmen. Obwohl die Agrarier mit ihren letzten Forderungen nicht durchgedrungen waren, brachte ihnen der neue Tarif doch wesentliche Zollerhöhungen1). Der autonome Zollschutz für nahezu alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse war erheblich verstärkt worden. Für die vier Hauptgetreidearten waren Mindestzölle gesetzlich festgelegt und diese Zölle für Weizen, Roggen, Hafer und Braugerste erhöht. Ferner wurden die Wertzölle für Pferde und die Gewichtszölle für alle andern Viehgattungen erhöht. Wiederholt geäußerten *) Als einige wichtige Erfolge, die die Landwirtschaft in bezug auf Zollsätze errang, sind zu nennen: Einführung eines Zolles auf unverpackt« Äpfel. Birnen, Quitten in der Zeit vom 26. November bis 24. September von 2,60 M, pro Doppelzentner, für Kartoffeln, frisch, in der Zeit vom 16. Februar bis 31. Juli von 2,60 M., für Grfinfutter, Heu, Stroh und Spreu von 1 M., für Ananas von 4 M.; in der Erhöhung des Zolles für Roggen um 1 M. auf 7 M.; für Weizen und Spelz um 1 M. auf 7,60 M.; für Hafer um 1 M. auf 7 M.; für Gerste um 3 M. auf 7 M.; für Buchweizen um 1,60 M. auf 6 M.; für Mais und Dari um 1 M. auf 6 M.; für Malz aus Gerste um 4 M. auf 10,26 M.; aus anderem Getreide um 2 M. auf 11 M.; für Hopfen um 30 M. auf 70 M.; für Hopfenmehl (Lupulin) um 40 M. auf 100 M.; für Mehl um 6,76 M. auf 18,76 M.; nicht erfüllt wurde der Wunsch auf Einführung eines Zolles für Baumwollsamen, Kopra usw., für Blumen, Blüten usw., zu Binde- oder Zierzwecken, für Blätter, Gräser usw. zu Binde- oder Zierzwecken, für Forstsämereien, für chemisch zubereitete Nährmittel; eine Erhöhung des Zolles wurde nicht durchgesetzt für Hirse, für andere nicht besonders genannte Getreidearten, für Rotkleesaat, Weißkleesaat und andere Kleesaaten, für Grassaat aller Art, für Tabakblätter, unbearbeitet, für Eier, für Kunstspeisefett. C r o n e r , Agrarische Bewegung.

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Wünschen der Landwirtschaft wurde entsprochen durch den Erlaß gesetzlicher Bestimmungen betreffend die Einführung von Ursprungszeugnissen, die Beschränkung der gemischten Privattransit lager, die Aufhebung der Zollkredite bei der Einfuhr von Getreide. Dennoch bemängelte die Landwirtschaft durch ihre gesetzliche Vertretung, den Deutschen Landwirtschaftsrat, den Zolltarif in folgenden Punkten: 1. die niedrige Bindung der Getreidezölle, 2. die Preisgabe der Bindung der Viehzölle, 3. die niedrige Verzollung für Gärtnereierzeugnisse, 4. die verhältnismäßig zu hohe Bemessung einiger Industriezölle und namentlich 5. die Freilassung des Zeitpunkts, mit welchem das Zolltarifgesetz in Kraft tritt 1 ). Die Stimmung in den dem Bunde nahestehenden landwirtschaftlichen Kreisen nach Annahme des Zolltarifs war gedrückt. Die Ansichten der Agrarier standen noch sehr im Widerspruch mit denen der Regierung. Allerdings betonte der Reichskanzler in einer Ansprache an den Deutschen Landwirtschaftsrat, am 6. Februar 1903, daß der Zolltarif in erster Linie der Landwirtschaft zugute komme. Er versprach ferner ausdrücklich, daß bei Handelsvertragsunterhandlungen die Interessen der Landwirtschaft mit besonderem Nachdruck vertreten werden sollten. Zugleich sprach er die Hoffnung aus, daß ein Zusammenwirken von Reich und Staat mit geordneten Vertretungen der Landwirtschaft auch auf anderen Gebieten als der Zollpolitik ersprießliche Maßnahmen bringen würde, besonders in bezug auf die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse auf dem Lande durch den Bau neuer Schienenwege und befestigter Straßen, durch eine kräftige innere Kolonisation, durch die Hebung des technischen Betriebes der Landwirtschaft, namentlich auch in den Kreisen des kleinen bäuerlichen Besitzes, durch eine intensive Förderung des landwirtschaftlichen Bildungswesens, des Genossenschaftswesens, der Landesmeliorationen und durch Hebung der Viehzucht, besonders durch wirksame Bekämpfung der Vieheuchen mit den neueren Erfahrungen der Wissenschaft. ') Nachrichten vom Deutschen Landwirtschaftsrai 1902 Nr. 12.

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Der ständige Ausschuß des Deutschen Landwirtschaftsrates verzichtete schließlich auf seine verschiedenen weitergehenden Wünsche, zeigte sich dem Tarifentwurfe geneigt und erklärte sich für die Annahme der Vorlage 1 ). Ganz anders äußerten sich die übrigen landwirtschaftlichen Vertretungen. Schon im Anfang des Dezember 1902 erließ der Vorstand des Bundes der Landwirte eine Erklärung gegen diejenigen Abgeordneten, welche im Reichstage für den Antrag v. Kardorff, der zur Annahme des Zolltarifs geführt hatte, gestimmt hätten. Er glaubte darin auf „ein weiteres Zusammengehen mit den politischen Parteien und Abgeordneten verzichten zu müssen", die „seine wichtigsten Ziele" durch die Zustimmung zu dem Antrage Kardorff preisgegeben hätten. Nicht die Landwirte, die gegen den Antrag gestimmt hätten, „ließen das deutsche Vaterland in schwerer Stunde im Stich", sondern diejenigen täten es, „die gegen ihre seit 10 Jahren selbst vertretene wirtschaftspolitische Überzeugung nun einer Regierungsvorlage zustimmen wollten, die eine dauernde Schwächung des Bauernstandes und des Mittelstandes in Stadt und Land bedingen würde". Zur Verteidigung der Konservativen, welche zum größten Teile von diesen Angriffen des Bundes auf den Antrag Kardorff getroffen waren, versuchte der Abgeordnete v. Kröcher in einer Kreisversammlung des Bundes der Landwirte zu Pritzwalk, eine Rechtfertigung. Die Versammlung erklärte jedoch, „daß der Zolltarif in der angenommenen Fassung die berechtigten Wünsche der Landwirtschaft in keiner Weise erfülle und daß zu hoffen sei, es werde in Zukunft, wie früher, die konservative Partei mit dem Bunde der Landwirte Hand in Hand gehen". Nach den vielen Angriffen des Bundes der Landwirte auf den Vorsitzenden der Deutschen Reichspartei, v. Kardorff, erklärte dieser dem Bunde gegenüber seinen Austritt mit der Motivierung, daß der Krieg zwischen dem Bunde und seiner Partei seiner Auffassung nach aus allgemeinen landwirtschaftlichen und politischen Interessen hätte vermieden werden können und sollen. *) Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrates 1906 S. 296. 17*

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In der 28. Generalversammlung der Vereinigung der Steuer und Wirtschaftsreformer am 11. Februar 1903 faßte man die verschiedenen Wünsche in eine längere Resolution zusammen. Man bedauerte, daß der neue Tarif nicht die erwünschte ausreichende Möglichkeit gegeben hätte, den berechtigten Wünschen der deutschen Landwirtschaft entsprechende Handelsverträge abzuschließen, ferner daß durch die Nichtannahme eines vollständigen Doppeltarifs nach französischem Muster oder durch Bindung der Mindestsätze für alle Haupterzeugnisse der Landwirtschaft die Sicherheit fehle, daß künftig nur auch vom landwirtschaftlichen Standpunkte aus annehmbare Handelsverträge abgeschlossen würden. Man sah in einem abermaligen Abschluß langfristiger Handelsverträge ohne ausreichenden Schutz der Landwirtschaft ein nationales Unglück von geradezu unberechenbarer Tragweite. Daher forderte man beim Abschluß von Handelsverträgen ausreichende Schutzzölle für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Im besonderen verlangte der Verein, daß die Vieh- und Fleischzölle nicht unter die bei der zweiten Lesung des § 1 des Zolltarifgesetzes vom Reichstage beschlossenen Sätze festgesetzt würden. Ferner wünschte man, daß man sich bei Vertragsverhandlungen des Beirats der landwirtschaftlichen Sachverständigen, des wirtschaftlichen Ausschusses, bedienen möchte und dessen Zahl im Bedarfsfalle aus der Mitte der Vertretungskörper der deutschen Landwirtschaft ergänze. Man bat ferner dringend um baldige Kündigung der Tarifverträge und der mit einjähriger Kündigungsfrist geschlossenen Meistbegünstigungsverträge, um möglichste Beschleunigung der VertragsVerhandlungen und vertragsmäßige Abkürzung der einjährigen Ablaufsfrist der alten Verträge. Wegen der großen Übelstände, die sich aus dem gleichzeitigen Abschluß von Tarifverträgen mit der reinen oder bedingten Meistbegünstigung ergeben hätten, bat man, mit keinen andern Staaten — reine oder bedingte — Meistbegünstigungsverträge abzuschließen, ohne daß auch diese Staaten ihre Zollautonomie durch entsprechende Zollbindungen zu unseren Gunsten aufgäben, dann aber forderte man überhaupt die Zahl unserer Zollbindungen nach Möglichkeit zu beschränken. Endlich ersuchte man, besonders aus der Erwägung

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heraus, daß die europäischen Staaten, insbesondere Amerika und England mit seinen Kolonien, immer mehr auf einen wirtschaftlichen Zusammenschluß dieser großen wirtschaftlichen Gebiete hindrängten, beim Abschluß neuer Handelsverträge, wo angängig, durch eine wenn auch zunächst nur geringe Begünstigung europäischer Provenienzen gegenüber außereuropäischen und den Versuch, gleiche Begünstigungen von seiten unserer europäischen Vertragsstaaten für uns zu erlangen, auf die Anbahnung einer europäischen Zollunion hinzuwirken 1 ). Die erste Lesung der Handelsverträge mit den 7 Staaten, Italien, Belgien, Rußland, Rumänien, der Schweiz, Serbien und Österreich - Ungarn begann am 9. Februar 1906. Der Staatssekretär Graf v. Posadowsky betonte, daß diese sieben Verträge ein unlösbares Ganze bildeten und daß der Reichstag nur befugt sei, sie anzunehmen oder abzulehnen, nicht aber Änderungen vorzunehmen. Graf Kanitz erkannte an, daß man bemüht gewesen sei, die ausgleichende Gerechtigkeit walten zu lassen und daß zum ersten Male die Parität von Industrie und Landwirtschaft ausgesprochen sei. Immerhin seien kurzfristige Meistbegünstigungsverträge den Handelsverträgen mit langer Gültigkeitsdauer vorzuziehen. In der zweiten Beratung am 20. Februar wurden die Beschlüsse der Kommission mit geringen Ausnahmen genehmigt. In dritter Beratung am 22. Februar wurden der Vertrag mit Österreich mit 226 Stimmen gegen 79, der Vertrag mit Rußland mit 228 gegen 81 bei 4 resp. 3 Stimmenthaltungen, die anderen Verträge in einfacher Abstimmung angenommen. Die Sozialdemokraten stimmten geschlossen, die Freisinnige Vereinigung zum größten Teil gegen die Verträge. Von den 15 Mitgliedern der Polenpartei enthielten sich zwei der Abstimmung, die übrigen waren nicht anwesend. Von den 52 Mitgliedern der Deutsch-Konservativen Partei waren 16 nicht erschienen. >) Bericht der Steuer- und Wirtschaftsreformer 1903 S. 22ff.

Schluß. Wir haben die agrarische Bewegung von ihren Anfängen an verfolgt bis zu den Zeiten ihrer höchsten Triumphe. Die ursprünglich kleine Partei der Theoretiker unter Müller, Haller und Rodbertus hatte es noch nicht verstanden, ihre Ideen agitatorisch zu verbreiten. Auch die Schwenkung, die die Vertreter landwirtschaftlicher Interessen unter dem mächtigen Schutze Bismarcks machten, beschäftigte mehr einen kleinen, politisch regen Teil des landwirtschaftlichen Gewerbes. Erst der Versuch Caprivis, die Schutzzollpolitik rückwärts zu revidieren, bringt die Masse des ganzen Standes in Wallung und schafft diejenige Interessenvertretung, die seitdem der ganzen agrarischen Bewegung ihren Stempel aufgedrückt hat, den Bund der Landwirte. Bei dem Antrag Kanitz, bei der Währungsfrage, der Börsengesetzreform und nicht zuletzt bei den Zollerhöhungen von 1902, überall steht er an der Spitze, und wenn man nach dem Charakter der agrarischen Bewegung der letzten zehn Jahre sucht, so erkennt man, daß sie überall das Zeichen des Bundes trägt. Unsere Darstellung muß hier schen Bewegung des letzten Jahres, um die Reichsfinanzreform trennt Zeit, daß eine objektive historische Platze zu sein scheint.

abbrechen. Von der agraribesonders von den Kämpfen uns eine so kurze Spanne Untersuchung noch nicht am

Register, I. Personenregister. Die Zahlen bedeuten die Seiten.

A. Adami-Bremen 213. Arendt 208, 210, 215 ff., 217, 220, 224, 226, 230, 238 fi., 241. Arndt, E. M. 1. Arnim-Moskau, Graf v. 146, 181, 190.

B. Bachem 164. Ballestrem, Graf v. 180. Bamberger 91, 100, 103, 108, 119, 196, 206, 223, 226. Barth 164, 166, 187, 232 ff., 235. Bebel 223. Becker-Meseritz 206. Behr, Graf v. 180. v. Below-Saleske, 114, 137. Benda 175. v. Bennigsen 89, 107, 170. v. Berlepsch, 182, 188. Beraberg 83. Berns torff-Uelzen. Graf 170. Beta 70, 71. Bismarck, Fürst Otto v. 14, 20, 21, 73, 89, 94 f f , 99, 105, 109 ff., 118 f f , 126, 141, 177, 200, 201, 207, 218, 219, 262. Bismarck, Graf Herbert v. 140, 170, 236.

Bock 168. Boltz-Charlottenburg 220. v. Borries-Eckendorf 214. Braumüller-Waldeck 83. v. Bredow-Bredow 219. Brüssel-Hamburg 226. Bueck 226. Bülow, Graf (Fürst) v. 248, 266 ff. v. Bülow-Cummerow 14, 38 ff. Büsing 223, 226. v. Buggenhagen 67, 75. v. Bimsen 100.

Calberla 88. Camphausen 173. v. Caprivi 129 f f , 143 ff, 166 f f , 222, 262. Carey 14. Chandos 17. Colbert 7. v. Crailsheim-Amerang 214. Cuny 184.

D.

Dahlmann 1. v. Dechend 207, 221. Delbrück 99, 102, 105. v. Diest-Daber 71, 124, 185, 220. Dürckheim, Graf 62, 67, 71.

264

Register. E.

Eggers-Bremen 71, 205. v. Erffa-Wernburg 121. Eulenburg, Fürst zu 1&6. Eulenburg, Graf v. 89, 156. Eyth 32.

v. Heyden 147. v. d. Heydt 173. Hohenlohe-Schillingsfürst, Fürst zu 157, 162, 235, 236. Holtz 165. Jacobi 219.

F. Fischbeck 183. Flügge 105. v. Forckenbeck 89, 106. Franckenstein 107. v. Frege-Altnaundorf 60, 87, 117,124, 127, 134, 137. Frentzel-Noruszatschen 79. Frese 190. Friedberg 236. Friedrich II. 7. Fritzen 183, 187. Fuchs 189. 0. Galen, Graf v. 165—167. v. Gamp 183, 190. Geibel-Unterrohn 81. Gescher 181. Godeffroy 75. Gontard 88. v. Gronow 27, 31. Günther 79. v. Guttenberg-Würzburg 82. H. Hahn 158, 183, 187 ff. Haller, K. L. 1, 2 ff., 11, 35, 262. Hammacher 226. v. Hammerstein-Loxten 82, 146, 165, 170, 213. Heim 255. v. Helldorf 126. Herbert 171. Herold 257. Hessel 64 ff., 66 ff., 71, 113, 210.

J.

K. v. Kameke 31. Kanitz, Graf v. 123, 140, 143, 150 ff., 158 ff., 182 ff., 187 ff., 233. v. Kardorff-Wabnitz 100, 119, 143, 172, 206, 223, 226, 231, 233, 240, 255, 259. Knauer-Gröbers 125, 129. v. Knebel-Döberitz 181. Koenigs-Köln 226, 228. Kolmar 137. Korn-Breslau 76 ff., 212 ff. Kreuzer 137. v. Kröcher 259. L. Lanbinger-BIankenhagen 112. Lasker 91, 102, 175. Lassalle 26. Lehmann-Gozanowo 209. Lehmann-Radomitz 64, 202, 205. Leuschner 223, 226, 236. Lexis 226 ff. Lieber 141, 235. Liebermann v. Sonnenberg 144, 172, 190, 223. v. Liebig 23. v. Limburg-Stirum 131, 135, 139. List, Fr. 10 ff., 66. Löwe-Berlin 107. Löwe-Bochum 91, 100, 175. Lohren 64, 84, 209. Lötz 226. v. Lucius 107, 126, 127. Lutz 135, 142.

Register/ M. v. Maltzahn-Gültz 102. v. Manteuffei 180. V.Marschall 139, 143, 166, 168. Martineau 15. Maybach 176. v. Mendel 178. Meyer, R. 14, 26, 27, 49 ff., 64 ff. Meyer-Aniswalde 183. Meyer-Hamborg 226. v. Miquel 143, 239. v. Mirbach-Sorquitten 73 ff., 87, 106, 107, 113, 122, 136, 137, 143, 178, 203, 206, 216, 219, 220, 226, 231, 233, 234, 237, 239, 240. Moser 34 ff. v. Mohl 196, 201. Mooren 176, 177. Müller, Adam 7 ff., 8, 10, 11, 12, 34, 262. Müller-Fulda 232. N. Napoleon III. 192. Neustadt-Mannheim 226, 229. Niendorf 27, 30, 61, 66. Nobbe-Niedertopfstedt 76, 110, 146. 0. Oechelhäuser 100. v. Oldenburg-Jannuschau 245. Oriola, Graf 187. P. Faasche 164. Perrot 62, 66, 71, 173, 174, 177. Pierson 233. v. Ploetz-Döllingen 133, 137—139, 142, 143, 167, 166, 184, 190. v. Podbielski 249. Pogge-Roggow 80, 116, 216. Posadowsky-Wehner, Graf v. 226,232, 236, 242, 249, 261.

265

Prince-Smith 201. v. Puttkammer-PIauth 147. R. Rabe 79. Radziwill, Fürst 170. Reder 61, 66. Reichensperger 103. Reinecke 147. v. Remberg-Flamersheim 125. Richter-Hagen 99, 100, 102, 108, 147, 166. Richter-Tharand 76 ff., 211 ff., 214. Rickert 108, 117, 119, 147, 170. v. Rochow 24. Rodbertus 14, 26, 27, 39 ff., 262. v. Roell 31. Rösicke-Görsdorf 136, 137, 243. v. Rothkirch-Schwarzenfels 214. Rotteck 1. Rottmann 76. Rüder 26. Ruhland 168. Ruprecht-Ransern 131, 137. Russel-Berlin 226. S. v. Sänger 26. v. Saucken-Tarputschen 104, 214. Sch&ffle 14. v. Schalscha 223, 226. Schlechtendahl- Barmen 122, 219. Schleiermacher 1. v. Schmoller 94. Schönfeld 75. Schoenlank 184, 189, 235. Schoffer-Kirchberg 214. v. Schorlemer-Alst 91, 93, 119 ff., 226. v. Schraut 222. Schück 76, 87. Schulz-Lupitz 139. Schumacher-Zarchlin 125.

266

Register.

Schwarze 189. Schwarzkopff 86. Schwerin-Löwitz, Graf v. 169. Sering 237. v. Seydewitz 107. Singer 188, 190, 255. Smith, Adam 1, 7. v. Stauffenberg 80, 107. v. Stein 72. v. Stengel 186. Stengel-Heidelberg 81. Stoll-Berlin 224. Stollberg, Graf 62, 109. Stolp 87. Stroell-München 226. Strousberg 175. v. Stumm 104. v. Suchsland 158, 185. v. Sydow-Dobberphul 121, 218. T. Teige 133. v. Tettau 205. Thaer 23. v. Thielemann 207. Thttnen 23.

v. Thüngen-Roßbach 67, 68, 71, 73. 78, 135, 174, 220, 225. Till, V. 150 ff. Träger 188. v. Treitschke 104. v. Treskow 64. V. v. Varnbüler 91, 94, 98. v. Vollmar 165. W. Wagner 231. v. Wangenheim-KI. Spiegel 132, 134, 142, 158, 255, 256. v. Wedell-Malchow 103, 175, 177. v. Wedemeyer 27, 67. Whamcliffe 16, 18. Whiteley 240. Wiggers 175. v. Wilamowitz 64. Wilhelm I. 89, 90. Wilmanns 29, 89, 173. Windthorst 91, 93. Wülfing-M.-Gladbach 226.

II. Sachregister. Die Zahlen bedeuten die Seiten. A. Ackerbau, seine Stellung in der Volkswirtschaft 8, 12, 13, 38. Ackerbau-Gesellschaft, Deutsche 24. Agrarkonferenz von 1894 148. Amortisationszwang bei Realschulden 39, 46, 60, 51, 66. Anerbenrecht 37, 54, 149. B. Bauernbund, Deutscher 129, 137. Bimetallismus 64, 121, 201 ff. Bimetallistenbund, Deutscher 240. Bismarck (Zoll- und wirtschaftspolitisches Programm von 1879) 73—76, 83, 84, 88, 89 ff., 94 ff. Bismarck und der Bund der Landwirte 141. Bismarck und der Bimetallismus 218, 219. Bodenrecht 9. Bodenreformer 56. Börsenenquete 180, 181. Börsengesetz 179—191. Börsenkommissar 188. Börsenreform 169, 173—191. Börsensteuer 173—179. Börsenvorstand, Vertreter der Landwirtschaft im 187. Brotpreise, Ursache der hohen 151. Ihr Verhältnis zu den Getreidepreisen 169. Bund der Landwirte 131 ff., 157, 165, 182—185, 190, 242—244, 247, 248, 250—253, 256, 257, 259.

C. Caprivi und der Bund der Landwirte 138—140, 143. Differentialtarife der Eisenbahn 75, 77, 88, 94. Doppelwährung, internationale, s. a. Bimetallismus 204, 209 ff. Doppeltarif 245, 246. Einfuhrscheine 146. Eisenzölle 27, 68, 90, 103. Erbpacht 36. F. Fortschrittspartei (Freis. Parteien), Stellung der 89, 91, 99, 102, 117, 118, 126, 144, 147, 164, 166, 170, 177, 183, 184, 232, 233, 236. Franckensteinsche Klausel 107. Fränkischer Bauembund 137. Freihandel 9, 11—13, 17, 27, 30, 31, 38, 59—62, 74, 84. Freistamm 36, 37. a. Gesellschaftsvertrag 2, 36. Getreidehandel 9, 12, 38, 150 ff. Getreidepreise, Bedeutung niedriger 21, 106. Getreidepreise, Höhe der 162,153,167. Getreidezölle 11, 12, 69, 77—83, 86, 86, 93, 94, 104, 118, 123, 125, 126, 128, 143, 243, 245, 254—267.

268

Register.

Getreidezoll und Brotpreis 70, 74, 77, 86, 93, 115, 118, 124, 126, 127. Große Mittel 150 ff. Grundbesitzes, Vorschläge zur Entschuldung des 39, 46, 47, 60—52, 56. Grundbesitz 40. (Verschuldung 38,41.) Grundeigentum, Ursprung des 4. Grundherrlichkeit 6, 36. Grundrentensteuer 67.

H. Handelsbilanz 65, 85. Handelsverträge 68, 77, 82, 99, 120, 130, 139, 142 ff., 163, 164, 159, 162, 166, 168, 242 ff. Hypotheken-Kündbarkeit und Grundschuld 36, 44, 46, 149. I. Identitätsnachweis für Getreide und Mehl 109, 127, 1 4 4 Immobiliarkreditnot des Grundbesitzes, Ursachen der 41. Industrie und Landwirtschaft, ihr Bündnis 64 ff., 76, 76, 86, 87, 97, 100, 113, 122—124, 209—211.

Begründung und Verhandlungen des 25—28,84—88,110—113,121—125, 173, 174. Landwirte, Klub der 24. Landwirtschaftsgesellschaft, Deutsche, Begründung der 32, 33. Landwirtschaftsrats, Verhandlungen des Deutschen 28, 50, 7fr—84, 114—117, 125, 211—216, 258, 259. Landwirtschaftskammem 146, 147. Land- und Forstwirte, Wanderversammlungen der 2 4 Leibeigenschaft 35. M. Majorat 8. Meistbegünstigungsklausel 68, 77. Minorat 37. Mittellandkanal 156. Monarchie 3 ff. Müllerei- und Bäckereimonopol (Tillscher Vorschlag) 151. Münzkonferenz, internationale (von 1867) 192. Münzreform, deutsche (von 1873) 196, 197.

K.

N.

Kanitz, Antrag 150—172. Kapitalschuld in der Landwirtschaft 39, 41. Konservative Parteien, Stellung der 91, 99, 102—104, 117, 139, 143, 144, 147, 152, 153, 161, 162, 167, 169, 172, 177, 182, 189, 231 ff., 236, 241, 255, 257.

Nachhypotheken, Ablösung der 51. Nationalliberalen Partei, Stellung der 89, 91, 99, 102, 103, 144, 164, 170, 189, 233, 236, 265, 257. Not der Landwirtschaft 20.

L. Landesökonomiekollegium, preußisches, Begründung und Verhandlungen des 23, 110, 146. Landrentenbriefe 46, 47. Landwirte, Kongreß norddeutscher,

P. Parteien, die politischen P. und Fürst Bismarcks Wirtschaftspolitik 89 ff., 99, 102 ff. Personalkreditnot des Grundbesitzes 44, 48. Produktionskosten des Ackerbaues 152, 153, 165. Produktivassoziation 55.

Register. R. Reichs finanzreform und Zollpolitik 96, 96, 101, 106, 119, 126. Reichstags, Verhandlungen des Deutschen 89, 91,102 ff., 117 ff., 126 ff., 138, 143, 152, 160 ff., 176, 177, 182 ff., 186 ff., 196,197, 206, 231 ff., 241, 248, 249, 253—267. Rentenfonds, Grundbesitz als 36, 46. Rentengüter 54, 56, 149. Rentenkauf 36, 46. Rentenprinzip 45. Republik 3 ff. Romantische Schule der Volkswirtschaft 1—10. S. Schlagworte der Agrarier 14 ff. Schutz der nationalen Arbeit 16, 20, 72, 78, 84, 112, 114. Schutzzoll, Stellung der Agrarier zum 30, 31, 68—88, 110 ff., 121, 123, 242—261. Silberpreise 199. Silberproduktion 193, 200. Silberquote, Erhöhung der 241. Silberverkäufe, deutsche 198—200. Ihre Einstellung 200, 201. Silberwertes, Kommission behufs Erörterungen von Maßregeln zur Hebung und Befestigung des 226-231. Sozialdemokratischen Partei, Stellung der 99, 126, 166, 171, 184, 188, 189, 236, 267. Staat und Kirche 5, 7. Staatstheorien, Carl Ludwig von Haller 2—6; Adam Müller 7—10. Steuern, indirekte 27, 30, 31, 76, 79, 83, 86, 96, 101.

269

T. Terminhandel 189. Tilgungshypothek, unkündbare 60, 61, 56. U. Unabhängigkeit vom Auslande 10,12, 16, 22. V. Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, Begründung und Verhandlungen der 29—31, 59—76, 92,113,114,122,123,146,174—176, 178, 181, 202—206, 208, 215—220, 224, 231, 236, 260, 261. Verschuldungsfrage 34—67, 148. Verschuldungsgrenze 39, 62, 56. Viehzölle 119. W. Währungsfrage 192—241. Währungskonferenz, internationale (zu Paris am 16.—29. August 1878) 206; (zu Paris im Juli 1881) 207, 208; (zu Brüssel im Winter 1892/9») 220—224. Wertzölle 61, 63, 75. Wirtschaftliche Vereinigungen 91, 94, 138, 233. Wollzoll 113, 122, 123, 125. Z. Zentralverband deutscher Industrieller 64, 75, 84, 86, 87. Zentrumspartei, Stellung der 91—93, 141, 143, 144, 154, 166, 169, 183, 189, 232, 236, 265, 267. Zolltarif, autonomer 68, 82. Zolltarifnovelle von 1886 118—121. Zolltarifnovelle von 1897 126—124 Zolltarif von 1902 242—261. Zolltarifs, Reform des deutschen 97 bis 108.