Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens [1. ed.] 9783868549256, 9783868543124


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Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens [1. ed.]
 9783868549256, 9783868543124

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Pierre Rosanvallon

Die Gegen-Demokratie Politik im Zeitalter des Misstrauens Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-925-6 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

© der deutschen Ausgabe 2017 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-312-4 © der Originalausgabe 2014 [2006] by Éditions du Seuil Titel der Originalausgabe: »La contre-démocratie. La politique à l’age de la défiance« Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt Misstrauen und Demokratie (Einleitung) Die Misstrauensgesellschaft Die drei Dimensionen der Gegen-Demokratie Der Mythos vom passiven Bürger Entpolitisiert oder unpolitisch? Die Geschichte der Demokratie neu lesen

I

Die Überwachungsdemokratie Überwachen, denunzieren, benoten Die Wachsamkeit Die Denunziation Die Benotung Die Aufpasser Der wachsame Bürger Der neue Aktivismus Das Internet als politische Form Funktionale Aufsicht durch unabhängige Behörden Interne Prüfungs- und Bewertungsagenturen Der Lauf der Geschichte Drei Phasen Demokratischer Dualismus: eine lange Geschichte Die unmögliche Institutionalisierung Legitimitätskonflikte Feder und Tribüne Die drei Legitimitäten Die neuen Wege der Legitimität

9 11 17 23 26 28 31 36 36 43 53 57 57 60 64 68 70 73 73 79 87 96 96 103 105

II

Souveränität als Verhinderung Vom Widerstandsrecht zur komplexen Souveränität Widerstand und Zustimmung in mittelalterlichen Theorien Das Zeitalter der Reformation Aufklärung, negative Macht und die Volkstribunen Das Experiment der Französischen Revolution Fichte und die Idee eines modernen Ephorats Ein signifikantes Vergessen Die selbstkritischen Demokratien Klassenkampf als negative Politik Die Metamorphosen der Opposition Rebell, Widerstandskämpfer, Dissident Der Niedergang der kritischen Dimension in den Demokratien Die negative Politik Das Zeitalter der »Abwahlen« Prävention und Veto-Macht Schwache Demokratie

III Das Volk als Richter Historische Referenzen Das Beispiel Griechenland Das englische impeachment Der amerikanische recall Die Quasi-Gesetzgeber Die demokratische Jury Die Produktion konkurrierender Normen Schattenlegislatoren Die Vorliebe für das Urteil Zur Verrechtlichung des Politischen Das Rechtfertigungsgebot Die Pflicht zur Entscheidung Der aktive Betrachter Die Macht der Theatralität Der Raum des Exemplarischen Wählen und Urteilen

111 116 116 118 123 126 130 134 137 138 142 145 152 156 156 162 167 173 178 178 184 188 194 194 199 203 206 206 209 211 212 214 216 218

IV Die unpolitische Demokratie Ohnmachtsgefühle und Formen der Entpolitisierung Das Zeitalter des Unpolitischen Der Horizont der Transparenz Die beiden Formen der Entpolitisierung Die populistische Versuchung Eine Pathologie der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie Populismus und Gegen-Demokratie Lektionen in unpolitischer Ökonomie Ein Wort kehrt zurück Die ökonomische Funktion der Überwachung Der Markt oder Triumph des Vetos Unpolitische Ökonomie

Das gemischte System der Moderne (Schluss) Die neuen Wege der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie Die Gegen-Demokratie konsolidieren Die Demokratie repolitisieren Das gemischte System der Moderne Der Gelehrte und der Bürger Bibliografie Personenregister Zum Autor

225 230 230 233 235 241 241 243 249 249 250 256 258 263 264 271 277 283 285 287 309 318

Misstrauen und Demokratie (Einleitung) Das demokratische Ideal herrscht mittlerweile uneingeschränkt, und doch stehen die Systeme, die sich auf dieses Ideal berufen, fast überall unter heftiger Kritik. Das ist das große politische Problem unserer Zeit. Der Vertrauensverlust der Bürger in ihre Führer und in die politischen Institutionen ist deshalb eines der Phänomene, das die Politikwissenschaften in den letzten zwanzig Jahren am gründlichsten untersucht haben. Inzwischen liegt eine Reihe wichtiger – vergleichender wie länderspezifischer – Studien vor, die in dieser Angelegenheit eine eindeutige Diagnose zulassen. Auch die Analyse der zunehmenden Wahlenthaltung hat eine umfangreiche Literatur hervorgebracht. Bezeichnenderweise bleiben selbst die Demokratien jüngsten Datums von diesem Problem nicht verschont, wie die Situation in den Ländern des ehemals kommunistischen Ostblocks sowie in den einstigen Diktaturen Asiens oder Lateinamerikas belegt. Wie sind diese gemeinhin als Ausdruck einer »Krise«, eines »Unbehagens«, einer »Abkehr« oder eines »Versagens« wahrgenommenen Tatsachen zu bewerten? Heutzutage überwiegen Interpretationen, die häufig ein ganzes Sammelsurium von Gründen anführen, wie den wachsenden Individualismus und seine Konsequenzen, den ängstlichen Rückzug in die Privatsphäre, das Nachlassen des politischen Willens, den Aufstieg von Eliten, die immer weniger Bezug zum Volk haben. Häufig ist von einem »Niedergang des Politischen« zu hören, und die Schuld dafür wird mal bei den Regierenden gesucht, die verblendet seien oder sich ihrer Verantwortung entzögen, mal bei den Regierten, die resigniert seien oder jedes Interesse an der Politik verloren hätten. Es fehle etwas oder es sei etwas aufgegeben worden, wird beklagt; die 9

heutigen Demokratien seien von ihrem ursprünglichen Modell abgewichen oder hätten ihre anfänglichen Verheißungen verraten. Solche Einschätzungen sind heute allenthalben zu finden, sie verbinden misslaunige oder verbitterte Kommentare zur Gegenwart mit nostalgischer Sehnsucht nach einer maßlos idealisierten Vergangenheit der Bürgergesellschaft. Bisweilen braut sich in den Untiefen dieser Enttäuschung sogar ein dumpfer Hass auf die Demokratien zusammen. Das vorliegende Werk verfolgt andere Spuren, um die gegenwärtige Verfasstheit der Demokratien zu verstehen. Es ist insbesondere darum bemüht, den Analyserahmen zu erweitern, indem es die Geburtsfehler der parlamentarischen Regierungsform in ein dynamisches Verhältnis zu den Reaktionen der Gesellschaft setzt. Denn historisch betrachtet ist die Demokratie stets als Versprechen und Problem zugleich in Erscheinung getreten. Als Versprechen auf ein System, das mit den Bedürfnissen der Gesellschaft in Einklang steht, einer Gesellschaft, die ihrerseits auf dem Wahrwerden eines doppelten Imperativs, dem der Gleichheit und der Unabhängigkeit, basiert. Als Problem insofern, als die Realität von der Umsetzung dieser hehren Ideale oft weit entfernt war. Selbst dort, wo man versucht hat, das demokratische Projekt zu verwirklichen, ist es entweder grob verfälscht, subtil verkürzt oder systematisch blockiert, jedenfalls nie zu Ende geführt worden. Streng genommen haben wir bisher eigentlich noch kein vollkommen »demokratisches« System erlebt. Die real existierenden Demokratien sind unvollendet geblieben, wenn nicht ins Gegenteil verkehrt worden, in einem Ausmaß freilich, das von Fall zu Fall stark variierte. Deshalb waren Enttäuschungen auch ständige Wegbegleiterinnen der Hoffnungen, die der Ausbruch aus der Welt der Abhängigkeit und des Despotismus genährt hatte. Der Grundsatz, Regierungen durch den Wählerwillen zu legitimieren, ging stets mit Misstrauensbekundungen der Bürger gegenüber den etablierten Mächten einher. Schon in dem berühmten Agreement of the People, dem ersten demokratischen Manifest der Neuzeit, das am 1. Mai 1649 in London veröffentlicht wurde, tritt dieser Dualismus von Vertrauen und Misstrauen auf exemplarische Weise zutage. Garantie der Bürgerrechte und der Religionsfreiheit, Einführung von Geschworenengerichten, allgemeines Wahlrecht, Beschränkung der Wahlmandate, strikte Unterord10

nung der militärischen unter die zivile Gewalt, Zugang aller zu öffentlichen Ämtern, all die Grundsätze, um derentwillen die Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts geführt wurden, finden sich bereits in diesem bahnbrechenden Text vorformuliert. Bezeichnenderweise spricht dieses Dokument jedoch zugleich von der »leidvollen Erfahrung« mit der Korruption der Mächtigen, von der Gefahr, dass sich, allen Vorkehrungen zum Trotz, Partikularinteressen durchsetzen und die Repräsentativregierung in eine neue Form von Herrschaft umschlägt. Die Bedingungen, unter denen eine Macht als legitim zu betrachten ist, werden also im gleichen Atemzug formuliert wie ein »Misstrauensvorbehalt« gegenüber jeder Macht.

Die Misstrauensgesellschaft Die Geschichte der realen Demokratien ist von permanenten Spannungen und Konflikten nicht zu trennen. Diesem Umstand wurde auf zweierlei Weise Rechnung getragen. Zunächst durch eine Vielzahl von Vorschlägen und Experimenten, die darauf abzielten, die Defizite des Parlamentarismus auszugleichen. Indem man beispielsweise die Frequenz der Urnengänge erhöhte, direktdemokratische Mechanismen implementierte oder versuchte, die Rechenschaftspflicht der Mandatsträger zu verstärken. In jedem dieser Fälle ging es um eine Verbesserung der »Wahldemokratie«. Parallel dazu bildete sich ein komplexes Ensemble informeller gesellschaftlicher Praktiken, Prüfungen und Gegenkräfte, aber auch Institutionen, heraus, das dazu gedacht war, den Vertrauensverlust durch eine organisierte Form von Misstrauen wettzumachen. Man kann Demokratie weder denken noch ihre Geschichte erzählen, ohne diese Mechanismen zu behandeln. Es sind somit zwei Dimensionen zu berücksichtigen, will man die Dynamik der diversen demokratischen Experimente korrekt erfassen: zum einen die Funktionalität und Dysfunktionalität der parlamentarisch-repräsentativen Institutionen, zum anderen die Herausbildung dieses Misstrauensuniversums. Bisher hat sich die Aufmerksamkeit der Historiker und politischen Theoretiker vornehmlich auf die erste Dimension konzentriert. Ich selbst habe eine systematische Erfassung dieses Feldes vorgenommen und in diesem Zusammenhang die Spannungen, die die Institutionen der Staatsbürgerschaft, der Repräsentation und der Souveränität strukturieren, eingehend 11

analysiert.1 Jetzt ist es an der Zeit, sich der zweiten Dimension zuzuwenden. Sicherlich waren die diversen Äußerungen dieses Misstrauens schon oft genug Gegenstand punktueller Untersuchungen, die sich solchen Themen widmeten, wie der Geschichte der Widerstände gegen die Ausdehnung staatlicher Macht, der Soziologie des nachlassenden Bürgerengagements oder der Abkehr vom politischen System usw. Auf diese Weise gerieten einzelne Aktionsformen und spezifische Einstellungen in den Blick. Sie wurden jedoch nicht in einen Gesamtrahmen gestellt, sondern allenfalls auf eine sehr allgemeine und unverbindliche Art dem Kampf für ein Leben in einer gerechteren und freieren Welt zugeordnet. Gegenstand des vorliegenden Werkes ist hingegen, diese Misstrauensäußerungen in einem umfassenden Kontext zu betrachten, innerhalb dessen ihre grundlegendsten Eigenschaften ein zusammenhängendes und schlüssiges Ganzes ergeben, kurzum, sie als Elemente eines politischen Systems zu begreifen. Ziel ist es, auf dieser Grundlage zu einem erweiterten Verständnis der Funktionsweise, Geschichte und Theorie der Demokratien zu gelangen. Um das Problem richtig einzuordnen, sei zunächst darauf verwiesen, dass der Ausdruck dieses Misstrauens zwei große Richtungen eingeschlagen hat, eine liberale und eine demokratische. Das liberale Misstrauen gegenüber der Macht ist oft theoretisch untermauert und kommentiert worden. Montesquieu hat ihm seine gültige Formulierung gegeben,2 und die Gründerväter des amerikanischen Systems haben es in eine konstitutionelle Form gegossen. Während der ganzen Zeit, in der über die amerikanische Verfassung diskutiert wurde, war jemand wie Madison von der Vorstellung geradezu besessen, einer 1

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Vgl. meine Trilogie: Le Sacre du citoyen. Histoire du suffrage universel en France; Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France; La Démocratie inachevée. Histoire de la souveraineté du peuple en France. Es sei, der Information halber, an Montesquieus Formulierung in Vom Geist der Gesetze (1758) erinnert: »[E]s ist eine ewige Erfahrung, daß jeder, der Macht hat, ihrem Mißbrauch geneigt ist; er geht so weit, bis er auf Schranken stößt. So unwahrscheinlich es klingt: selbst die Tugend bedarf der Begrenzung. Um den Mißbrauch der Macht zu verhindern, muß vermöge einer Ordnung der Dinge die Macht der Macht Schranken setzen« (Buch XI , Kap. 4, Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band 1, S. 213).

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Anhäufung von Machtbefugnissen vorzubeugen. Seine Absicht war weniger, eine gute und starke, auf dem Vertrauen der Bevölkerung basierende Regierung zu begründen, als eine schwache Macht zu installieren und dem Argwohn eine institutionelle Form zu geben. Er zielte mehr darauf ab, den Einzelnen vor dem Zugriff der Staatsgewalt zu schützen, als den Bürger zum Souverän zu erheben. Auf französischer Seite vertraten Benjamin Constant oder Sismondi vergleichbare Positionen. Für den Ökonomen Sismondi, der zugleich einer der großen politischen Theoretiker des frühen 19. Jahrhunderts war, bestand der Schlüssel zu der Art von Regierungsform, die ihm vorschwebte, in der »beständige[n] Geneigtheit zum Widerstande«3. Für Autoren wie ihn war die Erinnerung an die Feudalzeit prägend. Sie wollten jede Rückkehr zur Despotie ausschließen. Mehr Demokratie bedeutete in diesem Fall automatisch, mehr Argwohn gegenüber den Staatsorganen.4 Benjamin Constant ging noch weiter in diese Richtung und behauptete, Freiheit bedinge einen systematischen Gegensatz zwischen öffentlicher Meinung und den Regierungsvertretern; er sprach sogar von der Notwendigkeit einer »Überwachung durch den Haß«5. Seine eigentliche Originalität liegt allerdings anderswo, nämlich in der Tatsache, dass er als Erster deutlich unterschied zwischen einem »alten« Misstrauen, das der Ablehnung einer Willkürherrschaft über die Gesellschaft entsprang, und einem »modernen« Misstrauen, das auf der Erkenntnis beruhte, dass auch die neuen, aus dem Gemeinwillen hervorgegangenen Systeme auf Abwege geraten könnten. Unter Verweis auf das »furchtbare Beispiel« Robespierres betonte er die Kluft, die sich 1793 in Frankreich aufgetan habe zwischen einem politischen Prozess, im Zuge dessen »[d]as allgemeine Vertrauen […] ehrenhafte Männer zu hohen Verwaltungsposten emporgetragen« habe, und der Tatsache, dass Letztere »zugelassen [hätten], daß Mörderbanden sich bildeten«.6 Für Constant war das Vertrauen in die Demokratie folglich 3

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Sismondi, Forschungen über die Verfassungen der freien Völker, S. 346. »[U]nter die Bürgschaft dieser Geneigtheit«, so Sismondi weiter, müssten »alle […] Einrichtungen gestellt [werden]« (ebd.). Vgl. die Einleitung von Mark E. Warren zu Democracy and Trust. Constant, »Über die Stärke der gegenwärtigen Regierung Frankreichs und die Notwendigkeit, sich ihr anzuschließen«, S. 82. Ebd.

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selbst etwas, das begrenzt werden musste. Als mit der charte constitutionnelle von 1830 die parlamentarische Monarchie und damit das politische System eingeführt wurde, das er schon immer befürwortet hatte, begrüßte er den Text mit der unvermittelten Bemerkung, dass »jede [gute] Verfassung ein Akt des Misstrauens« sei.7 Das liberale Misstrauen ist hier als eine »präventive Macht« zu verstehen, um mit einem treffenden Ausdruck Bertrand des Jouvenels zu sprechen.8 Sie nimmt deshalb bewusst eine zögerliche und pessimistische Haltung gegenüber der Demokratie ein. Misstrauen heißt in diesem Fall Zweifel an der Volksmacht, Angst vor ihren Irrtümern, Bedenken gegenüber der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts. Daneben gibt es aber noch ein weiteres, nämlich demokratisches Verständnis von Misstrauen. Dessen Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass die gewählten Repräsentanten ihre Zusagen einhalten, bzw. Druck auszuüben, damit die eigentliche Bestimmung der Regierung, dem Gemeinwohl zu dienen, gewahrt bleibt. Es ist dieses demokratische Misstrauen, das uns in diesem Buch interessiert, da uns Misstrauen in einem posttotalitären Zeitalter vornehmlich in dieser Form begegnet. Ein solches demokratisches Misstrauen kennt viele Wege, um sich auszudrücken und Gestalt anzunehmen. Ich werde im Folgenden drei Haupttypen unterscheiden: Überwachungsbefugnisse, Verhinderungsformen und Urteilsprüfungen. Im Rahmen der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie umreißen diese drei Gegenmächte also die Konturen dessen, was ich als Gegen-Demokratie bezeichnen möchte. Diese Gegen-Demokratie ist nicht das Gegenteil von Demokratie. Sie ist vielmehr jene Form von Demokratie, die die übliche Wahldemokratie abstützt, nach Art eines Strebepfeilers, die Demokratie der indirekten Kräfte, die sich über die Gesellschaft verteilen, die permanente Demokratie des Misstrauens gegenüber der punktuellen Demokratie der Wählerlegitimation. Diese Gegen-Demokratie ist somit Bestandteil eines umfassenderen Systems, das die rechtmäßigen demokratischen Institutionen einschließt. Sie ist bestrebt, diese Institutionen zu ergänzen und ihre Wirkungen zu verstärken; sie fungiert als deren Widerlager. Sie muss deshalb als eine wahrhaft politische Form 7 8

Courrier français, 5. November 1829, in: Constant, Recueil d’articles, S. 53. De Jouvenel, »The Means of Contestation«.

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verstanden und analysiert werden, die zu beschreiben und zu bewerten Thema dieser Arbeit ist. Die Bedeutung dieses politischen Misstrauens demokratischen Typs ist umso größer, als die Gegenwartsgesellschaften ohnehin durch einen allgemeinen Vertrauensverlust in ihre Funktionstüchtigkeit und eine entsprechende Zunahme von Misstrauensreaktionen geprägt sind. Dieser Anbruch einer Misstrauengesellschaft lässt sich anhand dreier Faktoren, eines wissenschaftlichen, eines ökonomischen und eines soziologischen, erklären. Der wissenschaftliche Faktor ist von Ulrich Beck in seinem Buch Risikogesellschaft gut herausgearbeitet worden.9 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der banale Befund, dass wir in eine Welt eingetreten sind, die mit dem Technikoptimismus, der bis in die 1960er Jahre vorherrschte, gebrochen hat. Das Zeitalter der Katastrophen und Ungewissheiten, in dem wir inzwischen leben, hat ein Verständnis moderner Industrie und Technologie befördert, das diese eher mit dem Begriff des Risikos als dem des Fortschritts assoziiert. Diese Risikogesellschaft ist, strukturell gesehen, eine Gesellschaft des Misstrauens gegenüber der Zukunft. Das Problem ist aber, dass die Bürger trotz allem auf die Wissenschaftler angewiesen bleiben, denn sie verfügen über keine eigenständigen Kriterien zur Beurteilung der relevanten Fragen. Die Rolle der Wissenschaftler erscheint somit als unverzichtbar und problematisch zugleich. Die Bürger haben also keine andere Wahl, als die Wissenschaftler zu zwingen, Rede und Antwort zu stehen und Rechenschaft über ihr Tun abzulegen. Die Strategie besteht darin, Misstrauen in einem positiven Sinne zu instituieren, als eine Art Sicherung, als Vorkehrung zum Schutz gesellschaftlicher Interessen. Zu Recht haben die Kommentatoren Becks auf das Paradoxe dieser Strategie aufmerksam gemacht: »Wenn der Bürger die Probleme lösen will, die von den Experten weder vorhergesehen noch verhütet wurden, ist er ihnen erneut ausgeliefert. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als ihnen weiter eine Vollmacht auszustellen, allerdings in dem verstärkten Bemühen, Maßnahmen zu ihrer Kontrolle und Überwachung zu finden.«10 Der Wandel des wissenschaftlich-technischen Universums hat somit zur Entstehung 9 10

Beck, Risikogesellschaft. Callon/Lascoumes/Barthe, Agir dans un monde incertain, S. 311.

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bestimmter Formen gesellschaftlichen Misstrauens geführt. In diesem Zusammenhang wird gern auf das »Vorbeugeprinzip« verwiesen, doch wird dieser Begriff dem Phänomen nur bedingt gerecht (das in seinem Bereich gewisse Ähnlichkeiten mit der liberalen Gewaltenteilung in dem Feld der Politik aufweist). Auch auf makroökonomischer Ebene nimmt das Vertrauen ab. Definiert man Letzteres als eine Form des Wissens, das die Formulierung von Hypothesen über ein zukünftiges Verhalten ermöglicht, so kommt man tatsächlich an der Feststellung nicht vorbei, dass dieses Wissen, das im vorliegenden Fall »Konjunkturprognose« heißt, sich verringert. Tatsächlich sind mittel- und langfristig verlässliche Voraussagen nicht mehr möglich, weil die dafür zuständigen Institutionen dazu entweder technisch außerstande sind oder in der Vergangenheit zu oft danebenlagen, um noch glaubwürdig zu sein. Die Zeiten, in denen das französische Parlament noch darüber abstimmte, welche Wachstumsraten in den kommenden fünf Jahren erreicht werden sollten, gehören offenkundig einer längst vergangenen Epoche an (obwohl Wirtschaftsplanung noch vor dreißig Jahren wie selbstverständlich in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers fiel). Der Eintritt in eine weniger vorhersehbare, weil von offeneren und komplexeren Interaktionssystemen beherrschte Wirtschaftswelt trägt somit ebenfalls zur Stärkung des Misstrauens bei, zumal es sich in diesem Fall mit dem weit verbreiteten Gefühl verbindet, dass staatliches Handeln in der Wirtschaft ohnehin nichts ausrichten könne. Neben wissenschaftlichen und ökonomischen Faktoren sind auch soziologische Mechanismen für das Entstehen einer Misstrauensgesellschaft verantwortlich. In einer »Entfremdungsgesellschaft«, um die Formulierung Michael Walzers aufzugreifen, erodieren die materiellen Grundlagen gesellschaftlichen Vertrauens; die Menschen verlassen sich weniger aufeinander, weil sie sich nicht mehr gut genug kennen. Mangelndes Vertrauen in andere und Misstrauen gegenüber den Regierenden stehen in unmittelbarer Beziehung, wie groß angelegte Vergleichsstudien gezeigt haben: Brasilien, das Land, das in Sachen politischen Misstrauens alle Rekorde bricht, ist zugleich das Land, in dem die Werte für zwischenmenschliches Vertrauen am niedrigsten liegen. Dänemark, wo die Situation genau umgekehrt ist, zeigt, dass ein großes Vertrauen in andere mit einer weniger argwöhnischen 16

Haltung gegenüber den Regierenden einhergeht.11 Bezeichnenderweise wird Korruption umso eher toleriert, je größer die Enttäuschung über die Demokratie ist.12 Demokratisches Misstrauen und strukturelles Misstrauen überschneiden und verstärken sich wechselseitig. Die Summe dieser verschiedenen Faktoren ist dafür verantwortlich, dass man vom Anbruch einer »verallgemeinerten Misstrauensgesellschaft« spricht, wenn von der heutigen Welt die Rede ist.13 Eine solche Gesellschaft bildet den Hintergrund, vor dem die Transformationen der Demokratie, die uns hier interessieren, zu betrachten sind.

Die drei Dimensionen der Gegen-Demokratie Beginnen wollen wir mit den Überwachungsbefugnissen. Um sie ursächlich zu begreifen und ihre Entstehung nachzuvollziehen, sei daran erinnert, dass der Gedanke der Volkssouveränität sich historisch gesehen auf zweierlei Weise artikulierte. Zum einen über das allgemeine Wahlrecht, das Recht der Bürger, ihre Führer selbst zu wählen. Das ist der bekannteste und direkteste Ausdruck des demokratischen Prinzips. Doch das Recht, in regelmäßigen Abständen zu wählen und dadurch eine Regierung zu legitimieren, ging fast stets mit dem Wunsch einher, eine dauerhaftere Kontrolle über die gewählte Regierung auszuüben. Denn die Bindung durch den Wahlakt erschien von vornherein als unzureichend, um die Repräsentanten zu zwingen, ihren Verpflichtungen treu zu bleiben. Zwar glaubte man zeitweilig, die Beziehung zu den Wählern dadurch enger knüpfen zu können, dass man sie Formen des imperativen Mandats annehmen ließ. Doch diese Pra11

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Nur 2,8 % der Brasilianer geben an, dass man im Allgemeinen »den meisten Menschen trauen kann«, eine Zahl, die in Dänemark auf 66,50 % steigt (in Frankreich sind es 22,2 %, was am unteren Ende der Skala liegt). Vgl. Inglehart u.a., Human Beliefs and Values. Vgl. Moreno, »Corruption and Democracy. A Cultural Assessment«. Vgl. für Frankreich die Euro-RSGG -Umfrage, La Société de défiance généralisée: enquête sur les nouveaux rapports de force et les enjeux relationnels dans la société française, Juli 2004. Es sei betont, dass sich vor diesem Hintergrund der aktuelle Boom soziologischer und philosophischer Arbeiten zum Vertrauensbegriff erklärt. Vgl. insbesondere die Arbeiten von Russel Hardin, Diego Gambetta und Mark E. Warren. Auf Französisch vgl. Mangematin/Thuderoz, Des mondes de confiance, und Mangematin/Thuderoz/Harrison, La Confiance. Approches économiques et sociologiques.

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xis erwies sich als unvereinbar mit den Erfordernissen einer offenen parlamentarischen Diskussion (denn eine wirkliche Debatte setzt voraus, dass man seine Meinung ändern kann, nachdem man die Argumente der Gegenseite gehört hat). Weshalb man schließlich überall auf das imperative Mandat verzichtete und stattdessen nach anderen, mittelbareren Wegen suchte, die Demokratie zu verwirklichen. An die Stelle einer »utopischen Repräsentation«, bei der die Meinung der Repräsentanten völlig deckungsgleich wäre mit der ihrer Wähler, trat die konkrete Praxis einer permanenten Infragestellung, eines Drucks auf die Gewählten, dessen Wirkung sich auf unspezifischere und äußerlichere Weise geltend machte. Die Suche nach einer »Gegenmacht«, die sie zugleich stabilisieren und ihren Kurs korrigieren würde, blieb so ein ständiges, untergründig vorhandenes Moment im Leben der Demokratien. Die Französische Revolution bestätigte erstmals eindrucksvoll, welcher zentrale Stellenwert diesem Dualismus von Macht und Gegenmacht zukam. Schon 1789 entstand ein Wort zur Bezeichnung dieser komplementären Form von Souveränität, die man herbeizuführen gedachte, um das Ideal einer den Gemeinwillen verkörpernden Regierung zu verwirklichen: surveillance (Überwachung). Die nimmer ruhende Wachsamkeit des Wächter-Volkes wurde als das große Heilmittel gegen institutionelle Fehlentwicklungen angepriesen, insbesondere um zu kurieren, was man als repräsentative Entropie bezeichnen könnte (das heißt, die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Wählern und Gewählten). Später, während der jakobinischen Schreckensherrschaft, kam der Begriff »Überwachung« wegen seiner Nähe zur Tyrannei der revolutionären Clubs und Ausschüsse in Verruf und wurde anschließend aus dem politischen Vokabular verbannt. Wohlgemerkt, das Wort, nicht die Sache selbst. Denn die Zivilgesellschaft hat es sich nie nehmen lassen, die Regierung auf mancherlei Weise und vielerlei Wegen zu beaufsichtigen, zu kontrollieren, zu begutachten und auf die Probe zu stellen. Diese Befugnisse haben sich sogar beträchtlich erweitert. Während die institutionelle Ordnung der parlamentarischen Demokratien in den letzten zweihundert Jahren mehr oder minder stabil geblieben ist (hinsichtlich der Vorstellung von Repräsentation, der Wahrnehmung von Verantwortung, der Rolle von Wahlen), sind diese Überwachungsbefugnisse in erheblichem Maße ausgebaut und diver18

sifiziert worden. Wir werden der Reihe nach ihre drei wesentlichen Erscheinungsformen untersuchen: Wachsamkeit, Denunziation und Benotung. Jede trägt dazu bei, die Legitimation durch Wahlen in jene umfassendere Form gesellschaftlicher Legitimation einzubetten, die das Reputationskapital einer Person oder eines Systems darstellt. Denn die genannten Mechanismen wirken sich zunächst dahingehend aus, dass sie die Reputation einer Macht auf den Prüfstand stellen. Reputation ist auch eine Art von »unsichtbarer Institution« und bildet als solche einen der konstitutiven Faktoren des Vertrauens. Diese Prüfverfahren teilen mehrere Eigenschaften: Sie zeichnen sich durch Permanenz aus (während Wahlen nur gelegentlich stattfinden); sie können durch Einzelpersonen, nicht nur durch Organisationen angewendet werden; sie erweitern und erleichtern die Einflussnahme der Gesellschaft auf die Regierung (wie schon John Stuart Mill bemerkte: Man kann nicht alles tun, aber man kann alles kontrollieren). Deshalb ist diese »Überwachungsdemokratie« aktuell auf dem Vormarsch. Die Vermehrung von Sanktions- und Präventionsbefugnissen bildet die zweite strukturimmanente Dimension des Misstrauens in der Gegen-Demokratie. Im Geist der Gesetze traf Montesquieu die in seinen Augen zentrale Unterscheidung zwischen Handlungsrecht [faculté d’agir] und Verhinderungsrecht [faculté d’empêcher]. Er verwies auf ein Missverhältnis, dessen Bedeutung in dem Maße zunahm, wie die Bürger erfahren mussten, dass die Mandatsdemokratie zur Verwirklichung ihrer Ziele und Hoffnungen nur bedingt geeignet ist. Da die Bürger letztlich wenig Handhabe besaßen, um die Regierungen zu zwingen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen oder bestimmte Entscheidungen zu treffen, gewannen sie über vermehrte Sanktionen gegenüber der Staatsmacht eine Form von Handlungsfähigkeit zurück. Somit zeichnete sich im Schatten der »positiven Demokratie« – des Wählervotums und der gesetzlichen Institutionen – allmählich ab, was man »negative gesellschaftliche Souveränität« nennen könnte. Diese Entwicklung hat vor allem einen »technischen« Grund: Blockademaßnahmen erzeugen wirklich sichtbare und greifbare Resultate. Zu erreichen, dass ein Gesetzesentwurf zurückgezogen wird, entspricht voll und ganz der Intention des Akteurs, während die Frage, ob genug Druck ausgeübt wurde, um die Durchsetzung einer erwünschten Politik zu erzwingen, in jedem Fall kontroverser beurteilt werden 19

wird. Der Wille kommt in einem Blockadeakt stets vollständig zum Zuge, weil es dabei um eine eindeutige und klare Entscheidung geht, die umsetzt, was mit ihm inhaltlich gemeint oder beabsichtigt ist. Das Mandat oder die bloße Genehmigung besitzen diese Eigenschaften nicht, die Frage, inwieweit der Wille sich realisieren lässt, bleibt in diesem Rahmen tatsächlich offen, weil die Zukunft ungewiss und die Handlungsweise des Bevollmächtigten nicht vorherbestimmt ist. Die der Mandatsdemokratie immanente Spannung, die das Versprechen oder die Zusage erzeugt, wird im Rahmen einer negativen Demokratie überwunden. Zudem ist aus soziologischer Sicht offenkundig, dass negative Koalitionen leichter herzustellen sind als positive Mehrheiten. Denn sie kommen mit ihren Widersprüchen besser zurecht. Mehr noch, es ist gerade ihre Heterogenität, aus der sich die Leichtigkeit ihres Zustandekommens und ihres Erfolges erklärt. Solche reaktiven Mehrheiten brauchen nicht kohärent zu sein, um eine Wirkung zu erzielen. Ihre Macht ist umso größer, als im Rahmen der Widerstände, die sie zum Ausdruck bringen, die Intensität der Reaktionen eine wesentliche Rolle spielt. Auf der Straße, im medienwirksamen Protest oder im symbolischen Ausdruck geht es um mehr als Arithmetik. Wirklich handlungsfähige gesellschaftliche Mehrheiten sind hingegen viel schwerer zu bilden. Denn sie setzen naturgemäß entweder einen passiven Konsens oder eine positive, bewusste Übereinkunft voraus. Sie können sich nicht, wie das bei Wählermehrheiten oder mehr noch bei reaktiven Koalitionen oft der Fall ist, auf Missverständnisse und Unklarheiten gründen. Sie sind daher anfälliger und unbeständiger. Die Erfahrung zeigt übrigens, dass ein Politiker leichter durch ungeschickte Aussagen Stimmen verliert, als er durch originelle oder mutige Stellungnahmen gewinnt. Volkssouveränität äußert sich somit mehr und mehr als eine Macht der Verweigerung, ob im periodischen Wahlverhalten oder in den permanenten Reaktionen auf Regierungsentscheidungen. Auf diese Weise wird die ursprüngliche programmatische Demokratie [démocratie de projet] durch eine neue prohibitive Demokratie [démocratie de rejet] überlagert. Die Souveränität des Volkes äußert sich in Gestalt einer Veto-Macht. Die demokratische Regierung wird nicht mehr allein durch ein Genehmigungs- und Legitimierungsverfahren definiert. Ihre Struktur verdankt sich fortan we20

sentlich der permanenten Auseinandersetzung mit verschiedenen Vetokategorien vonseiten gesellschaftlicher Gruppen bzw. politischer oder wirtschaftlicher Kräfte. Daher rührt der verschiedentlich geäußerte Gedanke, dass die politischen Systeme inzwischen weniger durch ihren institutionellen Aufbau im engeren Sinne (präsidiales oder parlamentarisches, Zwei- oder Mehrparteiensystem usw.) charakterisiert seien als durch die Art und Weise, wie die Bedingungen politischen Handelns durch die Blockademöglichkeiten der verschiedenen Akteure vorstrukturiert sind. Ein drittes konstitutives Element der Gegen-Demokratie ist die zunehmende Bedeutung des Volkes als Richter. Dieser Umstand findet in der Verrechtlichung des Politischen seinen sichtbarsten Ausdruck. Es scheint, als würden die Bürger mittlerweile von juristischen Prozessen die Resultate erwarten, die sie sich von Wahlen vergeblich erhofft hatten. Diese Verrechtlichung steht im Zusammenhang mit der nachlassenden Bereitschaft der Regierungen, auf die Forderungen der Bürger zu reagieren. Man verlangt von den Regierungen umso mehr, dass sie präzise Rechenschaft ablegen (Prinzip der accountability), je weniger sie für die Erwartungen der Gesellschaft empfänglich zu sein scheinen (Prinzip der responsiveness). Wir sind auf diesem Wege von Auseinandersetzungsdemokratien zu Beschuldigungsdemokratien übergegangen. Es ist in den letzten zwanzig Jahren zu einem Gemeinplatz geworden, auf Grundlage dessen von einem Aufstieg des Richters zur politischen Instanz zu sprechen. Allerdings erfasst dieser Befund nur einen kleinen Teil des Problems. Das Wesentliche ergibt sich erst aus einem Vergleich der Eigenschaften von Wählen und Urteilen. Die gegenwärtige Präferenz für das Urteilen bekommt nur dann einen Sinn, wenn man sie auf die spezifischen Eigenschaften dieses Aktes als Modus der Entscheidungsfindung bezieht. Ob es sich um die Regeln der Beweisführung, die Formen von Theatralik oder die Art der Bezugnahme auf das Partikulare handelt, der Prozess als Verfahren zur Überprüfung eines Verhaltens hat sich so nach und nach zu einer metapolitischen Form entwickelt, die den Wahlen insofern als überlegen gilt, als sie konkretere Resultate zeitigt. Das Volk der Wähler aus dem Gesellschaftsvertrag wurde somit immer massiver überlagert von den Gestalten des Volkes als Wächter, des Volkes als Vetomacht und des Volkes als Richter. Da21

raus entstanden indirekte Formen der Souveränitätsausübung, die von den Verfassungen nicht vorgesehen sind. Man kann diese Souveränität insofern als indirekt bezeichnen, als sie durch eine Reihe von Effekten gebildet wird, ohne von einer offiziellen Machtinstanz auszugehen oder sich in Form expliziter, politisch zu nennender Entscheidungen zu äußern. Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie und die Gegen-Demokratie der indirekten Befugnisse müssen zusammengedacht werden, um die tatsächliche Dynamik gesellschaftlicher Machtaneignung in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Der übliche Gegensatz von realer und formaler Demokratie erscheint deshalb in diesem breiteren Kontext als wenig erhellend. Die bloße Unterscheidung in direkte und repräsentative Regierungsformen erweist sich ebenfalls als nicht sonderlich fruchtbar. Derart eng gefasste Kategorisierungen sollten zukünftig zugunsten einer mehrdimensionalen Sicht der demokratischen Betätigung aufgegeben werden. Daraus resultiert die Möglichkeit, eine erweiterte Grammatik des gemeinsamen Regierens zu erarbeiten. In seinem Gesellschaftsvertrag war Rousseau bestrebt, die Definition dessen, was einen Bürger ausmacht, zu »verkomplizieren«. Er wollte das einfache Wahlrecht ergänzen um die Rechte, seine Meinung zu äußern, Vorschläge zu machen, zu bestreiten und zu diskutieren.14 In einem klassischen Essay jüngeren Datums regte Albert Hirschman an, das Vokabular kollektiven Handels um die Ausdrücke voice, exit und loyalty zu bereichern (die man mit Protest oder kritische Wortmeldung, Abwendung und zustimmendes Desinteresse übersetzen könnte15). Unter Berücksichtigung der Gegen-Demokratie können wir dieses Lexikon um die Begriffe Wachsamkeit, Benotung, Druck durch Enthüllung, Obstruktion, Urteilsfindung erweitern. Primäres Ziel 14

15

Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Buch V, Kap. 1, S. 142. In seinen Briefen vom Berge (7. Brief) bemerkte er im gleichen Sinne: »Zum Beispiel überlegen [délibérer], beratschlagen [opiner], stimmen [voter] sind drei sehr verschiedene Dinge, welche die Franzosen nicht genug unterscheiden. Überlegen heißt das Für und Wider abwägen, beratschlagen heißt seine Meinung sagen und seine Gründe vorbringen, stimmen heißt seine Stimme geben, wenn nur noch die Stimmen zu sammeln sind« (Kulturkritische und politische Schriften, Bd. 2, S. 296–297). Vgl. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch.

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des vorliegenden Buches ist es, diese verschiedenen Aspekte von Gegen-Demokratie theoretisch zu entfalten und ihre Geschichte zu schreiben.

Der Mythos vom passiven Bürger Unter dem Gesichtspunkt der Gegen-Demokratie betrachtet, verändern sich die Begriffe, in denen die Frage der politischen Partizipation zu stellen ist, und geben Anlass, das alte Lied von der Demokratieverdrossenheit zu überdenken. Zwar deuten alle Indikatoren für das Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen unverkennbar auf einen starken Abwärtstrend hin.16 Auch die zunehmende Wahlenthaltung stellt ein Faktum dar, das seit etwa zwanzig Jahren in fast allen Ländern zu beobachten ist.17 Allerdings sollten diese Daten mit Vorsicht interpretiert werden;18 und vor allem sollten sie einem allgemeineren Verständnis der Wandlungen bürgerschaftlichen Engagements zugeordnet werden. Die Politikwissenschaften bemühen sich seit Langem darum, Formen »unkonventioneller Beteiligung« zu erfassen, und sind dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass diese auch dort zunehmen, wo der Gang zu den Urnen offenkundig nicht mehr so häufig angetreten wird. Die Zahlen für die Beteiligung an Streiks und Demonstrationen, das Unterzeichnen von Petitionen, das Bekunden kollektiver Solidarität in Notsituationen legen nahe, dass wir keineswegs in ein neues Zeitalter politischer Apathie eingetreten sind und

16 17 18

Für einen aktuellen Überblick siehe Dogan (Hg.), Political Mistrust and the Discrediting of Politicians. Vgl. zum Beispiel die von Capdevielle (Démocratie: la panne) und Franklin u.a. (Voter Turnout) zusammengetragenen Daten. Der Umfang der Stimmenthaltung muss langfristig betrachtet werden, da Beteiligungskonjunkturen auch von der Art der jeweiligen Wahlen abhängen können. Schon zur Zeit der Französischen Revolution kam es zu starken Schwankungen (Michelet notierte, dass 1791 »das Volk zu Hause geblieben« sei, während es 1790 massiv abgestimmt habe). Auch das Phänomen der Gelegenheitswähler ist hier zu beachten; man sollte diesbezüglich eher von »Beteiligungskarrieren« sprechen (für Frankreich siehe Héran, »Voter toujours, parfois … ou jamais«, sowie Clanché, »La participation électorale au printemps 2002«). Politikwissenschaftler unterscheiden auch zwischen »aktiven« [dans le jeu] und passiven [hors jeu] Nichtwählern.

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dass die Annahme eines vermehrten Rückzugs in die Privatsphäre unbegründet ist.19 Es empfiehlt sich also, eher von einem Wandel als einem Niedergang des bürgerschaftlichen Engagements zu sprechen. Zugleich haben sich das Repertoire, die Medien [vecteurs] und die Ziele [cibles] des politischen Ausdrucks diversifiziert. Während politische Parteien schrumpften, erlebten Interessengruppen [advocacy groups] und Vereine aller Art einen Aufschwung. Die Rolle der großen Vertretungsund Verhandlungsagenturen hat sich zusehends verringert, während Ad-hoc-Organisationen aus dem Boden schossen. Die Bürger haben inzwischen viele Möglichkeiten jenseits des Wahlzettels, um ihre Sorgen und Beschwerden zu artikulieren. Das Phänomen der Stimmenthaltung oder des Vertrauensverlustes muss also in eine erweiterte Analyse des Formenwandels demokratischer Betätigung eingebettet werden. Zwar ist der Wahlakt der sichtbarste und institutionell am stärksten verankerte Ausdruck von Staatsbürgerschaft. Er steht seit Langem als Symbol für die Idee politischer Partizipation und ziviler Gleichheit. Doch dieser Begriff von Partizipation ist komplex. Er beinhaltet nämlich drei Dimensionen der Interaktion zwischen Bevölkerung und politischer Sphäre: Ausdruck, Mitwirkung und Intervention. Ausdrucksdemokratie bedeutet, dass die Gesellschaft sich zu Wort meldet, dass sie kollektive Gefühle äußert, Urteile über die Regierenden und ihr Handeln formuliert oder auch Forderungen erheben kann. Die Mitwirkungsdemokratie umfasst die Gesamtheit der Mittel, durch welche die Bürger sich verständigen und aufeinander beziehen, um eine gemeinsame Welt zu erzeugen. Die Interventionsdemokratie wiederum wird durch alle Formen kollektiven Handelns gebildet, die auf die Erreichung eines erwünschten Resultats abzielen. Das demokratische Leben baut auf diesen drei Formen politischer Betätigung auf. Das Besondere an den Wahlen ist, dass sie diese verschiedenen staatsbürgerlichen Existenzweisen (die zugleich verschiedenen »Momenten« des öffentlichen Lebens entsprechen) praktisch 19

Vgl. beispielsweise aus der umfangreichen Literatur zum Thema: Norris, Democratic Phoenix. Reinventing Political Activism. Ebenfalls empfehlenswert Perrineau (Hg.), L’Engagement politique. Déclin ou mutation?, sowie Arnaud/ Guionnet (Hg.), Les Frontières du politique.

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zur Deckung bringen wollen; die Stimmabgabe sollte der Inbegriff des politischen Engagements, seine sichtbarste und konzentrierteste Form sein. Im goldenen Zeitalter der Wahlbeteiligung war diese allumfassende und integrative Dimension des Wählens zudem untrennbar mit ihrer identitären Dimension verbunden. Das Wahlverhalten war weniger Ausdruck einer individuellen Präferenz als Demonstration einer kollektiven Zugehörigkeit.20 Viele Forscher, von André Siegfried bis zu den politischen Soziologen der 1960er Jahre, haben auf diese Eigenschaft verwiesen. Die Geschichte der Demokratie wurde lange Zeit mit einem Konzentrationsprozess des politischen Feldes gleichgesetzt, innerhalb dessen der langwierige Kampf um die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts zugleich als Mittel und Symbol fungierte. In diesem Kontext sind die aktuellen Veränderungen der Demokratie zu sehen: Während die Wahldemokratie unbestreitbar erodiert, haben sich die Ausdrucks-, Mitwirkungs- und Inventionsdemokratie entwickelt und gefestigt. Man kann also davon ausgehen, dass der passive Bürger in jeder Hinsicht ein Mythos ist.21 Dieser Wandel der politischen Betätigung ist inzwischen in einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten sowie einer umfangreichen, stärker politisch motivierten Literatur dokumentiert. Dennoch ist die theoretische Einordnung dieser Phänomene bislang erst im Ansatz erfolgt. Davon zeugt nicht zuletzt das Vorläufige der Begriffe, die zu ihrer Bezeichnung dienen. So sprechen die Politikwissenschaftler seit gut zehn Jahren mal vom Aufkommen »unkonventioneller« Politikformen, mal von neuer »Protestpolitik« [protest politics] oder »Zivilbürgerschaft«, um jene mannigfaltigen Erscheinungen zu beschreiben, die das Entstehen ungewohnter politischer Interventions- und Reaktionsarten belegen. Im Milieu der direkter involvierten politischen Aktivisten macht sich ebenfalls ein neuartiges Vokabular breit. Man spricht von

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Die Politikwissenschaften der 1960er Jahre haben so das »Michigan-Paradigma« formuliert (nach der Universität, an der die entsprechenden Forschungen durchgeführt wurden), beruhend auf dem Nachweis, dass sich die Wähler nicht aufgrund ihrer (sehr geringen) politischen Kenntnisse entscheiden, sondern nach Maßgabe frühzeitig erworbener parteipolitischer Identitäten. Man sollte auch die Tatsache erwähnen, dass die Bürger sich besser informieren. Vgl. die Daten bei Schweisguth, »La dépolitisation en questions«, S. 56–57.

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»Bewegungslinker«, von »Nichtregierungspolitik«,22 von »Politik der Regierten«.23 Auch Begriffe wie Antimacht oder Gegenmacht finden häufig Verwendung,24 während viele Zirkel sich daranmachen, die Arbeiten Michel Foucaults zur modernen Gouvernementalität neu zu lesen. Der Begriff der Gegen-Demokratie muss auch unter diesem Gesichtspunkt gedacht werden. Er kann diesen verschiedenen Welten eine gemeinsame Sprache und geistige Kohärenz geben, indem er einen systematischen Rahmen zur Beschreibung dieser vielfältigen Transformationen der Gegenwartsdemokratie bereitstellt und sie in den Kontext einer umfassenden Demokratietheorie integriert.

Entpolitisiert oder unpolitisch? Gibt es auch keine Entpolitisierung im Sinne eines verringerten Interesses an öffentlichen Angelegenheiten oder eines nachlassenden Bürgerengagements, so hat sich gleichwohl eine bestimmte Art der Beziehung zum Wesen des Politischen verändert. Doch ist sie anderer Natur, als gewöhnlich unterstellt wird. Das heutige Problem ist nicht die Passivität, sondern das Unpolitische [impolitique]25, das heißt das Fehlen eines globalen Verständnisses für die mit dem Aufbau einer gemeinsamen Welt verbundenen Probleme. Das Spezifische an den verschiedenen Figuren der Gegen-Demokratie, die wir im Folgenden untersuchen werden, ist nämlich, dass sie zu einer Vergrößerung der Distanz zwischen der Zivilgesellschaft und den Institutionen führen. Sie entfalten so eine Art Gegenpolitik, basierend auf der Kontrolle, der Begrenzung, der Opposition gegen die Staatsorgane, die zu erobern kein vorrangiges Ziel mehr ist. Diese Gegenpolitik äußert sich auf zweierlei Art. Zunächst führen die verschiedenen Mechanismen oder Verhaltensweisen, die dabei ins Spiel kommen, dazu, die Attribute der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Welt aufzulösen. Als wesentlich 22 23 24 25

Vgl. beispielsweise die Arbeit, die Zeitschriften wie Multitudes oder Vacarme in Frankreich leisten. Vgl. Chatterjee, The Politics of the Governed. Vgl. Benasayag/Sztulwark, Du Contre-pouvoir, sowie Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Ich verwende diesen Ausdruck im wörtlichen Sinne, anders als Roberto Esposito in Catégories de l’impolitique. Über die anderen Verwendungsweisen dieses Begriffes siehe auch Balibar, »Qu’est-ce que la philosophie politique?«.

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reaktive sind sie ungeeignet, ein kollektives Projekt zu befördern und zu strukturieren. Diese unpolitische Gegen-Demokratie zeichnet sich also dadurch aus, dass sie eine demokratische Betätigung mit nicht politischen Wirkungen kombiniert. Genau aus diesem Grund fällt sie nicht unter die üblichen Klassifizierungen politischer Systeme, sondern bildet eine eigene Form, die sich den traditionellen Unterscheidungen entzieht, die weder liberal noch republikanisch, weder repräsentativ noch direktdemokratisch ist. Die disparaten Formen dieser Gegen-Demokratie haben des Weiteren zur Folge, dass ihre Sichtbarkeit und vor allem ihre Lesbarkeit vermindert wird. Allerdings sind Letztere zwei unverzichtbare Eigenschaften des Politischen an sich. Es gibt keine Politik, wenn Handlungen nicht ein und derselben Erzählung zugeordnet oder auf einer einzigen öffentlichen Bühne dargestellt werden können. Die Entwicklung gegen-demokratischer Formen weist somit einen zugleich komplexen und problematischen Charakter auf. Komplex, weil sich positive Elemente der Zunahme gesellschaftlicher Macht mit den Verlockungen populistischer Reaktion vermischen. Problematisch, weil der Wandel in Richtung »ziviler Demokratie«, den sie vorantreibt, zu Fragmentierung und Zerstreuung führt, wo Kohärenz und Gesamtheit eigentlich zwingend geboten wären. Es war übrigens das Wissen um diese Zweideutigkeiten, das mich dazu bewogen hat, den auf den ersten Blick schockierenden Neologismus »Gegen-Demokratie« zu prägen. Seine irritierenden Konnotationen eignen sich bestens dazu, das Widersprüchliche der Misstrauenspraktiken hervorzuheben. Sie fördern eine wohltuende Wachsamkeit seitens der Bürger und tragen auf diese Weise dazu bei, die staatlichen Instanzen für gesellschaftliche Forderungen empfänglicher zu machen, sie können bisweilen aber auch destruktive Formen von Ablehnung und Verleumdung begünstigen. Die Gegen-Demokratie bestätigt nicht nur, sie kann auch widersprechen. In diesem Buch findet sich eine »Rehabilitierung« der Misstrauenspraxis, weil sie zutiefst liberal und demokratisch zugleich ist. Allerdings eine hellsichtige Rehabilitierung, die die möglichen Fehlentwicklungen dieser Praxis sorgsam registriert. Das ist, wie mir scheint, der tiefere Grund für die Entzauberung der zeitgenössischen Demokratien. Sie rührt nicht nur aus einer Enttäuschung her, die auch überwunden werden könnte (indem man bei27

spielsweise die Verfahrensweisen des repräsentativen Systems verbessert), sondern verdankt sich der strukturellen Aporie, die aus der Kombination von Demokratischem und Unpolitischem resultiert. Diese Einsicht bildet die Grundlage, auf der unser Nachdenken über die Entstehungsbedingungen eines neuen Zeitalters der Demokratien letztlich beruht.

Die Geschichte der Demokratie neu lesen Der von mir gewählte Ansatz ermöglicht es auch, einen neuen Blick auf die Geschichte der Demokratie zu werfen. Die verschiedenen Arten indirekter Macht, die wir erwähnt haben, zeichnen sich dadurch aus, dass sie zugleich »post-« und »prädemokratisch« sind. Postdemokratisch in dem Sinne, dass sie Reaktionen auf die nicht gehaltenen Versprechen der repräsentativen Regierungen sind, die im 17. und 18. Jahrhundert in den Niederlanden, in Großbritannien, in den Vereinigten Staaten und in Frankreich aus den Kämpfen gegen den Absolutismus hervorgingen. Und prädemokratisch insofern, als die Wahrnehmung von Überwachungs- und Widerstandsbefugnissen in vielen Fällen die allererste Etappe auf dem Weg menschlicher Emanzipation war. Das Recht auf Widerstand gegen die Tyrannei etwa wurde im Mittelalter formuliert, als sich noch niemand etwas unter Volkssouveränität vorstellen konnte. Desgleichen wurden Regierungen schon lange kontrolliert und bewertet, bevor die Idee aufkam, sie aus Wahlen hervorgehen zu lassen. Deshalb müssen wir uns von den traditionellen, allzu gradlinigen Geschichten der Demokratie verabschieden, die die allmähliche Annäherung an einen Idealtypus, den langsamen Übergang von einem System der Knechtschaft zu vollendeter Autonomie unterstellen. Tatsächlich haben das »Alte« und das »Neue«, »Liberalismus« und »Demokratie«, die informelle gesellschaftliche Macht und die regulären Institutionen ständig miteinander koexistiert. Die Gegen-Demokratie mag früher vorhanden gewesen sein als die parlamentarisch-repräsentative Demokratie, doch beider Geschichten bilden ein komplexes Geflecht, das im Folgenden entwirrt werden soll. Das bedeutet auch, dass die Sozial- und die Institutionengeschichte der Demokratie nicht zu trennen sind. Denn als grundsätzlich »soziale« ist die Gegen-Demokratie materielle Macht, praktischer Widerstand, unmittelbare Reaktionsbereitschaft. Sie ist ihrem Wesen 28

nach Frage, Sanktion und Anfechtung. Während die parlamentarisch-repräsentative Demokratie dem gemächlichen Gang der Institutionen folgt, äußert sich die Gegen-Demokratie auf permanente Weise und gehorcht keinem institutionellen Zwang. Sie verkörpert gewissermaßen die Demokratie in ihrer Unmittelbarkeit. Dieser Ansatz führt dazu, Geschichte und politische Theorie enger zusammenzudenken, gemäß der Methode, die ich bereits in meinen letzten Büchern verwendet habe. Die Geschichte muss, ich habe wiederholt darauf verwiesen, als tätiges Labor unserer Gegenwart verstanden werden, nicht nur als deren Hintergrundbeleuchtung. Das Leben der Demokratie besteht nicht darin, sich an einem Idealmodell zu messen, ihr geht es zunächst darum, Probleme zu lösen. Deshalb empfiehlt es sich, von dem Gedanken Abstand zu nehmen, es habe ein eindeutig formuliertes und explizit infrage gestelltes »Originalmodell« der Demokratie gegeben. Von der Komplexität des Realen und seiner aporetischen Dimension auszugehen, eröffnet einen produktiveren Zugang zum Politischen »an sich«, ermöglicht es uns, zu seinem Kern vorzustoßen und es in seinem Gewordensein zu erforschen. Die Geschichte liefert der Theorie nicht bloß eine Sammlung von Beispielen: sie dient vielmehr als Experimentierfeld und Prüfstand für Weltanschauungen. Weswegen ich mir vorgenommen habe, jenen Punkt zu erreichen, wo sich die Neugier des Historikers und die Strenge des politischen Philosophen in ihren Ambitionen vereinen. Politik als Experimentierfeld zu verstehen, drängt sich in noch stärkerem Maße auf, wenn man die Gegen-Demokratie untersucht. Mag zur Beschreibung der Institutionen bisweilen die formelhafte Sprache der Lehrbücher ausreichen, so sind die Überwachungs- und Verhinderungsbefugnisse nur in dem Maße zu erfassen, wie sie praktisch in Aktion treten. Diese Sicht der beiden Seiten der Demokratie als Formen lebendiger Praxis ist nicht nur von methodologischer Relevanz. Sie ermöglicht es auch, sich den vergleichenden Studien des Politischen in anderer Weise zuzuwenden. Wird Demokratie im klassischen Sinne aus einer normativen Perspektive betrachtet, ist ein nützlicher Vergleich eigentlich ausgeschlossen: es sind lediglich Erfolge oder Fehlschläge zu verzeichnen, verschiedene Grade des Gelingens zu unterscheiden, Typologien zu erstellen. Es besteht dann die 29

große Gefahr, dass man partikulare Werte als universelle ausgibt oder spezifische Mechanismen für unantastbar erklärt. Geht man hingegen von den Problemen aus, die die Demokratie zu lösen hat, zum Beispiel die Spannung zwischen soziologischem und politischem Repräsentationsprinzip26, ist es viel leichter, die Vielfalt nationaler oder historischer Erfahrungen im gleichen Rahmen zu betrachten. Die Vorzüge eines vergleichenden Vorgehens dieser Art treten beim Studium gegen-demokratischer Phänomene noch deutlicher zutage. Denn die Gegen-Demokratie zeichnet sich, wie erwähnt, dadurch aus, dass sie prä- und postdemokratisch zugleich ist. Sie existiert als reine Gegenmacht oder in Form solcher Mächte, die man als »komplementär« bezeichnen könnte. Wenn man die Analyse derart erweitert, gelangt man automatisch zu einer »Entwestlichung« des Blicks. Denn Überwachungspraktiken, Äußerungen einer souveränen Prohibitivmacht, Mechanismen der Urteilsprüfung gibt es fast überall. Es gibt sie und es gab sie, historisch gesehen, die Voraussetzungen für eine allgemeine und vergleichende, Zeit und Raum umspannende Betrachtung sind also vorhanden. Der Wunsch, die Gegenwart besser zu verstehen, ist unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr zu trennen von dem Bestreben, den langen Kampf von Männern und Frauen für den Aufbau eines freien Gemeinwesens im globalen Maßstab zu denken.

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Vgl. Rosanvallon, Le Peuple introuvable.

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I

Die Überwachungsdemokratie

Der Begriff der Überwachungsmacht hat eine lange Geschichte. Schon in den Anfängen der Französischen Revolution wurde die Notwendigkeit heraufbeschworen, auf eine solche Macht zurückzugreifen, um dem Hang der Repräsentanten entgegenzuwirken, sich zu verselbstständigen und, nach dem berühmten Wort Mirabeaus, in »eine Art De-facto-Aristokratie« zu verwandeln. Ein Mitglied der Konstituante sprach in diesem Sinne vom »Bedarf der Nation nach einem Wächter über die Repräsentanten eben dieser Nation«.1 »Freunde der Freiheit, möge eine ständige Aufsicht uns vor den Gefahren schützen, denen wir ausgesetzt wären, läge unser Schicksal gänzlich in den Händen unserer Minister«, mahnte seinerseits der streitbare Leitartikler von La Bouche de fer.2 Eine einflussreiche Schriftstellerin der Zeit drückte es in ähnlichen Worten aus: »Die Repräsentativregierung wird bald die korrupteste aller Regierungen sein, wenn das Volk aufhört, seine Repräsentanten zu kontrollieren.«3 Das wachsame Auge des Volkes trat in diesem Zusammenhang als zentrales Thema der revolutionären Ikonografie in Erscheinung. Man fand es auf Medaillen oder Siegeln, es bildete ein allgegenwärtiges Motiv in den unzähligen allegorischen Darstellungen der Volksmacht, in denen sich der Zeitgeist spiegelte. Man erwartete von dieser beaufsichtigenden Gegenmacht, dass sie das Versagen des Repräsentativsystems kompensiert, dass sie hilft, die Enttäuschungen zu überwinden, die aus den Schwierigkeiten der Vertrauensbildung erwuchsen. Sie wurde als Mittel verstanden, das Misstrauen zur aktiven demokratischen Tugend zu erheben. »Schmäht mir 1 2 3

Archives parlementaires de France (im Folgenden A.P.), 1. Serie, Bd. IX , S. 61. La Bouche de fer, Beilage zur Nr. 70, 21. Juni 1791, S. 1. Madame Rolland, Brief vom 31. Juli 1791, in: Landauer (Hg.), Briefe aus der Französischen Revolution, S. 366. Die Franzosen, heißt es weiter, »geben sich ganz dem Vertrauen hin, und auf die Weise richtet man die Freiheit zugrunde. Freilich ist dieses Vertrauen außerordentlich bequem; es entbindet von der Pflicht zu wachen, zu denken und zu urteilen« (ebd.).

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das Misstrauen nicht, patriotische Gesetzgeber«, appellierte Robespierre aus diesem Grund. »Das Misstrauen ist, was immer ihr darüber denkt, der Hüter der Volksrechte; es ist für das tief empfundene Gefühl der Freiheit, was die Eifersucht für die Liebe ist.«4 Die Erfahrung der Französischen Revolution erweiterte somit das staatswissenschaftliche Vokabular der Zeit, um eine derart in Grundzügen entworfene neue Macht einzuschließen. Der Gedanke der Überwachung wurde seinerzeit mit einem anderen dringenden Gebot verknüpft: dem nach Durchsetzung der neuen Figur der gesellschaftlichen Allgemeinheit, die über den Begriff der öffentlichen Meinung in den Köpfen verankert werden sollte. Aufrufe zur Kontrolle des Staates durch die öffentliche Meinung wurden in diesen Jahren populär, weil sie eine Sprach- und Bilderwelt bereitstellten, um das große Problem der Zeit zu lösen: das der Volkssouveränität. Sie gab der wuchtigen Abstraktion Rousseaus eine für alle lesbare und verständliche Gestalt. Denn der Gedanke der Überwachung übersetzte den Begriff der Souveränität gleichsam ins Vertraute; er machte ihn zugänglich, handhabbar, befreite ihn von seiner frostigen Unnahbarkeit. Der Bezug auf die öffentliche Meinung erfüllte auf soziologischer Ebene die gleiche Funktion. Er machte die Figur der Gesellschaft als neuem Souverän erfahrbar, gab ihr ein Alltagsgesicht. Das Volk thronte somit nicht länger als unsichtbarer und schweigsamer Gott auf seinem Olymp.5 Über die Gespräche der Menschen auf der Straße ebenso wie in den unzähligen Zeitungskommentaren, also in seinem gewöhnlichsten Ausdruck, nahm es eine unmittelbar konkrete Form an. »Volk ist ein leeres Wort, wenn es nicht öffentliche Meinung bedeutet«, notierte in diesem Sinne ein bedeutender Publizist.6 Ohne diese Meinungsäußerung, fügte er hinzu, »hat das Volk keinen Namen mehr, ist es ein rein metaphysisches Wesen; es ist nicht einmal ein entseelter Körper, sondern ein Leichnam«. Der Bezug auf die öffentliche Meinung ermöglichte somit, das Problem zu lösen, wie der Gemeinwille sich Ausdruck verschafft. Die öffentliche Meinung war für die 4 5 6

Zitiert nach Jaume, Le Discours jacobin et la Démocratie, S. 197. Vgl. diesbezüglich Rosanvallon, Le Peuple introuvable. Louis-Marie Stanislas Fréron, L’Orateur du peuple, Nr. XXXVI , 7. Frimaire des Jahres II , S. 284.

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Protagonisten von 1789 eine Macht, die sich überall und jederzeit manifestierte, ohne als Bild oder Institution einen festen Ort einzunehmen. Sie wurde deshalb zur umfassenden Verkörperung des Volkes in seiner aktiven und permanenten Anwesenheit. Auch wenn das Wort Überwachung, durch die Exzesse der Schreckensherrschaft kompromittiert, in der Folgezeit aufgegeben wurde, hatten der Grundgedanke und die Praxis gleichwohl Bestand. Es existiert also eine ganze Dimension der modernen Politik, ihre verborgenere und wandlungsfähigere Seite, deren Geschichte erzählt und deren Formen sorgfältig analysiert werden müssen. Dieser Dimension Rechnung zu tragen, führt, um es gleich vorwegzusagen, zur Beschreibung eines Machtuniversums, das sich stark von den theoretischen Paradigmen der Sozialwissenschaften in den 1970er Jahren unterscheidet. Seit den bahnbrechenden Arbeiten von Michel Foucault wurde auf den Begriff der »Überwachungsgesellschaft« vornehmlich Bezug genommen, um ein Ensemble von Instrumenten zu bezeichnen, mittels derer die Machtinstanzen immer tiefer in den Intimbereich der Menschen eindringen, um ihre Herrschaft zu festigen. Das Bild des Panoptischen, das Foucault aus Benthams Gefängnisutopie entlehnte, versinnbildlichte Form und Methoden dieser Überwachung. Die Vorstellung einer Macht, deren Effizienz auf dem unsichtbaren Wirken einer permanenten, die Gesamtgesellschaft erfassenden Kontrolle beruht, setzte sich so in den Köpfen als adäquate Beschreibung der Realität fest. Zwar haben die Fortschritte der Technik, von der elektronischen Datenverarbeitung bis zu den Überwachungskameras im städtischen Raum, sowie die Entwicklung immer ausgeklügelterer Systeme zur Steuerung des individuellen Verhaltens diesen Orwell’schen Visionen eine gewisse Plausibilität gegeben. Doch das sollte nicht dazu verleiten, das umgekehrte Phänomen zu unterschätzen: die Überwachung der Macht durch die Gesellschaft. Denn die Gegen-Demokratie verwendet, allerdings zugunsten der Gesellschaft, ähnliche Kontrollmechanismen wie die von Foucault beschriebenen. Wachsamkeit, Denunziation und Benotung sind deren drei wesentliche Modalitäten.

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Überwachen, denunzieren, benoten Die Wachsamkeit Wachsam, auf der Hut oder in Alarmbereitschaft sein, das sind grundlegende Bürgertugenden. Originäre Eigenschaften obendrein, schon der Bürger der Antike hätte sich nicht vorstellen können, auf den Status des gelegentlichen Wählers reduziert zu werden. Eine solche Wachsamkeit bedeutet zugleich Kontrollieren und Agieren. Kontrollieren insofern, als die Maßnahmen der Regierenden ständig mit einem argwöhnischen Blick betrachtet werden. »Ein freies Volk«, schrieb Anacharsis Cloots, der »Redner des Menschengeschlechts«, während der Französischen Revolution, »ist ein Argus, es sieht alles, es hört alles, es ist überall, es schläft nie.«1 Wachsamkeit korrigiert das Diskontinuierliche der Urnengänge, indem sie das Volk zu ständiger Einsatzbereitschaft erzieht, indem sie das »schlummernde Volk«, von dem Locke und Rousseau sprechen, in einen sprungbereiten Riesen verwandelt. Insofern beschreibt Wachsamkeit eine Disposition: Präsenz, Aufmerksamkeit. In der politischen Sprache der 1960er und 1970er Jahre benutzte man den Begriff »Mobilisierung«, um den Zustand zu bezeichnen, in dem eine militante Gruppe sich befinden sollte, um ihren Anforderungen gerecht zu werden. Mobil zu sein, war weniger eine Voraussetzung des Handelns als eine Form von Präsenz der Welt und den Dingen gegenüber. Das Spezifische einer solchen Disposition ist, dass sie nicht nur denjenigen kennzeichnet, der sie aufweist, sondern dass sie zur Entstehung einer globalen Eigenschaft des öffentlichen Raumes beiträgt. Daneben muss man Wachsamkeit auch als Handlungsweise verstehen. Sie »produziert« zwar nichts aus sich heraus, kann deshalb 1

Cloots, Écrits révolutionnnaires, S. 110.

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aber noch nicht als bloß passive Haltung gewertet werden. Sie definiert eine spezielle Form politischer Intervention, die weder der Sphäre der Entscheidungsfindung noch der Willensbetätigung angehört. Sie erzeugt zunächst Möglichkeiten und Begrenzungen, indem sie ein allgemeines Handlungsfeld absteckt. In einem anregenden Essay, Über die Wirksamkeit, hat der Philosoph und Sinologe François Jullien in diesen Begriffen analysiert, was ihm den wesentlichen Unterschied zwischen westlichem und chinesischem Handlungsverständnis auszumachen schien.2 Auf westlicher Seite setzte sich, von Machiavelli bis Schopenhauer, die Vorstellung durch, ein Reich des Subjekts zu errichten, eines situationsbeherrschenden Menschen, der den Dingen den Stempel seines Willens aufdrückt und die Welt in ein Feld zur Erprobung seiner Fähigkeit verwandelt, sich in radikaler Schöpfung oder der Überwindung von Widerständen selbst zu verwirklichen. Handeln wird in diesem Fall als Zusammenprall zweier Welten verstanden, als Sache der Eroberung und Domestizierung. Nichts dergleichen in der chinesischen Sichtweise: Das Wesentliche liegt hier in einer Achtsamkeit auf die Welt, die es ermöglicht, permanent von ihren Spannungen zu profitieren und ihre Eigenschaften optimal zu nutzen. Macht auszuüben besteht also nicht darin, Kräfte zu entfalten, sondern sich von einer sorgfältigen Beobachtung des Terrains leiten zu lassen und das den Situationen innewohnende Potenzial konsequent auszuschöpfen. Einer Psychologie des Willens haben, wie Jullien schreibt, die Chinesen eine »Phänomenologie der Wirkung« vorgezogen. Es ist leicht zu erkennen, welche Unterschiede sich daraus in strategischer Hinsicht ergeben können. Im Westen das Clausewitz’sche Auge in Auge mit dem Feind bis zur großen finalen Konfrontation, im Osten die von Sun Tzu gelehrte Kunst der Schlachtvermeidung unter dauernder und diskreter Nutzung der in den Situationen angelegten Möglichkeiten. Daraus resultieren verschiedene Auffassungen von Wirksamkeit und Erfolg, sowie, letzten Endes, natürlich auch zwei Sichtweisen des Politischen. Der westlichen Kunst des Regierens von oben, der gewaltsamen Erzwingung, steht die Vorstellung einer nahezu unsichtbaren Regierung von unten gegenüber, 2

Jullien, Über die Wirksamkeit, sowie ders., Vortrag vor Managern über Wirksamkeit und Effizienz in China und im Westen.

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die darin besteht, die anderen unmerklich zur Annahme der eigenen Position zu bewegen, indem man die Rahmenbedingungen ihres Handelns entsprechend modifiziert. Es soll den Historikern überlassen bleiben, die Stichhaltigkeit eines solchen Vergleichs zwischen den beiden Welten zu beurteilen. Man kann diese begriffliche Unterscheidung aber auch als idealtypisch betrachten, in dem Sinne, dass sie zwei mögliche Modalitäten jedes politischen Handelns definiert. Übrigens lassen sich selbst im Westen Spuren der zweiten, der fernöstlichen Vorstellung von Macht nachweisen. Es wäre nämlich ein Leichtes zu zeigen, dass die Überlegungen des europäischen Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert zur Frage der Regierungsführung dem entsprechen, was Jullien als Besonderheit des chinesischen Denkens ansieht.3 Um meinen früheren Gedankengang wieder aufzugreifen: Man kann die beiden Kategorien der traditionellen politischen Entscheidungsfindung und der Wachsamkeit im Rahmen einer solchen Unterscheidung denken. Wachsamkeit ist, wenn man so will, »Nichthandeln« oder »Schlachtvermeidung«, aber sie zeitigt politische Wirkungen und lenkt auf ihre Art die Welt. Wollte man das Ganze in einem zeitgemäßeren Vokabular ausdrücken, könnte man sagen, dass sich zwei Arten von Kontrolle gegenüberstehen: die der Polizeistreife und die des Feueralarms.4 Die Polizeistreife entspricht der Standardvorstellung von staatlichem Handeln als etwas, das an bevollmächtigte Agenten übertragen wird. Sie übt eine direkte, konzentrierte, zielstrebige Kontrolle aus. Der Feueralarm hingegen ist ein dezentrales System, das eine Vielzahl von Maßnahmen beinhaltet. Außerdem zeichnet er sich wesentlich dadurch aus, dass er nicht nur Fachleute auf den Plan ruft. Denn die Feuerwehr kann nur eingreifen, 3

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Vgl. meine Ausführungen zu den Begriffen »innere Regierung« und »Regierung der Köpfe« in Le Moment Guizot. Zur Entstehung der liberalen Theorie der Regierungsführung, vgl. auch Foucault, Geburt der Biopolitik, und Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. In letzterem Werk entwickelt Foucault die Idee einer »Pastoralmacht« als »individualisierende Macht«, die definiert sei durch die Funktionen des Wachens und Überwachens (S. 191–194). Es sei auch an seine Bemerkung erinnert, dass Regieren bedeute, »das Verhalten der anderen zu lenken« (Freiheit und Selbstsorge, S. 25). McCubbins/Schwartz, »Congressional Oversight Overlooked. Police Patrols versus Fire Alarms«.

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wenn Privatpersonen zuvor Alarm geschlagen haben. Ihre Wirksamkeit hängt von einer breit gestreuten sozialen Aufmerksamkeit ab. Zu diesem Modell des Feueralarms muss man die Effizienz der Wachsamkeit in Beziehung setzen. Diese Effizienz tritt vornehmlich als ein Resultat in Erscheinung, in dem sich der Zustand der Gesellschaft spiegelt. Sie ist deshalb aber nicht weniger real und vielleicht sogar besser als das, was durch staatliches Handeln erreicht wird.5 Die Geschichte des Wortes »Überwachung« [surveillance] ist übrigens eine interessante. Es tauchte zuerst in den späten 1760er Jahren in den ökonomischen Abhandlungen der Physiokraten auf. Baudeau und Dupont de Nemours benutzten es erstmals 1768, um eine Handlungsweise bzw. einen Regelmechanismus zu bezeichnen, der sich gleichermaßen vom Vorgehen der Polizei wie vom Gleichgewicht des Marktes unterschied. »Es gibt sicherlich etwas«, schrieben sie, »worauf die Behörden achten müssen, denen die Einhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung obliegt: Streitigkeiten und Tumulte, Diebstähle und Handgreiflichkeiten auf den Märkten zu verhindern. Dazu bedarf es einer Überwachung [surveillance].«6 Der von ihnen angestrebte Wächterstaat war ein aktiver, kein Laissez-faire-Staat. Gleichwohl definierte er einen neuen Typ von Macht, der auf der Kategorie der Aufmerksamkeit, nicht mehr der der Intervention beruhte. Im Sinne eines wachsamen Staates (und insofern sehr verschieden vom überkommenen liberalen Bild eines passiven Nachtwächterstaates) sollte diese Überwachung eine »dauerhafte und umfassende«7 sein. Es ging um ein indirektes Regieren, das einen dritten Weg der Steuerung einschlägt, nämlich den einer lenkenden Hand, angesiedelt zwischen der unsichtbaren Hand des Marktes und der eisernen Faust traditioneller staatlicher Souveränität. Die wesentlichen Funktionen der neuen souveränen Macht, die die Physiokraten begründen wollten, bestanden darin, »zu wachen, zu wahren und zu schützen«.8 Sie sollte auf diese Weise unauffällig die Ordnung der Welt sicherstellen. 5 6 7 8

Das ist die Schlussfolgerung, zu der die Autoren des obigen Artikels gelangen. Baudeau/Dupont de Nemours, Avis au Peuple sur son premier besoin. Das Wort Überwachung ist von ihnen hervorgehoben. Baudeau, Première introduction à la philosophie économique, S. 683. Le Trosne, De l’ordre social, S. 88.

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Das physiokratische Ideal wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Liberalen wie Guizot9 mit neuen theoretischen Ansätzen zur Regierungsführung in die Praxis umgesetzt. Allerdings kam es bereits vorher zu einer zivilgesellschaftlichen Aneignung, wie die Tatsache belegt, dass der Begriff der Überwachung 1789 sofort von Kreisen der Volksgesellschaften und der Zeitungsjournalisten aufgegriffen wurde. Das demokratische Potenzial der Wachsamkeit war insofern offenkundig, als sie eine aktive Präsenz darstellte, die allen zugänglich war und auf dem Handeln aller beruhte. Daher der hohe Stellenwert, der dieser Überwachungsmacht während der Revolution zukam. Der Club des Cordeliers, das geistig-politische Zentrum der dynamischen Bewegung, die eine lebendige Form von Volkssouveränität zu begründen versuchte, bezeichnete sich dementsprechend als »Misstrauens- und Überwachungsgesellschaft«. Der Cercle Social, ein Club, in dessen Umkreis sich 1790–1791 Männer wie Brissot, Condorcet oder Lanthenas bewegten, setzte sich seinerseits zum Ziel, Agent einer »ruhelosen, täglichen Wachsamkeit« zu sein. Weil sie auf direktem Wege ausgeübt wurde, sahen viele in dieser Überwachung ein Mittel, um die Schwäche und Schwerfälligkeit des Repräsentativsystems auszugleichen. »Die öffentliche Meinung ist jene Art von Gesetz, die jeder Einzelne vollstrecken kann«, betonte Le Tribun du Peuple.10 Während des ganzen revolutionären Jahrzehnts wurde ein Gedanke unaufhörlich wiederholt, nämlich dass eine wachsame Presse die immanenten Defizite der Repräsentation beseitigen oder zumindest korrigieren könne. Der Cercle social lieferte in einem seiner ersten Manifeste die Theorie dazu: »Die Überwachungs- oder Meinungsmacht (die vierte zensorische Macht, über die nicht gesprochen wird) ist das Wesen der nationalen Souveränität, da sie allen zu gleichen Teilen angehört und von allen selbstständig ausgeübt werden kann, ohne Repräsentation und ohne Gefahr für das Staatswesen.«11 Werden die offiziellen Staatsgewalten 9 10 11

Vgl. insbesondere die Ausführungen in seinem Werk Des moyens de gouvernement et d’opposition dans l’état actuel de la France. Le Tribun du Peuple, 1. Januar 1790, S. III . Abgedruckt in La Bouche de fer, Nr. 1, Oktober 1790, S. 9. »Die exekutive Macht den Gewählten, die administrative Macht den Gewählten, die repräsentative Macht den Gewählten, doch die zensorische Macht jedem Einzelnen«, forderte wiederum Le Tribun du peuple, März 1790, Bd. II , S. 134.

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(Exekutive, Legislative, Judikative und selbst die Verwaltung) von einer beschränkten Zahl von Personen ausgeübt, ganz unabhängig von der Art ihrer Ernennung, ist die Überwachungsmacht diejenige, die »König Volk« seine sichtbarste und dauerhafteste Präsenz verleiht. Sie gilt zugleich als die wirksamste. Als Brissot untersuchte, über welche Mittel die Bürger verfügen, um sich Gehör zu verschaffen und Einfluss auf den Gesetzgeber zu nehmen, setzte er bezeichnenderweise die »zensorische Macht« an die erste Stelle, während er der Sorge der Repräsentanten um ihre Wiederwahl geringere Bedeutung beimaß, im Unterschied zu späteren Theoretikern der Repräsentativregierung, die den Wahlen höchste Priorität gaben.12 Ungeachtet der hohen Wertschätzung, die eine Wachsamkeit aktiver Bürger nach antikem Vorbild während der Französischen Revolution genoss, wurde diese Haltung erst sehr viel später zur politischen Routine. Zudem trat an die Seite der traditionellen zivilen Wachsamkeit der um das Gemeinwohl besorgten Bürger und Bürgerinnen eine weitere Variante, die man als regulative Wachsamkeit bezeichnen könnte und die seither, bis in die Gegenwart, immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Die zivile Wachsamkeit ist unmittelbar politisch und äußert sich in vielfältiger Form: Pressekampagnen, Vereine, Gewerkschaften, Petitionen, Streiks usw. Sie spielt immer noch eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, Alarm zu schlagen oder zu protestieren, vor allem in Zeiten von Krisen oder Konflikten. Doch geht sie inzwischen mit einer weiteren, diffuseren Form von Wachsamkeit einher, die sich in einer nicht abreißenden Flut von Bewertungen und Kritiken des Regierungshandelns seitens der Regierten äußert. Diese Art der Wachsamkeit ist dezentral in ihrem Vorgehen und bezieht sich auf die unterschiedlichsten Politikfelder. Sie läuft auf eine kontinuierliche Beaufsichtigung der verschiedenen Sphären des Regierungshandelns hinaus.13 Sie bedient sich dazu einer Vielzahl von Kanälen, die von Meinungsumfragen bis zur Erstellung von Berichten und von Bei12 13

Vgl. Le Patriote français, Nr. 45, 2. August 1791, S. 232. In diesem Zusammenhang hat Robert Goodin einen interessanten Vergleich zwischen dem gewählten Vertreter und dem »Inspektor« angestellt, die auf je unterschiedliche Weise die Übermittlung von Informationen und die Wahrnehmung gesellschaftlicher Interessen verkörpern. Vgl. Goodin, »The Good Inspector«.

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trägen in Expertenkommissionen bis zur Veröffentlichung von Enthüllungsstories reichen. Der Ausbau des Internets hat seinen Teil dazu beigetragen, die Verbreitung solcher Informationen zu erleichtern. Diese regulative Wachsamkeit befördert die öffentliche Aufmerksamkeit in den Rang einer Quasi-Institution, die, obgleich diffus und unsichtbar, in der Lage ist, erhebliche Wirkungen zu zeitigen.14 Die politische Wissenschaft spricht diesbezüglich von einer »Thematisierungsfunktion«: Zwar haben die Medien einen relativ geringen Einfluss auf die Grundüberzeugungen der Menschen, sie spielen aber eine entscheidende Rolle bei der Setzung der Themen, die die gesellschaftliche Debatte bestimmen.15 Wachsamkeit trägt auf diesem Wege dazu bei, den Rahmen staatlicher Politik abzustecken und dem Regierungshandeln eine Reihenfolge der Prioritäten vorzugeben.16 Sie ist aus diesem Grund wirksamer als viele Formen institutionalisierter Beteiligung. Das Agieren der Öffentlichkeit wirkt somit als Regulativ, nach Art eines Thermostats, auf den politischen Entscheidungsprozess ein.17 Auf diesem Wege vollzieht sich der Übergang zu einer Art diffusen Demokratie, die sich weniger durch die Ausweitung politischer Beteiligungsverfahren als die Zunahme neuer Formen sozialer Aufmerksamkeit auszeichnet. Wollen wir Demokratisierung als Prozess verstehen, der über nationalstaatliche Grenzen hinausreicht, müssen wir diesen Wandel als entscheidenden Faktor in Betracht ziehen. Denn diese Praktiken, die man unter dem Begriff der »Wachsamkeit« zusammenfassen kann, entpuppen sich zunehmend als praktische Eingriffsmöglichkeiten für Bürger, die untereinander (noch) keinen echten politischen Zusammenhang bilden. In einer seiner berühmtesten Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof diese Dimension nachdrücklich hervorgehoben: »Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirk-

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Vgl. Jones, Reconceiving Decision-Making in Democratic Politics. Vgl. die grundlegenden Artikel von Cobb/Elder, »The Politics of Agenda-Building«, und McCombs/Shaw, »The Agenda-Setting Function of Mass-Media«. Bezüglich eines Überblicks über die aktuelle Literatur zum Thema vgl. Gerstlé, »Démocratie représentative, réactivité politique et imputabilité«. Vgl. Wlezien, »The Public as Thermostat. Dynamics of Preferences for Spending«.

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same Kontrolle [der Regierenden] dar.«18 Die Figur des »wachsamen Bürgers« deckt somit ein weiteres Spektrum ab als die des »Wahlbürgers«.

Die Denunziation Ein zweiter Modus der Überwachung, neben der Wachsamkeit, ist die Denunziation. Es war wiederum die Französische Revolution, die den Begriff in den Wortschatz des Bürgerengagements einbrachte. Unwillkürlich denkt man dabei an die leidenschaftlichen Schmähungen eines Marat, der in seinem Ami du Peuple Tag für Tag die Feinde des Vaterlandes und die Verschwörer gegen die Republik an den Pranger stellte. Bekannt ist auch, dass eine Politik des systematisierten Argwohns, die die Denunziation zur Bürgerpflicht erhob, während der Schreckensherrschaft zu einem gefürchteten Repressionsinstrument wurde. Allerdings setzte sich schon 1789, fernab solcher pathologischen Auswüchse, eine alltäglichere und nüchternere Form von Denunziation durch. Rühmte man seinerzeit die sogenannte »Elektrizität der Denunziation«, so deshalb, weil sie als wichtiger Aspekt von Bürgerbeteiligung verstanden wurde, nämlich als Kontrolle des Regierungshandelns mit den Mitteln der Publizität.19 Selbst Mirabeau trat als Verfechter eines derartigen Verständnisses von Denunziation auf. Und der Club des Cordeliers formulierte in seiner Satzung als oberstes Ziel, »Missbräuche der Amtsgewalt und jede Art von Verstoß gegen die Menschenrechte vor dem Tribunal der öffentlichen Meinung anzuprangern«. Dabei lag die Betonung auf der Funktionalität dieser Praxis, ihrem geradezu gewohnheitsmäßigen Einsatz zur Erforschung individuellen Verhaltens oder, mehr noch, zur politischen Gesinnungsprüfung. Denunzieren bedeutete demnach, im strikt etymologischen Sinne des Wortes, »Meldung machen«, bekanntgeben, aufdecken, enthüllen. Kurzum, sich auf die Wirkungen der Publizität verlassen, um die Ordnung der Welt wiederherzustellen. 18 19

Van-Gend-&-Loos-Entscheidung von 1963. Vgl. Dubouis/Gueydan, Les Grands Textes du droit de l’Union européenne, Bd. I, S. 440–442. Vgl. Guilhaumou, »Fragments of a Discourse of Denunciation (1789–1794)«, sowie das Kapitel »La dénonciation« in Jaume, Le Discours jacobin et la Démocatie.

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Diese engagierte und geradezu banale Sicht von Denunziation schien sich im 19. Jahrhundert vielerorts weniger unmittelbar aufzudrängen, ging es doch zunächst einmal darum, für das elementarste aller politischen Rechte, nämlich das Wahlrecht, zu kämpfen. Sie kam fortan nur noch in Ausnahmefällen zum Zug: wenn es um Probleme ging, deren Ausmaß plötzlich wie unter dem Vergrößerungsglas die Laster und Verfehlungen einer herrschenden Klasse oder eines ganzen Systems hervortreten ließ. Auf diese Weise wurde der Skandal zum einzig relevanten Gegenstand der Denunziation als gesellschaftliche Praxis; der Skandal, der den Fakten, wie zu Recht betont wurde, eine Art »Ultra-Realität«20 verleiht. Dieses Gieren nach Skandalen beinhaltete stets zwei Dimensionen: die nihilistische Geißelung der Obrigkeit, der a priori unterstellt wurde, durch und durch korrupt zu sein, aber auch den Glauben an die politischen Tugenden der Transparenz. Auf den ersten Aspekt, der für populistische Anschauungen charakteristisch ist, werden wir später zurückkommen. Wenden wir uns einstweilen dem Letzteren zu. In der Zwischenkriegszeit verfasste Marcel Aymé unter dem Eindruck der Stavisky-Affäre eine interessante Studie, Silhouette du scandale. Er legte besonderes Augenmerk auf den Enthüllungsprozess als solchen und vor allem auf seinen in politischer und moralischer Hinsicht erzieherischen Wert. Weil der Skandal »unverhohlen ein banales Existenzproblem aufwirft«,21 veranlasst er dazu, die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Die repressive und regulative Funktion des Skandals ist offensichtlich, doch enthält er zugleich eine Lektion in Staatsbürgerkunde. »Der Skandal«, schreibt Aymé in diesem Sinne, »ist der Jungbrunnen, in dem die Menschheit sich vom Dreck ihrer Gewohnheiten befreit, der Spiegel, in dem die Gesellschaft, die Familie, der Einzelne das ungeschönte Bild ihres Lebens erkennen. Wenn es solche Lektionen nicht gäbe, würde jedes moralische Empfinden ersticken und die Welt würde in einen Zustand der Trägheit und des Stumpfsinns versinken.«22 Einen Skandal anzuprangern, heißt zunächst, ihn zu »enthüllen«, aufzudecken, was verborgen war. Um einer rechtswidrigen Situation 20 21 22

Aymé, Silhouette du scandale, S. 34. Ebd., S. 15. Ebd., S. 102.

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ein Ende zu setzen und nach Möglichkeit die Schuldigen vor Gericht zu bringen. Doch nicht nur das. Die Anprangerung des Skandals beruht auch auf dem Glauben an die unmittelbar verändernde Wirkung von Publizität. Von den Zeitungsredakteuren der Französischen Revolution bis zu den amerikanischen muckrakers 23 bildete sich auf dieser Grundlage ein gemeinsames journalistisches Credo heraus. Die amerikanischen Begriffe literature of exposure oder exposure journalism vermitteln vielleicht ein besseres Bild dieses Genres als der französische Ausdruck »presse à scandales« (Skandalpresse) mit seinen negativen Konnotationen von Sensations- und Profitgier. In den 1900er Jahren stellten die Redakteure von Magazinen wie Cosmopolitan, McClure’s oder Every-body’s die »neuen Zaren« an den Pranger, die sich an öffentlichem Eigentum bereicherten. Es ging ihnen nicht nur darum, für Sensationen zu sorgen oder die Auflage zu steigern, indem sie die kleineren oder größeren Unterschlagungen korrupter Politiker aufdeckten. Sie verstanden sich auch als Bußprediger, die die Welt von ihren Sünden befreien und die Schuldigen zur Umkehr bewegen wollten. Man hat nicht umsonst auf die Tatsache hingewiesen, dass Journalisten wie Lincoln Steffens, Verfasser des aufsehenerregenden The Shame of the Cities (1904), in ihren Artikeln ein von protestantischer Moral triefendes Vokabular benutzten und mit Begriffen wie shame, sin, guilt, salvation, damnation, pride und soul nur so um sich warfen.24 Die Presse hatte für sie die gleichermaßen spirituelle wie politische Funktion, das Land zu erneuern. Der Herausgeber des Cosmopolitan Magazine brachte das 1906 auf die bemerkenswerte Formel: »Leitet die Wasser des reinen Bürgersinns in die trüben Kloaken der Privatinteressen.«25 23

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Vgl. die von Arthur und Lila Weinberg herausgegebene und eingeleitete Artikelsammlung The Muckrakers; vgl. auch Chalmers, The Social und Political Ideas of the Muckrakers. Vgl. Schultz, »The Morality of Politics. The Muckraker’s Vision of Democracy«. »Turn the waters of a pure public spirit into the corrupt pools of private interests and wash the offensive accumulations away«, zitiert im obigen Artikel, S. 530. Im gleichen Sinne schrieb der als »Anwalt des Volkes« bekannt gewordene Louis D. Brandeis von Harper’s Weekly: »Sonnenlicht gilt als das beste Desinfektionsmittel und das Licht der Publizität als der tüchtigste Polizist«, in: Brandeis, Other People’s Money and How the Bankers Use It, S. 32.

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Zweifellos hat dieser Enthüllungs- und Erlösungsjournalismus dem jeweiligen politischen Kontext Rechnung getragen. Dennoch lässt er sich von einem ideengeschichtlichen Standpunkt aus relativ stringent beschreiben. Von den ersten Pamphletisten der Englischen Revolution bis zu den investigativen Journalisten von heute ist über den Wandel der Befindlichkeiten hinweg ein roter Faden zu erkennen.26 Ungeachtet der utopischen Bilder, die sie von sich selbst vermitteln, ist es möglich, diesen medialen Enthüllungsunternehmen eine Reihe objektiver politischer Funktionen zuzuschreiben. Sie sollen hier kurz vorgestellt werden. Zunächst die Agendafunktion, die von der Sozialwissenschaft in jüngster Zeit ausgiebig untersucht wurde. Allerdings ist die Rolle des (im weitesten Sinne) investigativen Journalismus bei der Strukturierung der öffentlichen Debatte und der politischen Themensetzung schon im ausgehenden 19. Jahrhundert wahrgenommen worden.27 In den Vereinigten Staaten war die kritische Literatur der muckrakers untrennbarer Bestandteil der politischen Strategien des Progressive Movement.28 Man kann zweitens von einem institutionellen Effekt der Denunziation sprechen. Sie tendiert in der Tat dazu, kollektive Normen und Werte zu festigen und zu vertiefen. Von Durkheim bis Gluckman haben eine ganze Reihe von Anthropologen und Soziologen diese Dimension herausgearbeitet.29 Sie konnten nachweisen, dass die Denunziation das Kollektivbewusstsein stärkt, indem sie offenlegt, was zu seiner Zerstörung beiträgt. Einer dieser Autoren versteht den Skandal als eine Art »Test«, der die Stabilität der Gemeinschaftsordnung auf

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Vgl. für eine erste Annäherung Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, sowie die beiden Werke von Muhlmann, Une histoire politique du journalisme, und Du journalisme en démocratie. In England war William T. Stead von der Pall Mall Gazette Ende des 19. Jahrhundert der Erste, der den Einfluss der Presse auf die staatliche Politik explizit benannte (vgl. Thompson, Political Scandal, S. 53–58). So wurde die politische Strömung in den USA genannt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts oligarchische Tendenzen in Wirtschaft und Politik kritisierte. Vgl. dazu die wichtigen Hinweise in der Einleitung von Markovits und Silverstein zu The Politics of Scandal. Ein kennntnisreicher Kommentar zum soziologischen Ansatz findet sich auch bei Blic/Lemieux, »Le scandale comme épreuve«.

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die Probe stellt,30 während ein anderer aufzeigt, wie Gerüchte und die Angst vor einem Skandal in kleinen Kommunen als zentrale Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Gruppenwerte fungieren.31 In die gleiche Richtung gehen Hannah Arendts Kommentare zur Kant’schen Kritik der Urteilskraft, in denen sie den Beitrag der Urteilsbildung zum Zusammenschweißen einer Gruppe heterogener Akteure untersucht.32 Im Rahmen einer eher psychologischen Annäherung an Politik und Gesellschaft steigert die »zivilisatorische Kraft der Heuchelei«33 diesen institutionellen Effekt, indem sie inkriminierte Politiker dazu veranlasst, sich durch Beteuerungen ihrer Rechtschaffenheit an der Konsolidierung der Werte zu beteiligen, die mit Füßen zu treten sie im Verdacht stehen. Agendafunktion und institutioneller Effekt sind die beiden großen Konstanten der Denunziation, die bei der Aufdeckung von Skandalen zum Tragen kommen. Inzwischen macht sich jedoch eine neue politisch-moralische Funktion der Denunziation bemerkbar. Sie hängt mit der Tatsache zusammen, dass die Gegenwartsgesellschaften zunehmend Wert auf Transparenz legen. Der pauschale Hinweis darauf, dass wir mittlerweile in einem Medienzeitalter leben, reicht natürlich als Erklärung für diesen Sachverhalt nicht aus. Der Ursprung dieses grundlegenden Wandels reicht viel weiter zurück, er ist in der Transformation des politischen Lebens selbst zu suchen. Der Auslöser war, nach meinem Empfinden, die »Entideologisierung« des Politischen und der aus ihr resultierenden Enttäuschungen. Als Politik noch wesentlich als Konfrontation sich gegenseitig ausschließender Systeme auf Grundlage des Klassenkampfes verstanden wurde, erschien die Frage persönlichen Fehlverhaltens als nebensächlich. Für die Kritiker des Status quo war die »Normalität« des Bestehenden das eigentliche Problem, die Anprangerung möglicher Korruptionsfälle konnte unter diesen Umständen eine Kritik des »Systems« keinesfalls ersetzen. Es ging um das »Profitgesetz« an sich, nicht um die Machen30 31 32 33

Vgl. den grundlegenden Artikel von Dampierre, »Thèmes pour l’étude du scandale«. Vgl. Gluckman, »Gossip and Scandal«. Vgl. Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Vgl. dazu die Analysen von Jon Elster.

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schaften von ein paar zwielichtigen Bankern. Das Chaos resultierte aus der Norm selbst, nicht aus der Abweichung von der Norm. Und dieses Chaos wurde, nach der gängigen Formel, als »etablierte Ordnung« betrachtet. Es fällt auf, dass marxistische Historiker dazu tendierten, die Bedeutung, die Wirtschafts- und Finanzskandalen spontan zugeschrieben wurde, herunterzuspielen. Dementsprechend zog einer von ihnen in einem Werk über die Panama-Affäre den Schluss: »Man darf sich vom Aufsehenerregenden der Skandale nicht täuschen lassen […]. Es sind nicht sie, die Aufschluss geben über den Gang der Geschichte. Politische Regime und Wirtschaftssysteme gehen niemals an ihren Skandalen zugrunde. Sie scheitern an ihren Widersprüchen. Das ist etwas völlig anderes.«34 Als Frankreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einer ganzen Reihe von Korruptionsfällen erschüttert wurde, ereiferten sich die Sozialisten auch gegen die »moralische Rechte«, weil sie sich, ihrer Meinung nach, damit begnüge, lediglich gegen ein paar schwarze Schafe zu Felde zu ziehen. Das ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts ganz anders geworden. Der Verdruss über die Ideologien hat zu einem stärker individualisierten Umgang mit politischen Themen geführt. Weswegen die Frage, ob man den Politikern persönlich vertrauen kann, an Dringlichkeit gewonnen hat.35 Infolgedessen sind Skandale und die Denunziation als politische Praxis in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt. Die daraus resultierende Zunahme von »Affären« ist weniger einem Verfall der politischen Moral geschuldet als einem gestiegenen Verlangen der Gesellschaft nach Transparenz. Es waren zunächst das Messinstrument und das öffentliche Interesse an den Problemen, welche sich verändert haben.36 Die Medien haben das Phänomen nicht erfunden: sie haben lediglich die Entstehung einer neuen Politik des Misstrauens, wenn auch in überdimensionaler Form, abgebildet. Im Gegenzug haben die führenden Politiker von sich aus ihre Medienpräsenz erhöht und die Zurschaustellung ihres Privatlebens zu einem Schlüsselfaktor 34 35 36

Bouvier, Les Deux Scandales de Panama, S. 204. Diesen Punkt hat Thompson (Political Scandal, S. 111) zu Recht betont. Vgl. die Analysen von Garment, Scandal. The Crisis of Mistrust in American Politics. Über die Voraussetzungen, unter denen sich Skandale zu einer Krisendynamik auswachsen, vgl. die Analysen von Rayner, Les Scandales politiques.

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ihrer Glaubwürdigkeit erhoben.37 Da sie weniger gefordert sind, sich zu einem politischen Lager zu bekennen, müssen sie nun vermehrt Beweise ihrer persönlichen Rechtschaffenheit liefern und ihre Nähe zu den Wählern dokumentieren.38 Einfachheit und Transparenz sind im Zuge dessen zu politischen Kardinaltugenden geworden. Der Anbruch eines politischen Zeitalters erhöhter medialer Aufmerksamkeit und das Bemühen der Politiker um Selbstdarstellung sind die beiden Elemente, die die Denunziation in den Rang einer zentralen demokratischen Praxis erheben. Der primäre Effekt der Denunziation ist, dass die Reputation der in den Skandal verwickelten Personen Schaden nimmt. Und Reputation stellt eine Form von symbolischem Kapital dar, deren politischer Wert unaufhörlich gestiegen ist. Denn ihr kommt eine Schlüsselfunktion bei der Herstellung von Vertrauen zu. Als »unsichtbare Institution« ist Vertrauen ein Mittel der Informationsersparnis. Es setzt ein bestimmtes Wissen voraus und tritt gegebenenfalls an die Stelle formalisierter Verpflichtungen, wie Vertrag, Eid usw. Es kann jedoch nicht allein für sich existieren. Es kennzeichnet ein Beziehungsgeflecht zwischen Personen oder Gruppen, zum Beispiel zwischen Regierten und Regierenden. Dieses Beziehungsgeflecht muss also aufgebaut, gepflegt, kurzum garantiert werden, um bestehen zu bleiben. In der »traditionellen« Politik ist die Zugehörigkeit des Gewählten zu einer Partei eine solche Garantie (die damit zugleich einen disziplinarischen und einen ideologischen Aspekt hat). Die Partei ist in diesem Fall die »sichtbare« Institution, die dem Vertrauensverhältnis zwischen den Wählern und ihren Repräsentanten ein Fundament gibt. In der »neuen« Politik ist die Reputation zum wesentlichen Medium der Vertrauensbildung geworden. Sie stellt gewissermaßen das Gütesiegel des Politikers dar.

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Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen von Boltanski/Thévenot: »Der Verzicht auf das Geheimnis«, schreiben sie, »ist […] ganz allgemein der Preis, den man zahlen muss, um zu Größe zu kommen. Um bekannt zu werden, muss man bereit sein, seinem Publikum alles offenzulegen, ohne irgendetwas zu verbergen« (Über die Rechtfertigung, S. 249). Vgl. die Sondernummer der Zeitschrift Mots zum Thema »Nähe« (Nr. 77, März 2005), sowie Le Bart/Lefebvre (Hg.), La Proximité en politique.

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Reputation ist, könnte man sagen, oberstes Gebot in Meinungsdemokratien, insofern sie als deren gesellschaftliches Binnenregulativ fungiert, das die Auswirkungen rein institutioneller Mechanismen überlagert. Unsere Gegenwartsgesellschaften weisen in diesem Punkt eine eigentümliche Ähnlichkeit mit älteren Gesellschaftsformationen auf, die sich nach dem Prinzip der Ehre richteten. Denn Ehre ist auch eine Form von symbolischem Kapital und resultiert ebenfalls aus einem gesellschaftlichen Urteil. Unter Ehre, bemerkte Mandeville, »verstehen wir durchaus nur die gute Meinung anderer«.39 Bekanntlich hat Montesquieu die Logik der Ehre, die für monarchische Regierungsformen bestimmend ist, in klassischer Weise analysiert. Ehre ist die Spiegelung der eigenen Stellung in den Augen der anderen, eine Art diffuses Streben nach begehrten und anerkannten Unterscheidungsmerkmalen. Sie habe letztlich, so Montesquieu,40 die Herrschaft der Tugend und die stabile Hierarchie der Stände und Zünfte als Ordnungsprinzip der Monarchien abgelöst. Die Entwicklung nahm in beiden Fällen, dem der Monarchie und dem der Demokratie, den gleichen Verlauf: der Blick der anderen wurde zur beherrschenden Macht. Man findet die gleiche Angst vor den zerstörerischen Auswirkungen des Ehrverlustes, die gleiche Obsession, Tadel und Bloßstellung zu vermeiden,41 in den Beziehungen zwischen Einzelnen wie in denen zwischen Nationen. Diese Macht war im Fall der Ehre eine vorrangig gesellschaftliche, während sie bei der Reputation eher politischer Natur ist. Und wie die Ehre im 18. Jahrhundert die Tugend als zentrales gesellschaftliches Ordnungsprinzip verdrängte, so überlagerte die Reputation am Ende des 20. Jahrhunderts tendenziell die Wahlen als wichtigsten politischen Regelmechanismus. Schon die ersten Analy39 40 41

Bobertag (Hg.), Mandevilles Bienenfabel, S. 49. Vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch III , Kapitel 5 und 6. Über die Auswirkungen von Scham vgl. Nussbaum, Hiding from Humanity. Disgust, Shame, and the Law; Braithwaite, »Shame and Modernity« (der Autor hat seinerzeit eine breite Debatte über den Zusammenhang zwischen öffentlich entehrenden Strafen und dem Rückgang von Kriminalität angestoßen). Über die spezifisch politischen Auswirkungen dieser »Macht der Beschämung« [Power of Shame] auf internationale Beziehungen, besonders im Hinblick auf die Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen, vgl. die Ausführungen von Donnelly, International Human Rights.

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tiker der Mediengesellschaft ahnten diese Entwicklung voraus. Niemand hat das besser formuliert als Junius, der große Vorkämpfer der politischen Denunziation im England des 18. Jahrhunderts. »Wer da meint, unsere Zeitungen seien kein Hemmnis für schlechte Menschen, kein Hindernis für die Vollstrecker schlimmer Maßregeln, weiß nichts von diesem Lande«, schrieb er. »[U]nsre Minister und Beamten [haben] wirklich nur noch wenig Strafe zu befürchten und wenig Schwierigkeiten zu überwinden, wenn der Tadel der Presse und der Geist des Widerstands fortfällt, den sie im Volke weckt. Solange diese zensorische Macht aufrecht erhalten bleibt, sieht sich […] Minister wie Beamter in fast jedem einzelnen Fall gezwungen, zwischen seiner Pflicht und seinem Ruf zu wählen. Eine solche Alternative wird freilich, wenn sie auch beständig vor ihm steht, nicht gerade ein Wunder an seinem Herzen wirken, aber sie wird sicherlich einen gewissen Einfluß auf sein Verhalten üben.«42 »The more strictly we are watched, the better we behave« (je strenger wir überwacht werden, umso besser benehmen wir uns), so brachte es Bentham wenige Jahre später auf eine berühmt gewordene Formel. Reputation ist ein flüchtiges Gut. Sie ist empfindlich und geht schneller verloren, als sie erworben wird. Zudem ist sie kumulativ und wächst schon in dem Maße, wie sie dauert.43 Andererseits hat Reputation auch in dem Sinne eine zeitliche Dimension, als sie dazu dient, zukünftiges Verhalten vorherzusagen. Sie erzeugt somit einen antizipatorischen Effekt.44 Uns interessiert hier jedoch vor allem die informationsbezogene Seite der Reputation. Sie verdichtet Informationen und ermöglicht so eine rationale Entscheidungsfindung in Situationen, in denen die Information lückenhaft ist. Diese Tatsache ist in der 42

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Vorrede von Junius in: Die Briefe des Junius, S. XV. Junius bekennt sich dazu, den Ausdruck der »zensorischen Macht« [censorial power] in Bezug auf die Presse von Lolme übernommen zu haben (der ihn 1778 in seiner Constitution Englands verwendete). Vgl. Kapitel X, »Von Macht, Wert, Würde, Ehre und Würdigkeit«, im ersten Teil des Leviathan (»Of Power, Worth, Dignity, Honour and Worthiness«) von Thomas Hobbes. Vgl. Mercer, Reputation and International Politics, S. 6–9. Die Bedeutung dieses Faktors wird diskutiert und in einen über den ökonomischen Ansatz hinausreichenden Kontext gestellt bei Brennan/Pettit, The Economy of Esteem.

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Wirtschaftstheorie bestens bekannt.45 Die Ökonomen haben darüber hinaus nachgewiesen, dass Reputation ein Kapital ist und einen Wert hat, der auf lange Sicht stets die Gewinne übertrifft, die man kurzfristig durch Handlungen oder Verhaltensweisen erzielen könnte, die diese Dimension außer Acht lassen.46 In diesem Licht betrachtet, kann man Denunziation auch als Bewährungsprobe für die Reputation verstehen, die die Möglichkeit beinhaltet, ihren Wert zu mindern oder gänzlich zu ruinieren. Sie ist daher ein sehr mächtiges politisches Instrument. Und sie wird umso mächtiger, als nicht mehr Korruption allein ihr Ziel ist, sondern generell Handlungen und Verhaltensweisen, die als kritikwürdig gelten, auch wenn sie legal sind. Der Begriff des »Skandals« als solcher erfährt eine beträchtliche Ausweitung und umfasst nun alles, was die Gesellschaft als »unnormal« oder ungerecht empfindet.47 Auf diese Weise wird die gesellschaftliche Norm zum eigentlichen Richter des Handelns, sie begründet oder zerstört Reputationen. Mit anderen Worten, sie fungiert fortan als effiziente Ausdrucksform von Souveränität. Somit ergänzt die Demokratie als gesellschaftlicher Zustand die Demokratie als politisches System. Die Macht des Konformismus, wie von Tocqueville beschrieben, regiert nicht mehr allein im Reich der Sitten und Gebräuche, sie hat sich auch als politische Kraft etabliert. Im alten Ehrenkosmos stellte die öffentliche Denunziation, nach dem Ausdruck von Pierre Bayle, »eine Art moralischen Totschlag«48 dar. Im neuen Zeitalter der Publizität kann sie einer politischen Ächtung gleichkommen. Der Verlust der Reputation hat somit potenziell dauerhaftere und schwerwiegendere Konsequenzen als eine bloße Wahlniederlage. Man hat diesbezüglich

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Vgl. Kreps/Wilson, »Reputation and Imperfect information«. Vgl. die Ausführungen von Kreps, Mikroökonomische Theorie (Kapitel 14.5, »Die Reputation«, S. 479ff.). Man nehme die Gaymard-Affäre: Der französische Finanzminister musste im Februar 2005 zurücktreten, weil die Medien enthüllt hatten, dass er eine 600 Quadratmeter große Dienstwohnung besaß, was die Öffentlichkeit als maßlos überzogen empfand. Das Ziel ist in solchen Fällen die moralische Verurteilung eines Verhaltens. Zitiert nach Boltanski, »La dénonciation«, S. 4 (übernommen aus Koselleck, Kritik und Krise, S. 93 [dort im frz. Original]).

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bereits von einer »Enthüllungsdemokratie« (democracy by disclosure) gesprochen.49

Die Benotung Die Benotung, oder die Bewertung im Allgemeinen, ist die dritte Erscheinungsform der Überwachungsmacht. Sie besteht in einer sorgfältig recherchierten, technisch ausgefeilten, häufig quantitativ abgestützten Beurteilung einzelner Maßnahmen oder ganzer politischer Strategien. Ziel ist es, die staatliche Verwaltung nach Qualitäts- und Effizienzkriterien zu begutachten. Wiederum steht eine Reputation auf dem Spiel, aber dieses Mal ist sie »technischer« Art: Es ist die Kompetenz der Regierenden, die getestet wird. Interessanterweise diente eine solche Bewertungspraxis mitunter als Ersatz oder Vorwand, wenn eine politische Kritik nicht möglich war. Im alten China beispielsweise wurden Machtkämpfe lange im bürokratischen Rahmen der Finanz- und Verwaltungsaufsicht ausgetragen und beigelegt. Da es weder Demokratie noch Repräsentation in irgendeiner Form gab, bildeten unter der Ming-Dynastie, wie Pierre-Etienne Will gezeigt hat,50 die regelmäßig stattfindenden daji, die »großen Beurteilungen«, das chinesische Gegenstück zum Regierungswechsel in der Politik. Die kaiserliche Verwaltung setzte auf gründliche Kontrollen, um ihre Macht zu stärken und ihre Effizienz zu steigern. Doch im Gegenzug lieferte diese streng funktionelle Überwachungspraxis auch Ansatzpunkte für die Entstehung von Gegenmächten, die es ermöglichten, die kaiserliche Politik infrage zu stellen. De facto boten diese allgemeinen Verwaltungsprüfungen, die alle drei Jahre stattfanden, die Gelegenheit, Kritik zu üben. Die sogenannten yanguan, »Beamte, die ihre Meinung sagen«, waren Gutachter, die professionelle Korrektheit mit der Fähigkeit verbanden, Missstände anzuprangern. Diese amtlichen Prüfungsverfahren stellten somit eine Art »gesellschaftliche Wiederaneignung« der Macht dar, staatliches Handeln zu bewerten. Man darf 49

50

Vgl. Graham, Democracy by Disclosure. Siehe auch das »Transparency Project« an der Kennedy School (Harvard University), bei dem die Forschungen zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Publizität zusammenlaufen. Will, »Le contrôle constitutionnel de l’excès de pouvoir sous la dynastie des Ming«.

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sich also nicht wundern, dass Sun Yat-Sen, der Vater der chinesischen Republik, den Vorschlag machte, die drei Montesquieu’schen Staatsgewalten um eine »Kontrollgewalt«51 (yuan) zu ergänzen, um die politische Struktur des modernen China zu vervollständigen. Diese Bewertungs- und Benotungsfunktion hat eine lange Geschichte. Man kann sie berechtigterweise auf die Praxis interner Kontrollen zurückführen, die von den Machthabern selbst durchgeführt wurden. So bauten die Normannen bereits im Frühmittelalter ein Rechnungswesen auf, das den Grundstein für ein geordnetes und professionelles System der königlichen Finanzverwaltung in Europa legte.52 Der englische Schatzkanzler übernahm und perfektionierte dieses Modell, das in der Folge die Grundlage für das britische Rechtsund Verwaltungssystem bildete. Die Gründung der Statutory Commission for Examining the Public Accounts im Jahr 1780 sowie des Exchequer and Audit Department durch Gladstone im Jahr 1860 markierten weitere wichtige Etappen auf diesem Weg. In Frankreich waren die Chambres des comptes untrennbar mit der Entstehungsgeschichte eines modernen Staates verbunden, dessen weitere Entwicklung auch von der Rationalisierung des Finanz- und Verwaltungswesens geprägt war.53 Diese Kontroll- und Bewertungsmethoden folgten gleichsam naturwüchsig dem technischen Fortschritt. Sie standen aber auch im Zentrum eines politischen Kampfes für mehr Öffentlichkeit, der eng mit der Entstehung der parlamentarischen Regierungsform zusammenhängt. Heutzutage sind die Bewertungstechniken natürlich komplexer als in der Vergangenheit. Sie sind insbesondere auf Bemühungen

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Sun Yat-Sen, der 1912 erster Präsident der chinesischen Republik wurde, fügte dem noch eine weitere, die »Prüfungsgewalt«, hinzu, die Macht, Beamte auf der Grundlage eines Auswahlverfahrens zu ernennen. Daher seine berühmte Theorie der fünf Gewalten. In seinen Augen bestand der historische Beitrag Chinas in der Definition dieser beiden Gewalten, während der Westen über die Montesquieu’sche Theorie die restlichen drei beisteuerte. Vgl. Yat-Sen, »Die FünfÄmter-Verfassung«, in: Aufzeichnungen eines chinesischen Revolutionärs, S. 239–251. Vgl. auch die Ausführungen von Chao Yuen, L’Évolution de la vie constitutionnelle de la Chine. Vgl. Haskins, Norman Institutions. Vgl. Contamine/Mattéoni (Hg.), La France des principautés.

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zurückzuführen, die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Sektor neu zu ziehen. Denn unter dem Vorzeichen eines New Public Management 54 ist ein beispielloser Bedarf an Vergleichen und quantifizierten Bewertungen entstanden. In allen Bereichen ist nur noch von benchmarking die Rede, und keine staatliche Organisation kann sich dieser Art von Überprüfung ihrer Leistungsfähigkeit länger entziehen. Die Tatsache, dass bei der Bewertung politischer Maßnahmen eine wachsende Zahl von Faktoren ins Spiel kommt, hat diese Tendenz noch verstärkt. Zugleich ist die Einschätzung, was eine Maßnahme bewirkt, zu einer äußerst komplexen Angelegenheit geworden. Deshalb wurden schon in den 1970er und 1980er Jahren vermehrt Agenturen gegründet, die sich darauf spezialisiert haben, staatliche Reformen systematisch zu evaluieren.55 Inzwischen kann sich keine staatliche Einrichtung mehr hinter einem »gesetzlichen Auftrag« verstecken, der allein schon ausreichen würde, um ihre Existenz oder ihren Modus Operandi zu rechtfertigen. Die neuen Bewertungsinstrumente haben somit einen echten Strukturwandel des Staates herbeigeführt. Das Gleiche gilt für die Politik im engeren Sinne. Der Fortschritt der Untersuchungs- und Begutachtungsmethoden hat eine neue Erwartungshaltung aufseiten der Bürger erzeugt. Bewertung und Benotung sind zwar Verwaltungstechniken, sie tragen aber auch zur Versachlichung der öffentlichen Debatte bei und setzen das staatliche Handeln zugleich unter erhöhten Legitimationsdruck. Die Bürger überprüfen immer systematischer die Kompetenz der Regierenden und taxieren permanent die Resultate ihres Handelns. Sie stützen sich dabei zunächst auf das, was man gemeinhin als »Erfahrungswissen« bezeichnet; sie sind in der Lage, eine Reihe von Informationen in ihre Bewertungen einzubeziehen, die von den offiziellen Entscheidungsträgern oft vernachlässigt werden, weil sie abstrakteren Überlegungen folgen. Das Verhältnis von Regierenden und Regierten ist längst nicht mehr von jenem »Kompetenzgefälle« geprägt, das für die ursprüng54 55

Zur Bedeutung und Konsequenzen dieser Entwicklung siehe Lascoumes/Le Galès (Hg.), Gouverner par les instruments. Vgl. für Frankreich Viveret, L’Évaluation des politiques et des actions publiques (der Autor zieht eine Bilanz internationaler Erfahrungen zu dieser Zeit), sowie Perret, L’Évaluation des politiques publiques.

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liche Regierungspraxis in Repräsentivsystemen ein ausschlaggebender Faktor war. Die Verfügbarkeit technischer Informationen und von Fachwissen ganz allgemein sowie der Anstieg des intellektuellen Niveaus der Bevölkerung haben diesen Trend zur permanenten Beurteilung der Regierenden entscheidend befördert. Letztere sind inzwischen verletzlicher und abhängiger als je zuvor. Sie sind gewissermaßen zu Schülern derjenigen geworden, die sie regieren, da ihr Leistungsniveau einer ständigen Kontrolle unterliegt. Die Bürger haben auf diesem Wege der Benotung tatsächlich so etwas wie eine neue Macht gewonnen, eine Macht wiederum, die praktisch direkt und ohne Vermittler ausgeübt wird. Damit ist auch die Demokratie als solche in einen tief greifenden Wandel eingetreten.

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Die Aufpasser Die drei Formen von Überwachung, deren Charakteristika wir im vorangegangenen Kapitel untersucht haben, implizieren Akteure unterschiedlichster Art. Die Überwachung äußerte sich zunächst als Vielfalt gesellschaftlicher Aktivitäten im Kontext eines intensiven Bürgerengagements. Sie wurde in der Folgezeit vornehmlich zu einer Domäne der Medien, im weitesten Sinne des Wortes. So war die Presse im 19. Jahrhundert nicht nur Ausdruck einer lebendigen Freiheitspraxis, sie trat auch als gegen-demokratische Macht in Erscheinung. Presse und Politik bildeten ab dieser Zeit ein sich ergänzendes und bekämpfendes Paar. Doch dieses anfängliche Duell zweier im Bemühen um Repräsentation vereinter Mächte erweiterte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts um neue Akteure und Instanzen, die einen Teil der Aufsichts-, Enthüllungs- und Bewertungsfunktionen an sich rissen. Diese Entwicklung beschleunigte sich ab den 1980er Jahren, als neue zivilgesellschaftliche Organisationen auftauchten und unabhängige Aufsichtsbehörden neuen Typs entstanden. Auf diese Weise begann sich ein neues Machtuniversum abzuzeichnen: die soziale Überwachung. Eine Form der Macht, die gleichwohl nicht aufhörte, als persönliche Ethik, als individuelle Veranlagung in Erscheinung zu treten. Der französische Philosoph Alain (Émile Chartier) ist ein gutes Beispiel für diese Art von Einstellung im frühen 20. Jahrhundert.

Der wachsame Bürger Alain verkörperte auf ebenso melancholische wie exemplarische Weise, was der republikanische Geist des 19. Jahrhunderts an Großzügigem und Authentischem hervorgebracht hatte. Für ihn war die Republik nicht nur eine Staatsform, das heißt eine Art, die Staatsgewalten zu ordnen und zu legitimieren, sondern zugleich eine öffentliche Moral, ein 57

Kodex staatsbürgerlichen Verhaltens. Ganz im Sinne seiner Vorläufer, der Protagonisten von 1789, appellierte er an die Bürger, »die schrecklichen Gewalten [die sie regieren] zu kontrollieren, zu beaufsichtigen, zu beurteilen«.1 Sein Ideal war, dass »der Bürger unnachgiebig bleibt, unbeugsam im Geiste, mit Misstrauen gewappnet, und stets argwöhnisch gegenüber den Plänen und Argumenten des Führers«.2 Alains Strenge paarte sich mit einer Skepsis gegenüber dem Wesen der Politik. In seinen Augen war die Macht dazu verurteilt, auf ewig ungeliebt zu bleiben, und den gewählten Organen erginge es in dieser Hinsicht nicht besser als den anderen. Deshalb erschien es ihm unvermeidlich, dass »der freie Bürger fast stets ein Unzufriedener ist«.3 Alain, der leidenschaftliche Republikaner, war zugleich nur ein gemäßigter Demokrat, auch wenn die Volkssouveränität ihm nicht mehr die gleichen Ängste einflößte wie seinen unmittelbaren Vorgängern Renouvier und Fouillée, die beiden anderen großen Philosophen der Republik. Der Verfasser der Propos sah im allgemeinen Wahlrecht mehr ein Regulativ als eine Befehlsgewalt. Demokratie war für ihn im Wesentlichen »eine Kontroll- und Widerstandsmacht«.4 Souveränität konnte in seinen Augen nur als negative wirksam werden: »Worin also besteht die Demokratie«, fragte er, »wenn nicht in dieser dritten Gewalt, die von der politischen Wissenschaft noch zu definieren ist und die ich als Kontrolleur bezeichne? […] Diese Gewalt kam lange nur in Revolutionen und Barrikadenkämpfen zum Ausdruck. Heute äußert sie sich in parlamentarischen Anfragen. So gesehen ist Demokratie das ständige Bemühen der Regierten, sich gegen die Übergriffe der Macht zu wehren.«5 Alain 1 2 3 4

5

Alain, Propos sur les pouvoirs, S. 160 (Äußerung vom 12. Juli 1930). Ebd., S. 161. Ebd., S. 204 (Äußerung vom 27. Januar 1934). Alain, Propos de politique, S. 264. Weiter heißt es: »Es ist eine ganz falsche Vorstellung von Demokratie, dass das Volk regiert. Doch ist das nicht, wie behauptet wurde, ein Irrtum der Demokratie, vielmehr ein Irrtum über die Demokratie. Demokratie gewährt dem Volk die Macht der Aufsicht und des Urteils. Mehr braucht es nicht« (ebd., S. 324). Alain, Propos sur les pouvoirs, S. 214 (Äußerung vom 12. Juli 1910). Vgl. dazu die Sammlung von »propos«, die der Herausgeber Francis Kaplan unter dem Titel »La démocratie comme contre-pouvoir institutionnalisé« [Demokratie als institutionalisierte Gegenmacht] zusammengefasst hat (Alain, Propos sur les pouvoirs, S. 213–229).

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schloss sich diesbezüglich der Meinung Auguste Comtes an, dass die Macht des Volkes allein eine Macht der Rüge sei. Er verwandelte damit die Vorstellung eines sich selbst regierenden Volkes in die eines misstrauischen Volkes. Ungeachtet seiner republikanischen Rhetorik näherte sich Alain auf diesem Wege der liberalen Sicht der Demokratie. Er bemühte sich zwar, wie Condorcet zu klingen, dachte aber eher wie Montesquieu oder Benjamin Constant. Was ihn gleichwohl von Letzteren unterschied, war seine zivile Rastlosigkeit, die Sehnsucht nach dem permanent engagierten Bürger, die in seinen Schriften ständig durchscheint, selbst wenn er nicht den Ehrgeiz besaß, die neuen politischen Formen zu ersinnen, die ermöglicht hätten, die von ihm beklagte Trägheit und Orientierungslosigkeit zu überwinden. Im Grunde genommen ist für ihn der klügste Bürger derjenige, der der Macht entsagt und sich auf Distanz hält. Trotz seiner Sympathien für die »Radikalen« glaubte er an keinen wirklichen Fortschritt der demokratischen Institutionen und Praktiken. Er betrachtete es als vergebliche Mühe, das Wesen der Macht verändern zu wollen. Das Einzige, was man erstreben könne, sei, sie zu zügeln, zu flankieren, zu begrenzen. Der wachsame Bürger ist bei Alain zu einem von seinem Tun ermüdeten Bürger geworden, einem Bürger, der nicht mehr träumt: Er begnügt sich stattdessen damit, in aller Bescheidenheit den »wundersamen Einfluss einer Anzahl Weiser« zu beschwören, »die auf dem Boden sitzen und die Darbietung des Seiltänzers begutachten«.6 Seine menschliche Größe liegt allein in seinem gänzlichen Mangel an Zynismus. Im Unterschied zu vielen vermeintlich realistischen Theoretikern der Demokratie, die aus ihren geringen Erwartungen einen kategorischen Imperativ machen, verbindet er seinen Skeptizismus mit einer Moral der Bescheidenheit und einer praktischen Nähe zu den einfachen Menschen. Ein Liberalismus nach englischem Vorbild geht somit bei ihm mit einem antiken Tugendverständnis einher. Ganz im Sinne der republikanischen Tradition ist Freiheit ohne Wachsamkeit für ihn undenkbar, weshalb er den Argwohn in den Rang einer politischen Kardinaltugend erhebt. Die von ihm angestrebte Wachsamkeit ist folglich weder mit einer Erwartung noch mit einer Forderung verbunden, sie äußert 6

Ebd., S. 185 (Äußerung vom 26. Mai 1928).

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sich eher in einer Geste des Rückzugs als in dem Wunsch, sich einzumischen. Alain war ein Mann zwischen den Welten, zwischen Altem und Neuem, zwischen Liberalismus und Republikanismus, zwischen Distanz und Teilhabe, zwischen Politik und Ethik. Ist er damit eine Ausnahmeerscheinung? Sicherlich nicht, denn in seinem Wesen, seinen Ambivalenzen, äußerte sich ein Grundzug moderner Staatsbürgerlichkeit: das Nebeneinander von Gefühlen der Ablehnung und der ungeduldigen Erwartung in Bezug auf das Politische. Der von Alain verkörperte Bürger stellte ein Provisorium in der Geschichte demokratischer Überwachung dar. Alain, der abgeklärte, melancholische Erbe des revolutionären Denkkosmos von 1789 oder 1793, hielt sich vom politischen Aktivismus seiner Zeit ebenso fern wie vom republikanischen Parlamentsbetrieb. Er blieb deshalb ohne unmittelbare Nachfolge. Doch nun, mit Anbruch des 21. Jahrhunderts, legen seine Schriften beredtes Zeugnis ab, für eine Geschichte wie für ein Problem. Er gelangt auf diese Weise zu später Aktualität in einer Welt, die seinen Namen fast vergessen hat, indem er seinen Lesern einen Spiegel vorhält, der ihnen ermöglicht, den Konflikt, der sie heimlich umtreibt, nämlich wie sich Desillusionierung und verweigerte Resignation in Einklang bringen lassen, besser zu verstehen. Sein Beispiel eröffnet somit einen persönlichen Zugang zu den Bewegungen und Institutionen, die wir im Folgenden besprechen wollen.

Der neue Aktivismus Will man verstehen, was in der Forschung gemeinhin als »neue soziale Bewegungen« bezeichnet wird, so sind dabei die verschiedenen Formen von Überwachungsmacht im Auge zu behalten. In den 1970er Jahren haben Soziologen und Politikwissenschaftler aufgezeigt, dass es nicht ausreicht, die Gesellschaftsstruktur in den Begriffen des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit zu beschreiben. Seinerzeit wurde auf die wachsende Bedeutung neuer kollektiver Identitäten verwiesen, die nach öffentlichem Ausdruck verlangten (sexuelle Minderheiten, Generationsgruppen, feministische Bewegungen usw.). Parallel dazu befasste man sich eingehend mit der Bildung neuer »Felder geschichtlichen Handelns«, um die Sprache Alain Touraines aufzugreifen, die aus neuen sozialen Konflikten, beispielsweise um Fragen des Umweltschutzes, der regionalen Autonomie oder der Geschlech60

terbeziehungen, resultierten. Seither sind die Sozialwissenschaften unablässig darum bemüht, den Änderungen und Verschiebungen gesellschaftlicher Mobilisierung oder Identitätsbildung in beide Richtungen nachzuspüren. Die Analyse sozialer Bewegungen erfolgte dabei entweder vor dem Hintergrund der dringlichsten Probleme, vor denen die Gesellschaften stehen (Globalisierung, soziale Ungleichheit und Unsicherheit, Menschenrechte), oder im Kontext des Wandels moderner Individualität (wachsende Sensibilität für Fragen des Rechts und der Menschenwürde, komplexeres Verständnis sexueller Identität zum Beispiel). Außerdem beschäftigten sich die Sozialwissenschaftler mit den veränderten »Motiven« kollektiven Handelns (in Frankreich sah man beispielsweise in den 1980er Jahren einen neuen Typ von »moralischem Aktivismus« entstehen7) und fragten nach den Bedingungen politischen Engagements.8 Sie versuchten ferner, der Vielfalt der Handlungsrepertoirs Rechnung zu tragen, insbesondere den »unkonventionellen« Formen ziviler Einmischungen in die Politik.9 Schließlich widmeten sie sich eingehend der Frage, wie die jeweils vorhandenen Ressourcen eingesetzt wurden.10 Die Fülle dieser Arbeiten vermittelt ein gutes Bild von den Umbrüchen, die den politischen und sozialen Aktivismus in der heutigen Welt kennzeichnen. Allerdings hat sich die Forschung bisher noch kaum der genuin demokratischen Funktion dieser Bewegungen zugewandt. Zwar steht fest, dass es sich nicht mehr, wie im traditionellen Gewerkschaftsmodell, um eine Vertretungs- oder Verhandlungsfunktion handelt, doch ist die Frage, in welche Kategorien die funktionale Besonderheit der neuen Protestformen zu fassen ist, bisher noch nicht näher untersucht worden.11 Während die Renaissance des Aktivismus (durch Gruppen wie Attac oder Act-Up, die »Sozialforen« und 7 8 9

10 11

Reynaud, »Le militantisme moral«. »Devenirs militants«, Sondernummer der Revue française de science politique, Februar-April 2001. Vgl. CURAPP (Hg.), La Politique ailleurs. Vgl. auch die unzähligen Arbeiten über den Wandel der Demonstrationspraxis (in Frankreich die Studien von Tartakowksy). Vgl. Fillieule (Hg.), Sociologie de la protestation. Partiell ausgenommen von diesem Befund ist die Doktorarbeit von Daniel Mouchard (Les »Exclus« dans l’espace public).

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verschiedene globalisierungskritische Bewegungen, durch den Aufschwung von advocacy groups und NGO s) breite Aufmerksamkeit erfahren hat, gibt es bisher fast keine Literatur über die Rolle, die solche Gruppen im Wandel der Demokratie als solcher spielen. Der Begriff der Überwachungsmacht hilft hier einen Schritt weiter. Denn das hervorstechende Merkmal dieser »neuen sozialen Bewegungen« ist ja gerade, dass sie sich entlang der drei oben beschriebenen Aktionsformen – Wachsamkeit, Denunziation und Bewertung – organisieren. Sie stellen deshalb die profiliertesten Träger jener Gegen-Demokratie dar, deren Geschichte zu schreiben bzw. deren Theorie zu entwickeln Zweck des vorliegenden Buches ist. Eine Aufsichtsfunktion wahrzunehmen, ist das, was ein Großteil dieser Organisationen gemeinsam hat. Viele fungieren als watchdog committees (Kontrollgremien) in ihren jeweiligen Politikfeldern. Diese Tatsache spiegelt sich auch im erweiterten Vokabular des sozialen Aktivismus wider. Zum Beispiel hat sich mittlerweile der Begriff whistleblower eingebürgert, um Personen oder Gruppen zu bezeichnen, die auf Probleme in ihren Tätigkeitsbereichen aufmerksam machen. Das Whistleblowing hat ein derartiges Ausmaß erreicht, dass ein neuer Zweig der Soziologie entstanden ist, der sich ganz dem Studium dieses Phänomens widmet.12 Obwohl der Schwerpunkt auf den Bereichen Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz liegt, sind Whistleblower inzwischen tendenziell in allen Sphären des politischen und gesellschaftlichen Lebens aktiv. Diese Entwicklung schlägt sich sogar in der Selbstbezeichnung der entsprechend motivierten Gruppen nieder. Tendierten sie in den 1970er Jahren dazu, sich »Kampfkollektive«, »Verteidigungskomitees« oder »Mobilisierungsgruppen« zu nennen, so sieht man inzwischen mehr und mehr watch groups oder »observatoires« (Beobachtungsstellen) entstehen (z.B. in Frankreich den Observatoire des inégalités oder den Observatoire du communautarisme). Bei dieser Art von Organisationen gehen technischer Sachverstand13 12

13

Vgl. diesbezüglich die anregenden Arbeiten von Francis Chateauraynaud: Les Sombres Précurseurs, »Qui est garant de la vigilance collective«, »Incontournables présences«. Vgl. die gute Zusammenfassung von Béland/Viriot Durandal, »L’expertise comme pouvoir«.

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(der sich faktisch vor allem im Erstellen von Gegengutachten äußert) und Lobbyarbeit quasi eine funktionale Verbindung ein. Die advocacy groups weisen so häufig ein doppeltes Gesicht auf, einerseits think tanks, andererseits pressure groups,14 beides mit dem Ziel, das herrschende Denken infrage zu stellen. Auf diese Weise können die Grenzen zwischen Verlegertätigkeit und politischem Engagement mitunter verschwimmen. Solche Organisationen erzeugen »Autoritätseffekte«, um mit Bourdieu zu sprechen, vor allem üben sie jedoch eine reale Macht aus, das heißt, sie sind in der Lage, diejenigen, die sie ins Visier genommen haben, zu einer Änderung ihres Verhaltens zu zwingen. Die Bewertungsfunktion ähnelt in vielen Punkten der Mobilisierung von alternativem Sachverstand. Die Ratings, die eine Nichtregierungsorganisation wie Transparency International regelmäßig publiziert,15 eine Art Korruptionsindex für Länder, haben auf politischer Ebene einen ähnlichen Einfluss wie die Bonitätsnoten von Agenturen wie Moody’s oder Standard & Poor’s im Finanzsektor. Länder, die schlecht abschneiden, sehen sich mit einem Sinken ihrer Kreditwürdigkeit bei den großen Finanzinstituten konfrontiert. Länder hingegen, die in Zusammenarbeit mit Transparency International Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung einleiten, werden auf vielfältige Weise belohnt. In extremen Fällen kann die Herabstufung auf der Ratingskala für eine Regierung ähnliche Konsequenzen haben wie eine Wahlniederlage. Die Denunziation kommt schließlich ins Spiel, wenn sich Gruppen darauf spezialisiert haben, verborgene oder vertuschte Vorgänge ans Licht zu bringen. Solche Praktiken sind auch als »naming and blaming« bekannt, ein Ausdruck, der gut zusammenfasst, was den Kern ihres Aktivismus ausmacht.16 Die bisher erwähnten Gruppen decken ein breites ideologisches Spektrum ab und unterscheiden sich auch deutlich in Sachen Radikalität. Ein Abgrund trennt kleine Gruppen wie Act-Up, die spektakuläre und kontroverse Aktionen durchführen, von den großen, seriös 14

15 16

Vgl. Young/Everitt, Advocacy Groups (enthält interessante Analysen von allgemeiner Aussagekraft, trotz des auf Kanada beschränkten Untersuchungsrahmens). Vgl. www.transparency.org/surveys. Vgl. Felstiner/Abel/Sarat, »The Emergence and Transformation of Disputes. Naming, Blaming, Claiming …«

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und professionell auftretenden NGO s. Doch als politische Formen weisen alle diese Organisationen ähnliche Merkmale auf. Im Unterschied zu traditionellen Interessengruppen besteht ihr primärer Zweck nicht darin, die Interessen ihrer Mitglieder zu schützen. Überhaupt ist die Beziehung, die sie zu ihren Mitgliedern unterhalten, eine ganz andere als bei traditionellen Organisationen. Gegen-demokratische Bewegungen haben Sympathisanten und Spender, sind aber nicht vorrangig darauf aus, Mitglieder im engeren Sinne zu werben. Anders als die alten sozialen Bewegungen, allen voran die Gewerkschaften, nehmen sie keine soziale Vertretungs- oder Verhandlungsfunktion wahr. Ihr Ziel ist, Probleme aufzudecken und Druck auf Regierungen auszuüben, nicht, Bevölkerungsgruppen zu repräsentieren. Damit passen sie gut in ein Zeitalter, in dem die Aufgabe der Politik mehr darin besteht, Situationen zu bewältigen, als stabile Gruppen zu bilden und Strukturen zu beherrschen. Was sie letztlich miteinander verbindet, ist der Verzicht darauf, die Macht zu ergreifen; sie wollen lediglich Einfluss nehmen. Sie begreifen Demokratie nicht als bloßes Konkurrieren um die Regierungsmacht, sondern als ständiges Spannungsverhältnis zwischen der Sphäre der Wahlen und der politischen Repräsentation und dem Universum gegen-demokratischer Praktiken. Infolgedessen hat sich die Beziehung dieser Organisationen zu den politischen Parteien beträchtlich gewandelt. Bis in die 1970er Jahr stand die Frage nach der »politischen Lösung« sozialer Kämpfe im Vordergrund; es dominierte eine vertikale, hierarchische Sicht der Politik. Das Soziale galt zu dieser Zeit lediglich als eine Art Vorbereitung auf das Politische. Selbst diejenigen, die sich der radikal leninistischen Variante dieser Sichtweise entschieden verweigerten, hatten eine relativ schlichte Vorstellung von der Machtfrage. Das ist nicht mehr der Fall. Darunter hat das Ansehen der politischen Parteien gelitten, und auch das alte Konzept des »Machtwechsels« hat viel an Relevanz eingebüßt.

Das Internet als politische Form Manche Soziologen haben die Medienzentriertheit dieser Organisationen hervorgehoben und in Bezug auf sie sogar von »Medien-Vereinen«17 gesprochen. Diese Behauptung hat viel Wahres, selbst wenn das 17

Neveu, »Médias, mouvements sociaux, espaces publics«.

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Verhältnis zwischen den beiden Welten komplex und von Nähe und Distanz gleichermaßen geprägt ist, denn letztlich hängen beide von öffentlicher Wahrnehmung ab. Oder, wie es ein Vertreter einer militanten Gruppe formulierte: »Sichtbarkeit ist das A und O all unserer Aktionen.«18 Die meisten Journalisten hätten es vermutlich nicht besser sagen können. Doch so treffend der Vergleich sein mag, er erklärt per se noch wenig; er verweist uns lediglich auf die Tatsache, dass »Publizität« und »öffentliche Meinung« als Studienobjekte überhaupt erst zu konstruieren sind, und zwar ausgehend von der Vielfalt der Aufsichtsfunktionen. Der Vergleich zwischen Medien und sozialen Bewegungen bekommt erst dann einen Sinn, wenn wir beide als Äußerungen der gleichen gegen-demokratischen Funktionen begreifen. Die Medien, so könnte man es ausdrücken, sind die bewährte funktionale Form einer Aufsichtsdemokratie, deren aktivistische Seite gewissermaßen durch die engagierten Organisationen der Zivilgesellschaft verkörpert wird. Beide ergänzen einander in funktionaler Hinsicht. Darin liegt der tiefere Sinn des berühmten Slogans: Don’t hate the media, become the media! Diese Bemerkung führt uns zu der Frage, welche Rolle dem Internet in dem neuen Kosmos der Aufsichtsmächte zukommt. Bisher haben wir das Internet implizit als Teil der »neuen Medien« verstanden. Und tatsächlich könnte man seine Funktion auf Anhieb in dieser Weise beschreiben, denn schließlich dient es dazu, Meinungen, Informationen und Analysen in Umlauf zu bringen. Freilich unterscheidet sich das Internet von anderen Medien hinsichtlich seiner Zugangskosten, seiner Produktionsweise, seiner Verbreitungs- und Regulierungsprozesse. Allerdings darf man es dabei nicht belassen. Das Netz ist nicht nur eine authentische politische Form, es ist auch zu einer vollwertigen sozialen Form geworden. Mehr noch, zu einer sozialen Form eigener Art, denn es trägt auf völlig neue Weise zur Gemeinschaftsbildung bei. Die soziale Bindung, die es erzeugt, kann nicht mehr in den konventionellen Begriffen der ökonomischen oder soziologischen Analyse als Sammlung, Koordination, Identifizierung gedacht werden. Das Soziale des Internets ist reine Zirkulation, freie Interaktion,

18

Vertreter von Act-Up, in Vacarme, Nr. 31, Frühjahr 2005, S. 23.

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Abfolge punktueller Begegnungen, Möglichkeit zu endloser Verzweigung. Die Werke von Deleuze, Simmel oder Tarde19 sind deshalb zum Verständnis des Internets hilfreicher als die von Durkheim oder Marx, um es einmal lapidar zu formulieren. Eine soziale Form ist das Internet auch insofern, als es die öffentliche Meinung auf eine ganz unmittelbare, geradezu körperliche Weise zum Ausdruck bringt. Die wahrhaft visionären Begriffe, in denen die Revolutionäre von 1789 die Allgegenwart und die Macht der öffentlichen Meinung feierten, scheinen somit plötzlich eine besondere Aktualität erlangt zu haben. Hören wir beispielsweise, was Bergasse, seinerzeit Mitglied der Konstituante, zu sagen hatte: »Die öffentliche Meinung […] ist tatsächlich das Produkt des Geistes und des Willens eines jeden. Man kann sie gewissermaßen als das offenbar gewordene Bewusstsein einer ganzen Nation betrachten.«20 Heutzutage verkörpert das Internet auf geradezu materielle Weise diese alles durchdringende Macht, an der jeder teilhat und die niemand beherrschen kann. Mit ihm wachsen aber nicht nur die Verheißungen, sondern auch die Pathologien, für die man die öffentliche Meinung, diese »Weltherrscherin«, verantwortlich macht. Hier tut sich ein völliges neues Feld auf, das weiteres Nachdenken erfordert, worauf wir bei dieser Gelegenheit lediglich hinweisen können. Was uns hingegen unmittelbarer am Internet interessiert, ist seine Eigenschaft als politische Form. In den 1980er Jahren ging man weithin davon aus, dass die neuen Kommunikationstechnologien die demokratischen Praktiken revolutionieren würden, indem sie eine unmittelbarere Bürgerbeteiligung ermöglichen. Man meinte, dass die Zwänge materieller Art, die historisch dazu geführt hätten, repräsentativen Verfahren den Vorzug zu geben, mit einem Schlag beseitigt werden könnten. Eine ganze Reihe von Werken feierte den bevorstehenden Anbruch der »Teledemokratie«, die das Rousseau’sche Ideal 19

20

Der Soziologe Gabriel Tarde verfolgte den originellen Ansatz, der lange übersehen wurde, das Soziale auf der Grundlage von Interaktionsmechanismen zu denken, die er anhand von Grundbegriffen wie Imitation, Wiederholung, Gegensatz und Anpassung beschrieb. Sur la manière dont il convient de limiter le pouvoir législatif et le pouvoir exécutif dans une monarchie, September 1789, wiederabgedruckt in: A.P., 1. Serie, Bd. IX , S. 119.

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einer direkten Beteiligung aller an den kollektiven Entscheidungen verwirklichen würde.21 Mit Hilfe des Internets, dachte man, sei es ebenso leicht, eine große virtuelle Gemeinschaft wie eine kleine Gruppe zusammenzubringen. Die amerikanische Sehnsucht nach den town meetings der Anfangstage wurde beispielsweise durch den Aufruf zur Bildung von electronic town meetings neu entfacht.22 Mithilfe des Internets, so ein weiterer Gedanke, würden die Kosten des Wahlverfahrens derart gesenkt, dass man die Bürger mit Leichtigkeit bei jedem sich bietenden Anlass konsultieren könne. Eine Zeitlang hatte die Idee des »Televoting« in vielen Kreisen ihre begeisterten Anhänger. Ein ganzes Vokabular neuer Begriffe begann sich zu verbreiten: Man sprach von »elektronischer Demokratie« von »e-government«, von »Cyberdemokratie«.23 Dieser anfängliche Enthusiasmus hat sich in der Folge ein wenig gelegt, und zwar aus verschiedenen Gründen. Die wichtigsten waren intellektueller Natur. Es wurde betont, dass Demokratie mehr sein müsse als ein Verfahren der unmittelbaren Entscheidungsfindung. Die geistige Aufmerksamkeit verlagerte sich deshalb teilweise auf das ergiebigere und komplexere Thema der deliberativen Demokratie. Dennoch tat sich in den 1990er Jahren eine Perspektive auf, die in ihren Grundzügen auch in der Folgezeit ein positiver Bezugspunkt blieb. Cass Sunsteins bemerkenswertes Buch Republic.com24 ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel für einen neuen, reflektierteren und hellsichtigeren Umgang mit dieser Problematik. Dennoch scheinen mir diese Projekte und Reflexionen über den politischen Gebrauch des Internets, bei aller Verschiedenheit, das Wesentliche zu verfehlen, weil sie darauf abzielen, das Internet aus-

21 22

23 24

Vgl. unter den ersten Werken zum Thema: Barber, Starke Demokratie (aufseiten der Enthusiasten), und Arterton, Teledemocracy (aufseiten der Skeptiker). Dieses Thema stand im Zentrum der Wahlkampagne von Ross Perot, einem populistischen Politiker, der 1992 für das Amt des amerikanischen Präsidenten kandidierte. Allerdings gab es auch einen Haufen Literatur aus Aktivistenkreisen, die in die gleiche Richtung ging. Vgl. die Sonderausgabe von Hermès, Nr. 26–27 (2000), über elektronische Demokratie. Sunstein, Republic.com. Der Autor zieht eine kenntnisreiche und ausgewogene Bilanz der Chancen und Risiken des Internets in Sachen Freiheitsrechte, Deliberation und Partizipation.

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schließlich auf die parlamentarisch-repräsentative Dimension des öffentlichen Lebens zu beziehen. Über den Fortschritt der Demokratie wird allein auf dieser Ebene der Partizipation oder der Deliberation diskutiert. Nach meiner Ansicht liegt die eigentliche Bedeutung des Internets aber anderswo, nämlich in seiner spontanen Wahrnehmung von Überwachungs-, Denunziations- und Bewertungsfunktionen. Mehr noch, das Internet ist der realisierte Ausdruck dieser Funktionen. Die Blogs deklinieren sie gewissermaßen bis ins Endlose durch, und jede besser organisierte Website motiviert ihre Besucher zu einer diesbezüglichen Interaktion. Bezeichnenderweise fordern OnlineBuchhandlungen ihre Nutzer auf, die von ihnen gekauften Bücher zu bewerten und zu kommentieren, was das herkömmliche Verständnis von Kritik radikal verändert. Man kann diese Umwälzung als Metapher für das nehmen, was auf politischer Ebene zu verwirklichen das Internet gerade im Begriff steht: einen offenen Raum der Überwachung und Bewertung von allem und jedem. Das Internet stellt kein bloßes »Instrument« dar, es ist buchstäblich diese Überwachungsfunktion. Es ist die Bewegung, die diese Funktion auf besonders angemessene Weise definiert, mit allem, was sie an Möglichkeiten, aber auch an potenziellen Anomalien und Manipulationen enthält. Genau in diesem Sinne kann das Internet als genuin politische Form angesehen werden. Neben ihm sind aber inzwischen andere Formen organisierter Überwachung entstanden. In vielen Ländern wurden Institutionen neuen Typs gegründet, unabhängige Behörden, die das Ziel verfolgen, in diversen Bereichen das Handeln staatlicher Organe zu kontrollieren.

Funktionale Aufsicht durch unabhängige Behörden Die Aufsichtsdemokratie hat in jüngster Zeit eine weitere Form angenommen, die der unabhängigen Behörden. Überall ist im Laufe der letzten dreißig Jahren die Zahl derartiger Einrichtungen stark angestiegen. Dieses Phänomen ist ausgiebig analysiert und kommentiert worden, wobei insbesondere die Frage nach der Legitimität dieser Institutionen den Gegenstand intensiver Diskussionen bildete. Allerdings waren es vor allem die Regulierungsbehörden im Bereich der Telekommunikation, der Börsenmärkte und der audiovisuellen Medien, die Eingang in das politische und juristische Denken fanden. 68

Daneben entstand jedoch noch ein weiterer Typ verwandter Institutionen, die Überwachungs- und Aufsichtsfunktionen wahrnehmen. In diesem Bereich sind es im Allgemeinen die sogenannten Ombudsleute oder »Mediatoren«, denen die Rolle zufällt, Bürgern eine Möglichkeit zu geben, starre und unnahbare Bürokratien hin und wieder von ihren Forderungen oder individuellen Problemen in Kenntnis zu setzen. In besonderem Maße gilt dies jedoch für solche Gremien, die zum Beispiel darüber wachen, dass die Polizeibehörden sich an die ethischen und rechtlichen Normen halten, die den Rahmen ihrer Tätigkeit definieren. Mit der Polizei befinden wir uns nämlich, in praktischer wie in symbolischer Hinsicht, im Zentrum des Staates, dessen primäre Aufgabe darin besteht, die Grundrechte zu schützen, indem er die Sicherheit seiner Bürger garantiert. Zu diesem Zweck wurde 1984 in Großbritannien die Police Complaints Authority gegründet. Sie soll dafür sorgen, dass die Polizei ethische Standards einhält, indem sie Untersuchungen über polizeiliches Fehlverhalten entweder direkt begleitet oder nachträglich überprüft. In diesem Zusammenhang wären auch der Conseil de surveillance des activités de la sûreté in Quebec oder der Comité permanent de contrôle des services de police in Belgien zu erwähnen. In Frankreich wurde im Jahr 2000 eine Commission nationale de déontologie de la sécurité (Nationale Kommission über ethische Fragen der Sicherheit) als »unabhängige Verwaltungsbehörde« gegründet. Ihre Funktion besteht dem Gesetzgeber zufolge darin, »die Einhaltung ethischer Normen durch Personen, die auf französischem Boden mit der Wahrnehmung von Sicherheitsaufgaben betraut sind, zu überwachen«.25 Die Kommission, deren Mitglieder von den beiden Parlamentskammern sowie den höchsten Justizbehörden ernannt werden, verfügt über weitreichende Ermittlungsbefugnisse. In ihren jährlichen Tätigkeitsberichten ist nachzulesen, was aus den Empfehlungen geworden ist, die sie zu den ihr vorgelegten Fällen abgegeben hatte. Man könnte die Funktion, die diese Kommission wahrnimmt, auch als »delegierte zivile Aufsicht« bezeichnen. Die Parlamentsdiskussion, die der Einrichtung der Kommission vorausging, verdient übrigens, näher betrachtet zu werden. Tatsächlich vertraten zahlreiche Redner im 25

Artikel 1 des Gesetzes vom 6. Juni 2000.

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Laufe der Debatte die Meinung, dass eine solche Kommission keinerlei Berechtigung hätte, wenn die Gerichte und die internen Kontrollausschüsse der Polizei ihre Arbeit ordentlich erledigen würden – in diesem Fall wäre es sinnvoller, die Mittel für diese bestehenden Gremien zu erhöhen. Ein Abgeordneter meinte sogar ganz unverhohlen, eine derartige Kommission sei »das Eingeständnis des Versagens, nicht nur der Justizbehörden, sondern ebenso der politischen Instanzen, ob Parlament oder Regierung«.26 Das ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn der Verwaltungsapparat und die repräsentative Regierung »perfekt« funktionieren würden, wäre in der Tat kein Korrektiv in Form eines Aufsichtsorgans vonnöten. Das Problem ist aber gerade, dass es einen strukturellen Hang zum Fehlverhalten gibt, und wäre er noch so marginal. Es wird deshalb stets eine neutrale Instanz gebraucht, um zu gewährleisten, dass die öffentlichen Institutionen in der vorgesehenen Weise funktionieren.27 Die Existenz externer Aufsichtsgremien hat überdies den Nutzen, indirekt die Glaubwürdigkeit der Institutionen zu fördern. »Selbst wenn staatliche Stellen über interne Kontrollsysteme verfügen, verhindert der Verdacht der Befangenheit, der auf ihnen lastet, dass sie ihre Aufgabe effizient erfüllen«, heißt es in dem oben zitierten Bericht.28 Mit solchen externen Institutionen ist also tatsächlich so etwas wie eine strukturelle Gegenmacht entstanden.

Interne Prüfungs- und Bewertungsagenturen Die spektakuläre Zunahme von Prüfungs- und Bewertungsgremien innerhalb von staatlichen Ämtern oder Regierungsbehörden ist ein Phänomen, das sich in den meisten Demokratien beobachten lässt. Manche sprechen diesbezüglich schon von einer regelrechten »Bewertungsindustrie«. Laut einer britischen Statistik verfügt die Regierung des Landes über nicht weniger als 135 Aufsichts-, Kontroll-, Bewer-

26

27 28

Vgl. den Rapport fait au nom de la Commission des lois sur le projet de loi portant création d’un Conseil supérieur de la déontologie de la se´curité, von Bruno Le Roux, Abgeordneter, 25. Februar 1998. Vgl. Kraakman, »Gatekeepers. The Anatomy of a Third-Party Enforcement Strategy«. Rapport … vom 25. Februar 1998.

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tungs- und Prüfungsinstanzen der einen oder anderen Art!29 Die meisten dieser Organe verdanken ihre Entstehung dem Ehrgeiz, eine rationale Verwaltung aufzubauen, die sich überdies, seit dem Anbruch des Zeitalters eines New Public Management, mit dramatisch gestiegenen Anforderungen konfrontiert sieht. Allerdings wäre es falsch, diese »internen« Kontroll- und Regulierungsinstrumente allein nach ihren unmittelbaren Funktionen zu beurteilen. Sie haben sich überall in dem Maße weiterentwickelt, wie sie sich als fähig erwiesen, mit den anderen bestehenden Arten von Aufsichtsorganen zu interagieren. Auch wenn es von Land zu Land offensichtliche Unterschiede gibt, geht der allgemeine Trend doch dahin, diese Agenturen den Wünschen der Gesellschaft entsprechend zu öffnen,30 sodass sie sich schließlich dem Zugriff ihrer Schöpfer teilweise entziehen. Ihre Funktionen tendieren dazu, sich ständig zu erweitern, und die allgemeine Entwicklung geht in Richtung zunehmender Verselbstständigung.31 Bei aller Verschiedenheit der Formen und Institutionen bildet sich auf diese Weise in den heutigen Gesellschaften ein gemeinsames Ethos demokratischer Überwachung heraus, das aus der wechselseitigen Beeinflussung staatlicher Agenturen, unabhängiger Behörden und politischer Aktivisten resultiert. In diesen unterschiedlichen Milieus wird zunehmend die gleiche Sprache gesprochen und auf dieselben Dinge Bezug genommen. Das Bestreben der einen, das Vertrauen in die Institutionen dauerhaft wiederherzustellen, und der organisierte Argwohn der anderen bilden auf diese Weise eine funktionale Einheit und definieren gemeinsam die Figur eines neutralen Wächters über die Demokratien. Die Gebote der Glaubwürdigkeit und der Effizienz überlagern sich also verschiedentlich zu dem Zweck, die Repräsentation des Gemeinwohls über einen solchen neutralen Wächter faktisch zu verdoppeln. Mit anderen Worten, das Gedeihen der Demokratie hängt fortan davon ab, dass sie das Risiko von Fehlentwicklungen als systemischen Be29 30 31

Vgl. Hood u.a., Regulation inside Government. Vgl. Jacob, »La volonté des acteurs et le poids des structures dans l’institutionnalisation de l’évaluation des politiques publiques«. Vgl. die Schlussfolgerungen von Benoît in: »Les chambres régionales des comptes face aux élus locaux«. Halten wir fest, dass diese Art von Entwicklung eines der Schlüsselmerkmale der »Überwachungsmacht« im alten China darstellte.

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standteil ihrer selbst begreift und ihre Institutionen mit der Möglichkeit zur Selbstkritik ausstattet. Dieser neutrale Wächter kann drei Formen annehmen: die einer Funktion (wie bei den internen Gremien staatlicher Institutionen), eines Ethos (wie im Fall der unabhängigen Behörden) oder eines sozialen Engagements (wobei es sich um eine diffuse »professionelle« Wachsamkeit handeln kann, wie die Medien sie praktizieren, oder eine »militante« Wachsamkeit, wie bei den erwähnten politischen Gruppen). Doch in dem Maße, wie ihre Interaktionen sich intensivieren, zeichnet sich am Ende ein gemeinsames Profil ab.

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Der Lauf der Geschichte Drei Phasen Die Bestimmung der Formen und Eigenschaften der Gegen-Demokratie im Vergleich zu denen der instituierten Demokratie liefert ebenfalls ein geeignetes begriffliches Instrumentarium, um die Geschichte der Freiheit und der kollektiven Souveränität in einen allgemeinen Kontext zu stellen. Man kann diese Geschichte in drei Phasen unterteilen. Die erste umfasst die Erringung beschränkter Überwachungsbefugnisse, und zwar unter einem doppelten Aspekt, als liberale (Einführung von Verfahren zur Begrenzung und regelmäßigen Kontrolle der bestehenden Macht) und demokratische (Ausübung dieser Kontrollen durch repräsentative Versammlungen). Diese Befugnisse waren, wie oben erwähnt, ihrerseits mit der Entstehung eines geordneten und legalen Staates verbunden: Selbstkontrolle des Staates im Hinblick auf eine »Rationalisierung« von Herrschaft und Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft im Hinblick auf dessen »Demokratisierung« gingen also Hand in Hand. Die Entstehung demokratischer Institutionen erfolgte im Verlauf eines ständigen Konkurrierens um die Macht, Kontrollen durchzuführen und Rechenschaft zu verlangen. Man müsste schon über eine Unmenge an Informationen verfügen, um unter diesem Gesichtspunkt eine vergleichende, verschiedene Länder umfassende Geschichte staatlicher Institutionen schreiben zu können. Das ist hier natürlich nicht zu leisten. Was wir allerdings tun können, ist, eine ungefähre Vorstellung davon zu vermitteln, indem wir auf der untersten Ebene sozialer Macht ansetzen und Einblicke in die Geschichte der innerstädtischen Strukturen nehmen. Die mittelalterlichen Städte Europas liefern zahlreiche Belege für die Konflikte und Forderungen, die sich aus der Kontrolle der Ratsherrn und ihres Gebarens ergaben. Aus einer Dokumentation, die für die Auvergne er73

stellt wurde, geht hervor, dass sich Honoratioren und Zünfte in ständigem Streit befanden. Letztere verlangten, dass die Rechnungsbücher der Stadt von Personen außerhalb der kleinen lokalen Machtzirkel geprüft werden. In manchen Fällen kam es zu Vergleichen, und einfache Bürger erhielten das Recht, die Tätigkeit der Stadtoberen zu kontrollieren.1 Wie es scheint, war die Herausbildung eines bürgerschaftlichen Bewusstseins unmittelbare Folge dieser Praxis. Die Zunftmitglieder verstanden sich somit als eine Gemeinschaft von Kontrolleuren, als diejenigen, denen die Macht Rechenschaft schuldete, lange bevor sie auf die Idee kamen, sich als Kollektiv zu definieren, das aktiv an der Ausübung der Souveränität beteiligt ist. Das Gleiche ergibt sich aus der Untersuchung der Umstände, unter denen in den italienischen Städten die Amtsgeschäfte der Podestaten geprüft wurden.2 Ähnliche Praktiken waren zu dieser Zeit auch in ländlichen Gemeinden häufig anzutreffen, in denen aufgrund ihrer geringen Größe alle die Regelung des Gemeinschaftslebens betreffenden praktischen Entscheidungen auf Einwohnerversammlungen gefällt wurden. In diesen Kommunen erfolgte die Ernennung der mit der Ausführung von Entscheidungen betrauten Personen (auch jurats, consuls oder syndics genannt) auf sehr unterschiedliche Weise: durch das Los, per Rotation, Rekrutierung durch Amtsvorgänger, direkte oder indirekte Wahl. Was jedoch fast immer gleich blieb, war das Prozedere, aufgrund dessen sie vor der Gemeindeversammlung über ihr Tun Rechenschaft ablegen mussten.3 Einmal mehr war Kontrolle der eigentliche Eignungstest für die Treuhänder der Öffentlichkeit. Davon zeugt auch die Tatsache, dass die technischen Vorschriften der Rechnungsprüfung in der Regel elaborierter waren und rigoroser angewendet wurden als die Ernennungsverfahren der Verwalter selbst.4 Zu einem 1

2 3

4

Vgl. das Kapitel »Le contrôle des comptes dans les villes auvergnates et vellaves aux XIVe et XVe siècles« in: Rigaudière, Penser et construire l’État dans la France du Moyen Âge. Für einen ersten Überblick vgl. Waley, Die italienischen Stadtstaaten. Vgl. die Informationen der Studien, die in Recueils de la société Jean Bodin, »Les communautés rurales«, aufgeführt sind. Vgl. auch: Les Structures du pouvoir dans les communautés rurales en Belgique. Diesbezüglich finden sich interessante Hinweise bei Babeau, Les Assemblées générales des communautés d’habitants en France.

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ähnlichen Schluss gelangt man in Bezug auf die Verwaltung der Kirchsprengel. Die Wahl von Kirchenvorstehern (syndics oder marguilliers) ging stets mit formalisierten Verfahren zur kollektiven Prüfung ihrer Amtsgeschäfte einher. Bezeichnenderweise stellten in den protestantischen Gemeinden des 16. Jahrhunderts die Stärkung und Demokratisierung solcher Kontrollverfahren oft ein wesentliches Element ihrer kollektiven Identität dar.5 Die Herausbildung dieser noch lückenhaften und unbeständigen Formen von Kontrolle gehört wesentlich zur Vorgeschichte der repräsentativen Regierung. In einer zweiten Phase wurden, parallel zum Aufbau moderner parlamentarischer Systeme, die verschiedenen Kontroll- und Aufsichtsbefugnisse, die im Entstehen begriffen waren, institutionalisiert, rationalisiert und zu einem strukturierten Ganzen zusammengefügt. Großbritannien spielte dabei eine Vorreiterrolle. Abgesehen von einer frühzeitig durchgesetzten Kontrolle des Staatshaushaltes gehörte hier das Recht auf unabhängige Prüfung des Regierungshandelns zu den am zähesten verteidigten Privilegien des Parlaments. Parlamentarische Untersuchungen gaben den Anstoß zu zahlreichen Reformprojekten, weil sie es den Repräsentanten ermöglichten, sich selbst ein hinreichend sachkundiges Urteil zu bilden, um den Ansichten des Kabinetts entgegenzutreten. Dieses britische Kontrollsystem wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den fortschrittlichsten Republikanern und Liberalen Frankreichs hoch gelobt.6 Für sie war das Parlament in erster Linie der große Aufseher der Regierung. Davon zeugen auf exemplarische Weise die Kommentare, mit denen französische Abgeordnete die Funktionen der parlamentarischen Untersuchung anlässlich ihrer Einführung begrüßten. »Rechte und Pflichten der Kammer«, betonte der Berichterstatter in dieser Sache, »beschränken sich nicht darauf, die Wünsche und Nöte des Landes zu studieren, Gesetze zu erlassen und Steuern zu erheben. Sollte eine schwerwiegende Störung auf ein Versagen der Verwaltung hindeuten, so muss klar sein, 5 6

Vgl. Reulos, »Ressources financières et règles de gestion dans les Églises réformées françaises au XVIe siècle«. Vgl. Faucher, »Usages du Parlement britannique en matière d’enquête«, Le Courrier français, 13. Januar 1835, sowie den Artikel »Enquête« im Dictionnaire politique, herausgegeben von Duclerc/Pagnerre 1842. Vgl. auch Laquièze, Les Origines du régime parlementaire en France, S. 317–329.

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dass die Vertreter der Nation sich ihrer annehmen, die Ursachen des Übels ergründen und das Resultat ihrer Nachforschungen bekannt geben, ungeachtet der Konsequenzen.«7 Prüfen, enthüllen, anprangern: Die Repräsentativ- und Legislativfunktionen treten hier in den Hintergrund angesichts des Bemühens, die Maßnahmen der Regierung zu kontrollieren und ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. In dieser zweiten Phase ist also das Parlament diejenige Instanz, die das gesamte Instrumentarium der Kontrolle und Anfechtung der Macht in Händen hält. Das Parlament führt Untersuchungen durch, bringt Opposition zum Ausdruck, überprüft routinemäßig die Maßnahmen der Regierung und stellt permanent ihre Politik zur Diskussion, bis hin zu einem möglichen Misstrauensvotum. In Frankreich wurden diese Gegenmächte im 19. Jahrhundert gewissermaßen vom Staat »übernommen«, nachdem sie während der Revolution vorübergehend eine Domäne der Zivilgesellschaft gewesen waren. Zwar blieb die Presse als unabhängige Macht bestehen, dennoch könnte man behaupten, dass sich der liberale Parlamentarismus vornehmlich durch seinen Anspruch definierte, sich das Monopol auf Überwachung und Kontrolle anzueignen, worin er sich von spezifisch demokratischen Modellen der Machtausübung unterschied. Von allen Theoretikern ist John Stuart Mill derjenige, der diesen Punkt am deutlichsten herausstellte. In seinen Betrachtungen über die Repräsentativregierung argumentierte er, dass Agieren und Kontrollieren nicht deckungsgleich seien, was für ihn den wahren Grund der Gewaltenteilung ausmachte. »Die Geschäfte der Regierung zu kontrollieren oder sie selbst durchzuführen, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ein und dieselbe Person oder Körperschaft mag zwar imstande sein zu kontrollieren, kann aber unmöglich auch alles ausführen; vielfach ist ihre Kontrolle umso besser, je weniger sie mit der praktischen Durchführung der Sache zu tun hat.«8 Dafür erstreckt sich Kontrolle über ein größeres Gebiet. Sie ist sozusagen eine extensive Macht, während unmittelbares Handeln durch seine Intensität charakterisiert ist. Für Mill war dieser Unterschied identisch mit dem zwischen Exekutive und Legislative: »Die 7 8

Bericht von Martin (du Nord) vom 10. April 1832, A.P., 2. Serie, Bd. 77, S. 416. Mill, Betrachtungen über die Repräsentativregierung, S. 79 (Kapitel V, »Über die Repräsentativkörperschaften angemessenen Funktionen«).

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eigentliche Funktion einer Repräsentativversammlung besteht nicht darin, die Arbeit der Regierung selbst zu verrichten, wozu sie absolut ungeeignet ist, sondern darin, die Regierung zu überwachen und zu kontrollieren, die volle Öffentlichkeit aller Regierungshandlungen herzustellen, deren Offenlegung und Rechtfertigung zu erzwingen, sobald sie irgendjemandem bedenklich erscheinen, und sie zu kritisieren, falls sie sich als verurteilenswert herausstellen. Sie muss die Mitglieder der Regierung, die ihr Amt missbraucht oder in einer Weise ausgeübt haben, die nicht dem Willen der Nation entspricht, aus diesem Amt entfernen und entweder formell oder jedenfalls faktisch ihre Nachfolger ernennen.«9 Für Mill war diese parlamentarische Kontrollmacht passiv, ihre Funktion eine wesentlich negative. Sie war insofern nicht demokratisch, als sie mit keinem Vermögen, über den Gemeinwillen zu gebieten, einherging. Im Übrigen traf dieser Theoretiker des liberalen Parlamentarismus eine geradezu soziologische Unterscheidung zwischen Überwachen und Regieren, die sich wiederum weit von jeder demokratischen Perspektive entfernte: Handeln erforderte nach seiner Meinung höhere Kompetenzen als Kontrollieren. Diese funktionelle Unterscheidung leitete sich unmissverständlich aus der Wahrnehmung einer Kluft zwischen Eliten und Masse ab. »Das Handeln [kommt] nicht einer gemischten Körperschaft, sondern speziell dafür ausgebildeten Einzelnen zu …«, erklärte er apodiktisch, »… die angemessene Aufgabe einer Volksvertretung […] besteht [darin], für die einwandfreie und vernünftige Wahl dieser Persönlichkeiten zu sorgen und auf sie nicht weiter einzuwirken als durch das unumschränkte Recht zu Vorschlag und Kritik und die Gewährung oder Verweigerung des endgültigen Placet des Volkes. In Ermangelung dieser einsichtigen Zurückhaltung versucht eine Volksversammlung zu tun, wozu sie nicht fähig ist, nämlich zu regieren und Gesetze zu machen.«10 Nach Auffassung Mills ist das Parlament das Zentralorgan der öffentlichen Meinung, wenn nicht sogar das einzig »autorisierte« Sprachrohr dieser Meinung (auch wenn er dieses Wort nicht benutzt). Als »Beschwerde-

9 10

Ebd., S. 90–91. Ebd., S. 92.

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ausschuss der Nation« und »Kongress der Volksmeinung« verkörpert es nämlich in ausreichendem Maße die Meinung der Allgemeinheit. Dieser Sicht des Parlamentarismus entspricht gleichsam logisch ein Minimalverständnis von Demokratie als Regulativ und Schutzmacht der Bürgerrechte. Zwar sieht auch Mill die Notwendigkeit, dass sich die Bevölkerung in gewissem Maße einmischt. Doch hat ein solches Engagement nichts mit Partizipation zu tun, es ist lediglich als eine »oberste Kontrollgewalt«11 zu verstehen. Das Wesen der Repräsentativregierung besteht für ihn also darin, ein System von Kontrollen zu implementieren, das durch die Bestimmung von Repräsentanten mithilfe der Wahlurnen lediglich in Gang gesetzt wird. Ein solches politisches System, bei dem die direkte Ausübung demokratischer Macht (durch Wahlen) die doppelte Eigenschaft aufweist, zugleich funktional negativ (insofern sie nur eine Kontrollmacht generiert) und strukturell nachrangig zu sein, kann man als »liberal« bezeichnen. Die Art von Legitimation, die die Wahl von Abgeordneten und die Berufung einer Regierung durch diese gewählten Repräsentanten verschafft, wird durch das System der Top-down-Kontrollen beschränkt. Mills Theorie markiert somit den logischen Schlusspunkt der Abkehr von vorherigen Versuchen, eine duale Demokratie zu definieren: Das Parlament integriert in seiner Version die Gesamtheit aller indirekten demokratischen Gewalten. Paradoxerweise ist die jakobinische Republik in Frankreich bei einer ähnlichen Auffassung des Parlaments als einzige Verkörperung aller Überwachungsbefugnisse stehen geblieben. Zwar war die französische Republik insofern »demokratischer«, als sie das Wahlvolk glorifizierte und das allgemeine Wahlrecht zum »Allerheiligsten« der Gemeinschaftsordnung erklärte, doch ging sie in ihrem Verständnis der Gegenmächte nicht über den organisatorischen Rahmen der offiziellen Institutionen hinaus. In dieser Hinsicht blieb sie ganz und gar parlamentarisch: Mit ihr triumphierte das Prinzip der monistischen Wahldemokratie. Robespierre und Bonaparte waren die ersten Theoretiker und zugleich die ersten Verkörperungen dieses Prinzips, bevor die Republikaner des 19. Jahrhunderts es in einer kulturell verwässer-

11

Ebd., S. 77.

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ten, aber philosophisch originalgetreuen Version präsentierten. Wie in der englischen Theorie des liberalen Parlamentarismus wurde ein aktives politisches Eingreifen der Gesellschaft strikt abgelehnt. So installierte sich beiderseits des Ärmelkanals ein Regime des »abwesenden Volkes«. Eine Abwesenheit, die im Falle Frankreichs aus einer übersteigerten Abstraktion, im Falle Englands aus einer Distanz und Skepsis gegenüber der Bevölkerung resultierte. Das abwesende war jedoch kein untätiges Volk, sondern eines, das sich immer wieder jenseits der Wahlurnen Gehör zu verschaffen versuchte. Deshalb äußerten sich die Gegenmächte, die direkt dem Zorn der Öffentlichkeit über die Exzesse der herrschenden Mächte entsprangen, ein Unmut, der sich mal auf der Straße, mal in den Schlagzeilen der »Regenbogenpresse« Luft machte, seit Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig in der »wilden« Form von sozialen Kämpfen und Protestbewegungen. Die dritte Phase begann in den 1970er Jahren, als der Niedergang des Parlamentarismus verbunden mit dem Erstarken einer Zivilgesellschaft, die mehr Autonomie entwickelte, zu einem gesellschaftlich umfassenderen Ausdruck der verschiedenen Formen indirekter Demokratie führte. Neue Kontrollinstanzen entstanden, andere wandelten sich. Sie wechselten auch ihre Position und wurden Teil einer breiteren Bewegung zur Wiederaneignung von Formen der Überwachung, Untersuchung und Bewertung, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts dem parlamentarischen Betrieb einverleibt worden waren.12

Demokratischer Dualismus: eine lange Geschichte Wenn Demokratie auf zwei Säulen beruht, repräsentativen Wahlverfahren und Kontrollbefugnissen, sollte man dann nicht darüber nachdenken, Letztere zu stärken, indem man sie institutionalisiert? Wäre

12

Ungeachtet dessen haben sich im selben Zeitraum auch die Befugnisse des Parlaments in vielen Ländern erweitert. Selbst in Frankreich, das in dieser Hinsicht gegenüber anderen Demokratien weit im Rückstand ist, wurde das Untersuchungsrecht erweitert (vgl. Vallet, »Les commissions d’enquête parlementaire sous la Cinquième République«) oder die Möglichkeit der Opposition verbessert, die Regierung zur Rede zu stellen (vgl. Carcassonne, »La place de l’opposition. Le syndrome français«).

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das nicht der richtige Weg, um den Übergang in eine vierte Phase der Demokratiegeschichte einzuläuten, das Stadium ihrer vollen Entfaltung? Diese Frage entspringt keineswegs müßiger Spekulation. Sie greift vielmehr auf eine lange Geschichte des demokratischen Dualismus zurück. Eine weithin vergessene Geschichte, sodass es notwendig ist, sie in groben Zügen zu rekapitulieren, um mit unseren Überlegungen voranzukommen. Wir müssen also ganz an den Anfang zurück, das heißt zu den alten Griechen, um von dort aus die einzelnen Etappen dieser Geschichte nachzuvollziehen bzw. die Gründe für die jeweiligen Entwicklungen zu verstehen. Im klassischen Athen wurden Magistrate öfter durch das Los als durch Wahlen bestimmt, und dies galt als das eigentlich demokratische Verfahren. Der Losentscheid wurde insofern als in einem radikalen Sinne egalitär verstanden, als er unterstellte, dass alle Bürger gleichermaßen befähigt sind, öffentliche Ämter wahrzunehmen. Dieser Sachverhalt ist ausgiebig diskutiert worden und bestens belegt. Darüber hat man aber allzu oft eine zweite Eigenschaft der Demokratie übersehen, die für die Griechen genauso wichtig war.13 Die Einführung systematischer Kontrollen, bezogen auf alle, die ein öffentliches Amt bekleideten oder öffentliche Gelder verwalteten. Herodot hat als Erster in seinen Historien auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht: »Die Herrschaft des Volkes […] bestimmt die Regierung durch das Los, und diese Regierung ist verantwortlich; alle Beschlüsse werden vor die Volksversammlung gebracht.«14 Die Rechnungslegung am Ende der Amtszeit war die übliche Form dieser Art von Kontrolle. Aristotees distanzierte sich zwar von den aristokratischen bzw. »technokratischen« Vorbehalten Platons hinsichtlich der Ernennung von Funktionsträgern, dennoch war dies für ihn nicht der entscheidende Punkt bei seiner Definition der Demokratie. Vielmehr betrachtete er die strenge Beaufsichtigung der Magistrate durch die Bürger als das eigentliche Schlüsselelement. In der Politik finden sich verschiedene Annäherungen an die Demokratie, und Aristoteles scheint sich bisweilen selbst unschlüssig gewesen zu sein, welche Regierungsform er als die richtige ansehen soll, doch an diesem Prinzip der öffent13 14

Vgl. aktuell Manin, Kritik der repräsentativen Demokratie. Herodot, Historien, Drittes Buch, 80, S. 232.

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lichen Kontrolle hielt er stets ausdrücklich fest. Selbst in Fällen, in denen er den Bürgern nur beschränkte Befugnisse einräumte, tastete er das Recht auf Kontrolle der Magistrate nicht an. Letztlich bildete dieses Recht den Dreh- und Angelpunkt der diversen »Mischverfassungen«, die er für erstrebenswert hielt. Wenn Demokratie vor allem das System der »Isonomie« ist, dann leitet sich die Souveränität der Bürger aus ihrer Eigenschaft als euthynoi ab, das heißt »Prüfer« oder »Aufseher«.15 Die Griechen besaßen verschiedene Methoden, um diese Kontrollen auszuüben. Im klassischen Athen gab es, der Beschreibung von Aristoteles zufolge, verschiedene Kategorien von (ausgelosten) Beamten, die damit betraut waren, die (ihrerseits ausgelosten oder gewählten) Exekutivorgane zu kontrollieren. Aristoteles erwähnte die Rechenschaftsbeamten [euthynoi], die Rechnungsprüfer [logistai], die Untersuchungsbeamten [exetastai] sowie die öffentlichen Ankläger [synegoroi].16 Die meisten anderen griechischen Städte verwendeten bis zum Ende der hellenistischen Zeit ähnliche Methoden, sei es in Form der Rechnungsprüfung nach Ablauf des Mandats oder der Kontrolle der Magistrate bei laufender Amtsführung.17 Welche Verfahren gewählt wurden und welchen Anteil gewöhnliche Bürger an ihrer Umsetzung hatten, ist der beste Gradmesser für den demokratischen Charakter einer Stadt. Und umgekehrt ist der Bedeutungsverlust oder das Verschwinden solcher Prüfverfahren der sicherste Beweis für den Niedergang der Demokratie. Anhand dieser Ursprungsversion des »wachsamen Volkes« lässt sich auch erklären, warum der Losentscheid als Auswahlmodus für Magistrate sich so leicht hat durchsetzen können. Wenn die Beamten bloß ausführende Organe sind, die strengen und regelmäßigen Kontrollen unterliegen, können ihre persönlichen Fähigkeiten als rela-

15 16 17

Zu dieser Etymologie vgl. die Ausführungen von Fröhlich, Les Cités grecques et le Contrôle des magistrats. Aristoteles, Politik, Buch IV –VI , VI ,8, 1322b 7–12, S. 106. Vgl. die Fakten bei Fröhlich, Les Cités grecques. Dieses grundlegende Werk, das sich auf die neuesten Erkenntnisse der Epigrafik stützt und obendrein den Vorteil besitzt, sich nicht allein auf Athen zu beschränken, stellt diesen zweiten Aspekt, die Kontrolle bei laufenden Amtsgeschäften, in den Vordergrund.

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tiv unbedeutende Variablen betrachtet werden. Ob eine Regierung »gut« ist oder nicht, hängt nicht allein von den Tugenden oder Talenten der Regierenden ab: Wesentlich ist vielmehr die Wirksamkeit der Kontrollmechanismen. Eine »schwache« Form von demokratischer Legitimation, wie das Losverfahren sie lieferte, und eine »starke« Kontrollmacht ergänzten sich somit in Athen zu einem schlüssigen institutionellen System. Um Adam Smith zu paraphrasieren, könnte man sagen, dass die Griechen sich eine Verwirklichung des Gemeinwohls nicht vom Wohlwollen oder der Tugend der Regierung erwarteten, sondern vielmehr vom Eigeninteresse der Regierenden, nicht zur »Rechenschaft gezogen« zu werden (die Strafen waren mitunter hart). Wir verfügen nicht über die notwendigen Informationen, um beurteilen zu können, wie diese Sichtweise zustande kam. Doch ist die Annahme nicht gänzlich abwegig, dass es die historische Auseinandersetzung mit Korruptionsphänomenen war, die allmählich die Einsicht beförderte, dass man dem am besten dadurch begegnen könne, dass man das Verhalten der Regierenden auf den Prüfstand stelle. Jedenfalls scheint Aristoteles dieser Meinung gewesen zu sein. Als er die Bestechlichkeit der spartanischen Geronten kritisierte, schrieb er dieses Phänomen wesentlich der Tatsache zu, dass diese Würdenträger keiner Kontrolle unterlagen: »Es ist aber auch bekannt, daß seine Inhaber [Gerontenamt] sich bestechen lassen und sich in vielen öffentlichen Angelegenheiten von persönlicher Gunst leiten lassen. Deswegen wäre es vorzuziehen, daß sie nicht von einer abschließenden Kontrolle ihrer Amtsführung ausgenommen sind – sie sind es jedoch.«18 Aus dieser Sicht ist es weniger die Wahl politischer Führer durch das Volk als die Kontrolle durch die Bürger, was Demokratie ausmacht. Doch diese Dualität ist uns in der Moderne allmählich aus dem Blick geraten, so sehr haben sich die Wahlen schließlich zu einer Art demokratischer Gesamtinstitution verabsolutiert, die gleichermaßen als technisches Verfahren zur Rekrutierung des Regierungspersonals, als Mittel der Vertrauensbildung zwischen Bürgern und Staatsmacht sowie als System zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung fungiert. Es ist entscheidend, sich darüber klar zu werden,

18

Aristoteles, Politik, Buch II –III , 9, 1271a 3–6, S. 38.

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will man die Geschichte der Demokratie neu interpretieren und auf diese Weise die tieferen Ursachen des gegenwärtigen politischen Unbehagens verstehen. Das 18. Jahrhundert sah die Athener mit anderen Augen als wir. Die grundlegende Notwendigkeit von Aufsichtsorganen war noch im allgemeinen Bewusstsein. Jeder, der eine weiterführende Schule besuchte, las Plutarch und war mit den Institutionen der Antike vertraut. Allenthalben fanden sich Bezüge zu den römischen Zensoren oder den spartanischen Ephoren. Montesquieu machte viel Aufhebens von diesen ephoroi, also, etymologisch gesprochen, von »denen die hinschauen, beobachten, überwachen«, was die Mächtigen tun.19 Rousseau wusste ihre Rolle ebenfalls zu schätzen und widmete ein ganzes Kapitel des Gesellschaftsvertrages den römischen Zensoren, die für die Kontrolle der öffentlichen Finanzen zuständig waren und auch gewisse rechtliche Befugnisse besaßen. Auch De Lolme und Filangieri betonten die Wichtigkeit einer »zensorischen Macht«20 und die Encyclopédie von Diderot und D’Alembert veröffentlichte sachkundige Artikel über diese Institutionen, denen man zutraute, ein, wie es hieß, »Gegengewicht« zu den herrschenden Mächten zu bilden. Alle diese Autoren hofften auf die Entstehung repräsentativer Institutionen, aber auch von Aufsichtsorganen nach antikem Vorbild. Die Voraussetzungen, unter denen derartige Gegenmächte installiert werden sollten, entsprachen freilich ebenso sehr liberalem wie demokratischem Denken. Sie waren wesentlich liberal, insofern sie darauf abzielten, den Handlungsspielraum der Regierungen einzuschränken, denen man einen natürlichen Hang zum Despotismus nachsagte. Montesquieu ging es zwar in erster Linie darum, die Macht des Monarchen zu kontrollieren, er machte sich aber auch Gedanken darüber, wie mögliche Exzesse einer Volksmacht einzudämmen seien. Mit Genugtuung stellte er fest, dass die spartanischen Ephoren in der Lage gewesen seien, »die Schwächen der Könige, der Großen und des 19 20

Zur historischen Interpretation der Ephoren vgl. Richer, Les Éphores. Études sur l’histoire et sur l’image de Sparte. De Lolme, Die Constitution Englands, S. 245 (dort »die Macht der öffentlichen Stimme«), und Filangieri, System der Gesetzgebung, Buch I, Kap. VIII (»Von der Nothwendigkeit eines Censors der Gesetze«, S. 160–169).

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Volks zu unterdrücken«.21 Dieses »liberale« Überwachungsverständnis war auch in England über das ganze 18. Jahrhundert hinweg zu finden. Eines der führenden republikanischen Organe der Zeit, der Independent Whig, sah seinen Daseinszweck darin, alle Regierungsmaßnahmen zu prüfen und notfalls zu monieren.22 Andere Autoren erkannten hingegen den demokratischen Charakter der Überwachung und begriffen, dass sie geeignet war, die politischen Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung zu erweitern. Einer davon war Rousseau. Seine Überzeugung wurde von Richard Price geteilt, der sie mit einer gleichermaßen an Rousseau wie an Montesquieu angelehnten Begrifflichkeit diskutierte.23 Das beste Beispiel für diesen Ansatz war jedoch die Verfassung des Staates Pennsylvania von 1776. Dieser Text galt weithin als Gründungsdokument des demokratischsten aller amerikanischen Bundesstaaten: Einkammerparlament, Wahlrecht für alle Steuerzahler, unabhängig von der gezahlten Summe, Rotationssystem für die Mitglieder des 21

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Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch V, Kapitel 8, S. 80. Der Artikel über die »Ephoren« in der Encyclopédie schloss mit dem Verweis auf die »Vorzüge einer Magistratur, die gleichermaßen zu verhindern weiß, dass die Macht des Königs und des Adels in Härte und Tyrannei, und die Freiheit des Volkes in Zügellosigkeit und Aufruhr mündet«. »He claims a Right of examining all public Measures and, if they deserve it, of censuring them. As he never saw Power possessed without some Abuse, he takes upon him to watch those that have it; and to acquit or expose them according as they apply it to the good of their country, or their own crooked Purposes.« Diese Auszug aus den Pamphleten, die John Tranchard und Thomas Gordon während der Regentschaft von George I unter dem Titel Independent Whig (1723) veröffentlichten, ist hier zitiert nach Robbins, The Eighteenth-Century Commonwealthman, S. 120. Vgl. einerseits den »liberalen« Tenor seiner Sicht der Überwachung in seinen Observations on the Nature of Civil Liberty (1776): »There is nothing that requires more to be watched than power. There is nothing that ought to be opposed with a more determined resolution than its encroachments. Sleep in a state, as Montesquieu says, is always followed by slavery« (in: Price, Political Writings, S. 30). Andererseits seine gegen Burke gerichtete Verteidigungsschrift der Französischen Revolution, Discourse on the Love of our Country (1789), in der er nicht nur den Widerstand gegen Übergriffe der Macht zum Grundrecht erklärte, sondern weitergehende »demokratische« Vorstellungen entwickelte und das Recht einforderte, »eine Regierung für uns selbst zu bilden« [the right »to frame a government for ourselves«], ebd., S. 190.

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Repräsentantenhauses. Die bemerkenswerteste Neuerung bestand jedoch in der Einführung (Artikel 47) eines Zensorenrates.24 Diese Zensoren waren gewählte Vertreter der Städte und Bezirke des Staates und hatten die Aufgabe, sicherzustellen, dass Exekutive und Legislative ihre Funktionen als »Beschützerinnen des Volkes« auch zuverlässig wahrnahmen. Dieser Rat, der in öffentlicher Sitzung tagte, konnte Rügen erteilen, Gerichtsverfahren anstrengen, Beamte wegen Fehlverhaltens entlassen, die Aufhebung vermeintlich verfassungswidriger Gesetze empfehlen; ferner konnte er die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung beschließen. Die Amerikaner dieser Zeit schwelgten, nicht weniger als die Europäer, in Bezügen zu Rom, Sparta und Athen. Die Roman Antiquities von Kenneth wurden an allen höheren Schulen gelesen. Leitartikler und Pamphletisten unterzeichneten ihre Texte gerne mit »Cato«, »Cassandra« oder »Spartacus«. Mit der Verfassung von Pennsylvania nahm dieser Klassizismus gewissermaßen praktische Gestalt an (der Staat Vermont folgte wenig später mit der Gründung eines ähnlichen Rates). Der Text wurde überall in Europa ausgiebig diskutiert. Mit Hilfe Benjamin Franklins übersetzte der Duc de La Rochefoucauld die Verfassung bereits Anfang 1777 ins Französische. Die Encyclopédie méthodique von Jean-Nicolas Démeunier widmete ihr umgehend einen langen Artikel. Brissot wiederum verfasste ein engagiertes Pamphlet über das »pennsylvanische Gesetz«, in dem er die Einführung des Zensorenrates ausdrücklich guthieß.25 Auch Mably, Mirabeau und Turgot griffen zur Feder, um die Funktionen des Rates zu diskutieren.26 Die Aussicht auf eine institutionalisierte Kontrollfunktion wurde seinerzeit nicht weniger begrüßt als die Durchsetzung des repräsentativen Prinzips.

24

25 26

Zu dieser Einrichtung vgl. Meader, »The Council of Censors«; Selsam, The Pennsylvania Constitution of 1776; Lutz, Popular Consent and Popular Control. Brissot de Warville, »Réflexions sur le Code de Pennsylvanie« (dort S. 253–257). Vgl. Selsam/Rayback, »French Comment on the Pennsylvania Constitution of 1776«; Lerat, »La première Constitution de Pennsylvanie. Son rejet à Philadelphie, ses échos en France«; Dippel, »Condorcet et la discussion des constitutions américaines en France avant 1789«.

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Keine zwanzig Jahre später entstanden im Rahmen der französischen Verfassungsdebatten auch Projekte zur organisatorischen Umsetzung einer solchen Regierungskontrolle. Bereits 1791 wurden im Umkreis des Cercle Social und des Club des Cordeliers entsprechende Pläne ausgearbeitet. Lavicomterie etwa widmete dem Thema ein langes Kapitel seines programmatischen Werkes Du Peuple et des rois (1791), in dem er die Vorteile einer Zensorengruppe erläuterte. Und Bonneville machte in La Bouche de fer den Vorschlag, in jedem Departement zwölf Volkstribunen zu wählen, um die staatlichen Behörden zu überwachen. In der selben Publikation ist auch von einem Plan die Rede, ein »Nationales Zensorenamt« einzuführen.27 In den zahlreichen Verfassungsentwürfen, die der Konvent im Frühjahr 1793 diskutierte, war wiederholt von »Zensoren« und »Ephoren« die Rede. Danou regte zu einer »harmonisch gestalteten Überwachung des Souveräns« an, die Bürger der Sektion L’Unité forderten in einer Eingabe ein »Ephorentribunal«, Poultier befürwortete einen »Sprecher des Volkes«, der die Nachlässigkeiten, Versäumnisse, Treuebrüche und Intrigen der Regierenden anprangern sollte, Prunelle de Lierre ein »Tribunal des Volksgewissens«, Hérault de Séchelles eine »Nationaljury«, die an der Seite des Parlaments dafür sorgen sollte, »jeden Bürger zu rächen, der persönlich Opfer von Übergriffen des Gesetzgebers oder des Exekutivrats geworden war«. Bacon sprach von einer »dritten Ordnungsmacht«, Rouzet plante ein »Ephorenkollegium« und Kersaint ein »Zensorentribunal«.28 Wie man sieht, entwickelten die Konventsmitglieder auf diesem Gebiet besonders viel Fantasie. Dennoch, bei aller Vielfalt der Bezeichnungen und Verfahren blieb das grundsätzliche Anliegen stets das gleiche: Es ging darum, eine gesellschaftliche Aufsichtsfunktion zu institutionalisieren und Souveränität als dynamische, womöglich spannungsreiche Beziehung zwischen einer Repräsentativ- und einer Kontrollmacht zu begreifen, die beide ihren Ursprung in der Bevölkerung hätten. Frankreich erlebte 1799 eine Wiederauferstehung ähnlicher Projekte, vorgetragen von Danou und 27

28

Es sei daran erinnert, dass der Titel Bouche de fer (Eisenmaul) dem »steinernen Maul« in Venedig entlehnt ist, in dem die Bürger ihre Vorwürfe und Beschwerden gegen die Obrigkeit deponieren konnten. Vgl. die Bände 63 bis 67 der Archives Parlementaires, 1. Serie.

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Cabanis, und auch die zeitgleiche Entstehung der »Schwesterrepubliken« trug noch deutliche Spuren solcher Ideen.29 In der Verfassung des Jahres VIII äußerte sich dieser Einfluss in der Institution des Tribunats. Allerdings scheiterte sie. Und die Verfassungen von Pennsylvania und Vermont wurden bald revidiert, die Zensorenräte abgeschafft. In Großbritannien wiederum wurde eine entsprechende Debatte erst gar nicht geführt. Es ist wichtig, beides zu begreifen: das Scheitern der Projekte im einen Fall, das Ausbleiben der Debatte im anderen.

Die unmögliche Institutionalisierung Beginnen wir mit Pennsylvania. Der 1776 gegründete Zensorenrat trat 1783 erstmals zusammen (er sollte alle sieben Jahre eine ausgedehnte Sitzung abhalten). Es blieb die einzige Versammlung dieser Art, denn eine neue, 1790 angenommene Verfassung schaffte das Gremium wieder ab. Für diesen Vorgang gab es sicherlich »politische« Gründe im engeren Sinne. Die revolutionäre Begeisterung aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges hatte sich inzwischen abgekühlt. Während der Ratifizierungskampagne zugunsten der Bundesverfassung im Winter 1787–1788 machte sich der Verfassungskonvent von Pennsylvania die Meinung der gemäßigten Föderalisten zu eigen.30 Im Zuge dessen wurde 1790 auch das Einkammersystem wieder abgeschafft, weil man befürchtete, es könne einem möglichen Ausbruch kollektiver Leidenschaften nicht standhalten. Die Abschaffung des Zensorenrates erfolgte also im Kontext einer konservativen Wende, in der ein auf Vorsicht bedachter Liberalismus die Gefühle beherrschte. Allerdings wäre diese Erklärung allein unzureichend. Es gab auch einen spezifisch institutionellen Grund für diese rückwärtsgewandte Orientierung: Die Sitzungen des Rates waren Schauplatz heftiger Zusammenstöße zwischen Radikalen und Gemäßigten gewesen.31 Die eigentliche Funktion des Rates – eine funktionale Gegenmacht zu verkörpern – war durch diese internen Konflikte nachhaltig beeinträchtigt worden. Nun setzt 29 30 31

Vgl. zum Beispiel die Vorschläge von Mario Pagano in Neapel. Siehe Battaglini, Mario Pagano e il progetto di Costituzione della Republica napoletana. Vgl. Jensen (Hg.), History of the Ratification of the Constitution, Bd. II : Pennsylvania. Vgl. dazu Meader, »The Council of Censors«.

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aber ein Aufsichts- und Vorschlagsgremium dieser Art eine gewisse Einheit voraus, um wirksam zu sein und als Institution im eigentlichen Sinne fungieren zu können. Wenn es sich in eine politische Arena verwandelt, die bloß die Konflikte der Gesamtgesellschaft oder des Parlaments reproduziert, wird ihre Mission bis zur Unkenntlichkeit entstellt und letztlich zu einem aussichtslosen Unterfangen. Weswegen sich 1790 mehrheitlich das Gefühl durchsetzte, es sei einfacher, auf die direkte Konfrontation zwischen Mehrheit und Opposition einerseits, das Funktionieren einer internen Machtbalance (Zweikammersystem, Verfassungsgericht) andererseits zu vertrauen. Das Problem mit dieser Lösung war, dass eine gewisse demokratische Dimension dabei verloren ging. Daher ist die Geschichte dieses Scheiterns exemplarisch und hält Lektionen bereit, die sich anhand der Analyse eines weiteren Falls, dem des französischen Tribunats von 1800, vertiefen lassen. Die Verfassung des Jahres VIII sah einen komplexen Regierungsapparat vor, der sich gleichermaßen der Fantasie eines Sieyès wie der Ungeduld eines Bonaparte verdankte.32 Sie instituierte drei Versammlungen: einen Senat, eine gesetzgebende Körperschaft und ein Tribunat. Die Hauptaufgabe des Senats bestand darin, die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Die Legislative verabschiedete Gesetze und den Haushalt, hatte aber weder eine beratende Funktion noch das Recht, Abänderungsanträge zu stellen, sie war eine »Versammlung von Stummen«, die faktisch eine reine Absegnungsfunktion ausübte. Der Verfassungstext trug in diesem Punkt ganz die Handschrift Bonapartes: Die Regierung erhielt weitgehende Befugnisse, zum Beispiel besaß sie das alleinige Recht, Gesetze vorzuschlagen. Das Tribunat wiederum war dafür zuständig, diese Gesetzesvorschläge zu diskutieren. Es war berechtigt, Wünsche hinsichtlich der anstehenden Initiativen zu äußern. Es konnte überdies Stellung beziehen zu dem, was »in allen Teilen der öffentlichen Verwaltung an Missständen zu beseitigen oder Verbesserungen vorzunehmen ist«;33 es be32 33

Vgl. Bourdon, La Constitution de l’an VIII . Artikel 20 der Verfassung. Über die Entstehung dieses Artikels siehe den bedeutenden Brief Bonapartes an Talleyrand über Verfassungsfragen vom 21. September 1797, in: Bonaparte, Correspondance générale, Bd. 1, S. 1196–1198. Bona-

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fasste sich mit Petitionen und konnte Minister bei der gesetzgebenden Körperschaft anzeigen (die dann über deren Anklage vor einem Sondergericht abstimmen musste). Schließlich hatte es das Recht, über die Umstände zu diskutieren, unter denen die Verfassung aufgehoben werden konnte. Wie man sieht, übernahm die Institution einige der Ideen von 1791 oder 1793 über die Einrichtung einer Aufsichtsmacht, wenngleich in abgeschwächter Form. Schon der Name »Tribunat« nahm unmittelbar Bezug auf diese vorherigen Projekte und ihre antiken Vorbilder, insbesondere eine Institution, der Rousseau im Gesellschaftsvertrag seine spezielle Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Das Wort hatte einen demokratischen Klang, es beschwor das Bild jener »Volkstribunen« herauf, die nach 1789 so oft angepriesen worden waren. Le Tribun du peuple, so lautete schließlich der Titel, den erst Bonneville und später Babeuf ihren ebenso renommierten wie richtungsweisenden Journalen gegeben hatten. Doch auch dieses Experiment scheiterte. Aus historisch naheliegenden Gründen, auf die wir hier nicht weiter einzugehen brauchen (Ernennung Bonapartes zum Konsul auf Lebenszeit im Jahr X, Beginn des Ersten Kaiserreichs). Interessanter für unsere Zwecke ist ein anderer Grund, nämlich dass die Institution sich gar nicht entfalten konnte, schon bevor sie dem Machthunger des Ersten Konsuls zum Opfer fiel. Anhand der Fragen und Debatten, die schon während der ersten Sitzung des Tribunats aufkamen, lässt sich das Ausmaß des Problems ermessen. Kaum war die Verfassung angenommen, beschloss Bonaparte (der auf ein Plebiszit gedrängt hatte), diese Versammlung mundtot zu machen, weil er befürchtete, dass sie sich automatisch in ein Zentrum der organisierten politischen Opposition verwandeln würde. Der erste Gesetzentwurf, den er vor das Tribunat brachte, sah eine Reform des »Gesetzbildungsprozesses« vor, die insbesondere die Beratungsfristen auf ein Minimum beschränkte. Es hieß ausdrücklich, dass ein Entwurf als von der Versammlung gebilligt galt, wenn diese sich nicht »an dem von der Regierung festgelegten Tag« dazu äußere! Das parte spricht darin von einer Überwachungsmagistratur, allerdings in einem sehr restriktiven Sinne, denn er betrachtet sie lediglich als eine legislative Macht mit begrenzter Zuständigkeit. Es sei erwähnt, dass Bonaparte Talleyrand darum bat, den Brief an Sieyès weiterzuleiten.

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versetzte die Regierung in die Lage, die Debatte auf ein bloßes Verlesen des Entwurfes zu reduzieren, da jede substanzielle Prüfung schon von den Umständen her ausgeschlossen war. In der Folge wurde der Geist der Institution zum Gegenstand zahlloser Artikel und Reden. Die entscheidende Frage, die Bonaparte mit seinem Vorstoß aufgeworfen hatte, lautete: Wie verhält sich ihre Aufsichtsfunktion zu ihrer Rolle als Opposition? Roederer, ehemals Mitglied der Konstituante, der den Staatsstreich vom 18. Brumaire gebilligt hatte, verteidigte das Tribunat in einem Artikel seines Journal de Paris energisch: »Weiß denn jemand, was das Tribunat ist?«, fragte er. »Ist es wirklich die organisierte Opposition? Stimmt es, dass ein Tribun gezwungen ist, ständig gegen die Regierung zu sein, ohne Maß und Verstand; alles zu bekämpfen, was sie tut und vorschlägt; muss er seine Stimme gegen sie erheben, selbst wenn er ihr Verhalten von Herzen billigt; sie verunglimpfen, selbst wenn er über sie nur Gutes zu sagen hätte? […] Wäre das die Berufung des Tribunen, sein Gewerbe wäre das gemeinste und abscheulichste von allen. Ich habe eine andere Vorstellung von seiner Aufgabe. Ich betrachte das Tribunat als eine Versammlung von Staatsmännern, die dafür verantwortlich sind, das Werk des Staatsrates zu prüfen, zu ändern, zu veredeln und zu vervollkommnen, und mit ihm gemeinsam zum öffentlichen Wohl beizutragen. Ein wahrer Staatsrat ist ein Tribun, der der höchsten Autorität zur Seite steht, ein wahrer Tribun ist ein Staatsrat, der sich inmitten des Volkes befindet.«34 Die Wahrnehmung einer »funktionalen« Aufsicht war also in seinen Augen etwas anderes als der eher »politisch« motivierte Ausdruck einer organisierten Opposition gegen die Staatsmacht und konnte mit diesem nicht automatisch gleichgesetzt werden. Roederer erkannte zwar als Erster den Unterschied, konnte ihn aber nicht wirklich auf den Begriff bringen. Benjamin Constant, damals Mitglied des Tribunats, griff seinerseits in die Debatte ein. Er hielt zu diesem Thema vor der Versammlung eine wichtige Rede,35 in der er sich ebenfalls dagegen verwahrte, »das Tribunat als Hort ständiger Opposition zu betrachten«, 34 35

»Du Tribunat«, Journal de Paris, 15. Nivôse des Jahres VIII (5. Januar 1800). Wieder abgedruckt in: Roederer, Œuvres du comte P. L. Roederer, Bd. VI , S. 399. Rede vom 15. Nivôse des Jahres VIII , in: Constant, Discours au Tribunat, S. 73–84.

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da das Gremium in diesem Fall seine Glaubwürdigkeit und seinen Einfluss verspielen würde. Bemerkenswert ist jedoch, dass der junge Publizist, dessen Renommee in dem Maße stieg, wie er sich die Feindseligkeit des Ersten Konsuls zuzog, ebenfalls daran scheiterte, den Unterschied zwischen politischer Opposition und institutioneller Kontrolle, der die Funktion des Tribunats definierte, theoretisch herauszuarbeiten. Seine Rede steckte voller Verneinungen und Vorbehalte: »Eine Opposition ohne Augenmaß ist auch eine kraftlose Opposition«; »das Tribunat ist keine Versammlung von Schwätzern, deren einzige Beschäftigung darin besteht, von der Tribüne herab ihre Opposition zu verkünden.« Er verwahrte sich entschieden gegen »die Vorstellung einer ständigen und grundsätzlichen Opposition«. Hingegen fiel es ihm schwer, die Funktion des Tribunats in einem positiven Sinne zu beschreiben. Stattdessen begnügte er sich damit, in platt moralisierenden Begriffen seinen »beharrlichen Mut« oder seine »Unabhängigkeit« zu beschwören. Constants Problem rührte daher, dass er es nicht schaffte, den Begriff der Kontrollmacht in einen demokratischen Kontext zu stellen. Tatsächlich aber lässt sich eine derartige Macht nur in einem solchen Rahmen konzipieren, unter dem Gesichtspunkt einer doppelten Volkssouveränität. Hier weist Constants Denken einen blinden Fleck auf: Er unterscheidet nicht zwischen dem demokratischen Potenzial des Tribunats (die repräsentative Entropie durch wachsende soziale Macht zu kompensieren) und ihrer liberalen Funktion (Übergriffe der Regierung zu verhindern). Es ist folglich kein Wunder, dass der Mitstreiter Madame de Staëls später darauf verzichtete, sich auf eine Institution von derart unbestimmtem Charakter zu beziehen. Stattdessen begnügte er sich mit der Rolle des Theoretikers einer »neutralen Macht« mit eindeutig und ausschließlich liberaler Funktion.36 Diese neutrale Macht, auch als »dritte Gewalt« zwischen Legislative und Exekutive oder als »bewahrende Gewalt« bezeichnet, weist faktisch alle Eigenschaften eines Verfassungsgerichts auf. In diesem Sinne präsentierte Constant sie nachdrücklich als »Ju36

Eine ausgearbeitete Version dieses Gedankens findet sich in: Constant, Fragments d’un ouvrage abandonné sur la possibilité d’une Constitution républicaine dans un grand pays. Vgl. das gesamte Buch VIII : »D’un pouvoir neutre ou préservateur nécessaire dans toutes les constitutions«.

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dikative der anderen Gewalten«.37 Aus einer ähnlichen Geisteshaltung heraus hatte Sieyès schon im Jahr VIII seine Idee einer »konstitutionellen Jury« vorgestellt.38 Auf der anderen Seite war Bonaparte zu sehr Mann der Tat, um nicht mit Verärgerung und Ungeduld auf das Tribunat zu reagieren. »Wozu braucht man ein solches Gremium mit hundert Leuten?«, fragte er im Sommer 1800. »Es ist nutzlos und albern, wenn alles gut läuft, und hinderlich, wenn etwas nicht stimmt, ein echter Ruhestörer.«39 Allerdings sorgte mehr noch sein jakobinisches Erbe dafür, den Gedanken einer positiven Opposition und einer aktiven Kontrolle strikt zu verwerfen. Volkssouveränität hatte für den Ersten Konsul nur dann einen Sinn, wenn sie sich in polarisierter Form äußerte. Für ihn war klar, dass die Nation nicht vor der Staatsmacht geschützt zu werden brauchte, weil die staatlichen Institutionen von der Nation selbst ausgingen. Bonaparte machte sich somit die seinerzeit in Frankreich vorherrschende antipluralistische Stimmung zu eigen. In seinen Augen konnte Demokratie nur antiliberal sein.40 »Wie hat man sich eine Opposition gegen das souveräne Volk vorzustellen?«, ereiferte er sich im Januar 1802. »Wozu Tribune, wenn es kein Patriziat gibt?«41 Damals beschwor allerdings die bloße Erwähnung des Wortes »Opposition« noch Bilder von revolutionären Kämpfen und chaotischen Zuständen herauf, was ihm die Sache erleichterte. 37 38

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40 41

Ebd., S. 390. Vgl. Pasquino, Sieyès et l’Invention de la constitution en France. Für einen allgemeinen Überblick über die Vorstellung einer dritten Gewalt im Frankreich dieser Zeit vgl. Gauchet, La Révolution des pouvoirs. Zitiert nach Roederer, Œuvres, Bd. III , S. 335–336. Laut Thibaudeau habe er noch unverblümter von »Metaphysikern, die man ersäufen sollte«, gesprochen und von »Ungeziefer, das mir über den Rock kriecht« (Thibaudeau, Mémoires sur le Consulat, S. 204). Vgl. Rosanvallon, Le Modèle politique français. Zitiert nach Roederer, Œuvres, Bd. III , S. 427. Man vergleiche diese Worte mit einem bedeutenden Text aus dem Jahr 1791: »Unsere Regierung«, schrieb damals der Ami des patriotes, »braucht keine Opposition und all das endlose Gerede über die Notwendigkeit eines Ausgleichs der Gewalten ist auf sie nicht sinnvoll anwendbar.« Im gleichen Atemzug verurteilte das Blatt die Opposition als »Partei der Intrige, die sich nichts anderem widersetzen kann als der Vollstreckung des Gesetzes« (zitiert nach Brunot, Histoire de la langue française, Bd. IX , La Révolution de l’Empire, 2. Teil, S. 821).

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Der gescheiterte Versuch, mit dem Tribunat ein Kontrollorgan zu installieren, markierte zwar einen Wendepunkt in Frankreich, die Idee verschwand aber keineswegs aus den Köpfen. Vielmehr erlebte sie eine glorreiche Auferstehung in den radikalrepublikanischen Kreisen der 1830er Jahre. Die Société des droits de l’homme et du citoyen etwa hielt in ihrer Prinzipienerklärung fest, dass die umfassende Wahrnehmung der Volkssouveränität die Einführung eines »ständigen Prüfungsund Entwicklungsrates« bedinge, dessen wichtigste Funktion »die Reform der öffentlichen Institutionen« sei.42 Die Tribune des départements, ein radikales Journal, das sich auf das Erbe Robespierres berief, argumentierte in eine ähnliche Richtung. Wichtige Frühsozialisten wie Philippe Buchez oder Charles Teste konzipierten in diesem Sinne ein vom Parlament unabhängiges Kontroll- und Inititativorgan. Charles-François Chevé wiederum erstellte in seinem Programme démocratique von 1840 eine lange Liste mit Aufgaben, die einem »Entwicklungs- und Untersuchungsausschuss« zufallen sollten, dessen Mitglieder entweder gewählt oder in einem Auswahlverfahren ermittelt würden, um bestimmte Befugnisse wahrzunehmen. Der Zweck einer solchen Institution? Laut Chevé, eine Macht zu begründen, die »keinerlei politische Autorität besäße, die unabhängig von den Belangen der Parteien und den Zwängen des Zeitgeschehens wäre […], zugleich permanente Untersuchungskommission und emsige Forschungswerkstatt, Beschwerdestelle für die Bevölkerung und Entwicklungslabor für zukünftige Lösungen«.43 Mit anderen Worten, dieses Gremium sollte gleichermaßen Repräsentativ-, Initiativ- und Kontrollfunktionen wahrnehmen, losgelöst vom eigentlichen Aufgabenbereich der Legislative. Ähnlich inspirierte Projekte wurden noch 1848 diskutiert. Der Sozialist Pierre Leroux beispielsweise schlug vor, eine Nationaljury ins Leben zu rufen, bestehend aus 300 durch das Los bestimmte Bürger aller Departements, mit dem Auftrag, die Nationalversammlung zu beaufsichtigen und zu begutachten. Diese Jury sollte auf spezifische Weise die Rolle der Presse (hinsichtlich der Aufsichtsfunktion) und der Wahlen (hinsichtlich der Begutachtung des Regie42 43

Societé des droits de l’homme et du citoyen, Exposé des principes républicains, S. 6. Chevé, Programme démocratique, S. 4–5.

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rungshandelns) ergänzen.44 Ein angesehener republikanischer Publizist regte seinerseits die Gründung einer Inspektion an, unter Berufung auf antike Vorbilder. Die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen »Inspektoren« sollten »ein Auge auf alles haben, was geschieht, und darauf achten, dass alles Notwendige auch getan wird«.45 Das Ziel war auch hier, eine »ständige Überwachung« zu gewährleisten, die als »unverzichtbar für eine Republik« galt, weil sie eines der Mittel darstellte, mit dem ein souveränes Volk seinen Willen zum Ausdruck bringen konnte, und weil sie eine erweiterte und demokratisierte Version dessen verkörperte, was im Rechtswesen die Funktion der Staatsanwaltschaft ist.46 Diese verschiedenen Vorschläge zeigen, dass der Gedanke, eine Überwachungsinstanz der einen oder anderen Form zu institutionalisieren, im Frankreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach wie vor präsent war. Allerdings wurde im entscheidenden Augenblick, als man daranging, die Verfassung der Zweiten Republik zu formulieren, keiner dieser Vorschläge ernsthaft in Betracht gezogen. Ein jakobinischer Monismus traf sich nach 1848 mit liberalen bzw. konservativen Vorbehalten in der Ablehnung jeder aktiven Form demokratischer Kontrolle. Sicherlich war diese anfängliche Begeisterung für die Tugenden der Überwachung in der Zeit von 1789 bis 1848 von einem gehörigen Maß an Naivität geprägt. Auch von einer gewissen Fragwürdigkeit, bedenkt man, dass die Exzesse der revolutionären Clubs manchmal einen bitteren Vorgeschmack totalitärer Reglementierung vermittelten. Vor allem aber von Unklarheiten, da alle diese einfallsreichen Freiheitskämpfer in ihrem patriotischen Eifer nur allzu oft dazu tendierten, das Volk zum uneigennützigen Richter der Staatsgewalt zu verklären. Was aber nach Abzug all dessen übrig blieb, war eine wirkmächtige Idee, die einem neuen Verständnis moderner Politik den Weg ebnete und den politischen Theorien der Vergangenheit 44 45 46

Vgl. Kapitel IV und V in: Leroux, Projet d’une Constitution démocratique et sociale. Billiard, De l’Organisation de la République française, S. 272. Vgl. das sehr interessante Kapitel XI , »Complément de l’organisation politique. De l’Inspection ou du Ministère public«, des vorgenannten Werkes von Billiard. Es sei daran erinnert, dass die »Staatsanwaltschaft« [in Frankreich] aus Richtern besteht, die die Interessen des Staates und der Allgemeinheit vertreten.

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ein wichtiges Kapitel hinzufügte. Vor allem wurde das antike Ideal des wachsamen Bürgers, desjenigen, der noch am ehesten die Bezeichnung »Aktivbürger« verdient, wiederbelebt und weiterentwickelt. Mit dem allgegenwärtigen Appell an die Bürger, alles und jedem im Auge zu behalten, begann sich zu dieser Zeit eine gewisse Vorstellung von öffentlicher Moral für ein demokratisches Zeitalter abzuzeichnen. In der Folgezeit wurde er allerdings stillschweigend aufgegeben, weil der Glaube an die öffentliche Meinung, den er implizierte, ihn bei besorgten Verteidigern der bestehenden Ordnung und den Aposteln eines neuen wissenschaftlichen Zeitalters gleichermaßen suspekt machte. Die gleiche Angst vor dem unbesonnenen Handeln der Vielen, den wirren Leidenschaften der Massen veranlasste die Protagonisten des 19. Jahrhunderts dazu, in ruhigere Gewässer zu steuern, ob die des konservativen Liberalismus oder des wissenschaftlichen Sozialismus, während die Republikaner sich damit begnügten, das allgemeine Wahlrecht zum heiligen Gral oder zumindest zum ausreichenden Kriterium der Demokratie zu erheben. Der Gedanke der Überwachung wurde später in reduzierter Form wiederaufgegriffen, das heißt in die regulären Abläufe der Repräsentativregierung und des parlamentarischen Systems integriert, wofür England dem 19. Jahrhundert das Vorbild lieferte. Abgesehen von einem System zur Überprüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit, wurden die drei übrigen Kernverfahren liberaler Kontrolle der Staatsmacht – das Agieren der Opposition, die Befugnisse des Parlaments und der Einfluss der öffentlichen Meinung – jenseits des Ärmelkanals in perfekter und durchdachter Weise umgesetzt. Unmittelbar demokratische Formen sozialer Kontrolle blieben zwar erhalten, wie von uns beschrieben. Doch der Gedanke, sie zu institutionalisieren, wurde aus dem Blick verloren, noch bevor man sie theoretisch adäquat erfassen konnte.

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Legitimitätskonflikte Die Vermehrung von Aufsichtsinstanzen hat eine gravierende Folge: Sie führt zu dem, was man auch als Konkurrenz der Demokratien bezeichnen könnte. Das repräsentative Wahlsystem sieht sich herausgefordert durch die diversen Formen der Gegen-Demokratie. Die daraus resultierende Rivalität ist einerseits eine funktionale: parlamentarische Kontrolle versus Kontrolle durch unabhängige Behörden. Zum anderen eine Konkurrenz zwischen Akteuren unterschiedlicher Art: hier gewählte Vertreter, dort politische Aktivisten oder die Medien. Daraus ergeben sich Konflikte in Sachen Repräsentativität und Legitimität. Das gespannte Verhältnis zwischen gesetzlichen Institutionen und Medien, zwischen Abgeordneten und Journalisten, ist dafür ein gutes Beispiel. Und eines mit langer Geschichte.

Feder und Tribüne Wenn Volk und öffentliche Meinung identisch sind, wie man 1789 behauptete, dann birgt die Frage der Repräsentation tatsächlich einigen Konfliktstoff. Denn da ist einerseits das Volk der Wähler, vertreten durch diejenigen, die es gewählt haben; und andererseits sein Doppelgänger, das Volk, das Meinungen hat und diese, wenn auch unvollkommen, durch die Organe der öffentlichen Meinung zum Ausdruck bringt. Daher sind der Abgeordnete und der Journalist potenzielle Rivalen. Die Französische Revolution bietet diesbezüglich ausgezeichnetes Anschauungsmaterial, dessen Studium es ermöglicht, die tieferen Ursachen dieser Konkurrenz von Feder und Tribüne zu erfassen. Denn die Franzosen eroberten 1789 nicht nur die Bastille, sondern auch das Recht, sich in Wort und Schrift zu äußern. Sie maßen dieser neu gewonnenen Macht der freien Meinungsäußerung genauso große Bedeutung bei wie dem Recht, ihre Vertreter zu wählen. In diesem 96

Kontext etablierten sich die Zeitschriften als regelrechte politische Institutionen in der Funktion des Beobachters, Kontrolleurs, Anklägers. Viele dieser Blätter brachten diesen Anspruch schon in ihrem Titel zum Ausdruck: La Sentinelle du peuple (Die Volkswacht), Le Dénonciateur (Der Ankläger), Le Censeur patriote (Der patriotische Zensor), Le Furet parisien (Das Pariser Frettchen), Le Rôdeur français (Der französische Späher).1 Auch das Andenken an »Junius«, den anonymen englischen Publizisten, wurde weithin gepflegt. Die erste Publikation Marats trug den Titel Le Junius français, während sich Bonneville mit seinem Tribun du peuple auf »das Beispiel des öffentlichen Warners in England« berief, als welcher Junius, dieser »unbekannte Patriot«, von seinen Zeitgenossen verstanden wurde.2 Alle diese Schreiber, vom bescheidensten bis zum renommiertesten, formulierten ihre Glaubensbekenntnisse in erstaunlich gleichbleibenden Worten. Einige wenige Zitate mögen genügen, um einen Eindruck zu vermitteln. Camille Desmoulins rief zur Bildung eines »Zensorenreiches«3 durch die öffentliche Meinung auf und feierte den Journalisten als denjenigen, der »das Register des Zensors«4 führe. In seinem Patriote français betonte Brissot, dass »die Pressefreiheit das einzige Mittel des Volkes ist, um seine Vertreter zu überwachen, zu instruieren und zu tadeln«.5 »Eine freie Zeitung ist ein Posten, der unermüdlich für das Volk auf Wache steht«, lautete das stolze Motto des Blattes. Daher änderte sich auch der Status des Journalisten. Es war nicht mehr, wie in der Vergangenheit, der anonyme Skribent oder der Lohnschreiber im Dienste mächtiger Auftraggeber. Er avancierte zur politischen Zentralfigur, zu einer unantastbaren, ja geradezu heiligen Gestalt. Mehr noch, er wurde zu einer echten Institution. Camille Desmoulins gab dieser neuen Rolle ihre theoretischen Weihen6: »Heutzu1 2

3 4 5 6

Vgl. das Standardwerk zu diesem Thema: Labrosse/Rétat, Naissance du journal révolutionnaire. Hervorhebung im Text. Vgl. Bonneville, »Adresse à l’Assemblée nationale«, in: Prospectus von Juni 1789 (Le Vieux Tribun du peuple, Paris 1793 [Reprint], Bd. I, S. 88). Les Révolutions de France et de Brabant, Nr. 1, 28. November 1789, S. 3. Ebd., Nr. 2, 5. Dezember 1789, S. 47. Le Patriote français, Nr. X, 7. April 1789, S. 3. Vgl. Bonnet, »Les rôles du journalisme selon Camille Desmoulins«.

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tage«, schrieb er, »übernehmen die Journalisten die Aufgabe der öffentlichen Anklage«, sie übten ein »wahres Richteramt« aus. Michelet bemerkte zu Recht, dass der Journalismus zu dieser Zeit als »öffentliches Amt« fungierte.7 Es ist somit kaum überraschend, dass sich die Journalisten als Sprachrohr der öffentlichen Meinung empfanden – tatsächlich waren sie sogar noch viel mehr. Sie nahmen obendrein eine Repräsentativfunktion wahr und hielten einen Teil der Souveränität in ihren Händen. Sie konkurrierten mit den gewählten Repräsentanten, indem sie Tag für Tag die Erwartungen der Gesellschaft formulierten. »Ich bin das Auge des Volkes, ihr seid allenfalls sein kleiner Finger«, hielt Marat den Vertretern der Stadt Paris höhnisch und verächtlich entgegen.8 Auch Desmoulins präsentierte den Journalisten wiederholt als Rivalen des Abgeordneten und postulierte sogar seine Überlegenheit gegenüber Letzterem. Die Macht des Journalisten war die der Überwachung. Dieses Schlüsselwort des revolutionären Vokabulars beschwor die Funktionen der antiken Zensoren, Ephoren oder euthynoi herauf, die viele Zeitgenossen unmittelbar konkretisiert sehen wollten, unabhängig von jeder institutionellen Verankerung. In diesem Sinne wurde die von den Zeitungen ausgeübte Kontrollmacht als eine demokratische Macht verstanden, als eine Form politischer Souveränität, die als »unsichtbare Institution« in Erscheinung trat. Zeitungen waren nicht mehr nur ein Instrument, um die Pressefreiheit mit Leben zu erfüllen. Oder, wie einer der berühmtesten Journalisten der Epoche freiheraus erklärte: »Eine freie Presse ersetzt den Senat, das Veto und das ganze anglikanische Drumherum.«9 Die grundlegenden Probleme geteilter Souveränität, die sich aus dieser Auffassung ergaben, wurden allerdings während der Revolutionsära nicht behandelt. Zu dieser Zeit erschien diese Dualität lediglich als ein Mittel, um das bürgerschaftliche Engagement im Allgemeinen zu erhöhen und gleichzeitig das Repräsentativsystem zu kontrollieren. Doch diese politische Sichtweise hatte keine rechtliche Grundlage. Das Nebeneinander einer gewählten Regierung und einer Presse, die sich zur politischen Institution aufwarf, wurde von den Zeitgenossen 7 8 9

Michelet, Geschichte der Französischen Revolution, Bd. 1, S. 217. Zitiert nach Labrosse/Rétat, Naissance du journal révolutionnaire. Anacharsis Cloots, zitiert nach Bonnet, »Les rôles du journalisme«.

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einfach als Ausdruck einer allgemeinen Strömung empfunden, die es beiden ermöglichte, ihre Kräfte sinnvoll zu ergänzen. Während der potenzielle Legitimitätskonflikt, der sich aus dieser Dualität ergibt, in revolutionären Zeiten oder generell in Situationen, in denen die politischen Rechte erst noch erkämpft werden müssen, kaum wahrnehmbar ist, tritt er offen zutage, sobald sich ein System mit allgemeinem Wahlrecht dauerhaft etabliert hat. Die Zeit des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich veranschaulichte auf exemplarische Weise diese neue Konstellation. Der Konflikt äußerte sich in diesem Zusammenhang sogar in einer radikalisierten Form, weil das Regime für sich in Anspruch nahm, seine antiliberale Haltung aus einer strikten Beachtung der Souveränität des Wahlakts abzuleiten (symbolisiert durch die vollständige Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechts nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851). Das Hauptargument, mit dem die Bonapartisten ihre Einschränkungen der Pressefreiheit rechtfertigten, lautete in der Tat, dass die Presse keinerlei demokratische Legitimation besäße, weil sie über keine Repräsentativität verfüge. Granier de Cassagnac, einer der Chefideologen des Regimes, entfaltete dieses Argument in aller Ausführlichkeit: »Der Einfluss der Presse zeichnet sich vornehmlich durch seinen völligen Mangel an Befugnis aus. Im Gegensatz zu staatlichen Instanzen, die, und mögen sie noch so unbedeutend sein, allesamt der Verfassung entspringen und durch diese autorisiert sind, ist die Presse eine spontane, willkürliche Macht, die nur sich selbst genügt, ihren eigenen Interessen, Launen oder Ambitionen. Die Zahl öffentlicher Einrichtungen ist begrenzt, die der Zeitungen nicht; der Zuständigkeitsbereich dieser Einrichtungen ist genau definiert, der der Presse hingegen ist ungeregelt und grenzenlos.«10 Die Presse sei, so eine seiner markantesten Formulierungen, quasi eine »Rivalin der Staatsgewalt«,11 obwohl sie sich durch keinerlei Erwägungen in Sachen Legitimität oder Repräsentativität 10 11

Rede vom 16. März 1866, Annales du Sénat et du Corps législatif, Bd. 3, S. 138. Ebd., S. 139. Weiter heißt es: »Sträubt sich nicht der gesunde Menschenverstand gegen die Vorstellung, neben den bestehenden Mächten, dem Kaiser, dem Senat, der gesetzgebenden Versammlung, ungezwungen und ohne Not eine neue große Macht zu errichten, die in ihrem Bereich unabhängig wäre und die sich mit ihrer begrenzten und festgelegten Autorität zur Rivalin der rechtmäßigen, von allen gewählten Regierung aufwerfen würde?« (ebd.).

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einschränken lasse. Würde der Presse nicht Einhalt geboten, sie wäre imstande, sich »unverhohlen die ganze Macht im Staate anzumaßen«.12 »Ohne das Wahlrecht zu haben«, so Granier de Cassagnac weiter, »versucht sie, die Wahlen zu lenken; ohne das Recht zu haben, in beratenden Ausschüssen zu erscheinen, versucht sie, die Beratungen zu beeinflussen; ohne das Recht zu haben, in den Räten des Souveräns zu sitzen, versucht sie, Regierungsakte zu veranlassen oder zu verhindern. Kurzum, sie versucht, sich an die Stelle aller bestehenden, rechtmäßigen Organe zu setzen, ohne überhaupt mit irgendeinem Recht ausgestattet zu sein.«13 Aus dieser Sicht waren Zeitungen »lauter Kleinstaaten inmitten eines großen Staates«. Eine Zeitung sei eine öffentliche Instanz in privaten Händen: aber das einzige Mandat, über das der Journalist verfüge, sei sein Gewissen oder seine persönlichen Interessen. Er sei von niemandem gewählt, verkörpere aber eine reale gesellschaftliche Macht.14 Die Zeitung als Privatinstitution? Die Bonapartisten entlarvten schonungslos ihren kapitalistischen Charakter. Granier de Cassagnacs Definition einer Zeitung, »eine Kapitalgesellschaft, die eine Anzahl talentierter Schreiber beschäftigt«,15 würden sicherlich auch viele moderne Medienkritiker unterschreiben. Daraus ergab sich der logische Schluss, dass Zeitungen, da sie nur Partikularinteressen verträten, dem Allgemeinwohl unterstellt werden müssten. Sie dürf-

12 13 14

15

Granier de Cassagnac, L’Empereur et la Démocratie moderne, S. 21. Ebd. »Wo findet sich«, fragte er, »im üblichen Statut dieser Zeitungen und Zeitschriften das politische Mandat oder die Ermächtigung durch das Volk? Welche Legitimation haben diese Kapitalisten und diese Schreiber, die auf nichts als ihre Interessen und Vorlieben verpflichtet sind, sich zu Leitern oder Kontrolleuren der politischen Gremien, zu Richtern der Regierung aufzuwerfen? Worin besteht dieses Priesteramt, von dem manche Journalisten bisweilen sprechen? Man erkläre mir, wie es kommt, dass diese Presse alle staatlichen Einrichtungen kontrollieren kann, ohne die Befugnisse der geringsten von ihnen zu besitzen? (ebd., S. 22). Das war schon zu Zeiten der Restauration das Hauptargument der Gegner der Pressefreiheit gewesen: »Um Abgeordneter zu sein, heißt es, muss man gewählt werden. Der Journalist hingegen ermächtigt sich selbst zu seinem gefährlichen Amt« (zitiert nach Ollivier, Solutions politiques et sociales, S. 114). Granier de Cassagnac, L’Empereur et la Démocratie moderne, S. 22.

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ten Wahlen als Ausdruck der öffentlichen Meinung, mithin als Stimme der Allgemeinheit, nicht ersetzen. Und da Journalisten schwerlich gewählt werden könnten, müsse man sie eben kontrollieren oder das Wort den gewählten Vertretern überlassen, die am besten geeignet wären, dem Gemeinwillen Ausdruck zu verleihen, da sie schließlich aus ihm hervorgegangen seien.16 Was bei dieser cäsaristischen Sicht des Politischen zur Diskussion stand, war das Verständnis von Öffentlichkeit als solcher. Zu keinem Zeitpunkt wurde Öffentlichkeit als von Gruppen und Einzelpersonen geteilter Raum der Interaktion und des gemeinsamen Nachdenkens verstanden, sondern stets als Gebilde im starren Rahmen einer durch Gesetze definierten Institution. Den französischen Republikanern war kein Wort stark genug, wenn es darum ging, die Herrschaft Napoleons III . zu verdammen. Sie empörten sich über die zahlreichen Grundrechtsverstöße des Regimes, erwiesen sich aber als unfähig, es von einem rein demokratischen Standpunkt aus zu kritisieren. Der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851, mit dem sich Napoleon an die Macht putschte, genügte in ihren Augen, um das zweite Kaiserreich zu diskreditieren, und enthob sie scheinbar der Notwendigkeit, eine ernsthafte rechtlich-philosophische Argumentation zu entwickeln, um die theoretischen Grundlagen des Cäsarismus zu widerlegen. Im Grunde begnügten sie sich damit, seine Missetaten von einem liberalen Standpunkt aus anzuprangern, und blieben so blind für die tieferen Ursachen des Übels. Denn letztlich hatten Napoleon III . und seine Anhänger nichts anderes getan, als eine gewisse jakobinische Sicht des demokratischen Monismus zu radikalisieren, indem sie dessen Antipluralismus konsequent zu Ende dachten. Auf praktischer Ebene überwanden die Republikaner diese Schwierigkeit, indem sie eine gemäßigte, abgemilderte Version der gleichen jakobinischen Ideen vertraten, angereichert mit alten aristokratischen Vorbehalten (ein Erbe des Orleanimus) und versetzt mit einer Dosis liberaler Bedenklichkeit. Diese Kompromissformel schuf 16

Es verwundert deshalb nicht, dass das Regime kurzfristig darüber nachdachte, eine eigene, sehr billige Zeitung herausgegeben, um der staatlichen Meinung ein Forum zu verschaffen (vgl. dazu Girardin, »L’État journaliste«, S. 575–582. Der Ausdruck »journalistischer Staat« stammte von Havin, dem Herausgeber der republikanischen Oppositionszeitung Le Siècle).

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die Bedingungen für ein pragmatisches Gleichgewicht, dem es allerdings an einem stabilen geistigen Fundament mangelte. Das ist auch der Grund dafür, warum in Frankreich immer wieder ein gewisser Antiliberalismus in Erscheinung tritt. Er nimmt zwar in der Praxis nicht mehr die alten cäsaristischen Formen an, überlebt aber ideologisch in einer gewissen Tendenz, allen nicht durch Wahlen sanktionierten gesellschaftlichen Äußerungen die Legitimation abzusprechen. Daher rührt das traditionelle Misstrauen gegen das Vereinswesen oder die Weigerung, Angehörigen der Zivilgesellschaft eine politische Legitimität zuzugestehen, die über die Grenzen der von ihnen vertretenen Partikularinteressen hinausgeht. Was als Grundrecht durchgeht, wird zugleich als Institution abgelehnt. Von den restriktiven Vorschriften für Vereine bis zu den Bedingungen des Petitions- und Demonstrationsrechts, stets war in der französischen Geschichte die gleiche, strikt legalistische Auslegung der Demokratie anzutreffen. Mit anderen Worten: Aufsichtsorgane können in einem jakobinischen Kontext nicht als demokratische Instanzen anerkannt werden. Es ist nur folgerichtig, dass sie unter der geistig verwandten Perspektive des Dezisionismus gleichermaßen geächtet sind. In einigen der heftigsten Passagen seines Werkes kritisierte Carl Schmitt den Begriff der Aufsicht* als »Gegenbegriff« zu dem von ihm favorisierten Führertum*.17 Gestützt auf dieses Argument ritt er seine schärfsten Attacken gegen die Weimarer Verfassung und appellierte an die Deutschen, die Ansprüche der verhassten »indirekten Mächte« [potestas indirectae] zurückzuweisen. Souveränität konnte für ihn, wie für die Jakobiner, nur einheitlich und unteilbar sein. Die Ausweitung von Aufsichtsinstanzen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sollte allerdings Anlass genug sein, um die Frage der Legitimität noch einmal zu überdenken, im Hinblick auf eine Überwindung solcher jakobinischen oder dezionistischen Positionen, deren Unvereinbarkeit mit heutigen Erfahrungen deutlich zu spüren ist. Diese Frage kann hier zwar nicht eingehender diskutiert werden. Dennoch empfiehlt es sich, zumindest einen groben Rahmen zu skizzieren, innerhalb dessen sie zu behandeln wäre.

17

Vgl. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 37–41.

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Die drei Legitimitäten Jeder zivilgesellschaftliche Verein oder Verband genießt aufgrund dessen, was er auf seinem Spezialgebiet an Praktischem leistet, eine »empirische Legitimität«. Man könnte auch von »utilitärer Legitimität« sprechen: Die Tätigkeit der Organisation ist in diesem Sinne als gesellschaftlich nützlich anerkannt. Allerdings ist diese Art von moralischer oder funktionaler Legitimität noch weit entfernt von einer politischen Legitimität strictu sensu. Letztere erfordert andere Eigenschaften, insbesondere die der Allgemeinheit. Um die Frage zu beantworten, ob es möglich ist, den indirekten Mächten politische Legitimität zuzusprechen, ist es vorab erforderlich, diese Kategorie der Allgemeinheit zu klären. Man kann grob drei Erscheinungsformen von Allgemeinheit unterscheiden: Zahl, Unabhängigkeit, moralische Universalität. Jeder dieser Dimensionen entspricht eine spezielle Art der Institutionalisierung. Allgemeinheit als Zahl ist in einer Demokratie die offenkundigste Form von Allgemeinheit. Ein politisches System gilt als legitim, wenn es die ausdrückliche Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit besitzt. In der Praxis wird diese Mehrheit der Einfachheit halber als Konsens gewertet, der einer bloßen Mehrheit prinzipiell überlegen ist.18 Das allgemeine Wahlrecht ist somit jene Institution, in der diese Legitimität eine organisatorische Form annimmt. Man könnte diesbezüglich auch von einer sozial-prozeduralen Legitimität sprechen. Allgemeinheit als Unabhängigkeit ist negativ, als Nicht-Partikularität, definiert. Die institutionelle Form dieser Art von Allgemeinheit ist die unparteiliche Instanz, etwa ein Gericht oder eine unabhängige Behörde. Während das allgemeine Wahlrecht ein System begründet, an dem jeder ein Teilhaber ist, und auf diese Weise sicherstellt, dass die Macht nicht von wenigen usurpiert werden kann, beugt die Allgemeinheit durch Unabhängigkeit einer solchen Aneignung auf andere Weise vor: indem sie eine Institution begründet, die keine Gruppe zu ihrem Eigentum erklären kann. Der gleiche Abstand aller Parteien zu der betreffenden Instanz garantiert deren vollständig öffentlichen Charak18

Über diesen Übergang vom überlegenen Konsensprinzip zum pragmatischen Mehrheitsprinzip vgl. den anregenden Artikel von Manin, »Volonté générale ou délibération? Esquisse d’une théorie de la délibération politique«.

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ter. Es handelt sich also, im wahrsten Sinne des Wortes, um eine Legitimität durch Unparteilichkeit. Die dritte Kategorie der Allgemeinheit, die moralische Universalität, entspricht dem Bekenntnis zu allseits geteilten Werten. Sie kann auch durch einen kognitiven Typ des Universellen definiert werden, der Universalität der Vernunft, oder durch eine »instrumentelle Universalität«, wie die des Rechts. Die Institutionen, in denen sich diese Form der Allgemeinheit verkörpert, können je nach Auffassung sehr vielfältig sein und von gesellschaftlich anerkannten Moralinstanzen (symbolträchtigen Persönlichkeiten, religiösen Institutionen, karitativen Verbänden usw.) bis hin zu eher intellektuellen Autoritäten reichen. Man könnte diesbezüglich von substanzieller Legitimität sprechen. Die nachfolgende Tabelle fasst diese Klassifizierung zusammen: Legitimitätstyp

Entsprechende Form der Allgemeinheit

Ausführende Institution

Sozial-prozedurale Legitimität

Mehrheit gleichbedeutend Allgemeines Wahlrecht mit Konsens

Legitimität durch Unpartei- Gleicher Abstand zu allen lichkeit beteiligen Parteien

Justiz oder unabhängige Behörden

Substanzielle Legitimität

Diverse private Instanzen

Universalität der Werte oder der Vernunft

Diese Typologie beschreibt nicht nur die verschiedenen Formen von Legitimität. Sie hat auch eine geschichtliche Dimension. Die substanzielle Legitimität ist die älteste Form; in ihr spiegelt sich die Tatsache wider, dass die Staatsgewalten ursprünglich in eine umfassendere Ordnung des Heiligen eingebettet waren. Sie hat sich im Laufe der Zeit säkularisiert, wobei das Aufkommen der Naturrechtstheorien im 17. Jahrhundert den entscheidenden Bruch markierte. Heutzutage äußert sie sich in vielfältigen Bezügen auf die Menschenrechte, auf Gerechtigkeitstheorien oder Morallehren. Die Vorstellung einer Legitimität qua Unparteilichkeit entstand aus den mittelalterlichen Bestrebungen, Macht vorrangig unter juristischen Gesichtspunkten zu definieren. Sie nahm später die rationalisierte Form des modernen 104

Rechtsstaates an, um sich schließlich zu den verschiedenen Modellen unabhängiger Behörden auszudifferenzieren. Hierzu ist anzumerken, dass der Begriff »Legitimität« zu Beginn des 19. Jahrhunderts Einzug in das politische Vokabular des Französischen hielt, um ein primär durch das Gesetz definiertes politisches System zu bezeichnen19 (im impliziten Gegensatz zu einem demokratischen System). Die sozialprozedurale Legitimität ist die jüngste der drei und trat in dem Moment zu den anderen hinzu, als Regierungsformen entstanden, die sich durch das allgemeine Wahlrecht charakterisierten. Diese drei Legitimitäten schließen sich nicht gegenseitig aus, vielmehr verschränken oder überlagern sie sich unaufhörlich oder treten in hierarchische Gegensatzverhältnisse. Sieht man von der grundsätzlichen Unterscheidung der von ihnen verkörperten Formen von Allgemeinheit ab, decken sie sich an manchen Punkten. Die Legitimität der Wahlurnen und die Legitimität der Vernunft beispielsweise führen zu zwei unterschiedlichen Interpretationen der Souveränität der Zahl: im ersten Fall einer im banalen Sinne arithmetischen, während die zweite beansprucht, für eine Einmütigkeit des Denkens zu stehen, die sich im Begriff der Evidenz ausdrückt.20 Und das ist nur einer von vielen Vergleichen, die man noch anstellen könnte.

Die neuen Wege der Legitimität Der aktuelle Konflikt zwischen Aufsichtsinstanzen und repräsentativer Wahldemokratie muss in diesen erweiterten Kontext eingeordnet werden. Doch ist dieser Kontext seinerseits durch zwei wesentliche politische und gesellschaftliche Faktoren verändert worden. Ersterer 19

20

Es scheint, als sei Talleyrand der Erste gewesen, der das Wort in diesem Sinne gebrauchte. Thiers zufolge sei der ehemalige Prälat, nachdem er einst Napoleon gedient habe, bestrebt gewesen, »nun das Recht zu repräsentieren (welches er durch ein glückliches Wort, das einen ungeheuern Erfolg gehabt, nämlich durch das Wort Legitimität definirt hatte)« (Thiers, Geschichte des Consulats und des Kaiserthums, Band 18, S. 392–393). Das ist der Standpunkt des politischen Rationalismus, den die französischen Physiokraten im 18. Jahrhundert entwickelten. »Evidenz«, so Le Mercier de la Rivière, »muss die Quelle aller Autorität sein, denn in ihr trifft sich der Wille aller« (vgl. meinen Artikel »Political Rationalism and Democracy in France in the 18th and 19th Centuries«).

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bezieht sich auf eine soziologisch und politisch neue Wahrnehmung des Mehrheitsbegriffes. Mehrheiten hatten so lange großes Gewicht, wie es darum ging, obsolete Formen von Klassenherrschaft oder das Zensuswahlrecht zu bekämpfen. Die Souveränität der Mehrheit war mit einer gewissen Selbstverständlichkeit leitender Gedanke im Kampf um kollektive Emanzipation. Insofern konnte die Mehrheitsmeinung als praktisch gleichbedeutend mit einem Konsens oder zumindest als plausibler Ausdruck eines Allgemeininteresses gelten. Die Dinge haben sich inzwischen verändert. Wenn von Minderheit die Rede ist, wird damit nicht mehr automatisch eine Gruppe von Unterdrückern assoziiert. Im Gegenteil, heute werden Minderheiten oft selbst zu den Unterdrückten gezählt. Der Mangel an allgemeiner Übereinstimmung macht sich somit deutlicher bemerkbar. Hier gewinnt eine Legitimität substanzieller Art an Bedeutung, die Berufung auf universelle Werte zugunsten ausgegrenzter oder minoritärer Bevölkerungsgruppen, um auf diesem Wege dem ursprünglichen Ideal einer solidarischen Gemeinschaft, das der Konsensbegriff auf seine Weise zum Ausdruck brachte, wieder Leben einzuhauchen. Oder, um es anders zu formulieren, der vom Konsensbegriff umschriebene normative Horizont wird mittlerweile durch zwei Formen von Legitimität, nicht mehr nur durch eine, gebildet. Der zweite, unmittelbar politische Faktor verändert den Bezugsrahmen, in dem sich die Frage der Legitimität stellt. Ich spreche von der Relativierung, um nicht zu sagen »Entsakralisierung« der Wahlen. In der klassischen Theorie der Repräsentativregierung, sowie in ihrer Praxis, hatten Wähler die Aufgabe, ihre gewählten Vertreter zu legitimieren. Letztere erhielten im Zuge dessen sehr weitreichende Handlungskompetenzen. Das trifft nicht mehr wirklich zu. Und zwar aus einem wesentlichen Grund: Die Wähler vergeben ihr Mandat heutzutage in einer Welt, die politisch weniger »vorhersehbar« ist, das heißt in einer Welt ohne disziplinierte Organisationen mit fest umrissenen Programmen, die auf einem klar strukturierten Feld miteinander konkurrieren. Daraus resultiert eine Diskrepanz zwischen der Legitimität der Regierenden und der Legitimität ihrer Handlungen, die ausgeprägter ist als in der Vergangenheit. Während Wahlen diese beiden Dimensionen früher eng verknüpften, ist ihr Einfluss heute beschränkter. Man darf wohl behaupten, dass Wahlen inzwischen nur 106

noch ein Verfahren zur Auslese der Regierenden sind. Die Legitimität der politischen Strategien, die sie verfolgen, steht hingegen ständig auf dem Prüfstand und muss Tag für Tag und von Fall zu Fall neu erworben werden. Auch unter diesem Aspekt kommt einer Legitimität substanzieller Art wachsende Bedeutung zu: ob eine Politik dem Gemeinwohl dient oder die Grundwerte des Zusammenlebens respektiert, wird nicht mehr durch Wahlen allein entschieden. Die Kluft zwischen diesen beiden Legitimitäten zu überbrücken, ist genau das, wofür die von uns untersuchten Aufsichtsinstanzen sich einsetzen. Von daher verfügen sie selbst über wachsende Legitimität. Dieses »Mehr« an Legitimität, das den gegen-demokratischen Praktiken von heute zukommt, muss auch unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit, das Volk zu repräsentieren, betrachtet werden, ein bereits etwas älteres Problem. Die Frage nach dem rechtlichen bzw. technischen Status der Mehrheitsregierung ist bereits gestellt worden, deshalb soll diese eher soziologische Dimension der Repräsentationsproblematik hier ebenfalls nicht außer Betracht bleiben. Die moderne Demokratie ist, wie schon erwähnt, seit ihren Anfängen von der Spannung zwischen dem politischen Prinzip der Volkssouveränität und der soziologischen Schwierigkeit, eine Gesellschaft von Individuen abzubilden, durchzogen. Die freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit muss in diesem Kontext verstanden werden, sie trägt zu einer größeren Lesbarkeit des Sozialen bei und hat somit auch ihren Anteil am Bemühen um Repräsentation. Die Rolle der Presse, die hier als eine der Aufsichtsinstanzen betrachtet wird, ist in diesem Sinne funktional gerechtfertigt. Doch worin besteht ihre demokratische Legitimität, resultierend aus der Tatsache, dass sie auch daran beteiligt ist, den Gemeinwillen auszudrücken (und zwar nicht nur, nach »liberaler« Lesart, als Garantin der anderen Freiheiten)? Die Presse soll die öffentliche Meinung repräsentieren, soll deren Organ sein. Und in dem Wort »Organ« liegt zugleich das Problem. Die Presse ist Organ der öffentlichen Meinung in dem Sinne, wie einst die gewählten Repräsentanten, nach Auffassung mancher Juristen, Organe der Nation waren.21 21

Zur Theorie der Repräsentanten als »Organe« im deutschen und französischen Staatsrecht vgl. Carré de Malberg, Contribution à la théorie générale de l’État, Bd. II , S. 227–243.

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Dieser Sichtweise zufolge ist die öffentliche Meinung genauso permanent und unteilbar wie die nationale Souveränität. Niemand darf rechtens beanspruchen, sie zu besitzen. Weil sie ebenso wenig wie die Allgemeinheit angeeignet oder in Beschlag genommen werden kann, stellt sie eine legitime Macht dar. Daunou hat diese Eigenschaft auf eine prägnante Formel gebracht: »[E]in Charakterzug der öffentlichen Meynung ist, daß sie sich jedem Zwang entzieht: sie ist unlenkbar. Man kann sie einschnüren, ersticken, vielleicht vernichten; meistern kann man sie nicht.«22 Mit anderen Worten, die öffentliche Meinung ist stets vielfältiger als die Äußerungen, die man ihr in einem gegebenen Moment zuschreiben kann, und niemand kann beanspruchen, sie allein zu verkörpern. Der Konflikt zwischen Presse und Politik, zwischen Aufsichtsmacht und Regierungsinstanzen, ist somit auch ein Konflikt zwischen verschiedenen Arten der Repräsentation. Im Grunde sind es die Medien und verwandte Organisationen, die am besten veranschaulichen, was die Rechtstheorie unter organischer Repräsentation versteht: Die öffentliche Meinung als solche existiert nicht, sie nimmt erst Gestalt an, wenn sie von den Medien reflektiert oder in Form einer Umfrage, Erhebung, Gemeinschaftsaktion oder auch eines Auskunftsprozesses organisiert wird. Die dem Repräsentationsbegriff immanente Spannung zwischen dem »alten« Verständnis als reines Mandat und der »modernen« Sicht eines Organs überträgt sich auf den unterschwellig stets vorhandenen Legitimitätskonflikt zwischen Aufsichts- und Regierungsinstanzen. Der Begriff »Organ« sollte dabei nicht allzu eng gefasst werden. Er hat nur als dynamischer einen Sinn, er impliziert ein ständiges und offenes Agieren. Alles Substanzielle ist ihm fremd.23 Die Medien sind ein wandelbares, unvollkommenes, stets nur annähernd zuverlässiges Organ der öffentliches Meinung. Das ist übrigens auch der Grund, warum sich im Laufe der Französischen Revolution allmählich eine Kluft auftat zwischen der diffusen Aufsichtsfunktion der Zeitungen und jener Art von Überwachung, die die 22 23

Daunou, Was wollen die Völker?, S. 66. Vgl. das berühmte Diktum von Jellinek: »Hinter dem Vertreter steht […] ein anderer, hinter dem Organ nichts« (System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 30).

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patriotischen Gesellschaften wahrnahmen.24 Letztere waren relativ geschlossene Gebilde, ähnlich wie Parteiapparate, die aus disziplinarischen Gründen interne Kontrollmechanismen durchsetzten, um Meinungsunterschiede notfalls mit Zwangsmitteln zu reduzieren. Die Presse war hingegen unmittelbar mit der Vorstellung von Pressefreiheit verbunden. Sie konnte ihrer Rolle nur unter dem Vorzeichen ständiger Reflexivität und Diversität gerecht werden. Die verschiedenen Aufsichtsinstanzen praktizieren in zunehmendem Maße ein offenes Vorgehen dieser Art. Sie sind folglich nicht für den Ruhemodus ausgelegt. Ihre Legitimität ergibt sich aus ihrem Tun, insbesondere solchen Aktivitäten, die eine Gesellschaft ermutigen, sich ständig selbst infrage zu stellen. Im Hinblick darauf kann Misstrauen zur Triebkraft einer anspruchsvollen und konstruktiven Vision des Politischen werden.25

24

25

Die beiden Überwachungsfunktionen wurden in der reichhaltigen Literatur des Jahres 1791 zu diesem Thema noch als identisch betrachtet. Brissot und Lanthenas waren in diesem Punkt mit Robespierre einer Meinung. Im Jahr III hingegen wurde deutlich zwischen beiden unterschieden, da die gewalttätigen Praktiken vieler Volksgesellschaften inzwischen den Prozess der Vereinnahmung gesellschaftlicher Macht drastisch vor Augen geführt hatten. Deshalb trennte man fortan zwischen uneingeschränkter (weil nicht vereinnahmbarer) Pressefreiheit und der Frage, ob man die Volksgesellschaften, die im Verdacht standen, sich an die Stelle der Gesamtgesellschaft zu setzen, gewähren lassen solle. Während man der Kontrollmacht der öffentlichen Meinung zutraute, die Repräsentativregierung zu korrigieren, wurde das Engagement der Volksgesellschaften als unzulässiger Eingriff wahrgenommen, da kleine Gruppen selbsternannter Aktivisten sich das Recht anmaßten, sich über Wahlentscheidungen hinwegzusetzen. Mit dieser Schlussfolgerung nähere ich mich Philip Pettit, erlaube mir jedoch, die Spannung zwischen ziviler Wachsamkeit und demokratischem Vertrauen, die seinem Werk zugrunde liegt, aufzulösen. Für Pettit ist Wachsamkeit nämlich nicht automatisch ein Ausdruck von Misstrauen, sie kann auch von einem Vertrauensverhältnis zeugen, sofern Letzteres durch ein »extrem hohes Erwartungsniveau« definiert ist (Pettit, Républicanisme. Une théorie de la liberté et du gouvernement, S. 354). Allerdings ist seine Argumentation an diesem Punkt vielleicht am angreifbarsten (vgl. die Ausführungen über »Confiance et vigilance« im selben Werk, S. 352–355).

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II

Souveränität als Verhinderung

»Entscheidungsrecht nenne ich das Recht, von sich aus anzuordnen oder das von anderen Angeordnete abzuändern. Verhinderungsrecht nenne ich das Recht, einen von anderen gefaßten Beschluß zu annullieren.«1 Montesquieus Unterscheidung ist wesentlich für das Verständnis der jüngsten Veränderungen in der Politik. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf eine negative Dimension des politischen Lebens, die kaum jemals analysiert wird. Dabei ist unübersehbar, dass sie an Bedeutung zunimmt. Prohibitive Maßnahmen sind längst keine vereinzelten Reaktionen mehr, sie bezeichnen vielmehr ein spezifisch eigenes Feld und bilden den zweiten großen Typus gegen-demokratischer Interventionen. Diese politische Dimension hat eine weit zurückreichende Geschichte. Lange bevor gewöhnliche Männer und Frauen Anspruch auf Teilhabe an der Souveränität erhoben, hatten sie bereits ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, den herrschenden Mächten zu widerstehen. Durch Passivität, Verweigerung, geschicktes Umgehen von Regeln gelang es ihnen, sich dem Zugriff der Macht zu entziehen. Die genaueren Umstände dieser Verhaltensweisen und ihre Konsequenzen sind oft beschrieben worden. Über versteckte Steuerverweigerung beispielsweise gibt es zahlreiche Untersuchungen. Doch führte der Widerstand der Gesellschaft gegen die Obrigkeit auch zu offen politischer Konfrontation. Rebellionen, Revolten und andere spontane Erhebungen ziehen sich durch die Menschheitsgeschichte, und der Gedanke, dass es ein juristisches und moralisches »Recht auf Widerstand« gegen illegitime Mächte geben könne, wurde zu einer Zeit formuliert, als das Wahlrecht noch außerhalb jeder Vorstellung lag. Ein Engagement der Bevölkerung wurde somit zunächst unter rein negativen Vorzeichen in Betracht gezogen, während umgekehrt schon das bloße Ausbleiben von Widerstand als Beweis ihrer Zustimmung galt. 1

Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. Buch, 6. Kapitel, S. 222.

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Mit dem Aufkommen des allgemeinen Wahlrechts nahm die Verhinderungsmacht neue Formen an. Beispielsweise wurde während der Französischen Revolution intensiv darüber diskutiert, ob man die Volkssouveränität nicht zwischen einer positiven Macht der Wähler und einer organisierten Opposition aufteilen solle. Auch hier war der leitende Gedanke, dass das Volk nicht frei und Herr seiner selbst bleiben könne, wenn es nicht über eine Art »Misstrauensreserve« verfüge, um sich notfalls der von ihm selbst gebilligten Regierung zu widersetzen. Auch in diesem Bereich standen sich bald liberale und demokratische Interpretationen dieser Verhinderungsmacht gegenüber. Zwar wurden konstitutionelle Lösungen, die auf eine Demokratie dualistischen Typs hätten hinauslaufen können, in der Folge aufgegeben, doch die Prohibitionsmechanismen behielten, wenn auch unter anderen Vorzeichen, eine starke Präsenz. Die Demokratien hatten zunächst mit Spannungen zwischen politischer und sozialer Legitimität zu kämpfen, die aus dem Klassenkonflikt resultierten. Sie verankerten deshalb in ihre strukturellen Abläufe die Möglichkeit, sich selbst infrage zu stellen, und entfernten sich damit von der ursprünglichen Konzeption einer durch Wahlen hinreichend und dauerhaft legitimierten Macht. Die Herausbildung einer organisierten politischen und parlamentarischen Opposition sowie die permanenten Wortmeldungen dissidenter Stimmen sorgten für eine Stärkung dessen, was man als kritische Souveränität bezeichnen könnte. Sie stellt eine wesentliche Dimension des demokratischen Lebens dar, die man nicht aus dem Blick verlieren sollte. Denn der alles beherrschende Trend der Gegenwart besteht genau im Verfall dieser kritischen Souveränität, die einst konstruktiver Bestandteil demokratischer Politik war, zu einer rein negativen Souveränität. Inzwischen übt die Bevölkerung ihre reale Souveränität mehr durch eine regelmäßige Folge von Abwahlen aus als durch den Einsatz für ein positives Projekt. Wahlen sind vorrangig zu Anlässen geworden, die Amtsinhaber abzustrafen, weniger denn je, um Präferenzen für die Zukunft auszudrücken. Wähler erscheinen häufig als »Neinsager«, während die Regeln des gesellschaftlichen Lebens faktisch mehr und mehr durch ein Wirrwarr fortwährender Blockaden bestimmt werden. Zukunftsangst und die Schwierigkeit, sich eine komplexe Demokratie vorzustellen, führen zur Beschleunigung dieses 114

Phänomens. Die einstige Vitalität gegen-demokratischer Praktiken ist zu einer Verteidigung bornierter Gruppeninteressen und einer Folge populistischer Reflexe verkommen. Die tief greifenden Transformationen des politischen Feldes, die daraus resultieren, lassen unmerklich ein neues System entstehen, dessen Typologie es im Folgenden zu beschreiben gilt. Eine Untersuchung der prohibitiven Mächte und ihrer langen Geschichte kann den nötigen Abstand verschaffen, um die Ursachen des gegenwärtigen Wandels besser zu verstehen.

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Vom Widerstandsrecht zur komplexen Souveränität Widerstand und Zustimmung in mittelalterlichen Theorien Der Gedanke, dass es keine legitime Macht ohne Zustimmung des Volkes geben könne, geht dem demokratischen Ideal einer selbstinstituierten und selbstbestimmten Gesellschaftsordnung weit voraus. Er verbreitete sich bereits im Mittelalter, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, ausgedrückt in der berühmten Maxime: »Was alle angeht, darüber sollen auch alle mitbestimmen«.1 Alle großen Autoren der Zeit, ob Philosophen oder Theologen, kommentierten die Formel zustimmend. Allerdings sollte man sich hüten, sie im Sinne moderner demokratischer Prinzipien misszuverstehen. Denn ihre rechtlichen Implikationen waren seinerzeit gering. Es ging nicht um bestimmte Verfahren, und schon gar nicht um Wahlen oder Abstimmungen in irgendeiner Form.2 Die Bedeutung der Maxime war vor allem moralischer Natur, als Ermahnung an den Fürsten, im Dienste des Gemeinwohls zu regieren. Sie sollte einfach daran erinnern, dass die Gemeinschaft sowohl die Quelle als auch das Ziel aller politischen Macht ist. Sofern sie eine Vorstellung von Volkssouveränität vermittelte, war es eine rein passive. Der Schwerpunkt lag auf dem feierlichen Bekenntnis zu einem Prinzip, die Frage, wie es umzusetzen sei, war hingegen vergleichsweise nachrangig. Für alle diese mittelalterlichen 1

2

Übersetzung der berühmten lateinischen Maxime aus dem Codex Justinianum: »Quod omnes tangit ab omnibus approbetur«. Die Formel ist auch in Varianten mit »comprobetur«, »tractari et approbari debet« usw. bekannt. Sie wird zumeist mit den Inititalen QOT zitiert. Hinsichtlich ihrer Bedeutung siehe Gouron, »Aux origines médiévales de la maxime Quod omnes tangit«; Post, »A Roman Legal Theory of Consent. Quod Omnes Tangit in Medieval Representation«; Giesey, »Quod Omnes Tangit. A Post-Scriptum«. Vgl. dazu die Ausführungen von Monahan, Consent, Coercion, and Limit.

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Kommentatoren stand die Definition des Guten im Vordergrund, seine Verwirklichung hing von den Tugenden des Fürsten ab. Es ging wesentlich darum, gedanklich zwischen guten und schlechten Regenten zu unterscheiden, zwischen dem Fürsten, der seinem Volk ergeben war, und dem Tyrannen, der nur zum eigenen Wohl regierte, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Wünsche seiner Untertanen. Der Begriff der Zustimmung war in diesem Kontext insofern von Belang, als er ein praktisches Kriterium lieferte, um zwischen Tyrannei und Dienst am Gemeinwohl zu unterscheiden. Er zog damit in der Theorie eine politische Grenze. Doch wie sollte diese Grenze in der Praxis aussehen? Das Kriterium dafür war ein rein negatives: Die Zustimmung des Volkes bemaß sich am Ausbleiben von Opposition. Daraus bezogen die Begriffe der Tyrannei und des Tyrannenmordes ihren zentralen Stellenwert im politischen Denken des Mittelalters. Die Definition des Bösen und der Umstände seiner Bekämpfung strukturierte die politische Vorstellungswelt. Als Mangel, Verlust, Zerstörung war das Böse leichter zu definieren und zu erkennen als das Gute. Von Bartolus oder Johannes von Salisbury bis zu Marsilius von Padua oder William von Ockham zeichneten sich auf diese Weise im Mittelalter allmählich die groben Umrisse einer negativen Theorie des Politischen ab.3 Ein Verständnis der Politik wurde anhand ihrer Wende- und Umschlagpunkte gewonnen. Dementsprechend war das hauptsächliche Beurteilungskriterium politischer Regime die Wahrscheinlichkeit ihres Abgleitens in die Tyrannei. Und das wesentliche Anliegen der politischen und der Moralphilosophie bestand darin, Maßnahmen zur Vermeidung dieser Gefahr zu ersinnen. Die radikale Lösung des Tyrannenmordes sowie, im weiteren Sinne, die Theorie des Widerstandsrechts standen deshalb nicht von ungefähr im Mittelpunkt der Überlegungen. Verhinderung ist somit der ursprüngliche Handlungsmodus, der dem politischen Feld Struktur verleiht. Die Macht, nein zu sagen, die Möglichkeit, den Fürsten oder seine Statthalter abzusetzen, das waren die ersten für legitim und realisierbar erachteten Formen gesellschaftli-

3

Vgl. zu diesem weitläufigen Thema den Überblick von Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de l’Antiquité à nos jours.

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chen Eingreifens in die Politik.4 Freilich kam eine solche Intervention nur in extremen Fällen infrage, da man sich keinen wichtigen Grund für sonstige Einmischungen in das Handeln des Souveräns vorstellen konnte. Betrachtet man die Befugnisse, die die ersten Generalstände in Frankreich für sich einforderten, so wurde das Recht, bestimmte Mitglieder des königlichen Rates abzulehnen oder eine usurpatorische Regentin, einen tyrannischen Monarchen abzusetzen, fast genauso häufig erwähnt wie die »Aufsichtsrechte«, die darin bestanden, Rechenschaft von der Finanzverwaltung zu verlangen oder dem Prinzip, keine Steuern ohne Zustimmung zu erheben, Geltung zu verschaffen.5 Historisch gesehen hat sich somit der Anspruch auf prohibitive Befugnisse parallel zur Forderung nach Kontrollbefugnissen entwickelt.

Das Zeitalter der Reformation Im 16. Jahrhundert, zur Zeit der Reformation, wurde das Widerstandsrecht theoretisch untermauert, und zwar als Reaktion auf die im katholischen Lager vertretene Sicht einer absolutistischen Monarchie (um die protestantischen Führer von einer Machtbeteiligung auszuschließen). Zur reinen Selbstverteidigung griffen die Anhänger der Reformation auf die mittelalterlichen Theorien des Widerstandsrechts und der öffentlichen Zustimmung zurück. Den Anfang machte Calvin im 20. Kapitel des vierten Buches seiner Institutio Christianae Religionis (1536), das sich mit der Zivilregierung befasst. Er mahnte darin nachdrücklich die Pflicht an, »der wilden Ungebundenheit der Könige […] entgegenzutreten«.6 Die Wiederbelebung dieser Lehren 4

5 6

Wir verzichten hier darauf, die Frage nach dem Subjekt dieser Intervention zu diskutieren. Wenn in dieser Zeit von Volk die Rede ist, dann nicht als soziologische Kategorie, sondern als quasi moralische Gestalt, vertreten durch andere. Es ist jedenfalls nie die Masse gemeint, die unmittelbar aus eigenem Antrieb handeln könnte. Vgl. für das 16. und 17. Jahrhundert: Jouanna, Le Devoir de révolte (Tabelle, S. 301). Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, S. 668. Calvin zufolge sollte dieses Widerstandsrecht von »Volksbehörden« (ebd.) ausgeübt werden, wobei er an die Generalstände dachte, die er ausdrücklich mit den spartanischen Ephoren, den athenischen Demarchen und den römischen Volkstribunen verglich. Zur Bedeutung dieses Kapitels vgl. die Kommentare von Skinner, The Founda-

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erfolgte also zunächst aus religiösen Gründen, griff aber rasch auf die politische Arena über, in England ebenso wie in Frankreich. In England formulierte John Knox eine ziemlich radikale Auslegung des Rechts, freiheitsfeindlichen Mächten den Gehorsam zu verweigern. In seiner Apology for the Protestants (1557) wandte er sich in heftigen Worten gegen Mary Tudor und beschuldigte sie, »wider Recht und Gerechtigkeit die Unschuldigen zu bedrängen sowie gegen Gott zu kämpfen«.7 Im Jahr darauf schlug er noch schärfere Töne an und rief zur Rebellion gegen eine vermeintlich tyrannische und götzendienerische Königin auf.8 John Ponet, der Bischof von Rochester und Winchester, veröffentlichte zur gleichen Zeit A Shorte Treatise of Politike Power (1556), ein im ähnlichen Geiste verfasstes, aber gedanklich klarer strukturiertes Werk. Ponet betonte darin, dass die weltliche Macht in Gewissensfragen ihre Grenze habe, und gestand dem Volk das Recht zu, den Regierungen den Gehorsam zu verweigern und sich ihnen zu widersetzen, wenn sie ihre Macht missbrauchten. Christopher Goodman und George Buchanan, zwei weitere führende Persönlichkeiten des Protestantismus in England und Schottland, verfassten zahlreiche Schriften in diesem Tenor. In seinem Dialogus de Jure Regni apud Scotos (1579) pochte Buchanan energisch darauf, dass »das Volk mehr Macht hat als die Könige, die alle Rechte, derer sie sich rühmen, allein vom Volk erhalten; folglich übt das Volk in seiner Gänze auf die Könige die gleiche Macht aus, wie die Könige über jeden einzelnen Bürger.«9 Diese englischen und schottischen Autoren gaben dem Recht auf Widerstand und dem Gebot der öffentlichen Zustimmung eine deutlich politischere Wendung als die Philosophen und Theologen des Mittelalters. Ihre Schriften waren aber keine theoretischen Abhandlungen, sondern Instrumente der direkten Intervention in die politischen Debatten und Konflikte ihrer Zeit. Sie gaben sich mit einem moralischen Verständnis der Probleme nicht mehr zufrieden, waren

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tions of Modern Political Thought (Bd. II , Teil 3: »Calvinism and the Theory of Revolution«). Knox, Apology for the Protestants in Prison at Paris, S. 327. Vgl. besonders The First Blast of the Trumpet against the Monstruous Regiment of Women (1558), wiederabgedruckt in: Knox, On Rebellion. Zitiert nach Turchetti, Tyrannie et tyrannicide, S. 407.

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aber noch keine Staatsrechtler im eigentlichen Sinne. Diesen entscheidenden Schritt in Richtung eines staatsrechtlichen Denkens vollzogen erst die französischen »Monarchomachen«. Mit diesem Neologismus, wörtlich die »Königsbekämpfer«, bezeichnete man im Wesentlichen eine Gruppe hugenottischer Publizisten, die das Recht auf Widerstand gegen usurpatorische und freiheitsfeindliche Regierungen verteidigten. Einige berühmt gewordene Schriften, die nach den Massakern der Bartholomäusnacht publiziert wurden, verschafften dieser Strömung eine beträchtliche Resonanz. Darunter Le Réveille-matin des Français (1574), Hotmans Franco-Gallia (1574), die Duplessis-Mornay zugeschriebene Vindiciae contra tyrannos (1579) oder das von Théodore de Bèze in Genf veröffentlichte Handbuch Du droit des magistrats sur leurs sujets (1575). Es war lange üblich, diese Autoren als »Vorläufer des Gesellschaftsvertrags« zu betrachten, da sie durchgängig die Rechte des Volkes beschworen, die Herrschenden zur Einhaltung des Gemeinwohls ermahnten und absolutistische Ambitionen in scharfen Worten verurteilten. Allerdings war ihre Perspektive von der Rousseau’schen noch weit entfernt. Sie hatten noch keinerlei Vorstellung von aktiver Volkssouveränität und standen dem mittelalterlichen Denken geistig näher als dem demokratischen Individualismus der Moderne.10 Auch waren sie sehr viel gemäßigter als Knox und ließen Calvins Radikalität im Ton vermissen. Sie legten überdies großen Wert darauf, sich von den Wiedertäufern des Bauernkrieges und anderen Aufständen aus der Frühzeit der Reformation in Deutschland abzugrenzen. Was sie verband, war ihr Bestreben, eine im eigentlichen Sinne verfassungsrechtliche Theorie des Widerstandsrechts zu entwickeln. Darin lag ihre wahre Originalität. Die monarchomachische Literatur betonte wenig überraschend die Rolle der Generalstände. Hotman beschrieb in Franco-Gallia die institutionellen Anfänge Frankreichs und zeigte auf, dass die ersten wirklichen Könige des Landes, nach der Verschmelzung von Franken und Galliern (daher der Titel des Buches), von repräsentativen Versammlungen eingesetzt worden seien. Von der »Wiederherstellung« dieses Urparlamentarismus erhoffte er sich, dem Widerstandsrecht 10

Ich verweise diesbezüglich auf meine Ausführungen in Le Sacre du citoyen, S. 21–38.

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und der öffentlichen Zustimmung eine geregelte und legale Form geben zu können. Bèze wiederum regte an, dass auch »niedere Beamte« (worunter er bestimmte Kategorien des »Hochadels« sowie gewählte Beamte aus den größeren Städten verstand) die Funktion wahrnehmen könnten, den Fürsten zu kontrollieren. Der originellste der hugenottischen Denker war der Verfasser der Vindiciae contra tyrannos, der die Einrichtung einer Art Doppelmacht im Staate in Erwägung zog. Hier die unmittelbar tätige Macht des Königs, dort die Organe, die ihn kontrollieren, und erst aus dem Zusammenwirken beider resultiert die Staatsgewalt. Der Gedanke war also, die Macht zu teilen oder zumindest einander ergänzende und miteinander verbundene Machtinstanzen zu schaffen. Die in diesem Zusammenhang benutzten Worte sind besonders aufschlussreich. Der Verfasser spricht von »Ephoren« und »Aufsehern«,11 die als »Vormunde« des Volkes den Monarchen kontrollieren sollten. Mit diesem Bezug auf das spartanische Ephorat, eine Institution, die den klassisch gebildeten Zeitgenossen vertraut war,12 legte Vindiciae contra tyrannos den Grundstein für ein institutionelles Verständnis von prohibitiver Macht als Gegengewicht zu einer aktiven Regierung. Seither hat sich La Boéties Contr’Un13 als gültige Formulierung des Widerstandsrechts durchgesetzt, ein Text, der bis heute immer wieder aufgelegt wird. Er gehört gleichwohl nicht zu dieser Art von Literatur, auch wenn die Kalvinisten ihn sich anzueignen versuchten, indem sie mehrere Raubdrucke davon herausgaben. Denn der Text enthält keinerlei konkrete konstitutionelle Vorschläge. In einem ganz anderen intellektuellen Kontext, nämlich dem der ersten Ansätze einer Naturrechtstheorie, widmete Althusius einige Jahre später dieser Idee ein ganzes Kapitel seiner Politica Methodice Digesta (1603). »Die universale Gemeinschaft kennt zwei Arten von Verwaltern«, schrieb er, »die Ephoren und den obersten Magistrat.«14 11 12 13

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Stephanus Junius Brutus, Strafgericht gegen die Tyrannen, S. 185. Vgl. dazu »La Sparte huguenote«, in: Rosso, La Renaissance des institutions de Sparte dans la pensée française, S. 84–101. Die erste vollständige Ausgabe stammt von 1576. Das Werk wurde später unter dem Titel Discours de la servitude volontaire (Über die freiwillige Knechtschaft des Menschen) herausgegeben. Althusius, Policia Methodice Digesta, Kapitel 18, »Die Ephoren und ihre Pflichten«, S. 176.

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Die Ephoren üben, nach Althusius, eine Macht der Beschränkung und Verhinderung aus. Sie sorgen dafür, dass der oberste Magistrat weder nachlässig noch müßig wird, und wachen darüber, dass seine persönlichen Neigungen ihn nicht dazu verleiten, gegen das Gemeinwohl zu verstoßen.15 Unter diesem Gesichtspunkt wandelt sich die Funktion der Prohibitionsmacht. Sie wird nicht mehr ausschließlich als extreme Form des Handelns verstanden, als letztes und radikales Mittel des Widerstands gegen eine ihrerseits extreme Form der Macht, nämlich die Tyrannei. Vielmehr integriert Althusius sie in das reguläre institutionelle Gefüge, das sogar moderne demokratische Züge trägt, da die Ephoren seiner Vorstellung nach mit den Stimmen der gesamten Bevölkerung gewählt werden sollten.16 Althusisus’ Ephoren waren rechtmäßige Verteidiger der Freiheiten und Vertreter der öffentlichen Interessen gegenüber dem obersten Magistrat, sie übernahmen in Übergangsperioden die Regierung und sorgten für den Verbleib der verschiedenen Gewalten in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen – ihre Aufgaben gingen also weit über das Recht auf Absetzung eines zum Tyrannen gewordenen Souveräns hinaus.17 In diesem Fall sind wir tatsächlich weit von der mittelalterlichen Auffassung entfernt. Althusius markiert einen Wendepunkt im politischen Denken und darf als Vorläufer Rousseaus und der Idee demokratischer Souveränität gelten. Zugleich ist er auch in anderer Hinsicht ein Erneuerer: Er brach mit der Bodin’schen Vorstellung einer einheitlichen und unteilbaren Souveränität.18 Er ist unter diesem doppelten Aspekt der erste Denker einer dualistischen Demokratie, in der Regierung und Pro-

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Ebd. Hinsichtlich der Wahlverfahren legt er sich nicht fest. Er zieht sowohl die Möglichkeit eines Losentscheids in Betracht als auch einer Wahl nach Körperschaften (»tribus-, zenturien- oder kurienweise«) oder einer rein arithmetischen Abstimmung »einzeln Mann für Mann« (ebd., S. 178). Althusius betrachtete das Recht der Ephoren, den Souverän oder obersten Magistrat abzusetzen, lediglich als eine ihrer fünf Aufgaben (S. 179–184). Vgl. seine Kritik am Verfasser der Sechs Bücher über den Staat, ebd., S. 181. Gleichzeitig setzt er sich sehr kritisch mit William Barclays De Regno et Regali Potestate (1600) auseinander und beanstandete das Souveränitätsverständnis des englischen katholischen Absolutisten (ebd., S. 184–188).

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hibitionsmacht zusammenwirken, um ein gut funktionierendes Gemeinwesen zu gewährleisten.

Aufklärung, negative Macht und die Volkstribunen Die Frage der Widerstandsbefugnisse war auch für die politischen Philosophen des 18. Jahrhunderts noch ein zentrales Thema. Allerdings wurde sie zu dieser Zeit bereits in einem eindeutig staatsrechtlichen Rahmen behandelt. Sie bildete zunächst einen Bestandteil des liberalen Bemühens um eine strikte Begrenzung der Staatsmacht, war aber auch der demokratischen Suche nach den geeignetsten Ausdrucksformen der Volkssouveränität nicht fremd. Man interessierte sich nunmehr verstärkt für Vorbilder aus der römischen Antike, um Antworten auf solche Fragen zu finden. In diesem Sinne wurde die Untersuchung der Volkstribunen zu einem historischen Bezugspunkt, der das Nachdenken über die Prohibitionsmacht beförderte. Es kann hier freilich nicht darum gehen zu klären, ob diese antike Institution von den Autoren der Aufklärung korrekt interpretiert wurde – von Belang ist allein, wie sie verstanden und beschrieben wurde. Bei allem, was auf diesen Seiten über die spartanischen Ephoren und die römischen Tribunen gesagt wird, ist stets im Kopf zu behalten, dass diese Institutionen im 18. Jahrhundert oft als identisch galten. Überwachung und Verhinderungsbefugnisse, die wir gerade zu unterscheiden versuchen, wurden damals häufig verwechselt. Beispielsweise ist das Tribunat des Jahres VIII eher dem antiken Ephorat vergleichbar, während die Aufgaben, die Althusius seinen Ephoren zuweist, eher der Rolle der römischen Tribunen entsprechen. Zudem unterschieden die meisten Autoren nicht zwischen »Volkstribunen« und »Tribunen des Plebs« (Letztere bildete eine eigene soziale Klasse). Veto, intercedo: Ich widersetze mich, ich greife ein. Es war diese wesentliche Funktion der römischen Tribunen, auf die die Autoren des 18. Jahrhunderts ihr Augenmerk richteten.19 »Ihre Macht ist mehr eine des Verhinderns, denn eine des Handelns«, heißt es in Diderots und D’Alemberts Encyclopédie zusammenfassend.20 »Die Volkstri19 20

Vgl. Catalano, Tribunato e resistenza, für einen Gesamtüberblick zum Verständnis der Tribunen in dieser Zeit. Diderot/D’Alembert, Encyclopédie, Artikel »Tribun du peuple«, Bd. 34.

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bune«, so die Encyclopédie méthodique, »waren Magistrate, welche die Aufgabe hatten, das Volk vor der Bedrückung durch die Mächtigen zu schützen und seine Rechte und Freiheiten gegen die Machinationen der Konsuln und des Senats zu verteidigen.«21 Montesquieu und Rousseau widmeten den Tribunen ganze Kapitel in ihren Hauptwerken.22 Zwar vermerkten beide Autoren kritisch die Fehlentwicklungen des Amtes, das am Ende die Exekutivgewalt an sich riss, anstatt sie lediglich in Schach zu halten. Gleichwohl waren beide fasziniert von der Idee einer konstitutionellen Macht der Negation: Ein einzelner Tribun brauchte bloß das Wort veto aussprechen und konnte damit alles zum Erliegen bringen. »Weil er nichts tun kann, kann er alles verhindern«, so charakterisierte Rousseau diese Funktion. Das Tribunat sei nicht eigentlich ein verfassungsmäßiger Teil des Staatswesens (Rousseau bezeichnet es als »Sonderamt, das zu keiner anderen Körperschaft Verbindungen eingeht«), sondern vielmehr die Voraussetzung seines ordnungsgemäßen Funktionierens, insofern es »jedes Glied in seine wirklichen Bezüge verweist«. Kann man die Vorzüge des Amtes bewahren und gleichzeitig seine potenziell nachteiligen Folgen ausschließen? Rousseau wirft diese Frage auf und beantwortet sie dahingehend, dass eine prohibitive Macht nur zeitweilig in Erscheinung treten sollte. Im Gesellschaftsvertrag führte er die Diskussion zu keinem logischen Ende, griff sie aber einige Jahre später, in den Briefen vom Berge,23 in einem zugegeben gänzlich anderen Kontext, wieder auf. Rousseau wandte sich in diesem Text gegen das Ablehnungsrecht, das sich der Kleine Rat (die Exekutive der Stadt Genf) in Bezug auf die Gesetzgebung und die Weitergabe von Bürgerbeschwerden an den Großen Rat anmaßte. Die Verhinderungsmacht würde in diesem Fall gänzlich ins Gegenteil verkehrt, weil sie zur Stärkung der Exekutive führe; die Unbeweglichkeit, die sie befördere, diene weder der Freiheit noch den Rechten der Bürger. Die Rous21 22

23

Démeunier, Encyclopédie méthodique, Reihe Économie politique et diplomatique, Bd. IV, S. 569. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch 5, Kapitel 8; Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Buch 4, Kapitel 5. Zu Rousseau vgl. Cousin, »J.-J. Rousseau interprète et juge des institutions romaines dans le Contrat social«. Rousseaus Briefe vom Berge (1764) waren eine Antwort auf Jean-Robert Tronchins Briefe vom Lande (ebenfalls 1764).

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seau’schen Briefe sind Teil einer Polemik, deren technische Aspekte schwer zu erklären sind, ohne im Detail auf die Genfer Institutionen einzugehen,24 was an dieser Stelle nicht zu leisten ist. Das Bedeutsame dieser Episode für den Zweck unserer Untersuchung ist auch lediglich, dass sie zeigt, wie zentral die bloße Vorstellung einer Ablehnungsmacht in dieser Zeit war. Während Rousseau sich darum bemühte, die Möglichkeiten einer wesentlich demokratischen Ablehnungsmacht zu sondieren, eines Instruments zur Erweiterung und Verwirklichung der Volkssouveränität, wurde diese Negativität im späten 18. Jahrhundert zumeist unter einem anderen Gesichtspunkt, nämlich dem eines Mittels zur Regulierung der Gewaltenteilung betrachtet. Selbst der Begriff »Veto« änderte in dieser Zeit seine Bedeutung. In den 1750er bis 1770er Jahren benutzte die Encyclopédie das Wort allein in Bezug auf die römische Geschichte. Zwanzig Jahre später hatte sich seine verfassungsrechtliche Bedeutung gewandelt. In Amerika gebrauchte man es als Synonym für »qualifizierte Ablehnung« [qualified negative], die Bezeichnung des Rechts, das die Gründerväter dem Präsidenten eingeräumt hatten, um das Inkrafttreten eines von der Legislative angenommenen Gesetzes zu blockieren (dieses Veto konnte durch eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern überstimmt werden). In Frankreich war »Veto« die gängige Bezeichnung für das Prinzip der »königlichen Zustimmung«, das Recht der Exekutive, laut Verfassung von 1791, jedes Gesetz aufzuheben. Die Implementierung solcher Mechanismen erfolgte sowohl in Frankreich als auch in Amerika unter dem Montesquieu’schen Vorzeichen einer Verbindung von Entscheidungs- und Verhinderungsrecht. Es ging also in beiden Fällen ausdrücklich darum, zu einem ausgeglichenen Verhältnis der Staatsgewalten beizutragen, in dem »liberalen« Bestreben, dafür zu sorgen, dass diese sich gegenseitig in Schach halten.25 Die Protagonisten der Französischen Revolution gaben sich allerdings mit einem so besonnenen Verständnis von prohibitiver Macht nicht zufrieden. Sie wollten diese Macht auch unter Berufung auf die römischen Tribunen in einem demokra24 25

Vgl. Spector, »Droit de représentation et pouvoir négatif. La garde de la liberté dans la constitution genevoise«. Vgl. Bidégaray/Émeri, »Du pouvoir d’empêcher. Veto ou contre-pouvoir«.

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tischen Sinne neu interpretieren, wobei es ihnen jedoch nicht wirklich gelang, ihr eine verfassungsmäßige Form zu geben.

Das Experiment der Französischen Revolution Das Thema Tribunat kam in Frankreich bereits im Frühjahr 1790 auf. Es wurde im Umkreis des Cercle Social und des Club des Cordeliers diskutiert, wo man sich mit der Frage beschäftigte, wie die Volkssouveränität auf eine breitere Grundlage zu stellen sei als die bloße parlamentarische Repräsentation. Der Abbé Fauchet, eine der kompetentesten Kommentatoren des Gesellschaftsvertrages, erwog beispielsweise die Einrichtung einer gewählten »Moderationsmacht«, deren spezielle Aufgabe darin bestehen sollte, Maßnahmen oder Gesetzesentwürfe zu suspendieren, die vermeintlich gegen den Gemeinwillen verstießen, und an den Souverän zu appellieren, in der jeweiligen Angelegenheit eine endgültige Entscheidung zu treffen. Zweck sei, nach seinen Worten, dass »das Ganze über das Ganze wacht«.26 Auch Lavicomterie verwandte ein Kapitel seines Demokratietraktats Du peuple et des rois (1791) auf die Beschreibung dessen, was moderne Tribunen sein könnten, nämlich »Beschützer der Volkssouveränität«, stets auf der Hut, um jeden Missbrauch übertragener Befugnisse zu vereiteln.27 Diese Magistrate sollten gleichermaßen »Bändiger« der herrschenden Mächte wie »Bewahrer« der Bürgerrechte sein. Lavicomterie war sich genau wie Rousseau der Gefahren bewusst, die von einer solchen Institution ausgingen, wenn am Ende ihre Verhinderungsbefugnisse in totale Machtvollkommenheit umschlügen. Der Ausweg? Er betonte in Rousseau’schen Worten die Notwendigkeit ihrer absoluten Unabhängigkeit von allen bestehenden Körperschaften. Insbesondere wenn man »Unbeständigkeit und Absetzbarkeit« zu Eigenschaften des Amtes machen würde, sei die Gefahr, dass die Tribunen ihre Macht missbrauchten, praktisch gleich null. Eine nicht institutionalisierte, rein funktionale und unpersönliche Macht, das war nach Lavicomterie die Voraussetzung für ein modernes Tribunat, das seiner 26 27

Abbé Fauchet, »Treizième discours sur l’universalité d’action du Souverain dans l’État«, S. 60. Lavicomterie, Du Peuple et des rois, Kapitel 10, »Des éphores ou des tribuns«, S. 78–90. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Kapitel.

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Funktion treu bliebe. War sie zu erfüllen? Die Erfahrungen der Französischen Revolution legen nahe, die Frage mit Nein zu beantworten. Der Ablauf der Verfassungsdebatte von 1793 ermöglicht es, die theoretischen und politischen Gründe diese Schlussfolgerung besser zu verstehen und dadurch weitere Erkenntnisse über die lange Geschichte prohibitiver Souveränität zu erbringen. Wir haben bereits im vorherigen Kapitel die vielen Projekte von 1793 erwähnt, eine soziale Kontrollmacht zu institutionalisieren. Dass der Gedanke, eine Prohibitivmacht einzuführen, ebenfalls sehr präsent war, ist aus dem Verfassungsentwurf von Hérault de Séchelles zu ersehen, der dem Konvent als Diskussionsgrundlage diente.28 Man nehme nur die beiden folgenden Artikel des Abschnitts »Über die Volkssouveränität«: »Artikel I. Das Volk übt seine Souveränität in Urversammlungen aus. Artikel II . Es ernennt in direkter Wahl seine Repräsentanten und die Mitglieder der Nationaljury«. Jeder Bürger konnte an diese Jury appellieren, die Maßnahmen staatlicher Behörden sanktionieren oder ihre Ausführung unterbinden sollte, um »die Bürger vor Unterdrückung durch die Legislative oder den Exekutivrat zu bewahren«. Diese Jury sollte aus einem gewählten Vertreter pro Departement bestehen. Es waren also zwei Parallelgewalten vorgesehen, die sich gleichermaßen unmittelbar aus dem Volkswillen ableiten: die repräsentative Macht und ihre Kontrolle. Die vorgeschlagene Jury war somit demokratischer Natur, ein Bestandteil der Souveränität, nicht bloß ein Schutzschild liberaler Inspiration, ein Mittel zur Eindämmung der Staatsgewalten. Der Konvent lehnte diese Vorstellung einer geteilten Volkssouveränität mit großer Mehrheit ab, ein Beleg der Unmöglichkeit, den jakobinischen Kult der Totalität zu überwinden. Es ist in Frankreich nie wirklich gelungen, Souveränität auf plurale Weise zu definieren. Der Gedanke, eine Kontrollinstanz einzuführen, die zur gleichen Zeit und unter den gleichen Umständen wie die Legislative gewählt würde, sah sich so dem Vorwurf ausgesetzt, einen Dualismus zu befördern, der Ansätze zur Konfusion und zum Verfall der Volks28

Vorlage im Konvent vom 10. Juni 1793, A.P., 1. Reihe, Bd. 66, S. 256–264. Die Zitate sind diesen Seiten entnommen. Für eine ausführliche Diskussion der Debatten rund um diesen Entwurf vgl. Rosanvallon, La Démocratie inachevée, S. 66–81.

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souveränität enthielt. »Sie haben beschlossen, dass die Legislative die Souveränität ausüben soll; es wäre somit lächerlich, ihr eine höhere Autorität an die Seite stellen zu wollen«, fasste ein Kontrahent von Hérault de Séchelles die entsprechenden Kritikpunkte zusammen.29 Robespierre hatte bereits in ähnlicher Weise gegen die Einführung eines Tribunats argumentiert: »Was kümmern uns die Kombinationen, die die Autorität der Tyrannen ausbalancieren? Es geht darum, die Tyrannei auszulöschen; nicht im Streit ihrer Herren sollten die Völker das Vorrecht zu gewinnen suchen, für einige Zeit frei leben zu dürfen; sie sollten die Garantie für ihre Rechte in ihre eigene Macht legen. […] Ich kann nur einen einzigen Volkstribunen anerkennen, nämlich das Volk selbst.«30 Diese Argumente erinnern einmal mehr an das alte Problem im französischen Staatsrecht, Souveränität anders denn als monolithische Macht zu denken, jede Form der Teilung oder Verdopplung wird automatisch als Schwächung empfunden. Am Ende verteidigten die Revolutionäre nicht nur die Repräsentativregierung in ihrer orthodoxesten Form, sie ergänzten sie obendrein um die schwärmerische Sicht eines Volkes, das durch seine Repräsentanten angemessen verkörpert wird. Autoren wie Condorcet31 oder Hérault de Séchelles, denen eine komplexere Souveränität vorschwebte, wollten eine Form von Prohibitivmacht in den Staatsapparat integrieren. Sie sahen darin einen möglichen Ausweg aus einer Politik, die ihnen als Hin-und-herSchwanken zwischen passiver Zustimmung und Aufruhr erschien. Ihre diesbezüglichen Überlegungen zielten darauf ab, eine »Widerstandsmethode« zu entwerfen, die eine Alternative zum Aufstand wäre. »Wenn die Gesellschaft von der Legislative unterdrückt wird, ist der Aufstand die einzige Methode des Widerstandes«, schrieb Hérault de Séchelles. »Es wäre allerdings absurd, einen solchen Aufstand orga29

30 31

Rede von Thuriot, 16. Juni 1793 (A.P., Bd. 66, S. 577). Chabot bemerkte am 11. Juni: »Lassen Sie uns nicht zwei Gewalten einführen, die in Widerstreit zueinander treten können; setzen wir das Volk nicht der Gefahr aus, sich zwischen gesetzgebender Körperschaft und Nationaljury entscheiden zu müssen« (A.P., Bd. 66, S. 284). Robespierre, »Über die repräsentative Regierung«, Rede vom 10. Mai 1793, S. 417–418. Vgl. Jaume, »Condorcet. Droit de résistance ou censure du peuple?«.

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nisieren zu wollen. Es ist unmöglich, Art und Wesen eines Aufstandes im Voraus zu bestimmen. Man muss auf den Geist des Volkes vertrauen, seine Gerechtigkeit und seine Besonnenheit. Anders liegt der Fall, wenn die Legislative nur wenige Bürger unterdrückt; dann müssen diese Bürger im Volk eine Methode des Widerstands entdecken.«32 François Robert brachte die Problematik am sinnfälligsten auf den Punkt. Mit Bezug auf die seinerzeit viel diskutierte Idee einer vierten Gewalt versuchte auch er, einen Mittelweg zwischen Straßenkampf und Urnengang zu finden. »Was tun?«, fragte er, wenn die Legislative ihre Befugnisse missbraucht: »Das Volk tritt ihr nicht entschlossen entgegen und hat auch keine Möglichkeit dazu. Braucht es also einen Aufstand? Nein, es braucht keinen Aufstand; es braucht eine Institution, die an seine Stelle tritt, die an die Stelle des Volkes tritt, die gleichsam das Volk ist und die alle konstituierten Gewalten zum Tun oder Nichttun veranlasst.«33 Eine Institution, die an die Stelle des Volkes und des Aufstandes tritt: Diese außergewöhnliche Formulierung erfasst gerade in ihrer Radikalität perfekt, was bei dem Versuch, der Demokratie eine Form zu geben, auf dem Spiel steht. Robespierre und seine Freunde widersprachen diesem Ansatz: »Den Widerstand gegen die Unterdrückung gesetzlichen Formen zu unterwerfen, ist die äußerste Verfeinerung der Tyrannei«, fasste der Unbestechliche ihre Position kurz und bündig zusammen.34 Das hieß, dass Politik nur als extremer Gegensatz von parlamentarischer Routine und aufständischer Überschreitung denkbar war. Oder, anders ausgedrückt, dass zwischen Unterwerfung unter die bestehende Ordnung und Rebellion kein Raum für Einmischung, Meinungsstreit, Verhandlung existierte.35 Man muss dazusagen, dass es damals gang und gäbe war, das Wort »Aufstand« zu benutzen. Der Aufstand wurde so oft als »heilige

32 33 34 35

A.P., Bd. 67, S. 139. A.P., Bd. 63, S. 387. Artikel 31 seines Entwurfs einer Rechteerklärung vom 24. April 1793, A.P., Bd. 623, S. 199; vgl. auch Robespierre, Ausgewählte Texte, S. 406. Patrice Gueniffey beschreibt den Geist der Revolution treffend als »repräsentativen Absolutismus vermischt mit umstürzlerischen Ausbrüchen direkter Demokratie« (Le Nombre et la raison, S. IV ).

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Pflicht«36 beschworen, dass er am Ende fast ein Bestandteil politischer Normalität war. Wenn die Sansculotten des Jahres II von Aufstand sprachen, so verstanden sie darunter übrigens nicht zwangsläufig eine bewaffnete Erhebung. Der Begriff erstreckte sich vielmehr auf ein weiteres, aber auch diffuseres Spektrum von Widerstandsaktionen, Initiativen verschiedenster Art bis hin zu Formen eines wachsamen und argwöhnischen Verhaltens. Manche gingen sogar so weit, von einem »friedlichen Aufstand«37 zu sprechen. Ungeachtet solcher semantischer Feinheiten machte sich allenthalben die gleiche De-Institutionalisierung des Politischen bemerkbar, und unter diesem Aspekt muss man die ganze Periode der Schreckensherrschaft betrachten. Zwischen diffusem Druck der öffentlichen Meinung und Aufstand, der modernen Bezeichnung für Widerstandsrecht und Tyrannenmord, blieb also, zumindest in den Augen der Jakobiner, kein Platz für eine institutionell verankerte Prohibitivmacht.

Fichte und die Idee eines modernen Ephorats Nicht in Paris, sondern in Jena, nämlich bei Johann Gottlieb Fichte, fand das Nachdenken über die verfassungsmäßige Verankerung einer Prohibitivmacht im späten 18. Jahrhundert seinen vollendetsten Ausdruck. Der Philosoph widmete ein Kapitel seiner Grundlage des Naturrechts (1796–1797) dem Projekt, ein modernes Ephorat zu begründen.38 Ergänzend zu den drei Verfassungsgewalten, die jeweils in ihrem Bereich aktiv seien, sollte das Ephorat für Fichte »eine absolut prohibitive Gewalt« bilden: »Diese Gewalt müßte die fortdauernde Aufsicht über das Verfahren der öffentlichen Macht haben.«39 Es ging also nicht 36

37 38

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Vgl. Artikel 35 der Erklärung vom Juni 1793: »Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist der Aufstand für das gesamte Volk sowie jeden Teil des Volkes die heiligste und unerlässlichste aller Pflichten«. Brunot erwähnt diese Verschiebung in seiner Histoire de la langue française (vgl. Bd. 9, 2. Teil, La Révolution et l’Empire, S. 855). Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Vgl. den sachkundigen Kommentar zu diesem Projekt bei Renaut, Le Système du droit. Philosophie et droit dans la pensée de Fichte (Kap. III , »La synthèse républicaine«). Fichte, Grundlage, S. 448 und 449. Hervorhebung im Text. Generell ist anzumerken, dass die Institution, die Fichte »Ephorat« nennt, tatsächlich Merkmale des römischen Tribunats trägt. Die Ungenauigkeit seiner Terminologie ist ty-

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darum, die Möglichkeit zu schaffen, einzelne Entscheidungen anzufechten, was eher Sache der Justiz wäre, sondern eine Macht mit umfassenden Aufhebungsbefugnissen zu instituieren. Das Ephorat sei dazu da, »allen Rechtsgang, von Stund an, aufzuheben, die öffentliche Gewalt gänzlich, und in allen ihren Theilen zu suspendiren.« Es sei somit in der Lage, ein »Staatsinterdikt« zu verhängen, in Analogie zum kirchlichen Interdikt, mit dem die Kirche, so Fichte, das untrügliche Mittel gefunden habe, den Gehorsam derer, die ihrer bedürften, zu erzwingen. Eine solche Instanz war für ihn in doppelter Hinsicht gerechtfertigt. Zum einen ermöglichte sie es, den Gegensatz von repräsentativer und direkter Demokratie zu überwinden. Gegenüber einer repräsentativen Demokratie, die Gefahr laufe, zur bloßen Wahlaristokratie zu verkommen, und einer direkten Demokratie, die von demagogischen Verlockungen und praktischen Schwierigkeiten gleichermaßen bedroht sei, eröffne das Ephorat einen dritten Weg: den einer reflexiven Demokratie, die darum bemüht sei, sich ständig selbst infrage zu stellen. Das Ephorat korrigiere zunächst die Trägheitsmomente der repräsentativen Demokratie. Zwar spricht das Volk den Regierenden sein Vertrauen aus, indem es sie wählt, es behält sich aber gleichwohl die Möglichkeit vor, zu intervenieren und Sanktionen zu verhängen. Das Ephorat beseitige auch die Defizite der direkten Demokratie, indem es das Volk gewissermaßen verdopple in die abstrakte Allgemeinheit der Wahlbürger und eine Reihe konkreter Gemeinschaften, die sich anhand bestimmter Sachfragen herausbildeten. Eine Regierungsform, die ein Ephorat instituiert habe, sei somit demokratischer und liberaler zugleich. Sie beseitigt das Dilemma des unauffindbaren Volkes der Demokratie, indem es ihm zwecks besserer Annäherung zwei verschiedene Identitäten und Ausdrucksformen zuweist40 – Ausdrucksformen zumal, deren jede über ihre eigene Zeitlichkeit verfügt. Sie vermeidet damit auch die Verwirrung, die eine Form von Demokratie stiften würde, in der das Volk sich als Einheit verstünde und damit unweigerlich Gefahr liefe, sich gegen sich selbst

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pisch für die Epoche, die ein ebenso enges wie unklares Verhältnis zu den antiken Institutionen unterhielt. Mit dem Ephorat werde, so Fichte, »das Volk […] durch die Constitution, im voraus, auf einen bestimmten Fall, als Gemeine erklärt« (ebd., S. 447).

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zu wenden, weil es Richter und Partei, Herr und Untertan in einem sein müsste. Fichte hat somit Condorcets Gedanken zur Entstehung einer komplexen Souveränität weitergedacht,41 sie aber im Ausdruck verschärft und in den Voraussetzungen präzisiert. Sein demokratischer Dualismus ist zunächst einmal radikaler. Er begnügt sich nicht damit, wie bei Condorcet, zwischen einer übertragenen Souveränität (der legislativ-repräsentativen Gewalt) und einer kontrollierenden Souveränität (der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit oder Aktualisierung der verfassunggebenden Gewalt in Verträgen) zu unterscheiden. Fichte radikalisiert die Frage der Gewaltenteilung, indem er sie vereinfacht. Der wesentliche Unterschied besteht für ihn zwischen »absolut positiver Macht« und »absolut negativer Macht«. Exekutive, Legislative und Judikative würden sich in ihrer aktiven Rolle ergänzen, ihre Trennung sei deshalb mehr Schein als Realität: Fichte betrachtete die Exekutive als die eigentliche Zentralgewalt. Die liberale Theorie der Gewaltenteilung war deshalb für ihn relativ unbrauchbar, es sei denn – und hierin stand er Montesquieu nahe –, um die Realität einer gemischten Regierungsform zu beschreiben, die Elemente von Demokratie, Aristokratie und Monarchie harmonisch verbindet (man könnte eine gewisse Balance zwischen Liberalismus und Demokratie als modernisierte Form dieser Auffassung ansehen). Die wirklich relevante Grenze verlief für Fichte also zwischen positiver Macht (fokussiert auf die Exekutive) und negativer Macht (kritischer autonomer Intervention). Für Letztere sei die Institution des Ephorats unerlässlich. Das Interessante an den Fichte’schen Ausführungen beschränkt sich allerdings nicht auf diesen Punkt. Er analysiert ferner die formalen Bedingungen, die erfüllt sein müssten, damit ein solches Ephorat existieren könne. Um den Ephoren volle Legitimität zu verschaffen, müssten sie vom Volk gewählt sein. Zugleich dürfe sich aber niemand selbst als Kandidat für ein solches Amt vorschlagen. Fichte greift hier auf, was während der Französischen Revolution als zentraler politischer Grundsatz empfunden wurde: das Verbot, für Wahlen zu kandidieren, da solche Kandidaturen im Verdacht standen, Intri41

Ich verweise diesbezüglich auf meine Ausführungen in La Démocratie inachevée.

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gen zu begünstigen und den eigentlichen Zweck von Wahlen, nämlich das Auffinden der geeignetsten Personen, zu verfälschen.42 Von Wahlen ohne Kandidaturen erhoffte man sich, dass die Personen hinter die von ihnen wahrgenommenen Funktionen zurücktreten.43 Im Übrigen sollte das Ephorenamt zeitlich begrenzt sein, die Machtfülle prohibitiver Befugnisse mithin durch die Befristung der Mandate kompensiert werden (sowie durch die Verpflichtung der Ephoren, am Ende ihrer Amtszeit Rechenschaft abzulegen). Das war eine weitere Maßnahme, um zwischen Amt und Person zu trennen. In dieselbe Richtung ging Fichte mit seiner Überlegung, dass ein ausgeklügeltes System von Strafen und Belohnungen die Ephoren zu einer korrekten Amtsführung zwingen werde, weil die Einhaltung des Gesetzes und die Sorge um das Gemeinwohl sich in diesem Fall mit ihrem Privatinteresse decken würde. Schließlich sei es wichtig, dass die Inhaber der prohibitiven Gewalt von der Exekutive gänzlich unabhängig blieben. Fichte verfügte deshalb ausdrücklich, dass sie »mit den Verwaltern derselben [= Exekutive] nicht in Umgang, Verwandschaft, freundschaftlichem Verhältnisse, und dergleichen stehen«.44 Als Ganzes betrachtet, führen diese verschiedenen Bestimmungen zu einer radikalen Entpersonalisierung der Ephoren, reduzieren sie tendenziell auf eine reine Funktion. Hierin besteht eine beträchtliche Asymmetrie 42

43

44

Vgl. dazu die grundlegenden Ausführungen von Gueniffey, Le Nombre et la raison. Um irgendwelche Machenschaften oder Manipulationen, also die Aneignung des politischen Prozesses zu privaten Zwecken, zu verhindern, wurden Kandidaturen schon vom Prinzip her für ungesetzlich erklärt. Den Wählern stand es also absolut frei, für eine beliebige Person zu stimmen! Dieses System konnte allerdings nur funktionieren, weil in zwei Stufen gewählt wurde. Diese Lösung mag taktisch naiv gewesen sein, sie hatte gleichwohl ihre Logik, nämlich die Wahlen radikal zu personalisieren, indem man sie in einer Entscheidungssphäre ansiedelte, die insofern als gänzlich unpolitisch gelten konnte, als die Wähler allein nach den geistigen und moralischen Eigenschaften der Personen entscheiden sollten. »Man darf«, schreibt Fichte, »um das Ephorat nicht anhalten; auf wen das Auge und das Zutrauen des Volks fällt, welches, gerade um dieser erhabnen Wahl willen, auf seine biedern, und großen Männer, fortgehend aufmerken wird, derselbe wird Ephor« (Fichte, Grundlage, S. 456). Ebd., S. 455. Nebenbei bemerkt übernimmt Fichte hier alle Verbote, die in den italienischen Städten des Mittelalters erlassen wurden, um sicherzustellen, dass ihre Podestates dem Gemeinwohl dienen.

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zwischen den beiden Gewalten. Die positive Gewalt ist per definitionem stets in spezifische Maßnahmen involviert und anfällig für verschiedene Formen von Korruption, weswegen es gerade notwendig ist, dem mit einer negativen Gewalt zu begegnen, die ihrerseits mit ihrer Aufgabe strukturell zusammenfallen muss, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Freilich war sich Fichte im Klaren, dass auch die Ephoren ihr Amt missbrauchen könnten, weshalb er die Möglichkeit eines »zusätzlichen Ephorats« vorsah, nämlich den Volksaufstand als ultimative Form der Machtkontrolle. Zwar blieb der Autor der Grundlage des Naturrechts in diesem Punkt noch den Theorien des Widerstandsrechts verpflichtet, doch war sein Ansatz insgesamt wesentlich kühner gedacht. Auch wenn ihm selbst später Zweifel kamen, ob dieses Zusammenspiel der Gewalten tatsächlich funktionieren würde,45 hat er dennoch in mustergültiger Weise die Aspekte eines wichtigen Problems benannt. Jede zukünftige Reflexion über ausgereiftere, weil komplexere Formen von Souveränität wird bei seinen Ausführungen ansetzen müssen.

Ein signifikantes Vergessen Mit Fichte endete die Ära revolutionärer Projekte, die darauf abzielten, ein kritisches Verständnis demokratischer Souveränität zu etablieren. Die Idee geriet in Vergessenheit, selbst ideengeschichtlich orientierte Werke ignorierten sie zumeist. Natürlich hatte sich das ihr zugrunde liegende Problem nicht erledigt, aber es äußerte sich in der Folge vornehmlich in liberalen Vorschlägen zur Begrenzung von Machtbefugnissen. Vorstellungen von organisierter Gegenmacht konzentrierten sich auf Verfassungsgerichte, das Vetorecht des Präsidenten oder das Prozedere der Parlamentsauflösung. Auf diese Weise vollzog sich eine gewisse Verengung der Perspektive, ganz ähnlich wie bei den gescheiterten Versuchen, Aufsichtsinstanzen zu institutionalisieren, die wir im Vorherigen schon erörtert haben. Den Institutionen des liberalen Parlamentarismus ist es gelungen, die Anliegen derer aufzunehmen, die sich um die Formulierung einer komplexeren Sicht der Demokratie bemühten, doch haben sie im Zuge dessen die Trag45

Anzeichen dieses Zweifels finden sich in den Texten von 1812. Vgl. Fichte, Lettres et témoignages sur la Révolution française, S. 191–192.

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weite dieser Theorien radikal beschnitten. Es macht ganz den Eindruck, als habe man eine bestimmte Dimension oder Form von Demokratie bewusst ignorieren oder kaschieren wollen, um sich mit bequemeren Theorien der Repräsentativregierung oder simplifizierenden Beschwörungen der Direktdemokratie zufrieden zu geben. Bezeichnenderweise wurde die Bedeutung des Tribunats das ganze 19. Jahrhundert über systematisch heruntergespielt und vernachlässigt, selbst von Experten für römisches Recht. Ein schlagendes Beispiel dafür ist das monumentale Werk von Theodor Mommsen, der sich alle Mühe gab, zu verschleiern, was das Besondere an der Macht der Tribunen war. Im Römischen Staatsrecht beschrieb er ihre negative Rolle als »anormal«, als dysfunktional gewordenes Überbleibsel aus archaischer Zeit.46 Mommsen würdigte zwar die ursprüngliche gesellschaftliche Funktion der Tribunen, nämlich den Plebs, die vergessene Klasse, zu repräsentieren. Er gestand ihrer kritischen institutionellen Rolle jedoch keinen eigentlich politischen Nutzen zu, sodass ihm das Tribunat als hinfällig erschien, sobald sich das »Volk von Rom« als alle einschließende politische Kategorie herausgebildet hatte.47 Weit über Mommsen hinaus bemühten sich die Denker des 19. Jahrhunderts, die politische Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart in einer Weise zu interpretieren, bei der die Begriffe »Republik« und »Demokratie« sorgfältig von allen Elementen gesäubert wurden, die mit einem eng gefassten Verständnis von liberaler Repräsentativregierung unvereinbar waren. Muss man deshalb davon ausgehen, dass die Prohibitivmacht, nach dem Beispiel des Widerstandsrechts, nur noch als »Übergangskonzept«48 zu gelten hat, das in liberalen Demokratien überflüssig geworden ist? Zugegeben, für alle Menschen, die seit dem 19. Jahrhunderts für das allgemeine Wahlrecht oder gegen die Dämonen des Totalitarismus kämpften und für die46

47 48

Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. 2.1., S. 276 (vgl. allgemein, S. 260–300). Anzumerken ist, dass Mommsens Minimisierung der Rolle des Tribunats mit einer Verherrlichung von Regierungsgewalt in ihrer radikalsten Form einhergeht, nämlich der für Ausnahmefälle vorbehaltenen Diktatur. Vgl. das ausführliche und sachverständige Vorwort zur französischen Ausgabe des Römischen Staatsrechts von Yan Thomas, »Mommsen et l’Isolierung du droit«. Vgl. ebd., S. 297. Diesen Ausdruck verwendet Spitz in seinem Artikel »Droit de résistance«.

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jenigen, die es heute, rund um den Globus, immer noch tun, ist die »elementare Demokratie« ein kostbares Gut. Davon zeugt, im Umkehrschluss, auch die Tatsache, dass es die ehemals vom Faschismus oder Nationalsozialismus beherrschten Länder waren, in denen sich die Frage eines in der Verfassung verankerten Widerstandsrechts im 20. Jahrhundert erneut stellte und Gegenstand intensiver Diskussionen wurde.49 Die italienische Verfassung von 1948 verzichtete schließlich auf das Widerstandsrecht, dafür steht es im deutschen Grundgesetz sowie in den Verfassungen von Griechenland und Portugal. Doch von solchen Ausnahmen abgesehen, sollte die Ernüchterung über den gegenwärtigen Stand der Politik eigentlich Grund genug sein, sich auf diese vergessenen Überlegungen zurückzubesinnen, um einem erlahmten demokratischen Ideal wieder Kraft und Substanz zu verleihen.

49

Es sei außerdem daran erinnert, dass in Deutschland auch der Begriff der »streitbaren Demokratie« entwickelt wurde, um dem Legalismus der Weimarer Republik, der sich mit der Machtübernahme Hitlers gegen sie wandte, ein anderes moralisch-philosophisches Konzept politischer Legitimität entgegenzustellen. Vgl. die maßgeblichen Überlegungen von Karl Löwenstein, »Militant Democracy and Fundamental Rights«.

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Die selbstkritischen Demokratien Die gesamte erste Hälfte des 19.Jahrhunderts über spiegelte sich überall in der institutionellen Struktur der repräsentativen Systeme das liberale Anliegen wider, die Macht der Regierungen zu begrenzen. Dennoch lag der Schwerpunkt demokratischer Forderungen nicht im Bereich verfassungstechnischer Innovationen. Im Vordergrund stand eindeutig der Kampf für das allgemeine Wahlrecht. Dieser Kampf bildete das strukturelle Zentrum des demokratischen Geschehens in dieser ganzen Periode, wobei sich die zeitlichen Abläufe natürlich von Land zu Land unterschieden. Während dieser langen Jahre des Kampfes erwartete man sich vom allgemeinen Wahlrecht die Erfüllung aller Wünsche: Es sollte eine Gesellschaft begründen, in der alle ihren Platz hätten, es sollte die Korruption beenden und, selbstverständlich, dem Gemeinwohl zum Durchbruch verhelfen. Man glaubte, dass die Herrschaft der Vielen von alleine zu einer demokratischen Gesellschaft führen werde. Die Worte, mit denen der Bulletin de la République im Jahr 1848 die Einführung des Wahlrechts für alle begrüßte, bringen diese Geisteshaltung treffend auf den Punkt: »Seit Inkrafttreten dieses Gesetzes gibt es keine Proletarier in Frankreich mehr.«1 Und von LedruRollin stammt der folgende lyrische Kommentar: »Das Geheimnis der politischen Wissenschaft ist endlich entdeckt […]. Alles Weitere ist Sache umfassender Anwendung.«2 Diese naiven Hoffnungen wurden rasch enttäuscht. Weshalb in der Folgezeit die soziale Frage in den Mittelpunkt der Diskussionen über eine genuin politische Repräsen1

2

Bulletin de la République, Nr. 4, 19. März 1848. Ich verweise diesbezüglich auf mein Buch Le Sacre du citoyen. Aus der chartistischen Literatur in Großbritannien spricht eine ähnliche Haltung. Ebd., Nr. 19, 22. April 1848.

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tation rückte. Weil sich die Arbeiterschaft, nach dem Wort Blanquis, »verstoßen« fühlte, entwickelte sie sich zu einer sozialen Kraft, die versuchte, über ein positives Bekenntnis zu ihrem Anderssein zu eigener Würde zu gelangen, in der Annahme, sich nur über einen gewissen Separatismus kollektiv als politisches Subjekt konstituieren zu können. Parallel dazu zeichneten sich in den Figuren des Rebellen, des Widerstandskämpfers und des Dissidenten die Umrisse einer Instanz moralischer Kritik an einer als unzureichend empfundenen liberalen Demokratie ab. So nahm praktische Gestalt an, was man als kritische Souveränität bezeichnen könnte. Der Dualismus, den manche Theoretiker während der Französischen Revolution im Zentrum des demokratischen Prozesses selbst als politische Institution hatten verankern wollen, manifestierte sich ab dem 19. Jahrhundert als politisch-moralische Kritik von außen. Das war natürlich bei Weitem nicht das Gleiche. Dennoch wirkte sich die Dynamik einer solchen Kritik strukturell auf die Gesellschaft aus, gab ihr positive Impulse und veranlasste sie, sich permanent selbst infrage zu stellen.

Klassenkampf als negative Politik Dass die Arbeiter 1848 in Frankreich das Wahlrecht errangen, änderte nichts an ihrem Empfinden, nicht Teil der Gesellschaft zu sein. Das lag zum einen daran, dass sie sich von den republikanischen Eliten nicht vertreten fühlten, woraus ein lang anhaltender Kampf um eine eigenständige Repräsentation proletarischer Identität resultierte,3 zum anderen daran, dass sie vom ökonomischen Wohlstand ausgeschlossen waren. Der seinerzeit benutzte Begriff des Proletariers hatte gleichermaßen politische und soziale Konnotationen. Er erinnerte explizit an die unterste Klasse im alten Rom, eine marginalisierte Gruppe der Bürgerschaft. Die Existenz eines Klassenkonflikts wurde somit als radikale Herausforderung an die Demokratie verstanden. Viele Autoren der Zeit verfielen gleichsam unwillkürlich in ein archaisches Vokabular und sprachen von Heloten, Proletariern oder Plebejern, um die neuen sozialen Antagonismen zu bezeichnen, die der Kapitalismus entstehen ließ. Dementsprechend griffen auch die Arbeiter auf ältere Vorstellungen zurück und beriefen sich auf das Widerstandsrecht, 3

Siehe dazu mein Buch Le Peuple introuvable.

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um ihr Verhältnis zur bestehenden Ordnung zu charakterisieren. Zwar waren sie auch darum bemüht, Volkstribunen zu ihren Gunsten tätig werden zu sehen, doch wollten sie in erster Linie auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet ihre »Misstrauensreserve« geltend machen, indem sie das Recht einforderten, sich zusammenzuschließen und Widerstandsorganisationen zu bilden, um sich gegen ihre Ausbeutung zu wehren. Soziale Trennung hieß also die Strategie, mittels derer die Arbeiter eine effiziente Form von Souveränität meinten ausüben zu können. Streiks hatten deshalb eine doppelte Bedeutung, sie waren zugleich eine Methode, ein Kräfteverhältnis aufzubauen, und eine Ausdrucksform, ein politisch-soziales Totalphänomen sozusagen. Durch Streiks erlangten die Arbeiter im 19. Jahrhundert die einzige Macht, die sie tatsächlich ausüben konnten: die Macht des Verhinderns. Jaurès brachte diesen Sachverhalt mit einem Zitat von Mirabeau zum Ausdruck: »Erzürnt mir diese Leute nicht, sie sind die Erzeuger von allem und könnten zu einer gewaltigen Macht werden, einfach dadurch, dass sie untätig bleiben.«4 Die entstehende Arbeiterbewegung bezog sich gerne auf die Sezession des römischen Plebs5 sowie auf die Praxis der mittelalterlichen Handwerksgesellen, eine Stadt oder einen Betrieb »auf den Index zu setzen«, um sich Gehör zu verschaffen.6 So sprach man noch im 19. Jahrhundert davon, »eine Stadt zu verfemen« oder ein Unternehmen »in Verruf zu bringen«, das heißt, mit einer Art Bann zu belegen. Die Arbeiter demonstrierten in diesen Fällen ihre Macht, indem sie ein soziales Verbot verhängten. In England konzentrierten sich die Chartisten bald auf die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts, das sich allerdings nur schrittweise durchsetzen ließ. In Frankreich hingegen erlebten die Arbeiter schon frühzeitig ihre Enttäuschungen mit diesem Wahlrecht und waren deshalb eher bereit, sich auf eine negative Politik einzulassen. In dieser Hinsicht verlief eine gerade Linie von Proudhon, dem großen Befürworter des prole4 5

6

Zitiert in Lagardelle, La Grève générale et le Socialisme, S. 111. Vgl. dazu Allemane, Le Socialisme en France, S. 39. Zum Thema Sezession vgl. auch die Werk Proudhons, vor allem Von der Befähigung arbeitender Menschen zur Politik (1865). Vgl. Coornaert, Les Compagnonnages en France, S. 274 und 282.

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tarischen Separatismus, zum revolutionären Syndikalismus, beide feierten die soziale Dissidenz als nicht zu vereinnahmende Macht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts vereinigte die Idee des Generalstreiks revolutionäre Hoffnungen mit dem Glauben an die Vorzüge einer »allgemeinen und gleichzeitigen Aussetzung der Produktivkraft«.7 In ihr verbanden sich die moralische Kraft der Weigerung, eine unwürdige Existenz zu führen, mit dem Bemühen um die Herausbildung einer wahrhaft kritischen Souveränität. Auf diese Weise wurde im 19. Jahrhundert das alte Widerstandsrecht im Modus des sozialen Protestes neu formuliert. Für die Anhänger dieses Modells ging es darum, eine neue Form von Politik zu begründen, gesellschaftliche Energien zu mobilisieren, die sich vom Wahlkampfaktivismus grundsätzlich unterschieden. Das Ziel der Bewegung reichte weit über eine reine Arbeitsniederlegung hinaus. Vielmehr betrachtete man den Streik als effizienteste Methode, mit der die Arbeiter ihre Souveränität zum Ausdruck bringen konnten. Pouget, Sorel, Pelloutier und Griffuelhes, die großen Namen des revolutionären Syndikalismus, formulierten die Theorie dieser Bewegung. Doch war es vielleicht Émile de Girardin, der geniale Tausendsassa, der ihre Absicht am besten erfasste, als er – als Erster – anlässlich des Staatsstreichs vom 2. Dezember 1851 für die Ausrufung eines Generalstreiks plädierte. Man müsse, wie er meinte, Louis-Napoléon »durch die Leere« besiegen. »Der Universalstreik: Isoliert ihn, schafft Leere und Einsamkeit um diesen Mann! Die Nation möge sich von ihm zurückziehen. Umringen wir ihn mit verschränkten Armen, das genügt, um ihn zu Fall zu bringen.«8 Der parlamentarische Sozialismus lehnte diese Vorstellung ab. Jaurès beispielsweise erklärte, es sei das Ziel des Sozialismus, die »gewaltige negative Kraft« des Proletariats in eine »positive Kraft«9 zu verwandeln, 7

8

9

Der Ausdruck stammt von Fernand Pelloutier, Histoire des Bourses du Travail, S. 66. Über den Generalstreik: Brécy, La Gréve générale, und Lagardelle, La Grève générale et le Socialisme. Rede auf einer republikanischen Versammlung am 3. Dezember 1851. Ein Zeuge berichtete, Girardin habe bei dieser Gelegenheit von »Generalstreik« gesprochen, was der erste Beleg dieses Wortes wäre (Ténot, Paris en décembre 1851, S. 208). La Petite République, 1. September 1901 (Artikel nachgedruckt in: Lagardelle, La Grève générale et le Socialisme).

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und das ginge nur über parlamentarische Mehrheiten, das einzige Mittel, um Dinge in Bewegung zu bringen. Auch Jules Guesde bekämpfte die Idee des Generalstreiks, den er verächtlich mit einer »Barrikade von Faulenzern« verglich. Was stattdessen benötigt werde, sei die »politische Machtergreifung durch das organisierte Proletariat«.10 Das Gespenst des Blanquismus und die mit ihm assoziierten Enttäuschungen über die alte Barrikadenkultur trugen viel dazu bei, die Idee des Generalstreiks mitsamt seiner Aussicht auf eine »Macht der Leere« zu diskreditieren. Wurde diese Idee verworfen, weil sie als bloße Neuauflage obsoleter Aufstandspraktiken erschien, so wiederholte sich in dieser Ablehnung auch das Versagen, die kritische Seite negativer Macht wahrzunehmen. Der Klassenkampf wurde auf diese Weise zwar parlamentarisch eingehegt, hörte aber deshalb nicht auf, als gesellschaftliches Faktum zu existieren. Der Widerstand im Alltag, der Konflikt als Lebensweise, auch das Gefühl der Arbeiter, über eigene Handlungsressourcen zu verfügen, bestanden fort. Dementsprechend koexistierten in den demokratischen Industriestaaten über lange Zeit hinweg zwei Arten von Legitimität: die politische Legitimität der aus Wahlen hervorgegangenen Regierungen und die spezifisch soziale Legitimität, die man den Repräsentanten der Arbeiterschaft zusprach. Letztere Legitimität beschränkte die erstere auf effektive Weise und war in dieser Funktion auch praktisch anerkannt, davon zeugt die institutionelle Sonderrolle, die den Gewerkschaften, unter Umgehung der damaligen Gesetze, zugestanden wurde.11 Der Klassenkampf war somit ein wichtiges Strukturelement der Demokratien. Er stellte die Grundlagen der Gesellschaft auf radikale und manchmal gewaltsame Weise infrage und verhinderte, dass die Repräsentativregierungen sich allein in den liberalen Institutionen vollkommen verwirklicht sehen konnten. Der Konflikt der beiden Legitimitäten, der politischen und

10 11

Rede auf dem Liller Kongress der Sozialistischen Partei (August 1904), ebd., S. 83 und 88. Es gilt, daran zu erinnern, dass die Gewerkschaften ab Ende des 19. Jahrhunderts als quasi-staatliche Institutionen und vollwertige Repräsentanten der Arbeiterschaft anerkannt wurden. Vgl. Rosanvallon, La Question syndicale.

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der sozialen, prägte somit das gesellschaftliche Leben in Permanenz, als Impulsgeber und Heimsuchung in einem.

Die Metamorphosen der Opposition Historisch gesehen trat die Prohibitivmacht in einer weiteren wesentlichen Form in Erscheinung: als organisierte politisch-parlamentarische Opposition. Allerdings kristallisierte sich ihre spezifisch demokratische Funktion erst allmählich heraus. Anfangs und für lange Zeit wurde die Opposition vor allem unter liberalen Gesichtspunkten als wichtiger Bestandteil der Meinungsfreiheit wahrgenommen. Von Benjamin Constant bis Robert Dahl behandelten die politischen Theoretiker die Opposition somit vornehmlich als organisierten Ausdruck des Pluralismus.12 Unter diesem Vorzeichen wurde sie auch mit der Achtung und dem Schutz von Minderheiten in Verbindung gebracht: Es war Aufgabe der Opposition, diese Minderheiten zu repräsentieren und ihre Interessen zu vertreten und dadurch das Risiko einer Mehrheitstyrannei zu verringern.13 Nicht zuletzt galt sie als eines der wirksamsten Mittel zur Begrenzung der Macht, indem sie die diffuse Gegenkraft der öffentlichen Meinung bündelte und zu einem wirksamen Instrument formte. Benjamin Constant war einer der ersten Theoretiker, der in einer aktiven Opposition eine bessere Garantie der Freiheit erkannte als in den Mechanismen der Gewaltenteilung. Das konkurrierende Zusammenspiel von Mehrheit und Opposition stellte in seinen Augen die einzige Möglichkeit dar, den Einfluss gesellschaftlicher Autorität wirksam zu begrenzen.14 Diesen verschiedenen Auffassungen von Opposition war gemeinsam, dass keine eine positive Sicht ihrer Rolle entwickelte, im Sinne einer Instanz, die auf der Grundlage einer geteilten Ausübung demokratischer Macht tätig wird und interveniert. Guizot war der Erste, der diesen Standpunkt explizit zurückwies. Freilich hatte auch er nicht vor, die Opposition in ein umfassendes Verständnis von Volkssouveränität zu integrieren. Dennoch war seine 12 13 14

Vgl. Dahl (Hg.), Political Oppositions in Western Democracies. Vgl. Sartori, »Opposition and Control. Problems and Prospects«. Vgl. die Ausführungen von Gérard, L’Opposition politique. Limiter le pouvoir ou le concurrencer?.

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Sichtweise insofern neu, als er der Opposition zugestand, gerade in ihrer Negativität eine genuin politische Funktion zu erfüllen. In seinem Hauptwerk, Des moyens de gouvernement et d’opposition, führte er den bahnbrechenden Nachweis, dass die Opposition ein konstitutiver Bestandteil der Regierung ist und deren Tätigkeit auf indirekte Weise fördert. Da die Opposition das Ziel habe, die amtierende Regierung zu ersetzen, stelle sie diese ständig auf die Probe; sie zwinge sie, sich zu erklären, ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen, ihre Entscheidungen öffentlich zu rechtfertigen, sie begründe damit einen Zwang zur Argumentation und trage gleichzeitig zur Versachlichung der Debatte bei. »Die Opposition«, so Guizots Resümee, »berichtigt und stützt damit die Regierung, die sie eigentlich bekämpft.«15 Die Opposition ist also nur dann wirksam, wenn sie sich nicht auf ein banales Anprangern des Regierungshandelns beschränkt. Doch der begründete Charakter ihrer Kritik, der es ihr ermöglicht, eine wirkliche Gegenmacht auszuüben und die Mehrheit massiv unter Druck zu setzen, legt ihr zugleich eine Verpflichtung auf: Sie muss ihrerseits überzeugen, dass sie recht hat und die Regierung falsch liegt und dass sie in der Lage wäre, das Land besser zu regieren. »Genau wie die Regierung«, stellt Guizot klar, »muss auch die Opposition ein System und eine Zukunft haben. Sie regiert nicht, aber Regierung zu werden, ist ihr natürliches Bestreben, denn wenn sie siegt, wird sie regieren müssen.«16 Unter diesem Gesichtspunkt hat die Prohibitivmacht der Opposition eine genuin politische und nicht nur eine restriktive Funktion. Guizots konstruktives Verständnis der Opposition hatte allerdings kaum Einfluss auf die französische Praxis. Denn der französische Monismus erwies sich 15 16

Guizot, Des Moyens de gouvernement et d’opposition, S. 307. Ebd., S. 320. Und an anderer Stelle: »In einer wohlgeordneten Repräsentativregierung beschränkt sich die Rolle der Opposition nicht darauf, das Verhalten der Regierung auszuspähen, ihre Fehler zu entdecken und auszuposaunen. Ihre Hauptaufgabe besteht vielleicht darin, die Verbesserungen und Reformen, die die Gesellschaft braucht, zu benennen und zu fordern […]. Frei von der Last der Regierungsgeschäfte und der damit verbundenen unmittelbaren und konkreten Verantwortung, schreitet die Opposition im Allgemeinen schneller und beherzter auf dem Weg der Zivilisation voran. Sie verweist als Erste auf mögliche Erfolge und Errungenschaften. Sie drängt und mahnt die Regierung, sie zum Vorteil des Landes wahrzunehmen« (Rede vom 16. März 1830, in: Guizot, Histoire parlementaire de France, Bd. 1, S. 22).

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als unempfänglich für die dualistische Perspektive, die seinem Denken immanent war: Legitimität durfte nur einheitlich und unteilbar sein. Der alte jakobinische Antipluralismus hatte auf diesem Gebiet die gleichen Folgen wie auf allen anderen Gebieten. Der Widerwille, die Rolle der politischen Parteien zu würdigen, die Weigerung, die Nation als Konglomerat verschiedener Bestandteile anzuerkennen, und der Argwohn schon gegenüber dem bloßen Gedanken der Opposition, sie alle entstammten der französischen Neigung, Differenzen und Konflikte als tödliche Bedrohungen des Staatswesens anzusehen. In England griff ein John Stuart Mill auf zahlreiche Argumente Guizots zugunsten einer positiven Würdigung der Oppositionsrolle zurück. Auch er hielt Kritik für eine wesentliche Voraussetzung effizienten Regierens und verstand Regierung und Opposition als Teile eines dynamischen Systems. Nur dass sich seine Kommentare auf eine reale Erfahrung bezogen. Denn in Großbritannien bildeten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts Gepflogenheiten heraus, die allmählich zu einer Institutionalisierung der Oppositionsrolle im Parlament führten.17 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert entwickelte Lord Balfour die Theorie des parlamentarischen »Rollenspiels« von Minderheit und Mehrheit, bei dem die Funktionen von Amtsführung und Kritik je nach Wahlausgang regelmäßig neu verteilt werden.18 Diese Auffassung nahm in der Folge immer präzisere institutionelle Formen an. Das erste »Schattenkabinett« (das Pendant zur französischen »Gegenregierung« der 1970er Jahre) tauchte 1923, nach der Wahlniederlage der Labour Party, auf. Als offizielle Formel wurde diese Praxis 1955 endgültig angenommen und rechtlich präzise festgeschrieben. Seit dieser Zeit kann man von Rechts wegen davon sprechen, dass die Opposition in Großbritannien einen Status besitzt. Die Opposition erkennt die Legitimität der Regierung an, während Letztere die Opposition anerkennen und ihr die Mittel zu einer vollumfänglichen

17 18

Zur gewandelten Sichtweise der Opposition vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, vgl. Foord, His Majesty’s Opposition, sowie Punnett, Front-Bench Opposition. Vgl. Balfour, Chapters of Autobiography. Bei einem Machtwechsel tauschen, so Balfour, alte und neue Minister »mit ihren Plätzen auch ihre Rollen. Die einstigen Kritiker müssen jetzt regieren und die alten Amtsinhaber müssen sich nun als Kritiker bewähren« (S. 133).

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Ausübung ihrer Tätigkeit gewähren muss. Auf diesem Wege wurden eine Reihe von »Rechten« und Praktiken formalisiert: regelmäßige Konsultationen der Fraktionsführer [whips] von Mehrheit und Opposition; Einführung von opposition days, an denen die Opposition die parlamentarische Tagesordnung festlegt; Vorsitz in Finanz- und Justizkontrollausschüssen; Zugang zu geheimen Dokumenten. Einige dieser Praktiken wurden von anderen europäischen Ländern übernommen, doch nur in Großbritannien sind sie auf solch umfassende Weise institutionalisiert.19 Man könnte hierbei fast von einer post-majoritären Demokratie sprechen, die positive und kritische Souveränität kombiniert. Eine Demokratie allerdings, die letztlich auf den parlamentarischen Rahmen beschränkt bleibt. Lässt man die politische Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte Revue passieren, so waren sozialdemokratische Regime die einzigen, die so etwas wie eine Prohibitivfunktion vollständig in ihre politische Gesamtstrategie integrierten. Klassenkompromisse auf sozialer Ebene (was die Bestätigung der Gesellschaft in ihrer Konflikthaftigkeit voraussetzte) fanden ihr strukturelles Pendant in einer gewissen Institutionalisierung der Oppositionsrolle. Daher rührte die Tatsache, dass der Opposition bei politischen Entscheidungen, denen sie besonders kritisch gegenüberstand, ein implizites Vetorecht eingeräumt wurde.20 Diese Regime erkannten somit faktisch den Unterschied zwischen sozialer und politischer Legitimität an, indem sie ihm eine organisatorische Form gaben. Oder, um es anders zu formulieren, sie standen zu den Institutionen der liberalen Demokratie, doch nicht ohne sich offen zur Unvermeidlichkeit des Klassenkampfes zu bekennen.

Rebell, Widerstandskämpfer, Dissident Eine kritische Souveränität kam auch in individuellen Haltungen einer Ablehnung des Bestehenden zum Ausdruck. Den politischen Formen des Widerstands, die wir oben versucht haben zu beschreiben, trat also eine Moral, wenn nicht eine Metaphysik der Opposition 19 20

Giulj, »Le statut de l’opposition en Europe«. Vgl. dazu die Arbeiten von Manin/Bergounioux, La Social-Démocratie ou le Compromis, und Le Régime social-démocrate.

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an die Seite. Albert Camus hat in Der Mensch in der Revolte 21 seine Vorstellung einer solchen Moral formuliert. Für den Verfasser der Pest war der Revoltierende »ein Mensch, der nein sagt«, aber ein Nein des Engagements, kein Nein des Verzichts, ein Nein, das eine Kehrtwende markiert, ein Bekenntnis zum Bruch. Es steht für eine Forderung, für eine Weigerung, die Ungerechtigkeit der Welt hinzunehmen: Der Revoltierende ist jemand, der aufsteht, der das Wort ergreift, der Wert legt auf seine Distanz zur herrschenden Unordnung. In seiner philosophischen Interpretation der Revolte unterschied Camus den Typus des Revolutionärs von dem des Künstlers und Dichters. Wir wollen uns diese Perspektive zu eigen machen und seine Sicht um eine im engeren Sinne politische Typologie der Figuren des Verweigerers ergänzen. Unterscheiden wir deshalb den Rebellen, den Widerstandskämpfer und den Dissidenten als Herolde der Negation. Verschiedene Personen kommen als Verkörperungen des Rebellen infrage: John Wilkes im England des 18. Jahrhunderts, David Thoreau oder Emerson im Amerika und Auguste Blanqui im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Während der Aufklärung war Wilkes in ganz Europa bekannt als Symbolfigur für den Kampf um die Freiheit. Nach seiner Wahl ins Unterhaus (1757) nutzte er seine Zeitung, The North Briton, dazu, die autokratischen Exzesse der Regierung von George III . anzuprangern. Anklagen wegen Verleumdung, der Ausschluss aus dem Parlament, Gefängnis und Exil, all das machte ihn ungemein populär. Die Menge belagerte das Londoner Gefängnis, wo er in Haft saß, und als er auf dem Kontinent Zuflucht suchte, wurde er zum gefeierten Star in den Salons der europäischen Hauptstädte. Noch zwei Mal wurde er anschließend mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt, und jedes Mal wurde die Wahl annulliert. Sein Name stand für den Kampf um Recht und Demokratie und gegen ein repressives Regime. Wilkes war das Ebenbild des Rebellen, der nie aufgibt, wenn es um die Verteidigung der Freiheiten gegen den Autoritarismus geht. Eins mit seiner Sache, trug er den Kampf in die politischen Institutionen, um sie zur Einhaltung ihrer eigenen Regeln oder zu deren Ersetzung durch bes-

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Camus, Der Mensch in der Revolte.

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sere zu zwingen.22 Wilkes war somit gleichermaßen ein leidenschaftlicher Verfechter des Parlamentarismus wie die Verkörperung des Einzelnen, der sich gegen die Mächtigen erhebt. Ganz anders die Rebellion eines Thoreau. Seine Radikalität resultierte aus einer Distanzierung von der Gesellschaft. Er wurde 1845 dafür berühmt, dass er sich weigerte, eine Steuer zu zahlen, die der Finanzierung des Krieges gegen Mexiko diente. Er beschränkte sich nicht darauf, die Irrtümer der Regierung anzuprangern, er wurde zum Symbol des entschlossenen Widerstandes gegen die Ungerechtigkeit der Gesetze schlechthin. Dennoch war der Einsiedler von Walden kein Sprachrohr einer sozialen Bewegung. Es ging ihm nicht vorrangig darum, sich wirksam in die Politik einzumischen. Man kann ihn sich schlecht als Autor vorstellen, der die Volkssouveränität, das allgemeine Wahlrecht oder auch nur die Demokratie preist. Er verteidigte vor allem das Prinzip individueller Rebellion. Der Bürger war für ihn ein Aufrechter, ein unbeugsamer Verteidiger seiner Unabhängigkeit, notfalls um den Preis seines Rückzugs von der Gesellschaft, nicht Angehöriger eines Volkes oder einer Klasse. Für Thoreau stand der Begriff des »zivilen Ungehorsams« im Mittelpunkt, der durch ihn Eingang ins politische Vokabular fand.23 Hannah Arendt, die von Thoreau fasziniert war, hat deutlich gemacht, dass es unmöglich ist, aus einem solchen Konzept eine politische Strategie abzuleiten oder es juristisch zu begründen.24 Doch das war auch gar nicht Thoreaus Absicht. Vielmehr wollte er mit seiner heroischen Einzeltat einen moralischen Protest artikulieren, dessen eigentliche Rechtfertigung in der dadurch erreichten Diskreditierung der politischen Institutionen bestand. Da er von der Nützlichkeit des Wählens nicht überzeugt war, legte er seinen Mitbürgern folgende Verhaltensmaxime ans Herz: »Macht euer Leben

22 23 24

Vgl. dazu das immer noch nützliche Werk von Christie, Wilkes, Wyvill and Reform. The Parliamentary Reform Movement in British Politics. On the Duty of Civil Disobedience wurde 1849 veröffentlicht. Vgl. Arendts Essay über zivilen Ungehorsam in Crises of the Republic (1969). Nach Arendt kann der zivile Ungehorsam nur dann einen legalen Status erlangen, wenn er als eine Art »speech act« in die Politik von Minderheiten eingeht, der einen dramatischen Wendepunkt in der Präsentation ihrer Forderungen markiert.

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zu einem Gegengewicht, um die Maschine anzuhalten.«25 Für Thoreau ist jede Macht tyrannisch und gefährlich. Rebell zu sein, beinhaltet folglich den gänzlichen Verzicht auf Politik. Denn der Abstand zwischen den ewigen Werten von Gerechtigkeit und Wahrheit, die es zu verteidigen gilt, und dem, was sich mit irdischen Institutionen erreichen lässt, ist so groß, dass ihm keine positive Politik gerechtfertigt erscheint.26 Die einzige für ihn vorstellbare Revolution ist folglich diejenige, die durch die moralische Läuterung der Einzelnen und die Einführung einer Minimalregierung bewirkt wird. Man kann Thoreau nicht erwähnen, ohne wenigstens ein Wort über Emerson zu verlieren, seinen Nachbarn in Concord, Massachussetts, und Mitstreiter im Kampf gegen die Sklaverei. Auch Emerson vertrat das Ideal des unabhängigen Menschen, der entschlossen zu seiner individuellen Besonderheit steht, der gesellschaftliche Konventionen verschmäht und nur auf seine innere Wahrheit vertraut. Auch er neigte zu einer Philosophie des Abstandhaltens, ermahnte seine Zeitgenossen, sich von dem Wunsch zu befreien, andere nachzuahmen, und sich vor der Illusion zu hüten, durch Reisen die Welt entdecken zu können!27 Doch formulierte Emerson seine Ablehnung der herrschenden Mächte vielleicht prägnanter als Thoreau. Zwar wertete er ähnlich wie Letzterer den Glauben an die Regierung als »Mangel an Selbstvertrauen«, doch verknüpfte er seinen Skeptizismus deutlicher als Thoreau mit einer genuin politischen (und nicht bloß ethischen) Perspektive. »Wer ein Mensch sein will, der muß Nonkonformist sein«,28 25

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Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, S. 18 [Übersetzung modifiziert]. Sein Abstand zur herkömmlichen Politik lässt sich aus folgender typischer Passage ersehen: »Auch für das Rechte stimmen, heißt, nichts dafür tun. Allenfalls gibt man den Menschen sanft zu verstehen, man wünsche, es möge sich durchsetzen« (ebd., S. 14). Vgl. dazu Kateb, The Inner Ocean. Individualism and Democratic Culture, sowie Turner, »Performing Conscience. Thoreau, Political Action and the Plea for John Brown«. »Reisen ist des Narren Paradies. Unsere ersten Reisen zeigen uns die Gleichgültigkeit der jeweiligen Orte. […] [D]ie Reisewut ist ein Symptom einer tiefen Ungesundheit, die das ganze intellektuelle Tun beeinflußt. […] Wir imitieren; und was ist Imitation anderes als das Reisen des Geistes?« (Emerson, »Selbstvertrauen«, S. 67–68). Ebd., S. 44.

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lautete seine berühmt gebliebene Formel. Seine Beschwörung geistiger Unabhängigkeit war auch ein impliziter Aufruf zum Widerstand, ein Appell, die permanente Infragestellung des Bestehenden zum Ausgangspunkt eines konstruktiven demokratischen Engagements, eines lebhaften Austausches unter Bürgern zu machen, die es jedem Einzelnen ermöglicht, seinen Platz in der Welt und seine Stimme in der Gemeinschaft zu finden. Emerson begründete damit eine Tradition des Dissenses, der sich diejenigen verpflichtet fühlen, die Regierungsentscheidungen mit der Losung »nicht in meinem Namen« (»not in my name«) anfechten, die jedoch auch als Aufforderung verstanden werden kann, eine anspruchsvollere und deliberativere Demokratie aufzubauen.29 Fernab von Wilkes, Thoreau und Emerson verkörperte Blanqui eine Form der Rebellion, die die radikale Ablehnung des Bestehenden mit einem völligen Neuaufbau der Welt zu kombinieren versuchte. Er ist somit der erste große Theoretiker der permanenten Revolution. Sein Leben steht exemplarisch für seine Entschlossenheit zur Rebellion, seine tief sitzende Abneigung gegen Kompromisse und seinen unversöhnlichen Hass auf die Parlamentspolitik. Davon zeugen die 33 Jahre seines Lebens, die er hinter Gittern verbrachte und die ihm den Beinamen »der Eingesperrte« eintrugen. Sie hinderten ihn nicht daran, unablässig Aufstände zu planen oder vom großen Weltenbrand zu träumen, der die Welt von Grund auf erneuern sollte. Der revolutionäre Kampf war für ihn ein Mittel, die Gesellschaft von ihren bedauerlichen Hemmnissen zu befreien.30 Er verdichtete Raum und Zeit in einer Weise, dass die Realität mit ihrer Vorstellung perfekt zur Deckung gelangen konnte. Der Aufstand ist folglich nicht nur eine Handlungsoption neben vielen, sondern, nach einer bemerkenswerten Formulierung Blanquis, »ein überwältigender Akt von Souveränität«.31 Er ist die radikalste und zugleich effektivste Form von kritischer Souveränität, weil er die alte Welt zerstört, nicht ohne den Zugang zu 29 30 31

Zur Bedeutung des dissent bei Emerson vgl. Laugier, Une autre Pensée politique américaine. Mehr zu Blanqui in dem Kapitel, das ich ihm in La Démocratie inachevée gewidmet habe. Blanqui, »Pourquoi il n’y a plus d’émeutes«, Le Libérateur, Nr. 1, 2. Februar 1834, wiederabgedruckt in: Blanqui, Œuvres, Bd. I, S. 268.

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einer neuen Welt zu eröffnen. Der Aufstand verkörpert somit, wie ein schwarzer Diamant, die von allen störenden Kontingenzen befreite Idee der Demokratie, die endlich gefundene Lösung für die grundlegenden Aporien der Volkssouveränität. Im Aufstand zeichnen sich somit die Umrisse einer »utopischen Demokratie« ab, einer von allen spezifischen institutionellen Arrangements losgelösten Demokratie. Aus diesem Grund betrachtete Blanqui den Aufstand auch als eine Kunst (ein Ausdruck, den Marx später übernahm). Denn er ist voll funktionstüchtige Form, unmittelbar verständliche Organisation, Signifikant, der mit seinem Signifikat völlig zur Deckung gelangt. In Blanquis Verständnis von Rebellion vereinten sich politische Form, soziale Bewegung (wenn nicht reine Dynamik) und moralische Haltung. Deshalb blieb Blanqui stets ein Faszinosum, selbst für diejenigen, die seine Ansichten nicht teilten. Mit ihm verbindet sich auch das romantische Bild des Mannes auf der Barrikade, dessen provozierend radikale Geste in die Bildung einer intimen, wenn auch flüchtigen Gemeinschaft von Kampfgenossen mündet. »Rebell? Das ist des Menschen Name […]. Er steht mit seinen Kameraden / Entschlossen auf den Barrikaden«, dichtete sein Bewunderer Eugène Pottier, der Verfasser der Internationale.32 Diese drei Formen der Rebellion reflektieren verschiedene historische Ausprägungen von kritischer Souveränität als politischer Haltung. Anders ist die Sache beim Widerstand. Er verweist auf ein Handeln im wesentlich restriktiveren Kontext einer fremden Besatzung oder einer Situation, in der eine kritische Einmischung in die bestehenden Institutionen unmöglich ist. Das Wort selbst ist alt, wir haben bereits früher an die Geschichte des mittelalterlichen Widerstandsrechts erinnert. Seine aktuelle symbolische Bedeutung hat es 1940 aus dem Mund von General de Gaulle erhalten.33 Der Widerstandskämpfer des Zweiten Weltkriegs war eine Person, die den moralischen Entschluss, die herrschende Macht abzulehnen, mit dem Streben nach einer neuen Ordnung verband. Seine Position war deshalb keine rein defensive, er war kein »Bremser«, sondern vielmehr derjenige, der der 32 33

»Der Aufrührer« [L’Insurgé], in: Pottier, Die Internationale wird alle Menschheit sein, S. 189. Vgl. Michel, »Comment s’est formée la pensée de la Résistance«.

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Verzweiflung und Resignation mit tätiger Zuversicht begegnete, der sich weigerte, sich dem Fatalismus hinzugeben, der in schwärzester Nacht ein Fünkchen Hoffnung am Leben erhielt.34 Der Widerstand, der anfangs ein Agieren im Untergrund erforderlich machte, stützte sich auf eine Verweigerungshaltung, allerdings eine aktive, methodische, organisierte, mit einem Bemühen um Mobilisierung einhergehende Form der Verweigerung. Der Widerstandskämpfer war somit auch derjenige, der das Prinzip des politischen Willens neu belebte. De Gaulle verkörperte diese Dimension in Reinkultur. Sein Appell vom 18. Juni, den, um mit Saint-John Perse zu sprechen, eine »Syntax des Blitzes« auszeichnete, ist ein Konzentrat dieses Widerstandsgeistes: der Wille, der sich dem Verhängnis widersetzt. Seither hat sich der Widerstandsgedanke in eher diffuseren, um nicht zu sagen konfuseren Formen artikuliert und bringt mehr eine Diskrepanz, eine Missbilligung, eine Weigerung im allgemeineren Sinne zum Ausdruck.35 Dennoch: Der Gedanke eines höheren moralischen Anspruchs, einer grundlegenden Legitimität, einer souveränen Entscheidung ist virulent geblieben. Der Dissident verkörpert eine weitere Variante kritischer Souveränität. Wiederum ist das Wort ein altes und stammt in diesem Fall aus einem religionsgeschichtlichen Kontext.36 In jüngerer Zeit hat es eine stärker politische Bedeutung erhalten, insofern es sich zur Bezeichnung regimekritischer Intellektueller in kommunistischen Staaten einbürgerte. Der Dissident stand sinnbildlich für die Verwerfungen des totalitären Projekts. In Polizeistaaten, die ein strenges Regiment über Körper und Geist ihrer Bürger ausübten, konnte er nicht den Anspruch erheben, offenen Widerstand zu leisten oder gar den Lauf der Dinge zu verändern. Er war vielmehr ein Symbol, ein Sandkorn im Getriebe, dessen bloße Existenz das Scheitern der Macht bezeugte, allen Menschen ihre Lüge aufzuzwingen. Wie Claude Lefort gezeigt hat, 34

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»Die Flamme des Widerstands wird niemals erlöschen«, sagte de Gaulle in einer seiner Reden von 1940. Zum Gebrauch des Begriffs vgl. Farge/Chamont, Les Mots pour résister. Voyage de notre vocabulaire politique de la Résistance à aujourd’hui. Vgl. auch Douzou, »Résister«. Semelin, »Qu’est-ce que résister?«. Ein »Dissident« ist jemand, der einer Religionsgemeinschaft nicht zustimmt und sich von ihr trennt. Er opponiert gegen die orthodox Gebliebenen.

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war der Dissident in der Sowjetunion derjenige, der sich ostentativ weigerte, an das Regime zu glauben, der sich seinen Weisungen entzog, der den Schleier der Konventionen zerriss und dazu ermutigte, hinter die Fassaden zu blicken. Der Dissident war der eine Mensch zu viel,37 derjenige, dessen Anwesenheit die Macht stillschweigend diskreditierte, derjenige, der einen Keil in das Räderwerk der Ideologie trieb. Ob es sich um jemanden wie Solschenizyn handelte, der die geheim gehaltenen Verbrechen des Regimes aufdeckte, wie Sacharow, dem einstigen Vertreter des Apparats, der zur Stimme der Opposition geworden war, oder um Leute wie Havel oder Sinowjew, Roman- und Theaterautoren, die mit Ironie das System entlarvten, stets war der Dissident derjenige, der den Zweifel beförderte. Daher seine Gefährlichkeit, auch wenn er nicht in Massen auftrat und keine akute Bedrohung darstellte. Der Dissident konnte nichts anderes sein als der Protagonist einer Antipolitik,38 eine moralische Instanz neben dem System, die an die Zivilgesellschaft appellierte, sich der Gehirnwäsche zu entziehen und sich ihrer Eigentlichkeit bewusst zu werden.

Der Niedergang der kritischen Dimension in den Demokratien Die Anerkennung der Klassenspaltung, die Existenz einer organisierten Opposition und die Stärke einer gewissen ethischen Kultur der Machtkritik bildeten über zwei Jahrhunderte hinweg das Fundament des demokratischen Lebens. Infolgedessen waren die Demokratien gezwungen, sich permanent infrage zu stellen und ihre Verfahrensweisen sowie den von ihnen produzierten Gesellschaftstyp kritisch zu begutachten. Die Konflikte, Blockaden und selbst die tiefen Spaltungen, von denen sie durchzogen waren, belegten auf ihre Weise, dass die demokratischen und republikanischen Ideale ernst genommen wurden. Sie trugen dazu bei, diese Ideale mit Leben zu erfüllen und eine praktische Vorstellung davon zu vermitteln, dass die Demokratie ein System ist, das nur insofern existieren kann, als es sich selbst ständig hinterfragt; ein System, das niemals abschließend definiert ist, das nie gänzlich in den bestehenden Institutionen aufgeht und stets

37 38

Vgl. Lefort, Un homme en trop. Vgl. Konrád, Antipolitik, und Havel, »Antipolitical Politics«.

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in einem grundsätzlichen Sinne unbestimmt bleibt.39 In dieser Hinsicht bildete die kritische Souveränität zusammen mit den Mechanismen parlamentarischer Repräsentation ein System, das in der Lage war, die demokratischen Erfahrungen in einen angemessenen Rahmen zu stellen und ihnen in den Augen aller Bürger Sinn zu verleihen. Aus diesem Grund führte selbst radikale Kritik nicht zur Desillusionierung, und Skepsis schlug nicht in Zynismus um. Beide trugen dazu bei, die Welt verständlicher zu machen und die Voraussetzungen zu schaffen, um über ihre Veränderung nachzudenken. Die verschiedenen Aspekte dieser kritischen Funktion sind gleichzeitig relativiert worden und haben so den Anbruch eines neuen politischen Zeitalters beschleunigt. Zunächst hat die dritte industrielle Revolution und die damit verbundene Erschütterung kollektiver Identitäten die Fronten des Klassenkonflikts verwischt und bei den Arbeitern das Gefühl bestärkt, ihrer einstigen Prohibitivmacht beraubt worden zu sein. Den Klassenkampf gibt es zwar immer noch, aber er hat inzwischen eine fragmentarische und passive Form angenommen, die keine gesamtgesellschaftliche Bedeutung mehr generiert. Zu diesem Wandel tritt die Krise sozialer und politischer Repräsentation hinzu und lässt plötzlich den Eindruck entstehen, als habe sich eine große Leere aufgetan, als würde die Gesellschaft sich selbst nicht mehr verstehen und wäre von allgemeiner Lähmung befallen. Beide Formen von Souveränität – die kritisch soziale und positiv politische – sind gleichzeitig kollabiert, und der Niedergang der Gewerkschaften verstärkt lediglich die Auswirkungen zunehmender Demokratieverdrossenheit. In der Politik im engeren Sinne ist die strukturierende Rolle der Opposition durch den Niedergang der politischen Parteien weitgehend hinfällig geworden. Dieser Bedeutungsverlust äußert sich in der wachsenden Schwierigkeit der Parteien, immer disparatere gesellschaftliche Forderungen zu bündeln und zu artikulieren. Zwar konkurrieren sie nach wie vor um die Macht und bleiben Kristallisationspunkte bestimmter Erwartungen, doch sind sie keine Instanzen mehr, die Zukunftsvisionen entwerfen oder eine systemische Einheit mit der 39

Ein Punkt, der im Werk von Claude Lefort nachdrücklich herausgearbeitet wird.

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öffentlichen Meinung bilden. Letztere ist zunehmend kleinteilig und entfaltet eine Eigenlogik, die jeder konstruktiven Absicht entbehrt. Sie ist somit weniger Abbild von Kräften, die ums Regieren bemüht sind, als Ausdruck schierer Unzufriedenheit. Sie tendiert deshalb immer stärker dazu, eine radikal negative Form anzunehmen und in reine Obstruktion überzugehen. In den Vereinigten Staaten spricht man von filibustering, wenn eine Minderheit im Senat das Recht für sich in Anspruch nimmt, die Debatte ins Endlose zu verlängern, um dadurch die Annahme eines Gesetzesentwurfs zu verhindern. Dieses Recht stellt zweifellos ein Extrem dar, angesiedelt im Grenzbereich zwischen dem, was im Rahmen der Meinungsfreiheit gerade noch zulässig ist, und einem konstruktiven Verständnis von verantwortungsbewusster Opposition. Die kritische Souveränität der öffentlichen Meinung äußert sich heute zunehmend in dieser negativen Form, besitzt jedoch keinerlei Verantwortungsbewusstsein. Dieser Trend spricht nicht dagegen, dass in manchen Ländern noch viel getan werden könnte, um die Rechte der Opposition zu erweitern, besonders dort, wo sie noch ziemlich eingeschränkt sind, wie in Frankreich.40 Doch bietet die bloße Institutionalisierung der Opposition keine hinreichende Perspektive mehr für eine strukturelle Eingliederung der Prohibitivmacht in den demokratischen Prozess. Inzwischen sind Gestalten wie der Rebell, der Widerstandskämpfer und der Dissident weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Woran liegt das? Mangelndem Mut? Anpassung an den vorherrschenden Konformismus? Denkfaulheit? Solche Faktoren spielen sicherlich auch eine Rolle, aber sie bilden nicht den Kern des Problems. Mit dem Rückgang freiheitsfeindlicher Regime in vielen Teilen der Welt hat sich auch ein gewisser Heroismus verabschiedet. Gestalten wie einst Aung San Suu Kyi, die unermüdliche Kämpferin gegen die birmanische Diktatur, sind weniger zahlreich, weil sie weniger gebraucht werden. Sicherlich gibt es immer noch rebellische Massen, die hin und wieder Geschichte schreiben, indem sie eine verhasste Macht zum Rückzug zwingen, aber sie sind nicht mehr so häufig anzutreffen wie in der europäischen Wendezeit gegen Ende der 1980er Jahre. Mit dem 40

Vgl. Ponthoreau, »Les droits de l’opposition en France. Penser une opposition présidentielle«.

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Abschluss des Entkolonialisierungsprozesses, dem Zusammenbruch der meisten totalitären Regime und einem wachsenden internationalen Druck zur Zügelung territorialer Ansprüche hat eine »Normalisierung« machtferner Politik in einem vergleichsweise offenen Umfeld stattgefunden. Es sind also einfach die Fortschritte der Demokratie selbst, die den Auftritt von Vertretern eines militanten Engagements oder einer heldenhaften Verweigerung weniger zwingend machen. Doch damit sind leider allzu oft blasse Kopien und alberne Karikaturen an ihre Stelle getreten. Unverbesserliche Querulanten oder nostalgische Ideologen haben sich in die Heldenpose geworfen. Kurzum, die Unzufriedenen haben die Rebellen ersetzt, eine kämpferische Moral ist borniertem Standesdenken gewichen. Die Worte haben ebenso viel an Glanz verloren wie die Taten. Ein konstruktives Zeitalter kritischer Souveränität ist auf diese Weise zu Ende gegangen. Natürlich ist eine gewisse Fähigkeit erhalten geblieben, sich von beschönigendem oder trügerischem Geschwätz zu distanzieren. Doch eine solch heilsame Klugheit hat nur noch selten die notwendige Überzeugungskraft. Zudem besitzt sie häufig einen Anflug rückwärtsgewandter Nostalgie oder nihilistischer Verzweiflung. Das Vorhaben, eine soziale Prohibitivmacht zu institutionalisieren, ist seit dem frühen 19. Jahrhundert von der politischen Tagesordnung verschwunden. An seiner Statt haben sich, wie gezeigt, drei Ersatzformen herausgebildet: in soziologischer Hinsicht eine durch den Klassenkampf beförderte politisch-soziale Opposition; im Rahmen einer politischen Dynamik eine organisierte parlamentarische Opposition; schließlich auf moralischer Ebene eine in den drei Figuren des Rebellen, des Widerstandskämpfers und des Dissidenten verkörperte Verweigerung. Inzwischen haben sich diese Ersatzformen ihrerseits erschöpft, weswegen man vom Anbruch eines neuen politischen Zeitalters sprechen kann. Heutzutage überlebt die kritische Souveränität nur noch in einer rudimentären Form, unter strikt negativem Vorzeichen mit bisweilen sogar regressiven Zügen. Wo die Weigerungen und Widerrufe triumphieren, beginnt die Ära einer geschwächten Demokratie.

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Die negative Politik Das Zeitalter der »Abwahlen« Am sichtbarsten äußern sich die neuen Formen von prohibitiver Macht im Bereich der Wahlen. Heutige Wahlen sind weniger strategische Entscheidungen als Urteile über die Vergangenheit. Dadurch hat sich ihre Bedeutung grundlegend gewandelt. Es geht nicht mehr, im etymologischen Sinne des Wortes »Wahl«, um die Möglichkeit, unter mehreren Kandidaten auszusuchen, sondern darum, Ausschlüsse vorzunehmen. Man könnte auch von »negativer Auslese« sprechen. Wir sind somit in ein Zeitalter der strafenden Demokratie eingetreten. Wahlkämpfe können nicht mehr einfach als Duell gleicher Kandidaten verstanden werden, der häufigste Fall ist inzwischen der der umstrittenen Wiederwahl. Dieser Wandel, der einer signifikanten Veränderung des demokratischen Prozesses gleichkommt, hat bisher nicht die ihm zustehende Aufmerksamkeit gefunden. Den Politikwissenschaften ist er bislang verborgen geblieben, weil ihre Analysen sich auf den sicherlich ebenso wichtigen Wettbewerbsvorteil des Amtsinhabers gegenüber seinen Herausforderern konzentrierten. Gewisse Eigenheiten der amerikanischen Politik dürften ausschlaggebend gewesen sein, das Forschungsinteresse in diese Richtung zu lenken. Die hohe Wahrscheinlichkeit der scheidenden Amtsinhaber in diesem Land, wiedergewählt zu werden (sie liegt derzeit bei nahezu 90 % für Senat und Repräsentantenhaus), ist in der Tat ein erklärungsbedürftiger Umstand.1 Und zwar umso mehr, als sich diese Wahrscheinlichkeit in den letzten zwanzig Jahren noch erhöht hat, paradoxerweise bei 1

Vgl. Erickson, »The Entrenching of Incumbency. Reelections in the U.S. House of Representatives, 1790–1994«; Somit/Wildenmann/Boll/Römmele (Hg.), The Victorious Incumbent. A Threat to Democracy?.

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gleichzeitig zunehmender Wahlenthaltung und Politikverdrossenheit.2 Doch ungeachtet dieser Tatsache sind umstrittene Wiederwahlen schon für sich genommen ein interessantes Phänomen. In den frühen Tagen der Demokratie kamen sie selten vor, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die Kürze der Amtszeiten anfangs als wesentlicher Vorzug des Repräsentativsystems galt, in Amerika ebenso wie in Europa. Ganz im Sinne ihres republikanischen Elitebewusstseins betrachteten die Gründerväter die Wahrnehmung eines Wahlamtes als Dienst an der Gemeinschaft, der sich nicht in einen Beruf verwandeln dürfe. Die konkreten Umstände der Amtsausübung (geringe Bezüge, mühselige Anreise in die Hauptstadt), machten diesen »Dienst« auf jeden Fall vergleichsweise unattraktiv. Er ist somit nicht verwunderlich, dass die Zahl der Kandidaten, die sich zur Wiederwahl stellten, in der Frühgeschichte Amerikas eher gering war, obwohl es keine Beschränkungen hinsichtlich der Amtszeiten gab. Daraus resultierte eine hohe Fluktuation unter den Repräsentanten, die auf ganz natürlichem Wege durch den frühzeitigen Rückzug aus der Politik zustande kam. In Frankreich war die Situation ähnlich. Die Mitglieder der Konstituante von 1789 gingen sogar so weit, die Wiederwahl von Angehörigen der ersten Nationalversammlung in die zweite zu verbieten. Schon das während der Revolutionszeit geltende Verbot von Kandidaturen veränderte die Voraussetzungen in diesem Bereich von Grund auf. Zwischen der Realität einer Honoratiorenherrschaft, die im politischen Leben der Nation noch wenig verankert war, und der idyllischen Vision einer freischwebenden Elite war jedenfalls für umstrittene Wiederwahlen wenig Platz. Die Dinge veränderten sich, als politische Parteien die Bühne betraten. Die Wahl Andrew Jacksons zum US -Präsidenten (1828) und die 1848er-Revolution in Frankreich markierten in dieser Hinsicht einen Wendepunkt. Das asymmetrische Verhältnis zwischen dem »scheidenden« Amtsinhaber und seinem erstmals kandidierenden Widersacher nahm zu dieser Zeit eine unmittelbar politische Dimension an, dem Amtsinhaber fiel vorrangig die Rolle zu, eine Politik zu 2

Vgl. Cox/Morgenstern, »The Increasing Advantage of Incumbency in the U.S. States«; Merriner/Senter, Against Long Odds. Citizens who Challenge Congressional Incumbents.

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verteidigen, während sein Herausforderer die Aufgabe hatte, ihm den Prozess zu machen. Jeder der Kandidaten besaß in diesem Rahmen seine eigenen Vorteile. Der Amtsinhaber profitierte von einer Art Informationsvorsprung: da Wahlen auch immer eine Wette auf die Zukunft sind, reduzierte er als bekannte Größe das Risiko des Wählers. Andererseits befand er sich strukturell in der Defensive und war insofern benachteiligt, als er einige Passiva auf seinem Konto hatte, von denen sein Konkurrent befreit war. Die Auswirkungen dieser beiden Faktoren variierten je nach Land und Epoche. In den USA beispielsweise hatte und hat der Amtsinhaber einen erheblichen Vorteil, weil die ideologischen Gegensätze in der amerikanischen Politik nicht so ausgeprägt sind und bestimmte materielle Faktoren (wie der Zugang zu Geldmitteln) stark von der Position des Kandidaten abhängen. In Großbritannien und Frankreich führten härtere Auseinandersetzungen in Sachfragen dagegen zu einer größeren Zahl von Abwahlen oder zu dem, was man im angloamerikanischen Raum als realigning elections bezeichnet.3 Inzwischen hat sich der Charakter umkämpfter Wiederwahlen verändert, da sie immer weniger Ausdruck einer politischen Lagerzugehörigkeit sind. Vielmehr ist für den Wähler die Sanktionierung vergangener Politik zum ausschlaggebenden Entscheidungskriterium geworden. Man braucht nur Frankreich als Beispiel zu nehmen: Hier stößt man auf das bemerkenswerte Faktum, dass seit 1981 noch jede Regierung, unabhängig von ihrer jeweiligen Politik, aus dem Amt gewählt wurde. Die Situation mag in anderen Demokratien weniger extrem sein, dennoch ist ein globaler Trend zur Abstrafung vergangener Politik zu verzeichnen. Selbst in den Vereinigten Staaten, wo die Wiederwahlquote scheidender Amtsinhaber am höchsten ist,4 hat bei den 3

4

Vgl. für die Vereinigten Staaten: Campbell/Trilling (Hg.), Realignment in American Politics. Toward a Theory. Für Frankreich: Martin, Comprendre les évolutions électorales. La théorie des réalignements revisitée. Viele politikwissenschaftliche Arbeiten erklären den Vorteil des Amtsinhabers aus den Diensten, die er seiner Wählerschaft erwiesen hat. Daher der Begriff »persönliches Votum«. Vgl. Cain/Ferejohn/Fiorina, The Personal Vote. Constituency Service and Electoral Independence. Für eine Besprechung der Literatur zum Thema vgl. King, »Constituency Service and Incumbency Advantage«.

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Präsidentschaftswahlen, den politischsten, um nicht zu sagen, den einzig überhaupt politischen Wahlen des Landes, der Amtsbonus an Bedeutung verloren. Zwischen 1900 und 1980 wurden nur zwei amtierende Präsidenten geschlagen: Howard Taft und Herbert Hoover. Und dabei ist zu berücksichtigen, dass beide mit außerordentlich widrigen Umständen zu kämpfen hatten: Taft mit einer Spaltung seiner Partei und Hoover mit der Wirtschaftskrise von 1929. Seit 1980 sind dagegen drei von fünf Amtsinhabern abgewählt worden: Carter, Ford und Bush senior. Es gibt keine echten Auserwählten mehr, könnte man leicht überspitzt sagen. Es regieren nicht mehr diejenigen, die das Vertrauen der Wähler genießen, sondern diejenigen, denen das Amt buchstäblich in den Schoß gefallen ist, weil sie vom Misstrauen gegenüber ihren Konkurrenten oder Amtsvorgängern profitierten. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich anhand des veränderten Wahlkampfstils gut belegen: in Wahlkampagnen überwiegt mittlerweile das Negative. Dieses Phänomen ist für die USA , wo es spektakuläre Dimensionen erreicht hat, präzise nachgezeichnet worden. Fernsehspots, die das Herzstück jeder Kampagne bilden, sind zunehmend gegen den Kontrahenten gerichtete Attacken.5 Inhaltliche Auseinandersetzungen rücken in den Hintergrund. Solche Spots erheben gar nicht den Anspruch, eine begründete Kritik an den Vorhaben des Gegners zu üben, in Verbindung mit dem Bemühen, die Vorzüge des eigenen Programms hervorzuheben. Mit ihnen erobern persönliche Angriffe bis hin zu schierer Verleumdung die Bildschirme. Man wird den Eindruck nicht los, als ginge es jedem Kandidaten hauptsächlich darum, den Sieg seiner Konkurrenten zu verhindern. In Amerika ist solche Negativwerbung im Fernsehen nichts Neues. In gewisser Weise handelt es sich sogar lediglich um eine Anpassung vulgärer Hetzkampagnen, die fast so alt sind wie die Demokratie selbst, an die technischen Möglichkeiten von heute. Doch was früher ein Randphänomen war, Kennzeichen populistischer Bewegungen der einen oder anderen Sorte, pathologische Entgleisung oder Ausdruck eines besonders verbissen geführten Wahlkampfs, ist inzwischen zur Regel geworden. Zu 5

Dass dieses Phänomen so extreme Auswüchse annehmen konnte, ist darauf zurückzuführen, dass der Kritik keine rechtlichen Grenzen gesetzt sind und dass es erlaubt ist, Bilder des Gegenkandidaten zu benutzen.

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Beginn der 1980er Jahre enthielten, nach Schätzungen von Beobachtern, nur 20 Prozent der Wahlpropaganda eines Kandidaten negative Botschaften. Mit den Wahlen von 1988, die George Bush senior ins Weiße Haus beförderten, wurde eine Grenze überschritten: Die Negativwerbung erreichte die 50-Prozent-Marke.6 Dieser Trend hat sich 2004, beim Präsidentschaftsrennen zwischen Kerry und Bush junior, noch einmal so extrem zugespitzt, dass amerikanische Politikwissenschaftler sich genötigt sahen, neue Begriffe wie poison politics oder negative politics zu prägen, um diesen Wandel adäquat zu beschreiben.7 Was sind die Gründe dieser Entwicklung? Ein Grund ist ebenso einleuchtend wie trivial: Solche Methoden funktionieren. Alle Untersuchungen bestätigen, dass negative Werbung sich weiter verbreitet und tiefer ins Gedächtnis einprägt als positive Botschaften.8 Es ist also viel »lohnender«, das Image des Konkurrenten zu ruinieren, als seine eigenen Verdienste anzupreisen. Und was eventuell noch an moralischen Skrupeln gegen die Anwendung solcher Methoden vorhanden war, dürften die Medienberater mit ihren Argumenten allmählich beseitigt haben, zumal diese Experten glaubhaft machen konnten, dass die Gefahr eines »Bumerangeffekts« letztlich relativ gering ist. Negative Botschaften wirken sich politisch in dreierlei Weise aus. Sie festigen zunächst die vorhandenen Meinungen und beruhigen das Gewissen. Das Gefühl einer unüberbrückbaren Kluft zum Gegenkandidaten täuscht darüber hinweg, dass es für die Nähe zum bevorzugten Kandidaten keine vernünftigen Gründe gibt. Im Wahlkampf von 2004 half der moralisch unanfechtbare Slogan »Anybody but Bush« den Kerry-Wählern dabei, eventuelle Zweifel am eigenen Kandidaten zu überwinden – umgekehrt dürfte es ähnlich gewesen sein. Negativwerbung führt zweitens dazu, den Vorteil des Amtsinhabers zu erhöhen, weil sich Verleumdung je nach Position des Betroffenen unterschiedlich auswirkt. Sie verstärkt eher die Zweifel an der Person des 6

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Vgl. Ansolabehere/Iyengar, Going Negative. How Attack Ads Shrink and Polarize the Electorate, S. 90. Siehe auch Pfau/Kenski, Attack Politics. Strategy and Defense, und Johnson-Cartee/Copeland, Negative Political Advertising. Coming of Age. Vgl. Kamber, Poison Politics. Are Negative Campaigns Destroying Democracy?; Jameson, Dirty Politics. Deception, Distraction, and Democracy. Sonner, »The Effectiveness of Negative Political Advertising. A Case Study«.

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Herausforderers, der weniger bekannt ist und keine Erfolgsbilanz vorzuweisen hat. Der Wähler fühlt sich besser bei jemandem aufgehoben, den er bereits in Aktion erlebt hat, auch wenn er seiner Amtsführung kritisch gegenüberstand. Bei manchen Wahlen kann negative Werbung den Ausschlag geben, bei anderen ist sie eher ein Beurteilungskriterium neben vielen. Negative Botschaften führen schließlich dazu, unentschlossene Wähler davon abzuhalten, überhaupt wählen zu gehen. Diese sogenannten »Ungebundenen« zögern nicht nur bei der Wahl eines Kandidaten oder einer Partei, sie legen eine allgemeine politische Skepsis an den Tag. Sie bezweifeln, ob das Wählen überhaupt einen Nutzen hat. Negativwerbung verstärkt somit nur ihre Desillusionierung und ihre Skepsis gegenüber der Politik als solcher. Diese Entwicklung mag in den USA besonders augenfällig sein, dennoch handelt es sich um einen globalen Trend, der in allen Demokratien zu beobachten ist. Allenthalben tritt eine prohibitive Demokratie tendenziell an die Stelle der bisherigen programmatischen Demokratie. Um diese Entwicklung in ihrem ganzen Ausmaß abschätzen und den Herausforderungen, vor die sie uns stellt, begegnen zu können, müssen wir zunächst eine neue politische Philosophie und eine neue politische Wissenschaft erarbeiten. In der Vergangenheit bildeten Fragen der Mandatierung und der Machtdelegation durch eine wachsame, kritische und engagierte Wählerschaft den Kern der politischen Theorie. Inzwischen sind Fragen der Sanktionierung und des Machtentzugs in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Es ist dieses neue Reich der negativen Souveränität, das nunmehr theoretisch erforscht und auf den Begriff gebracht werden muss. Dabei geht es übrigens nicht mehr allein um Wahlen. Prohibitive Befugnisse haben generell an Bedeutung zugelegt. Die Fähigkeiten des Sichwehrens und Blockierens sind heute zu den ausschlaggebenden Verhaltensweisen geworden, in der Politik wie im gesellschaftlichen Leben. Es reicht also zum Verständnis des demokratischen Prozesses längst nicht mehr aus, nur die Interessenkonflikte und Kompromisse, die Formen der Bündelung individueller Präferenzen oder die Mechanismen der Meinungsbildung zu analysieren.

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Verhinderung und Veto-Macht Der moderne Bürger verfügt nicht mehr ausschließlich über die Möglichkeit, seinen Wahlschein zum »Denkzettel« umzufunktionieren und damit an die antike Praxis des Ostrazismus (»Scherbengericht«) anzuknüpfen. Er kann sich auch an ungezielteren Verhinderungsaktionen beteiligen, um die Regierenden zum Überdenken ihrer Pläne zu zwingen. Vor allem große Demonstrationen und politische Mobilisierungen sind effiziente Mittel, um einer Regierung entgegenzutreten und sie zur Änderung oder Rücknahme eines Beschlusses zu bringen. In einem allgemeineren Sinne erlangt das Ausspielen einer Art Vetorecht zunehmende Bedeutung in den Demokratien. Denn demokratisches Regieren ist nicht mehr allein durch einen Genehmigungsund Legimitierungsprozess definiert. Seine Struktur verdankt sich inzwischen wesentlich der permanenten Auseinandersetzung mit verschiedenen Vetokategorien vonseiten gesellschaftlicher Gruppen bzw. politischer oder wirtschaftlicher Kräfte. Daher rührt der verschiedentlich geäußerte Gedanke, dass die politischen Systeme inzwischen weniger durch ihre institutionellen Komponenten im engeren Sinne (präsidiales oder parlamentarisches, Zwei- oder Mehrparteiensystem, usw.) charakterisiert seien als durch die Art und Weise, in der die Voraussetzungen, etwas zu verändern, von den Blockademöglichkeiten der verschiedenen Akteure abhängen. Demnach wäre ein politisches System inzwischen vorrangig durch das dynamische Zusammenspiel einer Reihe von veto players definiert.9 Das in Frankreich regelmäßig angestimmte Klagelied über Gruppenegoismus und geistige Unbeweglichkeit verwechselt ein mittlerweile zum allgemeinen Merkmal

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Vgl. die ebenso innovativen wie anregenden Analysen von Tsebelis, Veto Players. How Political Institutions Work. Kategorien, die eingeführt wurden, um die Strategien von Akteuren in Systemen zu beschreiben, in denen einer von ihnen ein Vetorecht ausüben kann, lassen sich auch auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang übertragen. Vgl. für den interessanten amerikanischen Fall: Cameron, Veto Bargaining. Presidents and the Politics of Negative Power. Die Mitentscheidungsverfahren, die in europäischen Institutionen vorherrschen, lassen sich mittels der gleichen Kategorien analysieren. Vgl. Tsebelis/ Garrett, »Agenda Setting, Vetoes and the European Union’s Co-Decision Procedure« (mit den Kommentaren von Roger Scully).

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demokratischer Gesellschaften gewordenes Phänomen mit einem typisch französischen Gebrechen.10 Wie ist diese Entwicklung zu verstehen? Zunächst einmal haben die Veränderungen des ideologischen Gesamtkontextes der heutigen Welt eine entscheidende Rolle gespielt. Der Fall der Berliner Mauer und das Verschwinden des Kommunismus als struktureller Faktor der Weltpolitik haben – es ist banal, daran zu erinnern – die alten ideologischen Gegensätze entschärft und gleichzeitig die Macht der Parteien und der von ihnen vertretenen Programme verringert. Die Vorstellung, Politik sei der Ort einer Wahl zwischen radikal gegensätzlichen Gesellschaftsmodellen, hat sich erübrigt. Es ist nicht mehr die Aussicht auf einen revolutionären Umsturz, die die Bürger bewegt. Vielmehr hat man den Eindruck, als würden sie sich fortan damit begnügen, die Rolle eines bloßen Zensors oder Aufpassers zu spielen. Auf diesem Wege hat sich auch der Übergang von einer Politik der Ideen zu einer Politik des Misstrauens vollzogen, um bereits im Vorherigen verwendete Kategorien aufzugreifen. Das Aufkommen einer negativen Politik bezeichnet auch den eigentlichen Triumph des Liberalismus. Denn der Liberalismus hat sich in der Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht zuerst als ökonomische Ideologie durchgesetzt (als Ausdruck des Glaubens in die Tugenden des Marktes), sondern als politische Philosophie, als Dominanz einer bedächtigen und restriktiven Sicht des Politischen. In den 1970er Jahren erhielt dieser Liberalismus seine anspruchsvollste und zugleich aggressivste Ausformulierung über den Kampf gegen den Totalitarismus. Mit seiner Kritik an der absoluten Pervertierung der Demokratie in den totalitären Staaten trug er zu einer gedanklichen Erneuerung der Grundlagen demokratischer Politik bei. Hierin deckten sich der »schwache« Liberalismus der Skeptiker (kurz gesagt, der Vertreter einer minimalistischen Sicht der Demokratie à la Schumpeter) und der »starke« Liberalismus der Vordenker eines neuen Bürgerengagements (von Hannah Arendt bis Claude Lefort). Am Schnittpunkt beider Ansätze plädierte Judith Shklar in den 1980er 10

Das Besondere an Frankreich ist vielmehr, dass die sozialen Akteure abrupt zwischen direkter Konfrontation und passiver Zustimmung hin und her wechseln, weil es an Vermittlungsinstanzen und Verhandlungsgremien fehlt.

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Jahren für einen »Liberalismus der Furcht«. Ihr Ziel war es, eine negative Politik zu definieren, die auf einer Aversion vor dem Übel des Totalitarismus basierte und nicht auf der gezielten Suche nach einem Guten.11 Die Ablehnung des summum malum genoss in ihren Augen Vorrang vor dem Streben nach dem summum bonum. Doch selbst in dieser Negativität äußerte sich noch eine Absicht, ein Verständnis für den Kampf um menschliche Emanzipation, das sie von einem banalen Antikommunismus absetzte. Der negativen Politik von heute fehlt diese Dimension. Auch wenn es hier und dort noch zaghafte Versuche gibt, Elemente einer antitotalitären Kritik im Kontext der Terrorismusbekämpfung zu aktualisieren,12 ist deren Perspektive doch eigentümlich borniert. Die Politik der Furcht reduziert sich mittlerweile auf eine Politik der Abschottung und des Misstrauens.13 Das vorherrschende Klima der Desillusionierung hat sich deutlich auf die Entstehungsbedingungen einer negativen Demokratie ausgewirkt. Allerdings sollte man sich hüten, diese negative Demokratie mit ihrem Zerrbild, einem zutiefst antipolitischen und demagogischen Populismus, gleichzusetzen (wir kommen darauf zurück). Denn wahre Negativdemokratie ist äußerst engagiert, sie entspricht der Wahrnehmung einer wirklichen gesellschaftlichen Macht. Um ihre wachsende Bedeutung zu verstehen, muss man folglich die Frage stellen, warum sie in dieser Hinsicht effizient ist. Für den Aufstieg der negativen Demokratie ist zunächst ein soziologischer Faktor zu berücksichtigen: die Tatsache, dass reaktive Koalitionen leichter zu bilden sind als andere, weil es bei ihnen nicht auf Homogenität ankommt. Sie müssen nicht kohärent sein, um ihre Rolle zu spielen. Vielmehr ist ihre Macht umso größer, je intensiver die Reaktionen sind, die sie zum Ausdruck bringen. Auf der Straße, in den Medien oder bei anderen symbolischen Protestformen geht es nicht mehr allein um Zahlen. Hingegen sind wirklich handlungs11

12 13

Shklar, Der Liberalismus der Furcht. »Der Liberalismus«, schreibt sie, »muss die Übel der Grausamkeit und Furcht zum grundlegenden Maßstab seiner politischen Praktiken und Vorschriften machen können« (S. 46). In ähnlichem Sinne auch Ignatieff, Das kleinere Übel. Politische Moral in einem Zeitalter des Terrors. Vgl. dazu die Überlegungen von Berman, Terror and Liberalism. Vgl. Robin, Fear. The History of a Political Idea.

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fähige gesellschaftliche Mehrheiten schwer zustande zu bringen. Denn dazu braucht es eine bewusste und konstruktive Übereinkunft, die sich durch Wahlmehrheiten nicht erzielen lässt. Politische Mehrheiten sind per se Aggregate, sie entstehen aus einer Addition von Wählerstimmen. Jede dieser Stimmen ist Ausdruck einer spezifischen Absicht oder einer je eigenen Bedeutung. Die Wähler gewichten somit nach Belieben, und ohne sich dessen selbst so recht bewusst zu sein, Grade von Zugehörigkeit, Anerkennung oder Voreingenommenheit. Über die Stimmzettel reduzieren sich diese komplexen Berechnungen automatisch auf simple numerische Größen, deren einzig fassbare Bedeutung darin besteht, dass man sie zählen und addieren kann. Nun ist Ablehnung das, was sich am einfachsten summieren lässt. Alle Ablehnungen sind identisch, ganz gleich, aus welchen Gründen sie erfolgen. In einer Welt, die nicht länger durch ideologische Auseinandersetzungen bestimmt wird,14 ist es deshalb immer leichter geworden, reaktive politische Mehrheiten zu bilden, die mit handlungsfähigen Mehrheiten immer weniger gemein haben. Man könnte auch sagen, dass sich Negativität strukturell im Vorteil befindet. Infolgedessen klaffen Legitimität und Regierungsfähigkeit in modernen Demokratien immer weiter auseinander. Der periodische Wechsel politischer Mehrheiten fungiert dabei als Sicherheitsventil, um den daraus resultierenden Druck abzulassen. Doch beseitigt er dessen Quelle nicht, sodass sich die angestaute Enttäuschung über das System jedes Mal heftiger Luft macht. Es gibt auch ganz praktische Gründe für das Erstarken negativer Politik: Sie zeitigt unmittelbare Resultate. Eine negative Handlung verwirklicht in vollem Umfang die von ihr verfolgte Absicht, ihr Ergebnis ist unbestreitbar, weil es die Form einer einfachen und verständlichen Tatsache oder Entscheidung annimmt. Eine Mobilisierung, mit der beispielsweise die Regierung gezwungen werden soll, ein Gesetzesvorhaben zurückzuziehen, ist in ihren Auswirkungen direkt erkennbar, während Maßnahmen zur Erreichung eines positiven Resultats stets wechselnder Beurteilung unterliegen, weil über die erreichten Kompromisse die angestrebten Ziele häufig unbestimmt bleiben. Sich für 14

Vgl. dazu die scharfsinnigen Bemerkungen von Schweisguth, »La dépolitisation en questions«, besonders S. 84–85.

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die Abschaffung einer als ungerecht empfundenen Steuer einzusetzen, ist leichter, als eine Reform zur Herstellung von »Steuergerechtigkeit« auf den Weg zu bringen. »Es ist mir stets schwieriger erschienen, dafür zu sorgen, dass gute Gesetze genauestens befolgt, als dass schlechte Gesetze abgeschafft werden«, bemerkte schon Diderot in der Encyclopédie zu dieser Asymmetrie.15 Prohibitive Aktionen haben darüber hinaus »theatralische Eigenschaften«, um eine Hobbe’sche Formulierung aufzugreifen, sie regen merklich die Fantasie an und wecken dadurch Erwartungen auf ein konkretes Resultat. Negativität in ihren verschiedenen Ausprägungen (Verhinderung, Zurückweisung, Ablehnung usw.) zeitigt zudem Effekte, die unbestreitbar sind, während der Vertrauenstransfer auf eine Regierung immer einen Weg ins Ungewisse bedeutet. Denn Wahlen sind grundsätzlich immer Wetten auf die Zukunft. Und die nachlassende Fähigkeit der Parteien, in sozialer und programmatischer Hinsicht einen Rahmen vorzugeben, hat diese strukturelle Ungewissheit noch zusätzlich befördert. Die zeitliche Dimension negativen Handelns ist wiederum einfach: das Hier und Jetzt. Mit der Erteilung eines Mandats stellt sich hingegen das akute Problem der Anpassung an veränderte Umstände. Daraus ergibt sich wiederum für die Wähler die Notwendigkeit, eine permanente Kontrolle zu gewährleisten, sich in Aufpasser zu verwandeln, damit ihr Wille konkrete Formen annehmen kann. Die zeitliche Entfaltung dieses vermeintlichen »Willens« bleibt jedoch stets problematisch und der Gefahr ausgesetzt, suspendiert oder ins Gegenteil verkehrt zu werden. Je geringer wiederum der Zugriff auf die Staatsmacht, umso größer der Wunsch nach negativen Maßnahmen mit unmittelbaren Konsequenzen. Man könnte sogar versuchen, politische Systeme unter diesem Gesichtspunkt historisch zu klassifizieren. Am einen Ende des Spektrums stünde das französische System: Der Kult um die Wahlen, basierend auf einer quasi-»magischen« Sicht des Gemeinwillens, korrespondierte immer untergründig mit einer Kultur des Aufstandes, einer radikalisierten Form negativer Politik. Am anderen Ende das englische System: Positive und negative Formen greifen dort geschmeidiger ineinander, mit dem liberalen Parlamentarismus als Puffer. 15

Diderot/D’Alembert, Encyclopédie, Artikel »Corruption«

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Die aktuelle Vermehrung prohibitiver Mechanismen sollte nicht als eine Art Entpolitisierung missverstanden werden. Der »negative Bürger« ist kein passiver Bürger. Bei aller Skepsis und Verunsicherung, die aus ihm spricht, bringt er sich dennoch im öffentlichen Raum massiv zur Geltung. Dieses Phänomen ist zu Recht als »negative Politisierung«16 bezeichnet worden. Es findet sehr wohl eine Teilhabe am öffentlichen Leben statt, aber unter feindlichem Vorzeichen. Es findet auch ein Engagement statt, aber in einem rein ablehnenden Sinne. Und es gibt schließlich eine öffentliche Wortergreifung, allerdings vornehmlich in der verkürzten Sprache der Parolen und Missbilligungen.17 Es ist also durchaus zutreffend, von negativer Souveränität zu sprechen, zumal das Charakteristische an den prohibitiven Befugnissen, wie an allen anderen Misstrauensäußerungen, gerade darin besteht, dass sie direkt ausgeübt werden. Negative Demokratie ist somit auch ein Ersatz für direkte Demokratie, eine Art regressive Direktdemokratie.

Schwache Demokratie Negative Souveränität hat zwei Seiten. Sie äußert sich zunächst mit Nachdruck in den diversen Verhinderungsbefugnissen, die wir in ihren Eigenschaften und Ausprägungen untersucht haben. Sie kennt aber noch eine weitere, schwächere Form: Passivität, Zustimmung aus Mangel an Alternativen. Rückzug, Enthaltung, Schweigen sind so gesehen ebenfalls politische Ausdrucksformen. Sie sind sogar allgegenwärtig, und es wäre ein Fehler, sie zu vernachlässigen. Das Ausbleiben von Reaktionen auf eine Maßnahme wird gemeinhin als Zeichen von Zustimmung gedeutet. »Wer schweigt, stimmt zu«, heißt es bekanntermaßen. Die Wiederwahl eines Amtsinhabers kann unter diesem Gesichtspunkt auch als Ablehnungsverzicht, bedingt durch mangelnde Mobilisierung oder fehlendes Interesse für seine Konkurrenten verstanden werden. 16 17

Vgl. Missika, »Les faux-semblants de la ›dépolitisation‹«. In Argentinien gibt eine volkstümliche Redensart, »hablar en cacerolio« (»mit dem Kochtopf reden«), die den Gedanken eines Protestes zum Ausdruck bringt, der sich nur noch in der primitiven Form des Topfschlagens artikulieren kann. Vgl. Bouchet u.a. (Hg.), L’Insulte (en) politique.

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Für eine solche »Zustimmung mangels Alternativen« gibt es mehrere mögliche Gründe. Sie kann von einer absoluten oder häufiger relativen Gleichgültigkeit herrühren: Die Einsätze erscheinen als zu gering und die Kosten für einen Protest wären höher als die Gewinne aus einer anderen Entscheidung. Dieses Phänomen ist oft in kleinen Gruppen zu beobachten. Ein Soziologe hat den Begriff »Scheinkonsens« für Situationen geprägt, in denen das Einvernehmen der Beteiligten weniger aus einer expliziten Meinungskonvergenz als aus einer Reihe impliziter wechselseitiger Zugeständnisse resultiert, dem Gefühl, dass nichts wirklich Wichtiges auf dem Spiel steht, oder schlichtem Desinteresse am fraglichen Thema.18 Ein negativer Konsens kommt oft auch dann zustande, wenn es aus irgendwelchen Gründen schwerfällt, Kritik an den Entscheidungsträgern zu üben. So verzichten potenzielle Opponenten darauf, gegen die Regierung zu protestieren, wenn sie das Gefühl haben, mit ihr nicht auf Augenhöhe argumentieren zu können, oder zumindest die Gefahr droht, dass sie mit ihren Argumenten nicht vor dem Tribunal der öffentlichen Meinung bestehen. Das politische Tagesgeschäft ist eine Folge solcher Situationen negativer Übereinstimmung, die aber kaum Beachtung finden, da die Kräfte, die sie mobilisieren, anscheinend gering und von begrenztem Einfluss sind. Volkssouveränität in ihrer negativen Form in Betracht zu ziehen, führt folglich auch dazu, das Politische mit anderen Augen zu sehen. Es ist zweifellos erforderlich, diese Souveränität zunächst in ihren offensichtlichsten Erscheinungen zu analysieren, ob in den Institutionen oder den sozialen Bewegungen, doch ist es ebenso unerlässlich, von diesen Grauzonen des politischen Ausdrucks Notiz zu nehmen, seine Motivationen und Auswirkungen zu beschreiben. Die Organisationssoziologie gibt sich schon lange nicht mehr damit zufrieden, Großkonflikte, organisierte Verhandlungen oder Strukturprobleme zu untersuchen. Sie bemüht sich auch um ein Verständnis anderer Aspekte des Organisationslebens: punktuelle Koordinationsprobleme, kleinere Funktionsstörungen, ungeklärte Autoritätsverhältnisse, Hindernisse individueller Einbin-

18

Vgl. den anregenden Artikel von Urfalino, »La décision par consensus apparent. Nature et propriétés«.

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dung.19 Mit einem ähnlichen Blick sollte man künftig die indirekten und negativen Formen des demokratischen Prozesses betrachten. Negative Demokratie äußert sich zwar zumeist auf diskrete Weise, kennt aber dennoch eine institutionelle Form, die erwähnt zu werden verdient: die stille Wahl (l’élection tacite). So bezeichnet man Situationen, in denen nur ein Kandidat pro Posten zur Verfügung steht, sodass die Wahl automatisch erfolgt, ohne die sonst übliche Abstimmung. Technisch gesehen sind die Gründe für dieses Verfahren offensichtlich: Wenn es nur einen Kandidaten gibt, dann ist er sowieso gewählt, egal wie viele Stimmen auf ihn entfallen. In diesem Fall auf eine Abstimmung zu verzichten, spart also nur Zeit und Geld. Wenn eine Wahl nur eine Bestätigung ist, dann spielt es kaum eine Rolle, ob die Bestätigung explizit oder bloß stillschweigend erfolgt. Die stille Wahl wurde erstmals in Großbritannien, mit dem Ballot Act von 1872, institutionalisiert. Holland und Belgien folgten 1898 und 1899, anschließend die Schweiz und weitere europäische Staaten.20 Diese Art des Vorgehens wurde von denen, die um die symbolische Dimension der Wahlen als gemeinschaftsstiftendes und die staatsbürgerliche Gleichheit bekräftigendes Moment fürchteten, heftig kritisiert. Man sprach in diesem Zusammenhang von »aufgeweichter Demokratie« oder »Bequemlichkeitsdemokratie«. Sieht man einmal von der Schweiz ab, wo der Wunsch, eine Inflation von Wahlen zu verhindern, ausschlaggebend war, wurde die stille Wahl interessanterweise vor allem in autoritären oder konservativen Regimen eingeführt. In letzteren Fällen war die stille Wahl offenkundig nur eine Methode unter mehreren, die Auswirkungen des allgemeinen Wahlrechts auf ein Minimum zu reduzieren, indem man die Wähler so selten wie möglich zu den Urnen rief.21 Selbst in England wurde die stille Wahl zusammen mit der geheimen Abstimmung eingeführt, als wäre es ihr Zweck, die symbolische Bedrohung zu kompensieren, die von Letzterer ausging. Doch diese Interpretation ist unzureichend. Denn das Beunruhigende an 19 20

21

Über die Bedeutung der schwachen Bindungen siehe den grundlegenden Artikel von Granovetter, »The Strength of Weak Ties«. Ich folge hier, was die Fakten betrifft, der Überblicksdarstellung von Flauss, »L’élection tacite. Retour sur une vraie fausse curiosité du droit constitutionnel suisse«. Sie ging in manchen Fällen mit der Beibehaltung des Wahlzensus einher.

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der stillen Wahl ist, dass sie einen normalerweise verborgenen Aspekt des demokratischen Prozesses hervortreten lässt: seine Negativität. Die Ernennung eines Repräsentanten im Rahmen einer stillen Wahl veranschaulicht auf exemplarische Weise den Gedanken, dass Zustimmung Ablehnungsverzicht ist. Formal gesehen würde es genügen, dass ein Bürger dagegen opponiert, indem er sich selbst zur Wahl stellt – dann müsste abgestimmt werden. Die Kosten dieser Art von Opposition wären natürlich hoch, weil sie ein erhebliches persönliches Engagement erfordern würde, aber die Option wäre vorhanden. Die stille Wahl bezeichnet einen Grenzfall des demokratischen Ausdrucks, ihre Kehrtwende, könnte man fast sagen, wo öffentliches Reden in öffentliches Schweigen umschlägt. Freilich beschränkt sich schwache Demokratie nicht auf Verfahren wie die stille Wahl. Sie äußert sich zumeist in unauffälligeren, diffuseren, fein über den politischen Alltag verteilten Formen. Doch die stille Wahl akzentuiert ihr Wesen. Man kann es also nicht, wie die französischen Republikaner der Dritten Republik, dabei belassen, sich schon beim bloßen Gedanken mit Schrecken abzuwenden. Wenn die stille Wahl in ihren Augen eine Art Tabubruch darstellte, dann auch deshalb, weil sie eine besonders verstörende Dimension der Politik offenbarte, über die sie nicht einmal nachdenken wollten: die Ausübung der Souveränität durch ein abwesendes Volk. Schon die bloße Möglichkeit einer stillen Wahl zerstörte die verklärte Sicht der Demokratie, als deren Verfechter sie sich verstanden.22 Dieses kuriose Verfahren aus der Mottenkiste hält im übertragenen Sinne eine ernüchternde Wahrheit für die Demokratie im frühen 21. Jahrhundert bereit: Das Zeitalter einer zugleich schwachen und negativen Politik ist angebrochen. Die heutigen »Verweigerer« sind nicht mehr mit den Rebellen und Dissidenten von einst zu vergleichen. Ihr Verhalten erschließt keine neuen Horizonte, es veranlasst sie zu keiner Kritik des Bestehenden als Motivation zum Handeln, es besitzt keiner22

Vgl. zum Beispiel den Juristen Julien Laferrière: »In Frankreich verdient jede Wahl eine Abstimmung […]. Wir können nicht zulassen, dass jemand als gewählt erklärt wird, ohne dass die Wähler die Chance gehabt hätten, sich ausdrücklich zu seinen Gunsten auszusprechen« (Laferrière, Manuel de droit constitutionnel, S. 582–583).

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lei prophetische Dimension. Sie bringen lediglich auf eine ebenso chaotische wie zornige Weise zum Ausdruck, dass sie nicht mehr wissen, wie sie den Dingen noch einen Sinn verleihen oder ihren Platz in der Welt finden sollen. Gleichzeitig meinen sie, nur in dem Maße existieren zu können, wie sie ihren Zorn gegen eine Vielzahl von »Ausgestoßenen« wenden: Fremde, Migranten oder »das System«. Hass ist ihre einzige Hoffnung. Gegen-Demokratie hat sich in diesem letzteren Fall in eine Form platter Demokratiefeindschaft verwandelt. Während Kontrolle und Kritik noch den Weg zu einer potenziellen Erweiterung bürgerschaftlichen Engagements eröffneten, markiert die negative Politik von heute dessen bedauerliche Regression zur reinen Ohnmacht.

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III Das Volk als Richter

Überwachen und verhindern sind zwei Methoden der Gesellschaft, ihre Regierungen in Schach zu halten und ihren Einfluss auf andere Weise wirksam werden zu lassen als durch Wahlen. Anklage erheben ist eine dritte Art, diese Machtbefugnisse zu erproben. Urteilen heißt, ein Verhalten oder Tun auf den Prüfstand zu stellen. Das läuft auf eine radikale Erweiterung des Kontrollgedankens hinaus und hebt auch den Argwohn auf eine neue Stufe, insofern es beinhaltet, dass eine endgültige Entscheidung getroffen wird. Es handelt sich also um einen Vorgang, der Teil einer umfassenden Kontrolltätigkeit ist. Die Art des Urteilens, die hier gemeint ist, geht somit über den rein juristischen Rahmen hinaus. Der Urteilsbegriff ist in einem erweiterten Sinne zu verstehen, als sachkundige und fundierte Beurteilung, als Untersuchungsprozess, der zur Lösung eines Problems führt. Wählen und Urteilen sind insofern zwei verschiedene Methoden mit dem gleichen Ziel: eine Entscheidung zu fällen, die dem Gemeinwohl dient. Beide sind politische Formen, die man miteinander vergleichen kann, und in beiden Fällen tritt zutage, was man als »Macht des letzten Wortes« bezeichnen könnte. Aus verständlichen Gründen versuchen die Wähler, beide Strategien zu verwenden und als Richter zu erreichen, was sie als Wähler nicht in ausreichendem Maße haben durchsetzen können. Bisweilen sind sie auch in der Lage, auf direktem Wege zu urteilen, etwa wenn sie als Geschworene in einem Gerichtssaal sitzen. Doch in einem allgemeineren Sinne fungieren die Bürger als Richter, wenn sie an einer Art Untersuchungsverfahren teilhaben, das von den Medien oder von politischen Gruppen inszeniert wird. Selbst wenn das Urteilen an den Justizapparat als solchen »delegiert« wird, behält es noch eine gesellschaftliche Dimension. Zunächst, weil ein Urteil »im Namen des Volkes« gesprochen wird, vor allem aber, weil die Rechtsprechung eine kollektive Erwartung erfüllt und Teil eines Kräftefeldes ist, in dem sich der Druck zivilgesellschaftlicher Organisationen ebenso geltend macht wie der diffuse Einfluss der öffentlichen Meinung. Die 175

Urteilsfunktion darf also nicht auf das alleinige Agieren einer autonomen Judikative verkürzt werden, sondern muss in einem größeren Kontext vielfältiger Interaktionen betrachtet werden. Der moderne Richter ist sich übrigens selbst oft dieser Verflechtung bewusst, was sich in dem Bedürfnis kundtut, sich zu engagieren und seinen Teil zur Definition des Gemeinwesens beizutragen. Die zunehmende Überlagerung des Politischen mit dem Rechtlichen in der heutigen Zeit ist nur dann richtig zu verstehen, wenn man sie dem Kontext politischer Formen zuordnet, die Eigenschaften des Wählens mit solchen des Urteilens kombinieren. Das Politische als Form des Urteilens zu begreifen, ist übrigens für den Historiker geradezu eine Selbstverständlichkeit. Im antiken Athen spielte das Volksgericht eine ebenso wichtige Rolle wie die Bürgerversammlung. Später in England übte das Parlament die erste wirksame Kontrolle der Monarchie aus, indem es die königlichen Minister wegen Amtsmissbrauchs unter Anklage stellte (impeachment). Und in jüngerer Vergangenheit, in den Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde in einigen Bundesstaaten ein Verfahren namens recall eingeführt, das es ermöglichte, gewählte Repräsentanten bei laufender Amtszeit abzuwählen, was auf die Einleitung einer Art politischen Prozesses hinauslief. Diese drei Beispiele aus drei verschiedenen Epochen verdeutlichen, dass die Geschichte der Demokratie weit mehr ist als eine Geschichte des Wahlrechts und des Parlamentarismus: Sie war immer auch aufs Engste mit dem Gedanken verbunden, dass die Gesellschaft das Recht hat, über die Regierenden zu richten. Die gegen-demokratische Funktion des Urteilens beschränkt sich nicht auf die Tätigkeit des Bürger-Richters in seinen verschiedenen Ausprägungen. Sie lässt sich auch an der autonomen Produktion konkurrierender Normen ablesen. Einer der wesentlichen, aber weithin übersehenen Aspekte von Geschworenengerichten in demokratischen Gesellschaften bestand, historisch betrachtet, darin, dass sie den Bürgern die Gelegenheit gaben, den Geist der Gesetze in der Formulierung ihrer Urteile zu klären oder zu verändern. Diese Tatsache bezeugt einmal mehr, dass Urteilen als Form bürgerschaftlichen Engagements als Ergänzung und bisweilen als Korrektiv zum Wählen fungierte, wenn der Bürger als Geschworener in der Praxis die Gesetze der von ihm gewählten Legislative revidierte. Es gibt noch weitere derartige 176

»quasi-legislative« Formen der Einmischung, die wir in den folgenden Kapiteln untersuchen werden. Im Zuge unseres Nachdenkens über den Sinn und die Formen politischen Urteilens werden wir nicht umhin kommen, kritisch zu diskutieren, was bisweilen als Verrechtlichung des Politischen verstanden wird. Was sich hinter der Erhebung des Richters zur politischen Instanz verbirgt, ist tatsächlich ein grundlegendes Neuverständnis des demokratischen Prozesses, dessen Tragweite sorgfältig zu überprüfen ist.

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Historische Referenzen Das Beispiel Griechenland »Der Bürger schlechthin wird aber durch nichts andres in einem höheren Grade bestimmt als durch seine Teilhabe an richterlicher Entscheidung und an der Herrschaft«, schrieb Aristoteles.1 Genauer gesagt, der Bürger ist derjenige, der das Amt des Geschworenen wahrnimmt [dikastes] und der an der Versammlung teilnimmt [ekklesiastes]. Für den Verfasser der Politik sind also Richten und Abstimmen zwei untrennbare Aspekte des Bürgerseins. Das Volksgericht [dikasteria] und die Volksversammlung [ekklesia] waren die beiden zentralen und komplementären Institutionen der athenischen Demokratie. In der Versammlung trafen sich um die sechstausend Bürger dreißig bis vierzig Mal pro Jahr, um über Innen- und Außenpolitik zu entscheiden. In den Gerichten urteilten Geschworenenjurys von 201, 401, oder 501 ausgelosten Personen in öffentlichen und privaten Streitfällen.2 Beide Institutionen beruhten auf dem gleichen Verständnis von aktiver und direkter Teilhabe am Gemeinschaftsleben. Die Nähe beider Funktionen wird deutlich, wenn man sich das spezifisch Politische der Fälle vergegenwärtigt, mit denen die Athener Gerichte betraut waren. Der Unterschied zwischen ihrer Rolle und der von Gerichten in einer modernen Demokratie ist unmittelbar ersichtlich. In unseren politischen Systemen sind Gerichte hauptsächlich dafür zuständig, zivilrechtliche Streitigkeiten zu schlichten oder in Strafsachen zu urteilen. Solche Fragen nehmen einen Großteil ihrer Zeit in Anspruch. Zwar hat die Rechtsprechung auch eine stärker politische 1 2

Aristoteles, Politik, III , 1, 1275a 22–23, S. 155. Ich folge hier der Beschreibung von Hansen, »Pouvoirs politiques du tribunal du peuple à Athènes au IVe siècle«.

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Seite, etwa hinsichtlich der Beilegung von Konflikten zwischen Bürgern und Behörden, und vor allem bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (wo solche Verfahren existieren). Doch dieser Aspekt ist, zumindest unter dem Gesichtspunkt des Beschäftigungsvolumens, relativ zweitrangig. Ganz anders im alten Griechenland. Dort zog man wegen privatrechtlicher Angelegenheiten eher selten vor Gericht. Solche Fälle klärte man zumeist über Schiedsverfahren. Andererseits wurden viele Strafsachen von Richtern der einen oder anderen Kategorie direkt verhandelt, ohne dass es zu einem förmlichen Prozess kam.3 In diesem Bereich agierten die Gerichte nur als Berufungsinstanz. In der Hauptsache befasste sich die athenische Rechtsprechung mit etwas anderem: der Kontrolle und Sanktionierung spezifisch politischer Maßnahmen. Die Gerichte verbrachten ihre Zeit hauptsächlich damit, die Verfahrensweisen und Entscheidungen der Versammlung, des Rates und der verschiedenen Kategorien städtischer Richter und Beamter zu überprüfen. Ihre Arbeit war also in erster Linie eine politische, weswegen sie auch innerhalb der athenischen Demokratie eine zentrale Stellung einnahmen. Die meisten Fälle, die vor den Athener Volksgerichten verhandelt wurden, ähnelten dem, was man heute als »politische Prozesse« bezeichnen würde. Bezeichnenderweise gab es im Griechischen keinen so speziellen Ausdruck – er wäre wohl als redundant empfunden worden. Die Angeklagten in solchen Prozessen waren immer Personen in verantwortlichen Positionen. Diese konnten wegen verschiedener Delikte belangt werden. Zunächst, und dies ist der gängigste Fall, wegen Korruption, wofür in den Annalen der Geschichte eine Reihe berühmter Anklagen verzeichnet sind (zum Beispiel gegen Kimon, den man beschuldigte, von Alexander I. von Makedonien bestochen worden zu sein). Aber auch wegen Versäumnissen oder Fahrlässigkeiten bei der Wahrnehmung politischer und militärischer Ämter (zum Beispiel der berühmte Prozess gegen die athenischen Generäle, denen man vorwarf, nach der doch siegreichen Seeschlacht von Arginusae im Jahr 406 v.u.Z. die Rettung der Verwundeten und Bergung der Toten unterlassen zu haben). Des Weiteren konnten Personen dafür be3

Vgl. Macdowell, Athenian Homicide Law in the Age of the Orators, und The Law in Classical Athens.

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langt werden, Beschlüsse vorgeschlagen zu haben, die im Widerspruch zur Verfassung oder einfach zu den Interessen der Bevölkerung standen. Schließlich spielten auch Anklagen wegen Gottlosigkeit [asebeia] eine große Rolle. In der Praxis handelte es sich dabei zumeist um Tatbestände, die man in etwa mit Verunglimpfung des Staates oder Verstöße gegen die öffentliche Ordnung übersetzen könnte. Die »Politiker« (um ein weiteres Wort zu benutzen, das es im Griechischen nicht gab), denen man derartige Verbrechen zur Last legte, waren in erster Linie Redner und Strategen, das heißt prominente Figuren der Versammlung oder militärische Kommandeure als Vertreter der Exekutive. Volksgerichte waren somit zentrale Schauplätze des politischen Lebens in Athen und Prozesse die sichtbarsten und stärksten Ausdrucksformen des Bürgerengagements.4 Das galt übrigens unter Zeitgenossen als eines der charakteristischen Merkmale Athens. So notierte der Alte Oligarch, dass die Athener dafür bekannt seien, mehr Prozesse anzustrengen als alle anderen Griechen zusammengenommen. In Aristophanes’ Stück Die Wolken weigert sich eine Person, einen Punkt auf der Karte als Athen zu erkennen, weil die Standorte der Gerichte darauf nicht eingezeichnet seien! Die politische Prozesse in Athen können in zwei große Gruppen eingeteilt werden: Verfahren zur Annullierung eines Beschlusses [graphe paronomon] und Verfahren aufgrund von Anzeigen [eisangelia]. Das graphe-parononom-Verfahren konnte von jedem Bürger angestrengt werden, der unter Eid versicherte, dass er einen von der Versammlung gefassten Beschluss für verfassungswidrig halte.5 Verfassungswidrigkeit war ein dehnbarer Begriff, da er über das Juristische hinaus in einem substanzielleren Sinne auf Entscheidungen angewendet werden konnte, denen man bescheinigte, unerwünscht oder schädlich für die Interessen der Stadt zu sein. Dieses Verfahren wurde im vierten Jahrhundert häufig eingesetzt. Es trat gewissermaßen an die Stelle des Obstrakismus, der im Jahrhundert zuvor eine beliebte 4

5

Zu diesem Engagement vgl. Bauman, Political Trials in Ancient Greece; Christenson, Political Trials in History, from Antiquity to the Present; Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law. Für eine detailliertere Beschreibung des Verfahrens und seiner Anwendung vgl. Hansen, The Sovereignty of the People’s Court in Athens in the Fourth-Century B.C. and the Public Action against Unconstitutional Proposals.

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Waffe gegen führende Politiker gewesen war. Das Besondere am graphe paronomon war nun, dass die Klage sich gegen denjenigen richtete, der den umstrittenen Beschluss in die Volksversammlung eingebracht hatte. Das Verfahren bezweckte also, das Volk vor sich selbst zu schützen: denn die fraglichen Beschlüsse waren ja zuvor zwangsläufig von den versammelten Bürgern selbst verabschiedet worden, manchmal sogar einstimmig. Es konnte aber sein, dass das Volk bei dieser Gelegenheit vom Antragsteller irregeführt worden war. Daher der Vorteil eines Verfahrens, das den Bürgern ermöglichte, sich ein zweites Mal zu äußern und in Form eines Tribunals mit einer großen Zahl ausgeloster Geschworener ihre ursprüngliche Entscheidung zu korrigieren. Der Gedanke war, ein Bollwerk gegen Demagogen und Sykophanten zu errichten. Doch implizierte das Verfahren auch ein reflexives Verständnis von Gemeinwohl als Resultat einer kollektiven Entscheidung, deren Güte sich erst im Laufe der Zeit erweist, nachdem sie auf die Probe gestellt worden ist. Das Urteil des Volksgerichts in einem grapheparonomon-Verfahren stellte somit ein zusätzliches und korrigierendes Moment eines Prozesses dar, der mit der Beschlussfassung begonnen hatte. Es handelte sich also um eine Art »Selbstbesinnung« der athenischen Demokratie. Die Möglichkeit, Anzeige wegen eines politischen Vergehens zu erstatten, war fester Tagesordnungspunkt der Volksversammlungen. Jeder Bürger konnte ein eisangelia-Verfahren initiieren, über das dann debattiert wurde.6 Als verfolgungswürdig galten Taten, die auf den Sturz der Demokratie abzielten, Fehler der militärischen Strategie oder ganz allgemein Verrat am Gemeinwohl. Wenn die Versammlung beschloss, Anklage zu erheben, konnte der Fall an ein Volksgericht verwiesen werden. Obwohl es die Ausnahme blieb, kam dieses Verfahren regelmäßig zum Einsatz (man zählte 130 Fälle zwischen 492 und 322 v.u.Z.). Es bot eine weitere Möglichkeit, die führenden Politiker Athens zu kontrollieren, insbesondere die militärischen Befehlshaber, die häufig ins Visier gerieten. In diesem Sinne sorgten diese Prozesse auch dafür, die Demokratie einem doppelten Steuerungsmechanismus zu unterwerfen: politische Legitimationsverfahren, die aber je6

Hansen, Eisangelia. The Sovereignty of the People’s Court in Athens in the Fourth-Century B.C. and the Impeachment of Generals and Politicians.

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derzeit Gefahr liefen, durch juristische Sanktionsverfahren aufgehoben zu werden. Ermächtigung und Verhinderung bildeten also in Athen die beiden in ständiger Spannung befindlichen Seiten einer lebendigen Demokratie. Eine solche »Verrechtlichung« des öffentlichen Lebens darf demnach nicht als Ausdruck krankhafter Streitsucht oder übersteigerter Prozessierfreudigkeit missverstanden werden. Sie ist vielmehr von Grund auf politisch und ihrem Wesen nach demokratisch. Aristoteles erachtete diese richterliche Tätigkeit per Los bestimmter Bürger sogar für noch wichtiger als die Teilnahme an der Volksversammlung. Die Gründe für diese Einschätzung sind es wert, näher betrachtet zu werden, denn sie erklären einige wesentliche Merkmale der athenischen Demokratie. Tatsächlich können mehrere Gründe für diese »[relative] Präferenz des Urteilens« namhaft gemacht werden.7 Zunächst ist es grundsätzlich wirksamer, vergangenes Handeln abzustrafen, als zukünftige Maßnahmen zu genehmigen. Die Macht des Geschworenen ist der des Bürgers in der Volksversammlung funktional überlegen, weil er in einer Sache eine endgültige Entscheidung fällt. Er beeinflusst damit den Lauf der Dinge auf eindeutige und unumkehrbare Weise. Darüber hinaus hatten Prozesse in Athen eine präventive Funktion. Die Beschuldigungen, die gegen Magistrate und mehr noch gegen militärische Befehlshaber vorgebracht wurden, waren ziemlich gravierend. Man scheute sich nicht, wegen Korruption oder Verrat anzuklagen, auch wenn die zur Last gelegten Tatbestände eher auf minderschwere Vergehen hindeuteten. Eine solche Tendenz zur Radikalisierung von Vorwürfen gegen Beamte, mit denen das Volk unzufrieden war, war als eine Art vorsorgliche Warnung zu verstehen. Die Funktionsträger der diversen Gremien, ob gewählt oder ausgelost, wurden sich so einer gewissen Unsicherheit ihrer Position bewusst und sahen sich zugleich mit der Tatsache konfrontiert, dass die Ausübung ihres Amtes an soziale Erwartungen geknüpft war. Würde man es bei diesen beiden Faktoren belassen, ließe sich daraus erklären, warum die Tätigkeit der Volksgerichte in Athen eine so zentrale Rolle spielte. Man müsste aber zugleich feststellen, dass es seitens einer undankbaren und impulsiven 7

Ich stütze mich im Folgenden hauptsächlich auf Roberts, Accountability in Athenian Government.

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Bevölkerung, die immer höhere Ansprüche an ihre Führer stellte und dabei eine bisweilen irrationale Ungeduld an den Tag legte, eine gewisse Anfälligkeit für demagogische Appelle gab. Man würde damit allerdings übersehen, dass die nachträglichen Missstrauensanträge und Haftungsmechanismen, die über die Rechtsprechung ins Spiel kamen, nicht von Ex-ante-Kontrollen und Vertrauensbekundungen an die Regierungsverantwortlichen zu trennen sind. Das Besondere an der athenischen Demokratie bestand gerade in der engen Verzahnung dieser gegenläufigen Bewegungen, bei gleichzeitiger Existenz eines gewissen funktionalen Misstrauensbonus. Der zentrale Stellenwert von »politischen« Prozessen und impeachment-Verfahren hatte noch einen weiteren Ursprung: Er resultierte quasi automatisch aus den politischen Meinungsdifferenzen in Athen. Wenn die Parteien und Ideen heftig aufeinanderprallten, konnte es vorkommen, dass die von den gewählten Beamten vorgeschlagenen Maßnahmen auf den energischen Widerstand minoritärer Fraktionen stießen. Die Anklageerhebung vor einem Gericht stellte für diese Gruppierungen eine Möglichkeit dar, gewissermaßen auf dem Rechtsweg die Oberhand in der öffentlichen Debatte zurückzugewinnen. Neben dem asymmetrischen Verhältnis zwischen nachträglich geäußertem Misstrauen und vorab bewilligtem Vertrauen8 kann auch die Unterscheidung zwischen zusammengewürfelten Mehrheiten und kompakten Minderheiten Aufschluss geben über die demokratische Rolle des Richteramts. Ein Gerichtsprozess ist demnach eine Art »Entschädigung«, die den Minderheiten angeboten wird. Die Rechtsprechung erfüllte somit in Athen zwei politische Funktionen: Sie brachte eine andere zeitliche Dimension des Gesellschaftsvertrages ins Spiel, die es ermöglichte, den Zusammenhalt zwischen Regierenden und Regierten zu stärken, und sie korrigierte potenzielle Fehlentwicklungen der Mehrheitsherrschaft, indem sie Minderheiten eine zweite Chance gab, für das Gemeinwohl einzutreten. Politische Prozesse fungierten in doppelter Weise als demokratisches Korrektiv und Methode zur Stärkung des Gemeinwillens. Durch die permanente Möglichkeit, Misstrauen zu demonstrieren, festigten sie zunächst das Vertrauen in 8

Zu diesen Zusammenhang vgl. die interessanten Bemerkungen von Elster, »Accountability in Athenian Politics«.

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die Regierenden, das sich nur periodisch äußern kann. Und dann kompensierten sie den Mangel an Einstimmigkeit durch die vor Gericht erforderliche Bezugnahme auf ein substanzielles Verständnis des Gemeinwohls (das Wohl aller Menschen, verstanden als moralisch definierbarer Wert), das die rein numerische Definition durch den Abstimmungsvorgang korrigierte. Die athenische Praxis ist also weit entfernt von dem reduktionistischen Verständnis der Justiz, das durch Montesquieu seine theoretischen Weihen erhielt (der Sicht des Richters als bloßem »Mund des Gesetzes«, verbunden mit der Vorstellung, dass »die richterliche Gewalt in gewisser Weise gar nicht vorhanden« ist9). Recht sprechen und kollektiv beraten waren für den Autor des Geistes der Gesetze in der Tat zwei radikal getrennte Tätigkeiten. Das griechische Beispiel gibt hingegen Anlass, uns der Bedeutung ihrer Komplementarität und Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Kosmos demokratischer Kontrolle des Gemeinschaftslebens wieder bewusst zu werden.

Das englische impeachment Die englischen Institutionen sind ein gutes Beispiel für das historische Primat der richterlichen Funktion innerhalb der Hierarchie politischer Gewalten in den alteuropäischen Monarchien. Verkürzt gesagt: Im Mittelalter drehte sich alles um das Recht. Der Souverän hatte vorrangig die Aufgabe, Recht zu sprechen, und bekanntlich war die Entstehung einer starken Königsmacht in Ländern wie England und Frankreich unmittelbar an die Herausbildung eines Systems gekoppelt, das es den Untertanen erlaubte, gegen die Entscheidung eines lokalen Gerichts in Berufung zu gehen. Es fehlte noch jegliche Vorstellung einer Exekutive als aktive, gesellschaftsgestaltende Kraft. Regieren hieß im Wesentlichen, Recht zu sprechen. Selbst repräsentative Institutionen wurden noch in rechtlichen Begriffen definiert. Bis Ende des 17. Jahrhunderts hieß das englische Parlament Hight Court of Parliament.10 Und das Gesetz wurde ausdrücklich als ein »im Parla-

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Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Band 1, S. 220 (Buch XI , Kapitel 6). Vgl. dazu das immer noch maßgebliche Werk von McIlwain, The High Court of Parliament and its Supremacy. Einen breiteren Überblick über das Problem

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ment gefälltes Urteil« verstanden. Die richterliche Gewalt war somit die oberste Staatsgewalt, von der sich alle anderen ableiteten. Daher versuchte das Parlament auf diesem Wege, eine erste Form der Kontrolle über die Minister des Königs auszuüben. Das war der Ursprung des als impeachment bekannten Verfahrens, das mit einer allmählichen Erweiterung des mittelalterlichen Verratsbegriffes einherging.11 Das Unterhaus führte 1376 das Verfahren ein, indem es einen Minister, Lord Latimer, sowie mehrere Londoner Kaufleute wegen »Betrugs und Schädigung von König und Volk« unter Anklage stellte. Die Entscheidung des Parlaments, ein impeachment-Verfahren einzuleiten, wurde nicht nur als ein juristischer Akt wahrgenommen, sondern im gleichen Zuge auch als politisches Urteil. Das Sitzungsprotokoll hielt fest, dass Latimer und seine Komplizen »auf Verlangen des gemeinen Volkes«12 angeklagt wurden und keine Möglichkeit hatten, auf die Vorwürfe eines bestimmten Anklägers einzugehen. In diesem Fall waren also strafrechtliche und politische Verantwortung völlig deckungsgleich, wobei das Politische sich in Gestalt des Rechtlichen äußerte. Das impeachment als politisches Kontrollverfahren blieb bis Mitte des 15. Jahrhunderts weit verbreitet, kam aber unter den Tudors außer Gebrauch. Letzteren gelang es, die parlamentarischen Kontrollbefugnisse zu beschneiden und an ihrer Statt ein sehr viel willkürlicheres Verfahren durchzusetzen, die Bills of Attainder, die zudem häufig von der Krone manipuliert wurden.13 Nach fast zweihundertjähriger Unterbrechung erlebte das impeachment im 17. Jahrhundert eine regelrechte Wiederauferstehung, auf Betreiben eines der führenden Ju-

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verschafft Pimentel, La Main invisible du juge. L’origine des trois pouvoirs et la théorie des régimes politiques. Vgl. Bellamy, The Law of Treason in England in the Later Middle Ages, und »Appeal and Impeachment in the Good Parliament«. »Lord Latimer was impeached and accused by the clamour of the Commons«, wiedergegeben bei Plucknett, »The Origin of Impeachment«, S. 70–71. Ein Bill of Attainder war kein gerichtliches Verfahren, sondern ein Gesetz, das von beiden Häusern verabschiedet und vom König gebilligt werden musste. Mit einer solchen Bill konnte eine beliebige Strafe – in der Regel die Todesstrafe – über eine beliebige Person verhängt werden, für Taten, die in keinem Gesetzbuch standen. Die Krone nutzte derartige Gesetze, um unter Mithilfe eines geschwächten Parlaments ihre Widersacher zu bestrafen. Sie wurden auch als »legaler Mord« bezeichnet.

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risten der Zeit, Edward Coke, dem zeitweiligen Vorsitzenden [Chief justice] des Oberhofgerichts [King’s Bench]. Nachdem er 1621 Mitglied des Parlaments geworden war, machte sich Coke daran, dem alten Verfahren neues Leben einzuhauchen. Er sah in ihm allerdings mehr als nur ein Mittel, um Personen des öffentlichen Lebens wegen Verbrechen oder Amtsvergehen zu bestrafen. Sein Ziel war vielmehr, Minister für ihre Politik zur Verantwortung zu ziehen. Schon 1624 erwirkte er ein impeachment gegen den Lord Treasurer, Lionel Cranfield. Neben persönlicher Bereicherung wurde dem Minister vor allem sein Umgang mit der Erteilung von Monopolen vorgeworfen. In Wirklichkeit ging es jedoch bei diesem Verfahren in erster Linie darum, die Absetzung eines Ministers zu erreichen, der zwar noch das Vertrauen des Königs, aber nicht mehr das des Unterhauses besaß.14 Coke betonte, dass das Unterhaus in einem solchen Fall als Großinquisitor der Gesellschaft fungieren müsse. Diese Sichtweise setzte sich 1626 durch, als ein impeachment gegen den Duke of Buckingham angestrengt wurde, den Günstling von König James I. Der Fall war in der Tat exemplarisch: Buckingham wurde vom König massiv unterstützt, während das Parlament ihm gleichzeitig Pflichtversäumnisse in seiner Eigenschaft als Lord High Admiral vorwarf. Es kam letztlich nicht zur Anklage, aber der Gedanke, dass das Parlament ein Recht habe, über die Politik der Minister zu urteilen, war einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Coke entwickelte dafür eine raffinierte juristische Argumentation. Er stellt das Hoheitsrecht des Königs niemals offen infrage. Doch beschränkte er paradoxerweise dessen Reichweite, indem er es in einem Maße verabsolutierte, dass es sich in ein vollkommen abstraktes Prinzip verwandelte. Einerseits bekräftigte er feierlich den alten Grundsatz, dass der König nichts Falsches tun könne [The King can do no wrong]. Andererseits argumentierte er, dass das Parlament bei der Bestrafung der Minister zwar im Namen des Königs, aber unabhängig handeln müsse, denn würde der König direkt vor seinem eigenen Gericht verhandeln, würde er seine Position schwächen, weil er dann Richter und Partei zugleich wäre. James I. sah sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass er durch das Parlament praktisch vertreten wurde: 14

Beauté, Un grand Juriste anglais: Sir Edward Coke (1552–1634).

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Die Anerkennung seiner Rolle und seiner Vorrangstellung lief letztlich darauf hinaus, seine Macht auf eine eher symbolische Funktion zu reduzieren. Die richterliche Macht wurde zwar immer noch im Namen des Königs ausgeübt, entzog sich jedoch seiner realen Kontrolle. Als einige Jahre später der Bürgerkrieg ausbrach, konnten die Revolutionäre somit für sich in Anspruch nehmen, den König im Namen des Königs zu bekämpfen. Nach dem Ende der Revolution und dem Sieg über den König war das Parlament ab 1688 in der Lage, eine unmittelbarer politische Rolle zu spielen, was zu einem raschen Rückgang der impeachment-Verfahren führte.15 Mit der Einführung einer parlamentarischen Kontrolle der Regierung durch eine jährliche Abstimmung über die Steuern und den Staatshaushalt, dem Aufkommen der großen politischen Parteien und der Entstehung des Kabinettsystems trat ein neues Verständnis geteilter politischer Verantwortung an die Stelle der alten Vorstellung einer individuellen strafrechtlichen Verantwortung. Das Misstrauensvotum ersetzte Axt und Richtblock. Zweifellos ein Fortschritt, der aber nicht von der Tatsache ablenken darf, dass die Mechanismen des Verantwortlichmachens nach wie vor dem Muster von Anklage und Verurteilung folgten. Zwar wurde, historisch gesehen, die strafrechtliche durch die politische Verantwortung abgelöst,16 und jemanden politisch zur Rechenschaft zu ziehen, hat sich als effizienter erwiesen, als ihn wegen eines Verbrechens abzuurteilen, doch war und ist in beiden Fällen das Ziel, eine Strafe zu verhängen, etwas zu unterbinden, eine Person für ihre Taten haftbar zu machen. Insofern kann man behaupten, dass die moderne Politik und das parlamentarische System immer noch unterschwellig von einer juristischen Logik bestimmt werden.17 Die Abschaffung der einstigen Strafen kann darüber nicht hinwegtäuschen. Die Umstände, unter denen dieser Übergang von einer strafrechtlichen zu einer politischen Verantwortung stattgefunden hat, sind natürlich 15 16 17

Zu diesen Themen siehe Kenyon, The Stuart Constitution, 1603–1688. Documents and Commentary. Der letzte politische impeachment-Versuch richtete sich 1742 gegen Robert Walpole. Zur Entwicklung des Parlamentarismus in England vgl. das bemerkenswerte Buch von Baranger, Parlementarisme des origines. Essai sur les conditions de formation d’un exécutif responsable en Angleterre.

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von Land zu Land verschieden. Unbestritten hat Großbritannien das bis heute perfekteste System einer effektiven politischen Verantwortung entwickelt. Am anderen Ende des Spektrums steht Frankreich, das seine erste Republik auf einen Königsmord gründete und der Versuchung nicht widerstehen konnte, in der Fünften Republik einen souveränen Staatspräsidenten zu installieren, der niemandem Rechenschaft schuldig ist und der die Minister unter seiner schützenden Hand agieren lässt.

Der amerikanische recall Der amerikanische recall ist ein Verfahren zur Abberufung gewählter Amtsträger. Der Recall bildet das dritte historische Beispiel einer Rechtspraxis zur Förderung politischer Verantwortung. Ein derartiges Verfahren existiert derzeit in fünfzehn Staaten, hauptsächlich im Westen und Mittleren Westen, in denen es auf allen Ebenen angewendet werden kann, und in 36 Staaten, in denen die Abwahl auf lokale Amtsträger beschränkt ist. Es wurde erstmals 1908 in Oregon praktiziert, 18 Kalifornien, Arizona, Colorado und Nevada folgten wenig später (nach einem 1903 auf die Stadt Los Angeles begrenzten Probelauf). Der Recall stand im Kontext einer umfassenden Kritik an der amerikanischen Demokratie und der Korruption allzu vieler Politiker in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. Er bildete zusammen mit der Einführung von Vorwahlen und von Volksbegehren ein Ensemble von Maßnahmen, das, nach den programmatischen Vorstellungen des Progressive Movement, die Defizite der Repräsentativregierung beheben sollte. In der Praxis beginnt ein Recall-Verfahren mit einer Unterschriftenkampagne zugunsten der Absetzung einer bestimmten Person. Sind genügend Unterschriften beisammen (in der Regel um die 25 Prozent der registrierten Wähler), wird eine Abstimmung durchgeführt. Abgewählt werden können praktisch alle Amtsträger, vom Gouverneur und Abgeordneten des Landesparlaments über Staatsanwälte, Sheriffs und in manchen Fällen Richter, bis hinab zu einfachen Lokalbeamten. Auf diesem Wege wurden schon Gouverneure (zuletzt Gray Davis, der 2003 in Kalifornien seinen Posten an den Schauspieler 18

Vgl. Barnett, The Operation of the Initiative, Referendum and Recall in Oregon.

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Arnold Schwarzenegger verlor19) und Bürgermeister (wie 1978 in Cleveland oder 1987 in Omaha) aus dem Amt gejagt. Ganz zu schweigen von den Tausenden von Beamten auf weniger wichtigen Positionen.20 Zu den Abgewählten gehörten Angehörige von School Boards (Behörden mit großem Einfluss auf die örtliche Schulpolitik), Verantwortliche von Irrigation Districts (Wassermanagement, wichtig für die Landwirtschaft in Staaten wie Kalifornien oder Nevada) oder Angehörige der diversen Gebietskörperschaften. Nicht umsonst ist der Recall schon als »gewöhnlicher Ostrazismus« bezeichnet worden. Was ist das Besondere eines solchen Verfahrens? Es gilt gemeinhin als eine radikale Form von direkter Demokratie, vergleichbar mit einem Volksbegehren.21 Und so wurde es im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts auch zumeist beschrieben. Tatsächlich ist der Recall eine nachdrückliche Bestätigung des allgemeinen Wahlrechts als Quelle aller Macht in einer Demokratie. Das Wesentliche aber scheint mir woanders zu liegen, nämlich in der Art des Vorgangs selbst. Formal gesehen handelt es sich um eine Abstimmung, bei der es darum geht, jemanden abzusetzen. Ein Misstrauensvotum also, das den vorherigen Vertrauensbeweis, nämlich die Wahl auf den fraglichen Posten, annulliert. Tatsächlich sind diese beiden Vorgänge aber keineswegs vollkommen symmetrisch. Eine Wahl ist eine Auslese zwischen mehreren Kandidaten. Der Recall ist eher eine Bewertung, eine Beurteilung der Taten einer bestimmten Person. Obwohl in manchen Punkten mit einem Volksbegehren vergleichbar, darf der Recall dennoch nicht als Alternative zur Repräsentativregierung verstanden werden, zielt er doch gerade darauf ab, durch Bestrafung von Amtsträgern, die der Untreue oder Inkompetenz verdächtigt werden, eine »richtige Repräsentation« wiederherzustellen. Die Bürger, die im Rahmen eines Recall abstimmen, verhalten sich wie eine Gruppe von Geschworenen, die über die Anklagepunkte befindet, die von den Initiatoren der Petition (die ihrerseits wie eine Grand Jury agieren) vorgetragen 19 20 21

Zu diesem Vorgang, siehe Gerston/Christensen, Recall!. California’s Political Earthquake. Vgl. Zimmerman, The Recall. Tribunal of the People. Vgl. Cronin, Direct Democracy. The Politics of Initiative, Referendum and Recall.

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werden. Das Quasi-Juristische des Recall-Verfahrens schlägt sich in den Formulierungen der Petitionstexte nieder, die tatsächlich wie Anklageschriften abgefasst sind. Das geht aus den drei folgenden, vollständig wiedergegebenen Petitionen eindeutig hervor.22 Text der Petition für den Recall des Bürgermeisters von Oakland, Davie, im Jahr 1917: Folgendes ist offensichtlich: Er ist absolut inkompetent, sowohl hinsichtlich seiner Qualifikation als auch seiner Fähigkeit, das Amt zu führen. Er beleidigt Bürger, die sich wegen städtischer Angelegenheiten an den Stadtrat wenden, und seine Maßnahmen machen Oakland zum Gespött. Sein grobes und ungerechtes Verhalten fügt der Stadt irreparablen Schaden zu. Dass er zwei weitere Jahre im Amt bleibt, ist eine zu große Gefahr, als dass sie geduldet werden könnte. Er ruiniert die Industrie. Er hat keinerlei konstruktive Ideen. Er redet viel, bringt aber nichts zustande. Er verspricht Steuersenkungen, unternimmt aber nichts, um sie einzuführen. Er predigt Sparsamkeit, verschwendet aber Geld, etwa 3000 Dollar für die Anschaffung eines Wagens, 1500 Dollar für die Anstellung seines Sohnes, der ihn fährt, und 85 Dollar für einen Sessel. Er hält Oakland seit seinem Amtsantritt in ständigem Aufruhr. Der Verwaltungschef der Stadt, George Kaufman, den er zum politischen Berater ernannt hat, beabsichtigt, die Verwaltung in einen Selbstbedienungsladen zu verwandeln. Er ignoriert Petitionen zur Gesundheitsvorsorge. Er hat versprochen, Polizeichef Peterson abzusetzen, stattdessen ist er inzwischen sein größter Förderer.

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Die hier zitierten Petitionen sind Bird/Ryan, The Recall of Public Officers. A Study of the Operation of the Recall in California, entnommen. Andere Petitionstexte finden sich bei Zimmerman, The Recall. Tribunal of the People.

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Warum? Oakland kann keine zwei weiteren Jahre Davieismus ertragen. Ein »Recall« ist das einzig mögliche Gegenmittel. Text der Petition für den Recall des kalifornischen Senators Owens von 1913: Wir, die Unterzeichner, Wähler des Staates Kalifornien, fordern mit der vorliegenden Petition den »Recall« von Senator James C. Owens aus dem 9. Wahlbezirk sowie die Wahl eines Nachfolgers auf den besagten Posten. Gemäß den Bestimmungen von Artikel 23 der Verfassung des Staates Kalifornien benennen wir im Folgenden die Gründe dieses Abwahlbegehrens: Senator Owens hat wiederholt seine Zusagen als Demokrat gebrochen; er hat seine schriftlichen Versprechungen gegenüber der Arbeiterschaft nicht eingehalten und dem Großkapital in entscheidenden Momenten mit seiner Stimme oder seiner Abwesenheit geholfen. Das Programm seiner Partei sprach sich für die Einführung eines betrieblichen Versicherungssystems auf bundesstaatlicher Ebene aus. Stattdessen befürwortete er einen Zusatz zum Berufsunfallgesetz von Senator Boynton, der eine solche Versicherung unmöglich gemacht hätte – genau das, was die Versicherungsgesellschaften wollten. Das Programm seiner Partei sprach sich zugunsten der Ausdehnung des Achtstundentagsgesetzes für Frauen aus. Bei der Behandlung des Themas im entsprechenden Senatsausschuss stimmte er für alle Vorschläge, die auf eine Begrenzung des Gesetzes abzielten, ja sogar für den Ausschluss der Arbeiterinnen in den Baumwollspinnereien, für die das Gesetz bereits gilt. War bei der Schlussabstimmung abwesend. Er stimmte gegen das Wasserschutzgesetz, um die Elektrizitätsgesellschaften zu unterstützen. Er stimmte gegen die Einrichtung einer Aufsichtsbehörde im Bergbau, gegen die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Verkürzung der Arbeitszeiten auf den Zechen, zur Freude der Bergbaugesellschaften. Er brachte die Senatsvorlage Nr. 243 ein, die so schlecht war, dass 191

die Eisenbahnkommission offiziell erklärte, sie hätte den Titel tragen sollen: »Gesetz zur Abschaffung der wichtigsten eisenbahnrelevanten Vorschriften im Versorgungswirtschaftsgesetz«. In den letzten zwei Jahren vermied oder versäumte er 113 namentliche Abstimmungen. Die oben genannten sind bloß einige wenige der vielen Gründe, weswegen Senator Owen abgesetzt werden sollte. Die vollständige Wiedergabe dieser beiden Texte, die ganz und gar typisch für Petitionen aus dieser Zeit sind, verdeutlicht, wie sehr bei diesen Anklagen gegen Vertreter der Öffentlichkeit moralische, berufliche und politische Gesichtspunkte durcheinandergehen. Das Vage und Unzusammenhängende der Vorwürfe vermittelt schon für sich genommen ein gutes Bild von der Befindlichkeit der Bürger in beiden Fällen. Es ist verblüffend festzustellen, dass sich die Dinge im Laufe eines Jahrhunderts kaum verändert haben. Davon zeugt die kalifornische Petition zur Absetzung von Gouverneur Gray Davis von 2003: Die Gründe für die Absetzung des Gouverneurs sind folgende: Grob missbräuchlicher Umgang mit den kalifornischen Staatsfinanzen durch Verschwendung von Steuergeldern, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch drastische finanzielle Einschnitte bei den Kommunalverwaltungen, Unfähigkeit, die exorbitanten Kosten für das Energiefiasko zu erklären, und ganz allgemein das Versagen, die großen Probleme des Staates zu bewältigen, bevor sie ein krisenhaftes Stadium erreichen. Kalifornien sollte nicht bekannt sein als der Staat der schlechten Schulen, der Verkehrsstaus, der horrenden Strom- und Gasrechnungen, der hohen Schulden … alles Folgen eklatanter Misswirtschaft.23 Obwohl die verantwortlichen Funktionäre eindeutig vor das Tribunal des Richtervolkes zitiert werden, sind die gegen sie vorgebrachten Beschuldigungen eine konfuse Mischung aus strafrechtlichen und politischen Argumenten. Bei den üblichen Diskussionen über Vor-

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Wiedergegeben nach Miller, »The Davis Recall and the Courts«, S. 140.

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und Nachteile des Recall sollte dieses grundlegende Charakteristikum nicht aus dem Blick geraten. Man muss folglich den Analyserahmen erweitern und darf sich nicht damit genügen, den Recall lediglich unter dem Gesichtspunkt der Beziehung von direkter und repräsentativer Demokratie zu betrachten. Vielmehr ist der Recall ganz allgemein als ein »juristisches Moment« des demokratischen Prozesses zu verstehen. Er sollte demnach als eine Form von impeachment analysiert, statt mit einem Referendum verglichen zu werden. Artikel 2 der amerikanischen Verfassung sieht vor, dass der Präsident, der Vizepräsident und alle Staatsbeamten wegen Verrats, Korruption und anderer schwerwiegender Straftaten ihres Amtes enthoben werden können. Diese Art von impeachment ist ein parlamentarisches Verfahren (durchgeführt von Repräsentantenhaus und Senat) und zielt zugleich auf vergleichsweise präzise Delikte ab, es wurde seit 1787 weniger als zwanzig Mal eingesetzt.24 Im Geiste sind beide Verfahren, impeachment und recall, verwandt. Dennoch gelangte der Recall in den Staaten, in denen er existiert, viel häufiger zum Einsatz, zum einen, weil er flexibler zu handhaben ist, zum anderen, weil die Gründe für die Einleitung des Verfahrens nicht fixiert sind und keine klare Unterscheidung zwischen politischer und rechtlicher Verantwortung erfordern. Allerdings ist der Recall nicht annähernd so streng wie ein echtes Gerichtsverfahren. Er ist vielmehr eine Art »Hybrid« aus Verfallsformen des Politischen und des Juristischen. Das Recall-Verfahren unterstreicht die Verwandtschaft von Wählen und Urteilen und ihre potenzielle Austauschbarkeit, bietet aber auch die Gelegenheit, über beider Pervertierungen nachzudenken.25 Als Randphänomen der gängigen demokratischen Praxis veranschaulicht es sowohl deren Chancen als auch deren verborgene Gefahren.

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Gerhardt, The Federal Impeachment Process. A Constitutional and Historical Analysis. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass auch zeitweilig darüber nachgedacht wurde, den Recall auf juristische Entscheidungen selbst anzuwenden. Theodore Roosevelt nahm diesen Punkt 1912 in sein Wahlprogramm für die Progressive Party auf. Bezüglich der Pro- und Kontra-Argumente zu diesem Thema siehe Phelps (Hg.), Selected Articles on the Recall, Including the Recall of Judges and Judicial Decisions.

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Die Quasi-Gesetzgeber Die demokratische Jury Das Volk als Richter nahm eine weitere Gestalt an, die der Jury, wie die Geschichte der Institution verdeutlicht. Im Mittelalter kehrte die Jury nach Europa zurück. Ziel war es zunächst, Streitigkeiten zwischen Rittern auf friedlichem Wege zu schlichten, ohne auf die weit verbreitete Praxis des Gerichtskampfes zurückgreifen zu müssen. Ein Urteilsspruch durch ein kleines Kollegium von Standesgenossen erschien als die geeignetste Methode zur Erreichung dieses Zwecks.1 Der Aufstieg der königlichen Gerichtshöfe besiegelte jedoch den Niedergang dieser Institution. Die wahre Geburt der modernen Geschworenengerichte erfolgte also erst wesentlich später, nämlich Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Initiative entsprang dem aufklärerischen Nachdenken über die Möglichkeit, die Zahl der Justizirrtümer zu verringern, die in dieser Zeit der wachsenden Sensibilisierung für die Menschenrechte als Ausdruck empörendster Ungerechtigkeit erschienen. Alle großen Denker der Zeit schrieben über dieses Thema, darunter Beccaria, Blackstone, Condorcet und Voltaire, um nur die bekanntesten zu nennen. Die gemeinsame Fragestellung lautete, unter welchen Bedingungen fehlbare Menschen, nämlich Richter, Urteile fällen können, bei denen das Fehlerrisiko auf ein Minimum reduziert ist. Akademien und Gelehrtengesellschaften in ganz Europa schrieben Wettbewerbe zu dieser Frage aus. Und überall war der Lösungsvorschlag identisch: die Jury. Blackstone beispielsweise äußerte sich entzückt darüber, »wie vortrefflich

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Zu dieser Frühgeschichte der Jury in England und Frankreich vgl. Green, Verdict According to Conscience. Perspectives on the English Criminal Trial Jury, 1200–1800, und Prieur, Les Origines françaises du jury. Les assises féodales.

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diese Institution zur Wahrheitssuche geeignet ist, besser als jede andere Untersuchungsmethode in der Welt«.2 Eine Gruppe von zwölf Personen, die gemeinsam die Fakten in einem Fall diskutieren, wird sich wahrscheinlich weniger häufig irren als ein Einzelner mit seiner privaten Meinung. Die Denker der Aufklärung gelangten also über ein probabilistisches Verständnis von Vernunft und Wahrheit zu der Einschätzung, dass die Jury die zum Schutz der individuellen Rechte und Freiheiten am besten geeignete Institution sei. Voltaire war der Erste, der in seinem Essai sur les probabilités en matière de justice (1772) diesen Ansatz zur Verringerung von Justizirrtümern zu formalisieren versuchte. Und Condorcet gab ihm einige Jahre später in seinem berühmten Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions tendues à la pluralité des voix seine gültige Formulierung.3 Thouret, der große Justizreformer zu Zeiten der Französischen Revolution, fasste den Grundgedanken treffend in den Worten zusammen, dass »von allen menschlichen Institutionen die Jury der Unfehlbarkeit am nächsten kommt«.4 All das gehört zu dem, was man den »rationalistischen« oder »probabilitischen« Teil der Jurygeschichte nennen könnte. Wenig später tauchte jedoch noch ein weiterer, spezifisch politischer Ansatz auf, der Geschworenengerichte als demokratische Institution betrachtete und in unmittelbaren Zusammenhang mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts stellte. Es ist dieser zweite Ansatz, der uns hier vorrangig interessiert. Die Englische Revolution bildete den Auftakt. Das berühmte Agreement of the People vom 1. Mai 1649 gab den radikaldemokratischen Bestrebungen Ausdruck, eine wahrhaft authentische Vertretung des Volkes mit der freien Wahl von Geschworenen zu verbinden. Doch erst die Amerikanische Revolution brachte hier den Durchbruch mit der erstmaligen Einrichtung demokratischer Ju-

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Blackstone, Commentaires sur les lois de l’Angleterre, Bd. 6, S. 10 (Buch 3, Kapitel 23). Paris 1785. Andere führende Mathematiker der Zeit dachten seinen Ansatz weiter. Vgl. insbesondere Cournot, »Mémoire sur les applications du calcul des chances à la statistique judiciaire«, sowie Poisson, Recherches sur la Probabilité des jugements en matière criminelle et en matière civile. Zitiert nach Lebègue, Thouret (1746–1794), S. 232.

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rys. Mit dem Dienst in einer Miliz, der Tätigkeit in einer Jury und dem Recht, zu wählen, bildeten sich in den Vereinigten Staaten drei komplementäre Formen einer direkten Beteiligung des Volkes an der Ausübung gesellschaftlicher Macht in ihren diversen Aspekten heraus. Der Jury kam in diesem Kontext eine spezifisch politische Bedeutung zu: Sie war eine der Manifestationen staatsbürgerlicher Gleichheit. Die Geschworenentätigkeit war eine Form bürgerschaftlichen Engagements.5 Tocqueville hat diesen Aspekt in einer berühmten Passage seiner Demokratie in Amerika nachdrücklich betont: »Das Geschworenengericht ist in erster Linie eine politische Einrichtung. […] [Es] bildet den Teil des Volkes, dem die Ausführung der Gesetze obliegt, wie die Kammern den Teil der Nation darstellen, der mit dem Schaffen der Gesetze betraut ist.«6 Der demokratische Charakter der Jury leitete sich nicht nur aus dem ihr zugrunde liegenden Prinzip der Gleichheit ab. Er resultierte ebenso sehr aus ihrer Arbeitsweise, nämlich der kollektiven Beratung. Während der Wähler sich mit einer einmaligen Meinungsäußerung begnügt, indem er seinen Wahlzettel in die Urne wirft, ist der Geschworene in einen länger anhaltenden Prozess involviert, in dem Informationen und Argumente ausgetauscht werden und Meinungen sich entwickeln können. Die Jury ist folglich eine ausgereiftere Form von Bürgerbeteiligung. Dieser Punkt wurde dann auch 1787 in Philadelphia, anlässlich der Debatten um die Ratifizierung des Verfassungsentwurfs, gebührend betont.7 In Amerika gründete sich das Ansehen der Geschworenengerichte nicht nur auf ihren Charakter als öffentliche und beratende Gremien, sondern auch auf ihre Eigenschaft als lokal begrenzte Institution: Die

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Vgl. vor allem die Arbeiten von Abramson, »The Jury and Democratic Theory«; »The American Jury and Democratic Justice«; We, The Jury. The Jury System and the Ideal of Democracy. Vgl. diesbezüglich auch die anregenden Bemerkungen von Garapon/Papadopoulos, Juger en Amérique et en France, S. 177–187. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 316 (Band 1, 2. Teil, Kapitel 8, »Über das Geschworenengericht (Jury) in den Vereinigten Staaten als politische Einrichtung«). Und zwar, wenig überraschend, vor allem von den Antiföderalisten. Vgl. zum Beispiel Federal Farmer, Nr. 15 (18. Januar 1788), nachgedruckt in: Kurland/Lerner (Hg.), The Founders’ Constitution, Bd. 5, S. 397.

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Jury bestand aus Personen, die am selben Ort wie die Angeklagten lebten und mit den Umständen der Tat vertraut waren. Gerade Nähe und Vertrautheit genossen in der politischen Kultur Amerikas in dieser Zeit einen hohen Stellenwert.8 Zudem stand die Tatsache, dass die Geschworenengerichte nur vorübergehend tätig waren, in Einklang mit dem Ideal, dass politische Ämter allen zugänglich sein und folglich nach dem Rotationsprinzip wahrgenommen werden sollten. Die Tätigkeit in Geschworenengerichten entsprach somit der Vision einer deliberativen und partizipativen Demokratie und kompensierte die Nachteile einer gewissen Bürgerferne, die sich aus einer großräumig agierenden Repräsentativregierung zwangsläufig ergibt. Viele dieser Merkmale fanden sich auch in Frankreich wieder. Dort stand zunächst das Bemühen im Vordergrund, Justizirrtümer zu minimieren. Doch während der Revolutionszeit wurde auch die demokratische Dimension der Geschworenengerichte stärker betont. Die Einführung des Jurysystems war somit ausdrücklich Teil eines allgemeinen Bestrebens, Institutionen zu begründen, in denen sich das Prinzip der Volkssouveränität verkörperte. Adrien Duport, der Hauptbefürworter der Justizreform in der konstituierenden Versammlung, vertrat die Meinung, dass im Hinblick auf die Volkssouveränität die Geschworenengerichte im Bereich der Justiz die gleiche Funktion hätten wie die Legislative im Bereich der Gesetze.9 Wäre das Geschworenensystem erst einmal vorhanden, behauptete er, »könnte man sogar der Tyrannei die Stirn bieten, denn das Volk wird immer frei sein, solange ihm die gewaltige Macht, Recht zu sprechen, erhalten bleibt«.10 Die Vorstellung, dass die politische Freiheit auf zwei Säulen ruhe, dem Wahlrecht und dem Jurysystem, war somit für die revolutionäre Sichtweise zentral. In der Folgezeit erschien der Bürger stets in dieser Doppelgestalt, als Wähler und Geschworener. Unter der Julimonarchie, in 8

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Vgl. die Anmerkungen von Reid, Constitutional History of the American Revolution, Bd. I, The Authority of Rights (Kapitel »The Jury Rights«). Das Thema wurde wiederum vor allem von den Antiföderalisten angesprochen, die eine extrem lokalistische Sicht der Politik vertraten. Zu seiner Rolle und seinen Ideen vgl. Padoa Schioppa, »La giura all’ Assemblea Costituente francese«, und »Le jury d’Adrien Duport«. Bericht vom 27. November 1790 über die Einrichtung von Geschworenengerichten.

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der ein Wahlzensus bestand, waren die Chancen größer, Geschworener zu werden, als Zugang zu den Wahlurnen zu erhalten. »Jeder Geschworene soll auch Wähler werden«, lautete folglich der erste Slogan, den die Republikaner in ihrer Kampagne zugunsten einer Wahlrechtsreform ausgaben. Und umgekehrt kritisierten konservative Kreise das ganze 19. Jahrhundert hindurch die Tätigkeit der Geschworenengerichte, auch noch zu einer Zeit, als es schon schwierig geworden war, das allgemeine Wahlrecht offen infrage zu stellen. Bereits zu Zeiten des Konsulats prangerten zahllose Schriften die »skandalösen Freisprüche« der Jurys an.11 Die Zahlen sind in der Tat frappierend. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts endeten nahezu 40 Prozent der angeklagten Gewaltverbrechen in Freisprüchen! In Fällen von Kindesmord und Abtreibung sprechen die Statistiken eine ähnliche Sprache. Viele Publizisten ereiferten sich in reaktionärer Rhetorik über die Unwissenheit, Launenhaftigkeit und Inkonsequenz dieses Geschworenenvolkes, das sich durch seine Leidenschaften mal zu rachsüchtiger Strenge, mal zu sträflicher Nachsicht verleiten ließe.12 Mitunter wurde auch der Gesetzgeber tätig und beschränkte den Zugang zu den Geschworenen in einer Weise, die an alte Vorbehalte gegen die Aufnahme bestimmter Bevölkerungsgruppen (Dienstboten oder bestimmte Kategorien von Unselbstständigen) in den Kreis der »Aktivbürger« erinnerte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhielten solche restriktiven Bestrebungen starken Auftrieb. Gabriel Tarde, einer der führenden Soziologen dieser Tage, legte beispielsweise seinen Zeitgenossen ans Herz, Geschworene durch wissenschaftliche Experten zu ersetzen.13 Eine ganze Schule antidemokratischer Rationalisten beteiligte sich an dieser Kampagne, die einsetzte, als das allgemeine Wahlrecht bereits zur unwiderruflichen Tatsache geworden war.14 Die Autoren warfen 11

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Vgl. die diesbezügliche Zusammenstellung von Pourcher, »Des assises de grâce?. Le jury de la cour d’assises de la Lozère au XIXe siècle«, sowie Claverie, »De la difficulté de faire un citoyen. Les ›acquittements scandaleux‹ du jury dans la France provinciale du début du XIXe siècle«. Vgl. Clauss, Le Jury sous le Consulat et le Premier Empire, sowie Esmein, Histoire de la procédure criminelle en France. Vgl. vor allem Tardes Ausführungen in La Philosophie pénale. Raymond Saleilles, einer der großen Juristen der Zeit, wurde im gleichen Sinne tätig. Vgl. Stern, Le Jury technique. Esquisse d’une justice pénale rationnelle.

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zwar die Frage auf, wie weit das »Geschworenenrecht« reicht, doch ging es unterschwellig auch um einen Konflikt sozialer Normen: Die Entscheidungen der Bürgerjurys wurden kritisiert, weil sie nicht mit dem in Einklang standen, was manche als gesetzes- oder sittenkonform empfanden.

Die Produktion konkurrierender Normen Die demokratische Funktion der Geschworenengerichte muss auch unter dem Gesichtspunkt der Produktion gesellschaftlicher Normen betrachtet werden. Wenn die Geschworenen bestimmte »Schuldige« freisprachen, brachten sie damit zum Ausdruck, dass nach ihrer Wahrnehmung eine Kluft zwischen dem Gesetz und der relativen Bedeutung der entsprechenden Delikte bestand. So wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Personen, die wegen Affekttaten (»Verbrechen aus Leidenschaft«) vor Gericht standen, häufig freigesprochen, während Eigentumsdelikte einer wesentlich systematischeren Ahndung unterlagen.15 Der Freispruch fungierte in den entsprechenden Fällen als De-facto-Korrektiv der im Parlament erlassenen Gesetze. Diese Art »wilder Rechtsprechung«, die sich bisweilen in den Entscheidungen der Geschworenen äußerte, war unmittelbarer Niederschlag eines weit verbreiteten Empfindens. In der Praxis schufen sich die Geschworenen damit ihren eigenen normativen Kosmos, mit ihrem eigenen Verständnis von Recht und Unrecht, ihrer eigenen Hierarchie der Verbrechen (besonders hinsichtlich der Gewichtung von personen- und eigentumsbezogenen Delikten) oder ihrem Anspruch, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. In diesem Sinne definierte ein Abgeordneter der Linken zur Zeit der Restauration die Entscheidung einer Jury als »Urteil des Landes selbst, in einem spontanen Akt sozialen Beistands«.16 Es war also wiederum der Konflikt zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, der sich hier geltend machte und eine weitere politische Dimension der Geschworenengerichte bezeichnete. In diesem Rah15

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Entsprechende Fakten finden sich bei Wolloch, The New Regime. Transformations of the French Civic Order, 1789–1820. Vgl. auch Donovan, »Justice Unblind, the Juries and the Criminal Class in France, 1825–1914«. Augustin Marie Devaux, in der Debatte zur Reform der Geschworenengerichte von 1827 (A.P., 2. Serie, Bd. 49, S. 194).

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men prallten konkurrierende Definitionen von Gerechtigkeit oder Vereinbarkeit mit der gesellschaftlichen Ordnung aufeinander. Um die daraus resultierenden Spannungen zu verringern, führte der Gesetzgeber 1832 den Begriff der mildernden Umstände ein und gab damit den Geschworenen die Möglichkeit, die vorgesehene Mindeststrafe für ein Delikt zu unterschreiten. Ziel war es, die Zahl der Freisprüche zu verringern, die, wie erwähnt, 30 bis 40 Prozent aller Urteile erreichen konnte, aber auch, die Diskrepanz zwischen »gebräuchlichen« und »gesetzlichen« Normen zu verschleiern. Nur wenige Jahre später, nämlich 1840, erkannten 68 Prozent aller Schwurgerichtsurteile solche mildernden Umstände zu!17 Mit anderen Worten, die Geschworenen hatten den Sinn der Maßnahme buchstäblich ins Gegenteil verkehrt. Die politische Dimension der Geschworenentätigkeit äußerte sich in Frankreich auch auf unmittelbar politischem Terrain. Zur Zeit der Revolution und des Ersten Kaiserreichs unterbanden die Bürgerjurys die meisten Fälle politischer Strafverfolgung, die ihnen vorgelegt wurden. Die Geschworenen widersetzten sich auf breiter Front den Bestrebungen der einander abwechselnden Regierungen, ihre Feinde vor ordentlichen Gerichten aburteilen zu lassen. Sogar während der Schreckensherrschaft: Nahezu drei Viertel der aus politischen Gründen Angeklagten wurden in dieser Zeit für unschuldig erklärt! Und die nachfolgende Periode des Thermidor war vom gleichen Geist des Freispruchs geprägt.18 Die Geschworenengerichte legten also eine unbestreitbare Unabhängigkeit an den Tag, sie gingen mitunter auf frontalen Konfrontationskurs zur Politik der Mächtigen oder ließen zumindest durchblicken, dass sich ihre Meinung in politischen Fragen deutlich von derjenigen der Politiker unterschied. Auch wenn es sich hierbei um komplexe und schwer zu interpretierende Phänomene handelt, so ist die Diskrepanz zwischen der »impliziten Politik« der Geschworenen und den Positionen der jeweiligen Regierungen an sich schon aussagekräftig. Das Verhalten der Jurys in presserechtlichen 17 18

Diese Wendung ist gut analysiert bei Schnapper, »Le jury français aux XIXe et XXe siècles«. Vgl. die diesbezüglichen Daten bei Allen, Les Tribunaux criminels sous la Révolution et l’Empire, 1792–1811.

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Verfahren bestätigte ihre Rolle als politisches Korrektiv. Die Tatsache, dass Pressedelikte nach 1819 (und wieder ab 1830, nach einer Unterbrechung) an Schwurgerichte verwiesen wurden, zeugt von der zentralen Rolle, die man den Jurys in diesem Bereich zuerkannte. Sie galten, auch unter diesem Gesichtspunkt, als politische Regulierungsinstanz. Insofern kann man tatsächlich davon sprechen, dass die Jurys ihre eigene Politik praktizierten, parallel zu der der Repräsentativregierung. Einmal mehr bildete sich ein regelrechter demokratischer Dualismus heraus. Und stellte für die Honoratioreneliten ein anhaltendes Ärgernis dar, vor allem nach der Eroberung des allgemeinen Wahlrechts. Ihre Lösung? Sie bestand ganz einfach darin, den Zuständigkeitsbereich der Schwurgerichte, und damit der Geschworenen, drastisch zu reduzieren. Ein Gesetz von 1894 übertrug eine ganze Reihe von Straftaten, die bis dahin vor Schwurgerichten verhandelt worden waren, auf die Strafkammern und legte sie damit in die Hände von Berufsrichtern. Im Zuge dessen wurden auch die Strafen in diesen Bereichen systematisiert, vereinheitlicht und erhöht. Zuvor waren Mörderinnen, wenn es sich um betrogene Ehefrauen oder verlassene Mätressen handelte, deren Taten als verzeihlich galten, häufig – und unter dem Applaus des Publikums – freigesprochen worden. Mit der Möglichkeit, solche Fälle an die Strafkammern zu verweisen, sank die Zahl der Freisprüche drastisch. Damit verringerte sich zugleich die Kluft zwischen dem spontanen sittlichen Empfinden der Unterschichten und der bürgerlichen Moral. Der gleiche Effekt trat auf spezifisch politischem Terrain ein, mit der Möglichkeit, manche Pressevergehen, vor allem aber eine ganze Reihe vermeintlich staatsgefährdender oder die Aufforderung zum militärischen Ungehorsam betreffender Delikte unter Ausschluss von Geschworenen zu verhandeln. Als Frankreich in den 1890er Jahren eine Welle anarchistischer Attentate erlebte, hatte die Regierung von eventuell nachsichtigen Geschworenen ohnehin nicht mehr viel zu befürchten.19 Mit der verbesserten Kontrolle von Gerichtsentscheidungen schalteten die republikanischen Eliten eine potenziell konkurrierende Macht aus. In dieser Hinsicht stellte

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Vgl. dazu die Ausführugnen von Machelon, La République contre les libertés?. Les restrictions aux libertés de 1879 à 1914, S. 426–447.

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Frankreich, wie zu betonen ist, keineswegs eine Ausnahme dar. Während das allgemeine Wahlrecht sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts europaweit durchsetzte, gerieten die Geschworenengerichte gleichzeitig überall unter heftigen Beschuss. In Spanien wurden sie abgeschafft, in Italien, England und Deutschland sahen sie sich massiver Kritik ausgesetzt.20 Ein Jahrhundert zuvor noch allseits gefeiert als eine der konkretesten Formen der Freiheit, mutierte die Jury nunmehr, zumindest in den Augen der Elite, zum Symbol für die Irrationalität der Massen. Die Dimension der Geschworenengerichte als demokratische Instanz war in den Vereinigten Staaten besonders ausgeprägt. Die Vorstellung, dass die Geschworenen die Aufgabe hätten, die Bürger vor den Übergriffen der Regierung zu schützen, war hier fester Bestandteil des nationalen Credos. Geschworene wurden als »Beschützer des Volkes« und »politische Akteure« verstanden.21 Wie in Europa trugen die Jurys zur »demokratischen« Entstehung gesellschaftlicher Normen bei, die sich von gesetzlichen Normen (in puncto Selbstverteidigung beispielsweise) unterschieden. Doch darüber hinaus hatten die Jurys in Amerika auch lange eine quasi-gesetzgeberische Funktion inne. Im 19. Jahrhundert billigten viele Bundesstaaten den Geschworenengerichten das verfassungsmäßige Recht zu, die Gesetze selbst zu prüfen. »The jury shall be judges of laws, as well as fact«, verfügte in diesem Sinne die (noch gemäßigte) Verfassung Pennsylvanias von 1790. Diese Sichtweise stammte noch aus der Kolonialzeit und war typisch für eine Epoche, in der das Geschworenengericht die einzige »repräsentativdemokratische« Institution darstellte. In Ermangelung einer echten Repräsentativregierung ermöglichten es die Urteile der Geschworenen (zum Beispiel in Sachen Pressefreiheit), eine von geltendem englischen Recht abweichende öffentliche Meinung zu formulieren. Diese Praxis blieb das ganze 19. Jahrhundert über vor-

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Vgl. die Aufsätze in Padoa Schioppa (Hg.), The Trial Jury in England, France, Germany, 1700–1900. »Populist protectors« und »political participants«: Diese Ausdrücke stammen aus dem Artikel von Amar, »The Bill of Rights as a Constitution«. Es gilt ferner zu bedenken, dass Geschworenengerichte in den USA auch im Zivilrecht zum Einsatz kommen.

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herrschend.22 So kam es mehrfach vor, dass Geschworenengerichte beispielsweise zentrale Bestimmungen des Fugitive Slave Act außer Kraft setzten. Diese damals sehr dominante Rolle der Jurys hing auch mit ihrer Dimension als lokaler Macht zusammen. In dem Maße, wie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine klarer strukturierte Nationalregierung herausbildete, verschwand diese quasi-gesetzgeberische Funktion der Jurys, obwohl sie als institutionelles Prinzip weiter latent vorhanden bleibt.

Schattenlegislatoren Geschworenengerichte sind nicht die einzige Möglichkeit zur diskreten sozialen Nachbesserung der vom Repräsentativsystem errichteten normativen Ordnung. Die französischen Conseils des prud’hommes, Schiedsgerichte für arbeitsrechtliche Streitfälle, sind in dieser Hinsicht ebenfalls von Interesse. Das Prinzip der paritätischen Besetzung dieser Gerichte mit Arbeiter- und Arbeitgebervertretern besteht seit 1848, doch die Institution als solche wurde bereits 1806, unter Napoleon, begründet und führte bemerkenswerterweise zur Legitimierung eines Systems betrieblicher Regelungen, das sich weit von der liberalen Rechtsordnung entfernte. Es waren seinerzeit die Chefs, die auf die Einführung von Regeln drängten, von denen sie sich eine Stabilisierung der Arbeitsbeziehungen versprachen, die zuvor durch eine zunehmende Zahl von Streitfällen empfindlich gestört worden waren. Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung gewann auch die Schaffung eines solchen eigenständigen Regelwerks an Bedeutung. So bildete sich auf dem Gebiet der betrieblichen Streitschlichtung ein pragmatisches Gerechtigkeitsverständnis im umfassenden Sinne heraus. Bereits in den 1830er Jahren begannen die ersten Arbeitervereine damit, die Entscheidungen der Arbeitsgerichte zu sammeln und Kompendien zu erstellen, die nicht bloß eine Kompilation von Gerichtsurteilen sein, sondern die Grundlagen eines regelrechten Gesetzbuches abgeben sollten. Arbeitshistoriker sprachen diesbezüglich von der Entstehung einer Quasi-Gesetzgebung und verwiesen darauf, dass die

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J. Abramson äußert sich ausführlich zu dieser Dimension in: We, the Jury, S. 74–95.

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Entscheidungen der lokalen Arbeitsgerichte sehr spezielle, halblegale Normen etablierten, die mit den herrschenden zivilrechtlichen Vorstellungen der Zeit brachen.23 Bezeichnenderweise schlossen sich die Pariser Gewerkschaften 1881 zu einem Comité central électoral et de vigilance zusammen, das ihre Tätigkeit vor den Arbeitsgerichten begleiten und koordinieren sollte.24 Daran, einen richtigen Gewerkschaftsverband zu gründen, dachten sie erst Jahre später (die CGT entstand 1895). Juristische Strategien im engeren Sinne, die darin bestehen, Fälle auszuwählen, die sich aufgrund ihrer speziellen Merkmale eignen, Grundsatzentscheidungen herbeizuführen, können ein weiterer Weg sein, die Gesellschaft (wenn auch nur peripher) zur Mitgestalterin der Gesetze zu machen, ein Weg, den die Gewerkschaften, auf sozialem Gebiet, schon lange für sich entdeckt haben.25 Dieser Ansatz ist besonders in solchen Ländern vielversprechend, in denen das Common Law gilt, in denen die Rechtsentwicklung also stark durch Präzedenzfälle geprägt wird. Das erklärt, warum sich viele amerikanische Vereine und Verbände vorzugsweise auf juristischem Terrain engagieren. Dabei verfolgen sie in der Regel eine zweigleisige Strategie: Die eher traditionellere besteht darin, Lobbyarbeit im Kongress zu betreiben, um Einfluss auf anstehende Gesetzesentscheidungen zu nehmen. Doch die eigentlich juristische Strategie, nämlich Grundsatzurteile in exemplarischen Fällen anzustreben, ist nicht minder bedeutsam. Die ACLU (American Civil Liberties Union) beschäftigt derzeit zu diesem Zweck nicht weniger als 150 Anwälte.26 Dieses massive Engagement zur Änderung der Gesetze über den Umweg der Gerichte ist möglicherweise effizienter als die direkte Unterstützung politischer Programme. Rechtsaktivisten avancieren so zu einer Art »Schattengesetzgebern«, die entscheidende Impulse setzen oder Kurskorrekturen vornehmen können. In den Vereinigten Staaten macht sich dies vornehmlich dort 23 24 25 26

Vgl. dazu die sehr anregenden Analysen von Cottereau, »Justice et injustice ordinaire sur les lieux de travail d’après les audiences prud’homales (1806–1866)«. Vgl. Bance, Les Fondateurs de la CGT à l’épreuve du droit, S. 188–191. Vgl. zum Beispiel das Referat der CFDT-Juristen: Murcier, »Le droit du travail dans la lutte des classes«. Vgl. Feher/Keenan/Krikorian, »Un civisme radical, entretien avec Anthony Romero, directeur exécutif d’ACLU «.

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bemerkbar, wo sich die ACLU schwerpunktmäßig engagiert, nämlich bei der Rechtsprechung rund um den Ersten Zusatzartikel zur Verfassung (der die Meinungsfreiheit garantiert). Einmal mehr kann man von einem Richtervolk sprechen, das, anders als bei der Wahl seiner Repräsentanten, direkten Einfluss auf die Gesetze nimmt. Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit ergänzen einander, das Gesetz bringt den Volkswillen auf doppelte Weise, über die Pluralität seiner Formen und seiner Zeitebenen, zum Ausdruck.

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Die Vorliebe für das Urteil Zur Verrechtlichung des Politischen Die Verschiebung von der Politik zum Strafrecht ist einer der am meisten analysierten und kommentierten Aspekte heutiger Demokratien. Manche Autoren sprechen diesbezüglich sogar von einer Verrechtlichung des Politischen. Diese Entwicklung hat viele Gründe. Der wichtigste liegt zweifellos in den veränderten Voraussetzungen politischer Verantwortlichkeit. Das ist ein komplexes und facettenreiches Phänomen, bei dem mehrere Faktoren ins Spiel kommen. Im Kern kann man derer zwei unterscheiden. Der erste hängt mit dem Charakter der politischen Institutionen selbst zusammen. Die Übertragung des Strafrechts auf das öffentliche Leben ist demnach in solchen Ländern besonders ausgeprägt, deren politisches System schwach und instabil ist oder deren institutionelle Widersprüche eine seriöse Wahrnehmung politischer Verantwortung erschweren. In Europa ist Italien ein Musterbeispiel für ersteren Fall: Hier stiegen die Richter zu politischen Akteuren auf, weil das politische System unfähig war, sich selbst zu regulieren und die Erwartungen der Gesellschaft zu erfüllen. Frankreich wiederum laboriert an einem konstitutionellen Mangel: Die schlecht organisierte Doppelherrschaft zwischen Premierminister und Staatspräsident an der Spitze des Staates hat dafür gesorgt, dass Letzterer praktisch niemandem verantwortlich ist. Außerdem hat die relative Schwäche des Parlaments dazu beigetragen, dass der Präsident einer ganzen Reihe von Kontrollmechanismen enthoben ist, denen die Exekutive in anderen Ländern unterliegt.1 Die Konstruktionsfehler in

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Zu den Defiziten politischer Verantwortungswahrnehmung in Frankreich vgl. vor allem die Arbeiten von Olivier Beaud: »La responsabilité politique face à la

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der Verfassung der Fünften Republik haben aber lediglich allgemeine Veränderungen beschleunigt, die sich in allen Demokratien bemerkbar machen. Im weiteren Sinne hängt die Verrechtlichung des Politischen mit der nachlassenden Fähigkeit der Regierungen zusammen, auf die Forderungen ihrer Bürger einzugehen. Je weniger die Regierungen bereit scheinen, den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen (Prinzip der responsiveness), umso mehr drängen die Bürger darauf, sie penibel zur Rechenschaft zu ziehen (Prinzip der accountability). Wir befinden uns hier im Übergang von der repräsentativen Konkurrenzdemokratie zur Beschuldigungsdemokratie. Das Modell der Konkurrenzdemokratie, basierend auf inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen Parteien, Programmen und Projekten ist, zumindest vorübergehend, in die Krise geraten durch den Verlust traditioneller Orientierungspunkte in der entstehenden postindustriellen Gesellschaft. Allerdings hat dieser Trend zur Verrechtlichung seine Ursachen auch in den immer undurchsichtigeren Entscheidungsprozessen und den zunehmend komplexer werdenden Regierungsstrukturen. Es ist immer schwerer herauszufinden, wer wirklich für eine bestimmte Entscheidung verantwortlich ist. Insofern ist die Zuschreibung von Verantwortlichkeit selbst problematisch geworden. Es gibt zu viele Beteiligte bei jeder Sache, zu viele Instanzen, die sich gleichzeitig mit ein und demselben Problem befassen, als dass der Bürger noch den Durchblick behalten könnte.2 Der Anbruch der »Risikogesellschaft« verschärft dieses Zurechnungsproblem noch zusätzlich und befördert die Suche nach vermeintlich besseren und geeigneteren Haftungsformen. Deshalb tendieren die Bürger bisweilen dazu, von einem Gerichtsverfahren die Resultate zu erwarten, die sie sich von Wahlen vergeblich

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concurrence d’autres formes de responsabilité des gouvernants«; Le Sang contaminé. Essai critique sur la criminalisation de la responsabilité des gouvernements; und zusammen mit Jean-Michel Blanquer, »Le principe irresponsabilité. La crise de la responsabilité politique sous la Ve République«. Zur Zurechnungsproblematik in einer komplexen Gesellschaft vgl. Thompson, »Moral Responsibility of Public Officials. The Problem of Many Hands«, und Bovens, The Quest for Responsibility. Accountability and Citizenship in Complex Organisations.

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erhofft hatten3. Da niemand mehr vorhanden ist, der sich seiner politischen Verantwortung stellt, sucht man auf rechtlichem Wege einen Schuldigen dingfest zu machen. Es ist somit das Gefühl, dass die Politik, in all ihren Formen, versagt hat, was dazu motiviert, den Ort, an dem die Regierenden zur Verantwortung gezogen werden, von der Öffentlichkeit in den Gerichtssaal zu verlegen.4 Dass die Bürger vermehrt auf das Strafrecht setzen, um den Ausfall politischer Verantwortung zu kompensieren, wurde zumeist dahingehend interpretiert, dass die Richter in demokratischen Gesellschaften immer mehr Macht ausüben. In der Forschung und den Medien hat sich bereits der Begriff der »Richterherrschaft« eingebürgert, um diese Entwicklung zu beschreiben. Mittlerweile türmt sich ein riesiger Berg an Literatur zu diesem Thema auf,5 wobei sich besorgte Kommentare, die einen Schwund an Volkssouveränität attestieren, und optimistischere Analysen, die einen Trend zu fortschreitender Rechtsstaatlichkeit zu erkennen glauben, die Waage halten. Sicherlich variieren die Einstellungen und Reaktionen von Land zu Land. Die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und Italien, um nur diese vier zu nehmen, weisen spezifische Unterschiede auf, die mit der Geschichte und den Institutionen ihres Landes zusammenhängen.6 Dennoch gibt es einen Allgemeinbefund, der für alle gilt, und Fragestellungen, die sich ähneln. Bei all der Aufmerksamkeit, die dem Bedeutungszuwachs der Richter und der Stärke des Rechtsstaats in der Demokratie zuteil wird, gerät eine zentrale Frage gemeinhin aus dem Blick: die nach den Charakteristika der Urteilsfindung. Denn hinter dem Richter steht immer das Urteil als Resultat seines Be-

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6

Einen Überblick über dieses Problem verschafft Mulgan, Holding Power to Account. Accountability in Modern Democracies. Vgl. Garapon/Salas, La République pénalisée. Für eine erste Annäherung vgl. Davis, »A Government of Judges. An Historical Review« (ihm zufolge stammen die ersten Belege für diesen Ausdruck aus den 1920er Jahren), sowie Brondel/Foulquier/Heuschling (Hg.), Gouvernement des juges et démocratie. Bei einem internationalen Vergleich wären eine Reihe von Faktoren in Betracht zu ziehen: ob es ein System der Geschworenenauswahl gibt, ob die Möglichkeit besteht, einen Hohen Gerichtshof zu bilden, in dem Parlamentarier als Richter fungieren, usw.

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mühens. Was sich in heutigen Demokratien als diffuses soziales Verlangen äußert, ist, so gesehen, vielleicht in erster Linie der Wunsch nach einem Urteil. Das Urteil ist ein Akt öffentlichen Handelns, eine Art, das Gemeinwohl anhand eines speziellen Falles vorzuführen. Die Verrechtlichung des Politischen, wie sie inzwischen üblicherweise genannt wird, darf somit nicht auf eine bloße Frage institutioneller »Konkurrenz« zwischen Richtern und Repräsentanten um die Ausübung legitimer Macht verkürzt werden. Aus dem Wunsch nach einem Urteil spricht mehr als bloße Enttäuschung über die »Wahlpolitik«. Seine eigentliche Bedeutung ergibt sich aus der Tatsache, dass ein Urteil eine spezifische Art von Entscheidung ist. Um das Urteil in seiner Besonderheit besser zu verstehen, empfiehlt sich ein Vergleich mit den Funktionsmerkmalen der Wahlpolitik. Hierzu bieten sich fünf Vergleichselemente an: die Rechtfertigungsbedingungen, das Verhältnis zur Entscheidung, die Einstellung zum Handeln, die Form der Theatralität und das Verhältnis zum Partikularen.

Das Rechtfertigungsgebot Verantwortung wahrzunehmen heißt, Rechenschaft über sein Tun abzulegen. Doch die Art dieser Selbstrechtfertigung ist eine grundlegend andere, je nachdem, ob man vor Gericht steht oder um Wählerstimmen wirbt. »Den Raum des Zweideutigen verlässt man nur auf eigene Gefahr«, pflegte der Kardinal de Retz zu sagen. Diese Maxime gilt umso mehr in der Politik, wo die Kunst der Verstellung, die Möglichkeit, Entscheidungen aufzuschieben, oder das Geschick, sich nicht festlegen zu lassen, eine entscheidende Rolle spielen. Es ist geradezu ein strukturelles Gebot des politischen Lebens, solche Zweideutigkeiten, die eine Schutz- und Ablenkungsfunktion haben, zu fördern. Es kann natürlich sein, dass die umgekehrte Strategie, nämlich »Klartext zu reden«, vergleichbare Vorteile bietet. Doch wie aufrichtig eine solche Verpflichtung zur Wahrheit ist und wie weit sie reicht, bleibt für den Wähler schwer einschätzbar. Ganz anders vor Gericht: Dort sind die Prozessbeteiligten gezwungen, ihr Verhalten öffentlich zu erklären und zu rechtfertigen. Ablenkungsmanöver sind nicht möglich. Im Vergleich zum Agieren auf der politischen Bühne könnten die Voraussetzungen nicht unterschiedlicher sein. In einem Prozess kommen alle Kontrahenten gleichermaßen zu Wort, das Verfahren beginnt erst 209

nach einer sorgfältigen Ermittlung der Fakten, und die Streitparteien müssen sich einem Prozedere unterwerfen, das sie nicht kontrollieren. Zudem können Nachfragen zu den Fakten nicht verhindert oder abgelehnt werden. Gerichtsverfahren und Wahlkampf unterscheiden sich also beträchtlich hinsichtlich der Umstände der Auseinandersetzung, der Rechtfertigungsstrategien und der Art der Entscheidungsfindung. Aus diesem Grund sind auch die juristische und die politische Rhetorik grundverschieden. Erstere ermöglicht, Verantwortung methodischer und transparenter zu prüfen. Die »Zurechnungsketten«, um mit Hans Kelsen zu sprechen, können genauer und systematischer nachvollzogen werden. Darüber hinaus müssen Gerichtsentscheidungen häufiger begründet sein. Allerdings sollte man sich davor hüten, das juristische Prozedere zu idealisieren. Besonders die Sorgfalt der Argumentation lässt häufig zu wünschen übrig, und das Ziel der Transparenz wird selten in vollem Umfang erreicht. Dennoch wird ein Prozess den gesellschaftlichen Erwartungen einfach deshalb gerecht, weil er die Fakten sowie die Absichten und Verhaltensweisen der beteiligten Parteien einem geregelten Untersuchungsverfahren unterwirft. Aus all diesen Gründen stellt sich bei den Bürgern das Gefühl ein, dass sich ein Politiker einem Gerichtsurteil nicht so leicht entziehen kann wie den Sanktionen der Wähler. Deshalb richten sie ihre Forderungen manchmal lieber an die Justiz als an die Politik und verbinden mit dieser Hinwendung zur Justiz auch höhere Erwartungen. Viele gehen auch stillschweigend davon aus, dass Richter und Geschworene besser informiert sind als Wähler und deshalb ihre Urteile vernünftiger begründen können. Ein Gerichtsurteil vereint somit das Gleichheitsgebot der Demokratie mit einem gewissen Bedürfnis nach Sachverstand und eröffnet eine Art »dritten Weg«, jenseits der antagonistischen Modelle von Zahl und Vernunft. Ein Richterspruch ist deshalb eine Form von Entscheidung, die als ausgereifter wahrgenommen wird als jene, die ein Wahlausgang herbeiführt, und hat schon deshalb größeres Gewicht, weil die Konsequenzen, die er nach sich zieht, im Allgemeinen gravierender sind. Neben dem Wahlprozess, aus dem sich ein Gemeinwille herauskristallisiert, leistet die Rechtsprechung somit einen ebenso unverzichtbaren Beitrag zur Realisierung eines demokratischen Lebens. 210

Die Pflicht zur Entscheidung Die Rechtsprechung wird häufig mit anderen Staatstätigkeiten verglichen. Tatsächlich haben Regieren und Urteilen das gleiche Ziel, durch Eingriffe in das Leben der Gesellschaftsangehörigen das Gemeinwohl zu fördern. Dennoch sind juristische und politische Entscheidungen verschieden. Eine Regierungsentscheidung ist oft nur ein Schritt in einer langen Reihe von Maßnahmen und Plänen, Teil einer Politik, die darauf abzielt, Chancen und Perspektiven zu eröffnen. Dennoch sind politische Entscheidungen häufig eher Mangelware. »Politik ist die Kunst, sich nicht entscheiden zu müssen«; »es gibt kein Problem, dass die Zeit nicht von alleine löst«. Derartige Sprüche offenbaren, was viele Leute von der Politik halten. Und Belege für einen solchen Hang zur Entschlusslosigkeit gibt es mehr als genug. Nichts dergleichen auf juristischem Terrain. Ein Gericht kann sich nicht weigern, ein Urteil zu fällen, weil der Fall, um den es geht, heikel oder umstritten ist. Im Gegenteil: Gerade weil eine Sache schwer zu entscheiden ist, wendet man sich an ein Gericht. In Frankreich verpflichtet Artikel 4 des Bürgerlichen Gesetzesbuchs die Richter ausdrücklich dazu, ein Urteil zu fällen, auch wenn der Gesetzestext, auf den sie sich beziehen müssen, unklar oder lückenhaft ist – ansonsten machen sie sich der Justizverweigerung schuldig.7 Sobald sie mit einer Sache betraut sind, müssen sie entscheiden, auch wenn kein Paragraf auf ihren Fall anwendbar ist und ihnen nichts übrig bleibt, als auf Prinzipien des Naturrechts zurückzugreifen. Das Besondere an einer Justizentscheidung ist, dass sie einen Disput beendet, Verantwortung zuweist und eine Strafe verhängt. Sie schlichtet ein für alle Mal den Konflikt und setzt einen Schlusspunkt. Ein Urteil hat den Effekt, dass es die Unsicherheit beseitigt. »Das Urteil«, schreibt Paul Ricœur in diesem Sinne, »geht aus einem Zusammenwirken von Verstand und Wille hervor: Der Verstand wägt wahr und falsch ab, der Wille entscheidet. Wir sind somit zur eigentlichen 7

Artikel 4 des französischen Code civil lautet: »Wenn ein Richter, unter dem Vorwand, dass es keine gesetzliche Regelung gibt bzw. diese unklar oder unzureichend ist, sich weigert, ein Urteil zu fällen, macht er sich der Justizverweigerung schuldig.« Der Begriff der »Justizverweigerung« ist also von dem der Justiz nicht trennen. Von »politischer Willensverweigerung« hat man hingegen noch nie gehört.

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Bedeutung des Wortes ›urteilen‹ gelangt: nicht nur zustimmen, meinen, für wahr halten, sondern letztendlich Stellung beziehen.«8 Die indo-europäische Etymologie des Wortes bestätigt diese Definition: Das Urteil ist ein Akt der Setzung, Gründung, Organisierung der Welt.9 Jenseits seiner unmittelbar rechtlichen Dimension ordnet es sich also einem weit größeren Kontext zu. Im mittelalterlichen judicium schwingt noch der Bezug zum Gottesgericht mit. Das Urteil ist somit Teil eines transzendenten und souveränen Geschehens. Es ist radikaler und extremer Ausdruck der menschlichen Macht, die Welt einzurichten.10 Etwas davon hat sich bis in die heutige Welt erhalten, zumindest hinsichtlich der Politik. Gegenüber der Entscheidung durch die Masse und dem politischen Prinzip der Selbstbegründung manifestiert sich im Urteil die Existenz einer anderen Art des Umgangs der Menschen miteinander, durch die sie eine gemeinsame Welt erschaffen. Innerhalb der notwendigen Dialektik von effizienter Entscheidung und demokratischer Beratung entspricht sie einem spezifischen Moment und einem spezifischen Modus der Herausbildung des Gemeinwesens.

Der aktive Betrachter Eine politische Entscheidung ist gemeinhin ein Versprechen für die Zukunft. Ein Urteil hingegen wendet sich der Vergangenheit zu. Daraus bezieht es seine Macht und seine Wirksamkeit. Hannah Arendt hat in ihren Werken Das Urteilen und Vita activa oder Vom tätigen Leben speziell auf diesen Punkt aufmerksam gemacht. In Vita activa erinnert sie daran, dass die Bedeutung eines Ereignisses erst klar wird, wenn es bereits geschehen ist. Der Handelnde sei deshalb immer blind, sein Verständnis der Dinge könne nur ein vorläufiges, begrenztes und verzerrtes sein. Der Betrachter hält dagegen alle Karten in der Hand, sein Blickfeld reicht weiter. Der Richter ähnelt in dieser Hinsicht dem Betrachter und dem Historiker. In beiden Fällen ist Distanz 8 9 10

Ricœur, »L’acte de juger«, S. 186. Vgl. Benveniste, Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, S. 369ff. Vgl. dazu die grundlegenden Artikel von Jacob, »Le jugement de Dieu et la fonction de juger dans l’histoire judiciaire européenne«, und »Judicium et le jugement. L’acte de juger dans l’histoire du lexique«.

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eine notwendige Voraussetzung für Unparteilichkeit. Doch dabei lässt es Arendt nicht bewenden. Zwar drückt sich in ihrer Position unbestreitbar eine gewisse Enttäuschung über die Politik aus, doch ist sie andererseits auch darum bemüht, diese zu überwinden, indem sie das Urteilen als Tätigkeit in den erweiterten Rahmen einer gesellschaftlichen Interaktion stellt, die auf die Erzeugung gemeinsamer Werte abzielt. Darin unterscheidet sich der Richter vom Historiker. Er ist zwar auch ein Betrachter, aber ein aktiver Betrachter, dessen Engagement zur Definition und Ordnung des Gemeinwesens beiträgt.11 Im Sinne dessen, worum es mir in diesem Buch geht, könnte man somit auf Grundlage des Urteilsbegriffs eine mittlere Kategorie zwischen positiver Wahlpolitik und prohibitiver Souveränität definieren. Im Übrigen bedarf selbst der Handelnde der reflektierten Sichtweise eines Betrachters, um in vollem Umfang existieren zu können. Ohne Narrativ, das es begleitet und hinterfragt, ist kein Handeln möglich, es sei denn als Traum von der reinen und unmittelbaren Aktion, die aber, wie die Geschichte zeigt, in die Sackgasse führt.12 Das Urteil legt somit auch eine andere Auffassung von Politik nahe, sodass man von einer regelrechten »Urteilspolitik« sprechen könnte. Urteilen heißt, sich selbst und andere infrage zu stellen. Urteilen heißt nicht, den anderen eine Botschaft zu übermitteln oder sie über ihre wahre Lage aufzuklären, wie es ein politischer Aktivist tun würde. Es bedeutet zuallererst, die normative Geltung einer Gemeinschaft auf den Prüfstand zu stellen, besonnen an den grundlegenden Beziehungen zu arbeiten, die sie zu dem machen, was sie ist.13 Das Urteil erfüllt somit eine genuin politische Instituierungsfunktion, die der üblichen »Willenspolitik« der Wahlen und des Regierungshandelns fehlt. Denn die Funktion des Urteils kommt, hellsichtigerweise, dort zum Tragen, wo sich das Ideal von der Wirklichkeit trennt. Die Unterscheidung zwischen Urteils- und Willenspolitik, die unter funktiona11

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Zur Rolle des Betrachters bei Hannah Arendt vgl. Bilsky, »When Actor and Spectator Meet in the Courtroom. Reflections on Hannah Arendt’s Concept of Judgement«. Siehe auch Beiner, »Hannah Arendt über das Urteilen«. Allein der Aufstand ist unreflektiert. Vgl. dazu meine Ausführungen in La Démocratie inachevée (Kapitel »La culture de l’insurrection«). Ich bediene mich hier der Formulierungen von Howard, Pour une critique du jugement politique, S. 291–297 und S. 302–306.

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len Gesichtspunkten erfolgt, hat damit letzten Endes auch eine soziologische Dimension. Sie entspricht der Kluft zwischen dem »einigen Volk« und dem republikanischen Ideal; sie bezeugt die Realität einer gespaltenen Gesellschaft; sie steht für die Spannung zwischen dem Bürger und dem Individuum.

Die Macht der Theatralität Jede Macht muss inszeniert werden, um ihrem Anspruch eine sichtbare und fühlbare Gestalt zu geben und ihre Autorität durchzusetzen. Deshalb sind die diversen Souveränitätsrituale so wichtig. Sie setzen Nähe und Ferne zueinander in Beziehung, betonen das Majestätische, lassen Schutzbereitschaft erkennen. »Jede politische Macht erreicht Unterwerfung letztlich auf dem Weg der Theatralität«, so ein scharfsichtiger Beobachter solcher Rituale.14 Auf eine allerdings ganz andere Weise ist die politische Betätigung selbst eine Form von Inszenierung, insofern sie an der Selbstdarstellung der Gesellschaft teilhat und nach einem öffentlichen Raum verlangt, in dem Austausch und Auseinandersetzung stattfinden können.15 Historisch betrachtet verdankt das Experiment demokratischer Politik dieser letzteren Dimension seine Entstehung. Das bezeugt auf exemplarische Weise die Rolle des Theaters in der antiken griechischen Polis. Bekanntlich war das Theater einer der wesentlichen Orte gesellschaftlicher Selbstreflexion und einzigartiger Ausdruck eines Kollektivs, das öffentlich an den Grundlagen seines geistigen und gemeinschaftlichen Lebens arbeitete.16 Allerdings wurde diese Dimension des Politischen oft verschleiert, vernachlässigt und sogar verleugnet. Das kann von der Rechtsprechung nicht behauptet werden, die schon strukturell eine Form von Theatralität beinhaltet. Ein Gerichtssaal ist, mit Bentham zu sprechen, ein »Justiztheater«.17 Alles ist so arrangiert, dass eine übersichtliche Bühne entsteht, 14 15

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Balandier, Le Pouvoir sur scènes, S. 23. Hannah Arendt, um noch einmal auf sie zurückzukommen, definiert in diesem Sinne die Politik aus einer phänomenologischen Perspektive als Selbstoffenbarung an einem Ort des Scheins. Das ist das Thema des klassischen Werkes von Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. Bentham, Rationale of Judicial Evidence, S. 354.

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auf der die verschiedenen Akteure die ihnen zugewiesenen Plätze einnehmen. Insbesondere dem Publikum kommt dabei eine herausragende Stellung zu. Die Anwesenheit von Zuschauern ist sogar die große historische Konstante. Das erklärt, warum Aufsehen erregende Prozesse überall und zu allen Zeiten bedeutende gesellschaftliche Ereignisse waren. Öffentlichkeit war stets ein wesentliches Kriterium, selbst wenn die Verfahren alles andere als unvoreingenommen, ja selbst wenn sie eine reine Farce waren.18 Die Gerichtssäle wurden dementsprechend wie Theaterräume angelegt. Es ist faszinierend zu beobachten, dass Architekten sich seit zweihundert Jahren den Kopf darüber zerbrechen, wie man dem demokratischen Gedanken einer öffentlichen Rechtsprechung eine räumliche Form verleihen kann. Die Französische Revolution kann in dieser Hinsicht mit einem außerordentlich reichhaltigen Repertoire an Experimenten und Projekten aufwarten. Bemerkenswert ist, dass die meisten Pläne aus dieser Zeit den Zuschauern viel Platz zugestehen. Dabei werden Letztere keineswegs als zufällig anwesende Schaulustige behandelt. Vielmehr ist in den Skizzen oft von einem »dem Volk vorbehaltenen Bereich« zu lesen, was die Absicht verdeutlicht, die Bürger in eine Rechtssphäre zu integrieren, die ihren Teil zur Entstehung des Gemeinwillens beitrug.19 In diesem Zusammenhang ist ein Vergleich zwischen den Plänen für Gerichtssäle und den diversen Entwürfen für Parlamentskammern höchst aufschlussreich. Zwar sind in den Plänen für diese Kammern auch Zuschauertribünen vorgesehen, doch ihre Bedeutung ist sekundär, die Architektur konzentriert sich ganz auf die Einteilung des Raumes für die Parlamentarier. Im Parlament, könnte man sagen, sind die gewählten Repräsentanten alles, das Publikum ist nichts. Im Gericht ist die Repräsentation, verkörpert durch den Richter, bescheidener und rein »funktional«, während das Publikum, selbst wenn es sich passiv verhält, im Mittelpunkt steht. Es sind also zwei verschiedene Ökonomien sozialer Präsenz, die hier in Erscheinung treten. 18

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Vgl. dazu Kadri, The Trial. A History from Socrates to O. J. Simpson, sowie Ball, »The Play’s the Thing. An Unscientific Reflection on Courts under the Rubric of Theater«. Vgl. beispielsweise den bei Wolloch, The New Regime, S. 360, abgedruckten Plan. Siehe auch: Association française pour l’histoire de la justice, La Justice en ses temples. Regards sur l’architecture judiciaire en France.

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Ein Gerichtshof tut also mehr, als nur die Fälle zu verhandeln, die ihm vorgelegt werden. Sein Ritual fungiert als gesellschaftliche Institution.20 Es trägt dazu bei, die Ordnung der Welt und ihre Normen wiederherzustellen. Bei allen landestypischen Unterschieden – etwa zwischen dem französischen Verständnis des Gerichtssaals als heiliger Bezirk und dem amerikanischen als Werkstatt zur Arbeit an einem gemeinsamen Projekt21 – erfüllt die Rechtsprechung eine Dimension der Demokratie mit Leben, die ansonsten brachliegen würde.

Der Raum des Exemplarischen Die Effektivität des Urteils, die das Publikum fasziniert, hängt schließlich mit der Tatsache zusammen, dass es sich per definitionem mit Einzelfällen befasst. Und zwar nicht irgendwelchen Einzelfällen, sondern exemplarischen Fällen, extremen Fällen. Auf diese Weise zieht es die Grenzen des Möglichen, setzt Haltepunkte, versucht, der Welt einen Sinn zu geben. Das Urteil unterscheidet sich zugleich von der legislativen Dimension des Politischen, die auf Allgemeinheit abzielt, und dem Regierungshandeln, das den Umgang mit der endlosen Vielzahl von Situationen zum Gegenstand hat. Das Urteilen, betont Hannah Arendt in diesem Sinne, sei »das Vermögen, das Besondere und das Allgemeine auf geheimnisvolle Weise miteinander zu verbinden«.22 Dieses Spannungsverhältnis entspricht einem offenen und konstruktiven Verständnis der Suche nach dem Gemeinwohl. Anders als bei einer »Vernunft« oder einem »Willen« als vermeintlich unmittelbar gegebenen und in sich geschlossenen Einheiten, spricht aus der wachsenden sozialen Nachfrage nach dem Urteil eine pragmatische und pluralistische Sicht des Allgemeininteresses.23 Die Kategorie des Urteils als Entscheidung bietet deshalb eine Lösung für die Aporie, die Platon in Der Staatsmann diskutiert. An einer

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Vgl. Bourdieu, »Les rites d’institution«. Vgl. dazu und zum rituellen Charakter der Justiz im Allgemeinen die anregenden Bemerkungen von Garapon, Bien juger. Essai sur le rituel judiciaire. Arendt, Das Urteilen, S. 101. »Government by adjudication« (Regieren durch Urteilen), notiert Roland Dworkin in diesem Zusammenhang, eigne sich gut für multikulturelle Gesellschaften. Vgl. Dworkin, »Un pontificat laïc«.

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Stelle des Dialogs spricht Platon davon, dass die Vorstellung, das Gesetz reiche zum Regieren, eine Illusion sei24: »Weil ein Gesetz wohl niemals in der Lage ist, genau das zu enthalten, was für alle gleichzeitig am besten und am gerechtesten ist, und so die geeignetsten Vorschriften zu erlassen. Denn die Ungleichheiten der Menschen und ihrer Handlungen und die Tatsache, daß sozusagen nichts von den menschlichen Dingen je einen ruhigen Bestand hat – das alles läßt nicht zu, daß auf irgendeinem Gebiet etwas Einfaches für alle Fälle und für alle Zeit als die gültige Kunst erscheinen kann.«25 Gleichwohl strebe jede Macht nach einem solchen abstrakten Universalismus, nach einer solchen Form von »Einfachheit«, weil sie der Beweis einer absoluten Fähigkeit wäre, die Welt zu bewegen und die Menschen vollkommen zu regieren. Platon kritisiert diesen Machtanspruch des Allgemeinen über eine Realität, die nur aus Besonderheiten besteht. Für ihn befindet sich die Welt in stetiger Erneuerung, stetiger Bewegung; sie ist ihrem Wesen nach Vielfalt, in ihrer Komplexität, vor allem aber vielleicht aufgrund ihrer Geschichtlichkeit. Die nomokratische Illusion, die er missbilligt, resultiert in seinen Augen letztlich aus einer Kombination aus (politischer) Anmaßung und (kognitiver) Ignoranz. Müsse man aber, um sich von dieser ebenso gefährlichen wie trügerischen Vision zu befreien, zu einer bescheideneren Auffassung der Regierungskunst zurückkehren, basierend auf der Klugheit und dem Pragmatismus eines »königlichen Mannes«, der auf die Vielfalt der Situationen und die Verschiedenheit der Lebensumstände Rücksicht nimmt? Platon verwirft auch diese Lösung. Einen solchen Führer könne es nicht geben, denn es müsste sich um eine Art Arzt handeln, der sich ständig um alle Patienten zugleich kümmert! Das sei nur eine weitere Illusion, vor der man sich hüten müsse. Politik im Sinne Platons ist somit gefangen zwischen den beiden gleichermaßen unbefriedigenden Alternativen von strikter Nomokratie und reiner Verwaltungskunst. Die moderne Welt hat dieses Dilemma geerbt und in

24 25

Ein sehr anregender Kommentar zu diesem Text stammt von Cornelius Castoriadis, in: Sur »Le Politique« de Platon, S. 155–173. Platon, Der Staatsmann, 294b, S. 288. Aristoteles verweist in der Nikomachischen Ethik auf das gleiche Spannungsverhältnis.

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seinen Ausprägungen sogar noch verschärft. Hier bietet sich nun die Kategorie des Urteils als Lösung an: Es verbindet auf funktionale Weise das Besondere mit dem Allgemeinen durch eine Strafe (oder einen Freispruch) von einer gewissen Beispielhaftigkeit. Das Urteil fördert die Entstehung demokratischer Verhältnisse auch dadurch, dass es Fakten und Werte zusammenbringt und die Situationen des gesellschaftlichen Lebens im Lichte der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien lesbar macht. Daher ist das Urteil auch ein Ausdruck politischer Pädagogik. Die hier beschriebenen fünf Merkmale und Eigenschaften des Urteils machen begreiflich, worin das Besondere seines Beitrags zum demokratischen Prozess besteht. Dieser Beitrag ist weit mehr als eine bloße Konsequenz aus der Tatsache, dass dem Recht die Aufgabe zukommt, die bürgerlichen Freiheiten zu schützen. Das Urteil spielt auch eine aktive Rolle beim Aufbau des Gemeinwesens.

Wählen und Urteilen Wählen und Urteilen sind zwei Möglichkeiten, auf die Struktur des gesellschaftlichen Lebens Einfluss zu nehmen. Freilich besteht eine Asymmetrie zwischen dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts, das Abstimmungen regelt, und dem Prinzip der übertragenen Befugnisse, auf dem das Richteramt beruht. Doch ist der Abstand bei näherem Hinsehen nicht so groß, wie ein Blick auf die vermittelnde Gestalt des Bürgergeschworenen verrät, der in mancherlei Hinsicht sogar mit mehr Macht ausgestattet ist als der Wahlbürger. Davon zeugt auch die Tatsache, dass die Vorgänge in den Gerichtssälen in der Öffentlichkeit häufig besser bekannt sind als das, was im Parlament geschieht. Nur ein sehr enges Verständnis von Repräsentation und Legitimität kann dazu führen, eine strikte Hierarchie zwischen diesen beiden Funktionen anzunehmen. Dem allgemeinen Wahlrecht bleibt zwar in politischen Dingen allemal die »Macht des letzten Wortes« vorbehalten, doch in der demokratischen Alltagsroutine gehen politische und rechtliche Entscheidungen ständig durcheinander. Ihre jeweiligen Besonderheiten sind, wie wir gesehen haben, eher funktionaler Art, und sie ergänzen sich auch in funktionaler Hinsicht. Deshalb lässt die alte Frage, ob es eher ein Vorteil oder ein Nachteil wäre, Richter zu wählen, das Problem der gesellschaftlichen 218

und politischen Funktion des Urteils weitgehend unberührt.26 Es kommt nach wie vor wesentlich darauf an, das Besondere des Urteils in seiner Eigenschaft als politische Form zu reflektieren, um die Gründe zu verstehen, warum sich die Bürger immer mehr von ihm erwarten. In diesem Zusammenhang verdient die Frage der »konkurrierenden Urteile« unsere Aufmerksamkeit. Darunter ist die Tatsache zu verstehen, dass sich möglicherweise eine Diskrepanz auftut zwischen der strafrechtlichen Verurteilung eines Politikers, zum Beispiel wegen Unterschlagung – was zu seinem Ausschluss von allen Wahlämtern führen kann –, und der zeitnah folgenden politischen Beurteilung derselben Person durch den Wähler.27 In Frankreich hat es seit den 1990er Jahren mehrere derartige Fälle gegeben. Die Auswirkungen von Korruptionsvorwürfen gegen einen Kandidaten auf das Wahlverhalten sind wiederum von amerikanischen Politikwissenschaftlern gründlich untersucht worden.28 Es scheint so, als würden die Wähler mit der Wiederwahl eines strafrechtlich verurteilten Kandidaten dessen kriminelle Handlungen billigen. Doch eine solche Interpretation ist nicht zwingend. Man wird den Wählern nicht ohne Weiteres bescheinigen können, dass sie sich amoralisch oder zynisch verhalten. Um ihr Votum zu verstehen, sind vielmehr die Wechselwirkungen zwischen Urteil und politischer Repräsentation zu berücksichtigen. Die Konkurrenz von politischem und strafrechtlichem Urteil steht hier im Kontext einer Art Umkehrung der üblichen Vorwürfe seitens der Wähler, schlecht repräsentiert zu werden. Denn es ist im Allgemeinen ein ausgeprägter »Klientelismus«, der erklärt, warum die Verbundenheit der Wähler mit einem Politiker, der viel für sie tut, schwe-

26 27 28

Vgl. Krynen (Hg.), L’Élection des juges. Étude historique française et contemporaine. Vgl. den von Éric Doidy untersuchten Fall in: Doidy, »Ne pas juger scandaleux. Les électeurs de Levallois-Perret face au comportement de leur maire«. Vgl. den grundlegenden Artikel von Rundquist/Strom/Peters, »Corrupt Politicians and their Electoral Support. Some Experimental Observations«. Für einen Überblick über die Literatur zum Thema vgl. Bezes/Lascoumes, »Percevoir et juger la ›corruption politique‹. Enjeux et usages des enquêtes sur les représentations des atteintes à la probité publique«.

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rer wiegt als die moralischen Bedenken wegen seiner kriminellen Taten. Die konkurrierenden Urteile reflektieren also den impliziten Gegensatz von »politischer Nähe« und »juristischer Distanz«. Hier steht die Justiz als Institution unter dem Verdacht der Willfährigkeit gegenüber einem abgehobenen Establishment, das keinen Bezug zu den örtlichen Gegebenheiten hat. In diesem Fall äußert sich also eine Präferenz für das politische Urteil. Was im Umkehrschluss wiederum die Sinnhaftigkeit eines Vergleichs zwischen Wählen und Urteilen in demokratischen Systemen bestätigt. In Fortführung dieser Perspektive ist es übrigens sinnvoll, einen kurzen Blick auf das zu werfen, was man als »allgemeine Ökonomie des politischen Urteils« bezeichnen könnte. Es sind zwei Arten von Verfahren, die dieser Ökonomie eine Struktur geben: am einen Ende des Spektrums die Wiederwahl, am anderen Ende die strafrechtliche Verfolgung. Jede hat ihre Besonderheiten, zum Beispiel hinsichtlich dessen, welche Art von Tribunal das Urteil spricht oder welche Legitimität in Anspruch genommen wird. Auch auf diesem Gebiet können wir von konkurrierenden Formen von Demokratie sprechen. Doch ebenso wichtig ist es, auf die wachsende Bedeutung vermittelnder Formen des politischen Urteils hinzuweisen, die ähnliche Beweisverfahren wie im juristischen Bereich in einem politisch-medialen Kontext fruchtbar machen. Das betrifft die Formen der öffentlichen Debatte und der Bürgerbeteiligung, das Spektrum reicht hier von Bürgerforen mit begrenzten Fachkompetenzen bis zu jener Art umfassender Untersuchungen, wie sie die Oppositionsparteien im Rahmen ihrer Tätigkeit durchführen. Dazwischen befindet sich das Tribunal der öffentlichen Meinung, das wie die fahrenden Richter von einst über keinen festen Gerichtsstand verfügt und sich nach Maßgabe der Ereignisse bildet und wieder auflöst (in dieser Hinsicht besteht natürlich eine enge Verbindung zur Entwicklung der diversen Aufsichtsinstanzen). Die nachfolgende Tabelle dient der Erfassung dieser verschiedenen Formen des politischen Urteils.

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Formen des Urteils

Art des Gerichts

Turnus der Sitzungen

Art der Strafe

Außerordentlicher Prozess

Hoher Gerichtshof (meist parlamentarischer Art)

Sehr selten

Politisch und strafrechtlich (impeachment in den USA)

Ordentlicher Prozess

Strafgericht

Selten/fallweise

Gefängnis, Geldbuße, zeitweiliger Entzug des passiven Wahlrechts

Technische Bewertung einer Maßnahme (Vermittlung 1)

Tribunal der Expertengemeinschaft

Regelmäßig

Reputationsverlust

Spezifische Bewertung einer Maßnahme oder Politik (Vermittlung 2)

Tribunal der öffentlichen Meinung

Permanent

Reputationsverlust

Allgemeine Bewertung einer Politik (Vermittlung 3)

Tribunal der Opposition

Permanent

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Wiederwahl

Wähler

In festen Intervallen

Nichterneuerung des Mandats

Charakteristisch für heutige Demokratien ist eine Tendenz zur Annäherung und Durchdringung dieser verschiedenen Universen. Das beinhaltet zwar die Gefahr chaotischer Fehlentwicklungen, eröffnet aber auch Chancen auf die Entstehung einer aktiveren Bürgerschaft. Denn das zentrale Faktum ist, dass sich diese verschiedenen Urteilsinstanzen über alle ihre Unterschiede hinweg auf komplexe Weise ergänzen: Die erwähnten Tribunale fungieren abwechselnd als erstinstanzliche und als Berufungsgerichte und bilden so eine stets veränderliche Hierarchie. Die Ermittlungsverfahren können sich überlappen, die Strafen 221

sind hingegen fast immer kumulativ. Die drei Formen, die wir als »vermittelnde« angesprochen haben, spielen innerhalb dieses Kreislaufs eine wesentliche Rolle. Aus unserer früheren Diskussion über die Aufsichtsinstanzen ist bereits hervorgegangen, welche Eigenschaften und Funktionen dem Tribunal der Expertengemeinschaft und dem Tribunal der öffentlichen Meinung (von der man, angesichts der Meinungsvielfalt und -mobilität, besser im Plural sprechen sollte) zukommen. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die »gerichtliche« Rolle der Opposition. Tatsächlich erscheint die Opposition in einem neuen Licht, wenn man sie als Institution betrachtet, deren Aufgabe es ist, die Regierung permanent anzuklagen und auf den Prüfstand zu stellen. Die Opposition hat mehr zu tun, als durch ihren Kampf für die Rechte der Minderheit das Risiko einer Mehrheitstyrannei zu bannen, ihr Engagement zielt vielmehr darauf ab, den Machthabenden ständig eine Art von symbolischem Prozess zu machen. Es scheint so, als würde das alte englische Modell der dem Parlament strafrechtlich verantwortlichen Minister in der demokratischen Opposition von heute in modernisierter Form wieder aufgegriffen und fortgeführt: Die parlamentarische Mehrheit übernimmt die Rolle der Verteidigung und die Opposition die der Anklage, jeweils vor dem ständigen Gerichtshof der öffentlichen Meinung sowie einem weiteren Gericht, das zwar imposanter ist, aber seltener tagt, nämlich dem der Wähler.29 Nur bei letzterem Tribunal fallen die beiden Formen, Wählen und Urteilen, zusammen. Ansonsten sind die Pendants von Prozess und Strafe anders geartet, auch wenn sich ihre Auswirkungen in der Praxis ergänzen. Derart unterschiedlich ausgeprägt hat sich in demokratischen Systemen eine »Urteilsmacht« als neue Dimension der Teilung und Konkurrenz der Staatsgewalten etabliert. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Urteilen weder ein Gegengewicht noch eine unabhängige, für sich bestehende Macht: es muss vielmehr als eine der vielen Arten des Einwirkens der Gesellschaft auf sich selbst verstanden werden und hat somit seinen Platz innerhalb einer allgemeinen Grammatik demokratischen Handelns. Anstatt einen vereinfachenden Gegensatz zwischen 29

Dieser Punkt wird klar herausgearbeitet bei Pimentel, »L’opposition ou le procès symbolique du pouvoir«.

222

Recht und Politik aufzumachen, täten wir also besser daran, die Arten von Koordination zwischen diesen beiden gleichermaßen politischen Handlungsformen herauszuarbeiten30 und ihren jeweiligen Platz im Spektrum gegen-demokratischer Institutionen zu bestimmen. Das wahrhaft Charakteristische der Urteilsinstanzen hat also mit der Art von Dialog zu tun, den sie, zur Ordnung des Gemeinwesens, zwischen den Überwachungs- und Verhinderungsmächten des gegen-demokratischen Universums und der parlamentarisch-repräsentativen Sphäre zu befördern und herzustellen versuchen.

30

Vgl. die anregenden Ausführungen bei Guarnieri/Pederzoli, La Puissance de juger. Pouvoir judiciaire et démocratie.

223

IV Die unpolitische Demokratie

Die Vermehrung von Überwachungs- und Verhinderungsbefugnissen hat in den Verfahrensweisen moderner politischer Systeme tiefe Spuren hinterlassen. Es ist längst unmöglich geworden, solche Systeme allein anhand ihrer verfassungsmäßigen Arrangements zu verstehen. Oder, anders ausgedrückt, die demokratische Betätigung reicht mittlerweile weit über den Rahmen der parlamentarisch-repräsentativen Institutionen hinaus und erstreckt sich auf die vielen Praktiken und Maßnahmen, die wir in vorangegangenen Kapiteln beschrieben haben. Die Summe dieser Teile bildet ein komplexes, aber zusammenhängendes Universum. Der wichtigste gemeinsame Nenner dieser verschiedenen gegen-demokratischen Instanzen besteht zunächst darin, dass sie eine faktische Struktur der Gewaltenteilung und eine Art von politischer Dynamik erzeugen, die wesentlich differenzierter sind als das, was sich üblicherweise in der politischen Theorie beschrieben findet. Die zahlreichen Analysen, die den Unterschied zwischen direkter und repräsentativer Demokratie behandeln, vermitteln zum Beispiel ein wesentlich ungenaueres Bild der Realität als die Beschreibung der diversen Kontrollmodalitäten oder Formen prohibitiver Souveränität. Eine ganze Reihe gesellschaftlicher und politischer Praktiken ergeben tatsächlich nur dann einen Sinn, wenn sie im erweiterten Rahmen einer Dialektik von Aktion und Kontrolle betrachtet werden. Die Unterscheidung zwischen Wählen und Urteilen sowie zwischen positiven und negativen Mächten stellt ein vergleichbares Interpretationsraster bereit, um die Frage der Gewaltenteilung unter Einbeziehung ihrer spezifisch sozialen Dimension neu zu thematisieren. Die Berücksichtigung der gegen-demokratischen Dimension ermöglicht auf diese Weise, das Zusammenwirken der verschiedenen gesellschaftlichen Ausdrucksformen bei der Strukturierung des politischen Feldes besser zu verstehen. Wir sind folglich dazu angehalten, den demokratischen Kontext selbst im Sinne größerer Komplexität zu rekonstruieren. 227

Am Ende unserer Untersuchung zeigt sich auch die Geschichte der Demokratie von einer anderen Seite. Gemeinhin wird diese Geschichte in linearer Weise erzählt, als langsamer, aber kontinuierlicher Siegeszug, als Folge großer Schlachten um die Einführung des allgemeinen Wahlrechts oder die Zunahme politischer Rechte. Inzwischen drängt sich jedoch eine neue Sichtweise auf, nämlich die dauerhafte Überlappung und Vermischung alter und neuer Elemente. Die Grenze zwischen dem traditionellen Verständnis von Demokratie als radikaler Selbstinstitution des Gemeinwesens und den Praktiken, die darauf abzielen, sich die Staatsgewalt einfach vom Leibe zu halten, erweist sich letztlich als ziemlich durchlässig. Oft als »vormodern« abgetane Formen haben ihren Einfluss und ihre Wirksamkeit bewahrt. Deshalb gilt es, den Fokus der politischen Geschichte zu erweitern und auf eine Darstellung demokratischer Institutionen hinzuarbeiten, die deren Dauer und Zusammenhang betont, ohne dabei allerdings die große Vielfalt demokratischer Praktiken und die Besonderheit institutioneller Entwicklungen aus dem Auge zu verlieren. Es gilt also, einen im engeren Sinne »diffusionistischen« Ansatz zu vermeiden, also die Annahme eines »demokratischen Keims«, dessen Entfaltung quasi automatisch zur Herausbildung moderner demokratischer Systeme führt, als gäbe es einen Wesenskern der Demokratie, eine Art genetischen Code, in dem künftige Entwicklungen schon enthalten wären. Ebenso hüten sollten wir uns vor gängigen Annahmen eines deutlich erkennbaren, strukturellen Bruchs zwischen der vergangenen Welt der Heteronomie und der demokratischen Moderne. Die Betrachtung des gegen-demokratischen Universums in seinen vielen Facetten sollte vielmehr die Einsicht befördern, dass es unmöglich ist, solche Trennlinien zu ziehen, und Anlass sein, die Geschichte der Demokratie in ihrer ganzen Diskontinuität und Komplexität wahrzunehmen. Wenn wir uns diesen historischen Ansatz zueigen machen, erscheint auch die Beziehung zwischen Liberalismus und Demokratie in einem neuen Licht. Die klassische theoretische Unterscheidung von Benjamin Constant wird jedenfalls durch die vielfältigen Formen von Kritik und Kontrolle der Staatsgewalten, die wir im Vorangehenden untersucht haben, über den Haufen geworfen. Daraus kann nicht zuletzt eine andere Sichtweise der demokratischen Zukunft resultieren. Allerdings haben wir auch wiederholt darauf hingewiesen, welche 228

Ambivalenzen sich in den drei hier beschriebenen Arten von Gegenmacht artikulieren können. Sie scheinen in der Tat häufig zwei extrem gegensätzliche Reaktionen hervorzurufen, ein Schwanken zwischen positivem Bürgerengagement auf der einen Seite und einer an Nihilismus grenzenden Desillusionierung über die Politik auf der anderen Seite. Es ist wichtig, die Ursache dieses Zwiespalts zu erkennen. Er ist keine bloße Sache der Praxis oder gar der Psychologie. Er hat eine strukturelle Dimension, die mit den Formen gegen-demokratischer Macht als solchen zusammenhängt. Dieser Punkt ist entscheidend. Gegen-demokratisches Engagement ist ein untrügliches Zeichen für politische Vitalität und Ausdruck unmittelbarer Bürgerbeteiligung, hat aber auch seine Schattenseiten: Der Anspruch der Bürger auf bestimmte Befugnisse kann eine gewisse Verödung, ja Erstarrung des politischen Feldes herbeiführen. Diesem Phänomen sind wir vor allem bei unserer Beschreibung des Übergangs von kritischer Souveränität zu negativer Politik begegnet. Diese Analyse soll im Folgenden fortgesetzt und vertieft werden.

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Ohnmachtsgefühle und Formen der Entpolitisierung Das Zeitalter des Unpolitischen Die aktuelle Tendenz zur Auflösung des Politischen hat zwei Ursachen. Eine davon ist die Kluft, die sich zwischen der Zivil- bzw. Bürgergesellschaft und der politischen Sphäre auftut, bedingt durch das Wirken der Gegenmächte, die aus funktionalen Gründen dazu tendieren, sich von den offiziellen Institutionen zu distanzieren und sie zurückzuweisen, denn der Beweis ihrer Effizienz liegt schließlich in ihrer Fähigkeit, die Machthabenden zu schwächen. Der Kontrollbürger gewinnt auf diese Weise, was der Wahlbürger verliert; der negative Souverän profiliert sich auf Kosten des Souveräns als solchem; organisiertes Misstrauen zehrt den durch Wahlen gewährten Vertrauensvorschuss auf. Das politische Feld wird damit strukturell aus der Gesellschaft ausgelagert. Mit anderen Worten, die Gegenbefugnisse, die der Bürger sich aneignet, führen zu einer Abwertung und Minderung der gesetzlichen Autorität. Durch die Logik des Bruchs zwischen der Gesellschaft und den Institutionen wird der Staatsmann automatisch zum »Politiker« herabgestuft. Oder, um es noch deutlicher zu formulieren, die Demokratie beschneidet sich selbst, denn die Gängelung der Mandatsträger und die Reduzierung ihres Handlungsspielraums resultiert aus dem Druck der Wähler selbst. Die Kontrolldynamik verdrängt faktisch die Aussicht auf eine Aneignung der Macht. Der Bürger verwandelt sich in einen immer anspruchsvolleren Politikkonsumenten, der sich stillschweigend von seiner Verantwortung als Mitproduzent einer gemeinsamen Welt verabschiedet. Es wäre allerdings irreführend, diese Entwicklung als bloßes Indiz für den Rückzug ins Privatleben oder Ausdruck fortschreitender Indifferenz zu interpretieren, gemäß den Thesen einer Literatur, die sich mit monotoner Regelmäßigkeit über die verheerenden Folgen des demokratischen Indi230

vidualismus und die Zunahme kollektiver »Ohnmacht« angesichts einer unaufhaltsam wachsenden Macht des Privaten verbreitet. Vielmehr ist das Zeitalter des Politikkonsums durch hohe Erwartungen und große Ansprüche an die politischen Institutionen geprägt. Das Problem liegt in der Art der Formulierung dieser Forderungen, die dazu führt, die Instanzen, an die sie gerichtet werden, zu delegitimieren. Das ist die Quelle der aktuellen Demokratieverdrossenheit: Enttäuschung ist eine nahezu unvermeidliche Konsequenz einer misstrauischen Bürgerschaft. Der zweite Grund für die heutige Auflösung des Politischen ist der Verlust eines umfassenden Begriffs von politischem Handeln. Die Verbreitung von Überwachungs- und Verhinderungsinstanzen folgt einer Logik der Streuung und Diffusion, die es umgekehrt immer schwieriger macht, das politische Feld als Ganzes zu überblicken. Politik erscheint somit zunehmend als fragmentiert und intransparent. Was bei den vermehrten Kontrollen verloren geht, ist die Erkennbarkeit und Verstehbarkeit des Ganzen. Man bekommt das Phänomen also auch hier nicht zu fassen, wenn man es auf eine banale Frage der Entpolitisierung verkürzt. Denn eigentlich ist die Zivilgesellschaft aktiver und engagierter denn je. Zudem tritt sie permanent in Erscheinung und begnügt sich nicht mehr damit, ihre Meinung am Wahltag zu artikulieren. Doch die Vorstellung einer Systemalternative hat an Glaubwürdigkeit verloren. Daher rührt, meiner Auffassung nach, das zunehmende Gefühl in der Bevölkerung, dass der Rechts-links-Gegensatz nicht mehr reicht, um die wirklichen politischen Herausforderungen zu beschreiben. Zweifelsohne grassiert in unserer Zeit ein allgemeiner Skeptizismus. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bürger der Auffassung wären, eine Politik sei genauso gut wie die andere. Ihre Skepsis gilt vor allem dem Glauben, dass es grundsätzliche Alternativen zum Bestehenden geben könne. Deshalb werden politische Maßnahmen von Fall zu Fall auf ihre Tauglichkeit geprüft und bewertet. Aus diesem Grund auch hat sich das Revolutionsideal in einem Maße verflüchtigt, dass es für niemanden mehr eine strategische Option darstellt. Tatsächlich war der Revolutionsgedanke einst Ausdruck eines leidenschaftlichen Glaubens an die Vorzüge direkter Volkssouveränität, untrennbar verbunden mit der Aussicht auf die Entstehung einer von Grund auf neuen Welt. Sein Verschwinden ist folglich mehr als eine 231

Konsequenz aus dem Zusammenbruch des Kommunismus oder der Triumph eines gemäßigten Reformismus. Schon die bloße Vorstellung von Radikalität hat sich grundlegend gewandelt. Radikal zu sein heißt nicht mehr, auf den »großen Tag« des revolutionären Aufstands hinzuarbeiten, der Radikale begreift sich vielmehr als Stimme der Moral, die sich der unerbittlichen Kritik an den Mächtigen der Welt verschrieben hat oder der Aufgabe, die Bürger aus dem Schlaf zu rütteln. Radikalität ist fortan einfach der Finger, der auf die Missstände des Alltags zeigt, das Messer, das unaufhörlich in den Wunden der Gesellschaft wühlt, nicht mehr die Kanone, die versucht, die Zitadelle der Macht sturmreif zu schießen. Manche Autoren haben Begriffe wie »zivile Demokratie«1 oder »funktionale Demokratie«2 verwendet, um dieses neue – eher argwöhnisch-punktuelle als dirigistisch-ganzheitliche – Verhältnis zwischen ziviler und politischer Gesellschaft zu beschreiben. Diese Begriffe haben den Vorteil, dass sie mit der gängigen Vorstellung brechen, der staatsbürgerliche Imperativ sei vom Aussterben bedroht. Aber sie berücksichtigen vielleicht nicht ausreichend die mittlerweile bestehende Diskrepanz zwischen der Einmischung in gesellschaftliche Belange und der Idee eines politischen Feldes, das den gesellschaftlichen Zusammenhang und Zusammenhalt stiftet. Deshalb erscheint es mir angemessener, von unpolitischer Demokratie zu sprechen. Denn das große Problem von heute besteht darin, dass die Demokratie zwar erstarkt, aber in einer vornehmlich indirekten Form, während das Politische im eigentlichen Sinne verfällt. Dieser Trend geht, wie zu betonen ist, mit einer ganzen Reihe von Veränderungen einher, die die Bedingungen des Regierungshandelns betreffen. Der Druck gegen-demokratischer Mechanismen hat zunächst ganz generell dazu geführt, die Regierungen vorsichtiger zu machen, und ihre Bereitschaft verringert, ehrgeizige Projekte zu initiieren. Man muss hier an die berühmte Bemerkung von Ludwig XIV. denken: »Jedes Mal, wenn 1 2

Dieser Begriff leitet sich aus dem der »zivilen Religion« bei Tocqueville ab. Verwendet wird er zum Beispiel bei Colliot-Thélène, »L’ignorance du peuple«. Vgl. Thuot, La Fin de la représentation et les formes contemporaines de la démocratie (siehe das gesamte Kapitel VII , »L’espace politique du nouveau sujet démocratique«).

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ich ein Amt vergebe, schaffe ich hundert Unzufriedene und einen Undankbaren.« Es sind die gleichen Sorgen, die heutige Regierungsvertreter plagen. Sie sind mehr von dem Wunsch beseelt, mögliche Kritik an umstrittenen Maßnahmen zu vermeiden, als von der Hoffnung, durch die Einleitung großer Reformen populärer zu werden. Und die Wähler ihrerseits reagieren sensibler auf die Gefahren, sich zu verschlechtern, als auf die Chancen, ihre Situation zu verbessern. Das asymmetrische Verhältnis zwischen positiven und negativen Aspekten lässt sich also am Verhalten der Politiker und an dem der Bürger gleichermaßen ablesen.3 Hier verläuft der große Bruch. Aus diesem Grund haben Ablenkungs-, Vermeidungs- und Verwässerungsstrategien überhand genommen. Das Fortschreiten negativer Souveränität und das Zurückschrauben politischer Ambitionen ergänzen sich also wechselseitig. Eine größere Reaktionsbereitschaft seitens der Öffentlichkeit hat im Gegenzug zu einer größeren Zurückhaltung seitens der Regierenden geführt.4 In diesem Sinne ist der abgeklärte Kommentar eines französischen Premierministers zu verstehen, dass Regieren zu einem »unmöglichen Beruf« geworden sei.5

Der Horizont der Transparenz Das Gefühl von Ohnmacht, das viele Bürger angesichts einer ihnen unerträglich erscheinenden Zaghaftigkeit der Regierenden überkommt, muss vor dem Hintergrund der obigen Bemerkungen betrachtet werden. Nicht die Gedankenlosigkeit oder Gleichgültigkeit der Politiker sind das vordringliche Problem, obwohl solche Aspekte 3

4

5

Vgl. Weaver, »The Politics of Blame Avoidance«. Siehe auch Mackuen/Stimson/ Erikson, »Responsabilité des élus devant l’électorat et efficacité du système politique américain. Une analyse contre-factuelle«. Mein Ansatz widerspricht den bekannten Analysen der Experten von der Trilateralen Kommission, die in den 1970er Jahren meinten, die »Auswüchse« der partizipativen Demokratie würden die Gesellschaften unregierbar machen, die Regierungen »überfordern«, die Autoritäten durch den Aufstieg individualistischer Werte delegitimieren und das spontane Vertrauen in die politische Führung untergraben (Crozier/Huntington/Watanuki, The Crisis of Democracy). Diese düsteren Prognosen haben sich nicht bestätigt. Heute ist eher das Unzulängliche der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie das Problem, in Verbindung mit einer übersteigerten Form von Gegen-Demokratie. Rocard, »Gouverner: métier impossible«.

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natürlich auch eine Rolle spielen. Die rituelle Beschwörung eines politischen Willens, dessen Wiederherstellung eine heilsame Wirkung hätte, geht also an der Sache vorbei. Die Probleme der heutigen Gesellschaften sind nicht durch den idealisierenden Rückgriff auf die Visionen und Methoden eines de Gaulle oder Churchill zu lösen. Zudem wurden die Schwierigkeiten noch potenziert durch das Aufkommen einer wesentlich negativ gewendeten Demokratie. Diese Form der Demokratie stellt das Problem dar und weniger ein eigendynamisch beschleunigter Niedergang des Politischen. Es handelt sich also um eine Ohnmacht systemischer Art und nicht mehr, wie einst, um ein Willensversagen, in dem sich eine Charakterschwäche der Regierenden spiegelt. In diesem neuen Zeitalter einer problematisch gewordenen Demokratie träumen die Bürger nicht mehr davon, die Macht zu erobern, um sie auszuüben. Vielmehr verfolgen sie stillschweigend das Ziel, sie einzugrenzen und zu reduzieren, nicht ohne gleichzeitig die Auswirkungen dieser von ihnen täglich angewandten Praktiken zu beklagen. Das Ideal ist nicht mehr die Aneignung der Macht, sondern deren Verwandlung in ein Objekt, das transparent genug ist, um eine totale Kontrolle zu ermöglichen. Das Streben nach Transparenz ersetzt so eine politische Verantwortung, deren Wahrnehmung man vergeblich hatte erzwingen wollen. Damit einher geht der faktische Verzicht auf politische Ziele im eigentlichen Sinne zugunsten einer Aufwertung physischer und moralischer Eigenschaften. Totale Transparenz und die Bekämpfung von allem, was ihr entgegensteht, sind nunmehr zentrale Anliegen desillusionierter Bürger. Nach und nach ist eine regelrechte Transparenzideologie an die Stelle des alten demokratischen Ideals getreten, eine gemeinsame Welt zu erzeugen. Transparenz, nicht Wahrheit oder Gemeinwohl, ist in einer von Unsicherheit geprägten Welt zur höchsten Tugend geworden. Mit ihrer Hilfe sollen, auf eine banal metaphorische Weise, alle Spannungen und Konflikte der Welt zu lösen sein.6 Da 6

Auf paradoxe Weise knüpft das 21. Jahrhundert an die naiven Revolutionsutopien einer Verwandlung der Menschen und Institutionen durch die alleinigen Vorzüge öffentlicher Sichtbarkeit an. Diese Ideen gingen ihrerseits zurück auf die Rousseau’sche Annahme eines Gemeinwillens, der sich aus dem unmittelbaren Miteinander der Menschen ergibt.

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man nicht mehr weiß, was die Macht konkret tun soll, beschäftigt man sich nur noch damit, was sie sein soll. Doch das geschieht auf eine Weise, die dem Traum ihrer gänzlichen Auflösung nahekommt. Es geht also auch hier nicht mehr darum, die Macht in liberaler Tradition zu begrenzen, sondern sie zu bezwingen und gleichsam zu »verklären«. Das Problem ist nur, dass man sie dadurch in einem Maße schwächt und erschöpft, dass sie am Ende den Forderungen, die man an sie stellt, nicht mehr gerecht werden kann. Die neue Transparenzutopie wird so zum Motor genau jener Desillusionierung, die sie hatte überwinden sollen.

Die beiden Formen der Entpolitisierung Die Herausbildung unpolitischer Formen von Gegen-Demokratie verläuft parallel zu anderen wichtigen Veränderungen in den Führungsstrukturen moderner Gesellschaften. Die zunehmende Ersetzung traditioneller Regierungsmethoden durch diffuse Steuerungssysteme ist eine der eklatantesten Veranschaulichungen dieser Tatsache unter dem Gesichtspunkt unseres Erkenntnisinteresses. Dieser Wandel hat ebenfalls zu einem beschleunigten Verfall des Politischen beigetragen, ist aber nicht wirklich von der gleichen Art wie die bisher beschriebenen Trends. Es ist wichtig, diesen Unterschied zu verstehen, um die spezifische Art des Zusammenhangs zwischen dem Verschwinden des Politischen und der Gegen-Demokratie beurteilen zu können. Diese Klärung ist schon deshalb notwendig, weil wir nicht umhinkommen, Pauschalvorstellungen wie den »Niedergang des Politischen«, die »Privatisierung der Welt« oder den »Anbruch einer individualistischen Gesellschaft« zu dekonstruieren, die vermeintlich einfache Zugänge zur Deutung der Gegenwart eröffnen, tatsächlich aber deren Verständnis erschweren. In den letzten zwanzig Jahren hat sich eine ansehnliche Masse an Literatur zum Konzept der »Governance« angehäuft.7 Ganze Zeitschriften sind der Erforschung des Phänomens gewidmet. Gleichwohl hat sich der Eindruck einer gewissen Unschärfe erhalten, der überwie7

James Rosenaus Pionierarbeiten sind immer noch von großer Bedeutung. Zur französischsprachigen Literatur siehe insbesondere Patrick Le Galès, Pierre Lascoumes, Dominique Plihon oder Marie-Claude Smouts.

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gend von der Tatsache herrührt, dass derselbe Begriff zur Bezeichnung von Steuerungs- und Entscheidungsmechanismen in sehr unterschiedlichen Bereichen verwendet wird. So spricht man beispielsweise von »Global Governance« um eine neue – poststaatliche – Etappe internationaler Beziehungen zu bezeichnen, aber auch von einer »Corporate Governance« im Bereich der Unternehmensführung, einer »Governance« von Städten, bis hin zu einer »Public Governance«. Der Begriff hat sich rasant verbreitet, weil er geeignet schien, eine Reihe zusammenhängender Veränderungen zu beschreiben. Innerhalb dieses Komplexes haben sich drei gemeinsame Merkmale herauskristallisiert: Erstens: Die Entscheidungen involvieren eine Vielzahl von Akteuren unterschiedlicher Art und Verfassung. Auf internationaler Ebene etwa können sehr heterogene Instanzen – Staaten, Nichtregierungsorganisationen, diverse öffentliche Agenturen – an ein und demselben Diskussions- und Entscheidungsprozess beteiligt sein. Öffentliche und private Teilnehmer interagieren, wobei jeder auf seine Weise eine »leitende« Funktion wahrnehmen kann, insofern er über irgendwelche (rechtlichen, medialen, sozialen usw.) Ressourcen verfügt, um Druck auszuüben und in Prozesse einzugreifen. »Governance« beinhaltet also die Vorstellung, dass es nicht eine einzige legitime Entscheidungsinstanz gibt, sondern ein Netzwerk heterogener und interagierender Partner, wie es teilweise im Begriff der »Zivilgesellschaft« zum Ausdruck kommt. Zweitens: Diese »Entscheidungen« werden nicht in Form einer klaren Anordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt getroffen. Sie sind vielmehr das Resultat komplexer iterativer Prozesse. Der Begriff der Entscheidung als solcher verliert tendenziell an Bedeutung, wenn er auf die Beziehungen pluraler Akteure angewendet wird, die in einen fortlaufenden Prozess der Beratung und Verhandlung, Anpassung und Kompromissbildung involviert sind. In der Unternehmensorganisation weicht die hierarchische Pyramide, das Management per Anweisung von oben, zunehmend dezentralen und flexiblen Formen von Kooperation. »Governance« bezeichnet in diesem Fall einen Steuerungsmodus, bestehend aus einem System flexibler Koordinationen, die sich einer Vielzahl von Kanälen bedienen und aus einer Folge von Absprachen resultieren. Im politischen Bereich drückt sich diese Di236

mension in der Tatsache aus, dass die gesetzlich ermächtigten Autoritäten in einen dauerhaften, impliziten wie expliziten Dialog und Verständigungsprozess mit den diversen Instanzen der Gesellschaft einzutreten haben. Das Wort steht also für einen revolutionären Wandel in den Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Allgemein gesprochen, heben diese Steuerungssysteme die Unterscheidung zwischen Politik und Verwaltung tendenziell auf, die verschiedenen organisatorischen Bereiche und Ebenen des gesellschaftlichen Lebens werden durch immer ähnlichere Prozesse geregelt. Unternehmen, Verwaltungsapparate, Gebietskörperschaften funktionieren nach vergleichbaren Mechanismen. Gleichzeitig verringert sich unter diesem Gesichtspunkt auch der Abstand zwischen nationaler und internationaler Ebene. Drittens: Die Festlegung von Regeln erfolgt nicht mehr auf der Grundlage eines hierarchisch gegliederten Normenuniversums, das durch eine vom Leitgedanken des Gemeinwillens beherrschte staatliche Ordnung garantiert wird (oder eine ähnlich definierte internationale Ordnung). »Governance« bezieht sich in diesem Fall auf ein System heterogener und pluraler Normen, die nationales und internationales Recht, Elemente aus Schiedsgerichtsbarkeit, Konvention und Brauchtum zu einem komplexen und expandierenden Ganzen kombinieren. Diese Komplexität hat mit der Vielzahl von Instanzen zu tun, die an der Steuerung jedes der betroffenen Bereiche beteiligt sind. Zwar ist am Entstehen dieser neuen Welt der Governance nicht zu zweifeln, doch fällt es zugleich schwer, sie genauer zu definieren, da sie letztlich vor allem negativ geprägt ist, durch ihren Gegensatz zu den vorherigen hierarchischen Systemen. Sie markiert einen Bruch, der in nahezu gegensätzliche Richtungen gedeutet werden kann. Governance kann zunächst für einen Zerfall von Politik und Gesellschaft stehen, für ein stillschweigendes Einverständnis mit dem Niedergang demokratischer Prinzipien, die durch die wachsende Macht des Marktes und der Gesetze ausgehöhlt werden. »Governance« erscheint hier quasi als ideologischer Tarnbegriff, der dazu dient, das Scheitern des republikanisch-demokratischen Ideals zu verschleiern. In diesem Fall werden alle Dinge vor dem Hintergrund eines umfassenden Krisenszenarios interpretiert: Krise der Demokratie, der Repräsentation, der Vorstellung von Allgemeinwohl. Diese pessimistische oder defä237

tistische Sicht haben sich Autoren zu eigen gemacht, die ein sehr heterogenes politisches Spektrum abdecken, von Globalisierungskritikern bis zu neonationalistischen Theoretikern. Allerdings kann der Aufstieg der Governance auch in einem anderen, neutraleren Sinne gedeutet werden, nämlich als Konsequenz aus der zunehmenden Komplexität und Fragmentierung heutiger Gesellschaften, die sich aus einer Reihe relativ autonomer Subsysteme zusammensetzen. Mit anderen Worten, auf ein Zeitalter der Organisationen folgt ein Zeitalter der Netzwerke. Man kann daraus die wesentlich positivere Tatsache ableiten, dass die Gesellschaften inzwischen eher in der Lage sind, sich horizontal zu koordinieren, das heißt, sich selbst zu organisieren, ohne auf eine vormundschaftliche Instanz angewiesen zu sein. Diese Sichtweise der Governance ist heute vielleicht die am weitesten verbreitete. Sie wird von vielen Forschern geteilt, die veränderte Managementmethoden im öffentlichen Sektor oder die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen analysiert haben. Sie hat aber auch die Aufmerksamkeit eines linksradikalen Autors wie Antonio Negri erregt, der in dieser Entwicklung Ansatzpunkte für eine neue emanzipativ-subversive Basisbewegung zu erkennen glaubt.8 Viele Autoren nehmen eine Position irgendwo zwischen diesen beiden Ansätzen ein. Ulrich Beck ist dafür ein Paradebeispiel. Er äußert sich wohlwollend über die Entstehung dessen, was er als »Subpolitik« bezeichnet, worunter eine Aktivierung der Zivilgesellschaft zu verstehen ist, und deutet den Niedergang einer staatszentrierten Politik als Zeichen demokratischer Reife. Allerdings beklagt er auch die daraus resultierende Erstarrung des Politischen.9 Dieser kurze Überblick über die Literatur zum Thema Governance mag genügen, um zu erkennen, was die unter diesen Begriff zusammengefassten Phänomene von den Formen indirekter Demokratie unterscheidet, die Gegenstand dieses Buches sind. Governance bringt zum Ausdruck, dass fragmentierte Organisations- und Steuerungsmodelle in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu einer Art von Entpolitisierung führen, die man als Dezentrierung bezeich8 9

Vgl. Hardt/Negri, Empire. Die neue Weltordnung, sowie dies., Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Vgl. Beck, Risikogesellschaft.

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nen könnte. Politik ist in diesem Zusammenhang als etwas zu verstehen, das Koordination und Führung bietet. Gleichzeitig verschwindet das politische Subjekt – das Volk – als zentraler und einheitlicher Akteur. Das hat manche Kommentatoren dazu veranlasst, von »Postdemokratie« zu sprechen: ein Steuerungssystem in der Nachfolge von demos und Nationalstaat.10 Doch die Entpolitisierung, die der Aufstieg der Gegen-Demokratie hervorruft, ist von anderer Art. Die Politik bleibt hier das funktionale Zentrum. Tatsächlich stellen die diversen Überwachungs-, Verhinderungs- und Urteilsinstanzen die Existenz einer zentralen Plattform keineswegs infrage; im Gegenteil, sie existieren selbst nur in Bezug auf diese Zentralmacht, die sie teils negieren, teils stärken. Auffallend ist, dass manche internationalen Institutionen ihre Rolle zu festigen und ihre Legitimität zu erhöhen versuchen, indem sie bestimmte Gegenmächte zivilgesellschaftlichen Ursprungs in ihrer Tätigkeit unterstützen. So gibt es beispielsweise ein regelrechtes System von Akkreditierungen, regelmäßigen Konsultationen bis hin zur Finanzierung mancher NGO s durch die UNO und die Europäische Union, die sich davon im Gegenzug ein Mehr an sozialer Anerkennung versprechen.11 Die Nationalstaaten sind zwar in dieser Hinsicht eher zurückhaltend, beteiligen sich aber ebenfalls an diesem Trend, der das Erstarken gegen-demokratischer Mächte ergänzt. Doch die Resultate, die solche »starken« Mächte erzielen, unterscheiden sich von denen, die man bei den auf internationaler Ebene »schwachen« Mächten beobachten kann. Was nämlich in diesem Fall eintritt, ist eine Dynamik destruktiver Legitimation: Die Regierungen erklären sich einverstanden, einen Teil ihrer Souveränität zu opfern, um den Vertrauensverlust bei ihren Bürgern zu stoppen; sie sind bereit, sich zu erniedrigen, um der Gesellschaft zu beweisen, dass sie ein offenes Ohr für ihre Wünsche haben. Die politischen Instanzen behalten ihre zentrale Stellung, aber ihre Machtposition ist geschwächt. Hier wird also das Politische in seiner Funktion als gesellschaftsbildende Kraft beein-

10 11

Jacques Rancière war meines Wissens der Erste, der diesen Begriff benutzte (Rancière, Das Unvernehmen). Vgl. dazu die Fakten bei Pech/Padis, Les Multinationales du cœur. Les ONG , la politique et le marché.

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trächtigt. Entpolitisierung nimmt die Form einer Aushöhlung des Politischen an. Um die Tragweite und die Gründe dieser neuen unpolitischen Demokratie besser zu verstehen, wollen wir die Analyse noch ein Stück vorantreiben. Dabei soll uns die Betrachtung des Populismus helfen, der pathologischen Form dieser Gegen-Demokratie. Darüber hinaus ist es sinnvoll, Struktur und Auswirkungen dieser unpolitischen Demokratie mit anderen großen Transformationen zu vergleichen, die das wirtschaftliche Geschehen betreffen und auf ihre Weise den Anbruch einer reduktionistischen Welt des Politischen beschleunigen.

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Die populistische Versuchung In das politische Vokabular der Gegenwart hat der »Populismus« als ebenso vager wie aufdringlicher Begriff Einzug erhalten. Das Wort stammt aus dem Russischen, wo es seit Ende des 19. Jahrhunderts belegt ist, und wird mittlerweile ausgiebig verwendet, um ein ganzes Spektrum politischer Bewegungen und Themen zu bezeichnen, deren Charakteristika sich den üblichen ideologischen und parteipolitischen Zuordnungen zu entziehen scheinen. Zwar wurde das Wort in der Vergangenheit hauptsächlich benutzt, um lateinamerikanische Regime wie das peronistische in Argentinien und später, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, das Wiederaufleben rechtsextremer Kräfte auf dem europäische Kontinent zu beschreiben, doch erschöpft sich das mit ihm Gemeinte sicherlich nicht in diesen speziellen Bezügen. Von »Populismus« zu sprechen, heißt, etwas anzuprangern, was als Abweichung von der Demokratie oder als Gefahr für die Grundrechte wahrgenommen wird, ohne allerdings die Art dieser Pathologie hinreichend zu definieren. Das Wort ist also Projektionsfläche und Krücke zugleich. Um Missverständnisse zu vermeiden, soll der Populismus hier als eine Pathologie im doppelten Sinne verstanden werden: Pathologie der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, aber mehr noch der Gegen-Demokratie. Denn Populismus ist nicht nur eine Ideologie, er ist zunächst und vor allem eine Pervertierung demokratischer Ideale und Prozeduren.

Eine Pathologie der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie Populismus erklärt sich zunächst aus seinem Bezug zu den immanenten Spannungen der Repräsentation. Er nimmt für sich in Anspruch, das Problem der Abbildung des Volkes zu lösen, indem er die Vorstellung eines geeinten und homogenen Volkes heraufbeschwört, das sich durch radikale Abgrenzung von allem definiert, was ihm vermeintlich 241

entgegensteht: Fremde, Feinde, die Oligarchie, die Eliten. Der Populismus erzeugt durch immer aggressivere Attacken eine Kluft zwischen dem »Volk« und dem, was sich ihm gegenüber durch eine Art essenzielle Unzugehörigkeit charakterisieren soll. Er tadelt eine Distanz, die er zugleich positiv hervorhebt – ob auf moralischer Ebene (Gegensatz zu den »Korrupten« und »Perversen«), auf sozialer Ebene (Kritik der »Eliten« als Inbegriff sozialer Absonderung) oder gar auf ethnischer Ebene (»Einheimische« vs. »Zuwanderer«). Das Volk wird als intakte und ungeteilte Einheit gefeiert, solange es nur mit sich selbst zu tun hat. Der Populismus versucht also, die Mängel der Repräsentation durch eine substantialistische Auffassung des Sozialen zu beheben. Doch die populistische Rhetorik verdammt bereits das Prinzip der Repräsentation als solches. Gegenüber der Vereinnahmung der Politik durch eine Handvoll Berufspolitiker betonen die Populisten die Vorzüge einer direkten Berufung auf das Volk. In diesem Sinne könnte man die meisten antiparlamentarischen Bewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts – den französischen Boulangismus oder die People’s Party der Kleinbauern im amerikanischen Mittelwesten1 – als »populistisch« bezeichnen. In Europa wie in Amerika wurde der gleiche Gegensatz zwischen Volk und Eliten aufgemacht: das Volk als intakte Einheit, während die Eliten von jedem realen Bezug zur Gesellschaft abgeschnitten sind. In beiden Fällen ergänzten rassistische und fremdenfeindliche Themen diese Rhetorik in ebenso fataler wie logischer Konsequenz. Zahlreiche politikwissenschaftliche Analysen aus den letzten Jahren vervollständigen dieses Bild.2 Tatsächlich hängt die aktuelle Wiedergeburt des Populismus teilweise mit der Krise der Repräsentation zusammen. Eine Krise, die aus der wachsenden Intransparenz des Sozialen und diese wiederum aus der Verwischung der alten Klassenstrukturen resultiert (bzw. dem entsprechenden Nie1 2

Vgl. dazu das klassische Werk von Michael Kazin, The Populist Persuasion. An American History. Zu den derzeit gründlichsten Studien zählen die Werke von Paul Taggart und Margaret Canovan. Siehe zum Beispiel Taggart, »Populism and Representative Politics in Contemporary Europe«; und Canovan, »Trust the People!. Populism and the Two Faces of Democracy«. Beachtenswert sind auch die Aufsätze in: Mény/Surel, Democracies and the Populist Challenge. Vgl. auch für Frankreich die von Guy Hermet, Olivier Ihl oder Pierre-André Taguieff betreuten Arbeiten.

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dergang der traditionellen Funktion der politischen Parteien, Klasseninteressen zu artikulieren und zu organisieren). Doch dieser soziologische Ansatz reicht nicht aus, um die Gründe des Populismus und seine spezifische Erscheinungsform zu erklären. Würde man den Populismus lediglich als Pathologie der parlamentarischen Demokratie begreifen, müsste man auch alle Arten von Totalitarismus als populistisch klassifizieren, da diese, und zwar in noch radikalerer Weise, auf der Vision einer imaginären Einheit und möglichen Inkarnation des Volkes beruhen. Wir benötigen also eine präzisere Definition des Populismus. Aus diesem Grund schlage ich vor, ihn als spezifische Pathologie der Gegen-Demokratie zu verstehen.

Populismus und Gegen-Demokratie Das Spezifische des Populismus besteht darin, dass er die drei Formen von Gegen-Demokratie – Kontrolldemokratie, negative Souveränität und Politik-als-Urteil – jeweils bis zu dem Punkt radikalisiert, wo sie zu dem konvergieren, was ich als das »Unpolitische« bezeichnet habe. Der Populismus könnte in diesem Sinne als reine Politik des Unpolitischen definiert werden, vollendete Anti-Politik, absolute Gegen-Demokratie. Wir wollen zur Veranschaulichung dessen den Populismus unter jedem dieser drei Aspekte der Gegen-Demokratie betrachten. Zunächst kann Populismus als Pathologie von Kontrolle und Wachsamkeit definiert werden. Das positive Bemühen, das Handeln der Staatsgewalten zu kontrollieren, sie der Prüfung und Kritik zu unterwerfen, verwandelt sich in diesem Fall in eine zwanghafte und permanente Anfeindung der Regierungsbehörden, bis zu dem Punkt, wo diese Behörden als radikal fremde, gesellschaftsfeindliche Mächte angesehen werden. Der Populismus ist in dieser Hinsicht ein treuer Erbe Jean-Paul Marats. Marat hatte seinerzeit die Kontrolle zum revolutionären Ideal erklärt und sich selbst zu dessen Verkünder. In Die Ketten der Sklaverei (1774) steht dieses Thema im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit: »Wenn wir frei bleiben wollen, müssen wir stets eine Auge auf die Regierung haben; wir müssen ihr Tun beobachten, ihren Übergriffen entgegentreten, ihre Verstöße ahnden.«3 »Das Ziel des po3

Jean-Paul Marat, Les Chaînes de l’esclavage, S. 4421. Weiter heißt es: »Um die Freiheit zu erhalten, muss man vor denjenigen, die regieren, stets auf der Hut

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litischen Handelns«, schrieb er an anderer Stelle, »besteht darin, die Taten derjenigen, die an die Macht gelangt sind, einer ständiger Kontrolle zu unterwerfen. Auch wenn wir sie selbst gewählt haben, ist es für jeden eine Pflicht, sie unablässig zu überwachen.«4 Doch in L’Ami du peuple, der Zeitschrift, die er ab 1789 herausgab, sollte er diese ursprünglichen Ziele, denen auch ein kluger Denker wie Alain 150 Jahre später nicht widersprochen hätte, rasch hinter sich lassen. Plötzlich sah er eine tiefe Kluft zwischen Volk und Macht und konnte sich Letztere bald nur noch in Gestalt eines finsteren und unerbittlichen Verschwörungsapparates vorstellen. Ihm erschien nun jede Regierung als von Natur aus despotisch, als eine zur Tyrannei verdammte Macht, eine Brutstätte des Machiavellismus. Mit Marat wurde »Kontrolle zur ausschließlichen politischen Betätigung des Bürgers«.5 Das paradoxe Resultat war politische Passivität: Über die ständige Kritik und Denunziation verwandelte sich die Macht allmählich in eine uneinnehmbare Festung, eine unzugängliche, den Bürgern radikal entfremdete Autorität. Macht bedeutete für Marat im Grunde unüberwindliche Tyrannei; schon die bloße Möglichkeit, dass sie demokratisch werden könne, schien ihm unvorstellbar. Der Populismus ist gewissermaßen die modernisierte Version dieser Sichtweise. Er kombiniert Argwohn mit einer Lust an der Denunziation, die mehr von einem Willen zur Zerstörung als von besorgter Wachsamkeit herrührt. Insofern ist der Populismus eine Art moderne Verkörperung des Sykophantentums, dessen Widerspruchsgeist er gewissermaßen auf die Spitze treibt.6 Ferner ist er Erbe eines Stils politischer Satire, den die französische antiparlamentarische Presse, der Rechten wie der Linken, in den letzten

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sein. Denn nichts ist einfacher, als den Arglosen ins Verderben zu stürzen, und zu große Vertrauensseligkeit bei den Völkern ist stets der Vorbote ihrer Knechtschaft« (ebd., S. 4355). Zitiert bei Rolland, »Marat ou la politique du soupçon«, S. 134. Vgl. dazu die anregenden Bemerkungen von Rolland, ebd., S. 135. Die Athener Sykophanten machten sich das Recht jedes Bürgers, Beamte vor Gericht zu bringen, zunutze, um die Magistrate der Stadt regelrecht zu erpressen. Die Sykophanten sahen sich als »Wachhunde des Volkes«, immer bereit, die Demokratie vor oligarchischen Komplotten zu schützen. Ihre Gegner betrachteten sie hingegen als vulgäre Demagogen und Erpresser. Vgl. Doganis, Démocratie et transparence. Les sycophantes et la délation dans la cité d’Athènes à l’époque classique.

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Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kultivierte. Publikationen wie Les Chambres comiques, La Bombe, Le Balai, La Lanterne, L’Assiette au beurre setzten Maßstäbe für einen radikal pessimistischen und desillusionierten Journalismus, dem es weniger darum ging, den Lauf der Dinge zu ändern, als die Verwalter des Bestehenden zu verhöhnen und niederzumachen. In diesen Blättern verwandelte sich demokratische Ungeduld in eine Art bittere, verzweifelte und brutale Anklage. Der Populismus stellt also, unter diesen drei Gesichtspunkten, eine gegen sich selbst gewendete Kontrollmacht dar. Zweitens kann Populismus als eine Pathologie prohibitiver Souveränität verstanden werden. Er schließt auch hier an politische Krisenphänomene an, die erstmals gegen Ende des 19. Jahrhunderts auftraten, als in vielen Ländern »antisystemische« Parteien aus dem Boden schossen.7 Revolutionäre Bestrebungen schienen dabei mit einer bloßen Antihaltung gegenüber der Politik als solcher zu konkurrieren, doch unterschwellig verstärkten sich beide Tendenzen gegenseitig. Die »kritische Souveränität«, deren Formen wir ausführlich erörtert haben, trug auf ihre Weise zum Aufbau der Demokratie bei. Die Prohibitonsmacht stand somit für eine Phase demokratischer Entwicklung und hatte sich noch nicht zur negativen Sicht einer selbstbezogenen Politik verdichtet, auch wenn sich letzterer Aspekt bisweilen schon bemerkbar machte und in manchen Momenten der Krise und Ungewissheit massiv zutage trat. Der spektakuläre Erfolg der poujadistischen Bewegung im Frankreich der 1950er Jahre offenbarte das latente Vorhandensein populistischer Gefühle, die im geeigneten Moment hervorbrechen konnten. Der Poujadismus verkörperte in geradezu karikaturistischer Überzeichnung diese rein negative Politik: Die Anti-Steuer-Partei schickte 1956 ihre Kandidaten in den Wahlkampf, ohne dass diese, außer ihrem tief sitzenden Groll gegen die herrschende Politik, irgendein Programm vertraten! Die Plakate und Flugblätter, mit denen sie Frankreich überschwemmten, enthielten nichts als die kategorische Botschaft: »Werft die Etablierten hinaus«.8 7 8

Siehe zu dieser Kategorie die Ausführungen von Sartori, Parties and Party Systems. A Framework for Analysis. Viele dieser Dokumente sind nachgedruckt bei Hoffmann, Le Mouvement Poujade.

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Die populistischen Bewegungen von heute haben dieses Politikverständnis wiederaufgegriffen und banalisiert. Sie sind nicht mehr wirklich daran interessiert, den Kampf auf dem gewohnten politischen Terrain zu führen. Vielmehr beschwören sie unaufhörlich das Gespenst des Untergangs herauf und gerieren sich selbst als Schützer vor dem Bedrohlichen, Retter aus Extremsituationen, Propheten einer Apokalypse, die sie selbst bezwingen. Bei diesem Kampf um die Durchsetzung düsterer Szenarien werden sie von denen unterstützt, die Canetti als »negative Massen« bezeichnete.9 Letztere scheinen sich inzwischen gänzlich von der Außenwelt abgeschottet zu haben. Keine revolutionäre Energie mehr, die sie in die Geschichte katapultiert, um sie zum Träger eines Versprechens oder eines Projekts zu machen. Keine moralische Kraft mehr, die sie zu einem Kampf um Würde oder entschlossenem Handeln zusammenschweißt. Es sind stumme Massen – frustriert, verunsichert, angewidert –, deren Problemen der Populismus keine Sprache geben kann. Allerdings versteht er es, die Wut zu schüren und ihr dumpfes Rumoren auf den Straßen und in den Wahlkabinen immer vernehmlicher zu machen. Im Aufstieg des Populismus offenbart sich die Tatsache, dass die negative Souveränität in ihrer eigenen Unmittelbarkeit gefangen ist, eine radikal entleerte Kraft, unfähig zu konstruktiver Kritik, zurückgeworfen auf eine resignierte Gewalt. Drittens und letztens übersteigert der zeitgenössische Populismus die Vorstellung vom Volk als Richter ins Destruktive. Das Gericht als Arena, wo Argumente ausgetauscht und Gutachten vorgetragen werden, hat sich durch ihn in ein Theater der Grausamkeit oder in eine Zirkusmanege verwandelt. Die Macht tendiert folglich dazu, eine von Natur aus kriminelle oder lächerliche Angelegenheit zu werden. In diesem Kontext erschöpft sich zivilgesellschaftlicher Aktivismus in reiner Anklage und entfernt den Bürger, quasi mit struktureller Notwendigkeit, noch weiter von der Regierung. Der Staat wird auf seine Anklage- und Strafverfolgungsbehörden reduziert, als seien diese seine einzigen noch wahrhaft demokratischen Institutio-

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Canetti, Masse und Macht, S. 57–60 (Canetti spricht von negativer oder Verbotsmasse).

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nen.10 Das hemmungslose Richter-Volk des Populismus kümmert sich, wohlgemerkt, nicht um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, um Wege zur Verbesserung der Chancengleichheit zu ermitteln. Für den Sozialstaat interessiert es sich nur insofern, als es darum geht, seine Nutznießer als vermeintliche Betrüger zu denunzieren und durch eine Reihe gedanklicher Umwege mit Migranten und Illegalen in einen Topf zu werfen. Die einzige Justiz, die dieses Volk kennt, ist die der Verfolgung, Bestrafung und Stigmatisierung jener großen Gruppe von »Unerwünschten« und »Parasiten«, die es zu Objekten seines Zorns auserkoren hat. Der Populismus als pathologische Form der GegenDemokratie überschneidet sich an diesem Punkt mit dem Populismus als Pathologie der parlamentarischen Demokratie, der davon träumte, alle gesellschaftlichen Probleme durch die Schaffung eines homogenen und intakten Gemeinwesens lösen zu können. »Ideologische« Definitionen des Populismus kranken daran, dass sie zu vereinfachenden Werturteilen neigen – hier seine Verurteilung als demagogische und fremdenfeindliche Bewegung, dort seine Glorifizierung als Bewegung der »kleinen Leute«.11 Demgegenüber erscheint seine Charakterisierung in funktionalen Begriffen als zugleich objektiver und präziser. Bereits die Betrachtung des Populismus als Pathologie der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie bedeutete einen Schritt in Richtung einer exakteren Definition, insofern das Hauptaugenmerk hier auf seiner Gesellschaftsvision und seinem Verständnis der »Krise des politischen Willens« lag. Doch dieser Ansatz ist, wie wir gesehen haben, unzulänglich, weil er den Populismus nicht hinreichend von anderen, radikaleren Pathologien unterscheidet, wie dem Totalitarismus in all seinen Ausprägungen oder anderen antiliberalen, autoritären und dezisionistischen Auffassungen des Politischen. Den Populismus als reine Gegen-Demokratie zu definieren, als Destil10 11

Als wären die Sykophanten zu den einzig wahren Vertretern der Athener Bevölkerung geworden! »Populistisch« erscheint unter diesem Gesichtspunkt als gleichbedeutend mit »populär« und wird am Ende fast zu »demokratisch«, in impliziter Abgrenzung zu »liberal-elitistisch«. Robert Dahl kontrastierte einst »populistische« und »madisonianische« Regime in: A Preface to Democratic Theory. In eine ähnliche Richtung geht auch Riker, Liberalism Against Populism. A Confrontation Between the Theory of Democracy and the Theory of Social Choice.

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lat ihrer drei Grundformen, führt zu größerer Präzision. Populismus kann somit als eine Form des politischen Ausdrucks verstanden werden, bei der das demokratische Projekt von der Gegen-Demokratie vollkommen vereinnahmt und aufgezehrt worden ist: Populismus ist auf die Spitze getriebene Antipolitik. Diese Definition erklärt auch seine Virulenz im 21. Jahrhundert, denn er ist die charakteristische politische Pathologie eines Zeitalters, das sich durch das Erstarken gegen-demokratischer Mechanismen auszeichnet. Er befördert damit auch, was ich »unpolitische« Gegen-Demokratie genannt habe. Populismus ist ein extremer Ausdruck der zeitgenössischen politischen Ratlosigkeit und zugleich unserer tragischen Unfähigkeit, diese zu überwinden.

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Lektionen in unpolitischer Ökonomie Die Herausbildung indirekter Demokratieformen ist, wie wir in den vorangegangenen Kapitel wiederholt betont haben, unmittelbare Folge der Unfähigkeit parlamentarisch-repräsentativer Politik, ihre Versprechen zu halten. Ein ähnliches Phänomen lässt sich im Bereich der Wirtschaft beobachten. Das offenkundige Versagen der Märkte hat allenthalben dazu geführt, eine Reihe verschiedener Aufsichtsmechanismen zu installieren. Und da sich die strukturellen Dynamiken dieser Märkte im gleichen Zuge weiterentwickelten, kam es zur vermehrten Einführung »indirekter« Steuerungssysteme. Deshalb sind Kontrollvorrichtungen und Verbotsmaßnahmen in der heutigen Wirtschaft weit verbreitet. Diese Analogie zwischen Politik und Wirtschaft verdient eine genauere Betrachtung. Eine »politische« Lektüre der Ökonomie kann uns einen besseren Einblick in die »unpolitische« Seite gegen-demokratischer Instanzen verschaffen.

Ein Wort kehrt zurück Wie ich an früherer Stelle bemerkt habe, wurde der Begriff »Überwachung« [surveillance] in seinem modernen politischen Sinne zuerst von den Ökonomen des 18. Jahrhunderts gebraucht, um eine Form staatlicher Intervention zu beschreiben, die sich gleichermaßen von der üblichen Befehlsgewalt wie von den Automatismen des Marktes unterschied. Interessanterweise waren es wiederum die Ökonomen, die für eine Renaissance des Wortes in den 1970er Jahren sorgten. Dies geschah im Kontext der ersten Ölkrise von 1973, die zum Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods führte.1 1

Auf der Konferenz von Bretton Woods wurde 1944 ein System fester Wechselkurse vereinbart, das in etwa dem Goldstandard entsprach und bei dem der

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Mit der Aufgabe eines solchen Systems automatisch wirksamer, bindender Regeln stellte sich die Frage nach einer Alternative. Mit welchen Mitteln konnte verhindert werden, dass das neu entstandene Spiel freier Wechselkurse zu chaotischen Zuständen führt, wohl wissend, dass für eine ambitionierte Lösung kein Konsens vorhanden war? In diesem Kontext wurde erstmals eine »strenge Überwachung« als mögliche Lösung des Problems in Betracht gezogen. Es war der stellvertretende US -Finanzminister, der das Wort aufbrachte, das dann 1975 in Artikel 4 der überarbeiteten Satzung des Internationalen Währungsfonds (IWF ) Eingang fand.2 Später wurde der Begriff übernommen, um die Funktion zu umschreiben, die die G-10, die Gruppe der wichtigsten Notenbankdirektoren, bei ihren Jahrestreffen wahrnehmen sollten, und noch später auf die G7-Treffen der Regierungschefs der führenden Industriestaaten angewandt. Die Idee einer wirksamen, aber indirekten Steuerung, die sich aus keiner souveränen Autorität ableitet, aber gleichwohl bestrebt ist, ähnliche Resultate zu erzielen, kehrte in dieser Gestalt in die Wirtschaft zurück. Ökonomie und Politik stießen neuerlich auf einen gemeinsamen Begriff, um eine Instanz zu beschreiben, die, ohne über Befehlsbefugnisse zu verfügen, die Macht hatte, Entscheidungen zu beeinflussen oder gar zu erzwingen. Doch die Analogien beschränkten sich nicht auf die sprachliche Ebene.

Die ökonomische Funktion der Überwachung Die neoklassische Theorie geht von der Annahme aus, dass das einwandfreie Funktionieren von Verträgen einen freien Informationsfluss voraussetzt, der verhindert, dass irgendein Marktteilnehmer finanzielle Vorteile aus einem Informationsmonopol bezieht.3 Es müssen also Anreizmechanismen geschaffen werden, die sicherstellen, dass re-

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amerikanische Dollar und das britische Pfund Sterling, neben dem Gold, als Reservewährungen fungierten. Zu dieser Geschichte vgl. Pauly, Who Elected the Bankers?. Surveillance and Control in the World Economy (Kapitel 6, »The Reinvention of Multilateral Economic Surveillance«), sowie James, »The Historical Development of the Principle of Surveillance«. Vgl. Brousseau, L’Économie des contrats. Technologies de l’information et coordinations interentreprises.

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levante Informationen allen zeitgleich zugänglich sind. Das trifft insbesondere für die komplexe Welt der Finanzmärkte zu, die durch das Zusammenspiel einer erheblichen Menge höchst unsicherer Daten charakterisiert sind. Die erste Lösung dieses Problems lautet Selbstüberwachung: Jede Partei behält die anderen im Auge, sodass ein System gegenseitiger Kontrolle entsteht. Das ist der traditionelle Ansatz, um funktionierende Märkte herzustellen. Doch erweist er sich häufig als unzulänglich. Gegenseitige Kontrolle auf Augenhöhe versagt speziell im Umgang mit finanziellen Risiken.4 Und das ist leicht zu erklären. Denn die Ware, die auf Kreditmärkten gehandelt wird – nämlich Rückzahlungsversprechen –, leidet unter strukturbedingter Unsicherheit, was die Aufstellung objektiver und eindeutiger Kriterien der Risikobewertung unmöglich macht. In ihren Evaluierungsmethoden und ihrer Geschäftspraxis verlassen sich die Banken also weitgehend auf kollektive Beurteilungen des »Wirtschaftsklimas« und der »Marktlage« – die allerdings nur den aktuellen Stand professioneller Meinungen wiedergeben. Mechanismen gegenseitiger Kontrolle laufen also Gefahr, einen »Spiegeleffekt« zu erzeugen, der zu kollektiver Blindheit führt. Deshalb ist es sinnvoll, das zu haben, was Ökonomen als Supervisor bezeichnen, das heißt einen unabhängigen Dritten, der mit Zwangsbefugnissen ausgestattet ist. Nur ein solcher neutraler Akteur kann eine vertikale Kontrollbeziehung herstellen und dadurch das Risiko eines Herdenverhaltens minimieren, das allen Systemen, die allein auf horizontalen Kontrollen basieren, immanent ist (Verhaltensweisen, die zur Bildung – und zum anschließenden Platzen – von »Blasen« auf den Immobilien- und Börsenmärkten führen). Ein reibungsloses Funktionieren der Märkte setzt also nicht nur voraus, dass sich alle an die Spielregeln halten, um die Lebhaftigkeit und Transparenz des Systems zu gewährleisten (wofür zu sorgen Aufgabe von Organen wie der Securities and Exchange Commission in den USA oder der Autorité des marchés financiers in Frankreich ist), es erfordert überdies einen Kontrollapparat, dessen Effizienz an seine Fähigkeit

4

Ich folge hier der Argumentation von Aglietta/Scialom, »Vers une nouvelle doctrine prudentielle. Siehe auch Plihon, »Quelle surveillance prudentielle pour l’industrie des services financiers?«.

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gekoppelt ist, frühzeitige Korrekturmaßnahmen einzuleiten und gegebenenfalls Strafen zu verhängen.5 So gesehen kann das Marktversagen [market failures] durchaus mit den Funktionsmängeln im System der politischen Repräsentation verglichen werden. Das Versagen des Wahlmechanismus, eine effiziente Beziehung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten herzustellen oder zu garantieren, dass die Regierung zum Wohl der Allgemeinheit handelt, erzeugt ein ähnliches Bedürfnis wie in der Ökonomie nach zusätzlichen Kontrollsystemen, ob diese nun eine institutionalisierte Form annehmen oder im diffusen Sinne der öffentlichen Meinung wirken. Die Einschaltung eines unabhängigen Korrektivs dient in beiden Bereichen dazu, vergleichbare Defizite zu beseitigen. Das Unzulängliche gegenseitiger Kontrolle auf Augenhöhe in der Wirtschaft hat ein strukturelles Pendant in der begrenzten Unmittelbarkeit der Wahlbeziehung in der Politik: In beiden Fällen fehlt es an einer Vertikalität, die einem Steuerungssystem zeitliche Konsistenz verleiht. Außerdem wird in beiden Fällen die Schwierigkeit, ein direktes und dauerhaftes Vertrauensverhältnis herzustellen, durch eine Art institutionalisiertes Misstrauen kompensiert. Die Parallele erschöpft sich jedoch nicht in der Feststellung, dass Kontrollinstitutionen auch in der Wirtschaft eine Funktion erfüllen. Auch die beiden anderen Aufsichtsmechanismen, die wir früher beschrieben haben, Bewertung und Denunziation, bekommen eine zunehmende ökonomische Bedeutung. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts tauchten die ersten Rating-Agenturen auf, die Bonitätsbewertungen von Handelsverbindlichkeiten sowie Aktien und Obligationen anboten. Die ersten commercial credit ratings wurden in den USA anlässlich der Finanzkrise von 1837 vorgenommen. Sie stellten eine Reaktion auf das seinerzeit weit verbreitete Gefühl dar, dass der Markt aufgrund des Fehlens hinreichend unabhängiger Informationen versagt habe. Im 20. Jahrhundert gaben Firmen wie Moody’s oder Standard & Poor’s dieser Verfahrensweise ihre heute allseits bekannte

5

Zu den europäischen Bemühungen, solche Institutionen einzuführen, vgl. Marino, »Quelle architecture pour le contrôle prudentiel en Europe?«.

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organisatorische Form.6 Das Charakteristische an diesen Agenturen ist, dass sie aus der unabhängigen Bewertung von Forderungen und anderen Wertpapieren ein eigenes Gewerbe gemacht haben. Sie sind ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit eines neutralen Gutachters, der eingeschaltet werden muss, um ein Vertrauen herzustellen, dass Käufer und Verkäufer in ihrem persönlichen Umgang nicht in ausreichendem Maße haben erzeugen können. Während sich auf den Finanzmärkten eine Vielzahl von Teilnehmern tummeln, die Informationen tauschen, aber auch anfällig für Gerüchte und Manipulationen sind, beanspruchen diese Agenturen aufgrund ihrer externen Sicht größere Objektivität. Sie erfüllen in der Wirtschaft eine Funktion, die die Tätigkeit des Journalisten mit der des Experten kombiniert. Dementsprechend vergleicht die Agentur Fitch ihre Bewertungen auch mit Leitartikeln, bezeichnet sie gar als die »kürzesten Leitartikel der Welt«. Solche Agenturen fungieren also als eine Art sichtbare Hand, die im Zusammenspiel mit der unsichtbaren Hand des Marktes das Wirtschaftsgeschehen lenkt.7 Sie verkörpern auf exemplarische Weise die Macht der Aufsichtsinstanzen als ökonomische Regulierungsmechanismen.8 Die Tatsache, dass der Gesetzgeber in den meisten Staaten nach und nach eine Bewertungspflicht für zahlreiche Wertpapierkategorien eingeführt hat, ist ein Beweis für die Marktordnungsfunktion, die diesen Agenturen zuerkannt wird. Die Einstufungen der Agenturen haben deshalb einen Status erlangt, der an Bedeutung nicht hinter den Verschuldungskoeffizienten zurücksteht. Wertpapierratings sind Signale und stehen als solche für eine neue Form von Wirtschaftssteuerung. Zertifizierungen stellen eine verwandte Art von Aufsichtsmacht mit stärker normativem Charakter dar. Rechtlich gesehen, sind Ratings lediglich »Informationen«, die Transaktionen begünstigen oder blockieren, während Zertifizierungen eine unmittelbar verordnungsrechtliche Dimension haben. Sie entscheiden darüber, ob ein Wertpapier in ein bestimmtes 6 7 8

Zur Geschichte dieser Agenturen siehe Harold, Bond Ratings as an Investment Guide. An Appraisal of their Effectiveness; Raimbourg, Les Agences de rating. Zu dieser Funktion vgl. die Zusammenfassung von Lichy, »Les agences de rating«. Vgl. Sinclair, »Passing Judgements. Credit Rating Processes as Regulatory Mechanisms of Governance in the Emerging World Order«.

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Portfolio aufgenommen werden kann, oder sind, im industriellen Bereich, Voraussetzung für die Marktzulassung eines Produkts.9 In manchen Sektoren wie der Textilbranche reichen gesetzliche Maßnahmen zur Produktzertifizierung als Instrumente der Marktregulierung bis ins 18. Jahrhundert zurück. Liberale Ökonomen, allen voran Turgot, lehnten solche Maßnahmen entschieden ab; sie argumentierten, dass die Käufer rasch reagieren könnten, wenn sie von der Produktqualität enttäuscht wären, sodass die Verkäufer, wollten sie ihren guten Ruf und ihre Kunden nicht verlieren, selbst ein Interesse hätten, auf Betrug zu verzichten. Doch die Wirklichkeit war oft weit von einer solch idealisierten Sicht des Marktgeschehens entfernt. Weswegen in manchen Branchen die direkte Kontrolle durch den Konsumenten durch eine Expertenkontrolle ergänzt wurde. In diesem Kontext erfüllte die Zertifizierung die Funktion einer »Vertrauensstütze«.10 Audit-Verfahren vervollständigen dieses Überwachungssystem. Die rasche Vermehrung solcher Prüfverfahren – manche sprechen gar von »Audit-Explosion« – trägt ebenfalls der Notwendigkeit Rechnung, das Vertrauen in die Institutionen wiederherzustellen, wozu der Markt aus eigener Kraft nicht mehr imstande ist. Legitimität und Glaubwürdigkeit von Organisationen (inklusive Unternehmen) hängt somit von unabhängigen externen Evaluierungen ab. Die Einschaltung eines neutralen Prüfers hat hier die Funktion, Zustände und Gegebenheiten »aufzudecken«, die es ermöglichen, ein begründetes Urteil über die Qualität der Unternehmensführung abzugeben. Auf diesem Wege wird beispielsweise bestätigt, dass die Buchhaltung korrekt ist oder die Angaben des Unternehmens den Tatsachen entsprechen. Das Audit ist aus diesem Grund zu einem wichtigen Steuerungselement geworden.11 Institutionen sind nicht mehr länger glaubwürdig, wenn sie sich nicht solchen rigorosen Verifizierungsri-

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Zum Markt für pharmazeutische Produkte siehe Hauray, L’Europe du médicament. Politique, expertise, intérêts privés. Vgl. Minard, »Les béquilles de la confiance dans le secteur textile au XVIIIe siècle«, sowie Stanziani, »Qualité des denrées alimentaires et fraude commerciale en France, 1871–1905«. Vgl. Moizer (Hg.), Governance and Auditing.

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tualen unterziehen.12 Solche Prozeduren sind ein Härtetest, aber auch eine Chance zur Selbstbehauptung. Das Audit stellt also im Mindestfall eine »negative Versicherung« für die Institutionen dar. Ungeachtet seines scheinbar rein technischen Charakters bildet es eine starke indirekte Macht. Schließlich ist im ökonomischen Bereich das Erstarken eines letzten Kontrollmodus zu beobachten, den wir bereits in seinem politischen Kontext beschrieben haben: die Denunziation. Die sogenannten Whistleblower, diejenigen, die ihr Insiderwissen nutzen, um gravierende Missstände ihrer Organisation öffentlich zu machen, sind in den USA inzwischen sogar gesetzlich geschützt.13 Der Sarbanes-Oxley Act, der im Juli 2002 nach einer Reihe aufsehenerregender Finanzskandale verabschiedet wurde, zwingt börsennotierte amerikanische Unternehmen dazu, Verfahren einzurichten, mittels derer ihre Angestellten in Betrugsfällen anonym Anzeige erstatten können.14 Verstöße gegen ethische Grundsätze, Unregelmäßigkeiten bei der Produktqualität, Vertuschung von Mängeln bei der Arbeitssicherheit und finanzielle Manipulationen können so gemeldet werden, ohne dass der Whistleblower um seinen Arbeitsplatz fürchten muss. Das Gesetz erkennt also an, dass ein und dieselbe Person zugleich abhängiger Beschäftigter einer Organisation und mündiger Bürger ist. Der Whistleblower ist also für das Unternehmen, was der Rebell oder der Widerstandskämpfer für das politische System ist, wenngleich ein gesetzlich anerkannter und geschützter Rebell. Der Whistleblower verfügt über eine Kontrollmacht und übt zugleich eine Art Vetomacht aus.15 Bezeichnenderweise ernannte das US -Magazin Time die drei Whistleblower, die Missstände bei Enron, WorldCom und beim FBI aufgedeckt hatten, zu seinen »Personen des Jahres« 2003. Inzwischen hat die Europäische Union Richtlinien erlassen, die in die gleiche Richtung gehen. Sicherlich steht beim Whistleblowing das ethische An12 13 14 15

Vgl. das klassische Werk von Michael Power, The Audit Society. Rituals of Verification. Für eine Einführung in die mittlerweile ausufernde Literatur zum Thema vgl. Johnson, Whistleblowing, When it Works and Why. Vgl. Kohn/Kohn/Colapinto, Whistleblower Law. A Guide to Legal Protections for Corporate Employees. Vgl. Vinten (Hg.), Whistleblowing. Subversion or Corporate Citizenship?.

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liegen im Vordergrund, doch spielen auch ganz banale »Management«aspekte eine Rolle. Denunziationen dieser Art tragen dazu bei, Informationen zutage zu fördern, die für ein ordentliches Funktionieren von Institutionen und Märkten nützlich sind. Ganz generell könnte man diesbezüglich von einer Regulierung qua Denunziation sprechen. Doch gibt es auch weniger drastische Wege, um direkten Einfluss auf die Abläufe in den Betrieben zu nehmen. So vermehren sich im Internet die persönlichen Blogs, in denen sich Beschäftigte offen und kritisch über ihre Arbeitgeber äußern.16 Daneben existieren viele weitere Techniken zur direkten Übermittlung von Informationen und Vorschlägen: Hotlines, offene Foren, Mediatoren, Kummerkästen usw. Selbst die Unternehmen, die, im Unterschied zu den Repräsentationsverfahren auf politischer Ebene, lange auf hierarchische und autoritäre Formen der Machtausübung setzten, beginnen mittlerweile, sich mit den indirekten Mächten anzufreunden. Nicht aus gutem Willen, sondern unter dem Druck der Verhältnisse, sprich, den Erwartungen ihrer Belegschaft, aber mehr noch den Zwängen des Marktes.

Der Markt oder Triumph des Vetos Wir wollen der Parallele zwischen Ökonomie und Politik weiter nachgehen, und zwar auf dem Gebiet der prohibitiven Instanzen. Analogien zwischen Konsumenten- und Wählerverhalten werden oft gezogen: Erstere wählen Produkte genauso, wie Letztere Repräsentanten »küren« (die Literatur zu diesem Thema ist riesig). Der Vergleich zwischen den beiden Modellen der Präferenzbekundung und Entscheidungsfindung hat zu einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Markt und Forum geführt. Es entstanden wichtige Publikationen zu den verschiedenen Formen von Rationalität (einschließlich begrenzter Rationalität), die in beiden Sphären wirksam sind, wobei das Werk von Jon Elster in diesem Zusammenhang eine wegweisende Rolle spielte. Dabei hat man jedoch einer wesentlichen Eigenschaft von Märkten vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, nämlich der Tatsache, dass sie vorrangig durch negative Eingriffe strukturiert werden. Finanzmärkte sind dafür ein eklatantes Beispiel. Um zu ver16

Vgl., Rousselot, »Quand l’employé fait blog«.

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anschaulichen, wie sie funktionieren, kann man die Unterscheidung von Albert Hirschman zwischen Abwendung und Wortmeldung [exit und voice] zuhilfe nehmen.17 Im politischen und gesellschaftlichen Bereich gehen diese beiden Interventionsformen Hand in Hand. Der Wahlvorgang als solcher vermischt beide Elemente, kombiniert Ablehnungen mit Ambitionen, verbindet positive und negative Souveränität, um die im Vorherigen eingeführten Kategorien aufzugreifen. Märkte sind anders: Bei ihren Transaktionen setzt sich die Abwendung systematisch gegen die Wortmeldung durch.18 Auf den Märkten findet eine permanente Abwägung zwischen Vertrauen und Misstrauen statt, wobei letzteres Verhalten regelmäßig den Vorzug erhält. Unter unsicheren Bedingungen dominiert stets das Misstrauen. Aufgrund dieser Asymmetrie sind Negativurteile die eigentliche Antriebskraft von Marktentscheidungen. Die Option, Wertpapiere zu verkaufen, bestimmt in letzter Instanz die strukturelle Dynamik des Marktes. Wenn der Markt als vollendeter Ausdruck einer bestimmten Art von negativer Souveränität gelten kann, dann auch deshalb, weil diese Souveränität sich auf eine diffuse, dezentrale Weise äußert, die keinerlei vorgängige Formalisierung oder Verdichtung erforderlich macht. Der Markt verkörpert gewissermaßen die herrschende Meinung, einschließlich ihrer negativsten Formen, wie dem Gerücht. In diesem Universum gibt es keinen Platz für organisierte Repräsentation, weshalb sich zur Beschreibung der Marktkoordination das Bild der unsichtbaren Hand anbietet. Weil sein Regulationsmodell ein doppelt indirektes ist, sind viele aktuelle Kritiken am Markt problematisch. Denn unter dem hier diskutierten Gesichtspunkt ist der Markt nur eine – wenngleich äußerst symbolträchtige – Ausdrucksform des Phänomens dezentraler Entscheidungsfindung. Die Fixierung mancher Marktkritiker auf die »Schrecken des Neoliberalismus« verschleiert somit nur die Tragweite und die tieferen Ursachen der Probleme, die das Unpolitische in der heutigen Welt aufwirft. Die Kritik reduziert die Frage auf einen vermeintlich offenkundigen Gegensatz zwischen 17 18

Vgl. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch. Vgl. dazu die anregenden Bemerkungen von Emmerich: »Le marché sans mythes«.

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politischem Willen und ökonomischem Laissez-faire, Gemeinwohl und Partikularinteressen, während es die Vorstellung des Politischen in seinem Verhältnis zur Demokratie ist, die heute grundsätzlich zur Disposition steht. Der Markt ist mehr Indikator als Ursache des Unpolitischen. Er ist nicht die große Macht im Hintergrund, die über die Gesellschaft dominiert und ihren »Willen« durchsetzt, sondern mechanisches Medium einer anonymen und absolut negativen Gewalt, die sich niemand aneignen kann und die jeden beherrscht. Der Markt ist sozusagen extremer Ausdruck negativer Mitwirkung, Verabsolutierung der »zivilen« Demokratie und damit radikalste Illustration der Trennung des Demokratischen vom Politischen. Die »Krise der Allgemeinheit« in unseren Gegenwartsgesellschaften ist primär eine spezifisch politische Krise.

Unpolitische Ökonomie Diese kursorischen Bemerkungen deuten darauf hin, dass es möglich ist, indirekte Formen von Demokratie mit einer ganzen Reihe ökonomischer Verhaltens- und Verfahrensweisen zu vergleichen. Die Aufsichts-, Bewertungs- und Prüfungsverfahren in der Wirtschaft sind sogar stärker formalisiert als irgendeine der von uns beschriebenen Kontrollinstanzen in der Politik, sodass man mit Fug und Recht behaupten könnte, die Gegen-Demokratie sei in der ökonomischen Sphäre besser entwickelt als in der politischen. Doch nicht minder auffällig ist, dass sich Formen »institutionalisierter Demokratie« in der Wirtschaft auf dem Rückzug befinden. Die Macht der Gewerkschaften zum Beispiel leidet unter einem dramatischen Schwund, und das Unternehmen ist weniger denn je eine Institution, die nach repräsentativen Prinzipien geführt wird. Der Abstand zu dem, was man sich seit den 1920er Jahren unter »Fortschritt« vorstellte, ist in dieser Hinsicht spektakulär. Damals glaubte man, die Verfahrensweisen der repräsentativen Demokratie seien das Modell für alle modernen Organisationen und würden sich deshalb über die politische Sphäre hinaus verbreiten.19 Das große Thema der »industriellen Demokratie« 19

Es sei daran erinnert, dass Sieyès diesen Gedanken bereits 1789 vorwegnahm, als er meinte, das System der Arbeitsteilung – das er mit dem Repräsentativprinzip gleichsetzte – würde sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens

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hat die Reformer jahrzehntelang beschäftigt. In Frankreich beispielsweise rief François Bloch-Lainé mit Unterstützung der Gewerkschaften in den 1960er Jahren dazu auf, die Unternehmen von einer gewählten »Regierung« leiten zu lassen, die einem »Parlament« aus Vertretern der Arbeiterschaft, der Konsumenten und der Aktionäre gegenüber verantwortlich wäre.20 Das deutsche Mitbestimmungsmodell entsprang einer verwandten Geisteshaltung. Ende der 1960er Jahre brachte der Begriff der Selbstverwaltung [autogestion] eine aktualisierte und radikalisierte Version dieser Ideen zum Ausdruck, indem er die neuen Forderungen nach direkter Beteiligung der Arbeiter an der Unternehmensführung aufnahm. Der Gedanke war jeweils, die Institutionen einer positiv verstandenen Demokratie auf alle gesellschaftlichen Bereiche zu übertragen. Das alte Motto aus dem 19. Jahrhundert: »Eine Gesellschaft kann nicht republikanisch sein, wenn in der Fabrik die Monarchie herrscht«, blieb als Orientierungspunkt weiter zeitgemäß. Inzwischen ist klar, dass sich dieser Trend nicht durchgesetzt hat. Die 1980er Jahren markierten in dieser Hinsicht einen definitiven Wendepunkt. Anstelle einer kontinuierlichen Verallgemeinerung des klassischen Repräsentationsmodells erleben wir eine Ausbreitung indirekter Machtformen in allen Bereichen. Und niemand scheint das zu bedauern. Zum Beispiel würde heute niemand mehr ernsthaft den Gedanken vertreten, die Wahl der Unternehmensleitung sei der richtige Weg, um das Gemeinwohl zu erhöhen. Auch die Verstaatlichung von Unternehmen, die auf ihre Weise zur Entstehung einer per se »guten Regierung« beitragen sollte, hat sich, aus dem gleichen Grund, erübrigt. An ihre Stelle ist der faktische Konsens getreten, lieber auf eine ganze Palette von Kontrollmechanismen zu vertrauen. Aufsichtsinstanzen haben sich im gleichen Maße ausgebreitet wie prohibitive Verfahren. Nehmen wir zur Verdeutlichung ein weiteres Beispiel. Noch in den 1960er Jahren glaubte man allgemein, die Zukunft der Wirtschaftssteuerung läge in Formen flexibler Planung, die allmählich

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ausbreiten. »Im Zustand der Gesellschaft ist alles Repräsentation […]. Die Teilung der Arbeiten gilt für die politischen Arbeiten wie für jede andere Art produktiver Tätigkeit« (zitiert in: Rosanvallon, La Démocratie inachevée, S. 13). Bloch-Lainé, Pour une réforme de l’entreprise.

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den Markt ersetzen würden.21 Mittlerweile werden anstehende Reformen nur noch unter dem Gesichtspunkt vermehrter Kontrollbefugnisse thematisiert. Übrigens mussten die Firmenleitungen erfahren, dass ihre Position in dieser neuen Welt des »Meinungskapitalismus« schwächer geworden ist, als sie es in jenem Universum war, in dem die Gewerkschaften noch über große innerbetriebliche Macht verfügten. Was soll man aus dieser Feststellung folgern? Zunächst, dass die Legitimitäts- und Effizienzvorstellungen sich gewandelt haben. Die indirekten Mächte scheinen eher in der Lage zu sein, Einfluss auf den Lauf der Ereignisse zu nehmen, während es der Gesellschaft zugleich leichter fällt, sie sich anzueignen, oder sie von Institutionen ausgeübt werden, die aufgrund ihrer Unvoreingenommenheit als qualifiziert gelten. So reizvoll der Vergleich zwischen ökonomischer und politischer Sphäre auch sein mag, er sollte nicht dazu verleiten, naive oder voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen. Eine Welle von Finanzskandalen in den 2000er Jahren (Enron, WorldCom usw.) hat nämlich bewiesen, dass bestimmte Evaluierungs-, Prüfungs- und Aufsichtsverfahren fehleranfällig sind und keinen garantierten Schutz bieten. Die alte Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure?, stellte sich in ihrer ganzen Dringlichkeit.22 Die praktischen Probleme, vor denen die indirekten Mächte in der Wirtschaft stehen, sind somit Grund genug, uns erneut mit ihren politischen Pendants zu beschäftigen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass auch die indirekten Mächte in der Politik, insbesondere die Medien und die Richter, mit heftigen Herausforderungen zu kämpfen hatten, selbst wenn es in der Politik nichts gibt, was mit einem Börsenkrach oder einer schweren Rezession vergleichbar wäre. Der hier angestellte Vergleich zwischen Politik und Ökonomie lässt sich sogar noch weiter vorantreiben. Auch jenseits gravierender Fehlfunktionen ist die Entwicklung der indirekten Mächte im wirtschaftlichen Bereich ein offenkundiger Beleg für die Tatsache, dass der Trend in Richtung »Demokratisierung«, an dem sie teilhaben, keiner21 22

Vgl. die zeittypische Argumentation von Shonfield in: Geplanter Kapitalismus. Wirtschaftspolitik in Westeuropa und USA . Vgl. zum Beispiel Gerst/Groven, To B or not to B. Le pouvoir des agences de notation en question.

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lei politische Implikationen aufweisen muss. Tatsächlich erleben wir in der Wirtschaft eine Radikalisierung des unpolitischen Charakters dieser gegen-demokratischen Mächte. Davon zeugt beispielsweise die zwanghafte Idealisierung des Transparenzprinzips. Denn in der Wirtschaft hat die Transparenz ihren Namen wirklich verdient: Sie bezeichnet ein Projekt vollkommener Sichtbarkeit und absoluter Durchlässigkeit, sie ist mithin nur ein anderer Ausdruck für die Utopie des Marktes. Kontroll- und Bewertungsinstanzen haben in diesem Kontext die explizite Mission, das Reich der unsichtbaren Hand zu verwirklichen, das den Gegenpol zu jeder politischen Vorstellung verkörpert.23 Damit ist das Unpolitische in der Ökonomie aber noch lange nicht ausgeschöpft. Man kann sich nämlich vorstellen, dass die Regulierung, Kontrolle und Überwachung von Unternehmen und Märkten immer weiter voranschreitet, ohne dass die eigentlich politische Frage der Ökonomie, die nach der Verteilung des Reichtums, überhaupt jemals berührt wird. Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass sich die Zunahme des Abstands zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen oder zwischen Managementgehältern und durchschnittlichen Arbeiterlöhnen in den Unternehmen im gleichen Maße beschleunigte, wie Kontroll- und Regulierungsinstanzen sich vermehrten. Mit anderen Worten, der Kapitalismus kann regulierter und ungerechter, transparenter und unsozialer zugleich sein. Der Unterschied zwischen liberaler und demokratischer Kontrolle, dessen Bedeutung wir in den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigt haben, verdient also, einmal mehr gebührend hervorgehoben zu werden. Der Vergleich mit der Wirtschaft fungiert somit als eine Art Vergrößerungsspiegel und eignet sich besonders dazu, Wesen und Wirkungsweise gegen-demokratischer Mächte zu verstehen, stellt aber auch eine Mahnung dar, die Probleme des Unpolitischen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

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Vgl. Rosanvallon, Le Capitalisme utopique. Histoire de l’idée de marché.

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Das gemischte System der Moderne (Schluss) Unsere Erkundung des gegen-demokratischen Universums hat gezeigt, dass gängige Vorstellungen über den Rückzug des Bürgers in eine auf das Private reduzierte Welt überdacht werden müssen. Das ist auch als Aufforderung zu verstehen, die Mängel und Probleme heutiger Demokratien aus einer erweiterten, nicht auf die parlamentarisch-repräsentative Dimension beschränkten Perspektive zu betrachten. Besonders hervorzuheben ist dabei die zeitgenössische Diskrepanz zwischen der Entwicklung gegen-demokratischer Formen und einem gewissen Rückgang politischer Funktionen. Was wir brauchen, ist eine neue und komplexere Beschreibung des Rahmens, in dem sich Demokratie abspielt. Wir haben drei Dimensionen, drei Bühnen der Demokratie mit ihren jeweiligen Eigenschaften unterschieden: die parlamentarisch-repräsentative Regierung, die gegendemokratische Betätigung und den politischen Prozess. Die erste ist die am häufigsten und gründlichsten untersuchte. Sie besteht aus der Gesamtheit der Prinzipien und Verfahren, mittels derer Teilhabe, Ausdruck und Repräsentation der Bürger, die Legitimation der Staatsgewalt sowie die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Gesellschaft und ihre Ansprechbarkeit auf deren Forderungen geregelt werden. Die zweite, gegen-demokratische, Dimension, die den Gegenstand des vorliegenden Werkes bildet, umfasst ein Spektrum von Praktiken, die ich nach Überwachung, Verhinderung und Urteil unterschieden habe, mittels derer die Gesellschaft Druck auf die Machthabenden ausübt. Diese Praktiken erzeugen eine Art alternative und informelle Gegenmacht oder bilden Korrekturinstanzen (entweder auf direktem Wege oder über Ad-hoc-Institutionen). Die dritte Di263

mension, der politische Prozess, besteht in einem kontinuierlichen Reflexions- und Diskussionsvorgang, in dem die Grundregeln einer gemeinsamen Welt erarbeitet werden: Definition von Gerechtigkeitsprinzipien, Vermittlung zwischen den Lagen und Interessen verschiedener Gruppen, Abgrenzung und Zusammenspiel von Privatsphäre und Öffentlichkeit. Die Entwicklung dieser dritten Dimension korrespondiert mit einem Verlangen nach Lesbarkeit und Sichtbarkeit des Politischen. Diese Typologie dient nicht nur dazu, die Analyse des demokratischen Phänomens transparenter zu machen, sie bietet außerdem einen Ansatzpunkt, um besser zu verstehen, unter welchen Voraussetzungen heute ein Fortschritt der Demokratie in allen ihren Dimensionen möglich ist.

Die neuen Wege der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie ist, wie erwähnt, durch eine Reihe interner Spannungen charakterisiert. Eine Spannung zunächst zwischen der Aussicht auf ein Wahlrecht-als-Zugehörigkeit (Zeichen der Einbeziehung in eine politische Gemeinschaft auf der Grundlage prinzipieller Gleichheit) und der Vorstellung eines Wahlrechts-als-Regierungsprinzip (als Ausdruck des Zugangs zu einer geteilten Souveränität, wobei die Frage der jeweiligen Kompetenz des Einzelnen offen bleibt). Diese Spannung zwischen »Zahl« und »Vernunft« war mit ihren Wechselfällen ein prägendes Element in der Geschichte des allgemeinen Wahlrechts, eine Geschichte, die wiederum mit der Entstehung des souveränen Individuums in der modernen Gesellschaft zusammenhängt. Im Bereich demokratischer Repräsentation resultierte die Spannung aus der Kluft zwischen der abstrakten Einheit des Souveräns, ausgedrückt in Begriffen wie »Volk« oder »Nation«, und der Vielfalt sozialer Lagen. Wie soll man ein »Volk-alsPrinzip« mit dem »Volk-als-Gesellschaft« zur Deckung bringen? Wie soll man, mit anderen Worten, diesem abstrakten Souverän eine Form und ein Gesicht verleihen, vor allem, wenn es darum geht, ihn in einer Versammlung zu repräsentieren? Die ganze Schwierigkeit demokratischer Repräsentation besteht also in der Diskrepanz zwischen einem politischen Prinzip – dem Bekenntnis zum Vorrang des Gemeinwillens – und einer soziologischen Realität. In der Demokratie ist das Volk ein ebenso mächtiger wie unfassbarer Herr. Durch die Überhö264

hung des Willens auf Kosten von Natur und Geschichte betraute die moderne Politik das Volk gerade in dem Augenblick mit der Macht, als das von ihr beförderte Emanzipationsprojekt durch die Abschaffung der feudalen Gesellschaft mit ihren Ständen und Zünften zur Abstraktion des Sozialen führte. Daher rührt der Widerspruch zwischen dem politischen Prinzip der Demokratie und ihrem soziologischen Prinzip: Das politische Prinzip bestätigt die Macht eines Kollektivsubjekts, dessen Stabilität und Sichtbarkeit durch das soziologische Prinzip gerade verringert wird. Eine letzte Spannung ist schließlich dem Begriff der Volkssouveränität selbst immanent: Die Idee der Repräsentativregierung litt von Beginn an unter einer gewissen Unbestimmtheit. Schon zu Zeiten der Amerikanischen und der Französischen Revolution glaubten manche Beobachter, die Repräsentativregierung befinde sich völlig im Einklang mit dem Geist der Demokratie, und verstanden sie als bloße methodische Krücke, als eine Art »technischen« Ersatz für direkte Demokratie, insofern diese in einem großen Flächenstaat praktisch nicht umsetzbar war (in diesem Sinne eines Notbehelfs sprach man schon sehr früh von »repräsentativer Demokratie«). Doch andere Kommentatoren verstanden die Repräsentativregierung als Alternative zu einer Demokratie, die sie für gefährlich erachteten. Für viele Väter der amerikanischen oder französischen Verfassung bestand das Ziel darin, über den Repräsentationsmechanismus eine Art Wahlaristokratie zu installieren. Die Repräsentativregierung definierte sich in diesem Fall in Opposition zur Demokratie als neue Regierungsform, die das klassische Repertoire erweiterte. Seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts haben diese Spannungen bei den Bürgern unaufhörlich das Gefühl genährt, zu kurz gekommen, ja verraten worden zu sein. Manche Theoretiker argumentieren seit jeher, dass solche Gefühle eine Folge übertriebener Erwartungen seien, die gezügelt werden müssten, damit die Gesellschaft einen gemäßigten politischen Kurs einschlagen könne. Von Madison und Sieyès bis zu den zeitgenössischen Vertretern des demokratischen Realismus, ob liberaler oder konservativer Provenienz, hat eine lange Reihe politischer Denker die Vorzüge einer maßvollen und versöhnlichen Politik angepriesen, um Unzufriedenheiten zu reduzieren. Geistige Skepsis im Verbund mit Vorurteilen gegen die Masse beförderten somit auf Dauer eine resignative Sicht des Politischen. Im 265

20. Jahrhundert bestärkte die Gefahr des Totalitarismus solche Vorbehalte noch zusätzlich und gab Anlass zu Appellen an die Bürger, ihren Erwartungshorizont zu beschränken. Infolgedessen wurde das demokratische Ideal oft heruntergeschraubt auf den bloßen Wunsch, eine Regierung einzuführen, die in der Lage wäre, die Grundrechte ihrer Bürger zu schützen – himmelweit entfernt vom alten Ideal echter Volkssouveränität. Von Kelsen bis Schumpeter haben im 20. Jahrhundert eine Vielzahl politischer Denker die Bescheidenheit ihrer Ambitionen als theoretisches Argument ausgegeben und sich bemüht, eine rein prozedurale Sicht politischer Legitimation an die Stelle der alten Metaphysik aktiver Volksherrschaft zu setzen. Doch ungeachtet aller Einsichten, von welchen Abgründen die Pfade nach Utopia gesäumt seien, ist der Wunsch der Menschen, Wege einer effektiveren Selbstregierung oder eines stärker der Gesellschaft verpflichteten Repräsentativsystems zu finden, immer wieder aufgetaucht. In den vergangenen zweihundert Jahren wurden unaufhörlich Verfassungsvorhaben ersonnen und Praxisformen entwickelt, um dem Anspruch auf Mitwirkung und Teilhabe gerecht zu werden. Dass diese Geschichte keineswegs abgeschlossen ist, beweisen schon die vielen Projekte und Experimente rund um den Globus, die auf Intensivierung der Bürgerbeteiligung und Verbesserung der Repräsentationsverfahren abzielen (Verbot der Ämterhäufung oder Beschränkung der Amtszeiten, Einführung von Abstimmungsprozessen, Rückgriff auf direktdemokratische Verfahren, Neuordnung von Befugnissen). Die Lebhaftigkeit der Verfassungsdebatten, obwohl von Land zu Land unterschiedlich, zeugt ihrerseits davon, dass es diesbezüglich hohe Reformerwartungen gibt. Die zunehmende Mitwirkung der Bürger an Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, ist in diesem Rahmen eines der markantesten Merkmale der demokratischen Entwicklung in den letzten Jahren. Seit den 1980er Jahren dient der Begriff der »partizipativen Demokratie« dazu, solche Innovationen zu bezeichnen, die sich allerdings auf ein Spektrum höchst unterschiedlicher Erfahrungen und Praktiken beziehen. Zweifellos besteht noch ein großer Abstand zwischen den elaborierten Verfahren, mittels derer der berühmte »partizipative Haushalt« von Porto Alegre erarbeitet und verabschiedet wird, und der bescheideneren Praxis der Quartiersversammlungen in anderen Städten der Welt. Dennoch ist ein allgemeiner Trend zur Konvergenz der 266

Bemühungen zu erkennen. Nehmen wir allein Frankreich als Beispiel: Hier wurden seit den 1990er Jahren eine Reihe gesetzlicher Initiativen zur Bürgerbeteiligung ergriffen. So schreibt seit 1999 ein Raumordnungsgesetz die Einrichtung regionaler Entwicklungsräte vor, Gremien mit beratender Funktion, in denen vor allem interessierte Vereine und Verbände vertreten sind. Ein weiteres Gesetz regelt seit 2002 die Einführung von Stadtteilbeiräten in allen Städten von mehr als 80000 Einwohnern. Daneben wurden öffentliche Anhörungsverfahren erweitert und verstärkt.1 Seit 1995 existiert zudem eine Nationale Kommission für öffentliche Debatten, um Umweltverbänden die Möglichkeit zu eröffnen, »sich an umweltpolitischen Maßnahmen staatlicher Stellen zu beteiligen«. 2002 wurde der Status dieser Kommission sogar zu dem einer unabhängigen Behörde aufgewertet, und zwar durch ein Gesetz, das bezeichnenderweise mit dem Titel »bürgernahe Demokratie« überschrieben ist. Zahlreiche Workshops, Tagungen und Foren zu spezifischen Themen verfolgten auf regionaler Ebene den Zweck, Bürger und Entscheidungsträger zusammenzuführen. Häufig angeregt durch sozialwissenschaftliche Arbeiten wurden punktuell Erfahrungen gesammelt mit »Konsenskonferenzen«, »hybriden Foren«, »Bürgerforen« oder »Deliberationsforen« (Folkehøring).2 Derartige Institutionen und Praktiken sind heute, in mehr oder minder elaborierter Form, in zahlreichen Ländern zu finden. Der Begriff der partizipativen Demokratie erfuhr gleichsam eine offizielle Würdigung durch den Entwurf zum Vertrag über eine Verfassung für Europa von 2004. Er taucht nicht nur im Text auf, sondern wird dort auch explizit von der repräsentativen Demokratie abgegrenzt. Wörtlich heißt es, seine »Organe pflegen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft« (Artikel I–47). Die Einführung neuer Demokratieformen hat überdies eine Flut begleitender Publikationen ausgelöst, die versuchen, die Grundzüge eines neuen 1

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Siehe dazu vor allem die Beiträge in Bacqué/Rey/Sintomer, Gestion de proximité et démocratie participative. Une perspective comparative; sowie das gesamte Themenheft »Alter-démocratie, alter-économie«, der Revue du MAUSS (Nr. 26, 2005). Vgl. Callon/Lascoumes/Barthe, Agir dans un monde incertain. Essai sur la démocratie technique, sowie Bourg/Boy, Conférences de citoyens, mode d’emploi.

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postrepräsentativen Zeitalters herauszuarbeiten, einer Demokratie, die das Ideal eines lebendigen Gemeinwesens konkretisiert.3 Es gibt viele Gründe für dieses wachsende Interesse an der partizipativen Demokratie. Sie entspricht zunächst einer gesellschaftlichen Nachfrage. Die Bürger sind weniger denn je bereit, einfach ihr Kreuz auf den Wahlzettel zu machen und ihren Repräsentanten eine Blankovollmacht zu erteilen. Sie wollen, dass ihre Interessen und Meinungen tatsächlich und kontinuierlich berücksichtigt werden. Schon um ihre eigene Legitimität zu sichern, ist es mittlerweile im Sinne der politischen Entscheidungsträger selbst, neue Formen des Austausches und der Rücksprache mit ihren Wählern zu erproben. Denn eine Macht wird nur noch dann als legitim wahrgenommen, wenn sie sich regelmäßigen Diskussionsprozessen und Rechtfertigungsprozeduren unterwirft. Zudem ist Partizipation schon deshalb unentbehrlich geworden, weil sich Menschen und Probleme anders nicht mehr in den Griff bekommen lassen. Die Utopie eines allwissenden Staates, der in der Lage ist, die Gesellschaft von oben herab rational zu regieren, hat jede Glaubwürdigkeit verloren. Deshalb wurden Dezentralisierungsprozesse zunächst aus dem Grund eingeleitet, weil sie einer verwaltungstechnischen Notwendigkeit entsprachen: um etwas zu bewirken, musste man nunmehr basisnah operieren, Betroffene einbeziehen, Informationen an der Quelle sammeln. Partizipative Demokratie ist Teil dieses Trends. Sie entspricht den gestiegenen Anforderungen an zeitgemäße Formen von Regierungsfähigkeit. So verstanden, hat Partizipation eine funktional zu nennende Dimension, insofern sie sich vor allem auf Probleme von begrenzter Reichweite bezieht. Die Banalisierung ihres Gegenstandsbereichs hat auch zu einer diskreten Entpolitisierung dieser Art von Demokratie geführt, wenngleich ihre propädeutischen und pädagogischen Aspekte nicht zu übersehen sind.4 Man darf Partizipation 3 4

Vgl. die repräsentativen Arbeiten aus den 1970er und 1980er Jahren von Benjamin Barber, Joshua Cohen oder Carole Pateman. Natürlich ist hier je nach Kontext zu unterscheiden. In Lateinamerika etwa sind Bürgervereine und Basisbewegungen stärker politisiert, weil sie ein Defizit vonseiten des Staates und der Institutionen ausgleichen müssen (abgesehen davon, dass viele dieser Strukturen zu Zeiten der Diktatur entstanden sind, als ein explizit politisches Auftreten unmöglich war).

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also nicht überbewerten oder gar zur Garantin des demokratischen Fortschritts erklären. Es gilt übrigens zu beachten, dass der Aufstieg der partizipativen Demokratie eng verknüpft ist mit einem Strukturwandel zivilgesellschaftlicher Organisationen, der sich als »Hinwendung zum Lokalen« beschreiben lässt. In den Vereinigten Staaten haben der Niedergang der großen landesweiten Interessenverbände mit gesamtgesellschaftlichem Bezug und das Erstarken einer Zivilgesellschaft, die immer stärker von einem Mosaik kleiner advocacy groups und anderer lokaler Vereine geprägt ist, manche Beobachter schon dazu veranlasst, von einem »Abbau der Demokratie« [diminished democracy] zu sprechen.5 Die Bewegung für eine deliberative Demokratie, die in den 1990er Jahren nach und nach an Einfluss gewann, hat diese Grenzen der Partizipation implizit erkannt und statt ihrer einen Ansatz entwickelt, den man als stärker »qualitativ« orientiert bezeichnen könnte.6 Begriffe wie rationale Diskussion, argumentativer Austausch oder Bürgerforen traten jetzt in den Vordergrund. Von Jürgen Habermas bis Bernard Manin und von Joshua Cohen bis Jon Elster bemühten sich zahlreiche Theoretiker darum, in diesem Sinne ein stärker prozedurales Verständnis von Demokratie zu formulieren, das um die Vorstellung eines deliberierenden Volkes kreiste.7 Eine ganze Reihe von Werken waren dem Vorhaben gewidmet, die Entstehungsbedingungen einer besser informierten, rationaleren und aktiveren Bürgerschaft herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang entstanden auch Vorschläge, ergänzend zu den Wahlritualen ähnliche symbolische Termine zur Feier der Deliberation zu schaffen.8 Mittlerweile

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Vgl. die gut belegten Analysen von Skocpol, Diminished Democracy. From Membership to Management in American Civic Life. Man sprach auch von »deliberativer Wende« [deliberative turn], um diese Entwicklung zu kennzeichnen. Der Aufschwung, den diese Strömung in den Vereinigten Staaten nahm, wurde auch durch den Wunsch befördert, die Beschränktheit von Rational-ChoiceTheorien zu überwinden, die Politik auf eine rein arithmetische Interessensummierung reduzierten. Vgl. dazu Manin, »L’idée de démocratie délibérative dans la science politique contemporaine«. Vgl. dazu den Vorschlag, einen »Deliberationstag« als nationalen Feiertag einzuführen (Ackerman/Fishkin, Deliberation Day).

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gibt es eine ansehnliche Literatur zu diesem Thema. Sie hat insbesondere dazu beigetragen, uns um ein dynamisches Verständnis von Argumentationsmechanismen zu bereichern, die formalen Voraussetzungen einer effizienten Deliberation zu präzisieren und die vergleichende Analyse der verschiedenen Abschlussmodalitäten einer Diskussion zu vertiefen. Doch zugleich sind auch die Grenzen dieses Ansatzes und die Probleme, die er aufwirft, deutlicher hervorgetreten. So fand man heraus, dass häufig das Phänomen der Meinungspolarisierung auftritt, was Anlass war, die anfangs allzu optimistische Einschätzung der intrinsischen Vorzüge von Diskussionen zu korrigieren.9 Verwiesen wurde auch auf die Verzerrungen, die durch eine eher konsens- als konfliktorientierte Auffassung des demokratischen Prozesses entstehen könnten, sowie auf die Gefahr, die Ungleichheit der Ressourcen, über die verschiedene Gruppen in der kollektiven Diskussion verfügen, zu unterschätzen.10 Ohne die Bedeutung aktueller Überlegungen und Erfahrungen auf den Gebieten der Partizipation und Deliberation herunterspielen zu wollen, erscheint es uns geboten, die Bedingungen demokratischer Erneuerung in einem breiteren Kontext zu erörtern. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts besteht die erste wesentliche Aufgabe darin, das gegen-demokratische Universum zu ordnen. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen, um ein weiteres Abgleiten der Gegen-Demokratie in einen destruktiven und reduktionistischen Populismus zu verhindern. Zum anderen gilt es, ein Verständnis für die wahre Natur des Politischen, das wir heute so bitter benötigen und das weiter zu verfallen droht, zu rekonstruieren bzw. neu zu entwickeln.

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Es wurde nachgewiesen, dass die Diskussion häufig dazu tendiert, die Gegensätze zwischen Gruppen zu verhärten, anstatt zur Einigung auf eine Kompromissformel zu führen. Vgl. Sunstein, »The Law of Group Polarization«. Vgl. zum Beispiel die Bemerkungen von Sanders, »Against Deliberation«. Hinzuweisen ist auch auf die radikale Ablehnung des deliberativen Prinzips durch dezisionistische Theoretiker: von Donoso Cortès bis Carl Schmitt haben sie die Diskussion stets als eine Praxis bekämpft, die die Entschlossenheit des Handelns und die Schärfe der Antagonismen, die in ihren Augen das Wesen des Politischen ausmachen, unterminiert.

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Die Gegen-Demokratie konsolidieren Historisch betrachtet, sind die gegen-demokratischen Mächte aufs Geratewohl entstanden, als Ansammlung von Praktiken ohne strategischen Gesamtplan. Tatsächlich traten sie zunächst als Reaktion auf die Unzulänglichkeiten der parlamentarisch-repräsentativen Regierungsform in Erscheinung. Doch das Problematische am gegen-demokratischen Engagement besteht darin, dass man es nicht, wie in den Vorstellungen des 18. Jahrhunderts, über Ad-hoc-Institutionen in ein verfassungsmäßiges System einbinden kann. Deshalb leidet es an einer gewissen strukturellen Instabilität und wird anfällig für Äußerungen, die seine ursprünglichen Absichten dementieren. Deshalb sollte man die Frage, ob es unmöglich ist, ihm einen Verfassungsstatus zu geben, noch einmal überdenken. Wie bereits in früheren Kapiteln erwähnt, sind entsprechende Experimente, wie der pennsylvanische Zensorenrat oder das französische Tribunat, gescheitert. Das Problem lag in beiden Fällen in der Unmöglichkeit, eine »reine Institution« zu schaffen, die sich ganz auf ihre Aufgabe konzentriert und sich aus der Politik vollkommen heraushält. Diese Unmöglichkeit war nicht den besonderen Umständen geschuldet, sie ist struktureller Art. Die Vorstellung einer rein funktionalen Institution ist in der Praxis nicht umsetzbar. Das wäre, als würde man das Gute, die Gerechtigkeit oder das Gemeinwohl für mühelos zu verwirklichende Ziele halten. Oder anders ausgedrückt, es besteht kein Grund zu der Annahme, dass sich über den Einsatz einer gegen-demokratischen Macht ein Grad von Allgemeinheit herstellen ließe, der sich mit den üblichen Mechanismen der Repräsentativregierung als unerreichbar erwiesen hat. Die Perfektionierung demokratischer Institutionen verläuft über eine Pluralisierung von Repräsentations- und Souveränitätsformen. Dementsprechend kann die Vervollkommnung der gegen-demokratischen Funktion nur aus einer Vervielfältigung ihrer Ausdrucksformen resultieren. Niemand kann in Anspruch nehmen, den Willen des Volkes zu verkörpern oder verbindlich in seinem Namen zu sprechen. Parallel dazu kann niemand in Anspruch nehmen, alleiniger und gültiger Ausdruck seiner Kritik zu sein: niemand, keine Institution und keine Gruppe. Doch genau auf ein solches Monopol läuft hinaus, was Ad-hoc-Institutionen, aus idealistischen Motiven, und populistische Bewegungen, aus Anmaßung und Borniertheit, für sich ein271

fordern (Letztere behaupten, dass sie, und nicht eine vermeintlich diskreditierte Staatsmacht, das »wahre Volk« verkörpern würden). Die Gegen-Demokratie ist deshalb instabil und bedarf ständiger Beobachtung. Die gegen-demokratische Funktion kann nur pluralistisch sein, doch dieser Pluralismus muss sich auf unterschiedlichen organisatorischen Ebenen äußern, im Sinne differenzierter Annäherungen an die soziale Allgemeinheit (die vom nebulösen Charakter der öffentlichen Meinung bis zu strukturierteren, quasi-repräsentativen Funktionen wie der Rechtsprechung reichen). Die gegen-demokratische Funktion stabilisieren zu wollen, setzt allerdings voraus, dass ihrer Binnendifferenzierung besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Denn zwischen der rein informellen Macht der öffentlichen Meinung oder des politischen Aktivismus und der verfassungsmäßigen Ordnung im engeren Sinne erstreckt sich ein weites, noch unerforschtes Gelände. Mit der Erkundung zu beginnen, würde eine neue, zugleich theoretische und praktische Recherche erfordern, die im Rahmen dieses Werkes nicht zu leisten ist. Doch da die vorliegende Arbeit zumindest bis an die Schwelle eines solchen Unterfangens heranreicht, ist es durchaus legitim, die Tür bereits einen Spaltbreit zu öffnen. Betrachten wir zunächst die Aufsichtsinstanzen in ihren diversen Ausprägungen. Genau genommen, sind es gegenwärtig fünf Kategorien: das Parlament als Kontrollmacht der Exekutive und Untersuchungsgremium; die öffentliche Meinung, die über die Medien in diffuser und polarisierter Weise zum Ausdruck gelangt; die kritische Einmischung der Oppositionsparteien; das Agieren sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen; demokratische Ad-hocInstitutionen. Man könnte anhand dieser Typologie vergleichende Tabellen zur Situation in verschiedenen Ländern erstellen und die historische Entwicklung der jeweiligen politischen Systeme nachzeichnen. Solche Tabellen würden eine beträchtliche Variationsbreite zutage fördern. Wir haben zum Beispiel schon auf das Bedeutsame des historischen Trends aus dem 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht, manche dieser Kontrollfunktionen auf den parlamentarischen Raum zu konzentrieren. Hingegen wurden die Versuche, Ad-hoc-Institutionen einzuführen, schon nach einer kurzen Experimentierphase wie272

der aufgegeben. Vergleiche zur heutigen Rolle der Parlamente oder zur Vitalität der Zivilgesellschaften in verschiedenen Ländern würden deutliche Kontraste offenbaren. Doch würde eine solche Typologie auch ermöglichen, große länderübergreifende Entwicklungsparallelen zu erkennen. Mit der Tendenz zur »Privatisierung« und Fragmentierung der öffentlichen Meinung, die das Internet befördert hat, wandelt sich zum Beispiel auch unsere Wahrnehmung dieser Instanz als Kontrollmechanismus, da deren Allgemeinverbindlichkeit sich durch die zunehmend individualisierte Aneignung des gesellschaftlichen Ausdrucks drastisch reduziert hat. Die fortschreitende »Demokratisierung« der Kontrolle ist in diesem Zusammenhang ein direkter Indikator für den zunehmend unpolitischen Charakter unserer Gesellschaften. Die Aufsichtsfunktion, die einst den Parteien zukam, hat im gleichen Maße abgenommen, und Letztere sehen sich als Organisationen mehr und mehr auf ihre spezifische Rolle im parlamentarisch-repräsentativen System zurückgeworfen.11 Daher rührt die wachsende Bedeutung, die man parteiunabhängigen Organisationen bei der Herausbildung neuer und differenzierterer Kontrollverfahren zumessen sollte. Es wäre beispielsweise an die Gründung zivilgesellschaftlicher Ratingagenturen zu denken, um das Verhalten bestimmter staatlicher Organe zu bewerten, oder ziviler Beobachtungsstellen, die auf entstehende Probleme oder besorgniserregende Entwicklungen aufmerksam machen. Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Ungleichheiten oder sozialer Ausgrenzung, um nur diese beiden Themen zu nennen, sind in vielen Fällen bereits entsprechende Initiativen ergriffen worden. Zweifellos wird die Mobilisierung gesellschaftlichen Expertenwissens und ziviler Wachsamkeit eine der wesentlichen Herausforderungen des demokratischen Fortschritts darstellen. Deshalb müssen auch stärker institutionalisierte Formen von Aufsicht und Kontrolle wieder vermehrt ins Blickfeld rücken. Es gibt noch viele unerforschte Wege. Zum Beispiel wäre vorstellbar, in dem einen oder anderen Be11

In diesem Sinne muss man, denke ich, die Diskreditierung der politischen Parteien verstehen. Sie hat zunächst funktionale Gründe: die Dezentralisierung und gesellschaftliche Wiederaneignung von Formen der Kontrolle und der Opposition. Doch resultiert sie ebenso aus ihrer unklaren Stellung zwischen dem parlamentarisch-repräsentativen und dem gegen-demokratischen Feld.

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reich Untersuchungskommissionen zu bilden, die sich aus zufällig ausgewählten Bürgern zusammensetzen. Eine Reihe unabhängiger öffentlicher Behörden könnte auf diese Weise entstehen (nach dem Vorbild der französischen Antidiskriminierungskommissionen oder Ethikausschüsse für die Sicherheitskräfte). Gegen-demokratische Aufsichtsinstanzen könnten so in ihren verschiedenen Ausprägungen zu einer der tragenden Säulen einer engagierteren und partizipativeren Bürgerschaft werden. Wie ausführlich dargelegt, hat die Entwicklung der prohibitiven Mächte letztlich zu einer negativen Souveränität geführt, deren dominante Züge zumeist reaktiver und destruktiver Art sind. Deshalb sind sie auch die treibende Kraft hinter der Anomalie des Populismus. Doch wie die Geschichte dieser Mächte zeigt, können sie auch auf andere Weise und zu anderen Zwecken genutzt werden. Um ihnen eine Wendung ins Positive zu geben, müsste man zum eigentlichen Grund ihrer Existenz zurückkehren, nämlich dem Bestreben, Formen von Kritik und Kontrolle zu installieren, die es den politischen Institutionen ermöglichen, in verschiedenen Zeiträumen zu operieren. Sie bringen eine plurale Souveränität ins Spiel, bei der die Wahlen nicht mehr die einzige und selbstverständliche Quelle der Legitimation sind. Die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit, die eine hierarchisch geordnete Auslegungsbefugnis von Gesetzestexten voraussetzt, ist heutzutage die bekannteste Form institutionalisierter Prävention. Aufseiten der Exekutive stellt das Recht, das Parlament aufzulösen (dort, wo es existiert), ein mächtiges Präventionsinstrument dar. Es dient dazu, die Mehrheit auf den Prüfstand zu stellen: Wenn der Abstand zwischen sozialer Legitimation und der Legitimation durch den Wähler vermeintlich zu groß geworden ist, kann die Parlamentsauflösung ein Mittel sein, beide Quellen der Legitimation wieder in Einklang zu bringen. Das parlamentarische Misstrauensvotum gegen Maßnahmen der Exekutive bildet gewissermaßen das Gegenstück aufseiten der Legislative. Wir sind in diesen Fällen weit entfernt von reiner Obstruktion, die jede kohärente Perspektive vermissen lässt. Man müsste deshalb diese Richtung einschlagen, um die funktionale Protestdimension der Gegen-Demokratie zu einer politisch wirksamen und nützlichen Ressource weiterzuentwickeln. Ist es möglich, gesetzliche Präventionsbe274

fugnisse zu vergesellschaften? Das war zumindest der Gedanke hinter den verschiedenen Arten von »Zensorat«, die im späten 18. Jahrhundert in Betracht gezogen wurden. Die Vorstellung einer geteilten Legitimität, die diesen Systemen zugrunde lag, ist inzwischen teilweise durch jene Verfahren verwirklicht, die dazu führen, den üblichen Zeitplan, nach dem sich die politischen Institutionen richten, zu durchbrechen. Doch diese Verfahren haben häufig wenig Bezug zur Welt der einfachen Bürger. Wie kann man diesen Mangel beseitigen? Etwa indem man Verfassungsrichter zur Wahl stellt? Im Grunde ist es das, worauf zahlreiche Projekte während der Französischen Revolution hinausliefen. Doch sind Wahlen vielleicht nicht die zufriedenstellendste Lösung: Sie schaffen zwar eine starke Bindung, die jedoch nicht lange hält und mitunter wenig rational ist. Die verschiedenen Präventionsinstanzen sind den Bürgern wahrscheinlich eher zugänglich, wenn sie unter dem permanenten Zwang stehen, ihre Entscheidungen zu begründen und rechtfertigen. Momentan kann ein französischer Präsident das Parlament auflösen, ohne jemandem dafür Rechenschaft schuldig zu sein, und in vielen Ländern brauchen die Verfassungsgerichte für ihre Entscheidungen keine Gründe anzugeben. Es ist dieses Fehlen einer vernünftigen Begründung, was bei den Bürgern ein Gefühl der Entfremdung erzeugt und ihnen die Behörden als schroffe und unnahbare Macht erscheinen lässt. Eine sorgfältig begründete Argumentation hat hingegen den Vorteil, dass sie eine reflektierte Beziehung schafft, eine starke Bindung erzeugt, die Anerkennung einer Pflicht beinhaltet. Sie zwingt eine Macht, von ihrem Sockel herabzusteigen. In diesem Fall ist es also keine Institution, sondern ein praktisches Verhalten, in dem die gegen-demokratische Funktion sich konkretisiert. Andere Arten der Institutionalisierung oder praktischen Ausübung einer prohibitiven Macht sind vorstellbar, zum Beispiel um eine für gefährlich erachtete staatliche Maßnahme zu blockieren. In der Regel werden in solchen Fällen ordentliche Gerichte bemüht (ein Gerichtsverfahren führt zu einer Entscheidung im eigentlichen Sinne). Die prohibitive Macht gelangt hier also weiterhin auf mittelbare Weise zum Einsatz. Kann sie auch direkt ausgeübt werden? In Ausnahmesituationen, ja. Das ist die Ultima Ratio des sozialen Aufstands oder der exemplarischen Widerstandsaktion eines Einzelnen. Im Normalfall 275

wird die prohibitive Macht aber stets delegiert. Sie nimmt erst dann einen wahrhaft sozialen Charakter an, wenn sie sich der Pflicht zur Rechtfertigung und Rechenschaftslegung unterzieht. Ihrer Struktur nach fungiert sie stets als Dekonstruktion der vorgegebenen Zeitlichkeiten des politischen Systems. Ihr Wesen ist das eines Vetos mit aufschiebender Wirkung. Sie ist die Demokratie, die sich selbst auf die Probe stellt, die ihre Akteure vermehrt und ihre zeitlichen Abläufe verändert. Die gegen-demokratischen Verhinderungsmächte erweitern und vertiefen unser Verständnis von Repräsentation durch einen Rückkopplungsprozess, der über den Bereich der Wahlen weit hinausgeht. Sie werden somit Teil der strukturellen Indirektheit der repräsentativen Demokratie.12 Die dritte Form von Gegen-Demokratie, die Urteilsmacht, wird selten direkt ausgeübt (allenfalls von Geschworenengerichten, die wiederum kaum in Fällen ohne politische Implikationen tätig werden). Wenn das Volk als Richter agiert, dann eher in Sachen der öffentlichen Moral oder als Garant des sozialen Zusammenhalts, weniger in politischen Angelegenheiten. Wie wir gesehen haben, war das nicht immer so: Im 19. Jahrhundert wurden Prozesse wegen Pressevergehen, die in einem engen strukturellen Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte standen, regelmäßig vor Geschworenengerichten verhandelt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich dann nahezu überall eine Professionalisierung des Justizwesens. Inzwischen ist es allerdings an der Zeit, sich zu fragen, ob man diesen Trend nicht umkehren müsste. Delikte wie Bestechlichkeit oder Veruntreuung öffentlicher Gelder könnten zum Beispiel vor Geschworenengerichte gebracht werden, um den Ernst von Vergehen zu unterstreichen, die sich gegen den demokratischen Prozess als solchen richten. Allerdings erfolgt die Rechtsprechung in demokratischen Staaten überwiegend im Namen des Volkes, und zwar von Richtern, die als Vertreter der Allgemeinheit agieren. Diese repräsentative Funktion könnte gestärkt werden. Doch wiederum sind Wahlen vielleicht nicht der geeignetste Weg, um dies zu bewerkstelligen. Die Richter darauf zu verpflichten, ihre Entscheidungen detailliert zu begründen, würde wahrscheinlich bessere Resultate erbringen. Dadurch würden sich ihre Urteile in 12

Vgl. dazu Rosanvallon, La Démocratie inachevée, S. 410.

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einen fundierten Ausdruck des Gemeinwohls verwandeln. Eine ordentliche Urteilsbegründung gäbe der richterlichen Funktion offenkundig einen stärker gesellschaftlichen Charakter, als es die periodische Wahl von Richtern könnte, nicht zuletzt aufgrund der Permanenz dieser Rechenschaftspflicht.13 Auf diese Weise könnten wiederum gegen-demokratische Befugnisse gestärkt und gleichzeitig die Risiken populistischer Irrwege minimiert werden. Die verschiedenen, hier diskutierten Mechanismen sind allerdings für sich genommen nicht ausreichend, um die Tendenz in Richtung Entpolitisierung auszugleichen. Es muss darüber hinaus ein Weg gefunden werden, um die politische Funktion als solche wiederherzustellen.

Die Demokratie repolitisieren Die Gegen-Demokratie hat jedoch ihre Schattenseite: das Unpolitische. Daraus erklärt sich das unbestimmte, aber hartnäckige Gefühl von Unbehagen, das paradoxerweise im gleichen Maße wächst wie das Engagement, das Wissen und die Bereitschaft der Zivilgesellschaft, sich in politische Belange einzumischen. Die Lösung? Sie kann nur darin bestehen, die Vision einer gemeinsamen Welt wiederherzustellen, den Glauben zurückzugewinnen, dass es möglich ist, die Zersplitterung und Fragmentierung zu überwinden. Ein Gefühl von Hilflosigkeit und der Verlust von Sinn und Bedeutung haben sich gegenseitig verstärkt. Diese Sinnkrise, und nicht fehlender Wille, ist heutzutage das vorrangige Problem. Es gibt keine Zauberformel, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, keine Reform, die man einfach einführen, keine segensreiche Institution, die man ersinnen könnte. Woran es fehlt, ist eher ein Arbeiten der Gesellschaft an sich selbst, ein selbstreflexives Tun. Demokratie in diesem Sinne ist durch ihre Werke definiert, und nicht nur durch ihre Strukturen: als Gesamtheit der Konflikte, Verhandlungen und Interpretationen, die mit der Erarbeitung von Regeln der Zusammenlebens einhergehen; als Erzeugung einer Sprache, die unseren Erfahrungen angemessen ist, die das Soziale beschreiben und folglich auch beeinflussen kann. Diese »demokratischen Werke«, die die gesellschaftsstiftende Funktion der Demokratie defi13

Siehe zu diesem wichtigen Punkt die gesammelten Beiträge in Perelman/Foriers, La Motivation des décisions de justice.

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nieren, können unter drei Überschriften gestellt werden: Produktion einer lesbaren Welt, Symbolisierung der kollektiven Macht und Hinterfragung sozialer Differenzen. Die Produktion einer lesbaren Welt ist insofern wesentlich für die Definition des politischen Handelns, als sie die Trennlinie zieht zwischen einer reinen Verwaltungstechnik und der Kunst des Regierens. Denn Regieren besteht nicht nur darin, organisatorische Probleme zu lösen, Ressourcen rational zu verteilen und Maßnahmen zeitlich zu planen. Regieren bedeutet in erster Linie, die Welt verständlich zu machen, den Bürgern die Analyse- und Interpretationswerkzeuge an die Hand zu geben, damit sie ihre eigenen Entscheidungen treffen und effizient handeln können. In diesem Sinne hat die Politik – was nicht genug betont werden kann – eine grundlegend kognitive Dimension: Ihre Aufgabe ist es, das Gemeinwesen zu erzeugen, indem sie ihm dabei hilft, sich selbst darzustellen, indem sie es ständig mit seinen Verantwortlichkeiten konfrontiert und ihm ermöglicht, mit klarem Bewusstsein alle Probleme zu lösen, die sich ihm stellen. Wir sind hier weit entfernt von der Vorstellung einer passiven Macht, die sich im Idealfall aus der Gesellschaft ableitet, als deren treues Spiegelbild. Vielmehr geht es darum, die Gesellschaft sich selbst zu offenbaren, Sinn und Form in eine Welt zu bringen, in der es den Menschen zunehmend schwerfällt, sich zu orientieren. In dieser Hinsicht überschneiden sich Politik und Sozialwissenschaft in ihren Zielen und Methoden. Was sie gemeinsam haben, ist die Suche nach Wegen, um das Unvermögen der Menschen zu überwinden, sich als Angehörige einer Gemeinschaft zu begreifen, zumal es für sie problematisch geworden ist, einen Platz in einer lesbaren und sichtbaren Totalität zu finden.14 Das Bemühen um objektive Welterkenntnis und Selbstwahrnehmung der Einzelnen als politische Subjekte geht also Hand in Hand. Das Werk von John Dewey veranschaulicht auf exemplarische Weise, wie diese beiden Anliegen zusammengeführt werden können. Dewey veranlasst uns dazu, die übliche Trennung zwischen Experten und Bürger 14

Diese Geschichte hat viel mit der Geschichte der Soziologie zu tun, wobei die verschiedenen »soziologischen Gattungen« die Etappen und Ziele dieser Suche widerspiegeln. Der methodische Gegensatz zwischen Durkheim und Tarde, später zwischen Durkheim und Simmel stellt dafür eine erste Matrix bereit.

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zu hinterfragen. Bewusstsein und Freiheit, Wissen um Zwänge und Entschlossenheit zum Handeln können sich positiv ergänzen und damit das fatale Schwanken zwischen illusionsgenährtem Mut und zynischer Berechnung beenden. Damit eröffnet sich auch ein anderes Verständnis für die Frage des Willens in der Politik. Denn der Wille ist nicht zunächst das Subjekt, das sich auf die Welt projiziert oder sich in dieser entfaltet, sondern tätiges Selbstbewusstsein. »Im Bereich des Handelns«, so Castoriadis’ erhellender Kommentar, »wirke ich auf mich selbst ein, denn das bedeutet Wille: auf sich selbst einwirken als aktive Tätigkeit, sich selbst korrigieren als Tätigkeit, sich selbst oder etwas wissentlich zu wollen.«15 »Je mehr Wille, desto mehr Selbst«, hatte bereits Kierkegaard in ähnlichem Sinne geäußert.16 Wir befinden uns hier im Zentrum einer genuin philosophischen Definition des Bürgers als politisches Wesen: Der Bürger zeichnet sich dadurch aus, dass er Akteur und Zuschauer, Subjekt und Objekt des Politischen zugleich ist. Folglich ist das Ziel der Demokratie, sowohl die Erzeugung einer gemeinsamen Geschichte zu ermöglichen, als auch einen Sinnhorizont zu entwerfen, es geht darum, im gleichen Zug die Verblendung der Menschen und ihre Ohnmacht zu beseitigen. Souveränität ist nicht bloß Ausübung einer Form von Macht, sie ist auch Selbstbeherrschung und Weltverständnis. In einem seiner bekanntesten und meistzitierten Texte stellte Benjamin Constant die Freiheit der Alten derjenigen der Heutigen gegenüber und kontrastierte die Bedeutung direkter Bürgerbeteiligung, die aus der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft resultiert, mit der Unabhängigkeit eines Einzelnen, der sich vorrangig seinen Privatangelegenheiten widmet. Diese Unterscheidung war für ihn aber nicht einfach gleichbedeutend mit der Trennung zwischen privat und öffentlich, Individuum und Kollektiv. Der Abstand zwischen Antike und Moderne entsprang seiner Meinung nach auch einer Wahrnehmungsdifferenz hinsichtlich der Wirksamkeit politischen Handelns. »Der Anteil, den im Altertum ein jeder an der Souveränität hatte, war damals nicht wie in unseren Tagen eine bloße Fiktion. Der Wille jedes 15 16

Castoriadis, Sujet et vérité dans le monde social-historique, S. 111. Zitiert nach Farago, La Volonté, S. 14 [Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 25].

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einzelnen hatte realen Einfluß: Die Betätigung dieses Willens war ein lebhaftes, noch dazu häufig sich wiederholendes Vergnügen.«17 In der Moderne hingegen sei diese »Entschädigung« verschwunden: »In der Menge verloren, nimmt der einzelne von dem Einfluß, den er ausübt, nichts mehr wahr. Niemals prägt sich sein Wille der Gesamtheit auf, nichts führt ihm seine Mitwirkung spürbar vor Augen.«18 Daraus zog Constant den Schluss: »Wir haben an Phantasie verloren, was wir an Kenntnissen gewonnen haben.«19 Das ist das ganze Problem demokratischer Politik: Sie kann nicht Gestalt annehmen ohne ein Bemühen, die organisatorischen Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens sichtbar zu machen. Diese Sichtbarkeit ist längst nicht mehr selbstverständlich, weder in einem soziologischen noch in einem symbolischen Sinn. Soziologisch gesehen bedarf das Bild, das eine Gesellschaft von Individuen von sich selbst erzeugt, gleichermaßen einer politischen Vision wie einer intellektuellen Anstrengung. Weder »Volk« noch »Nation« sind heute noch konkret erfahrbar. Und was die Symbolik angeht, scheint die demokratische Macht sich ebenfalls verabschiedet oder zumindest in eine selbstgewählte Bescheidenheit geflüchtet zu haben. Die alten Monarchien waren oft schwache Staaten, jedenfalls ungleich primitiver als die heutigen (Montaigne konnte für seine Zeit noch sagen, dass ein Edelmann dem Staat nur zwei oder drei Mal im Leben begegne).20 Doch wussten die Mächtigen sich prunkvoll in Szene zu setzen, sie legten größten Wert darauf, den äußeren Schein zu kultivieren. Um sich zu behaupten und ihre Untertanen zu beeindrucken, verband die Obrigkeit gelegentliche, aber spektakuläre Beweise ihrer Macht mit der Fähigkeit zur permanenten Darstellung dieser Macht oder, um mit den Worten Pascals zu sprechen, die »Bande der Notwendigkeit« mit den »Banden der Einbildung«.21 17 18 19 20 21

Constant, »Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen«, S. 376. Ebd., S. 377. Constant, »Vom Geist der Eroberung und der Usurpation in ihrem Verhältnis zur europäischen Zivilisation«, S. 328–329. Vgl. Montaigne, Kapitel 42 des ersten Buches seiner Essais (Essais I, S. 525). Pascal, Gedanken, S. 438. Vgl. den interessanten Kommentar von Cornette, La Monarchie entre Renaissance et Révolution, S. 195–199. Über die Kompensation der realen Schwäche des Feudalstaats durch spektakuläre Aktionen (»das

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Was lässt sich als zeitgenössisches Gegenstück zu dieser geradezu theatralischen Dimension des Politischen ansprechen? Es ist nicht zu leugnen, dass wir uns noch immer nicht von den Erschütterungen im Verhältnis des Sichtbaren zum Unsichtbaren erholt haben, die mit der Einführung der Demokratie über die Welt kamen. Angesichts dieser Schwierigkeit rufen nicht wenige zu einer aktiveren Erinnerungskultur auf, zur passionierten Pflege einer großen nationalen Erzählung, die eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit in eine geistige Prothese für die Gegenwart verwandelt.22 Neben diesen künstlichen Bemühungen um Wiederbelebung vergangener Größe dient die monotone Beschwörung neuer Ängste bisweilen dazu, die Leere des Alltags hinter finsteren Bedrohungen oder wirren Antipathien verschwinden zu lassen. In diesem Kontext erleben dezisionistische Theorien eine auffällige Renaissance. Sie werden begleitet von der Sehnsucht nach einem direkt erkennbaren souveränen Willen sowie der Fetischisierung von Ausnahmesituationen, die die Voraussetzungen politischen Handelns vermeintlich erleichtern. Von einem legendenhaft verklärten Gaullismus in Frankreich bis zur trüben Faszination für das Werk eines Carl Schmitt reicht ein breites Spektrum nostalgischer oder pathologischer Antworten auf das zeitgenössische Erscheinungsdefizit des Politischen. Wie soll man die erforderliche Resymbolisierung des Politischen bewerkstelligen, ohne auf solch fragwürdige Rezepturen zurückzugreifen? Wie soll man Souveränität sichtbar und fühlbar machen, ohne auf eine idealisierende Neuauflage der alten Willensmetaphysik zu verfallen? Wie soll man der kollektiven Macht eine gewisse Theatralik verleihen, ohne sie in die fadenscheinigen Gewänder einer

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Zeremoniell der Martern«) und sorgfältige Inszenierungen (Trommeln, Uniformen, Denkmäler) siehe Cornette, Le Roi de guerre. Essai sur la souveraineté dans la France du Grand Siècle, sowie Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Zur gleichermaßen juristischen wie symbolischen Konstruktion der Macht als Majestät vgl. die Artikel von Thomas, »L’institution de la majesté«, und Sabatier, »Les rois de représentation. Image et pouvoir (XVIe – XVIIe siècles)«. Daher die ständige Spannung zwischen diesem Drang, die Erinnerung zu verklären, dieser Sehnsucht nach einer rühmlichen Vergangenheit, und der zweiten großen Strömung der Moderne, dem Einsatz für die Menschenrechte und der Sympathie für die Opfer der Geschichte.

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obsoleten Vergangenheit zu hüllen? Doch nur, indem man eine leidenschaftliche Umgestaltung der Realität in die Wege leitet. Die Sichtbarkeit des Politischen zu erhöhen, impliziert vor allem eine ständige Bewusstmachung der Aufgabe, die zu erfüllen ist: ein unauffindbares Volk in ein lebendiges politisches Gemeinwesen zu verwandeln. Symbolisierung ist kollektive Reflexion, ist Bekräftigung des Entschlusses, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben, ist ernster und empathischer Bericht der Hoffnungen und Fehlschläge, die dieses Unternehmen zusammenhalten, ist Geschichte und Gedächtnis der Männer und Frauen, die allen Widrigkeiten zum Trotz darum kämpfen, eine Gesellschaft der Gleichen zu begründen. Die Resymbolisierung des Politischen ist insofern Teil einer permanenten Infragestellung bestehender gesellschaftlicher Unterschiede. Ziel ist es, eine Gemeinschaft zu definieren, deren Organisation sich nach den Regeln der Verteilungsgerechtigkeit, den Prinzipien erweiterter Chancengleichheit und klar vereinbarten Normen des Umgangs zwischen Individuum und Kollektiv richtet. In diesem Kontext sind Auseinandersetzungen unvermeidlich und vom Eingeständnis von Konflikten ebenso wenig zu trennen wie vom Bemühen, die tatsächlichen Transfers, die zwischen Individuen, Gruppen und Territorien stattfinden, aufzudecken bzw. die verborgenen Hinterlassenschaften der Vergangenheit oder die geheimen Regulierungsmechanismen der Gesellschaft zu enthüllen. Eine solche Auseinandersetzung hat nichts zu tun mit der entspannten, geradezu technischen Art von Diskussion, wie sie manchen Theoretikern der deliberativen Demokratie vorschwebt. Auf dieser (notgedrungen schwierigen) Grundlage können auch praktische Experimente mit dem Gemeinwillen durchgeführt werden. Dadurch wäre »der« Gemeinwille nicht mehr nur ein verlogenes Ideal oder ein frommer Wunsch, sondern Resultat einer Reihe von Vergleichs- und Kompromissverfahren (oder, umgekehrt, kategorischer Entscheidungen) zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das betrifft die Renten und den Generationenvertrag, Fragen der sozialen Absicherung und der Arbeitsplatzsicherheit, die Grundsätze der Besteuerung, den Umgang mit der Arbeitslosigkeit und der Arbeitslosenunterstützung oder das Problem der langfristigen Entwicklung. Solche Praktiken müssen stets zu jener Art von politischem System in Beziehung gesetzt werden, das sie in ihrer Gesamt282

heit konstituieren. Es geht darum, die Wahrheit über die Realitäten des gesellschaftlichen Zusammenlebens ans Licht zu befördern, um sie verändern zu können. Dem Politischen wieder Form und Substanz zu verleihen, heißt nicht, einen kollektiven Erlöser anzupreisen, ob Volk, Klasse oder Multitude, sondern Aufschluss zu geben über die realen Interaktionen, die Differenzen und Spaltungen erzeugen, heißt, auf sinnliche Weise zu erfahren, was den Aufbau eines Gemeinwesens blockiert, das sich auf die Stärke gegenseitiger Verpflichtungen gründet.

Das gemischte System der Moderne Die parlamentarisch-repräsentative Regierung, die Gegen-Demokratie und das Politische als Reflexions-/Deliberationsprozess sind die drei Säulen der demokratischen Erfahrung. Jede trägt ihren Teil zur Organisation des Gemeinwesens bei. Die parlamentarisch-repräsentative Regierung liefert das institutionelle Fundament, die Gegen-Demokratie sorgt für den systemkritischen Elan, und der politische Prozess gibt dem Ganzen seine historische und soziale Dichte. Doch jede ist auch anfällig für Pathologien und Perversionen. Ihrer immanenten Logik überlassen, würde die parlamentarisch-repräsentative Demokratie sich in eine Wahlaristokratie, eine Regierungsmaschine verwandeln. Die Gegen-Demokratie wiederum unterliegt den Versuchungen des Populismus und der Antipolitik. Und der politische Prozess tendiert dazu, in dezisionistische Bequemlichkeit oder umgekehrt in einen gewissen deliberativen Formalismus abzugleiten. Sofern sie zusammenwirken, können diese drei Dimensionen allerdings auch eine positive Dynamik in Gang setzen und zugleich ihre jeweiligen Dämonen zügeln. Im Mittelalter entstand die Idee einer gemischten Verfassung im Zuge des Nachdenkens über ein System, das die besten Eigenschaften von Aristokratie, Demokratie und Monarchie in sich vereinen würde, um eine ebenso vernünftige wie generöse Ordnung zu bilden.23 An diese Vorstellung einer gemischten Verfassung wäre heute anzuknüpfen, wenngleich in einem veränderten Sinne: Die Demokratie selbst wäre als ein solches gemischtes System zu verstehen, nicht als Resultat eines Kompromisses rivalisierender Prinzipien, wie 23

Vgl. Blythe, Le Gouvernement idéal et la Constitution mixte au Moyen Âge.

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Freiheit und Gleichheit, sondern als Verbund der drei oben genannten Dimensionen, die sich gegenseitig ergänzen und verstärken, um einen Fortschritt in Richtung menschlicher Selbstregierung zu ermöglichen. Mit anderen Worten, demokratischer Fortschritt muss als pluralistischer Prozess betrachtet werden, es gibt keinen institutionellen one best way, der die alleinige Formel liefert, um einen optimalen Grad an Partizipation oder eine perfekt funktionierende Form von Repräsentation zu gewährleisten. Im vorliegenden Werk haben wir uns mit der Gegen-Demokratie beschäftigt, eine zukünftige Recherche wird auch auf die Ursprünge des politischen Prozesses zurückgehen müssen, um ihn in seinen Formen und Problemen systematisch zu beschreiben. Dieses dreidimensionale Verständnis von Demokratie führt auch dazu, die Beziehungen zwischen Nationaldemokratien und transnationalen Politikformen neu zu konzipieren. Üblicherweise wird dieses Verhältnis im Sinne einer Übertragung verstanden, das heißt, im nationalen Raum erprobte Institutionen und Regulierungsverfahren werden auf höherer Ebene reproduziert. Wir haben bereits gesehen, dass der Begriff der Gegen-Demokratie einen brauchbaren Rahmen liefert, um das Agieren der Zivilgesellschaft in verschiedenen Räumen zu beurteilen. In einem weiteren Kontext eignet sich der Begriff der modernen Mischverfassung dazu, die verschiedenen Stufen von Demokratie zu erforschen und ihre Formen zu unterscheiden. Dabei tritt ein je spezifisches Mischungsverhältnis zutage, und die auf jeder Ebene zu erzielenden Fortschritte lassen sich ebenfalls unter dem Vorzeichen einer solchen Durchmischung definieren. Die parlamentarisch-repräsentativen Institutionen sind bisher noch weitgehend auf den Nationalstaat beschränkt, doch der Ausbau gegen-demokratischer Formen vollzieht sich, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, bereits auf höherer Ebene. Und die Frage nach dem politischen Prozess stellt sich ebenfalls im internationalen Maßstab. Es gibt auf dieser Ebene zwar keinen verfassungsmäßigen demos, gleichwohl ist das Ziel, eine gemeinsame Menschheit zu schaffen, auch wenn die Anforderungen an die Einzelnen nicht so hoch sind.24 Auch hier tut sich eine Realität voller Differenzen und Konflikte auf, deren Sichtbarkeit erhöht werden 24

Vgl. dazu meine Unterscheidung in »solidarische Staatsbürgerschaft« und »Weltbürgerschaft« in La Démocratie inachevée, S. 421–422.

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muss, um sie erfolgreich bewältigen zu können. Auf diesem Weg voranzuschreiten, wäre eine Möglichkeit, mithilfe derselben Kategorien den analytischen Rahmen zu erweitern und gleichzeitig den demokratischen Fortschritt der Nationen, den Aufbau einer transnationalen Ordnung und die Vermehrung regionaler Räume, wie den der Europäischen Union, zu erfassen. Doch während diese Konvergenz zumeist nur im reduzierten Modus einer diffusen Streuung der Macht, einer Ausdehnung nicht regierungsförmiger Steuerungssysteme gedacht wurde oder, umgekehrt, im träumerischen Modus einer Globalisierung der guten Vorsätze oder im schwärmerischen Modus einer Offenbarung der Revolten, kann sie fortan als Ausdruck eines zugleich hohen und zielgerichteten Anspruchs verstanden werden.

Der Gelehrte und der Bürger Das Studium des Politischen steht im Spannungsfeld zweier Arten des Zugangs: zum einen durch normative Theorien, zum anderen durch methodische Beschreibungen von Historikern oder Soziologen. In diesem Buch habe ich versucht, etwas anderes zu praktizieren, nämliche eine neue Theorie demokratischer Formen auf der Grundlage einer genauen Beobachtung des gegen-demokratischen Universums zu erarbeiten. Ich habe dabei systematisch einen Ansatz entfaltet, der bereits in meinen vorherigen Büchern zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie keimhaft angelegt war. Aus dieser Methode ergeben sich zwei Konsequenzen, eine intellektuelle und eine politische. In intellektueller Hinsicht führt mein Ansatz zu einer realistischen Demokratietheorie neuen Typs, bei der Realismus nicht auf ein resignatives Sichabfinden mit einem Reich begrenzter Möglichkeiten hinausläuft. Das Verständnis der Ursachen und Wirkungen von GegenDemokratie eröffnet vielmehr einen realistischen Ausweg aus der zeitgenössischen Politikverdrossenheit. Durch Konzentration auf die Formen dieser Gegen-Demokratie können wir ihre Begrenzungen überwinden und Ausbrüche ihres negativen Potenzials verhindern. Durch eine erweiterte Sicht auf die Art und Weise, wie Menschen zu Gestaltern ihrer eigenen Geschichte werden, erschließt sich tatsächlich ein Feld neuer Möglichkeiten. Sogenannte realistische Theorien der Demokratie, von Schumpeter bis Popper (um nur diese beiden zu nennen), gehen immer stillschweigend von einer minimalistischen Inter285

pretation des Ideals demokratischer Selbstregierung aus, nämlich als »Nicht-Tyrannei« oder als bloßes Verfahren zur Legitimation konkurrierender Machteliten. Unter einer solchen Perspektive ist »Realismus« gleichbedeutend mit »Bescheidenheit der Ansprüche«, sodass bereits der Begriff des »demokratischen Fortschritts« als deplatziert erscheint. Unser Ansatz ermöglicht es hingegen, diesen Zusammenhang aufzusprengen. Das rührt auch daher, dass wir Demokratie nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Grenzen, ihrer möglichen Verfälschungen, ihrer extremen Auswüchse begreifen, sondern sie von ihrem Zentrum her erfassen, ihren alltäglichsten Erscheinungen wie ihren Grauzonen. In politischer Hinsicht führt der hier gewählte Ansatz schließlich zu einer Neubewertung der Rolle des Gelehrten. Er macht es möglich, der Alternative von nüchterner Abgeklärtheit und naivem Enthusiasmus zu entgehen, die »Wahl zwischen Ironie und Radikalismus«, um eine suggestive Formulierung Thomas Manns aufzugreifen25, abzulehnen, oder, einer anderen berühmten Unterscheidung zufolge, den Gegensatz zwischen »Politik des Glaubens« und »Politik der Skepsis« zu überwinden.26 Das vorliegende Buch wurde 2005 geschrieben, im hundertsten Jahr nach der Geburt von Jean-Paul Sartre und Raymond Aron. Sartre war der Apostel der verwerflichen Utopie des Jahrhunderts, der treue Weggefährte eines nicht hinterfragten Abenteuers. Aron war ein Lehrmeister der Desillusionierung, ein Muster an melancholischer Hellsicht. Beide brachten die gegensätzlichen Logiken ihrer Generation auf den Begriff und verkörperten dadurch ein Moment geistiger Größe. Doch unterlagen auch beide einer unglücklichen Versuchung, zur kalten Vernunft der eine, zum blinden Engagement der andere, wodurch sie, auf entgegengesetzten Wegen, der gleichen Ohnmacht Vorschub leisteten. Aus dieser Sackgasse herauszufinden, war das Bestreben des Verfassers dieser Zeilen und seine Motivation, eine Theorie der Demokratie zu formulieren, die nicht mehr getrennt ist von ihrer praktischen Umsetzung.

25 26

Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 587. Vgl. Oakeshott, The Politics of Faith and the Politics of Scepticism.

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Bance, Pierre 204 Baranger, Denis 187 Barber, Benjamin R. 67, 268 Barclay, William 122 Barnett, James Duff 188 Barthe, Yannick 15, 267 Bartolus 117 Battaglini, Mario 87 Baudeau, Nicolas 39 Bauman, Richard A. 180 Bayle, Pierre 52 Beaud, Olivier 206 Beauté, Jean 186 Beccaria, Cesare 194 Beck, Ulrich 15, 238 Beiner, Ronald 213 Béland, Daniel 62 Bellamy, John G. 185 Benasayag, Miguel 26 Benoît, Olivier 71 Bentham, Jeremy 35, 51, 214 Benveniste, Émile 212 Bergasse, Nicolas 66 Bergounioux, Alain 145 Berman, Paul 164 Bèze, Théodore de 120–121 Bezes, Philippe 219 Bidégaray, Christian 125 Billiard, Auguste 94 Bilsky, Leora 213

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Bird, Frederick L. 190 Blackstone, William 194, 195 Blanquer, Jean-Michel 207 Blanqui, Auguste 138, 146, 149–150 Blic, Damien de 46 Bloch-Lainé, François 259 Blythe, James M. 283 Bodin, Jean 74, 122 Boll, Bernhard 156 Boltanski, Luc 49, 52 Bonaparte, Napoléon 78, 88–90, 92 Bonnet, Jean-Claude 97, 98 Bonneville, Nicolas 86, 89, 97 Bouchet, Thomas 167 Bourdieu, Pierre 63, 216 Bourdon, Jean 88 Bourg, Dominique 267 Bouvier, Jean 48 Bovens, Mark 207 Boy, Daniel 267 Braithwaite, John 50 Brandeis, Louis D. 45 Brécy, Robert 140 Brennan, Geoffrey 51 Brissot de Warville, Jacques Pierre 40–41, 85, 97, 109 Brondel, Séverine 208 Brousseau, Éric 250 Brunot, Ferdinand 92, 130 Buchanan, George 119 Buchez, Philippe Joseph Benjamin 93 Buckingham, Duke of 186 Burke, Edmund 84 Burke, Peter 281 Bush, George Herbert 159–160 Bush, George Walker 160

C Cabanis, Pierre Jean Georges 87 Cain, Bruce 158 Callon, Michel 15, 267 Calvin, Johannes 118, 118, 120 Cameron, Charles M. 162 Campbell, Bruce A. 158 Camus, Albert 146 Canetti, Elias 246 Canovan, Margaret 242 Capdevielle, Jacques 23 Carter, Jimmy 159 Castoriadis, Cornelius 217, 279, 279 Catalano, Pierangelo 123 Chabot, François 128 Chalmers, David Mark 45 Chamont, Michel 151 Chao Yuen, Tcheng 54 Chateauraynaud, Francis 62 Chatterjee, Partha 26 Chevé, Charles-François 93 Christensen, Terry 189 Christenson, Ron 180 Christie, Ian R. 147 Clanché, François 23 Clausewitz, Carl Philipp Gottlieb von 37 Clauss, Charles 198 Claverie, Élisabeth 198 Cloots, Anacharsis 36, 98 Cobb, Roger W. 42 Cohen, Joshua 268, 269 Coke, Edward 186 Colapinto, David K. 255 Colliot-Thélène, Catherine 232 Comte, Auguste 59 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de 40, 59, 85, 128, 132, 194–195 Constant, Benjamin 13, 14, 59, 90–91, 142, 228, 279–280, 280

310

Contamine, Philippe 54 Coornaert, Émile 139 Copeland, Gary A. 160 Cornette, Joël 280, 281 Cortès, Donoso 270 Cottereau, Alain 204 Cournot, Antoine Auguste 195 Cousin, Jean 124 Cox, Gary 157 Cranfield, Lionel 186 Cronin, Thomas E. 189 Crozier, Michel 233 D Dahl, Robert 142, 247 Dampierre, Éric de 47 Daunou, Pierre Claude François 108 Davis, Gray 188, 192 Davis, Michael H. 208 Deleuze, Gilles 66 Desmoulins, Camille 97–98 Devaux, Augustin Marie 199 Dewey, John 278 Diderot, Denis 83, 123, 166 Dippel, Horst 85 Dogan, Mattei 23 Doganis, Carine Karitini 244 Doidy, Éric 219 Donnelly, Jack 50 Donovan, James M. 199 Douzou, Laurent 151 Dubouis, Louis 43 Duplessis-Mornay, Philippe 120 Dupont de Nemours, Pierre Samuel 39 Duport, Adrien 197 Durkheim, Émile 46, 66, 278 Dworkin, Roland 216

E Elder, Charles D. 42 Elster, Jon 47, 183, 256, 269 Émeri, Claude 125 Emerson, Ralph Waldo 146, 148–149 Emmerich, Mathias 257 Erickson, Stephen C. 156 Erikson, Robert S. 233 Esmein, Adhémar 198 Esposito, Roberto 26 Everitt, Joanna 63 F Farago, France 279 Farge, Arlette 151 Faucher, Léon 75 Fauchet, Abbé 126 Felstiner, William L. F. 63 Ferejohn, John 158 Fichte, Johann Gottlieb 130–134 Filangieri, Gaetano 83 Fillieule, Olivier 61 Fiorina, Morris 158 Fishkin, James S. 269 Flauss, Jean-François 169 Foord, Archibald 144 Ford, Gerald Rudolf 159 Foriers, Paul 277 Foucault, Michel 26, 35, 38 Fouillée, Alfred 58 Foulquier, Norbert 208 Franklin, Benjamin 85 Franklin, Mark N. 23 Fréron, Louis Marie Stanislas 34 Fröhlich, Pierre 81 G Gambetta, Diego 17 Garapon, Antoine 196, 208, 216 Garment, Suzanne 48 Garrett, Geoffrey 162 Gauchet, Marcel 92

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Gaulle, Charles de 150–151, 234 Gaymard, Hervé 52 George I 84 George III 146 Gérard, Valérie 142 Gerhardt, Michael J. 193 Gerst, Catherine 260 Gerstlé, Jacques 42 Gerston, Larry N. 189 Giesey, Ralph 116 Girardin, Émile de 101, 140 Giulj, Sylvie 145 Gladstone, William Ewart 54 Gluckman, Max 46, 47 Goodin, Robert 41 Goodman, Christopher 119 Gordon, Thomas 84 Gouron, André 116 Graham, Mary 53 Granier de Cassagnac, Adolphe 99–100 Granovetter, Mark S. 169 Green, Thomas Andrew 194 Griffuelhes, Victor 140 Groven, Denis 260 Guarnieri, Carlo 223 Gueniffey, Patrick 129, 133 Guesde, Jules 141 Gueydan, Claude 43 Guilhaumou, Jacques 43 Guionnet, Christine 24 Guizot, François 38, 40, 142–144 H Habermas, Jürgen 269 Hansen, Mogens Herman 178, 180, 181 Hardin, Russel 17 Hardt, Michael 238 Harold, Gilbert 253 Harrison, Denis 17

Haskins, Charles Homer 54 Hauray, Boris 254 Havel, Vaclav 152 Havin, Léonor-Joseph 101 Héran, François 23 Hérault de Séchelles 86, 127–128 Hermet, Guy 242 Herodot 80 Heuschling, Luc 208 Hirschman, Albert O. 22, 257 Hobbes, Thomas 51 Hoffmann, Stanley 245 Holloway, John 26 Hood, Christopher 71 Hoover, Herbert 159 Hotman, François 120 Howard, Dick 213 Huntington, Samuel 233 I Ignatieff, Michael 164 Ihl, Olivier 242 Inglehart, Ronald 17 Iyengar, Shanto 160 J Jackson, Andrew 157 Jacob, Robert 212 Jacob, Steve 71 James I 186 James, Harold 250 Jameson, Kathleen Hall 160 Jaume, Lucien 34, 43, 128 Jaurès, Jean 139–140 Jean de Salisbury 117 Jellinek, Georg 108 Jensen, Merryll 87 Johnson, Roberta Ann 255 Johnson-Cartee, Karen S. 160 Jones, Bryan D. 42 Jouanna, Arlette 118 Jouvenel, Bertrand de 14

312

Jullien, François 37–38 Junius 51, 97 K Kadri, Sadakat 215 Kamber, Victor 160 Kant, Emmanuel 47 Kateb, George 148 Kaufman, George 190 Kazin, Michael 242 Kelsen, Hans 210, 266 Kenski, Henry C. 160 Kenyon, John Philipps 187 Kerry, John 160 Kersaint, Armand Guy Simon 86 Kierkegaard, Søren 279 King, Gary 158 Knox, John 119–120 Kohn, Michael D. 255 Kohn, Stephen M. 255 Konrád, György 152 Koselleck, Reinhart 52 Kraakman, Reinier H. 70 Kreps, David M. 52 Krynen, Jacques 219 Kurland, Philip B. 196 L La Boétie, Étienne de 121 La Rochefoucauld-Liancourt, François Alexandre, Duc de 85 Labrosse, Claude 97, 98 Laferrière, Julien 170 Lagardelle, Hubert 139, 140 Landauer, Gustav 33 Lanthenas, François-Xavier 40, 109 Laquièze, Alain 75 Lascoumes, Pierre 15, 55, 219, 235, 267 Latimer, Lord 185 Laugier, Sandra 149

Lavicomterie, Louis Thomas Hébert, de 86, 126 Le Bart, Christian 49 Le Galès, Patrick 55, 235 Le Mercier de la Rivière, Pierre Paul François 105 Le Roux, Bruno 70 Le Trosne, Guillaume-François 39 Lebègue, Ernest 195 Ledru-Rollin, AlexandreAuguste 137 Lefebvre, Rémi 49 Lefort, Claude 151, 152, 153, 163 Lemieux, Cyril 46 Lerat, Christian 85 Lerner, Ralph 196 Leroux, Pierre 93 Lichy, Olivier 253 Locke, John 36 Lolme, Jean-Louis de 51, 83 Löwenstein, Karl 136 Ludwig XIV 232, 281 Lutz, Donald S. 85 M Mably, Gabriel Bonnot de 85 Macdowell, Douglas M. 179 Machelon, Jean-Pierre 201 Machiavelli, Nicolas 37 Mackuen, Michael B. 233 Madison, James 12, 265 Mandeville, Bernard 50 Mangematin, Vincent 17 Manin, Bernard 80, 103, 145, 269 Mann, Thomas 286 Marat, Jean-Paul 43, 97–98, 243, 244 Marino, Michel 252 Markovits, Andrei S. 46 Marsilius von Padua 117 Martin, Pierre 76, 158

313

Marx, Karl 66, 150 Mattéoni, Olivier 54 McCombs, Maxwell 42 McCubbins, Mathew D. 38 McIlwain, Charles Howard 184 Meader, Lewis H. 85, 87 Meier, Christian 214 Mény, Yves 242 Mercer, Jonathan 51 Merriner, James L. 157 Michel, Henry 150 Michelet, Jules 23, 98 Mill, John Stuart 19, 76–78, 144 Miller, Kenneth P. 192 Minard, Philippe 254 Mirabeau, Honoré Gabriel, Riqueti, comte de 33, 43, 85, 139 Missika, Jean-Louis 167 Moizer, Peter 254 Mommsen, Theodor 135 Monahan, Arthur P. 116 Montaigne, Michel de 280 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 12, 19, 50, 54, 59, 83–84, 113, 124–125, 132, 184 Moreno, Alejandro 17 Morgenstern, Scott 157 Mouchard, Daniel 61 Muhlmann, Géraldine 46 Mulgan, Richard 208 N Napoleon 101, 105, 203 Napoleon III 101, 140 Negri, Antonio 238 Neveu, Érik 64 Norris, Pippa 24 Nussbaum, Martha C. 50 O Oakeshott, Michael 286 Ockham, William von 117

Ollivier, Émile 100 Ostwald, Martin 180 Owens, James 191 P Padis, Marc-Olivier 239 Padoa Schioppa, Antonio 197, 202 Pagano, Mario 87 Papadopoulos, Ioannis 196 Pascal, Blaise 280 Pasquino, Pasquale 92 Pateman, Carole 268 Pauly, Louis W. 250 Pech, Thierry 239 Pederzoli, Patricia 223 Pelloutier, Fernand 140 Perelman, Chaïm 277 Perón, Juan Domingo 241 Perot, Ross 67 Perret, Bernard 55, 219 Perrineau, Pascal 24 Peters, John G. 219 Pettit, Philip 51, 109 Pfau, Michael 160 Phelps, Edith M. 193 Pimentel, Carlos Miguel 185, 222 Platon 80, 216–217 Plihon, Dominique 235, 251 Plucknett, Theodore Frank Thomas 185 Plutarch 83 Poisson, Siméon Denis 195 Ponet, John 119 Ponthoreau, Marie-Claire 154 Popper, Karl 285 Post, Gaines 116 Pottier, Eugène 150 Pouget, Émile 140 Poujade, Pierre 245

314

Poultier, Jean Baptiste Jacques 86 Pourcher, Yves 198 Power, Michael 255 Price, Richard 84 Prieur, Léon 194 Proudhon, Pierre-Joseph 139 Prunelle de Lierre, Léonard Joseph 86 Punnett, Robert Malcolm 144 R Raimbourg, Philippe 253 Rancière, Jacques 239 Rayback, Joseph G. 85 Rayner, Hervé 48 Reid, John Philip 197 Renaut, Alain 130 Renouvier, Charles 58 Rétat, Pierre 97, 98 Retz, cardinal de 209 Reulos, Michel 75 Rey, Henry 267 Reynaud, Emmanuèle 61 Richer, Nicolas 83 Ricœur, Paul 211, 212 Rigaudière, Albert 74 Riker, William H. 247 Robbins, Caroline 84 Robert, François 129 Roberts, Jennifer Tolbert 182 Robespierre, Maximilien de 13, 34, 78, 93, 109, 128–129 Robin, Corey 164 Rocard, Michel 233 Roederer, Pierre Louis, comte de 90, 92 Rolland, Jeanne Marie, de la Platière, genannt Madame 33 Rolland, Patrice 244 Romero, Anthony 204

Römmele, Andrea 156 Roosevelt, Theodore 193 Rosanvallon, Pierre 92, 127, 141, 261 Rosenau, James 235 Rosso, Maxime 121 Rousseau, Jean-Jacques 22, 34, 36, 66, 83–84, 89, 120, 122, 124–126, 234 Rouzet, Jacques-Marie 86 Rundquist, Barry S. 219 Ryan, Frances M. 190 S Sabatier, Gérard 281 Sacharow, Andreï 152 Saint-John Perse 151 Salas, Denis 208 Saleilles, Raymond 198 Sanders, Lynn M. 270 Sarat, Austin 63 Sartori, Giovanni 142, 245 Sartre, Jean-Paul 286 Schmitt, Carl 102, 270, 281 Schnapper, Bernard 200 Schopenhauer, Arthur 37 Schultz, Stanley K. 45 Schumpeter, Joseph 163, 266, 285 Schwartz, Thomas 38 Schwarzenegger, Arnold 189 Schweisguth, Étienne 25, 165 Scialom, Laurence 251 Scully, Roger 162 Selsam, Paul 85 Semelin, Jacques 151 Senter, Thomas P. 157 Shaw, Donald 42 Shklar, Judith 163, 164 Shonfield, Andrew 260 Siegfried, André 25

315

Sieyès, Abbé 88, 92, 258, 265 Silverstein, Mark 46 Simmel, Georg 66, 278 Sinclair, Timothy J. 253 Sinowjew, Alexander 152 Sintomer, Yves 267 Sismondi, Jean Charles Léonard Simonde de 13 Skinner, Quentin 118 Skocpol, Theda 269 Smith, Adam 82 Smouts, Marie-Claude 235 Solschenizyn, Alexandre 152 Somit, Albert 156 Sonner, Brenda S. 160 Sorel, Georges 140 Spector, Céline 125 Spitz, Jean-Fabien 135 Staël, Germaine de 91 Stanziani, Alessandro 254 Stead, William T. 46 Steffens, Lincoln 45 Stern, Samuel 198 Stimson, James A. 233 Strom, Gerald S. 219 Sun Tzu 37 Sunstein, Cass R. 67, 270 Surel, Yves 242 Sztulwark, Diego 26 T Taft, Howard 159 Taggart, Paul 242 Taguieff, Pierre-André 242 Talleyrand, Charles Maurice 88, 89, 105 Tarde, Gabriel 66, 198, 278 Tartakowksy, Danielle 61 Ténot, Eugène 140 Teste, Charles 93 Thévenot, Laurent 49

Thibaudeau, Antoine Claire, comte 92 Thiers, Adolphe 105 Thomas, Yan 135, 281 Thompson, Dennis F. 207 Thompson, John B. 46, 48 Thoreau, Henry David 146–149 Thouret, Jacques-Guillaume 195 Thuderoz, Christian 17 Thuot, Jean-François 232 Thuriot, Jacques Alexis 128 Tocqueville, Alexis de 52, 196, 232 Touraine, Alain 60 Tranchard, John 84 Trilling, Richard J. 158 Tronchin, Jean-Robert 124 Tsebelis, George 162 Tudor, Mary 119, 185 Turchetti, Mario 117, 119 Turgot, Anne Robert Jacques 85, 254 Turner, Jack 148 U Urfalino, Philippe 168 V Vallet, Élisabeth 79 Vinten, Gerald 255 Viriot Durandal, Jean-Philippe 62 Viveret, Patrick 55 W Waley, Daniel 74 Walpole, Robert 187 Walzer, Michel 16 Warren, Mark E. 13, 17 Watanuki, Joji 233 Weaver, R. Kent 233 Weinberg, Arthur 45 Weinberg, Lila 45 Wildenmann, Rudolf 156 Wilkes, John 146–147, 149

316

Will, Pierre-Étienne 53 Wilson, Robert 52 Wlezien, Christopher 42 Wolloch, Isser 199, 215

Y Yat-Sen, Sun 54 Young, Lisa 63 Z Zimmerman, Joseph F. 189, 190

Zum Autor Pierre Rosanvallon ist Professor für Neuere und Neueste politische Geschichte am Collège de France und directeur de recherche an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS ). 2001 rief er den internationalen intellektuellen Workshop »La République des Idées« ins Leben, deren Vorsitzender er ist. Pierre Rosanvallon hat zahlreiche Schriften publiziert, die in 22 Sprachen übersetzt und in 26 Ländern herausgegeben wurden. 2016 wurde ihm der Bielefelder Wissenschaftspreis im Gedenken an Niklas Luhmann verliehen.