Die Frage nach der Philosophie: Interpretationen zu Hegels »Differenzschrift« [2 ed.] 9783787330904, 9783787315055

Einleitung. 1. Das Problem – 2. Die Aufgabenstellung – 3. Zielsetzung und Vorgehen – I. Die Philosophie – I.1. Die gesch

133 101 10MB

German Pages 305 [319] Year 1986

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Die Frage nach der Philosophie: Interpretationen zu Hegels »Differenzschrift« [2 ed.]
 9783787330904, 9783787315055

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Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler

Beiheft 12

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Die Frage nach der Philosophie Interpretationen zu Hegels »Differenzschrift« von Walther Christoph Zimmerli

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der 2. Auflage von 1986, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1505-5 ISBN eBook: 978-3-7873-3090-4 ISSN: 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

VORWORT

Die folgende Arbeit lag im Februar 1971 der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich als Dissertation vor. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet. Meinen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Rudolf W. Meyer aussprechen, der mir mit sachkundiger und hilfreicher Kritik bei der Ausarbeitung zur Seite stand. Ebenfalls schulde ich den Herren Prof. Dr. O. Pöggeler und Prof. Dr. F. Nicolin Dank für schriftliche und mündliche Hinweise. Zürich, Im Februar 1974 WALTHER

C.

ZIMMEREI

VORWORT ZUR 2. AUFLAGE Wenn meine frühere Hegel-Untersuchung nach nunmehr über zehn Jahren zwar erheblich erweitert, aber im Kern nahezu unverändert wieder erscheint, so bedarf dies der Rechtfertigung. Hegels „Differenzschrift" wurde - so ist es in meiner Einleitung nachzulesen^ - in dieser Arbeit zum ersten Male zum Gegenstand einer im engeren Sinne philosophisch-monographischen Darstellung; dies bedeutete allerdings zugleich auch eine entschiedene Option für eine im engeren Sinne philosophische Zugangsweise. Nicht daß deswegen die Ergebnisse der historisch-philologischen Forschung, die damals im Zuge der Editionsarbeiten an Hegels „Gesammelten Werken" reichlicher zu werden begannen, gering geschätzt worden wären - ganz im Gegenteil. Aber sie traten eindeutig in den Schatten und Dienst des philosophischen Gedankens. Ihn anfänglich und ohne Umwege über räsonierendes Erzählen zu denken, jenen Hegelschen Grundgedanken, der sich in die Frage kleiden läßt, womit denn der Anfang gemacht werden solle im Denken, - das war und ist die Absicht des vorliegenden Buches. Es sollte sich dabei nicht um einen Kommentar handeln; die relevant erscheinenden Kommentarelemente zu Quellen, Begriffen und Problemlagen wurden daher konsequent in Fußnoten und Exkurse verlagert. Der Haupttext unternimmt dagegen den Versuch, den Leser „von innen" in den Gedanken zu führen, um ihm damit zugleich die philosophische Grundfrage, die in der Moderne nichts anderes als die Frage der Philosophie nach sich selbst ist, und den Zugang zu einem in seiner philosophischen Relevanz allzulange unterschätzten philosophischen Text zu eröffnen. Daß inzwischen - etwa in der Einleitung zur Neuedition von Hegels Kritischen Schriften in der „Philosophischen Bibliothek" - wie selbstverständlich nachzulesen steht, der erste Abschnitt der „Differenzschrift", dem die Interpretationen dieses Buches gelten, sei „in besonderem Maße geeignet, in Anfang, Bereich und Duktus des Hegelschen Denkens einzu' S. u. S. 11. - Neue Literatur, die diese Einschätzung oder mein Buch obsolet machen würden, ist meines Wissens nicht erschienen. Die monumentale Darstellung von H. S. Harris: Hegel's Development II: Night Thoughts (Jena 1801-1806). Oxford 1983, macht hier keine Ausnahme.

Vorwort zur 2. Auflage

führen"^, gibt diesem Unterfangen im nachhinein recht, ebenso wie das starke Echo, das es bei Lesern aller möglichen Observanz gefunden hat^. Die rigorose Beschränkung auf die spekulativ-theoretische Gedankenführung hat nun allerdings ihren Preis. Sie blendet die entwicklungsgeschichtliche ebenso wie die wirkungsgeschichtliche Dimension weitgehend aus, - von albernem Parteiengezänk ganz zu schweigen. Hans J. VERWEYEN hat darauf hingewiesen, daß bei aller „high speculative power and . . . appropriate familiarity with the historical document under investigation"^ meines Ansatzes doch noch andere Zugangsweisen denkbar seien, und Helmut GIRNDT meint - in all den vielen Wörtern, die aus Gründen des geistigen und stilistischen Umweltschutzes besser ungesagt geblieben wären, gut versteckt - wohl etwas Ähnliches®. Da Iterierung von Polemiken diese nur selten optimiert, beziehe ich mich im folgenden nur auf den rationalen Kern der Ein wände. Gibt man die Beschränkung auf den rein problemorientierten philosophischen Gedanken auf, so bieten sich, wenn ich recht sehe, die folgenden Dimensionen an, das in diesem Buch Entwickelte weiterzuführen: 1. Da ist zum einen die Frage nach einer genaueren Einordnung des philosophischen Konzepts der „Differenzschrift" in Hegels eigene Ent2 H. Brockard/H. Büchner: Einleitung. In: G. W. f. Hegel: Jenaer Kritische Schriften (I). Phil. Bibi. 319 a. Hamburg 1979. XII. 3 Aus den vielen Arbeiten, die auf die vorliegende Studie Bezug nehmen, sei hier nur gesondert erwähnt: W. Hartkopf: Kontinuität und Diskontinuität in Hegels Jenaer Anfängen. Studien zur Entwicklung der modernen Dialektik IV. Königstein/Ts. 1979. - Danken will ich an dieser Stelle aber auch den Studenten meiner Lehrveranstaltungen an den Universitäten Zürich, Göttingen und Braunschweig, die mir mannigfache Hinweise gaben; ganz besonders aber den Teilnehmern am Hegel-Seminar von Hans Michael Baumgartner (Universität Gießen), die sich mit meinem Buch befaßt und mich durch Vermittlung von Frau P. Kolmer über die Ergebnisse informiert haben. Daß ich längst nicht alle Anregungen Umsetzen konnte, bitte ich zu verzeihen. Der Bitte, die Klimatologie-Anmerkung 44 (S. 61 f.) noch zu ergänzen, sei indessen mit einem Literaturhinweis nachgekommen: Manfred Büttner: Protestantische Theologie und Klimatologie im 18. Jahrhundert. In: Abhandlungen und Quellen zur Geschichte der Geographie und Kosmologie. Hrsg. v. Manfred Büttner. Bd. 3: Zur Entwicklung der Geographie vom Mittelalter bis zu Carl Ritter. Paderborn/ München/Wien/Zürich 1982. 183-217. H. J. Verweyen: Zimmerli, Walther Christoph: In Quest of Philosophy. In: Philosophy and History. VIII (1975), 227. 5 H. Girndt: W. C. Zimmerli: Die Frage nach der Philosophie. In: Hegel-Studien. 11 (1976), 235 ff. - Zuzuschreiben habe ich die verbalen Ausfälligkeiten Girndts allerdings wohl mir selbst; wie unten auf S. 10 und 11 nachzulesen ist, hatte ich sein Fichte-Hegel-Buch nur zweier negativer - Erwähnungen für würdig erachtet. Immerhin war ich damals der Ansicht, die Rezension durch Braun (s. u. S. 11, Anm. 37) sei angemessen gewesen; heute bin ich fast soweit, ihm eine Rezension durch Girndt selbst zu wünschen.

Vorwort zur 2, Auflage

Wicklung, zumal in diejenige der Jenaer Zeit. Voraussetzung hierfür ist einerseits die Aufarbeitung der Vorgeschichte (von Tübingen bis Jena). Eine kleine, an etwas abgelegenem Ort schon 1973 erschienene Studie, die den Kerngedanken der „Differenzschrift" in diesen Zusammenhang stellt, habe ich in den Anhang aufgenommen^. Daß in dieser wie in fast jeder späteren Arbeit von mir auf die Beziehung von SINCLAIR und HöLDERLIN ZU Hegel nur knapp eingegangen wird, liegt zum einen an meiner These, daß der entscheidende Bruch in Hegels Entwicklung mit dem Wechsel von Frankfurt nach Jena und nicht mit demjenigen von Bern nach Frankfurt Zusammenfalle, und zum anderen an dem bis dato nur unzureichend aufgearbeiteten Quellenbestand. Seit einem Jahr sind wir indessen über die „philosophische Gemeinschaft" zwischen HöLDERLIN und Hegel von 1797 bis 1800 durch die Dissertation von Christoph JAMME detailliert informiert^. Zum anderen müßte dann aber diese Vorgeschichte über die „Kritischen Schriften" und die „Jenaer Systementwürfe" bis zur Genese der „Phänomenologie des Geistes" vorangetrieben werden. Es leuchtet ein, daß von diesem Zielpunkt aus gesehen zwei Fragen zentral werden: erstens die nach dem Verhältnis von Dialektik und Realität, der ein Aufsatz aus dem Jahr 1975 nachgeht, den ich ebenfalls in den Anhang aufgenommen habe*. Zweitens ist aber die Frage nach der Funktion von Kritik drängend, da sich meiner Interpretations-Hauptthese zufolge Hegels Denken von der „Differenzschrift" bis zur „Phänomenologie" nur verstehen läßt als Versuch, durch die Koppelung von historischer und systematischer Kritik in die Philosophie einzuführen. Aus diesem Grunde schien mir auch immer die Suche nach einer „Logik der Differenzschrift" oder gar einer allgemeinen Logik der Jenaer Zeit, wie sie etwa von J. TREDE betrieben wurde^, das Pferd am Schwänze aufzuzäumen. Nicht liegt eine Logikkonzeption der Hegelschen Gedankenent* ^

Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel, s. u. S. 235-246. Ch. Jamme: „Ein ungelehrtes Buch". Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin

und Hegel. Bonn 1983 (Hegel-Studien Beiheft 23). ® Die Beziehung von Dialektik und Realität, s. u. S. 247-260. ^ /. H. Trede: Hegels frühe Logik (1801-1803/04). Versuch einer systematischen Rekonstruktion. In: Hegel-Studien 7 (1972), 123-168; Ders.: Phänomenologie und Logik. Zu den Grundlagen einer Diskussion. In: Hegel-Studien 10 (1975), 173-209. - Zur weiteren Diskussion der Hegelschen Logikkonzeption vgl. W. Ch. Zimmerli: Aus der Logik lernen? Zur Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Logik-Konzeption. In: W. R. Beyer (Hrsg.): Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung. Hamburg 1981. 66-79; ders.: Die Wahrheit des ,impliziten Denkers'. Zur Logikbegründungsproblematik in Hegels „Wissenschaft der Logik". In: Studia Philosophica 41 (1982), 139-160.

Vorwort zur 2. Auflage

Wicklung zugrunde, sondern der Versuch, im Reflektieren aller Voraussetzungen ur-sprünglich ins Philosophieren einzuführen, resultiert in einer Logik. Meine Überlegungen zur Systemkonstitutionsfunktion von Kritik werfen diese Frage auf; diese Arbeit ist im Beiheft 20 der Hegel-Studien („Hegel in Jena") zu finden^o 2. Nun läßt sich auch schon diese Thematik kaum diskutieren, ohne daß auf die wichtigen externen Einflußfaktoren eingegangen wird. Während die erste Erweiterungsdimension also der Einbettung des philosophischen Gedankens der „Differenzschrift" in entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge diente, waren in einer zweiten Erweiterung die konstitutiven Querbeziehungen zu thematisieren. Da ist natürlich zunächst an SCHELLING und den Jenaer Romantikerkreis zu denken, der deswegen ein so fruchtbares Untersuchungsobjekt darstellt, weil er bereits Züge eines kollektiven Subjekts trägt, an dem die herkömmliche quellenorientierte historisch-kritische Untersuchung scheitert. Diesem Komplex geht 1978 eine Untersuchung der Vermittlung von romantischer Kunstauffassung und Hegelscher Dialektik durch ScHELLiNGS Ästhetik nach'L Eine weitere, sehr viel direkter sichtbare, aber dennoch schwierige Beziehung zwischen SCHELLING, Hegel und den Zeitgenossen liegt der allseitigen Verwendung der „Potenzenmethodik" zugrunde, die einerseits bis zum Homöopathen HAHNEMANN und andererseits bis zum Mathematiker und Naturphilosophen ESCHENMAYER reicht und mit der sich ein Aufsatz aus dem Jahr 1981 befaßt^2 Die damit, nämlich mit dem rätselhaften Hegelschen „System der Sittlichkeit", mit angesprochene Frage der frühen politischen Philosophie Hegels weist auf ein weiteres Defizit hin, nämlich die Beziehung zu FICHTE. Allerdings liegen hier in den Arbeiten von Ludwig SiEP^^ zuverlässige Ergänzungen bereit. 3. Damit ist schließlich die Dimension der praktischen Philosophie angesprochen, die ebenfalls die „Differenzschrift" und ihr Umfeld durchIn: D. Bonn 1980 (Hegel-Studien Beiheft 20), 81-102.

Inwiefern wirkt Kritik systemkonstituierend?

"

Henrich/K. Düsing

(Hrsg.):

Hegel in Jena.

Schellings „Deduktion eines allgemeinen Organs der Philosophie" als Bindeglied zwischen romantischer Kunstauffassung und der Neubegründung der Dialektik in Hegels Jenaer Philosophie. In: R. Brinkmann (Hrsg.): Romantik in Deutschland. Sonderband der Deutschen Vierteljahres-

schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart 1978. 404-420. Schelling in Hegel. Zur Potenzenmethodik in Hegels „System der Sittlichkeit". In: L. Hasler (Hrsg.): Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981. 255-278. Vor allem L. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg i. Br. 1979.

Vorwort zur 2. Auflage

zieht. Es handelt sich dabei gleichsam um eine nicht historische, sondern systematische Querbeziehung, die aber über den engeren Zeitraum der Jenaer Zeit hinaus für Hegel virulent bleibt. Erstens ist nämlich die Frage von Interesse, wie sich verstehen läßt, daß Hegel zwar einerseits bekanntlich eine Deduzierbarkeit normativer Sätze aus seinen systematischen Theoremen negiert, andererseits aber dennoch Praktisch-Normatives, zumal zu tagespolitischen Fragen, äußert. Ein Text von 1979, der sich mit dieser Frage beschäftigt, wurde ebenfalls in den Anhang aufgenommen^^. Schließlich liegt ein weiteres Problem darin, in welcher Weise der Begriff „Identität" bloß aus Äquivokationsgründen oder systematisch bedeutsam sowohl die personelle wie die logische Identität bezeichnet. Hierzu findet sich im Anhang ein Text aus dem Jahre 1981 Auf diese Weise soll das Unmögliche versucht werden: den unverwechselbaren Ansatz einer immanent-theoretischen Rekonstruktion des Einführungsgedankens in seiner frühen Form beizubehalten und trotzdem der Möglichkeit zu Weiterungen durch externe oder gar externalistische Reflexion Rechnung zu tragen. Daß dies allerdings vom eigenen Denken des philosophischen Gedankens nicht entbindet, galt für Platon so gut wie für Hegel; sollten nur wir hier Ausnahme sein? Braunschweig/Atlanta, im September 1985

Walther Ch. Zimmerli

Für die Mithilfe beim Lesen der Korrekturen und beim Erstellen des Registers danke ich Frau V. Werner, Frau B. Wilhein und Herrn U. Oppermann.

„Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen" versus „Eule der Minerva". Zur Unvereinbarkeit von dialektischer Praxis der Philosophie und praktischer Philosophie. S. u. S. 261-276. '5 „Identität" als polemischer Begriff. Hegels Identitätskonzept und seine Folgen. S. u. S. 277-289.

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 1. Das Problem 2. Die Aufgabenstellung 3. Zielsetzung und Vorgehen

1 1 5 11

I.

Die Philosophie

17

1.1.

Die geschichtliche Betrachtung

17

1.1.1. Die historisierende oder objektivierend-empirische Einstellung 1.1.2. Die ahistorische oder subjektivierend-dogmatische Einstellung a. Exkurs: Fichtes geschichtliches Urteil 1.1.3. Die geschichtliche oder kritisch-philosophische Einstellung

18 26 27 32

1.2.

41

Wesen und Form

1.2.1. Exkurs: Aristoteles: Metaphysik Z 3, 1028 b 33 ff 1.2.2. Die Gleichursprünglichkeit von Einem und Vielem im erscheinenden Wesen 1.2.3. Die besondere Form philosophischer Systeme

49 55

1.3.

66

Grund und Bedürfnis

43

1.3.1. Verstand und Vernunft 1.3.2. Die „Revolution" der Vernunft 1.3.3. Das Wesen der Philosophie als Grund ihres Bedürfnisses

66 74 78

1.4.

Die Voraussetzungen

82

1.4.1. Das Absolute als Ziel 1.4.2. Die Entzweiung als Ausgang 1.4.3. Die „Notwendigkeitsthese"

84 86 90

II.

93

Die Methode

II. 1. Reflexion als Spekulation II. 1.1. Der Begriff „Reflexion"

95 95

II. 1.2. Das endliche Denken als unendliches 98 II.1.3. Exfcurs; Hegels Deutung seiner e a. Kant 103 b. Jacobi, Fichte, Schelling 106 II. 1.4. Das Wissen 109 II. 1.5. Reflexion und „gesunder Menschenverstand" 113 II.2.

Die Antinomie

11.2.1. 11.2.2. 11.2.3. 11.2.4. 11.2.5.

Exkurs; Die Antinomie bei Kant Die Antinomie als das formale Prinzip der Philosophie Exkurs: Der absolute Grundsatz (Fichte, Spinoza) Exkurs: Die Anwendung des Denkens (Reinhold) Die Formalität der Antinomie

124 129 137 155 165

II.3.

Transzendentale Anschauung und transzendentales Wissen

171

11.3.1. Exkurs: Die intellektuelle Anschauung bei Fichte und Schelling 11.3.2. Transzendentale Anschauung 11.3.3. Konstruktion und Postulat a. Exkurs: Postulat bei Kant und Konstruktion 11.3.4. Die „Formalität" der transzendentalen Anschauung und der spekulative Satz

206

11.4.

211

Methode und System

11.4.1. Kontinuität und Totalität 11.4.2. Exkurs: Die Systemkonzeption bei Kant, Fichte und Schelling 11.4.3. Methode, System, Kritik und das Wesen der Philosophie

172 194 201 203

213 219 225

Ausblick Philosophie, Wissenschaft und die „Notwendigkeitsthese"

231

Anhang Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel Die Beziehung von Dialektik und Realität „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen" versus „Eule der Minerva" „Identität" als polemischer Begriff

235 247 261 277

Literaturverzeichnis

290

Personenregister

302

1.

Das Problem

Sich so ohnehin eines Problems, einer geschichtlichen oder systematischen Frage zu bemächtigen, um darüber zu philosophieren, gilt — man hat es uns in letzter Zeit oft gesagt — zu Recht als unreflektiert. Will man sich diesem Vorwurf entziehen und reflektiert auf das eigene Tun, gerät man indessen unverhofft in eine unangenehme Situation: Man sieht, daß das intendierte Tun nicht mehr viel gilt. Die „öffentliche Meinung" räumt der Philosophie nicht allzuviel Kredit mehr ein, — auch dies nicht ganz zu Unrecht. Wenn wir Zusehen, was in weiten Kreisen unter „Philosophie" verstanden wird, so läßt sich eine grundsätzliche Treimung konstatieren: die „Philosophie als Grundwissenschaft" die einen Faktor im Leben der Menschen darstellen sollte, ist — in gewissem Sinne durch eigenes Verschulden und dem Zug der Zeit folgend — auseinandergetreten in das, was der „gesunde Menschenverstand" als „Philosophie" bezeichnet, auf der einen imd in die Fach- und Spezialdisziplin Philosophie auf der anderen Seite, die an Universitäten und anderen Hochschulen als fast museale Randerscheinung ein mehr oder minder kümmerliches, esoterisches Dasein fristet. Vor allem in unserem Jahrhundert wurde von phänomenologischer, existenzialistischer und neomarxistischer Seite immer wieder in eindrücklichen Worten darauf hingewiesen, daß eine solche Philosophie keine Funktion mehr haben könne für das menschliche Dasein Indessen ‘ Vgl. 7. Rehmke: Philosophie als Grundwissensdiaft. Leipzig u. Frankfurt a. M. 1910; insbesondere 33 ff und 431 ff. * „In unserer Lebensnot — so hören wir — hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit des ganzen menschlichen Daseins." (E. Husserl: . Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. § 2. Vgl. Husserliana Bd 6.4). — „Die Philosophie bleibt ihrer großen Tradition treu, indem sie ihr entsagt. Die Einsicht, daß die Wahrheit von Aussagen in letzter Instanz an die Intention des wahren Lebens gebunden

2

Einleitung

sind diese Hinweise ungehört verhallt oder sofort wieder zum Gegenstand fachphilosophischer Spezialistenintelligenz geworden Der Erfolg konnte nicht ausbleiben. Der „gesunde Menschenverstand", von der Philosophie im Stich gelassen, hat sich seine eigenen „Philosophien" beschafft. „Philosophie" wurde zum Synonym für „Weltanschauung". Einzelne Standpunkte, Maximen des täglichen Lebens, auch wohl Ideologeme traten an die Stelle der Philosophie. „Leben und leben lassen, das ist meine Philosophie", so hört man, oder: „Die freie Marktwirtschaft ist seine Philosophie, sein Credo". Daneben dient das Wort „philosophisch" zur Bezeichnung von bestimmten Einstellungen zum Leben, entstanden aus einer Identifizierung von Philosophie und falschverstandenem Stoizismus „Er ertrug die Widrigkeiten des Lebens mit vollendeter philosophischer Gelassenheit". Und auch pejorativ, um Abstraktheit oder bloß Geschwätzigkeit zu bezeichnen: „Werde jetzt nicht philosophisch, hier geht es um Tatsachen!" Der Katalog solcher Redewendungen ließe sich — schaute man diesbezüglich einmal etwas genauer „dem Volk aufs Maul" — nahezu unbegrenzt verlängern, denn jeder „hat seine eigene Philosophie". Auf der anderen Seite ging die Fachphilosophie, von ihrem Nährboden, den Bedürfnissen des menschlichen Lebens, entfernt, einsam den Weg zunehmender Verödung und Sterilisierung; und dies ist unterdessen sogar durch die Aktivitäten der „besseren Presse" insoweit ins Bewußtsein der öffentlichen Meinung gedrungen, als nicht noch althergebrachte Hochachtung vor den Höhenflügen der Philosophie es verhinderte. „Die Philosophie ist heute ... in den Schatten der Entwicklung geraten. Aus der traditionellen Spitzenposition in den philosophischen Fakultäten längst durch Fächer mit mehr Studenten und mehr Professoren verdrängt, wird inzwischen — nicht zuletzt durch Soziologen — auch ihr Rang als Grundlegung von Wissen und Handeln in Frage gestellt. Ohneist, läßt sich heute nur mehr auf den Trümmern der Ontologie bewahren. Freilich bleibt audi diese Philosophie so lange neben den Wissenschaften und außerhalb des öffentlichen Bewußtseins eine Spezialität, als das Erbe der Tradition, das sie kritisch losgelassen hat, im positivistischen Selbstverständnis der Wissenschaften fortlebt." (J. Habermas: Erkenntnis und Interesse. In: Habermas: Technik und Wissenschaft als „Ideologie". Frankfurt a.M. 1968. 167 f.) ® Das „Bewältigen" und Oberhören von aufklärenden und mahnenden Stimmen auf der einen und Kunst und Poesie auf der anderen Seite scheint eine Fertigkeit zu sein, die seit alters besonders im deutschen Sprachraum weit entwickelt war. Hölderlin schildert die Situation in seiner berühmten „Schmährede auf die Deutschen" {Hyperion 11.2) jedenfalls so, daß sie dem heutigen Leser sehr aktuell erscheint. Vgl. StA 3. 153—156. * Die sog. „schöne Literatur" unserer Zeit trägt zur Verbreitung dieser Identifizierung das Ihre bei. — Vgl. z. B. G. Grass: örtlich betäubt. Neuwied und Berlin 1969.

1. Das Problem

3

hin kaum noch in der Lage, die Ergebnisse von Naturwissenschaft und mathematischer Logik, Linguistik und Tiefenpsychologie gleichermaßen zu verarbeiten, gerät sie häufig in die Nähe der Mythologie oder verschreibt sich der Beobachtung ihrer eigenen Geschichte." ® Diese zeitgenössische Einschätzung der Philosophie ist nicht etwa als außenseiterisches Fehlurteil sofort zu verwerfen, sondern in der Tat symptomatisch für das, was in weiten Kreisen unter „Philosophie" verstanden wird. Eine kurze Analyse des Zitates wird seine Hauptpunkte heraussteilen und exemplarisch einen Ansatzpunkt für die Explikation unserer Problemsituation bereitstellen. Zunächst einmal wird Philosophie, zwar konform mit einem Großteil ihrer eigenen Tradition, aber, wie wir sahen, durchaus nicht im Sinne des „gesunden Menschenverstandes" als „Fach", das ehemals „eine Spitzenposition in den philosophischen Fakultäten" innehatte, charakterisiert. „Fach" und „Fakultät" sind im Kontext der HuMBOLDTschen Universitätskonzeption sinnvolle Begriffe. Die „Fächer" dieser Universitätskonzeption repräsentieren die Wissenschaften. Wissenschaft als „innige Einheit von Lehre und Forschung" steht mithin in der in obiger Stellungnahme thematisierten Philosophie zur Debatte. Diese Fachwissenschaft Philosophie wird aus ihrer ehemaligen Spitzenposition verdrängt, die sich aus der diesem Fache zugeschriebenen Aufgabe ergab, Grundlegung für Wissen und Handeln zu sein. Was darunter zu verstehen sei, ist angeführt: Verarbeitung der Ergebnisse von Naturwissenschaft, mathematischer Logik, Linguistik und Tiefenpsychologie. Es ist anzunehmen, daß diese anderen „Fächer" repräsentativ gemeint sind. Aufgabe der Philosophie wäre es also, durch Verarbeitung der Ergebnisse anderer „Fächer", d. h. anderer Einzelwissenschaften, Grundlage von Wissen und Handeln zu sein. Philosophie wäre damit gleichzeitig Grundlage und Ergebniszusammenfassung. Daraus ergibt sich für die Philosophie die paradoxe Aufgabenstellung, sowohl das Wissen begründend als auch von diesem begründet, Anfang und Resultat jeden Wissens zu sein ®. Es bleibe vorläufig dahingestellt, ob diese Fassung der philosophischen Aufgabe zutreffend sei, und wenn ja, in welchem Sinne. Wichtig ist für uns zu hören, daß offensichtlich die Philosophie nicht (oder besser; nicht mehr) in der Lage ist, dieser umfassenden Aufgabe gerecht zu werden. Als Folgen dieser Insuffizienz sind angegeben: 1. die Philosophie gerät in die Nähe der Mythologie, und 2. sie verschreibt sich der Beob® Der Spiegel. Deutsches Nachrichtenmagazin. Jg. 23, Nr. 34 (18. 8.1969). 100. « S. u. S. 231 ff.

4

Einleitung

achtung ihrer eigenen Geschidite. Ersteres ist ziemlich unverständlich letzteres hingegen erregt Anstoß und ist Anlaß zu weiterem Fragen. Die Insuffizienz der Philosophie angesichts ihrer eigentlichen Aufgabe, Grundlegung imd Resultat der Wissenschaften zu sein, erweist sich — dies ist doch wohl die Meinung — darin, daß sie sich der Beobachtung ihrer eigenen Geschichte widmet. Diese Feststellimg ist Ausdruck einer ernst zu nehmenden Kritik. Sie wie auch ihre Begründung erwartet und fordert eine Antwort des Kritisierten, des Philosophierenden. Deim: wodurch rechtfertigt sich das philosophiegeschichtliche Tun in Anbetracht der philosophischen Aufgabe, Grundlage und Resultat der Wissenschaften zu sein? Die Rechtfertigung der Philosophiegeschichte, bzw. des Philosophierens über seine, des Philosophierens, Geschichte, setzt eine Besinnung darauf voraus, was die Philosophierenden (und d. h.; auch wir) eigentlich tun, wenn sie philosophieren. In der Tat kann man — rein äußerlich — den „Niedergang der Philosophie" mit einigem Recht behaupten, wie wir sahen. Auch der „tröstliche" Ausblick, der die mit oben stehendem Passus beginnenden Ausführungen über die Philosophie beschließt, kann darüber nicht hinwegtäuschen: „Überflüssig ist sie [die Philosophie] damit allenfalls in den Augen der Befürworter bloß technokratischer Hochschulreformen. Ihr Argwohn gegenüber dem Nützlichkeitsdenken der Industriegesellschaft und dem Fortschrittsglauben von Wissenschaft und Technik hat die Philosophie zur skeptischen Instanz dieser Gesellschaft werden lassen. So gerieten denn auch unterschiedliche Denker wie MARTIN HEIDEGGER, HERBERT MARC:USE oder MAX HORKHEIMER mit ihrer Zivilisationskritik alsbald in Gegensatz nicht nur zur Öffentlichkeit, sondern auch zu vielen Wissenschaftlern. Freilich: Philosophie, die allein mit Gedanken streitet, erscheint mehr als Objekt der Ehrfurcht denn als ernst zu nehmender Gegner. Erst wenn sie, wie etwa bei MARCUSE, praktisch wird, in die Nähe der Soziologie gerät, erregt sie Anstoß." ® Das Allheilmittel Soziologie wird — das ist diesen Zeilen deutlich zu entnehmen — als skeptische Instanz unserer Gesellschaft, als Zivilisationskritik, über kurz oder lang die Stelle der Philosophie einnehmen, und die Philosophie kann sich allenfalls, wenn sie sich soziologisch geriert, noch einigermaßen gleichsam „über Wasser halten". Denken allein mit Gedanken ist aus der Mode. — Damit wäre aber de facto nicht nur die Insuffizienz der Philosophie bei der Lösung I Es muß dies wohl als — wenn auch recht unqualifizierte — Kritik an den philosophischen Bemühimgen insbesondere des späten Heidegger und seiner Schüler aufgefaßt werden. ® Der Spiegel, a. a. O.

2. Die Aufgabenstellung

5

ihrer Aufgabe erwiesen, sondern auch die Aufgabe selbst preisgegeben, es gäbe keine Grundlage von Wissen und Handeln, Philosophie würde zur „ancilla sociologiae". Diese verschleiert apokalyptische Vision verlangt, wie wir sagten, als kritische Frage an die Philosophie eine Erwiderung. 2.

Die Aufgabenstellung

Erwiderung auf die — zum Teil berechtigten — Fragen unserer Zeit an die Philosophie ist uns somit zur Aufgabe geworden. Soll es sich bei dieser Erwiderung aber nicht um die bloße Äußerung einer Meinung, um ein Glaubensbekenntnis, sondern um eine philosophische handeln, darf sie nicht ohnehin und reflexionslos einsetzen. Sie verlangt eine Selbstbesinnung des philosophischen Tuns. Wir müssen uns mithin die Rechtfertigungsfrage stellen, warum wir eigentlich philosophieren. Und warum tun wir es? Was veranlaßt uns dazu zu philosophieren, und — hierin impliziert — was ist eigentlich „philosophieren"? Wir fassen dies in der Frage zusammen; Was heißt uns philosophieren? Dabei sind wir uns der Mehrdeutigkeit dieser Frage bewußt ®. Unsere Frage fragt sowohl nach dem, was wir meinen, wenn wir „philosophieren" sagen, als auch nach dem, was wir tun, wenn wir philosophieren, ebenso nach dem, was das sei, was uns zu philosophieren auf trägt (heißt), wie nach dem, was das philosophische Tun (philosophieren) uns aufträgt ‘®. So vielfach uns nun plötzlich unsere Frage erscheint, so einfach ist sie zu beantworten. Sie meint in allen vier Fassungen nämlich eins und dasselbe, wie eine Erörterung der verschiedenen Aspekte zeigt; 1. Was meinen wir, wenn wir „philosophieren" sagen? „Philosophieren" als Wort ist ein Zeichen, das als Zeichen stellvertretend und richtungweisend ist. Es weist auf seine Bedeutung. Diese ist das Philosophieren, das wir weiter befragen müssen. 2. Was tun wir, wenn wir philosophieren? „cpiXoaocpla" heißt: liebendes Verhalten zur Weisheit. „Weisheit" als Ziel der Philosophie be• M. Heidegger hat (Was heißt Denken? 2. Aufl. Tübingen 1961. 79 ff) auf die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des „Reißens" aufmerksam gemacht. Wie bemerklich ist, setzen wir ims in unserer Aufgliedertmg der vielfachen Bedeutung von „heißen" von der durch Heidegger vorgelegten ab. Selbstverständlich sind wir uns dessen bewußt, daß die Vieldeutigkeit rein formal durch Aufhebung der Aequivokationen, Setzen von Anfühnmgszeichen etc. vermeidbar wäre. Indessen scheint sie uns recht fruchtbar zu sein und nicht von ungefähr vorzuliegen.

Einleitung

6

zeichnet das Im-Wissen-sein. Das Wesentliche im liebenden Verhalten ist das Sehnen, das Erfüllung seiner selbst ist. Philosophie ist also genauer; sehnende Erfüllung, sich in sich erfüllendes Sehnen nach Weisheit oder danach, im Wissen zu sein. Sehnende Erfüllung danach, im Wissen zu sein, enthält das Sein im Wissen als das Ersehnte und das Sehnen nach ihm, sowie die Erfüllung im Sehnen nach dem Ersehnten, ist Erfüllung darin, auf dem Wege zu sein vom Noch-nicht des Ersehnten zu diesem. Das in der Liebe Ersehnte aber ist die Erfüllung. Philosophie also ist die sehnende Bewegung vom Noch-nicht der Erfüllung zu dieser, und zwar als Erfüllung selbst. Diese Bewegung aber ist das Fragen, das sich als Fragen erfüllt in seiner Bewegung zu seiner Erfüllung, der Antwort. Das, was wir tun, wenn wir philosophieren, ist mithin das, was wir meinen, wenn wir „philosophieren" sagen, nämlich die Bewegung des Fragens. 3. Was ist es, was uns aufträgt zu philosophieren? Philosophieren meint fragen. Was also trägt uns auf zu fragen? Den Auftrag, sich zu sehnen, erhält das Sehnen von seinem Charakter, noch nicht seine Erfüllung zu sein. Diese liegt aber gerade darin, noch nicht Erfüllung, d. h. Sehnen zu sein. Das Sehnen wird dem Sehnen also von seiner Erfüllung, die es selbst ist, aufgetragen. Das, was uns zu fragen aufträgt, ist demnach das Fragen selbst; das Philosophieren trägt uns auf zu philosophieren. 4. Das, was uns zu philosophieren auf trägt, liegt damit zutage: es ist das Philosophieren oder Fragen selbst. Fragen aber ist eine gerichtete Relation: etwas wird erfragt. Das, was im philosophischen Fragen erfragt wird, ist das Philosophieren. Zusammengefaßt ergibt sich: Wenn Philosophieren wesentlich das Fragen nach sich selbst ist, so ist Philosophie im Wesen Frage nach sich selbst; die grundlegende Frage der Philosophie ist: Was ist Philosophie? Dieser Frage heißt es nun nachzugehen, soll auf die oben angeführte Kritik an der Philosophie eine Erwiderung gegeben werden. Unsere Aufgabe ist es also, die Frage nach der Philosophie als philosophische Frage auszuführen und voranzutreiben. Wie tun wir das? — Wir sagten. Philosophieren meine Fragen nach sich selbst. Fragen als erfülltes Sehnen ist Suchen, Philosophie also Suche nach sich selbst, und Philosophierende sind mithin sich selbst Suchende. Dies Bild vom sich Suchenden läßt sich weiterentwickeln: Suchende, die als Suchende auf dem Wege zu sich selbst sind, finden sich, wenn sie sich finden, als Suchende. Die Suche des Suchenden führt so im Finden des Gesuchten auf das Gesuchte als das Suchen. Das ” S. u. S. 17.

2. Die Aufgabenstellung

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Suchen, das sich selbst sucht, sucht auf seiner Suche Hinweise auf das Gesuchte, der Suchende sucht Hilfe bei anderen Suchenden. Der Philosophierende wendet sich mithin in seinem Philosophieren an andere Philosophierende. Dieses suchende Sich-wenden an andere Suchende ist das philosophische Gespräch. Im philosophischen Gespräch sucht der Philosophierende Hilfe. Wer beim Suchen Hilfe sucht, sucht sie nicht bei solchen, die entfernt suchen. Wir suchen in unserer Suche Hilfe bei Hegel. Warum gerade bei ihm? Weil — so lautet unsere These — er der unserem Suchen am nächsten Stehende ist, und d. h. für unsere Frage nach dem Wesen der Philosophie: weil er der ist, der eben jene Problematik, der wir uns zu nähern ver-suchen, die Problematik von Philosophie und Philosophiegeschichte, anders gewendet: von Wissenschaft und Philosophie, nicht nur exemplarisch verkörpert, sondern auch eigens thematisch macht, und zwar in einer Weise, die uns, wie wir meinen, bei unserem Vorhaben helfen kann. Nun wäre es bei der großen Zahl und Komplexität der Hegelschen Schriften schlechterdings unmöglich und wohl auch kaum dienlich, in einer Art von Gesamtschau Hegels Gedanken zu dieser Frage zu würdigen. Wir müssen uns daher — es ist dies ein Gebot der vielberufenen „intellektuellen Redlichkeit" — beschränken. Unsere Wahl fällt auf die Schrift über die Differenz des Fichte’sehen und Schelling'sehen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinhold's Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Istes Heft vom Frühjahr oder Frühsommer 1801 Die Wahl dieser Textgrundlage muß gerechtfertigt werden. Es können hierzu vordringlich zwei Gründe namhaft gemacht werden: 1. Die Differenzschrift stellt Hegels erste philosophische Druckschrift dar. Vergegenwärtigt man sich die Situation Hegels und der Philosophie um 1801 so wird die Bedeutung dieser Aussage klar: Im Tübinger Zur Frage der exakten Datierung bemerken H. Büchner und O. Pöggeler im Editorischen Bericht der von ihnen herausgegebenen Jenaer Schriften: „Der Text von Hegels Schrift muß also — wenigstens in seiner endgültigen Fassung — im Frühjahr und vielleicht noch Frühsommer 1801 niedergeschrieben worden sein. Wenn Hegel wie wir annehmen dürfen, die ,Vorrede' zu dieser Schrift zuletzt geschrieben hat, dann wurde die Niederschrift im Juli 1801 jedenfalls abgeschlossen. Anfang August war Hegels Schrift schon .unter der Presse'; der Jenaer Professor Ulrich hatte ,die Censur geholt'. Ende September/Anfang Oktober lag die Schrift Schelling ausgedruckt vor. Sie wurde unter den zur Michaelismesse erschienenen neuen Büchern angezeigt." (GJV 4. 525.) Die immer noch detaillierteste Darstellung davon gibt /. E. Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie. Bd 3, Abtheilung 1 u. 2. Leipzig 1848—53; lesenwert bleibt — trotz vielen anzumeldenden

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Einleitung

Stift bereits mit der Theologie und Philosophie seiner Zeit sowie dem Gedankengut der Französischen Revolution bekanntgeworden hatte sich Hegel von 1793 bis 1797 in Tschugg bei Bern und von 1797 bis 1800 in Frankfurt intensiv mit Studien zur Philosophie und — vordringlich — Religion befaßt, in der Hoffnung, in einer neuen Religion die Lösung zu den ihn beunruhigenden Zeitereignissen zu finden. Die überlieferten Manuskripte aus dieser Zeit zeugen von einer regen geistigen Tätigkeit, einer mit nie erlahmender Intensität betriebenen Auseinandersetzung mit geistigen wie politischen Phänomenen und einem stetig wachsenden Überblick, den man schon fast als beginnende Systematik bezeichnen könnte. Die Zeugnisse aus der Frankfurter Zeit lassen deutlicii erkennen, daß sich — von HöLDERLIN, SINCLAIR und ihrem „Bund der Geister" sicher nicht unbeeinflußt — in Hegels Denken die entscheidende (vielleicht bedeutendste) Wende vorbereitete, die zeitlida mit seinem Weggang nach Jena 1801 und dem Eintritt in die philosophische Universitätslaufbahn zusammenfiel. Seine Freimde aus Tübingen, HöLDERLIN imd SCHELLING, waren bereits mit Publikationen an die Öffentlichkeit getreten, er selbst hatte bislang geschwiegen. Und erst in Jena, direkt nach der großen Wende, bricht der Dreißigjährige sein Schweigen, indem er in der turbulenten und für den Zeitgenossen fast imüberschaubar gewordenen Situation der nachKANxischen Philosophie Stellung bezieht mit der sogenannten Differenzschrift. Es legt sich daher die Vermutung nahe, daß diese Schrift — aus langer Denkarbeit entstanden — programmatischen Charakter hat. Die Differenzschrift besteht aus drei Hauptabschnitten, die überschrieben sind: „Mancherlei Formen, die bey dem jetzigen Philosophiren Vorkommen" „Darstellung des FicHXE'schen Systems" und „Vergleichung des ScHELLiNG'schen Princips der Philosophie mit dem FICHTE'Bedenken — audi T. Haering: Hegel. Sein Wollen und sein Werk. Leipzig, Berlin 1929—38; und — aus gänzlich anderer Perspektive — G. Lukäcs: Der junge Hegel. Zürich, Wien 1948. “ Vgl. hierzu z. B. D. Henrich: Historische Voraussetzungen von Hegels System. In: Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971. 41—72; imd J. Ritter: Hegel und die französische Revolution. Frankfurt a. M. 1965. Vgl. H. Hegel: Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Frankfurt a. M. 1971; und D. Henrich: Hegel und Hölderlin. In: Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971. 9—40. Die Vorerinnerung, die vermutlich zuletzt geschrieben wurde (s. o. Anm. 12) ist datiert: „Jena im Juli 1801" {GW 4. 8 Z. 22 = SW 1. 38 = Diff. 7), Hegel ist bekarmtlich am 27. August 1770 geboren. n CW 4. 9 Z. 1 — 34 Z. 11 = SW 1. 39—76 = Diff. 8—38. GW 4. 34 Z. 12 — 62 Z. 22 = SW 1. 77—121 = Diff. 39—74.

2. Die Aufgabenstellung

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sehen" Den Schluß des letzten Hauptabschnittes bildet eine Auseinandersetzung mit REINHOLD dessen Beytr'äge zur leichtern Übersicht ja, wie der volle Titel der Differenzschrift zeigt ihr äußerer Anlaß gewesen sind, und zwar wegen der grundsätzlichen Verkennung des Unterschiedes des Systems SCHELLINGS von dem FIC:HTES. Dies wird auch der Grund sein, warum Hegel die Auseinandersetzung mit REINHOLD in die „Vergleichung des ScHELLiNc'schen Princips der Philosophie mit dem FiCHTE'schen" mit einbezieht Von der Formulierung des Titels der Differenzsdirift ausgehend, drängt sich die Hypothese auf, daß Hegel die drei Abschnitte in umgekehrter Reihenfolge verfaßt hat: Aus dem konkreten Anlaß der irrigen Thesen REINHOLDS zum Verhältnis von SCHELLING und FICHTE drängte es Hegel zu einer Richtigstellung. Dabei ergab sich ihm die Notwendigkeit, FICHTES System und dessen Mangelhaftigkeit darzustellen, wodurch ihm schließlich der gedankliche und begriffliche Hintergrund zur Verfügung stand, vor dem er seine eigenen Theoreme im ersten Abschnitt darlegen konnte, nun fast völlig frei von expliziten Auseinandersetzimgen, diese aber dennoch begrifflich begründend. So entwickelt denn auch — und das stützt die Hypothese — der erste Abschnitt Positionen, die man mit gutem Recht als „Grundpositionen" des Hegelschen Denkens bezeichnen kann. Zudem ist in ihm der Grund gelegt zu weiterführenden Arbeiten nicht nur der Jenaer, sondern auch der Nürnberger, Heidelberger und Berliner Zeit Bei der Differenzschrift schauen wir also gleichsam Hegel in der Werkstatt zu, wie er die ersten Umrisse seiner späteren Philosophie entwickelt. Daher ist in der Differenzschrift die terminologische Abgeschliffenheit späterer Werke noch nicht vorhanden, die in ihrer Selbstverständlichkeit das Verständnis eher behindert als fördert. Daraus resultieren an gewissen Stellen Formulierun“ GW 4. 62 Z. 23 — 92 Z. 36 = SW 1. 122—168 = Diff. 75—113. " GW 4. 77 Z. 27 — 92 Z. 36 = SW 1. 150—168 = Diff. 94—113. *1 S. o. S. 7.

G. Lasson verkennt diesen gedanklichen Zusammenhang, werm er (Diff. 94) meint, aus dem ersten Satz der Bemerktmgen zu Reinhold einen eigenen Zwischentitel („Über Reinholds Ansicht und Philosophie") für diese konjizieren und damit aus den drei Hegelschen vier Abschnitte machen zu müssen. Damit soll nicht behauptet werden, es lasse sich von der Differenzsdirift aus bruchlos der Bogen etwa zur Wissenschaft der Logik oder zur Enzyklopädie schlagen. H. Kimmerle (Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Borm 1970. HegelStudien, Beiheft 8) hat solche Brüche und Entwicklungen bereits für die Jenaer Zeit nachgewiesen, — wenn auch nicht immer ganz überzeugend. Insbesondere hält er sich mit seiner Wertimg der Differenzschrift (vgl. 89 f) noch an recht traditionelle Interpretationsmeimmgen, obwohl er in seiner Einleitung (18) Hegels Übergang von Frankfurt nach Jena — und damit doch wohl auch der Differenzschrift — durchaus eine Ausnahmestellung einzuräumen scheint.

Einleitung

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gen von außerordentlicher Prägnanz, „durchdachte Bestimmungen in körniger Sprache", wie ROSENKRANZ sagt verbunden mit beispielhafter Einarbeitung fremder Positionen in die systematische Gedankenentwicklung. Wir legen unserer Untersuchung also den ersten Hauptabschnitt zugrunde. Hegel beschreibt diesen Teil in seiner „Vorerinnerung" wie folgt: „Was die allgemeinen Reflexionen, womit diese Schrift anfängt, über Bedürfniß, Voraussetzung, Grundsätze u.s.w. der Philosophie betrifft, so haben sie den Fehler, allgemeine Reflexionen zu seyn und ihre Veranlassung darin, daß mit solchen Formen, als Voraussetzung, Grundsätzen, u.s.w. der Eingang in die Philosophie noch immer übersponnen und verdekt wird, und es daher in gewissem Grade nöthig ist, sich darauf einzulassen, biß einmal durchaus nur von der Philosophie selbst die Rede ist." Offensichtlich stellt das von uns gewählte Textstück auch für Hegel die notwendige Freilegung des Eingangs in die Philosophie dar. 2. Bezüglich der bereits vorhandenen Literatur über die Differenzschrift ist folgendes zu bemerken: Seit HAYM 1857 behauptet hatte, Hegel nehme in der Differenzschrift „auch entfernt nicht die Miene an, als ob auch er ein eigenes System besitze", er sei vielmehr in dieser Schrift „ScHELUNGscher als SCHELEING" ^®, hat sich diese zum Teil schon von ROSENKRANZ präjudizierte Wertung als nicht auszurottendes Vorurteil festgesetzt. DILTHEY LUKäCS und in neuester Zeit nun auch GIRNDT seien exemplarisch als Exponenten dieser Ansicht genannt. Auch die zwar knappen aber doch dezidierten entgegengesetzten Stellungnahmen von ERDMANN und dem diesem in manchem folgenden KRONER sowie der — in seiner Relevanz allerdings nicht ganz ernst zu nehmende — psychologisierende Erklärungsund Vermittlungsversuch HAERINGS und selbst neuere Ansätze vor allem von Autoren aus dem Kreis um das „Hegel-Archiv" konnten an dieser nun einmal eingewurzelten Meinung nichts ändern. K. Rosenkranz; Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben.

Darmstadt 1963). 150. “ GW 4. 8 Z. 14 ff = SfV 1. 37 f

Berlin 1844 (Neudruck

= Diff. 7. R. Haym; Hegel und seine Zeit. Berlin 1857 (Neudruck Darmstadt 1962). 152. K. Rosenkranz; G. W. F. Hegels Leben. 149. W. Dilthey; GS 4. 195. G. Lukäcs; Der junge Hegel. 325. H. Girndt; Die Differenz des Fichteschen und Hegelschen Systems in der Hegelschen „Differenzschrift". Bonn 1965. XV. 7. £. Erdmann; Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie. Bd 3, Abth. 2. 689 f. R. Kroner; Von Kant bis Hegel. Tübingen 1921—24. Bd 2.161 f. T. Haering; Hegel. 607 ff. ’•* Stellvertretend sei hier genannt O. Pöggeler; Hegels Jenaer Systemkonzeption. In; Philosophisches Jahrbuch. 71 (1963/64), 286—318.

3. Zielsetzung und Vorgehen

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Nun wäre dies eine Meinung gewesen, — eine Meinung historischer Art und historischen Geltungsbereiches. Die im empirisch-exakt aufgefaßten Sinne unentscheidbare Frage nach der Originalität Hegelscher (oder sonstiger) Gedanken ist für den Gedanken selbst völlig irrelevant. Allerdings führte dies in der Sekimdärliteratur dazu, daß die Differenzschrift als unbedeutend in den Einzugsbereich von Philosophiehistorien verbannt und somit zu einem äußerlichen Datum, nämlich dem der ersten philosophischen Druckschrift Hegels, wurde. Dies äußert sich darin, daß keine einzige monographische Darstellung ihres philosophischen Gehalts vorliegt Die Arbeit von GIRNDT, die dem Titel nach auf eine philosophische Beschäftigung mit der Differenzschrift schließen lassen würde, ist nichts als der Versuch, Hegel Mißverständnisse bezüglich seiner Tradition nachzuweisen, ein Versuch, der sich nicht eimnal ansatzweise darauf einläßt, Hegels Gedanken ernst zu nehmen, und dem inzwischen durch H. BRAUN die ihm angemessene Würdigung zuteil geworden ist Damit erweist sich unsere Textwahl auch bezüglich der „Forschungslage" als gerechtfertigt. Unserer Ansicht nach treten wir mit einer monographischen Arbeit zur Differenzschrift in eine empfindliche Lücke der HegelLiteratur. Damit, daß wir uns bei unserer Suche oder unserem Fragen an Hegel und seine Differenzschrift wenden, um Hilfe zu erhalten, ist allerdings für einen Teil unserer Problematik schon eine Vorentscheidung gefallen: Wir halten es offensichtlich für sinnvoll, philosophiegeschichtlich zu philosophieren. Die Frage, ob es dies in der Tat sei oder nicht, kann ebenso wie die Frage nach der Relevanz unserer Eingangsbemerkungen sowie der ganzen Arbeit erst durch die Entwicklung der Frage nach der Philosophie beantwortet werden. 3.

Zielsetzung und Vorgehen

Das Ziel vorliegender Arbeit ist es also, eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Möglichkeiten sich zur Erwiderung auf die angeführten EinAusnahmen, wenn auch nicht eigentlich monographische, bilden die Arbeit von H. Marcuse (Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlidikeit. Frankfurt a. M. 1932. Neudruck 1968), die Antrittsvorlesung von W. Marx (Die Bestimmung der Philosophie im Deutschen Idealismus. Antrittsvorlesung in Freiburg i. Br. vom 11. 5.1964. Stuttgart o. J.) und der dritte Band des monumentalen Werkes Sprache und Bewußtsein von B. Liebruchs (Wege zum Bewußtsein. Frankfurt a. M. 1966), die die Differenzschrift wenigstens angemessen berücksichtigen. S. o. Anm. 30. ” H. Braun; Differenzen. Bemerkungen zu einem Buch von Helmut Girndt. In: Hegel-Studien. 4 (1967), 288—299.

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Einleitung

wände gegen die Philosophie ergeben. Dies läßt sich unserer Ansicht nach nur auf dem Wege einer Selbstbesinnung der Philosophie erreichen. Zur Ausführung dieser Absicht setzen wir die Interpretation des ersten Hauptabschidttes der Differenzschrift ein. Ein zweites Ziel, das dem ersten gegenüber gleichsam instrumentale Funktion hätte, wäre also die Interpretation dieses Textes. Auch das mit dem Wort „Interpretation" Gemeinte ist deswegen, weil es bekannt ist, noch nicht erkarmt Es bedarf also einer Klarlegung dessen, was wir unter „Interpretation" verstehen. Wir beschränken uns dabei explizit auf die Interpretation von Texten, obwohl es sicherlich möglich und nicht verboten ist, hieraus auf weitere Zusammenhänge zu extrapolieren *®. Drei Mißverständnisse oder, wie wir es nennen wollen, „Illusionen" sind es vor allem, die zur Klärung der Bedeutung von „Interpretation" aus dem Wege geräumt werden müssen: 1. Die „Illusion der Unvoreingenommenheit" führt in den meisten Fällen unreflektierten Interpretierens dazu, daß die Interpreten der Meinung sind, sie könnten — unter Ausschaltung des eigenen Ansatzpunktes — den zu interpretierenden Text so verstehen, wie dessen Autor ihn „eigentlich gemeint" habe. Dagegen ist geltend zu machen, daß Interpretation, wie jedes andere Gespräch auch, wesentlich konstituiert ist von zwei Faktoren: dem Autor und dem Interpreten. Beide bringen ihre eigenen Horizonte mit, in denen Voreingenommenheiten, Absichten, Interessen und Motive persönlicher und gesellschaftlicher Art mitspielen. Interpretation meint mithin den gesamten, explizierten Rezeptionsbezug. Mit anderen Worten: Interpretation ist immer vor-eingenommen und nie wertfrei. 2. Hand in Hand damit geht die „Illusion des Sich-zurück-versetzens", die versucht, die „hermeneutische Zeitschwelle" zu ignorieren und zu überspringen. Der Interpret könne und müsse sich, so kann man diese Illusion umschreiben, ganz in die Zeit und das Denken des Interpretierten zurückversetzen, um es aus seiner „Geisteswelt" heraus zu verstehen. Indessen ist dies — genauer betrachtet — ein Ding der Unmöglichkeit. Jeder steht schlechterdings immer in seiner Zeit und seiner Geisteswelt. Allein aus dieser heraus kann er versuchen, Texte zu verstehen. Selbst wenn es 38 Hegel: SW 2.33. 3“ Es ist ersiditlidi und sei statt aller besonderen Hinweise hier angemerkt, daß wir uns im folgenden unter anderen vor allem an H.-G. Cadamer, und in gewissem Sinne auch J. Habermas anlehnen, ohne uns damit mit deren Ansichten identifizieren zu wollen.

3. Zielsetzung und Vorgehen

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beim Interpretieren darum geht, das Zustandekommen, das Werden der eigenen Zeit verstehen zu lernen, also um Interpretation als transzendentale Geschiditsbefragung, bleibt es direkt auf die eigene Zeit bezogen. Interpretation ist mithin inuner je gegenwartsbezogen. 3. Die „Illusion des historisierenden Denkens", welche im Grunde eine „Illusion des historischen Positivismus" genannt werden könnte, treibt selbst unter Interpreten von Rang immer noch hartnäckig ihr Unwesen. Sie besteht darin, daß man glaubt, durch das Sammeln und die Kenntnisnahme von möglichst vielen historischen Daten und sogenannten „Quellen", die durch die Einwände gegen die ersten beiden Illusionen fraglich gewordene „Objektivität" einer Interpretation zu retten. - Abgesehen davon, daß das Aufsuchen von „Quellen" eine im höchsten Maße fragwürdige Angelegenheit ist, da sich diese sogenannten „Quellen" notwendigerweise auf Schriftliches, zumeist sogar nur auf Publiziertes beschränken und den ganzen zentralen Bereich gesellschaftlich-mündlicher Kommunikation ausklammern müssen, ist die „Objektivität" damit sicher gerettet, allerdings auf Kosten der Interpretation. Das Sammeln von gleich oder ähnlich lautenden Formulierungen kann das geforderte Verstehen niemals ersetzen. Die Problematik wird dadurch höchstens noch potenziert: Anstelle eines zu interpretierenden Textes hat man nun mehrere. Mit der Absetzung von diesen drei zentralen „Illusionen" ist indessen nicht einem grenzenlosen Subjektivismus das Wort geredet. Hat man sie einmal als Illusionen durchschaut und die grundsätzliche Voreingenommenheit, Parteilichkeit und Gegenwartsbezogenheit des Interpretierens nicht mehr vertuscht, sondern bewußt akzeptiert und explizit gemacht, so erhalten diese Illusionen gleichsam als „regulative Ideen" eine durchaus positive Funktion für die Interpretation. Nachdem diese Mißverständnisse ausgeräumt sind, verfügen wir nun über den notwendigen Hintergrund, um die Frage zu beantworten, was „Interpretation" heiße. „Interpretation" meint — zusammenfassend gesagt — den explizit gemachten, stets je gegenwartsbezogenen und parteilichen Rezeptionsbezug, in den Texte und sie Lesende miteinander eintreten. Dabei fungieren „Unvoreingenommenheit", „Sich-hinein-versetzen" und „Aufsuchen der Quellen" als regulative Ideen. Denken wir der Gegenwartsbezogenheit, Voreingenommenheit und Parteilichkeit der Interpretation weiter nach, so ergibt sich uns auch eine Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung des Interpretierens: Wir interpretieren, um uns in der Gegenwart rmd ihren Fragen aufgrund eines auf diese stets rückbezogenen Verständnisses der Vergangenheit besser orientieren zu können.

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Einleitung

Da jedoch dem Ausgeführten zufolge jeder Text nur in seinem Rezeptionsbezug lebt/ welcher — explizit gemacht — Interpretation ist, können wir aus den getroffenen allgemeinen Bestimmungen noch keine speziellen Richtlinien für eine einzelne Interpretation ableiten. Denn wie jede Relation von ihren Relaten, so wird auch der Rezeptionsbezug von den seinen, dem speziellen Text und dem Interpretierenden, bestimmt. Es wird also für eine Klarlegung unseres Vorgehens unumgänglich sein festzustellen, was für uns „Interpretation eines Textes von Hegel" heißen kann. Das Relat des Interpretierenden ist ja durch die Ausführung unserer Aufgabe und Zielsetzung bereits hinlänglich bestimmt. Es ist in Hegels Texten immer viel von der Bewegung des Begriffes die Rede. Wollen wir also einen Hegelschen Text interpretieren, so müssen wir versuchen, diese Bewegung nachzuvollziehen, mit anderen Worten: das in ihr Vor-gedachte nach-zudenken. Dies bedeutet aber aufgrund der Einsicht in die „Illusion des Sich-hineinversetzens" nicht bloße Wiedergabe, sondern vielmehr „Wiedergeburt" des Gedankens, wie wir — einen Hegelschen Gedanken der Differenzschrift antizipierend — sagen können, Neuentwicklimg der Begriffsbewegung „im Bauzeug unseres Zeitalters". Damit hat sich auch die sich in letzter Zeit immer wieder aufdrängende Frage nach der Aktualität einer — in diesem Falle unserer — philosophischen Studie beantwortet. Solange man den Gedanken eines Denkers nicht als Erscheinung einer vermeintlichen Vergangenheit dieser überantwortet, sondern darum bemüht ist, ihn zu denken, ist er immer aktuell, vielleicht sogar das einzig wahrhaft Aktuelle. Ihn künstlich aktualisieren zu wollen, indem man ihn nach „rechts" oder „links", „rot" oder „schwarz", und was dergleichen mehr ist, rubriziert, wäre in der Tat müßig. Weder historisierendes noch aktualisierendes Abrücken von einem Gedanken, sondern allein das Denken desselben heißt für uns „Interpretation". Aufgrund dieser Überlegungen ist es nun auch möglich, die Richtlinien für unser Vorgehen namhaft zu machen. Leitender Gesichtspunkt dieses Vorgehens bleibt, im nach-denkenden Neuvollzug der von Hegel in seiner Differenzschrift vorgelegten Begriffsbewegung eine Antwort auf “ S. u. S. 38 ff. " Daß es sich im ersten Hauptabschnitt der Differenzsdirift in der Tat um eine solche Bewegung handelt, ist nichts weniger als „communis opinio" unter den Hegel-Interpreten, vielmehr betrachten sie diesen Abschnitt zumeist eher als willkommenen Steinbruch für Zitate und Gedankenfetzen, hierin noch ganz der Beschreibung verhaftet, die Rosenkranz (C. fV. F. Hegels Leben. 150) von der Differenzsdirift gibt: „In der Einleitung und im Anhang des Buchs trat er entschiedener auf. Jene gab eine Darlegung der mancherlei Formen, die bei dem jetzigen Philosophiren vor-

3. Zielsetzung und Vorgehen

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unsere gegenwartsbezogene Frage zu finden: Was ist Philosophie? Die originäre Rekonstruktion des Gedankenganges darf dabei nicht als Sekundärräsonnement neben dem Text Hegels stehen. Die Zitate sind vielmehr in unsere Ausführungen eingespannt und sollen so Indiz dafür sein, daß die Rekonstruktion tatsächlich eine derjenigen Begriffsbewegung ist, die Hegel vorzeichnet. Eben weil es sich um die Selbstentwicklung der Begriffsbewegung handelt, werden verschiedene Thesen erst an dem Ort eingelöst, an dem sie in der Entwicklung zu Recht stehen müssen, obwohl sie vorher schon antizipierend benutzt wurden. Es versteht sich von selbst, daß zur Lektüre unserer Arbeit die Kenntnis des zugrunde gelegten Textes vorausgesetzt ist. Die Rekonstruktion darf als gelungen gelten, wenn jedes Wort, fast könnte man sagen: jeder Buchstabe, des interpretierten Textes in ihr seinen Ort findet und sich aus ihr erklärt. Das setzt eine minutiöse Klein- und Detailarbeit am Text voraus, von der wir hier nur das Produkt vor uns haben. Auch ist es zuweilen nötig, weit auszuholen, um Verbindungen herzustellen, die sich für einen Leser zu Hegels Zeit rein assoziativ ergeben haben mögen. Das ganze, zum Teil fast mikroskopisch anmutende Vorgehen stellt unsere Deutung dessen dar, was GADAMERS Forderung meint, Hegel sei zu buchstabieren Aus dem zur „Illusion des historisierenden Denkens" Gesagten ergibt sich, daß wir hier keine im engeren Sinne quellengeschichtlich-historische Untersuchung vorlegen. Da aber dennoch an vielen Stellen der Gedankenentwicklung ein besseres Verständnis durch Herstellung historischer Bezüge erreicht werden kann, haben wir diese entweder, wenn sie für die Rekonstruktion selbst notwendig waren, in Form von Exkursen eingeschoben oder — ebenso wie die Auseinandersetzung mit der der Diskussionslage gemäß recht schmalen Sekundärliteratur — in den Apparat aufgenommen. Festzuhalten ist jedoch, daß alle diese Bezüge nicht beankommen, eine interessante Kritik aller der Begriffe, um welche sich damals der philosophische Kampf in principieller Hinsicht bewegte: Bedürfnis der Philosophie, Princip der Philosophie als oberster Grundsatz, transscendente Anschauung, Reflexion als Instrument des Philosophirens, Geschichte der Philosophie u. s. w. Jeder dieser kurzen Aufsätze brachte lang durchdachte Bestimmungen in körniger Sprache. Der Begriff des Systems als der sich selbst organisirenden Totalität des Wissens, welche nicht blos demonstrativ aus einem obersten, nicht bewiesenen Grundsatz abgeleitet werden kann, und die Nothwendigkeit der Vereinigung der synthetischen und analytischen Methode für die Speculation wurden hierbei besonders hervorgehoben." “ Vgl. H. F. Fulda: Heidelberger Hegeltage 1962. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 17 (1963), 702 ff; auch F. Nicolin: Philologische Aufgaben der Hegelforschung. In: Heidelberger Hegel-Tage 1962. Bonn 1964. Hegel-Studien. Beiheft 1). 337; ferner H.-G. Cadamer: Die verkehrte Welt. In: Hegel-Tage Royaumont 1964. Bonn 1966 (Hegel-Studien. Beiheft 3). 136.

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Einleitung

Sprüchen, faktische „Quellen" aufzuzeigen (audi wenn dies zuweilen der Fall sein sollte), sondern ausschließlich als Interpretamente dazu dienen, Material bereitzustellen, das Ausgeführte zu illustrieren und so ein besseres Verständnis zu erzielen. Dies gilt in besonderem Maße für den Exkurs zu ARISTOTELES Audi die erläuternd eingeführten Stellen aus späteren Werken Hegels sollen, falls dies nicht eigens angemerkt ist, nicht versteckte historische Thesen zur Entwicklung des Hegelschen Denkens nadi 1801 beinhalten, sondern haben ebenfalls nur Interpretamentsfunktion. Zur Erleichterung des Verständnisses — so könnte man pointiert formulieren — ist jedes Mittel recht. Es ist eine These Hegels in der Differenzschrift **, daß die Spekulation, das Denken des Absoluten, immanent durch Selbstvernichtung der Reflexion möglich ist; die Reflexion kann sidi gleichsam aus eigener Kraft zu ihrer Vernichtung und damit zu dem höheren Standpunkt der Spekulation erheben. Die Sprache der Interpretation muß daher auch Reflexionssprache bleiben. Konsequent der Hegelschen These vom Ausdruck der Vernunft durch den Verstand in der Antinomie folgend, wird die Interpretationssprache zuweilen recht komplex, da sie noch nicht die Sprache der Wissenschaft der Logik sein darf, welche die komplexen Reflexionsbestimmungen in „einfadien" spekulativen Urteilen übersteigen und zusammenfassen kann. Es bleibt noch übrig, in unserer entweder theoriefeindlichen oder schlidit theoriefaulen Zeit etwas zur Reditfertigung unseres Vorhabens zu sagen, die Gedankenentwicklung rein in ihren begrifflichen Strukturen oder, wie man uns wohl vorwerfen wird, schlecht-abstrakt zu rekonstruieren. Es wäre doch viel sinnvoller — so könnte eingewendet werden — die konkrete Seite dieser Hegelschen Theoreme, ihre Anwendung also „auf das Leben der Menschen", zu analysieren. Indessen muß gesagt werden, daß es sich bei den Hegelschen Begriffsentwicklungen gar nicht um solche handelt, die als abstrakte noch eine Anwendung außer sich hätten, sondern um allgemeine Bestimmungen, die das Abstrakte und das Konkrete umgreifen und ihm zugrundeliegen. In der Tat ist allerdings der Weg der Konkretion des allgemeinen Abstrakten in unserer Studie nicht ausgeschritten. Indessen ist ein erster Schritt besser als gar keiner, und nur aufgrund des ersten können die weiteren unternommen werden. Hier, in der Konkretisierung der Begriffsentfaltung, bleibt für die Interpretation noch viel zu tun « S. u. S. 43 ff. Mit dieser These setzt Hegel sich gegen die philosophischen Ansichten von Sinclair und Hölderlin ab. Vgl. Hegel: SW 5.65 ff. ■** S. u. S. 233 f. und 245 f.; vgl. oben S. II ff.

I. DIE PHILOSOPHIE I.l.

Die geschichtliche Betrachtung

Die grundlegende philosophische Frage ist also Was ist Philosophie? Die Was-Frage fragt nach dem Wesen von etwas. Das auf sein Wesen hin Befragte ist „die Philosophie". Philosophie begegnet. Sie ist immer nur faßbar als „die Philosophien", die philosophischen Systeme. Hinter die vielen Begegnenden, die Philosophien, richtet sich die Frage auf das sie Einigende, das, was dazu führt, sie alle als „Philosophie" zu bezeichnen. Die Frage „Was ist Philosophie?" spaltet sich auf in eine Relationsfrage, die Frage nämlich nach der Beziehung von Philosophie und den Philoso-< phien Die begegnenden Philosophien sind in Raum und Zeit begeg^ nende, sie sind als einmalig gesetzte der Räumlichkeit und Zeitlichkeit überliefert; sie sind mithin geschichtliche Phänomene, — und zwar immer bereits vergangene. Die Frage nach dem Wesen der Philosophie meint damit genauer die Frage nach der Beziehung der geschichtlichen Phänomene, genannt „philosophische Systeme", zur Philosophie. Besagte Frage erscheint also, sobald sie reflektiert wird, als eine gedoppelte: In dem hergestellten Fragebezug sind seine beiden Pole impliziert, das Erfragte und der Fragende. Sie zeigt sich demnach als die Frage nach der Beziehung des Fragenden zur Beziehung der Vielen, genannt „philosophische Systeme", auf das Eine, genannt „die Philosophie". Die Beziehung des Fragenden zum Erfragten ist, da das Erfragte immer nur in Form des Befragten, der verschiedenen philosophischen Systeme, mithin als geschichtlich Erschienenes begegnet, selbst eine geschichtliche ®. „Jedes philosophische System ist fähig, geschichtlich behandelt zu werden." * 1 S. o. S. 6. “ Zur Realisation dieser Frage in dem erscheinenden Wesen vgl. unten S. 78 ff. ’ Daher kann Hegel das erste Kapitel seiner allgemeinen Ausführungen in der Differenzschrift überschreiben: „Geschichtliche Ansicht philosophischer Systeme" (GW 4. 9 Z. 3 = SW 1. 39 = Diff. 8). * „Kein philosophisches System kann sich der Möglichkeit einer solchen Aufnahme entziehen; jedes ist fähig, geschichtlich behandelt zu werden." (GW 4. 9. Z. 22 f = SW 1. 40 = Diff. 8).

I. DIE PHILOSOPHIE. 1. Geschichtliche Betrachtung

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Das Verhältnis von Fragendem zu philosophischen Systemen (in ihrem Verhältnis zu der Philosophie), anders gesagt: das philosophisch-geschichtliche Verhalten ist nun ins Zentrum der Frage gerückt. Dieses Verhalten ist faßbare Gestalt der Einstellung. Einstellung ist Ausrichtung auf . . ., die in ihrem Verhältnischarakter als gerichtetes Verhältnis in ihrer Richtung bestimmt ist von ihren Relaten. An der jeweiligen Gewichtigkeit der Relate orientiert sich die Ausrichtung. Indessen zergliedert sich die geschichtliche Relation, wie sich uns aus der Analyse des Fragebezuges ergab, in eine gedoppelte; sie ist folglich bestimmt von drei Relaten: der Philosophie, den Philosophien, welche als philosophische Systeme auftreten, und dem Fragenden. Dieser Dreigliedrigkeit entspricht eine dreifache, jeweils unterschiedliche mögliche Gewichtigkeitsorientierung; es entspringen ihr drei Einstellungsmöglichkeiten zur geschichtlichen Ansicht philosophischer Systeme: 1. die historisierende oder objektivierend-empirische Einstellung 2. die ahistorische oder subjektivierend-dogmatische Einstellung 3. die geschichtliche oder kritisch-philosophische Einstellung

I.l.l.

Die historisierende oder objektivierend-empirische

Einstellung

„Wie jede lebendige Gestalt zugleich der Erscheinung angehört, so hat sich eine Philosophie als Erscheinung derjenigen Macht überliefert, welche es in eine todte Meinung und von Anbeginn an in eine Vergangenheit verwandeln kann." ® „Philosophie als Erscheinung" ist das Begegnen der Philosophie in den Philosophien, den philosophischen Systemen, wie wir es nannten. Die erschienene Philosophie als damit zugleich der Erscheinung angehörige muß es sich gefallen lassen, derjenigen Einstellung zu verfallen, die sie als eine „Kenntnis", d. h. aber als bloße Erscheinung begreift. Diese Einstellung wandelt Wissenschaft in eine Kenntnis um ®. » GiV4.9.Z. 23 ff = SW 1.40 = Diff. 8 f. • „Auf diese Weise ist sie [die Philosophie] in den Rang der Kenntnisse versetzt." {GW 4. 9 Z. 18 = SW 1. 39 = Diff. 8.) — Nach Reinholds Ansicht handelt es sich hierbei um ein Spezifikum der deutschen Popularphilosophie, die — auch Reinholds Formulierungen zufolge — ein Abkömmling der degenerierten Aufklärung ist: „Der ursprüngliche lebendige Geist des Philosophirens — das Bestreben, durch innere Bewährung und Vergewisserung der Principien aller Erkenntniß die Erfahrungserkenntnisse zu veredeln, war nun auch aus der teutschen Philosophie in dem Verhältnisse gewichen, als dieselbe die Gestalt der durchs Philosophlren erst zu veredelnden Kenntnisse annahm, — die Popularität zum vornehmsten Kennzeichen ihrer Wahrheit und ihres Werthes erhob, — und stolz auf die Gemeinnützigkeit, Faßlichkeit und Anwendbarkeit ihrer Lehren — nicht ohne Beschämung auf ihre ehemalige Beschäftigung mit der

1. Die historisierende Einstellung

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Das, worauf in der Frage nach dem Wesen der Philosophie abgezielt ist, ist jenes Verhältnis oder jene Einstellung zu Anderem, welches oder welche „wissenschaftlich" heißt. So verstanden ist die Frage nach der Philosophie also zugleich die nach Wissenschaft. Dies vorläufig nur angedeutete Motiv wird näher zu untersuchen sein^. Die historisierende Einstellung verwandelt das, worauf sie sich bezieht, durch eben diese ihre Beziehung in eine „Kenntnis", in den Gegenstand eines Kennens, — so auch die ihr begegnenden Philosophien. „Kenntnisse betreffen fremde Objekte, in dem Wissen von Philosophie, das nie etwas anders als eine Kenntniß war, hat die Totalität des Innern sich nicht bewegt, und die Gleichgültigkeit ihre Freyheit vollkommen behauptet." ® Wird die dreigliedrige Relation, die sich uns aus dem Fragen nach der Philosophie, das zugleich ein Fragen nach der Wissenschaft ist, ergab, zu einer zweigliedrigen verkürzt, wobei dem einen Glied, dem „objektiven" der verschiedenen Philosophien, die ausschlaggebende Gewichtigkeit zugeschrieben wird, so ändert sich unter der Hand das Erfragte selbst. Das „neugierige Sammlen von Kenntnissen", das sich in einer „Kollektion von Mumien" ® erschöpft, ist, indem es sich selbst für wissenschaftlich hält, bereits nicht mehr in der Lage, Wissenschaft als Philosophie in seinem Fragen zu erreichen. Ohne hinter das vordergründige Relat der philosophischen Systeme zu dem der Philosophie und dadurch zu der gesamten Relation Vordringen zu können, ist es gar nicht fähig, die Antwort auf das eigene Fragen zu finden, — ja, das eigene Fragen kann gar nicht das nach der Philosophie sein, da es immer in den Philosophien behaftet bleibt. Das „neugierige Sammlen von Kenntnissen" ist das geschichtliche „Benehmen, das aus irgendeinem Interesse auf Kenntnisse von Meinungen auszieht" Kenntnisse sind die Ergebnisse von ObjektivationsVorgängen. Das, was zur Kenntnis genommen werden soll, das zu Kennende, wird durch den Bezug, der zu ihm hergestellt wird, durch das Kennen, zu einem Fremden gemacht. Ein Fremdes ist etwas, das uns nichts angeht. ersten Aufgabe der Philosophie zurüdcsah — und die Erneuerung jener Besdiäftigung für einen unmöglichen Rückfall in den Zustand ihrer glücklich übersiandenen Unmündigkeit ansah." (Beyträge zur leichtern Übersicht ... 64 £). — Beachtenswert sind bei Hegel die Anklänge an diese Formulierungen Reinholds. Hegel stellt das Verhältnis von „lebendigem Geist", „Popularphilosophie" und „Kenntnissen" in der Folge, wie wir sehen werden, in einem anderen Lichte dar. Man kann wohl historisch von der Annahme ausgehen, daß Hegels Ausführungen als Nebenzweck auch die Richtigstellung von Reinholds Position in dieser Frage verfolgen. ’’ S. u. S. 211 ff, besonders 231 ff. 8 GfV 4. 9 Z. 18 ff = SW 1. 39 f = Diff. 8. » GW 4. 9 Z. 31 = SW 1. 40 = Diff. 9. GW 4. 9 Z. 28 f = SW 1. 40 = Diff. 9.

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I.

DIE PHIIOSOPHIE.

1. Geschichtliche Betrachtung

es ist „Meinung", 86|a, die — als Meinung relativiert — nur noch äußerlich ist. Das Verhältnis des Kennens von Meinungen, das Kenntnis zum Ergebnis und als leitenden Wert hat, ist das der „Indifferenz", der „Gleichgültigkeit". Durch „Gleichgültigkeit" als Ausdruck der besonderen Art der zur zweigliedrigen verkürzten Relation ist verschiedenes angesprochen. „Gleichgültigkeit" meint sowohl die Einstellung des „Subjekt"-Relates als auch die Folgen dieser Einstellung im „Objekt"-Relat: Die Gleichgültigkeitseinstellung des Subjekts bewirkt, daß diese und jene „fremden Objekte" gleich gelten; sie sind Meinungen, die sich so (als Meinungen) prinzipiell durch nichts anderes unterscheiden als durch ihr bloßes differentes Auftreten. Die einzige Differenz im Rahmen der indifferenten, gleichgültigen Einstellung ist nicht die der lebendigen, sondern die einer „verknöcherten Individualität", die „sich nicht mehr selbst ins Leben wagt" Das Individuationsprinzip ist das tote, äußerliche, rein quantitativ verstände „Ein-anderes-sein". Die qualitative Differenz ist in die quantitative als ihre Entäußerung übergegangen und dort geblieben, ohne aufgehoben zu werden; sie ist zum Stillstand gekommen, ist fixiert. Der „Trieb zur Totalität", anders gesagt: das immer weitertreibende Movens der Denkbewegung oder die Negation, hat sich entäußert, ist stehengeblieben im Äußeren. Welche inhaltliche Füllung entspricht dieser formalen Metapher des „Stehenbleibens"? — Der „Trieb zur Totalität" als das nie erlahmende Movens der Denkbewegung, als die zugleich kausale und finale Kraft, die das Begreifen von Umgebendem und Begegnendem weiterfreibf, ist — als durch Totalität geführter und auf sie ausgerichteter — so geartet, daß er stets auf das „Gesamt" abzielt. Das Gesamt aber ist nicht die bloße Summe der Objektivierten, sondern das „Zusammen" von Subjektivem und Objektivem, von Innerem und Äußerem, das jeder Trennung vorhergeht. Die reine Entäußerung und Objektivation, die das Begegnende nur als Erscheinung auffaßt, kann die Totalität nicht erreichen. Der „Trieb zur Totalität", das Bewegende des Denkens, waiulelt sich so in einen „Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse". Damit ist allerdings zugleich mit dem Bewegenden auch die Bewegung selbst verlassen, das Denken ist, da sein Movens sich quantitativ in einer Kumulationstendenz erschöpft hat, zum Stillstand gekommen. „Die Totalität des Innern" hat „sich nicht bewegt" — d. h. eben in jenem „Wissen von. . .", das TÜemals Wissenschaft sein kann, ist nur das Äußere, die mannigfaltig u GW 4. 9 Z. 8 = SW 1. 39 = Diff. 8 (Hervorhebung von mir, W. Z). GW 4. 9 Z. 20 = SW 1. 40 = Diff. 8.

1. Die historisierende Einstellung

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erscheinenden Formen, ohne Bezug auf das Innere, welches sich in seiner Totalität „ent-äußert", für das Ganze genommen und ist somit „stehengeblieben" in einer äußeren „Vollständigkeit", in der sich allerdings die „Totalität des Innern" nicht bewegt hat. Solche aufgrund von ObjektivationsVorgängen entstandenen Kenntnisse von Philosophie haben nur den Sinn des Verfügbarmachens. Nur solches, was Äußerliches bleibt, kann in ein Herrschaftsverhältnis eintreten. Die Meinungen vergangener Philosophien zu beherrschen, über sie zu verfügen, mit ihnen umzugehen, muß somit das Grundinteresse der historisierend-objektivierenden Einstellung sein. „Für diese Art der Indifferenz, wenn sie bis zur Neugierde aus sich herausgeht, giebt es nichts angelegentlicheres, als einer neuen ausgebildeten Philosophie einen Nahmen zu geben, und wie Adam seine Herrschaft über die Thiere dadurch ausgesprochen hat, daß er ihnen Nahmen gab, die Herrschaft über eine Philosophie durch Findung eines Nahmens auszusprechen." Das Grundinteresse der historisierend-objektivierenden Einstellung, die Herrschaft über ... im verfügenden Umgang mit Philosophie rückt diese in den „Funktionskreis instrumentalen Handelns" Die einzelnen „beherrschten" Meinungen werden zu Mitteln, mit denen sich mehreres erreichen läßt. Ausdruck dieser Instrumentalisierung ist das katalogisieren1’ GW 4. 9 Z. 13 ff = SW 1. 39 = Diff. 8. — Vgl. 1. Mose. 1, 28: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht" (= 1,26) und 1. Mose. 2,19f: „Denn als Gott der Herr gemacht hatte von der Erde allerlei Tiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte er sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie neimte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen. Und der Mensch gab einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen." Zusammen mit Jes. 43,1: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist meinV erweist sich deutlich, daß die Namengebung im biblischen Glauben eine besondere Stellung einnimmt: „Namengebung ist Herrschaftsakt." W. T. Zimmerli: 1. Mose 1—11. Die Urgeschichte. 2. Aufl. Zürich 1957. 47 und 136 (Bibelstellen zitiert nach der Eut/ier-Übersetzung. Alle Hervorhebungen von mir, W. Z.). Vgl. 7. Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1968. 236. — Es erweist sich hier, daß die von Habermas vorgenommene reine Trennung von Naturund Geisteswissenschaften nach Maßgabe der Grundtypen ihres Handelns (instrumental oder kommunikativ) durch die Geisteswissenschaft selbst, sofern die Philosophiehistorie als ihr zugehörig betrachtet wird, bereits durchbrochen ist. Die Philosophiehistorie oder historisierend-objektivierende Einstellung zur Philosophie (und damit auch zu anderen „Objekten") verläßt ihren Bezugs- oder Funktionskreis kommunikativen Handelns und tritt in den — eigentlich der Naturwissenschaft zugeschriebenen — instrumentalen Handelns über, begibt sich damit der Handlungsnormen ihres eigenen Funktionskreises imd nimmt die des anderen Bezugssystems auf sich, die Habermas zutreffend als Restriktion von Erfahrung und Sprache bezeichnet.

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I. DIE

PHILOSOPHIE.

1. Geschichtliche Betrachtung

de und rubrizierende Namengeben. Das Etikett ersetzt die Sache, und in den Namensschubladen ruhen die Meinungen als gleichgültige gut. Besonders deutlich wird dies, wenn sich der verfügende Umgang mit Philosophie mit seinem Nebeninteresse, der Utopie einer Perfektibilität, paart, und so die Nützlichkeit der historisierenden Einstellung in den Blick rüdct. „Die Geschichte der Philosophie gewinnt aber, wenn der Trieb, die Wissenschaft zu erweitern, sich darauf wirft, eine nützlichere Seite, indem sie nemlich nach REINHOLD dazu dienen soll, in den Geist der Philosophie tiefer als je geschah, einzudringen, und die eigenthümlichen Ansichten der Vorgänger über die Ergründung der Realität der menschlichen Erkenntniß durch neue eigenthümliche Ansichten weiter zu führen; nur durch eine solche Kenntniß der bisherigen vorübenden Versuche, die Aufgabe der Philosophie zu lösen, könne endlich der Versuch wirklich gelingen, wenn anders dieß Gelingen der Menschheit beschieden ist.'' 15 Zwei Punkte sind es in dieser Perfektibilitätsauffassung, die sich dem kritischen Zugriff unterziehen müssen: der instrumentale Perfektibilitätsgedanke selbst und die in ihm sich äußernde Fassung der objektivierten Erscheinungen als „eigenthümliche Ansichten". Letzteres führt wieder zurück ins Zentrum der historisierenden Einstellung selbst. Das instrumentale Verfügen der Philosophiehistorie über die geschichtlichen Erscheinungen der Philosophie begreift sich im Rahmen einer sich selbst nicht als solche durchschauenden Utopie als schrittweise aufbauende Annäherung an die endgültige Lösung philosophischer Grundaufgaben, deren „erste und wesentlichste" ist: „Ergründung der Realität der Erkenntniß" 1®. Die Auflösungen dieser Aufgabe sind zu verschiedenen Zeiten höchst verschiedene gewesen; sie erweisen sich aber, wenn sie wahrhaft Auflösungen des Grundproblems sind, als aufeinander aufbauend. Das Ergreifen und Verfügbarmachen philosophischer Erscheinungen als vergangener reiht sich so selbst ein in die Stufenfolge des Aufstiegs zur erhofften Lösung. Die Lösung, als Zielvorstellung im Aufraffen von Kenntnissen diese ordnend und in einen vermeinten Sinn einfügend, führt zur Perpetuierung des Aufraffens ad infinitum. Die Philosophie selbst, deren Namen sich der vermeinte Sinn aneignet, wird so zur ewigen, »5 GW 4. 10 Z. 6 ff = SW 1. 40 f = Diff. 9. „Daher ist die Ergründung der Realität der Erkenntniß die erste und wesentlidiste Aufgabe aller Philosophie, diejenige, von deren Auflösbarkeit die Möglichkeit, von deren gelungenen Auflösung die Wirklichkeit der Philosophie, so wie der Sinn und das Schicksal aller übrigen Aufgaben derselben abhängt — das eigentliche und einzige Fundamentalproblem alles Philosophirens." (Reinhold: Beyträge zur leichtern Übersicht... a.a.O. 2).

1. Die historisierende Einstellung

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mechanischen Kunst, die ihre eigenen vergangenen Formen als Instrumente eines iterierenden Propädeutikums in Besitz nimmt. „Man sieht, daß dem Zwekke einer solchen Untersuchung eine Vorstellung von Philosophie zu Grunde liegt, nach welcher diese, eine Art von Handwerkskunst wäre, die sich durch immer neuerfundne Handgriffe verbessern läßt; jede neue Erfindung setzt die Kermtniß der schon gebrauchten Handgriffe und ihrer Zwekke voraus; aber nach allen bisherigen Verbesserungen bleibt immer noch die Hauptaufgabe, die sich REINHOLD nach allem so zu denken scheint, daß nemlich ein allgemeingültiger letzter Handgriff zu finden wäre, wodurch für jeden, der sich nur damit bekannt machen mag, sich das Werk selbst macht." Als mit dem Gedanken der Perfektibilität notwendig verknüpft erscheint der der Relativierung: Die immer neuen Schritte im Aufstieg der je immer besseren Lösungen, des immer tieferen Eindringens, sind sich selbst ihrer nur relativen Geltung geradezu eingeständig. Die Relevanz jedes einzelnen, so gefaßt: neuen, Gedankens mißt sich an keinem anderen Kriterium als an dem der eigenen Zwischenposition. Die Vorstellung einer schrittweisen Annäherung an die einstmalen zu erwartende Lösung des Fundamentalproblems rückt diese zugleich in eine weite, unerreichbare Feme; sie wird zur Utopie der „glükseeligen Inseln der Philosophie, wohin wir uns sehnen" ” GW 4.10 Z. 13 ff = SW 1. 41 = Diff. 9 f. „Wenn partikularen Ansichten im Wesen der Philosophie ein Platz verstattet wird, und wenn Reinhold dasjenige, zu welchem er sich in neuern Zeiten gewendet hat, für eine eigenthümlidie Philosophie ansieht, dann ist es freylich möglich, überhaupt alle bisherigen Arten, die Aufgabe der Philosophie darzustellen und aufzulösen, mit Reinhold für weiter idchts als für Eigenthümlichkeiten und Vorübungen anzusehen, durch welche aber doch — weil, wenn wir auch die Küsten der glükseeligen Inseln der Philosophie, wohin wir uns sehnen, nur mit Trümmern gescheiterter Schiffe bedeckt, und kein erhaltenes Fahrzeug in ihren Buchten erblikken, wir die teleologische Ansicht nicht fahren lassen dürfen, — der gelingende Versuch, vorbereitend herbeigeführt werde." (GW 4.11 Z. 4 ff = SW 1. 42 = Diff. 10). — In dieser virtuosen Polemik gegen Reinhotds Beyträge zur leichtern Übersicht ... (4 f) verwendet Hegel jenes alte Seefahrtsbild, das nach einer langen, vorwiegend mittelalterlichen Tradition von Schiffahrtsmetaphern (vgl. E.R.Curtius; Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 3. Aufl. Bern, München 1961. 138 ff) durch J. Locke (An Essay concerning Human Understanding. Hrsg, von A. C. Fraser. New York 1959. „Introduction" §§ 6/7) ausführlich entfaltet und von Hume, speziell am Ende des ersten Teiles seiner Treatise on Human Nature (The philosophical works. Hrsg, von T. H. Green und Th. Grose. London 1882. Bd 1. 544), aber auch in An Inquiry Concerning Human Understanding (ebd. Bd 4.84), aufgegriffen wurde. H. Holzhey (Kants Erfahrungsbegriff. Basel, Stuttgart 1970. 146, 153) legt in seinen ausführlichen diesbezüglichen Untersuchungen dar, daß die Humesche Fassung dieses Bildes durch Hamanns, in der Beilage zum 53. Stück der Königsbergsdien Zeitungen am 5. Juli 1771 unter dem Titel Nachtgedanken eines Zweiflers anonym und ohne Nennung des übersetzten

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I.

DIE PHILOSOPHIE.

1. Geschichtliche Betraditung

Fassen wir die Verquickung von Perfektibilitäts- und Relativitätsgedanken tiefer^ so zeigt sie sich als eine charakteristische Fassung jenes Denkschemas, das uns unter dem Titel „Fortschritt" als ebenso unverbindlich wie gelegen und bequem bekarmt ist. Fortschritt als Fetisch und Alibi zugleich ist das Ergebnis einer Gleichgültigkeit, die Zeit und Wert Autors erschienene Übersetzung von Humes Treatise. .. {vgl. Hamann: SW 4. 364) in den deutschen Sprachraum gekommen ist. J. N. Tetens verwendete es 1775 in seinem Essay Über die allgemeine speculativische Philosophie: „Das Verfahren des Verstandes in der Naturlehre ist mit einer Schiffarth verglichen worden, die wie der Alten ihre, sich beständig an den Küsten hält. Man raisonnirt in der Physic; und wenn sie Philosophie, und nicht blos eine Naturgeschichte sein soll; so muß man noch mehr darinn raisonniren. Aber man hat immer ein Auge auf die Erfahrungen, und siehet nach diesen, wie nach Ufern und Leuchtthürmen, und kehret auch bald wieder zurück, wenn man solche aus dem Gesicht verloren hat. Will man diese Vergleichung fortsetzen; so ist die Metaphysic eine Reise um die Welt, über den Ocean, wo man nur hie und da an einigen allgemeinen Erfahrungssätzen etliche Insuln imd Ufer antrift, durch die man von ihrer genommenen Richtung belehret werden kann. Die Leidenschaften sind die Stürme, die Vorurtheile die Klippen, die die Vernunft zurückwerfen oder scheitern lassen. Wie viele Ursachen gibt es also nicht hier, mehr als anderswo, sich mit guten Kompassen, Karten und Fernrohren zu versehen, und sich in der Kunst zu steuern vorhero vestzusetzen. Wie viele Gründe hat man, die Vernunftlehre und die Grundphilosophie zu studiren!" {Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie und Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Bd 1. Berlin 1913. 15.) Von hier wird wohl die „wesentliche Nuancierung" {Holzhey: Kants Erfahrungsbegriff. 152) stammen, die Kant diesem Bilde 1783 in den Prolegomena fWA 4.262) gibt, — etwa gegenüber seinem Gebrauch in Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes von 1763 {WA 2. 65 f), von woher seinerseits — zumindest in einzelnen Formulierungen — Tetens geschöpft haben mag. — Hegel verbindet in dem angeführten Zitat das Schiffahrtsbild mit dem alten Mythos der „Inseln der Seligen", der zum ersten Mal unter dem Topos „paz.cipcov vf)aoi" bei Hesiod {Werke und Tage. 171) faßbar ist und wohl (nach mdl. Angabe von W. Burkert) eine Verbindung der Vorstellung von den „weißen Inseln", auf die Achill entrückt worden sein soll, mit dem bei Homer aufzufindenden „Ekijaiov"-Mythos darstellt. Herodot (3.26) und Pindar {Epinikien 2.71) erwähnen die griechische Paradiesesvorstellxmg der „paxdpcov vfjaoi", bei Platon taucht sie häufig auf (z. B. Gorgias 523 b, 526 c, Politeia 540 b, Symposion 179 e, 180 b) und läßt sich wohl in Verbindung bringen mit dem von Platon erstmals erwähnten Atlantis-Mythos (vgl. Timaios 24eff, Kritias 106 ff). Da Atlantis durch Platon nach Kritias 108 e jenseits der Säulen des Herakles angesiedelt wird, liegt der Schluß nahe, daß Hegel sich bei seiner Verbindung des Schiffahrtsbildes mit dem Topos der „Inseln der Seligen" auf Kant, KdrV A 395 f, bezieht, da Kant dort ausführt: ,,Nicht[s] als die Nüchternheit einer strengen, aber gerechten Kritik kann von diesem dogmatischen Blendwerke, das so viele durch eingebildete Glückseligkeit unter Theorien imd Systemen hinhält, befreien und alle unsere speculative Ansprüche blos auf das Feld möglicher Erfahrung einschränken, nicht etwa durch schalen Spott über so oft fehlgeschlagene Versuche, oder fromme Seufzer über die Schranken unserer Vernunft, sondern vermittelst einer nach sicheren Grundsätzen vollzogenen Gränzbestimmung derselben, welche ihr nihil ulterius mit größter Zuverlässigkeit an die herculischen Säulen heftet, die die Natur selbst aufgestellt hat, um die Fahrt unserer Vernunft nur so weit, als die stetig fortlaufende Küsten der Erfahrimg reichen, fortzusetzen, die wir nicht verlassen

1. Die historisierende Einstellung

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als lineare Abläufe aufeinander projiziert und an dem fernen Leitmotiv eines „anderen Zustandes" orientiert, sich äußerlich bewegt, aber die „Totalität des Innern" unbewegt läßt Zwischen den Polen des „Fort von ..." und des „Fort zu ..schwebt der Fortschritt tmbeweglich als ein Maß, mit dem alles „erklärt", aber nichts gemessen werden kann. Die Objektivation, die es erst ermöglicht, die geschichtliche Bewegung als Fortschritt zu erfassen und die eigene Position gleichsam von „gegenüber" her in ihn einzureihen, erreicht das Stagnieren in der Illusion des Sichbewegens. Als Rechtfertigung des Stillestehens dient die Ansiedlimg des Zieles in einer utopischen Transzendenz, welche Ansiedlung begründet ist in einer im eigentlichen Sinne empirischen „Kenntnisnahme". „Zur-Kenntnis-nehmen" heißt damit „Sich-vom-Leibe-halten" und garantiert die Unberührtheit der „eigenwilligen Besonderheit". — „Die Liebe und der Glauben an Wahrheit, hat sich in eine so reine und ekkle Höhe gesteigert, daß er, damit der Schritt in den Tempel recht ergründet und begründet werde, einen geräumigen Vorhof erbaut, in welchem sie, um den Schritt zu ersparen, sich mit Analysiren und Methodisiren und Erzählen so lange zu thun macht, bis sie zum Trost ihrer Unfähigkeit für Philosophie sich beredet, die kühnen Schritte anderer seyen weiter nichts, als Vorübungen oder Geistesverirrungen gewesen." können, ohne uns auf einen uferlosen Ocean zu wagen, der uns unter immer trügliehen Aussichten am Ende nöthigt, alle beschwerliche und langwierige Bemühung als hoffnungslos aufzugeben." (Hervorhebungen von mir, W. Z.) — Die „glükseeligen Inseln der Philosophie, wohin wir uns sehnen," sind also für Hegel im Zusammenhang mit der Schiffahrtsmetapher Ausdruck eines utopischen Jenseitsglaubens, der den Gläubigen (in diesem Falle Reinhold) zu dem Wahn verführt, mit einer im Empirismus, im Hypothetischen imd Problematischen steckenbleibenden „Küstenschiffahrt" die per definitionem auf diesem Wege unerreichbaren „(caxäpcov vfiaoi" dennoch einst erreichen zu können, — mythische Spiegelung des vollen Widersinns empirisch-utopischer Perfektibilitäts- und Fortschrittsideologie. Eine weitere biographisch sehr naheliegende Quelle stellt Hölderlins Endfassung des Hyperion dar. Nach verschledentlicher Verwendung der Schiffahrtsmetapher (z. B. StA 3.76) und des Topos „Inseln des Himmels" (ebd. 70) oder „seelige Inseln" (ebd. 58) formuliert Hölderlin (ebd. 85): „Wie ein unermeßlicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkermtlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen..." und etwas später: „Was kümmert mich der Schiffbruch der Welt, ich weiß von nichts, als meiner seeligen Insel." (ebd. 87). — Vgl. auch W. Heinse: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Lemgo 1787. R. W. Meyer (Bildungsplanungl In: Das Problem des Fortschritts — heute. Hrsg, von R. W. Meyer. Darmstadt 1969. Vgl. XIX.) faßt diesen Sachverhalt knapp und konkret — auf die uns bewegende Frage nach dem Wesen der Philosophie hin orientiert — dahingehend, daß der Preis für den wissenschaftlichen „Fortschritt" die fehlende Integration und der fehlende Weltbezug der Wissenschaften, anders: der Verlust ihrer Verbindung zu ihrem Sinnzentrum, der Philosophie, sei. 20 CW 4. 11 Z. 23 ff = SW 1. 43 = Diff. 11. — Vgl. unten Anm. 16 zu I. 4.

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I. DIE PHILOSOPHIE. 1. Geschichtliche Betrachtung

Die Perfektibilitäts- und Relativitätsthese finde, so sagten wir, ihre Begründung in der Objektivation, die unter dem Titel der „Kenntnisse von ..auftritt. Diese Objektivation ist Ausdruck der Verkürzung der von uns analysierten dreigliedrigen Relation in eine zweigliedrige, wobei dem Relat der Erscheinung, d. h. den verschiedenen philosophischen Systemen, der Wertigkeitsprimat zukommt. Wie zeigt sich nun dieser Begründungszusammenhang ? Eigentümlichkeiten, eigentümliche Ansichten sind Meinungen, „56|ai", die ihrem je eigenen Ort entstammen. Eigentümliche Ansichten sind immer schon je eigene und können in der Frage nach der Philosophie keinen Platz haben. Nur die Frage, die auf Eigentümlichkeit abzielt, d. h. die dem Besonderen, Eigenen verhaftete Frage, kann Eigentümliches, Besonderes, als Konstituens eines Allgemeinen betrachten. „Wer von einer Eigenthümlichkeit befangen ist, sieht in andern nichts als Eigenthümlichkeiten." Hiermit sind wir auf ein weiteres Relat in unserer Relation hingewiesen, ein Relat, das uns unbemerkt schon seit geraumer Zeit begleitet, und das unsere dreigliedrige Relation zu einer viergliedrigen erweitert: Die Frage nach der Philosophie ist die Frage nach der Beziehung der Beziehung der Philosophie auf die philosophischen Systeme zu der Beziehung der Philosophie auf den Fragenden. Die scheinbare Komplikation der Relation verschwindet, sobald man die — auch in der Formulierung unserer Frage — vorgegebene Objektivierung auflöst: Es ergibt sich dann die Frage nach der Beziehung der einzelnen Philosophien untereinander in ihrer Beziehung auf die Philosophie, oder: nach der Beziehung der Erscheinungen untereinander in Beziehung auf ihre Beziehung zu dem in ihnen Erscheinenden. Damit ist zugleich die Schranke aufgehoben zwischen Philosophie und philosophischen Systemen auf der einen und geschichtlicher Betrachtung auf der anderen Seite. Denn wenn die Grundfrage der Philosophie die nach ihrem Wesen ist, das Wesen aber immer geschichtlich erscheint, so ist das Fragen nach der von uns aufgestellten Relation selbst philosophisches Fragen 1.1.2.

Die ahistorische oder subjektivierend-dogmatische Einstellung

Die dreigliedrige Relation in dem Fragen nach Philosophie trägt in sich selbst aber auch die andere Wertungsmöglichkeit, sobald sie, wie *1 Gtv 4.11 Z. 3 ff = SW 1. 42 = Dif/. 10. “ S. u. S. 32 ff.

2. Die ahistorische Einstellung: Fichte

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oben, als die Beziehung einer Philosophie, d. h. eines philosophischen Systems, auf ein anderes System in ihrer beidseitigen Beziehung auf die Philosophie gefaßt wird. Gliederten sich die drei Relate in der historisierend-objektivierenden Einstellung so, daß die Philosophie, nach der gefragt ist, als das bloße, abstrakte Objektivationsergebnis der einzelnen philosophischen Systeme verstanden und damit auf Resultate einer Kenntnisnahme reduziert wurde, so besteht demgegenüber ein prinzipiell anderer Ansatz darin, die Philosophie in das eigene, das fragende System zu legen, wodurch wieder die dreigliedrige Relation zu einer zweigliedrigen zusammenschrumpft. Diese Einstellung aber ist, da sie anderen philosophischen Systemen nicht einmal zubilligen kann, sie seien in der Tat philosophische, in einem tiefen Sinne ahistorisch. Die in der Geschichte aufgetauchten Denkversuche werden nicht objektiviert, sondern subjektiviert, was soviel heißen soll, daß sie in Bezug gesetzt werden zum vermeintlich einzig möglichen und zugleich wirklichen philosophischen Ansatz, — dem eigenen System nämlich. Damit ist allerdings der geschichtliche Dialog bereits abgebrochen, denn die Philosophie wird nun nicht mehr gesucht, sondern sie ist bereits gefunden, — eine geschichtliche Dimension des Denkens kann sich gar nicht erst eröffnen. Worin gründet nun aber die Möglichkeit der genannten ahistorischen Einstellung? Wieder — wie bei der historisierenden Einstellung — ist nicht auf die Differenz von Erscheinung und in ihr Erscheinendem reflektiert. Eine Erscheinung, die als Erscheinung bereits in Relation steht, wird aus dieser Relation herausgelöst, mithin verabsolutiert; verabsolutieren meint aber etwas Relatives absolut setzen. Äußerte sich in der historisierenden Einstellung die Tendenz einer utopiegeleiteten Relativierung, so tritt an deren Stelle nun die einer ahistorischen Verabsolutierung, die „auf einen Schlag" Philosophie schon erreicht hat. Selbst wenn das betreffende fragende System tatsächlich ein philosophisches ist, hindert es sich selbst daran, zu dem wahrhaft Absoluten vorzustoßen, dadurch, daß es sich selbst nicht als Erscheinung begreift und folglich seine eigene erschienene Eigentümlichkeit für das einzige Wahre nimmt.

a.

Exkurs:

FICHTES

geschichtliches Urteil

Als Beleg und Beispiel einer solchen ahistorischen Einstellung dient FICHTE: „Nicht weniger muß auch aus der Eigenthümlichkeit der Form, Inwieweit der spätere Hegel selbst dieser Gefahr eines subjektivierend-dogmatischen Geschichtsdenkens erlegen ist, muß hier dahingestellt bleiben.

I. DIE PHILOSOPHIE. 1. Geschichtliche Betrachtung

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in welcher sich die FiCHXESche Philosophie ausgesprochen hat, erklärt werden, daß FICHTE von SPINOZA sagen konnte, SPINOZA könne an seine Philosophie nicht geglaubt, nicht die volle innere lebendige Ueberzeugung gehabt haben, — und von den Alten, daß selbst dieß zweifelhaft sey, ob sie sidi die Aufgabe der Philosophie mit Bewußtseyn gedacht haben." von Hegel so zitiertes Urteil über SPINOZA und die Alten wirkt zunächst befremdlich. Es muß — exkursweise in seinem Kontext betrachtet — der Hegelschen Lösung dieser Befremdlichkeit Angriffsfläche bieten. In seiner Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre für Leser, die schon ein philosophisches System haben nimmt FICHTE zu der Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie Stellung. Ob eine Philosophie Wissenschaft sei, hänge — dies ist seine Ansicht — nicht davon ab, ob sie allgemein geltend sei, denn Allgemeingültigkeit der Philosophie könne es nicht geben. Worauf es vielmehr ankomme, sei die substantielle Überzeugung des Philosophierenden von seiner Philosophie. „Es ist sehr sicher vorauszusehen, daß diejenigen, welche im Besitz der Philosophie, als Wissenschaft, zu sein glauben werden, allen, die diese Philosophie nicht anerkennen, den Titel des Philosophen ganz absprechen, und sonach das Geltenlassen ihrer Philosophie selbst wieder zum Kriterium des Philosophen'überhaupt machen werden. So müssen sie wohl verfahren, wenn sie konsequent zu Werke gehen; denn die Philosophie ist nur Eine. Der Verfasser der Wissenschaftslehre z. B. hat schon längst geäußert, daß er für seine Person, inwiefern von der Wissenschaftslehre nicht als von einer individuellen Darstellung, welche ins Unendliche vervollkommnet werden kann, sondern inwiefern von ihr, als einem System des transzendentalen Idealismus die Rede ist, dieser Meinung sei; und er trägt keinen Augenblick Bedenken, dies hier nochmals mit ausdrücklichen Worten zu bekennen. Dadurch aber geraten wir in einen greiflichen Zirkel. Meine Philosophie ist wirklich allgemeingeltend für Alles, was Philosoph ist, sagt dann jeder, wenn er nur selbst überzeugt ist, mit seinem vollkommnen Rechte; gesetzt, es nähme kein Sterblicher außer ihm die Sätze derselben an: denn, setzt er hinzu, wem sie nicht gilt, der ist kein Philosoph. Ich denke über diesen Punkt so: Wenn auch nur Einer von seiner Philosophie vollkommen und zu allen Stunden gleich überzeugt ist, wenn er bei derselben vollkommen Eins ist mit sich selbst, wenn sein freies Urteil im FICHTES

2* GW 4.11 Z. 13 ff = SW 1. 42 = Diff. 11. “ Nidit, wie M. Mery (G. W. F. Hegel: Premieres Publications. Paris 1952.174) irrtümlidierweise annimmt, in Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer von 1794.

2. Die ahistorische Einstellung; Fichte

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Philosophieren, und das ihm aufgedrungne im Leben vollkommen übereinstimmen, so hat in diesem Einen die Philosophie ihren Zweck erreicht und ihren Umkreis vollendet; denn sie hat ihn bestimmt da wieder abgesetzt, von wo aus er mit der ganzen Menschheit ging: und nun ist die Philosophie, als Wissenschaft, wirklich in der Welt vorhanden, wenn sie auch außer diesem Einen kein Mensch begriffe und annähme; ja wenn auch etwa jener Eine sie gar nicht außer sich darzustellen wüßte." Die Frage nun, wer von den Systematikern in der Philosophiegeschichte in einem solchen tiefen Sinne von seiner Philosophie überzeugt gewesen sei, veranlaßt FICHTE ZU der These: „Jene Systematiker waren nur von diesem und jenem verborgnen Punkte ihres Systems überzeugt, dessen sie sich selbst vielleicht nicht klar bewußt waren, nicht aber vom Ganzen; sie waren nur in gewissen Stimmungen überzeugt. Dies ist keine Überzeugung. Überzeugung ist nur das, was von keiner Zeit und keiner Veränderung der Lage abhängt; was nicht ein dem Gemüte nur Zufälliges, sondern selbst das Gemüt ist. Nur von dem unveränderlich und ewig Wahren kann man überzeugt sein: Überzeugung vom Irrtum ist schlechterdings unmöglich. Solcher Überzeugten dürfte es in der Geschichte der Philosophie wohl wenig, es dürfte vielleicht kaum Einen, vielleicht auch nicht einmal diesen Einen geben." Als Illustration dieser These führt FICHTE die Alten und SPINOZA an: „Ich rede nicht von den Alten. Ob diese die eigentliche Frage der Philosophie sich auch nur mit Bewußtsein aufwarfen, selbst dies ist zweifelhaft. Nur auf die größten Denker der neueren Zeit will ich Rücksicht nehmen. — SPINOZA konnte nicht überzeugt sein; er konnte seine Philosophie nur denken, nicht sie glauben, denn sie stand in dem direktesten Widerspruche mit seiner notwendigen Überzeugung im Leben, zufolge welcher er sich für frei und selbständig halten mußte. Er konnte von ihr nur überzeugt sein, inwiefern sie die Wahrheit, inwiefern sie einen Teil der Philosophie als Wissenschaft enthielt. Daß das bloß objektive Räsonnement auf sein System notwendig führe, davon war er überzeugt; denn darin hatte er recht: im Denken auf sein eigenes Denken zu reflektieren, fiel ihm nicht ein, und darin hatte er unrecht, und dadurch versetzte er seine Spekulation in Widerspruch mit seinem Leben." FICHTE geht also von den Prämissen aus: „Es gibt nur Eine und wahre Philosophie, und nur von ihr kann man wahrhaft überzeugt sein" und Fichte; VJW 3. 95 f = SW 1. 511 f. Fichte: WW 3. 97 = SW 1. 513. Ebd. — Zur Spinoza-Rezeption und -Wertung am Ende des 18. Jahrhunderts s. u. S. 150. "

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1. Gesdiichtliche Betrachtung

„Idi bin überzeugt von meiner Philosophie". Daraus schließt er: „Ergo ist meine Philosophie die Eine und wahre." — Um nun der Frage nachzugehen, ob schon andere Systematiker vor ihm die Eine und wahre Philosophie gemeint haben könnten, muß FICHTE nur seine eigene philosophische Überzeugung ansetzen und die anderen Philosophen, deren Auswahl bei näherem Zusehen doch recht willkürlich ist und sich vielleicht mit dem beschränkten FICHTE zur Verfügung stehenden philosophiegeschichtlichen Material erklären läßt, an dieser messen. Kriterium hierbei ist die für FICHTES Denken charakteristische Forderung nach Übereinstimmung des „freien Urteils im Philosophieren" und des „aufgedrungnen im Leben", anders gesagt: die Reflexion im Denken auf das eigene Denken. — So beurteilt, kann kein Denker (außer allenfalls LEIBNIZ ^®) vor FICHTE die Eine und wahre Philosophie gehabt haben. Diese formale Begründung einer subjektivierend-ahistorischen Einstellung hat Hegel im Blick, wenn er sagt, eine solche Äußerung werde bei FICHTE von der „Eigenthümlichkeit der Form des eignen Systems", von der ,,ganze[n] sthenische[n] Beschaffenheit derselben" produziert. Aber darüber hinaus ist noch ein mehreres gemeint: Die „Eigenthümlichkeit der Form" zielt auf eine Vertiefung des bisher als Verhältnis von Erscheinendem und Erscheinung Gefaßten, auf eine Neufassung der uns seit ARISTOTELES aus der Tradition bekannten „Form-Stoff-Wesen"-Beziehung, auf die wir noch in verstärktem Maße eingehen müssen An dieser Stelle sei nur soviel gesagt, daß das Eigentümliche, das Individuierende. Erscheinungshafte, als zugehörig zur Form, in diesem Falle zur Form des philosophischen Systems, begriffen ist. „Was an einer Philosophie eigenthümlich ist, kann eben darum, weil es eigenthümlich ist, „Leibnitz konnte auch überzeugt sein; denn wohlverstanden — und warum sollte er sich nicht selbst wohlverstanden haben? — hat er recht. Läßt höchste Leichtigkeit und Freiheit des Geistes Überzeugung vermuten; läßt die Gewandtheit, seine Denkart allen Formen anzupassen, sie auf alle Teile des menschlichen Wissens ungezwungen anzuwenden, alle erregten Zweifel mit Leichtigkeit zu zerstreuen, und überhaupt sein System mehr als Instrument, denn als Objekt zu brauchen; läßt Unbefangenheit, Fröhlichkeit und guter Mut im Leben auf Einigkeit mit sich selbst schließen; so war vielleicht Leibnitz überzeugt, und der einige Überzeugte in der Geschichte der Philosophie." (Fichte: WW 3. 98 f = SW 1. 514 f). — Daß Fichte hier Leibniz so eminent positiv wertet und an die Spitze der erwähnten Philosophen stellt, mag befremdlich anmuten, ist jedoch gerade in der Entgegensetzung zu Spinoza als Relikt von Fichtes intensiver Beschäftigung mit Leibniz und der Philosophie der Aufklärung vor seiner Begegnung mit Kant 1790 zu erklären. Vgl. W. Kabitz: Studien zur Entwicklungsgeschichte der Fichteschen Wissenschaftslehre aus der Kantischen Philosophie. Berlin 1902 (Neudrudk Darmstadt 1968. 2 ff). CW 4.11 Z. 20 = SW 1. 42 — Diff. 11. — Zur besonderen Form des Fichteschen Systems s. u. S. 220 ff. “ S. u. S. 43 ff.

2. Die ahistorisdie Einstellung: Fidite

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nur zur Form des Systems nicht zum Wesen der Philosophie gehören. Wenn ein Eigenthümliches wirklich das Wesen einer Philosophie ausmachte, so würde es keine Philosophie seyn; und wenn ein System selbst ein Eigenthümliches für sein Wesen erklärt, so konnte es dessen ungeachtet aus ächter Spekulation entsprungen seyn, die nur im Versuch, in der Form einer Wissenschaft sich auszusprechen gescheitert ist." Die Eigentümlichkeit der Form, in welcher FICHTES Philosophie sich ausgesprochen hat, gehört somit nicht zum Wesen der Philosophie selbst; sie ist eine „Eigenthümlichkeit der Form des eignen Systems" Als solche ist sie jedoch nicht von FICHTE erkannt, sondern sie verhindert — unerkannt — in ihrer ganzen „sthenisdien Beschaffenheit", ihrer überzeugenden Kraft, eine Einsicht in ihren akzidentiellen Charakter. FICHTES System erklärt ein Eigentümliches für sein Wesen, obwohl es aus editer Spekulation entsprungen ist. Es ist an dem Versuch gescheitert, in der Form einer Wissenschaft sich auszusprechen — Nur durch diese Befangenheit in der Form des eigenen Systems läßt sich erklären,wie FICHTE ZU seiner ahistorischen Einstellung vergangenen Philosophien gegenüber kommen konnte. Angedeutet ist hier bereits eine notwendige Beziehung von Wesen und Form, die vorhanden sein muß, damit eine Philosophie sich in der Form einer Wissenschaft aussprechen kann. Im Hintergründe steht also wieder die Frage nach der Bedingung von Wissenschaft überhaupt. Noch ein weiteres tritt hier — im Gegensatz zu der historisierend-objektivierenden Einstellung und über diese hinaus — hinzu: die „ächte Spekulation". — Spekulation selbst als die philosophische Methode wird uns noch Anlaß intensiverer Beschäftigung werden — hier bleibt sie vorläufig eine begriffliche Leerstelle, deren Funktion aber bereits auf eine bestimmte Wertigkeit der unterschiedlichen Einstellungen hinweist: echte Spekulation ist der historisierend-objektivierenden Einstellung nicht zuzubilligen; diese ist ja so geartet, daß sie auf bloße Kenntnisse ausgeht, in deren Hintergrund allenfalls ein leerer Fortschrittsglaube steht, der von nirgends eine Bestimmung erhält. Die Frage ihrer Wissenschaftlichkeit ist damit bereits abgewiesen, denn die Wissenschaft fordert „lebendigen Antheil", den ihr die Einstellung des „Zur-Kenntnis-nehmens" jedodi verwehrt. In ihr kann es also gar nicht um den Versuch einer wissenGW 4. 10 Z. 34 ff = SfV 1. 41 f = Diff. 10. 33 GW 4.11 Z. 19 = SW 1. 42 = Diff. 11. 3ä S. u. S. 137 ff und 220 ff. 33 S. u. S. 95 ff.

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1. Geschiditliclie Betrachtung

schaftlichen Form gehen. Scheitern kann an einem solchen Versuch überhaupt nur echte Spekulation, weil nur sie ihn unternehmen kann. Reines ahistorisches Denken ist demnach, wenn auch befangen in Subjektivität und Verabsolutierung, im Gegensatz zum bloßen „ZurKenntnis-nehmen" zumindest ansatzweise Philosophie und kann sich daher auf den Versuch einlassen, sich in der Form einer Wissenschaft auszusprechen. Indessen verurteilt die in ihm zum Ausdruck kommende eigene Befangenheit diesen Versuch notwendig zum Scheitern, da der subjektivierend-dogmatischen Einstellung die wahrhaft geschichtliche Beziehung, wie wir sie nun kennenlernen werden, abgeht.

1.1.3.

Die geschichtliche oder kritisch-philosophische Einstellung

Diejenige Einsicht, die das Recht für sich beanspruchen kann, die geschichtliche zu heißen, muß wurzeln in einer Einsicht in die Relation selbst, in der sie als „Einstellung auf . . ." sich bewegt. Um sich absetzen zu können gegen die anderen, unreflektierten Einstellungen, muß sie einen Maßstab besitzen, an dem sich diese messen lassen. Dieser Maßstab kann als der Blickpunkt aufgefaßt werden, auf den hin Absetzungen von anderen Einstellungen erfolgen. Als das „Worauf-hin" des Sich-absetzens ist er transzendent und transzendental, anders gesagt: Resultat der bestimmten Negation des Sich-absetzens, das aber selbst dieses erst in Gang bringt. Mit dem Sich-absetzen rückt somit das „Worauf-hin" in zwei Hinsichten in den Blick: als die reflektierende Gesamteinsicht in die eigene Relation, als Maßvorstellung, auf der einen und als das Ergebnis des Sich-absetzens, als geschichtliche oder kritisch-philosophische Einstellung, auf der anderen Seite. Dies gedoppelte In-den-Blick-rücken spiegelt das hier vorhandene doppelte Begründungsverhältnis: Das Sich-absetzen ist begründet in seinem „Worauf-hin", welches sich seinerseits nur aufgrund des Sich-absetzens bestimmt. Das so beschriebene doppelte Begründungsverhältnis selbst ist wiederum Spiegelung jenes unzertrennbaren Verhältnisses, welches wir als das von Erscheinung und in der Erscheinung Erscheinendem bezeichneten. Dem begreifenden Zugriff erwächst daraus die Notwendigkeit, das gedoppelte In-den-Blick-rücken des „Worauf-hin" zunächst als ein in der Tat gedoppeltes, d. h. zweifaches, aufzufassen und so zu zertrennen. Erst auf einer späteren Stufe wird es möglich werden, das durch den begreifenden Zugriff Zertrennte in seinem Zusammengehören zu untersuchen und

3. Die geschichtliche Einstellung

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so den begreifenden Zugriff, der immer auf Anderes geht, zugunsten des sich begreifenden Begriffs zu verlassen. Das heißt für uns, daß sich der Blick zunächst auf das Sich-absetzen der geschichtlichen Einstellung von den beiden anderen soeben behandelten Einstellimgen richten muß. Die jeweiligen Absetzungsmotivationen, die sich implizit bereits dem Verständnisversuch in der Behandlung der objektivierenden und der subjektivierenden Einstellung eröffneten, müssen für sich und zugleich in ihrer Verweisfunktion auf ihr „Worauf-hin" erfaßt werden. Das „Worauf-hin” wird sich, wie unsere vorgängige Analyse ergab, als ein zweifaches zeigen: als Einsicht in die Relation selbst und als sie begründende und durch sie begründete geschichtliche Einstellung. Die historisierend-objektivierende Einstellung sucht sich „durch die Mannichfaltigkeit dessen, was sie hat, den Schein desjenigen zu verschaffen, was sie nicht ist” Sie versagt der Wissenschaft, indem sie sie in eine Kenntnis umwandelt, den lebendigen Anteil, den diese fordert. — Aus diesen und anderen kritischen Absetzungsmotivationen lassen sich verweisende Aussagen über das „Worauf-hin” des Sich-absetzens gewinnen, die als Verweise durch eine sie insgesamt erklärende Grundeinsicht fundiert sein müssen: — Die Wissenschaft darf nicht Vollständigkeit haben, sondern sie muß Totalität sein. — Wissenschaft fordert lebendigen Anteil, den man ihr nicht durch entfremdende Objektivationen versagen darf. — In der Wissenschaft muß sich die „Totalität des Innern” bewegen Was heißt hier „Wissenschaft”, und wie gelangen wir von der Verweisfunktion der sie betreffenden Aussagen zur Einsicht in die von uns thematisierte Relation selbst? — Zunächst meint „Wissenschaft” hier ganz allgemein nur: die richtige Einstellung. Spezieller ist gemeint die Einstellung auf philosophische Systeme der „Vergangenheit”, d. h. auf „zugleich der Erscheinung angehörige lebendige Philosophie”. Somit bedeuten die verweisenden Aussagen für das, worauf sie verweisen: — Die richtige (wissenschaftliche) Einstellung in der Relation von Fragendem und begegnenden Philosophien zu der Philosophie darf sich nicht in einem Aneignen (Zur-Kenntnis-nehmen) der begegnenGtV4. 9Z. 8 ff = StV 1. 39 = Diff. 8. GW 4. 9 Z. 20 = SW 1. 40 = Diff. 8. Zu den näheren Bestimmungen des Verhältnisses von Wissenschaft und Philosophie s. u. S. 211 ff und 231 ff.

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1. Geschichtliche Betrachtung

den Philosophien erschöpfen. Die Vollständigkeit dessen, was man im Fragen hat, verkürzt die Relation in eine zweigliedrige; sie muß ersetzt werden durch die Totalität dessen, was man ist, d. h. Fragen und Befragtes müssen verstanden werden als Erscheinungs/ormen des Erfragten. — Nur so ist „lebendiger Antheil" an der Wissenschaft als der richtigen Einstellung möglich. „Lebendiger Antheil" heißt dann: nicht mehr objektivierend das eigene Fragen vom Befragten trennen, sondern sich im oben genannten Sinne als identisch mit dem Befragten erfassen, — durch die Verschiedenheit von Fragendem und Befragtem hindurch ihre Einheit in dem Erfragten erkennen. — Die „Totalität des Innern" ist eben jene Totalität, die man ist, d. h. die Totalität der durch die Mannigfaltigkeit des Verschiedenen hindurch gesehenen Einheit. Diese muß sich bewegen, lebendige Einheit sein. Alle drei Verweise also haben das selbe „Worauf-hin" des Verweisens, sie zeigen unter verschiedenen Blickwinkeln auf das selbe: auf die Einsicht in die Relation, die wir oben faßten als die Beziehung der Erscheinungen untereinander zu dem in ihnen Erscheinenden. Die Absetzungsmotivation von jener besonderen Ausformung der historisierend-objektivierenden Einstellung, die unter dem Titel der Perfektibilität oder der Fortschrittsutopie läuft, mag dies bestätigen: „Wenn aber das Absolute, wie seine Erscheinung die Vernunft, ewig ein und dasselbe ist, wie es denn ist; so hat jede Vernunft, die sich auf sich selbst gerichtet und sich erkannt hat, eine wahre Philosophie producirt und sich die Aufgabe gelöst, welche, wie ihre Auflösung, zu allen Zeiten dieselbe ist. Weil in der Philosophie die Vernunft, die sich selbst erkennt, es nur mit sich zu thun hat, so liegt auch in ihr selbst ihr ganzes Werk wie ihre Thätigkeit, und in Rücksicht aufs innre Wesen der Philosophie gibt es weder Vorgänger noch Nachgänger." Das in seiner Erscheinung Erscheinende ist das Absolute, welches sich als Absolutes nicht anders denn als Absolutes bestimmen läßt. Es ist nicht das in bestimmter Entgegensetzung zum Relativen Absolute; sonst wäre es ja nicht in Wahrheit absolut sondern relativ, in Abhebung nämS. o. S. 26. GW 4. 10 Z. 25 ff = SW 1. 41 = Diff. 10. — H. Kimmerle (Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 301 ff) irrt, wenn er aus dieser Stelle schließen will, Hegel vertrete hier „unmißverständlich die Auffassung, daß die Philosophie als solche keine Geschichte hat". Auch für den Hegel der Differenzschrift hat Philosophie bereits ihre Geschichte, wie sich im folgenden zeigen wird.

3. Die geschichtliche Einstellung

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lieh vom Relativen Das Absolute kann vielmehr nur gefaßt werden als das sich selbst bestimmende und vermittelnde Unbestimmte und Unmittelbare. Als dieses ist es die Relation selbst. „Die Relation selbst erscheint" muß somit heißen: sie wird bestimmte Relation. Die bestimmte Relation, bestimmt sowohl durch ihre Relate als auch durch ihren Erscheinungscharakter, d. h. ihre Identität mit dem Absoluten, ist die Vernunft. Die Vernunft als Erscheinung des Absoluten, als bestimmte Relation in Beziehung auf die unbestimmte unmittelbare Relation, das Absolute, ist mit dem Absoluten und wie es selbst ewig ein und dasselbe. Die Vernunft als Erscheinung des Absoluten ist aber zugleich einzelne Gestalt. Jede dieser einzelnen Gestalten (denn es müssen, da sie einzelne sind, mehrere sein) richtet sich als Erscheinung des Absoluten auf sich selbst und erkennt sich, d. h. setzt sich sich selbst entgegen und begreift sich als das, was sie ist, als Erscheinung des Absoluten. Dieses Sich-begreifen als ... ist das Produzieren von wahrer Philosophie und damit die Auflösung der philosophischen Aufgabe. Diese ist: „Konstruktion des Absoluten fürs Bewußtsein" anders gesagt: die Selbsterkenntnis der Vernunft als Erscheinung des Absoluten. Da die Erscheinung des Absoluten wie dieses und mit diesem immer ein und dasselbe ist, ist die Aufgabe der Philosophie, das Denken des Absoluten, wie ihre Auflösung, das Erscheinen des Absoluten im Denken, zu allen Zeiten dieselbe. Daher gibt es im Wesen der Philosophie, der Selbsterkenntnis der Vernunft als Erscheinung des Absoluten, weder Vor- noch Nachgänger. Das heißt nun aber, daß das „Worauf-hin" des Sich-absetzens als Einsicht in die Relation selbst eben die Selbsterkenntnis der Vernunft, d. h. Philosophie ist. Für die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft, als der richtigen Einstellung, zu Philosophie resultiert daher vorläufig, daß Wissenschaft nur auf dem Grunde von Selbsteinsicht der Vernunft, das heißt aber: von Philosophie, möglich ist Die Selbsteinsicht der Vernunft als das gesuchte „Worauf-hin" des Sichabsetzens weist, wie wir oben zeigten, eine gedoppelte Struktur auf: Es ist zugleich begründet von der und begründend für die richtige Einstellung. Diese Doppelung gilt es nun — zunächst auf ihre zweite Seite, Hegel setzt sidi hier ab von Auffassungen, wie sie z. B. Hölderlin vertritt, dessen Absolutes, das „Seyn", das Relative, das „Urtheil" noch außer sich hat. Vgl. Hölderlin: Urtheil und Seyn. In: StA 4,1. 216 f. GW 4. 16 Z. 19 f = SW 1. 50 = Hiff. 17. Hegel formuliert an dieser Stelle die Aufgabe der Philosophie bewußt mit Schelling und gegen Reinhold. S. o. S. 22. S. u. S. 45 ff. ** Für die nähere Bestimmung dieses Verhältnisses s. u. S. 231 ff. S. o. S. 32.

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DIE PHILOSOPHIE.

1. Geschichtliche Betrachtung

die geschichtliche Einstellung, sodann auf die in ihr sich zeigende unabtrennbare Einheit ihrer beiden Seiten hin — zu untersuchen. Für die geschichtliche Einstellung ergibt sich aus dem Postulat der Einsicht in die Relation selbst die Konsequenz, daß sie anderen philosophischen Systemen, die sonst als zur Kenntnis genommene in der historisierenden oder abgewehrte in der ahistorischen Einstellung bedeutungslos werden, die ihnen zukommende Bedeutung beimißt, d. h. in ihnen als anderen sich selbst, eine Erscheinung des Absoluten, ein Produkt der Vernunft, erkennt. „Der lebendige Geist, der in einer Philosophie wohnt, verlangt, um sich zu enthüllen, durch einen verwandten Geist gebohren zu werden. Er streifft vor dem geschichtlichen Benehmen, das aus irgend einem Interesse auf Kenntnisse von Meinungen auszieht, als ein fremdes Phänomen vorüber, und offenbart sein Innres nicht; es kan ihm gleichgültig seyn, daß er dazu dienen muß, die übrige Kollektion von Mumien und den allgemeinen Hauffen der Zufälligkeiten zu vergrößern, denn er selbst ist dem neugierigen Sammlen von Kenntnissen unter den Händen entflohen. Dieses hält sich auf seinem gegen Wahrheit gleichgültigen Standpunkte fest . . .; es hat nicht erkannt, daß es Wahrheit gibt." Der alte Satz, zum Philosophen müsse man geboren bzw. mit der Philosophie verwandt sein erhält hier eine neue Wendung, die ihn plötzlich ungewohnt scharf und prägnant macht: Geschichtliche Einstellung ist die Fähigkeit, den lebendigen Geist, der in einer Philosophie wohnt, wiederzugebären. Diese metaphorische Wendung meint ein Dreifaches; CW 4. 9 Z. 26 = SW 1. 40 = Diff. 9. — Ähnlich formuliert schon Jacobi: . . der Geist verträgt keine wissenschaftliche Behandlung..." (WW 2. 314), wobei „Wissenschaft" für Jacobi hier den Buchstaben in der zur damaligen Zeit wieder besonders lebhaft diskutierten paulinischen Entgegensetzung von Geist (nveüpa) und Buchstaben (Ypäpira) (2. Kor. 3, 6) meint. „Überall ist es der Geist, der Lebendige, der alles schafft, ausgebildet, vollkommener macht." (WW 3. 330). Der Buchstabe dagegen ist „Niederschlag und Todtenkopf der Vernunft" (ebd. 308). Das Wissen, die Wissenschaft, ist eine „Form der Verfestigung" des Lebens (O. F. Bollnow: Die Lebensphilosophie F.H. Jacobis. Stuttgart 1933. Neudruck Stuttgart [usw.] 1966. 222 ff). — Vgl. für den frühen Hegel auch Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg, von H. Nohl. Tübingen 1907 (Neudruck Frankfurt a. M. 1966). 305: „Die Wirkung des Göttlichen ist nur eine Vereinigung der Geister; nur der Geist faßt und schließt den Geist in sich ein." — Auch hierzu finden sich verschiedene ähnliche Formulierungen bei Hölderlin, so z. B. spricht er von „verwandtem Geist" {StA 3.9), der „Verwandtschaft des Geistes" (ebd. 167, der „Unzertrennlichkeit der Geister" (ebd. 180), vom „Wiedergebähren" (ebd. 63 f) und formuliert — in Versfassung und in Prosa —: „Begegnet nicht in allem / Was da ist, unserem Geist ein freundlicher / Verwandter Geist?" (ebd. 190, 191, 201). vgl. etwa Platon, 7. Brief, 344 a 2 ff.: „... Jvl öe L6y(o, TöV |ITI a V y y ey r\ xoC ÄQOiYiiaTog oüx’äv EÜ|xdÜEia noir|OEiEv JIOXE OüXE pvf|p,r) ..." (. .. mit einem Worte, den der Sache sich nicht verwandt Fühlenden wird weder Gelehrigkeit noch Merk-

3. Die geschichtliche Einstellung

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— Die Beziehung des Vernunftproduktes „Philosophie" auf das in ihm Erscheinende muß erkannt, d. h. muß als mit dem eigenen Fragen identisch verstanden werden. — Diese erkannte Beziehung ist die Wahrheit; es gibt also Wahrheit rücht etwa nur als eine leitende Utopie, sondern in jeder echten Spekulation, wobei „Spekulation" als die „Thätigkeit der einen und allgemeinen Vernunft auf sich selbst" aufgefaßt werden muß. — Erkannt werden aber kann diese Beziehung selbst wieder nur durch Spekulation, d. h. durch philosophisches Denken. Das meint die Rede vom „Gebären". Somit ist die geschichtliche Einstellung bedingt durch die Einsicht in die Relation selbst, und insofern muß man zum Philosophen allerdings geboren sein. Andererseits ist gerade die geschichtliche Einstellung selbst Bedingung der Einsicht in die Relation. Um nämlich zur philosophischen Spekulation, d. h. zur Einsicht in die Relation, zu gelangen, ist die geschichtliche Einstellung bereits vorausgesetzt. „Das Wesen der Philosophie ist gerade bodenlos für Eigenthümlichkeiten, und um zu ihr zu gelangen, ist es, wenn der Körper die Summe der Eigenthümlichkeiten ausdrükt, nothwendig, sich ä corps perdu hineinzustürzen; denn die Vernunft, die das Bewußtseyn in Besonderheiten befangen findet, wird allein dadurch zur philosophischen Spekulation, daß sie sich zu sich selbst erhebt, und allein sich selbst, und dem Absoluten, das zugleich ihr Gegenstand wird, sich anvertraut; sie wagt nichts daran als Endlichkeiten des Bewußtseyns, und um diese zu überwinden, und das Absolute im Bewußtseyn zu konstruiren, erhebt sie sich zur Spekulation, und hat in der Grundlosigkeit der Beschränkungen und Eigenthümlichkeiten ihre eigene Begründung in sich selbst ergriffen. Weil die Spekulation die Thätigkeit der einen und allgemeinen Vernunft auf sich selbst ist, so muß sie, statt in den philosophischen Systemen verschiedener Zeitalter und Köpfe, nur verschiedene Weisen und rein-eigenthümliche Ansichten zu sehen, wenn sie ihre eigne Ansicht von den Zufälligkeiten und Beschränkungen befreyt hat, durch die besondern Formen durch sich selbst, — sonst eine blosse Mannigfaltigkeit verständiger Begriffe und Meynungen finden, und eine solche Maniügfaltigkeit ist keine Philosophie." samkeit dazu madien...), oder den diesen Gedanken aufgreifenden Fichte, der ausführt: „Zum Philosophen muß man geboren sein, dazu erzogen werden, und sich selbst dazu erziehen: aber man karm durch keine menschliche Kunst dazu gemacht werden." (IVtV 3.18 f = SW 1. 434 f). 2 GW 4. 14 Z. 25 f = SIV 1. 47 = Diff. 14. „Es [wenn die reine Idee der Philosophie ohne wissenschaftlichen Umfang sich ausdrückt] ist der Abdrude einer schönen Seele, welche die Trägheit hatte, sich vor dem Sündenfall des Denkens zu bewahren." (GW 4.119 Z. 20 ff = SW 1.176). — Seit Hamann im Gefolge Luthers (Schelling erwähnt in diesem Zusammenhang als Quelle aus dem französischen Sprachraum auch Condillac; WW 1. 249 f = SW 1. 325 f) den Sündenfall — durch den hebräischen Urtext nahegelegt — als eine „Irreleitung der menschlichen Vernunft" (R. Newald: Von Klopstock bis zu Goethes Tod. Teil 1: Ende der Aufklärung und Vorbereitung der Klassik. 4. Aufl. München 1964. 167), also als „Sündenfall des Denkens" interpretiert hatte, ist diese Deutung in der deutschen Geistesgeschichte geläufig. Hegel führt das in ihr Gemeinte in der Phänomenologie aus: „Das unmittelbare Daseyn schlägt in den Gedanken, oder das nur sinnliche Bewußtseyn in das Bewußtseyn des Gedankens um und zwar, weil er der aus der Unmittelbarkeit herkommende oder bedingte Gedanke ist, ist er nicht das reine Wissen, sondern der Gedanke, der das Andersseyn an ihm hat und also der sich selbst entgegengesetzte Gedanke des Guten und Bösen. Der Mensch wird so vorgestellt, daß es geschehen ist als etwas nicht Nothwendiges, — daß er die Form der Sichselbstgleichheit durch das Pflücken vom Baume des Erkenntnisses des Guten und Bösen verlor und aus dem Zustande des unschuldigen Bewußtseyns, aus der arbeitslos sich darbietenden Natur und dem Paradiese, dem Garten der Thiere, vertrieben wurde." (SW 2. 588). — Der hier erwähnte „Zustand des unschuldigen Bewußtseyns" ist — geistig appliziert — der der „schönen Seele", mit dem ihn Hegel in obigem Zitat aus dem Kritikaufsatz in Verbindung bringt. Die „schöne Seele", wohl einer der meistzitierten Topoi des ausgehenden 18. Jahrhunderts, blickt auf eine lange Geschichte zurück. Bereits bei Platon ist „xa^f) zu finden, und über den Neuplatonismus auf der einen und den mittelalterlichen Gedanken des „Seelenadels" auf der anderen Seite gelangte der Begriff der schönen, reinen und naiven Seele in die „Genie"-Vorstellung der Stürmer und Dränger, von woher er dann seine zentrale Bedeutung bei Goethe (Werther) und — für Hegel vordringlich ausschlaggebend — in Schillers Theoretischen Schriften erhielt. Vgl. etwa die Bestimmung des Begriffes „schöne Seele" in Anmut und Würde (TS 2. 36 ff). Bekanntlich nimmt die „schöne Seele" auch in Hegels Phänomenologie eine gewichtige Position ein (vgl. SW 2. 484 ff); zur früheren Verwendung dieses Begriffes durch Hegel vgl. Hegels theologische Jugendschriften. 389 ff et passim.

I.

72

DIE PHILOSOPHIE.

3. Grund und Bedürfnis

in ganz abgesonderte Gebiete trennen, für deren jedes dasjenige keine Bedeutung hat, was auf dem andern vorgeht." 2. Nun greift „das Leben" als Vernunft den Verstand unmittelbar auf seinem eigenen Gebiete durch die Reflexion selbst an. „Aber der Verstand kann auch unmittelbar auf seinem Gebiete durch die Vernunft angegriffen, und die Versuche, durch die Reflexion selbst, die Entzweyung und somit seine Absolutheit zu vernichten, könneneher verstanden werden; deßwegen hat die Entzweyung, die sich angegriffen fühlte, sich so lange mit Haß und Wuth gegen die Vernunft gekehrt, bis das Reich des Verstandes zu einer solchen Macht sich empor geschwungen hat, in der es sich vor der Vernunft sicher halten kan." Gegen den Angriff der Vernunft wehrt sich der Verstand auf zweierlei Weise: a.

Solange er es kann, geht er direkt vor, indem er sich gegen die Vernunft durch immer neue Beschränkungen und Entzweiungen ein eigenes System aufzubauen sucht. Dies gelingt ihm jedoch nicht.

b.

Da ihm dies nicht gelingt, fängt er die Angriffe der Vernunft so auf, daß er sie integriert: Er gibt sich selbst den Anschein der Vernunft. „Die Verachtung der Vernunft zeigt sich nicht dadurch am stärksten, daß sie frey verschmäht und geschmäht wird, sondern daß die Beschränktheit sich der Meisterschaft über die Philosophie und der Freundschaft mit ihr rühmt. Die Philosophie muß die Freundschaft mit solchen falschen Versuchen ausschlagen, die sich unredlicher Weise der Vernichtung der Besonderheiten rühmen, von Beschränkung ausgehen, und um solche Beschränkungen zu retten und zu sichern, Philosophie als ein Mittel anwenden."

Hier nun tritt der eigentlich interessante Punkt in der Entwicklung der „Eskalationsstufen" des Kampfes von Verstand und Vernunft auf. Es wäre mißverstanden, wollten wir die bildhafte Darstellung des Kampfes für bare historische Münze nehmen. Die Deutung dieses Bildes sei bis zum hier beginnenden entscheidenden Ansatz kurz rekapituliert: Lebendiges Denken hat gegenüber erstarrter Kultur auf ästhetisch-religiösem Wege nur dort Erfolg, wo die Kultur auf niedriger Stufe steht. In höheren Kultur- und Bildungsstufen muß das lebendige Denken der Bildung, dem Verstand, auf dessen eigenem Gebiet in der Reflexion als M GW 4. 14 Z. 37 - 15 Z. 4 = SW 1. 47 = Di//. 15. Zum Begriff „Leben" s. u. Anm. 23. GW 4.15 Z. 5 ff = SW 1. 48 = Diff. 15. ” CW 4. 15 Z. 15 ff = SW 1. 48 = Diff. 15 f.

1. Verstand und Vernunft

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vernünftige Negation entgegentreten. Diesem Angriff kann sich das herrschende Bildungssystem nur dadurch entziehen, daß es scheinbar mit dem Gegner gemeinsame Sache macht. Die Vernunft geht auf dem Wege der Kritik, der bestimmten Negation, vor. Das Bildungssystem des Verstandes integriert das vernünftige Negieren, indem es dieses in ein Produkt verwandelt und fixiert, d. h. die Negation wieder in Gegensatz zu dem Negierten setzt und so innerhalb seines eigenen Bildungssystems beläßt, aus dem die Negation sich gerade herausheben sollte. „Solche Entgegengesetzte, die als Vernunftprodukte und Absolute gelten sollten, hat die Bildung verschiedener Zeiten in verschiedenen Formen aufgestellt, und der Verstand an ihnen sich abgemüht. Die Gegensätze, die sonst unter der Form von Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, FreyheitundNothwendigkeitu.s.w. und in eingeschränktem Sphären noch in mancherlei Arten bedeutend waren, und alle Gewichte menschlicher Interessen an sich anhenkten, sind im Fortgang der Bildung in die Form der Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur, für den allgemeinen Begriff, von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität übergegangen." GtV 4. 13 Z. 24 ff = SW 1. 45 f = Diff. 13. — Hegel zeichnet hier mit knappen Zügen, aber dennoch deutlich erkennbar, die Grundprobleme der Philosophiegeschichte nach, an deren Überwindung die Philosophen — seien es nun Materialisten oder Idealisten — immer schon gearbeitet haben. Über den Materialismus eines Holbach z. B. urteilt Hegel, in ihm sei etwas „von dem ächten philosophischen Bedürfnis, die Entzweyung in Form von Geist und Materie aufzuheben", zu erkennen (GW 4. 79 Z. 37 — 80 Z. 2 = SW 1. 148 = Diff. 96 f). Der von Hegel 1801 Descartes noch zum Vorwurf gemachte, ihm später eher positiv zugeschriebene Dualismus von „res cogitans" und „res extensa" findet in der Leib-Seele-Problematik, die bei Spinoza und den Okkasionalisten weiterlebt, ihren zugespitzten Ausdruck. Für den der christlichen Überlieferung entstammenden Gegensatz von Glauben und Verstand findet Hegel zu seiner Zeit in Jacobi einen prominenten Vertreter, den er auch mit Kant und Fichte zusammen 1802/3 in Glauben und Wissen als Exponenten dieses dort monographisch thematisierten Gegensatzes herausstellt. Ebenso bietet sich Kant als Beispiel für die Entgegensetzung von Freiheit und Notwendigkeit an. In der Zusammenfassung dieser Gegensätze zu den Gegensatzpaaren „Vernunft — Sinnlichkeit", „Intelligenz — Natur", allgemein: „absolute Subjektivität — absolute Objektivität" spielt Hegel eindeutig auf Kant und Fichte sowie auf den diese beiden zu vermitteln suchenden Schelling an. „Die Kantische Philosophie hatte es bedurft, daß ihr Geist vom Buchstaben geschieden, und das rein spekulative Princip aus dem übrigen herausgehoben wurde, was der raisonnirenden Reflexion angehörte, oder für sie benutzt werden konnte. In dem Princip der Deduktion der Kategorieen ist diese Philosophie ächter Idealismus, und dieß Princip ist es, was Fichte in reiner und strenger Form heraus gehoben und den Geist der Kantisdien Philosophie genannt hat." (GW 4. 5 Z. 15 ff = SW 1. 33 f = Diff. 3.) — „Als Grundcharakter des Fidite'schen Princips ist aufgezeigt worden, daß Subjekt = Objekt aus dieser Identität heraustritt, und sich zu derselben nicht mehr wiederherzustellen vermag, weil das differente ins Kausalitätsverhältniß versetzt wurde; das Princip der Identität wird nicht Princip des Systems; so wie das System sich zu bilden

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I. DIE PHILOSOPHIE.

3. Grund und Bedürfnis

So wird die Vernunft, obwohl ihr einziges Interesse ist, gerade solche festgewordenen Gegensätze aufzuheben, die ja ursprünglich ihre eigenen vona Verstand als Produkte gesetzten Negationen sind, in allen ihren Ansätzen sofort vom Verstand in die Bildung integriert. In immer stärkerem Maße wird sie unterdrückt, wobei die Unterdrückungsmittel immer subtiler werden. „Je weiter die Bildung gedeyht, je mannichfaltiger die Entwicklung der Äußerungen des Lebens wird, in welche die Entzweyung sich verschlingen kan, desto grösser wird die Macht der Entzweyung, desto fester ihre klimatische Heiligkeit, desto fremder dem Ganzen der Bildung und bedeutungsloser die Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wieder zu gebähren." Doch die fortschreitende Unterdrückung der Vernunft durch den Verstand findet ein plötzliches, explosionsartiges Ende. Es kommt zu einer „Revolution der Vernunft", zu einem qualitativen Umschlag. Durch das Fehlen von Vernunft, welches aus ihrer anhaltenden Unterdrückung durch den Verstand resultiert, entsteht gleichsam ein „Sog", ein Mangel an Vernunft, welcher übermächtig wird: das „Bedürfniß der Philosophie". Die Vernunft greift in ihrer „Revolution" den Verstand wiederum auf seinem eigenen Gebiete an; Sie integriert ihn ebenso, wie er sie zu integrieren suchte. Diese gewaltige Umwälzung scheint indessen ganz einfach zu sein: „Im Kampfe des Verstandes mit der Vernunft kommt jenem eine Stärke nur insoweit zu, als diese auf sich selbst Verzicht thut; das Gelingen des Kampfs hängt deßwegen von ihr selbst ab, und von der Ächtheit des Bedürfnisses nach Wiederherstellung der Totalität, aus welchem sie hervorgeht." 1.3.2.

Die „Revolution" der Vernunft

Worin besteht diese als „Revolution der Vernunft" bezeichnete Umwälzung? Letztlich in nichts anderem als in dem einfachen Sich-seinerselbst-bewußt-werden des sich seiner selbst nicht bewußten Verstandes. anfängt, wird die Identität aufgegeben, das System selbst ist eine konsequente, verständige Menge von Endlichkeiten, welche die ursprüngliche Identität nicht in den Fokus der Totalität, zur absoluten Selbstanschauung zusammen zu greifen vermag. Das Subjekt = Objekt macht sich daher zu einem subjektiven; und es gelingt ihm nicht, diese Subjektivität aufzuheben, und sich objektiv zu setzen. Das Princip der Identität ist absolutes Princip des ganzen Schelling'schen Systems. Philosophie und System fallen zusammen; die Identität verliert sich nicht in den Theilen, noch weniger im Resultate." (GW 4. 62 Z. 25 — 63 Z. 6 = SW 1.122 = Diff. 75.) GW 4.14 Z. 22 ff = SW 1. 47 = Diff. 14. GW 4.15 Z. 22 ff = SW 1. 48 = Diff. 16.

2. Die „Revolution" der Vernunft

75

Vernunft ist der auf sich selbst reflektierende, und das heißt: der sich seiner selbst bewußte, Verstand. Der sich seiner selbst nicht bewußte Verstand war ausgezeichnet durch seine Tätigkeit des Trennens und Objektivierens, d. h. Fixierens, dieser Trennungen. Das Fixieren der Trennungen und Entzweiungen des Verstandes ist es also, worauf sich die Vernunft in ihrer „Revolution" zu richten hat, wenn sie den Verstand dazu bringen will, vernünftig zu werden, — und dieses ist ja ihr Ziel. Anders gesagt: Der zu sich selbst gekommene Verstand, die Vernunft, muß sich gegen jene Fixierung der Entzweiungen wenden, die er vorgenommen hatte, als er noch nicht zu sich selbst gekommen war. Das Bild des Kampfes zwischen Verstand und Vernunft läßt sich somit nun erklären als das Sich-zur-Wehr-setzen des Verstandes gegen seine eigene Einsicht in sich selbst. So produziert denn der Verstand, um sich vor seiner eigenen Einsicht zu verschließen, ein immer größeres und umfangreicheres System, in dem er doch selbst immer befangen bleibt, ohne aus ihm herauszukönnen. Doch seine Selbsteinsicht, die er als Gefahr für sich immer vor sich sieht, treibt ihn immer weiter, da sie ihm bei jedem seiner Schritte immer schon einen Schritt voraus ist, und so „erweitert sich" „seine Aufgabe . . . zur unendlichen''^^ In diesem seinem ganzen „Bildungsgang" stößt aber der Verstand immer wieder an seine Grenzen. Auf dem Zenith seines Gegensatzsystems begegnet er mit seiner Grenze plötzlich sich selbst; in der höchsten Entfernung von der Vernunft gelangt er zur Einsicht seiner selbst, zur Vernunft. Die „Revolution" der Vernunft als das Sich-auflehnen des zu sich selbst gekommenen Verstandes gegen seine eigene Beschränktheit im Noch-bei-anderem-sein wirft mit einem Schlage die Fesseln ab, die der Verstand sich selbst durch seine Entgegensetzungen — sowohl gegen sich als auch gegen andere — angelegt hatte. „Solche festgewordene Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft; diß ihr Interesse hat nicht den Sinn, als ob sie sich gegen die Entgegensetzung und Beschränkung überhaupt setzte, denn die nothwendige Entzweyung ist Ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet, und die Totalität ist, in der höchsten Lebendigkeit, nur durch Wiederherstellung aus der höchsten Trennung möglich. Sondern die Vernunft setzt sich gegen das absolute fixiren der Entzweyung durch den Verstand, und um so mehr, wenn die absolut entgegengesetzten selbst aus der Vernunft entsprungen sind." Der zu sich gekommene Verstand



GW 4.17 Z. 12 = SW 1. 51 = Diff. 18. CW 4.13 Z. 33 —14 Z. 3 = SW 1. 46 = Diff. 13 f.

76

I. DIE PHILOSOPHIE, 3.

Grund und Bedürfnis

als Vernunft begreift somit in sich sich selbst sowohl als Verstand als auch als Vernunft. Dieses Sich-begreifen oder Zu-sich-kommen ist das, was wir — in späterer Hegelscher Terminologie — als die „Aufhebung" kennen. Der Verstand und die Vernunft als Antagonisten in der sich einsehenden Erscheinung des Absoluten sind in ihr, der sich als Erscheinung des Absoluten einsehenden Erscheinung des Absoluten, ebenso vernichtet wie bewahrt, sie sind notwendige und daher aufbewahrte Momente ihrer eigenen Vernichtung. Beides, Entzweiung und Vereinigung, sind „Faktoren des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet". Das Absolute, das es zu erreichen gilt, ist das „Leben", der „lebendige Geist", das „Eins und Alles" 23 über den Begriff „Leben" bei Hegel ist schon so viel geäußert worden, daß es schwierig scheint, etwas Neues hinzuzufügen. Dilthey (CS 4) auf der einen und Lukäcs (Der junge Hegel) auf der anderen Seite bilden die Extrempositionen in der Auslegung des Hegelschen Lebensbegriffes: Jener will Hegel zu einem Lebensphilosophen stempeln, dieser ihn rein marxistisch-materialistisch verstehen. Allen in der weiten Spanne zwischen diesen Extrempositionen stehenden Auslegungen gegenüber drängt sich indessen die naive Frage auf, warum man „Leben" nicht einmal ganz konkret als „Leben" zu begreifen versucht, — eine Deutung, die sich etwa auch durch Schellings Lebensbegriff nahelegen würde (auch R. Kroners Vermutung, Hegels Lebensbegriff sei nicht unbeeinflußt von Jacobi, Hölderlin und Schleiermacher, ist wohl, wenn auch durch Kroner nicht im einzelnen belegt, nicht ganz von der Hand zu weisen, würde aber unserem Verständnisvorschlag nicht widersprechen. Vgl. R. Kroner: Von Kant bis Hegel. Bd 2. 145). Leben ist für Hegel in der Frankfurter und frühen Jenaer Zeit jener Grundbezug, der sich nicht anders als durch einen Zirkel, in dem Definiens gleich Definiendum ist, bestimmen läßt (vgl. auch oben Anm. 22 zu I. 2), der Inbegriff der konkreten Lebensbezüge. Man hat sich schon so daran gewöhnt, Hegel uneigentlich zu verstehen und in all seine Dikta Symbole und Enigmata hineinzugeheimnissen, daß es schwerzufallen scheint, ihn auch einmal beim Wort zu nehmen. Beim Wort genommen meint „Leben" hier — nicht ohne an die theologische Ausbildung Hegels zu gemahnen — das Dasein, — reines Leben daher das Sein, das abstrakte Dasein (man beachte die bereits vorhandenen Anklänge an die Wissenschaft der Logik!), oder, wenn man so will, den Grund des Daseins. Ein längeres Zitat aus den sogenannt Theologischen Jugendsdiriften der Frankfurter Zeit mag dies — stellvertretend für viele andere — belegen: „Reines Leben zu denken ist die Aufgabe, alle Taten, alles zu entfernen, was der Mensch war oder sein wird; Charakter abstrahiert nur von der Tätigkeit, er drückt das Allgemeine der bestimmten Handlungen aus; Bewußtsein reinen Lebens wäre Bewußtsein dessen, was der Mensch ist — in ihm giebt es keine Verschiedenheit, keine entwickelte, wirkliche Mannigfaltigkeit. Dies Einfache ist nicht ein negatives Einfaches, eine Einheit der Abstraktion, (denn in der Einheit der Abstraktion ist entweder nur ein Bestimmtes gesetzt, und von allen übrigen Bestimmtheiten abstrahiert; oder ihre reine Einheit ist nur die gesetzte Forderung der Abstraktion von allem Bestimmten... Reines Leben ist Sein.) Die Vielheit ist nichts Absolutes — Dies Reine ist die Quelle aller vereinzelten Leben, der Triebe und aller Tat; aber so wie es ins Bewußtsein kommt, so wenn er daran glaubt, so ist es zwar noch lebendig im Menschen, aber außer dem Menschen zum Teil gesetzt; weil das Bewußtseiende insofern sich beschränkt, so kann es und das Unendliche nicht völlig in Einem sein. Nur dadurch kann der Mensch an einen Gott glauben, daß er

2. Die „Revolution" der Vernunft

77

Die „Revolution der Vernunft" gegen den Verstand weist also eben das auf, wonach wir suchten: Sie zeigt, daß das Bild des Kampfes von Verstand und Vernunft nicht wieder verständig betrachtet werden darf als ein streng fixierter Gegensatz. Der Kampf des Verstandes mit der Vernunft ist der der Erscheinung des Absoluten mit sich selbst. Erscheinung hat den doppelten Charakter, Erscheinung von . .. und Erscheinendes, d. h. Seiendes, zu sein. Jener Widerspruch, der sich darin zeigte, daß Erscheinen Sich-entzweien ist, tritt auch hier wieder ins Zentrum: Die Erscheinung des Absoluten kämpft mit sich selbst um ihr Um-sich-als-Erscheinung-wissen und überwindet sich in ihrem selbstrevolutionären Akt 2^. von aller Tat, von allem Bestimmten zu abstrahieren vermag, aber die Seele jeder Tat, alles Bestimmten rein festhalten kann; wer sich immer bestimmt fühlt, immer als dies oder jenes tuend, oder leidend, so oder so handelnd, in dessen Abstraktion wird nicht das Begrenzte vom Geiste abgeschieden, sondern das Bleibende ist nur das Entgegengesetzte des Lebendigen, das herrschende Allgemeine; das Ganze der Bestimmtheiten fällt weg und über diesem Bewußtsein der leeren Bestimmtheiten ist nur die leere Einheit des Alls der Objekte, als herrschendes Wesen über dieselben. Diesem Unendlichen des Herrschens und Beherrschtwerdens kann nur das reine Gefühl des Lebens entgegengesetzt werden, es hat in sich selbst seine Rechtfertigung und seine Autorität; aber indem es als Gegensatz auftritt, tritt es als ein Bestimmtes in einem bestimmten Menschen auf, der den von Wirklichkeiten gebundenen und entweihten Augen nicht die Anschauung der Reinheit geben kann; in der Bestimmtheit, in der er erscheint, kann er sich nur auf seinen Ursprung, die Quelle, aus welcher jede Gestalt des beschränkten Lebens ihm fließt, kann der Mensch sich nicht auf das Ganze, das er itzt ist, berufen, als auf ein Absolutes." (Hegels theologisdie Jugendschriften. 302 f). — Als solches reines Leben, das immer bestimmtes Lebendes ist, wenn es ist, steht es selbst in der „ontologischen Differenz" (s. o. Anm. 21 zu 1.2), ist Wesen und Form, Erscheinendes und Erscheinung zugleich; vgl. u. S. 242, 255 f. „Leben" gehört damit wie „Geist" (Kroners Hinweis, „Leben" bezeichne mehr die objektive, „Geist" mehr die subjektive Seite dessen, was Hegel das „Absolute" nenne, kann als richtungsweisend wohl akzeptiert werden, ist aber zu schematisierend und simplifizierend, um das Intendierte adäquat ausdrücken zu können; vgl. Von Kant bis Hegel. Bd 2. 147) zu jenen sich gleichsam gegenseitig durchdringenden „Synonyma" des Absoluten, die schon in der Tübinger Freundeslosung des - in diesem Sinne nicht pantheistisch aufzufassenden - „EV Jtai näv“ ihren zusammenfassenden Ausdruck fanden (s. u. S. 151). „... es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels." (J. Ritter: Hegel und die französische Revolution. 18). Dieses durch seinen Vorsatz („Das Ereignis, um das sich bei Hegel alle Bestimmungen der Philosophie im Verhältnis zur Zeit, in Abwehr und Zugriff das Problem vorzeichnend, sammeln, ist die französische Revolution") leicht mißzuverstehende Diktum Ritters hat unter Hegel-Interpreten aller Provenienz — mißverstanden — Schule gemacht. Man entnahm ihm, Hegels Philosophie sei Philosophie der französischen Revolution gewesen. Dies ist jedoch in angeführter Apodiktizität nicht nur barer Unsinn, sondern auch, selbst bei nur geringer Hegel-Kenntnis, sofort als solcher zu durchschauen. Es soll nicht bestritten werden, daß die französische Revolution einen großen, ja entscheidenden, Beitrag zu Hegels Welt- und Geschichts-

78 1.3.3.

I. DIE PHILOSOPHIE.

3. Grund und Bedürfnis

Das Wesen der Philosophie als Grund ihres Bedürfnisses

Besinnen wir uns auf das zurück, was wir oben über das Wesen entwickelt haben: Wesen ist das Sich-inszendieren-lassen des transzendentalen Grundes in das von ihm Begründete. Das Wesen der Philosophie ist daher das sich selbst als es selbst einsehende Absolute, das Einsehen der eigenen geschichtlichen Relation. Anders gefaßt; Das Wesen der Philosophie ist die sich selbst als Grund ihres Erscheinens begreifende Erscheinung, oder: der Verstand, der über sich hinaus zu sich selbst gekommen ist, der zur Vernunft gewordene, „zu Verstand gekommene" Verstand. Was heißt das aber konkret? — Die erscheinende Philosophie, das jeweilige philosophische System, als welches zunächst Philosophie sich selbst begegnet, begreift sich, sofern es in der Tat philosophisch ist, als erschienenes Wesen der Philosophie, d. h. als von seinem transzendentalen Grunde Begründetes und damit als dieser selbst. Das jeweilige philosophische System sieht sich als räumliches und zeitliches vor seine RaumZeit-Grenze gestellt und überwindet diese seine Grenze durch ihre Erkenntnis. Die Zufälligkeit seines Raum-Zeit-Punktes bezieht es auf den durch die Erkenntnis der Grenze zunächst scheinbar nur postulierten Vorwurf des Absoluten, als dessen Erscheinung es sich erkennt. Damit begreift es die Momente des Erscheinens, Räumlichkeit und Zeitlichkeit, nicht mehr als Konstituenda seines Erscheinens, sondern als ihrerseits vom Denken, d. h. vom erscheinenden, sich selbst einsehenden Absoluten, selbst erst geschafverständnis geleistet hat; schließlich haben sich hierum ja genügend Anekdoten der Hegel-Historio- und Hagiographie gerankt. Aber die französische Revolution ist für Hegel immer nur Ausdruck und konkretisiertes Phänomen des Selbstbewußtwerdens des Verstandes (s. o. Anm. 44 zu I. 2), d. h. der den Dualismus überwindenden Vernunft, gewesen, wobei die Frage des Gelingens dieses Selbstbewußtwerdens auch von Hegel selbst recht unterschiedlich beantwortet wurde (vgl. 7. Ritter: Hegel und die französische Revolution. 19 ff). Dies ist der wahre Kern des Ritterschen Diktums: Kein Denken ist so sehr wie das Hegels revolutionäres Denken, d. h. Denken des Selbstbewußtioerdens des Verstandes, der Revolution der Vernunft. Daß die französische Revolution der äußere Anlaß hierzu gewesen ist, ist durch Ritters Ausführungen so gut wie erwiesen; ebenso gilt aber auch, daß Hegel damit der Denker der Revolution schlechthin ist, welche sich in Wahrheit als Selbstproduktion der Vernunft erweist. — Gerade auf diesen letzten Punkt legt u. E. O. Pöggeler in seinem kürzlich erschienenen Aufsatz (Philosophie und Revolution beim jungen Hegel. In: Atti del convegno di studi hegeliani. Enciclopedia '72. 217—243), der ansonsten, wie man es von Pöggeler gewohnt ist, das einschlägige Material exakt und einleuchtend darlegt, etwas zu wenig Gewicht. — Vgl. auch H. Küng; Menschwerdung Gottes. Freiburg, Basel, Wien 1970. 367. S. o. S. 48. Zu „Postulat", „Konstruktion" und „Grenze" s. u. S. 165 ff, 170 und 201 ff.

3. Wesen und Bedürfnis der Philosophie

79

fene, bestimmte und begründete. Seine eigene Raum-Zeit-Zufälligkeit und die anderer wird ihm so zum notwendigen Punkt der Entwicklung, das heißt aber: Erscheinung, (i. e. in späterer Hegelscher Terminologie: Realisation und Konkretion) des sich denkenden Absoluten Die Philosophie erkennt somit ihren eigenen, vorgängig als zufällig in Ansatz gebrachten, notwendigen Standort, sie hat ein Wissen von ihrer Aufgabe und Erforderlichkeit. Das als Denken erscheinende Absolute kann nur dann zur Philosophie, und das heißt: zu seiner eigenen Einsicht, kommen, wenn das Bedürfnis nach Philosophie vorliegt. Das Bedürfnis nach Philosophie ist somit jene Situation höchster Entfernung der Erscheinung des Absoluten von diesem, d. h. des Absoluten von sich selbst, welche wir als die Bedingung der „Revolution" der Vernunft zu fassen suchten. Das Wesen der Philosophie selbst, näher bestimmt als das Sichinszendieren-lassen des transzendentalen Grundes in das von ihm Begründete, ist daher der wahre Grund ihres Bedürfnisses. Anders gesagt: Das Bedürfnis der Philosophie ist das reflektierte Wesen der Philosophie, welches aber noch nicht zu seiner Erkenntnis gekommen ist Jenes Reflektieren des Wesens der Philosophie ist aber selbst wesentlich philosophisch: Im Stossen auf seine Grenze fordert der Verstand seine eigene Vernichtung.

Es zeigt sich hierin der fundamentale Ansatz Hegels, der ihm gegenüber Kant eine Begründungsposition sichert, und zwar nicht im Reinhold-Fichteschen Sinne (s. u. S. 137 ff): Kants Philosophie soll nicht in ihr selbst weiter- und auf eine sie begründende Tatsache oder Tathandlung zurückgeführt werden, sondern das von Kant als gegeben Vorausgesetzte, in diesem Falle Raum und Zeit, sind selbst das Erscheinen des Absoluten, nicht seine ihm äußerlichen Bedingungen. Damit ist die Philosophie, wie uns schon unsere Überlegungen zum Begriff „Leben" zeigten (s. o. Anm. 23), unmittelbar in die konkreten Verhältnisse gerückt; die konkreten Verhältnisse, sie seien nun „Produktionsverhältnisse", „Umwelt" oder wie auch immer genannt, sind geradezu das noch nicht reflektierte Wesen der Philosophie. Die Antagonismen und Widersprüche im Leben jedes einzelnen ebenso wie der Gesellschaft im ganzen und in ihrer Geschichte sind es, welche Philosophie fordern. H. Marcuse führt hierzu aus: „Die Philosophie hat, als etwas, dessen das menschliche Leben bedarf, als eine Notwendigkeit des menschlichen Lebens, eine bestimmte geschichtliche Situation, in der allein sie ,entstehen' kann: die Situation der ,Entzweiung'... In der Situation der Entzweiung bewegt sich das menschliche Leben in einer Welt von festen Gegensätzen und Beschränkungen." {Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit. 9f). — Damit erhält aber auch rückwirkend die Philosophie selbst die Bestimmung, ihrer Konkretion stets nachgehen zu müssen. Philosophie als aus radikalem Cartesianischen Zweifel geborene Konkretion des Wirklichen mit dem Gedachten ist in ihrer Jeweiligkeit und Zeitlichkeit daran gebunden, ihr Bedürfnis auszufüllen. Und so ist zwar Marx der Vorwurf nicht zu ersparen, er habe die durch und durch konkrete Konzeption Hegels nicht gesehen, andererseits muß aber gerade ihm zugebilligt werden, daß er wie kaum ein anderer diesen Anspruch der Philosophie einzulösen gesucht hat.

80

I,

DIE PHILOSOPHIE.

3. Grund und Bedürfnis

Jede Erscheinung des Absoluten als philosophische ist als sich als solche erkennende räumlich und zeitlich. Die räumliche und zeitliche Tradition, in die sie sich gestellt sieht, fordert ihre eigene Vernichtung und „Aufhebung" in oben skizziertem Sinne. Diese Einsicht führt uns nun zu einer weiteren Bestimmung dessen, was wir über die philosophische Kritik als bestimmte Negation ausführten®®: Die bestimmte Negation ist an ihrer Grenze, der Einsicht in das Erscheinung-sein ihrer selbst und der Tradition, tatsächlich die Vernichtung ihrer selbst sowohl als auch der Tradition. Die philosophische Kritik als bestimmte Negation schlägt so qualitativ um in die absolute, die jedoch auch in genanntem doppelten Sinne „Aufhebung" ist. Die „Revolution" der Vernunft ist daher das Sich-aus-dem-Bauzeug-des-Zeitalters-eine-Gestalt-organisieren, welches das Bauzeug des Zeitalters, indem es dasselbe verwendet, immer aufs neue gänzlich überwindet und vernichtet. „Die Vernunft erreicht das Absolute nur, indem sie aus diesem mannigfaltigen Theilwesen heraustritt; je fester und glänzender das Gebäude des Verstandes ist, desto unruhiger wird das Bestreben des Lebens, das in ihm als Theil befangen ist, aus ihm sich heraus in die Freyheit zu ziehen; indem es als Vernunft in die Ferne tritt, ist die Totalität der Beschränkungen zugleich vernichtet, in diesem Vernichten auf das Absolute bezogen, und zugleich hiemit als blosse Erscheinung begriffen und gesetzt; die Entzweiung zwischen dem Absoluten und der Totalität der Beschränkungen ist verschwunden." Neben ihrer Fähigkeit, Rückbesinnung auf das Absolute, d. h. Reflexion der Erscheinung des Absoluten auf sich selbst, zu sein, unterliegt jedoch die erscheinende Philosophie ihrem anderen, ihr ebenfalls von dem Grund ihres Bedürfnisses, dem Wesen der Philosophie, gegebenen Gesetz: Erscheinung zu sein und zu bleiben. Sie hat sich ihrerseits „derjenigen Macht überliefert, welche sie in eine todte Meinung und von Anbeginn an in eine Vergangenheit verwandeln kann" Sie gehört somit als räumlich-zeitliche bereits in den Bereich der Tradition, bezüglich dessen sich die Aufgabe der Philosophie immer und immer wieder neu stellt. Das „Ende der Geschichte"®®, das heißt aber: des räumlich-zeitlich er29 S. o. S. 76. 9» S. o. S. 64 f. 91 GW 4.13 Z. 6 ff = SW 1. 45 = Diff. 13. 92 GW 4. 9. Z. 25 f = SW 1. 40 = Diff. 9. 99 Die „endzeitliche" Gesdiichtskonzeption Hegels, diese zentrale These der Linkshegelianer, wie sie vor allem durch A. Kojeves wegweisende Arbeit (Introduction äla lecture de Hegel. Hrsg, von R. Queneau. Paris 1947. Deutsch in Auswahl: Heget. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Hrsg, von I. Fetscher. Stuttgart 1958) auch im Westen immer wieder ins Zentrum von Hegel-Interpretationen gerückt ist, ist so

3. Wesen und Bedürfnis der Philosophie

81

scheinenden Absoluten, ist immer nur gegenwärtig, Gegenwärtigkeit aber ist Kriterium der zeitlichen Relativität und kann somit nie Absolutheit beanspruchen. Und so ist auch die Philosophie wie die Geschichte immer nur jeweilig abgeschlossen. Das Bedürfnis der Philosophie tritt immer wieder auf, weil es seinen Grund in ihrem Wesen hat. Wesen aber ist das sich zeitigende Zeitlose, die sich verendlichende Unendlichkeit. Das Wesen der Philosophie eröffnet sich so als die Bedingung der Möglichkeit des Zustandekommens von Philosophie als Erscheinung.

endzeitlich nicht, wie man sie wohl von einem utopistischen Standpunkt her deuten mag. Die lineare Parallelisierung von Geist und Geschichte, die sich in einer solchen Interpretation ausdrückt, ist ebenso unbegründet wie undialektisch. K. Löwith hat darauf hingewiesen, daß das „Ende der Geschichte" bei Hegel den radikalen Bruch in der Philosophie meine, — das Ende also der geschichtlichen Epoche des Christentums, was bei der abendländischen Kultur allerdings einem Ende der Geschichte gleichkäme, das aber in der Geschichte bleibt: „Indem Hegel mit dem ,Mut der Erkenntnis' eine Epoche von zweieinhalb Jahrtausenden abschloß und eben damit auch eine neue erschloß, hat er in der Tat die Geschichte des christlichen Logos beendet. Was er selbst von der Kunst sagt, daß sie das absolute Interesse verliert, sobald ,alles heraus ist', und daß ihre Nachfolger gezwungen sind, sich gegen die gesamte Vergangenheit zu erheben, dasselbe gilt infolge seiner Vollendung nun auch von der in ihm beschlossenen Philosophie: eine ganze Welt der Sprache, Begriffe und Bildung ging mit Hegels Geschichte des Geistes zu Ende. An diesem Ende beginnt unsere eigenste ,Geistes-Geschichte' — wie ein lucus a non lucendo." (K. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. 2. Aufl. Stuttgart 1950. Studienausgabe Hamburg 1969. 54). — Und in der Tat ist diejenige Form des Philosophierens, als deren Abschluß Hegel sidt betrachtete, zu Ende, die Vernunft hat sich aus dem Bauzeug eines neuen Zeitalters eine neue Gestalt organisiert. Die Geschichte selbst, ewiger Punkt der absoluten Gegenwart (vgl. auch R. K. Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte. Stuttgart 1965) ist damit indessen ebensowenig am Ende wie die Philosophie.

82

I. DIE PHILOSOPHIE.

1.4.

4. Voraussetzungen

Die Voraussetzungen

Die uns beschäftigende Frage ist die nach dem Zustandekommen von so etwas wie Philosophie, d. h. die nach dem Anlaß des Erscheinens von Philosophie. Als dieser Anlaß erwies sich das Bedürfnis der Philosophie. Das Bedürfnis der Philosophie ist der Mangel an Philosophie, der zum Anlaß ihres (Neu)auftretens wird. Das Bedürfnis der Philosophie war in Frage gestellt worden hinsichtlich der Bedingung seiner Möglichkeit, — es war damit in den Bereich transzendentalen Fragens eingetreten. Die transzendental erfragte Bedingung der Möglichkeit von . . . ist — ontologisch verstanden — Grund von .... Als ontologischer Grund des Bedürfnisses nach Philosophie, d. h. als ontologischer Grund des In-Erscheinung-tretens von Philosophie eröffnete sich das zuvor bereits entfaltete Wesen der Philosophie selbst. Philosophie begegnet aber, wie wir sahen, als Erscheinung, als geformtes Wesen, in Form von philosophischen Systemen. Unsere Grundfrage „Was ist Philosophie?", die auf das Verhältnis der Philosophie zu den philosophischen Systemen zielte, fordert zur weiteren Konkretion ihrer Beantwortung eine Reflexion darauf, was das sich als der transzendental erfragte Grund des In-Erscheinung-tretens von Philosophie eröffnende Wesen der Philosophie in der Erscheinung selbst sei, anders gesagt: wie der Grund des Erscheinens von Philosophie in der Geschichte erscheine. Denn Geschichte ist ja der Name für jenes Kontinuum des „Sich-zeitigens" und „Sich-räumlichens" (wenn dieser Ausdruck gestattet sein möge) dessen, was wir von einem erscheinungsimmanenten Standpunkt aus das „Sichinszendieren-lassen des transzendentalen Grundes in das von ihm Begründete" genannt haben Indessen ist hierzu zweierlei in Erinnerung zu rufen: 1. Das „Sich-zeitigen" und „Sich-räumlichen" ist nicht so aufzufassen, als ob das Absolute, der transzendentale Grund, das Wesen — oder wie wir es in diesem Zusammenhang auch immer nennen wollen — „in Raum und Zeit hinein" sich in die Erscheinung entließe, sondern es formt sich ^ S. o. S. 48.

Vorbemerkungen

83

selbst als räumliches und zeitliches, das heißt aber nichts anderes, als daß Raum und Zeit erst durch das Absolute konstituiert, genauer in einer KANxischen Terminologie: „Anschauungsformen" sind, und zwar Anschauungsformen des Absoluten selbst (den Genitiv sowohl subjektiv als auch objektiv verstanden). Dieses Bild würde — weiter ausgeführt — meinen: Indem das Absolute sich selbst für sich selbst zum Gegenstand macht, denkt es sich, schaut es sich an. Sein Erscheinen besteht in diesem sich anschauenden Denken Erscheinen heißt Sich-formen. So schafft das Absolute in seinem sich selbst anschauenden Sich-denken sich selbst als seine Anschauungsformen, Raum und Zeit, sowohl als auch sich selbst als Erscheinung. 2. Somit ist mit Recht von der Vernunft behauptet, sie sei nicht eine unter anderen, sondern schlechthin die Erscheinung des Absoluten. Das Wesen der Philosophie — reflexiv ausgedrückt: das Sich-inszendieren-lassen des transzendentalen Gnmdes in das von ihm Begründete — fällt demnach in der Tat mit dem Absoluten zusammen. Es ist mithin weiter zu bestimmen als das sich selbst anschauende Sich-denken des Absoluten, das sich durch sich in sich als Erscheinung entläßt. Die Geschichte als die so begriffene Totalität des „Raum-Zeit-Kontinuums" bildet also den Rahmen des Auftretens von Philosophie und so auch den Rahmen dessen, was in der Frage nach dem von der Erscheinung her befragten Grund dieses Auftretens „in Frage" steht. Unsere Frage ist folglich die nach dem geschichtlichen, qua erschienenen, Bedürfnis der Philosophie. In der durch diese Formulierung der Frage in Gang gesetzten reflektierenden Betrachtung wird das Bedürfnis der Philosophie zu deren Voraussetzung. Die Frage nach der Voraussetzung von . . . geht von dem bereits vorhandenen, „gegebenen" Seienden aus, ohne dieses selbst in seinem Sein und Geworden-sein in Frage zu stellen, und richtet sich auf etwas, was einen reflexionslogischen Primat vor diesem Seienden hat: auf dasjenige, welches, um zu diesem Seienden gelangen zu können, voraus schon gesetzt sein muß, die Voraussetzung. Das Bedürfnis der Philosophie fällt damit aus deren Ganzem heraus und wird zu der ihr zunächst äußerlichen Bedingung. „Das Bedürfniß der Philosophie kann als ihre Voraussetzung ausgedrükt werden, wenn der Philosophie, die mit sich selbst anfängt, eine Art von Vorhof gemacht werden soll .... Das, was man Voraussetzung der Philosophie nennt, ist nichts anders, als das ausgesprochne Bedürfniß." ® ^ S. u. S. 194 ff: „transzendentale Anschauung"; s. o. Anm. 27 zu 1.3. = SW 1. 48 f = Diff. 16.

» GW 4.15 Z. 26 ff

84

I.

DIE PHILOSOPHIE.

4. Voraussetzungen

Die Bewegung des Erscheinens oder Auftretens von Philosophie ist durch diesen reflektierenden Zugriff zu einem abgetrennten Seienden gemacht und differenziert worden. Dieses Seiende „Bewegung" erhält so ein „Woraus" und ein „Woraufhin". Die zur Frage nach der Bedingung gewordene Frage nach dem Grund ist daher eine gedoppelte: Der kausale und der finale Aspekt des als Bedingung erscheinenden Grundes treten als selbständige auseinander und gehen einander nichts an. Sie sind einander fremd. „Weil das Bedürfniß hiedurch für die Reflexion gesetzt ist, so muß es zwey Voraussetzungen geben." * Die Philosophie, und das heißt in diesem Falle: das abstrakte Allgemeine der einzelnen philosophischen Systeme, wird zum Gegenstand der Frage: Was muß voraus gesetzt sein, damit Philosophie auftritt, — unter welchen Umständen tritt Philosophie in der Geschichte auf? Losgelöst von der geschichtlichen Einsicht in die grundlegende Relation, wie wir sie aufgezeigt haben, wäre diese Frage gar nichts, eine sinnlose Neugier, die sich mit einem Haufen von Zufälligkeiten des Ortes und der Zeit befassen würde. Allein und nur unter dem Gesichtspunkt der differenten Identität von Verstand und Vernunft, d.h. in der Einsicht, daß die Vernunft der zu sich selbst gekommene Verstand ist, erhält sie ihren Sinn. Die beiden Voraussetzungen, die sich der Reflexion auf das Bedürfnis der Philosophie ergeben, sind — so betrachtet — nichts anderes als notwendige Aspekte des erscheinenden Grundes, also des Wesens der Philosophie selbst, angeschaut in seinem Erscheinen. Es muß nun daher unsere Aufgabe sein, das durch die Reflexion in Voraussetzungen zertrennte Bedürfnis der Philosophie auf seine differenten Aspekte hin zu untersuchen, um so das Gewicht dessen zu berücksichtigen, daß es differente Aspekte des Bedürfnisses der Philosophie sind, welches im Wesen der Philosophie selbst seinen Grund hat. 1.4.1.

Das Absolute als Ziel

Das Auftreten der Philosophie hatten wir gefaßt als die „Revolution der Vernunft". Worumwillen revoltiert die Vernunft gegen den Verstand, oder anders ausgedrückt: Was ist das Ziel, das die Vernunft in ihrem Kampfe gegen den Verstand anvisiert? Die Antwort liegt auf der Hand: Die Vernunft richtet sich auf das Absolute, sie sucht das Absolute, was auch immer dies sein möge. Das Absolute also als der in Bewegung setzende Zweck bedingt das Auftreten von Philosophie. „Die Eine [seil.: Voraussetzung] ist das Absolute selbst; es ^ GW 4.15 Z. 30 f = SW 1. 49 = Diff. 16 (Hervorhebungen von mir, W. Z.).

1. Das Absolute als Ziel

85

ist das Ziel, das gesucht wird; es ist schon vorhanden, wie könnte es sonst gesucht werden? die Vernunft producirt es nur, indem sie das Bewußtseyn von den Beschränkungen befreyt, dieß Aufheben der Beschränkungen ist bedingt durch die vorausgesetzte Unbeschränktheit/' ® Das Absolute, die Unbesdiränktheit, ist vorausgesetzte Bedingung für das Aufheben der Beschränkungen durch die Vernunft. Dieses Aufheben der Beschränkungen durch die Vernunft erweist sich als das „Produzieren" des Absoluten. Die Vernunft produziert also das Absolute, Unbeschränkte, indem sie das Bewußtsein von den Beschränkungen befreit. Das Absolute ist somit in einem doppelten Sinne Voraus-setzung: Es ist sowohl das gleichsam „nach rückwärts" mit der logischen Priorität Ausgestattete als auch das „nach vorwärts" als Ziel Intendierte. In einer uneigentlichen Sprechweise ausgedrückt, ist das Absolute als Voraussetzung zugleich „früher" und „später" als das, dem es vorausgesetzt ist. Wenn wir nun aber genauer Zusehen und versuchen, das Ausgeführte in seinen Zusammenhang mit der grundlegenden Relation zu stellen, so zeigt sich zunächst einmal ein Ungenügen der gegebenen Bestimmungen: Das Absolute — so als Voraussetzung gefaßt — widerspricht sich selbst, es ist — objektiviert — ein in Beziehung zu anderem stehendes, ein relatives Absolutes. Verstanden als „anderer Zustand", auf den hin die Vernunft die Beschränkungen des Bewußtseins aufzulösen im Begriff ist, ist es nicht wirklich das Absolute, es ist nur die bloße Verneinung des Relativen, das Unbeschränkte im Gegensatz zum Beschränkten. So kann es jedoch seinem eigenen Anspruch, dem nämlich, absolut zu sein, nicht genügen. Es darf und kann mithin kein Anderes außer sich haben, weder „früher" noch „später" als anderes sein. Das Absolute, als seine eigene Voraussetzung reflektiert, meint somit nur seine eine „Hälfte", es ist bloß abstraktes Absolutes, das immer in Gegensatz zu Anderem steht und so zwar den Namen seiner selbst hat, aber nicht es selbst ist. Es gilt also, die Negation, die in dem „lin-beschränkten" ausgedrückt ist, als die bestimmte Negation zu fassen, die das, dessen Negation sie ist, aufhebt, und das heißt: sowohl vernichtet als auch bewahrt. Die Kraft des Beschränkens, der Verstand, der das Bewußtsein in den Beschränkungen gefangen hält, wird in der „Revolution der Vernunft" nicht getötet und als fremder fallengelassen, sondern in der Vernunft, dem zu sich gekommenen Verstand, ist der Verstand selbst als notwendig mitgesetzt und aufgehoben. Für das Aufheben der Beschränkungen, für die Befreiung des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein des Verstandes, welches Vernunft heißt 6

GW 4.15 Z. 32 ff = SW 1. 49 = Diff. 16.

86

I. DIE PHILOSOPHIE.

4. Voraussetzungen

und als Ganzes Philosophie ist, ist also das Absolute nur als die Identität von Beschränktem und Unbeschränktem, als die Absolutheit von Bezogenheit in bezug auf das Un-bezogene Voraussetzung. Und noch ein weiteres: Das so begriffene Absolute ist Voraussetzung. Das, wofür es Voraussetzung sein soll, ist Philosophie, das heißt aber: die sich ihrer selbst als Erscheinung des Absoluten bewußt werdende Erscheinung des Absoluten. Das Absolute ist aber nur als erscheinendes. Das erscheinende Absolute, das sich selbst denkende und anschauende Absolute ist demnach Voraussetzung für das sich selbst denkende und anschauende Absolute. So ergibt sich auf einer weiteren Ebene die Einsicht, daß der Satz, das Absolute sei die Voraussetzung des Auftretens von Philosophie, nur dann sinnvoll ist, wenn er begriffen wird als ein spekulativer Satz ®, der besagt, daß Vorausgesetztes und das, dem es vorausgesetzt ist, einund dasselbe sind, — ein Satz also, der sich als solcher auf hebt: Das, was nie Vorausetzung sein kann, ist Voraussetzung. 1.4.2.

Die Entzweiung als Ausgang

Die andere Voraussetzung hat sich schon aus dem Vorhergehenden ergeben. Es wäre dies der Standpunkt des „Noch-nicht" oder „Nicht-mehr" des Absoluten, d. h. die Beschränktheit oder Relativität des Bewußtseins. Dieser Standpunkt wäre der der Herrschaft des Verstandes. Um das Bewußtsein von Beschränkungen zu befreien, um das Absolute zu „produzieren", ist es notwendig, daß Beschränkungen vorhanden sind. Das Ziel und der Ausgang bestimmen sich gegenseitig, sie sind eines, nur für die Reflexion treten sie auseinander und werden zwei. Der zur Bedingung gewordene Grund entzweit sich so in Voraussetzungen für die Reflexion. „Die andere Voraussetzung würde das Herausgetretenseyn des Bewußtseyns aus der Totalität seyn, die Entzweyung in Seyn und Nicht-Seyn, in Begriff und Seyn, in Endlichkeit und Unendlichkeit."^ Das „Herausgetretenseyn des Bewußtseyns aus der Totalität", die Entzweiung des Absoluten in sich selbst und von sich selbst®, ist als der Standpunkt des Verstandes derjenige der Erscheinung, d. h. der jeweilige und immer endliche Ausgangspunkt des Denkens. An diesem Ausgangspunkte vordringlich be* Zum „spekulativen Satz" s. u. S. 209 f. ’’ GW 4.15 Z. 36 ff = SW 1. 49 = Diff. 16. — Wieder (Vgl. oben Anm. 18 zu 1.3) spielt Hegel hier auf seine eigene Tradition an. „Sein — Nichts", „Begriff — Sein", „Endlichkeit — Unendlichkeit" sind Gegensatzpaare, die seit der Vorsokratik das philosophische Denken bewegen. Ihre Auflösung, hier (s. u. S. 88) nur andeutungsweise vorgezeichnet, gibt Hegel in seiner Wissenschaft der Logik. Wenn man so will, kann man hierhin also schon ein Systemprogramm für den späteren Hegel sehen. 8 S. o. S. 67.

2. Die Entzweiung als Ausgang

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gegnet auch Philosophie als immer einzelne dem Denkenden, und für diesen Standpunkt „ist die absolute Synthese ein Jenseits, das ihren Bestimmtheiten entgegengesetzte Unbestimmte und Gestaltlose" ®. Wie die erste Voraussetzung, das Absolute, die zweite, das Beschränkte und Bestimmte, in sich schloß, so verweist auch die zweite zurück auf die erste. Für das Herausgetretensein des Bewußtseins aus der Totalität, für das Außer-sich-sein des Verstandes, für sein Beharren in den Beschränkungen, deren Durch-ihn-selbst-gesetzt-sein er vergessen hat, ist die „absolute Synthese", soll heißen: das vom Verstand her gesehene, von ihm abgewehrte Absolute, Unbeschränkte ein Jenseits, ein Nichts, das unbestimmt und, da es nicht der Erscheinung angehört, gestaltlos ist. Es ist für ihn die „Nacht, in der, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind" Diese Nacht der Unterscheidungslosigkeit liegt ihm absolut unerreichbar fern, sie unterscheidet sich in allem von dem Bereich, in dem er zu Hause ist und bei sich zu sein vermeint; sie ist ihm das leere Nichts, die abstrakte Negation seiner selbst, das Unendliche, über das zu reden für ihn sinnlos ist. „Für den Standpunkt der Entzweyung ist die absolute Synthese ein Jenseits, das ihren Bestimmtheiten entgegengesetzte Unbestinunte und Gestaltlose; das Absolute ist die Nacht, und das Licht jünger als sie, und der Unterschied beyder, so wie das Heraustreten des Lichts aus der Nacht eine absolute Differenz; — das Nichts das Erste, woraus alles Seyn, alle Mannichfaltigkeit des Endlichen hervorgegangen ist." “ GW 4. 15 Z. 38 - 16 Z. 1 = SW 1. 49 = Diff. 16. Hegel: SW 2. 22. — Dieses berühmt gewordene Diktum Hegels aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes bezieht sich indirekt auch inhaltlich, selbst wenn dies „prima facie" nicht der Fall zu sein scheint, genau auf das, was wir hier im Blick haben. Hegel polemisiert dort gegen Schelling (wie überhaupt die Phänomenologie — äußerlich gesehen — eine Abrechnung mit dem Jenaer Schelling darstellt) und sein indifferentes Absolutes. Für den Verstand nun ist jeder Begriff eines „Absoluten" etwas völlig Indifferentes, weil von ihm nicht Bestimmbares. — Unsere Argumentation läßt sich noch durch die interessante Tatsache stützen, daß Hegel in jenem Teil seines Wastehooks, den Rosenkranz nur im Königsberger Literatur-Blatt unter dem Titel Kritische Xenien Hegel's aus der Jenenser Periode 1803—6, nicht aber in G. W. P. Hegels Leben veröffentlicht hat, die Bemerkung „Das Absolute: in der Nacht sind alle Kühe schwarz" unter den Aphorismentitel „Naturphilosophie" setzt. Vgl. F. Nicolin: Unbekannte Aphorismen Hegels aus der Jenaer Periode. In: Hegel-Studien. 4 (1967), 14. ** GW 4.15 Z. 38 — 16 Z. 4 = SW 1. 49 = Diff. 16. — Hier spielt Hegel offenbar auf den Beginn der Schöpfungsgeschichte an: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht." 1. Mose. 1,1 ff (zitiert nach der Luther-Übersetzung). — Diese Bibelstelle ist in der deutschen Mystik vielfach abgewandelt und spekulativ interpretiert worden. Besonders naheliegend für den Hegel-

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I. DIE PHILOSOPHIE.

4. Voraussetzungen

Von diesem Standpunkt hat nun aber die Philosophie immer auszugehen, denn sie tritt immer in das „Noch-nicht" und „Nicht-mehr" der erkannten Beziehung auf das Absolute ein. Daher bestimmt sich ihre Aufgabe als die der revoltierenden Vernunft, d. h. des sich seiner selbst bewußt werdenden Verstandes, als die der Vereinigung der beiden Voraussetzungen, anders gesagt: als die der Bewußtwerdung und -machung ihrer raum- und zeitlosen, raum- und zeitkonstituierenden Identität. „Die Aufgabe der Philosophie besteht aber darinn, diese Voraussetzungen zu vereinen, das Seyn in das Nichtseyn — als Werden, die Entzweyung in das Absolute — als seine Erscheinung, — das Endliche in das Unendliche — als Leben zu setzen." Die Philosophie hat also nicht das Ziel, zu überreden, zu erzählen, mit anderen, die sie als außerhalb ihrer selbst liegend betrachtet, zu argumentieren und zu streiten etc., sondern sie muß „vereinen", das, was „erscheinen" oder „Sich-selbst-denken des Absoluten" heißt, begreifen und damit begreiflich machen. Sie muß — dies liegt in ihr selbst als der Erscheinung des Absoluten — das Bewußtsein zu sich selbst, zum Wissen seiner selbst befreien und heranführen sehen Kontext sind folgende Zitate aus J. Böhme: „Nun schwebet das ewige Licht, sowohl die Kraft des Lichtes, oder das himmlische Paradies in der ewigen Finsterniß, — und die Finsterniß kann das Licht nicht ergreiffen: denn es sind zwey unterschiedene Principia, und sehnet sich die Finsterniß nach dem Licht; Ursache, daß sich der Geist darinnen spiegulieret, und die Göttliche Kraft darinnen offenbar ist..." (7. Böhme: FViV II, 2. 69 f) und; „Der Urgrund ist ein ewig Nichts . . ." (ebd. 97). Die Nacht als das Nichts, aus dem alles Sein hervorgegangen ist, als das absolute Jenseits, erscheint in dieser biblisch-mystischen Formulierung bei Hegel dennoch durchaus auf Kant und die Kantianer anwendbar, denen das „Ding an sich" absolutes Jenseits bleibt. So sind wohl viele scheinbar mystische Ausdrücke bei Hegel zwar quellenmäßig in der Tat mystisch, in ihrer Bedeutung jedoch ganz konkret applizierbar. 12 GJV 4. 16 Z. 4 ff = SW 1. 49 = Diff. 16. - S. o. Anm. 7. 12 Hiermit ist die Aufgabenstellung der Phänomenologie des Geistes vorgezeichnet: „Dieß Werden der Wissenschaft überhaupt, oder des Wissens, ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt. Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewußtseyn. Um zum eigentlichen Wissen zu werden, oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurch zu arbeiten. — Dieses Werden, wie es in seinem Inhalte und den Gestalten, die sich in ihm zeigen, sich aufstellen wird, wird nicht das seyn, was man zunächst unter einer Anleitung des unwissenschaftlichen Bewußtseyns zur Wissenschaft sich vorstellt; auch etwas anderes, als die Begründung der Wissenschaft; — so ohnehin, als die Begeisterung, die wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar anfängt, und mit andern Standpunkten dadurch schon fertig ist, daß sie keine Notiz davon zu nehmen erklärt... Die Wissenschaft stellt diese bildende Bewegung sowohl in ihrer Ausführlichkeit und Nothwendlgkeit, als das, was schon zum Momente und Eigenthum des Geistes herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist." (Hegel: SW 2. 30 f).

2. Die Entzweiung als Ausgang

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Das Ergebnis unserer Reflexion auf das Bedürfnis der Philosophie ist daher eine /^Aufhebung" der Reflexion Das reflektierte, ausgesprochene und so objektivierte Bedürfnis der Philosophie wurde zu „Voraussetzungen" derselben. Der Voraussetzungscharakter erwies sich als eine Form der Reflexion, die, zu sich selbst gekommen und bewußt gemacht, auf den Grund des Bedürfnisses, nämlich das Wesen der Philosophie oder das — nicht als Voraussetzung für die Reflexion gefaßte — Absolute, zurückführte. Für die Reflexion, die Tätigkeit des Verstandes, welcher die Kraft des Beschränkens ist, erschien das Bedürfnis der Philosophie allerdings in einer Form der Reflexion, nämlich als die sich widersprechenden Sätze: — Die Voraussetzung der Philosophie ist die Unbeschränktheit (A = B). — Die Voraussetzung der Philosophie ist die Beschränktheit (A = B). Diese beiden Sätze — von der Reflexion als Antinomie aufgefaßt — könnten nun, wäre nicht ihre Beziehung aufs Absolute begriffen, in der Tat dazu führen daß „der Philosophie, die mit sich selbst anfängt, eine Art von Vorhof gemacht" würde „Es ist aber ungeschikt, das BedürfS. o. S. 76. S. u. S. 122 ff. ** „Die Liebe und der Glauben an Wahrheit, hat sich in eine so reine und ekkle Höhe gesteigert, daß er, damit der Schritt in den Tempel recht ergründet und begründet werde, einen geräumigen Vorhof erbaut, in welchem sie, um den Schritt zu ersparen, sich mit Analysiren und Methodisiren und Erzählen so lange zu thun macht, bis sie zum Trost ihrer Unfähigkeit für Philosophie sich beredet, die kühnen Schritte anderer seyen weiter nichts, als Vorübungen oder Geistesverirrungen gewesen." (GW 4. 11 Z. 23 ff = SW 1. 43 = Diff. 1). — Hiermit spielt Hegel auf Reinhold an, dessen problematisches und hypothetisches Philosophieren wir unten (S. 115 ff) exkursweise näher kennenlernen werden. Als Beleg für diese Anspielung mögen hier vorläufig zwei Zitate aus Reinholds Beyträgen zur leichtern Übersicht . . . dienen: „Das Philosophiren wäre sonach das von der Liebe zur Wahrheit und Gewißheit ausgehende Bestreben, die Erkenntniß zu ergründen, oder, was dasselbe heißt, die Realität der Erkenntniß, als solche, zu bewähren und zu vergewissern. Liebe zur Wahrheit, als Wahrheit, wird bald und leicht genug als wesentliche Bedingung des Philosophirens anerkannt. Nicht so der Glaube an Wahrheit, als Wahrheit. Aber man versuche es, jene Liebe ohne diesen Glauben, und zwar ohne den lebendigen Glauben an Wahrheit zu denken! zu denken, sage ich, nicht etwa zu ahnen, zu träumen, zu phantasieren: und man wird finden, daß die Liebe zur Wahrheit so wenig ohne den Glauben an Sie, als dieser ohne jene, denkbar ist." (67). Und: „Mit dem Suchen der Einsicht in den Zusammenhang des Ersten unter allen Begreiflichen mit dem unbegreiflichen Urwahren geht das Philosophiren, als Streben; aber noch keineswegs als Wissen, an, welches erst in jener gefundenen Einsicht, als der Gefundenen eintritt." In jenem Suchen also, und, so lange dasselbe bloßes Suchen bleibt, im Philosophiren kann und muß das begreifliche Erste, mit welchem dieses Suchen anhebt, einstweilen nur problematisch und hypothetisch als erstes Begreifliches angenommen werden." (74). — Vgl. auch GW 4. 82 f und 85 f = SW 1. 152 f und 157 f = Diff. 100 und 103 f et passim.

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I. DIE PHILOSOPHIE. 4. Voraussetzungen

niß der Philosophie als eine Voraussetzung derselben auszudrükken; denn hiedurch erhält das Bedürfniß eine Form der Reflexion; diese Form der Reflexion erscheint als widersprechende Sätze, wovon unten die Rede sein wird; es kan an Sätze gefodert werden, daß sie sich rechtfertigen; die Rechtfertigung dieser Sätze, als Voraussetzungen, soll noch nicht die Philosophie selbst seyn, und so geht das Ergründen und Begründen vor und ausser der Philosophie los." Diese Gefahr abgewendet, ergibt sich uns vielmehr, wie wir sehen werden aus der Analyse des Bedürfnisses der Philosophie der Übergang von diesem „zum Instrument des Philosophirens" Wir haben es hierbei also mit einem zwar „ungeschikten", aber notwendigen Schritt in der Frage nach dem Wesen der Philosophie zu tun, da die Reflexion das Instrument des Philosophierens darstellt. 1.4.3.

Die „Notwendigkeitsthese"

Von der Aufgabe der Konkretion des gedanklich Ausgeführten geleitet, stößt unser Fragen in eben diesem Ausgeführten noch auf ein weiteres, das sich aus diesem, in unserer Zeit nur allzuoft als „schlecht—abstrakt" apostrophierten und diffamierten Denken selbst unmittelbar und zwingend ergibt. Es ist dies die Antwort auf unsere Frage: Wann, und das heißt: unter welchen Bedingungen, muß Philosophie auftreten?, — und zwar eine Antwort, die die notwendige Zufälligkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit, unseres Denkens und Fragens im Horizont der entwickelten geschichtlichen und geschichtskonstituierenden Relation, jenes „Geistes", der - hier nur angedeutet - ein so großes Gewicht im späteren Hegelschen Denken erhalten wird, gleichsam „sub specie aeternitatis" mit in Rechnung stellt. Unser immer endliches, räumliches und zeitliches Denken relativiert, stellt in Relation. Von dem abstrakten Allgemeinen „Philosophie" als der prägenden Vorstellung einer bisher nie abgebrochenen, nun aber langsam auslaufenden Reihe von einzelnen Erscheinungen und Personen geleitet, befragt es Philosophie als ein Objekt, welches es sich gegenüberstellt GW 4.16 Z. 8 ff = SW 1. 49 = Diff. 16 f. — Wieder bezieht sich Hegel auf Reinhold {Beyträge zur leichtern Übersicht. 67; s. o. Anm. 16). — Vgl. hierzu auch die dort angeführten brillant polemischen Stellen bei Hegel. — Zu „widersprechende Sätze" (Antinomie) s. u. S. 122 ff, besonders 129 ff. ‘8 S. u. S. 93 ff. « GW 4. 16 Z. 18 f = SW 1. 50 = Diff. 17,

3. Die „Notwendigkeitsthese'

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und so in den Kausal- und Finalbezug des sogenannt „Wissenschaftlichen" integrieren kann. Auch in der insgeheimen Leitung durch die Vernunft oder Selbsteinsicht, — ja selbst, wenn es dieser sich bewußt wird, bleibt es in seiner „Geworfenheit" befangen. Aber diese Befangenheit in seinem — wörtlichen und übertragenen — „hic et nunc" wechselt bei der Einsicht in die grundlegende Relation, in der erreichten geschichtlichen Einstellung, aus der bloßen Zufälligkeit über in eine erkannte Position in der Kette der Notwendigkeit. Dann allerdings, wenn sich so das „Bedürfniß der Philosophie" meldet, ist eine sinnvolle Befragung der eigenen Tradition, der Antezedenzien des „hic et nunc" möglich. Die Bedingungen dieser Möglichkeit erweisen sich geradezu als Bedingungen ihrer Wirklichkeit, denn die bloße Möglichkeit der Kritik ist nichts außerhalb der Kritik selbst. Hierin liegt nun aber ein Moment der Notwendigkeit: Das Bedürfnis der Philosophie fordert Philosophie, indem es sie dadurch, daß es ihr Fehlen bewußt macht, ermöglicht. Notwendigkeit heißt aber auch hier nicht blinder Determinismus, denn dieser ist nur, solange die Notwendigkeit als etwas Fremdes, als ein Gegenstand, betrachtet und ebendarum nicht eingesehen wird. Erkannte Notwendigkeit aber, um so die klassisch gewordene Bestimmung zu interpretieren ist aufgehoben in der Erkenntnis, in der Einsicht, in der die vielberufenen „Sachzwänge" verschwinden zugunsten der Freiheit des Erkennens und Einsehens selbst, die ebendarum eine notwendige ist. Die Notwendigkeit einer Beziehung läßt sich in der logischen Form der Implikation aussagen (Wenn — dann). Die Verwendung dieser logischen Form selbst wäre indessen ihrerseits zufällig, wenn nicht auch sie nach allen Seiten hin gleichsam eingebettet wäre in das Netz der Notwendigkeit. Dieses „Netz der Notwendigkeit" als eingesehenes erlaubt es dann, solche Implikationen als Formen der Notwendigkeit zu verwenden. „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie; es ist insofern eine Zufälligkeit; aber unter der gegebenen Entzweiung der nothwendige Versuch, die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektvität und Objektivität aufzuheben, und das Gewordenseyn der intellektuellen und reellen Welt, als ein Werden, ihr Seyn als Produkte, als ein Produciren zu begreiffen; in der unendlichen Thätigkeit des Werdens und Producirens hat die Vernunft das, was getrennt war, Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Diese These Hegels ist natürlich vor allem durch seine „Schüler" K. Marx und F. Engels populär geworden (vgl. etwa MEIN 20. 106 et passim).

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I. DIE PHILOSOPHIE. 4. Voraussetzungen

vereinigt, und die absolute Entzweyung zu einer relativen heruntergesetzt, welche durch die ursprüngliche Identität bedingt." Nun, da wir aus unseren obenstehenden Erwägungen einen Anhaltspunkt dafür haben, was hier „Zufälligkeit" nur meinen kann, läßt sich die Antwort auf unsere Frage: Wann immer tritt Philosophie auf? — als Frage nach der Konkretion der geschichtlichen Relation verstanden — in zwei Schritten wie folgt geben: 1. Wenn die Vernunft aus dem Leben der Menschen verschwindet und der Verstand sein System errichtet und an Macht gewinnt, dann entsteht das Bedürfnis der Philosophie. 2. Wenn das Bedürfnis der Philosophie entsteht, dann tritt Philosophie auf. Dadurch, daß der Bereich der Erscheinungen der des Raumes und der Zeit ist, läßt sich diese doppelte Implikation — verkürzt — räumlich und zeitlich so formulieren: — Immer dann, wenn, und überall dort, wo die Vernunft aus dem Leben der Menschen verschwindet und der Verstand sein System errichtet und an Macht gewinnt, tritt Philosophie auf. Unter Berücksichtigung des bisher Entwickelten läßt sich hieraus folgende geschichtsphilosophische These auf stellen: — Immer dann, wenn, und überall dort, wo das menschliche Denken außer sich ist, kommt es notwendig zu sich. Der als „Revolution der Vernunft" bezeichnete Akt der Selbstbewußtwerdung des Verstandes ist so in die Form des allgemeinen Prinzips einer geschichtlichen „Revolutionstheorie" übergegangen. Diese prinzipielle These, ihres zweifachen Implikationscharakters im Gesamt eines „Netzes der Notwendigkeit" halber künftig kurz „Notwendigkeitsthese" genaimt, erhebt sowohl ihrer Form als auch ihrem Gehalt nach Anspruch auf absolute, weder zeitlich noch räumlich gebundene Geltung. Zusammen mit dem Gedanken, daß Philosophie das sich-denkende Erscheinen des Absoluten ist, macht sie den Kernpunkt einer jeden (wahren) Geschichte der Philosophie aus, deren Aufgabe es ist, Geschichte „der in unendlich mannichfaltigen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft" und das heißt: Selbsterkenntnis des Verstandes, Kritik, mithin Sich-selbst-denken des Absoluten, Philosophie, zu sein. « GW 4.14 Z. 4 ff = SW 1. 46 = Diff. 14. S. o. S. 60 ff. « GW 4. 31 Z. 31 f = SW 1. 73 = Diff. 35.

II. DIE

METHODE

Die grundlegende und vorantreibende Frage unserer Untersuchung ist die: Was ist Philosophie? In einem ersten Ansatz entwickelte sich diese Frage nach dem Wesen der Philosophie zu der nach seinem Verhältnis zu seinen Erscheinungen, welche sich als die Frage nach Grund und Form ihres Auftretens erwies. Befragt wurde damit das Bedürfnis der Philosophie, welches seinen Grund in ihrem Wesen fand. Das Bedürfnis der Philosophie erschien als ihre Voraussetzungen. Als Voraussetzung des Fragens nach Voraussetzungen erkannten wir die vorgängige Reflexion. Reflexion, die Tätigkeit des noch nicht wieder zu sich gekommenen erschienenen Absoluten, des Verstandes, soll zu sich kommen, denn das Ziel, welches das erschienene Absolute sucht, ist ja sein Wesen in seiner Erscheinung. Dieses Zu-sich-selbst-kommen des Absoluten als die Aufgabe der Philosophie ließ sich formal beschreiben als Vereinigung der Gegensätze, welche Beschreibung als formale ihre Konkretion fordert. Somit wird die Frage „Was ist Philosophie?" zu der Frage: Wie erfüllt die Philosophie ihre Aufgabe? Das in der ursprünglichen Fassung der Frage erfragte Wesen der Philosophie bestimmt sich mithin als ihre Methode. ^ Indem das Absolute sich selbst denkt, erscheint es. Die zur Frage nach der Methode der Philosophie gewordene Frage nach ihrem Wesen als die nach dem „Wie" des Sich-selbst-denkens des Absoluten zielt zunächst ab auf die Verwendung des bezüglichen Mittels. Als das „Mittel" des Denkens zeigte sich uns bei der Entwicklung der Voraussetzungen der Philosophie deren Voraussetzung, die Reflexion. „Die Form, die das Bedürfniß der Philosophie erhalten würde, wenn es als Voraussetzung ausgesprochen werden sollte, gibt den Übergang vom Bedürfnisse der Philosophie, zum Instrument des Philosophirens, der Reflexion als Vernunft. "2 Im gleichen aber sahen wir, daß die Reflexion gleichsam nur in einem zweifachen Anlauf das von ihr Intendierte erreichen konnte, und auch ‘ Zur „Methode" s. u. S. 230. * GW 4.16 Z. 16 ff = SW 1. 50 = Diff. 17.

94

II. DIE METHODE

dies nur, wenn sie sich auf sich selbst zurückwendete, auf sich „reflektierte", und so dieses Mangelhafte an sich erkannte. Es ergibt sich daraus das Dilemma, daß die Reflexion als das zwar unzureichende doch zugleich das einzige Mittel ist, das der Philosophie im Philosophieren zur Erfüllung ihrer Aufgabe zur Verfügung steht. „Das Absolute soll fürs Bewußtseyn konstruirt werden, ist die Aufgabe der Philosophie; da aber das Produciren, so wie die Produkte der Reflexion nur Beschränkungen sind, so ist diß ein Widerspruch. Das Absolute soll reflektirt, gesetzt werden, damit ist es aber nicht gesetzt, sondern aufgehoben worden, denn, indem es gesetzt wurde, wurde es beschränkt. Dieses Dilemma ist jedoch, wie wir sahen nicht ein zufälliges, ein „Sachzwang", der sich der Philosophie von außen her aufdrängte, sondern ist Ausdruck des als Resultat fixierten Erscheinens des Absoluten, welches als „Sichselbst-denken" gefaßt wurde. Das Dilemma selbst muß somit Gegenstand imserer Frage werden, die auf die „Aufhebung" des in ihm enthaltenen Widerspruchs abzielt. „Es ist vornemlich zu zeigen, in wiefern die Reflexion das Absolute zu fassen fähig ist, und in ihrem Geschäfte, als Spekulation die Nothwendigkeit und Möglichkeit trägt, mit der absoluten Anschauung synthesirt, tmd für sich, subjektiv, eben so vollständig zu seyn, als es ihr Produkt, das im Bewußtseyn konstruirte Absolute, als bewußtes und bewußtloses zugleich, seyn muß." ® Unsere Aufgabe stellt sich daher als eine vierfache: Wir haben 1. der Frage nachzugehen, was Reflexion und inwiefern sie in der Lage sei, das Absolute zu fassen ®, 2. die Ergebnisse des reflektierenden Denkens auf den in ihnen sich zeigenden „Grundtypus" hin zusammenzufassen 3. aufzuweisen, was sich als das von der Reflexion durch ihre Mangelhaftigkeit Geforderte ihr entgegenstelle und worin diese Weiterentwicklung der Reflexion selbst resultiere®, 4. die so entfaltete Frage nach der Methode auf ihren Ausgang, das Wesen der Philosophie, zurückzubeziehen ®. ä GW 4.16 Z. 19 ff = SW 1. 50 = Diff. 17. ^ S. o. S. 90 ff. ® GW 4.16 Z. 24 ff = SW 1. SO = Diff. 17. — Zur Einlösung dieses Programms s. u. Anm. 6—9. « S. u. S. 95—121. ’’ S. u. S. 122—170. 8 S. u. S. 171—210. » S. u. S. 211—230.

II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

11.1.

95

Reflexion als Spekulation

Ziel dieses ersten Schrittes in der Frage nach dem Wesen der Philosophie als nach ihrer Methode ist es, das als solches angesetzte Mittel der Philosophie, die Reflexion, daraufhin zu befragen, was sie sei, und einzusehen, inwiefern sie das Mittel der Philosophie sein kann. „Mittel der Philosophie" bezieht sich dabei auf ihren Zweck, welcher „Konstruktion des Absoluten fürs Bewußtsein", „Selbsterkenntnis des Absoluten in seiner Erscheinung", „Zu-sich-kommen des Verstandes", „Einsicht in das Wesen der Philosophie" u. v. a. heißen mag. Es geht dabei also ganz konkret darum, zu verstehen, was der Satz, Reflexion sei das Mittel der Philosophie, genauer: des Philosophierens, eigentlich meint. Der neu auftauchende Begriff in dem so befragten Satz ist der der Philosophie als Reflexion. Es legt sich daher nahe, zunächst diesen Begriff der Reflexion selbst zu befragen. Die Frage nach dem Wesen der Philosophie als nach ihrer Methode wird also angegangen mit der Befragung des Begriffes „Reflexion". 11.1.1.

Der Begriff „Reflexion"

„Reflexion" heißt — wörtlich übertragen — Zurückbeugung, Zurückwendung. Diese Übertragung impliziert drei Fragen, die sich so fassen lassen: 1. Wer oder was beugt zurüdc? 2. Wen oder was beugt das Zurückbeugende zurück? 3. Wer oder was ist das „Zurück" des Beugens? Durch eine exakte Deutung des „re-" als eines eindeutigen Richtungsumkehrpräfixes fallen jedoch die erste und die dritte Frage zusammen: Etwas beugt etwas auf sich zurück. Zudem zeigt der lateinische Gebrauch des Grundverbs „flecto" eine reflexive (sic!) Bedeutung, was für uns bedeuten würde, daß die drei Fragen zusammenfallen: Etwas beugt sich auf sich zurück. Der aus der formalen Analyse der angesetzten Übertragung von „Reflexion" resultierende Befund würde also zu dem Fragezusammenhang führen:

96

II.

DIE METHODE.

1. Reflexion als Spekulation

— Wer (oder was) ist es, der (oder das) sich (oder eventuell zuweilen anderes) auf sich zurückbeugt? Reflexion war angenomnaen worden als die Tätigkeit des Verstandes. Der Verstand beugt demnach sich (oder eventuell zuweilen anderes) auf sich zurück, und der Name dieses Tuns ist „Reflexion". Verstand ist das von sich selbst als Substantiv fixierte Verstehen. Verstehen aber als zugreifendes Hinnehmen ist immer ausgerichtet auf anderes. Das gerichtete Verstehen des Verstandes also ist das, was als sein Sich-auf-sich-zurückbeugen umschrieben wurde: Der Verstand in seinem Gerichtet-sein auf anderes beugt sich auf sich selbst zurück. Was kann das heißen? Ist damit wirklich, wie das sich hier auf drängende „intentio recta — intentio obliqua"-Modell anzudeuten scheint, gemeint, daß es ein Ausgerichtet-sein des Verstandes auf Gegenstände „gebe" und daneben (oder darüber) ein anderes, komplizierteres, welches sich auf eben dies „direkte" Ausgerichtet-sein selbst zurückwende ^^? Oder ist damit in scheinbarem Einverständnis mit KANT ausgesagt, daß, um Gegenstände erkennen zu können, man zuerst sein Erkennen selbst klar erkennen müsse? Indessen zeigt sich gerade in diesen Deutungsvorschlägen, daß ja auch das Erkeimen des eigenen Erkennens dieses zu einem Anderen, einem Zum Begriff „intentio" in der Scholastik vgl. H. Holtkamp: Zum Begriff „intentio" in der scholastischen Philosophie. Bonn 1926; speziell 35 f (intentio prima — intentio secunda). „Die natürliche Einstellung auf den Gegenstand — gleichsam die intentio recta, die Gerichtetheit auf das, was dem Subjekt begegnet, vorkommt, sich darbietet, kurz die Richtung auf die Welt, in der es lebt und deren Teil es ist, — diese Grundeinstellung ist die uns im Leben geläufige, und sie bleibt es lebenslänglich. Sie ist es, durch die wir uns in der Welt zurechtfinden, kraft deren wir mit unserem Erkennen an den Bedarf des Alltags angepaßt sind. Diese Einstellung aber ist es, die in der Erkenntnistheorie, Logik und Psychologie aufgehoben und in eine quer zu ihr gerichtete — eine intentio obliqua — umgebogen wird. Das ist dann reflektierte Einstellung." {N. Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie. Berlin und Leipzig 1935. 50). Zur Abgrenzung von der scholastischen „intentio prima — intentio secunda"-Unterscheidung (s. o. Anm. 10) vgl. ebd. 50 Anm. 1 et passim. Dies nämlich ist — simplifizierend verkürzt — der Sinn der „Kopernikanischen Wende" Kants. „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntniß derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ." {Kant: KdrV B XVI).

1. Der Begriff „Reflexion"

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Gegenstand, macht, sodaß damit die Schwierigkeit der Gegenstandserkenntnis — auf eine andere Stufe verlagert — von neuem anhöbe und dem berühmten und gefürchteten unendlichen Regress Tor und Tür öffnete. Es steht also nicht eine Tätigkeit des Verstandes, die Reflexion, einer anderen, der Gegenstandserkenntnis, gegenüber, sondern das Verstehen des Verstandes selbst ist immer schon Reflexion. Gerichtet-sein auf anderes heißt demzufolge im Tun des Verstandes, dem Verstehen, nichts anderes als Gerichtet-sein auf sich selbst, genauer: Zurückgebeugt-sein auf sich selbst. Damit ist nun aber nicht gesagt, daß es kein spezifisches Gerichtet-sein auf anderes, auf Gegenstände, geben könne, denn die Richtung der Aufhebung des Gerichtet-seins bestimmt sich von dem „Worauf-hin" eben des aufgehobenen Gerichtet-seins her. Das als „Reflexion" bezeichnete Verstehen des Verstandes kehrt in seiner Ausrichtung auf das Andere, den Gegenstand, zu sich zurück und bestimmt so sidi als dieses Andere, es bildet dessen „Begriff". Die Reflexion, so verstanden als Akt der Begriffsbildung, ist gleichsam das Einbringen der Ernte vom Felde, in dem das Andere zum meinigen wird. Es ist die „Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in Einem Bewußtsein begriffen sein können" Damit nun allerdings ist der Begriff „Reflexion", wenn auch ohne die entsprechenden terminologischen Ergänzungen und Einsetzungen, so erfaßt, wie ihn auch KANT verstanden hat Unsere Untersuchung muß daher auch an diesem Punkte weiterfahren, da wir mit unseren diesbezüglichen Ausführungen den Begriff „Reflexion" für den weiteren Verlauf des Hegelschen Gedankens verfügbar machen wollten und wohl nicht fehlgehen, wenn wir das KANxische Verständnis, wie wir es bisher ohne engere Bezugnahme auf den „Buchstaben KANTS" entwickelt haben, als den Ansatzpunkt für Hegels Verwendung dieses Terminus annehmen Es geht demnach im folgenden darum, den Begriff „Reflexion" auf das hin durchsichtig zu machen, was er impliziert, um dann zu unserer Frage Kant: tNA 9. 94. Vgl. hierzu M. Liedtke: Der Begriff der Reflexion bei Kant. In: Archiv für Geschichte der Philosophie. 48 (1966), 207 ff. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier gleich betont, daß es sich dabei nicht um eine Übernahme des Kantischen Begriffes „Reflexion" durch Hegel handelt, sondern daß Hegel diesen Begriff nur in Ansatz bringt, um ihn — vor allem bezüglich seiner methodischen Gewichtigkeit bei Kant — zu überwinden. Die „Selbstvernichtung der Reflexion" (s. u. S. 99 et passim) hebt — historisch gesehen — Kants kritischen Ansatz in sich auf.

II.

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DIE METHODE.

1. Reflexion als Spekulation

nach dem Wesen der Philosophie als der nach ihrer Methode zurückkehren zu können. Die Reflexion als das Verstehen, welches den Verstand zum Verstand macht, ist schlechthin dessen Tätigkeit, ebenso in ihrem Ausgehen von wie in ihrem Zurückkehren zu sich. Dennoch kann sie von sich aus- und fortgehen zu anderem, von dem her als dem „Wohin" sie zu sich als dem „Woher" ihres Ausgehens zurückkehrt. In ihrem Ausgehen setzt sie sowohl sich selbst als „Woher" als auch das „Wohin" als Anderes ihrer selbst, welches aber in ihrer Rückkehr zum „Woher" des Zurückkehrens wird. Sie muß also immer schon in ihrem Setzen ihrer selbst sich ein Anderes entgegensetzen, welches durch ihre wesentliche Eigenschaft des Umkehrens als ein doppeltes bestimmt wird, als eben welches doppelte sie sich selbst dadurch auch bestimmt: als Jenseits im Ausgehen und als Diesseits im Zurückkehren et vice versa. Anders gesagt: Die Möglichkeit zur Umkehr, und das heißt: zu ihrer eigentlich wesentlichen Eigenschaft, ist bedingt durch die Setzung eines anderen ewigen Jenseits, welches aber, um in der Tat ihre Bedingung sein zu können, zugleich als ewiges Diesseits gesetzt werden muß. Die Reflexion ermöglicht sich so durch ihren eigenen Widerspruch, sich aufhebende Gerichtetheit oder gerichtete Umkehr zu sein. Daraus folgt: — Die Reflexion ist die Tätigkeit des Setzens Entgegengesetzter, ohne aber das Entgegensetzen ihres Setzens als ihre eigene Tat erfassen zu können. — Sie trägt in sich ihren eigenen Widerspruch, jedoch ohne ihn auflösen zu können. — Würde sie ihn aufheben, so müßte sie sich selbst in ihrer wesentlichen Eigenschaft, gerichtete Umkehr zu sein, zerstören und wäre mithin nicht mehr Reflexion.

II.1.2.

Das endliche Denken als unendliches

Die Aufgabe der Reflexion als des Mittels des Philosophierens ist die „Konstruktion des Absoluten fürs Bewußtseyn", anders gesagt: das Sich-als-Erscheinung-begreifen der Reflexion selbst. Um sich als etwas begreifen zu können, muß die Reflexion auf sich selbst reflektieren. Damit aber erkennt sie sich als den Widerspruch, der sie wesentlich ist.

2. Das endliche Denken als unendliches

99

und muß versuchen, diesen Widerspruch aufzuheben. Das kann sie nur, indem sie sich vernichtet. „Insofern die Reflexion sich selbst zu ihrem Gegenstand macht, ist ihr höchstes Gesetz, das ihr von der Vernunft gegeben und wodurch sie zur Vernunft wird, ihre Vernichtung; sie besteht, wie Alles, nur im Absoluten, aber als Reflexion ist sie ihm entgegengesetzt; um also zu bestehen, muß sie sich das Gesetz der Selbstzerstörung geben." „Sichvernichten" der Reflexion heißt also: sich als Erscheinung des Absoluten erkennen. In dieser ihrer Selbsterkenntnis wird die Reflexion von der Verstandes- zur Vernunfttätigkeit, da der sich selbst als Erscheinung des Absoluten erkennende Verstand die Vernunft ist. Das Verstehen des Verstandes als die gerichtete Umkehr der Reflexion hat sich damit zum Vernehmen der Vernunft gewandelt: Die Reflexion wird zur Spekulation. Es ist dies eben das, was wir oben als „Revolution der Vernunft" bezeichnet haben. Die geschichtliche Bezeichnung „Revolution" erscheint hier als die methodische der „Selbstvernichtung", welche metaphorisch für die logische der „Negation" steht. „Die Vernunft stellt sich als Kraft des negativen Absoluten, damit als absolutes Negiren, und zugleich als Kraft des Setzens der entgegengesetzten objektiven und subjektiven Totalität dar." Das Sich-darstellen der Vernunft als ihre Tätigkeit ist ihr Vernehmen. „Die freye Vernunft und ihre That ist Eins, und ihre Thätigkeit ein reines Darstellen ihrer selbst." Die Vernunft ist das Sich-darstellen des sich selbst als Verstand, und das heißt: als Erscheinung des Absoluten, die sich als solche noch nicht erkannt hat, vernommen habenden Verstandes. Vernehmen bedeutet Offen-sein-lassen. Indem der Verstand sich nicht mehr vor sich selbst verschließt, sondern auf sein Reflektieren reflektiert, wird sein Tun, das gerichtet umkehrende Verstehen, zum offen-sein-lassenden Vernehmen, der Spekulation. „Spekulation" kann deutend übersetzt werden mit „Spiegelung" Im Tun der Vernunft, GW 4.18 Z. 13 ff = SW 1. 52 = Diff. 19. S. o. S. 74 ff. 18 GW 4.17 Z. 5 ff = SW 1. 50 = Diff. 17. — Zur „objektiven und subjektiven Totalität" s. u, S. 103 ff sowie auch Anm. 74 zu II.4. 1» GW 4. 30 Z. 29 f = SW 1. 71 = Diff. 34. 8« Der Begriff „Spekulation" kommt von lat. „speculatio", welches wörtlich übersetzt „Ausschau" heißt. Von Boethius wird „speculatio" als Übersetzung von gr. „ÖECoeia" eingeführt. Diese Übertragung geriet in Vergessenheit durch Augustin und ln seinem Gefolge im Mittelalter vor allem Thomas von Aquin, die „speculatio" von „speculum" ableiteten und mit dem Paulinischen Gedanken der Erkenntnis Gottes gleichsam durch einen Spiegel „in einem dunkeln Wort" (1. Kor. 13, 12) in Verbindung brachten, welche Deutung natürlich von den Mystikern aufgegriffen wurde, von

100

II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

der Spekulation, ist inbegriffen ihr Offen-sein-lassen für das, was sich gleichsam in ihr spiegelt, das Absolute. Würde das Denken sich weiterhin als Verstehen verschließen vor dem, auf das es als gerichtetes sich richtet, indem es dasselbe als ein anderes und jenseitiges betrachtet, so köimte sich dieses vermeintlich Andere nicht in ihm spiegeln. Anders gesagt: Spekulation ist Selbstspiegelung des Absoluten. Es ist die Bestimmung des Verstandes, an seiner letzten Grenze, an der er auf sich selbst stößt, Vernunft zu werden Er kann dieser Bestimmung nicht ausweichen, er muß sie erfüllen, indem er sich als seine letzte Grenze erreicht. Der Weg des Erreichens seiner selbst ist die Methode und liegt als Darstellung selbst im Bereich der Erscheinung. Die Leitung dieses Weges durch seine Bestimmung, in seiner eigenen Vernichtung zu enden, äußert sich als „Trieb zur Totalität". Dieser Trieb zur Totalität, der als Wissen-wollen das Suchen immer vorantreibt, ist somit „der Antheil und die geheime Wirksamkeit der Vernunft" Der Verstand baut sich sein System der Bedingungen und Beschränkungen in seinem Reflektieren auf vermeintlich anderes auf, indem er sich, wie wir oben zeigten gegen die Vernunft abzusichern und zu verteidigen sucht. Die Reflexion, die endliche Verstandestätigkeit, das Setzen Entgegengesetzter, muß zu jedem Sein, welches sie als Beschränktes und Bedingtes setzt, die Bedingungen suchen, „diese bedürfen derselben Vervollständigung, und seine Aufgabe erweitert sich zur unendlichen" Jedes Bestimmte, das die Reflexion hervorbringt, hat als Bestimmtes ein Unbestimmtes außer sich, aus dessen Vagheit und Dunkelheit es als Bestimmtes herausgehoben ist. „Der Eigensinn des Verdenen denn auch die Eindeutschung „Spiegulation" stammt. Dieses Verständnis der Spekulation als „visio Dei" (Cusanus) war via Böhme und den diesen rezipierenden schwäbischen Pietismus, vor allem Bengel und Oetinger, Hegel wohl bekannt. Durch Kants kritischen Eingriff in das Gedankengut der Schulmetaphysik, die er als spekulativ betrachtete, erhielt der Begriff „Spekulation" einen eindeutig pejorativen Sinn. Hier vollzieht Hegel eine völlige Umwertung, indem er den klassischen Sinn von „speculatio" als Theorie erneut zur Geltung bringt, ihn allerdings mit dem mystischen Gedanken der „visio" wieder verbindend: Spekulation ist anschauendes Begreifen (s. u. S. 194 ff). Vgl. auch K. Düsing; Spekulation und Reflexion. Zur Zusammenarbeit Schellings und Hegels in Jena. In: Hegel-Studien. 5 (1969), 95 ff. 21 S. o. S. 75. 22 GW 4.17 Z. 14 = SW 1. 51 = Diff. 18. — Was wir hier vor uns sehen, ist die „List der Vernunft", die, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes ausführt, „der Thätigkeit sich zu enthaltend scheinend, zusieht, wie die Bestimmtheit und ihr konkretes Leben, darin eben, daß es seine Selbsterhaltung und besonderes Interesse zu treiben vermeint, das Verkehrte, sich selbst auflösendes und zum Momente des Ganzen machendes Thun ist." (SW 2. 52). 22 S. o. S. 69 ff. 21 GW 4.17 Z. 11 f = SW 1. 51 = Diff. 18.

2. Das endliche Denken als unendliches

101

Stands vermag die Entgegensetzung des Bestimmten und Unbestimmten, der Endlichkeit und der aufgegebenen Unendlichkeit unvereinigt neben einander bestehen zu lassen; und das Seyn gegen das ihm eben so nothwendige NichtSeyn festzuhalten. Weil sein Wesen auf durchgängige Bestimmung geht, sein bestimmtes aber unmittelbar durch ein Unbestimmtes begränzt ist, so erfüllt sein Setzen und Bestimmen nie die Aufgabe, im geschehenen Setzen und Bestimmen selbst liegt ein NichtSetzen und ein Unbestimmtes, also immer wieder die Aufgabe selbst, zu setzen und zu bestimmen." Der Verstand setzt so das objektive Unendliche, d. h. jenes Unendliche, welches ihm als die ihm entgegenstehende unendliche Anzahl der von ihm zu bestimmenden Endlichen erscheint. Die objektive Unendlichkeit ist das erste Ergebnis des endlichen Verstandes in seinem von dem als Trieb zur Totalität erscheinenden geheimen Anteil der Vernunft geleiteten Reflektieren auf anderes, welches die absolute Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem festhält. In diesem objektiven Unendlichen stößt aber die Reflexion auf ihren eigenen Widerspruch, indem sie nämlich Endliches und Unendliches nebeneinander bestehen läßt. Das darf indessen nicht sein, da die Entgegensetzung selbst die Bedeutung hat, „daß insofern eines derselben gesetzt, das andere aufgehoben ist" ®®. In seinem Stoßen auf seinen eigenen Widerspruch in seinem Tun, dem Reflektieren, im Begriff des Unendlichen, muß der Verstand sich selbst zerstören, indem er sich selbst als endlichen erkennt. Diese Selbsterkenntnis des Verstandes nun ist es, was sein Sich-selbst-vernehmen, sein Vernunft-werden, ausmacht. Indem der Verstand als Vernunft sich selbst erkennt, hat er sich als Verstand aufgehoben, welches Aufheben als das „reine Setzen der Vernunft ohne Entgegensetzen" ausgesprochen werden kann. Das reine Setzen der Vernunft ohne Entgegensetzen ist im Gegensatz zur objektiven Unendlichkeit des Verstandes die subjektive Un-

*5 GW 4.17 Z. 20 ff = SW 1. 51 = Diff. 18. 2* GW 4.17 Z. 30 f = SW 1. 51 = Diff. 18. —

Vgl. hierzu fidite: Grundlage der gesamten Wissensdiaftslehre: „Insofern das Ich durch das Nicht-Ich eingeschränkt wird, ist es endlich; an sich aber, so wie es durch seine eigne absolute Tätigkeit gesetzt wird, ist es unendlich. Dieses beide in ihm, die Unendlichkeit, und die Endlichkeit sollen vereinigt werden. Aber eine solche Vereinigung ist an sich unmöglich. Lange zwar wird der Streit durch Vermittlung geschlichtet; das Unendliche begrenzt das Endliche. Zuletzt aber, da die völlige Unmöglichkeit der gesuchten Vereinigung sich zeigt, muß die Endlichkeit überhaupt aufgehoben werden; alle Schranken müssen verschwinden, das unendliche Ich muß Eins und als Alles allein übrig bleiben." (WW 1. 339 = SW 1. 144).

102

II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

endlichkeit der Vernunft, „das der objektiven Welt entgegengesetzte Reich der Freyheit" So stellt sich die Vernunft dar als „Kraft des Setzens der entgegengesetzten objektiven und subjektiven Totalität" indem sie sich als den noch nicht zu sich gekommenen Verstand zur Produktion und Fixierung der Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem treibt, in welcher Entgegensetzung sie zu ihrem Sich-selbst-vernehmen als der Vernunft kommt und nun ohne Entgegensetzung, ohne Beschränkungen und Bedingungen, frei zu setzen in der Lage ist, welches freie Setzen als die subjektive Unendlichkeit betrachtet werden kann. Diese Formulierung steht aber selbst noch im Gegensätze von Objekt und Subjekt, von Notwendigkeit und Freiheit. Weil die Vernunft als Erscheinung des Absoluten zugleich die „Kraft des negativen Absoluten, damit . .. absolutes Negiren" ist ^®, d. h. weil sie nur das Interesse hat, solche festgewordenen Gegensätze aufzuheben, muß sie ihrerseits die Entgegensetzung und relative Totalität der beiden Unendlichen, welche ja von ihr selbst hervorgebrachte sind, aufheben. „Weil dieses [seil.: das der objektiven Welt entgegengesetzte Reich der Freiheit] in dieser Form selbst entgegengesetzt und bedingt ist, so muß die Vernunft, um die Entgegensetzung absolut aufzuheben, auch dieß in seiner Selbstständigkeit vernichten; sie vernichtet beyde, indem sie beyde vereinigt, denn sie sind nur dadurch, daß sie nicht vereinigt sind. In dieser Vereinigung bestehen zugleich beyde; denn das Entgegengesetzte, und also Beschränkte, ist hiemit aufs Absolute bezogen; es besteht aber nicht für sich, nur insofern es in dem Absoluten d. h. als Identität, gesetzt ist."

II.1.3.

Exkurs; Hegels Deutung seiner eigenen Tradition

Es ist angebracht, an dieser Stelle die begriffliche Entwicklung der philosophischen Methode zu verlassen, um — freilich notwendigerweise in formaler Reflexion — zu zeigen, wie Hegel die zu Beginn entwickelte kritisch-philosophische Betrachtungsart philosophischer Systeme in der Gedankenentfaltung selbst konkretisiert. Philosophie als Kritik des ihr vorliegenden „Bauzeugs des Zeitalters" zeigt sich hier beispiel” GW 4.17 Z. 35 f = SW 1. 52 = Diff. 18. 28 GW 4.17 Z. 6 f = SW 1. 50 = Diff. 17. CW 4.17 Z. 5 f = SW 1. 50 = Diff. 17. 8» GW 4.17 Z. 36 —18 Z. 5 = SW 1. 52 = Diff. 18 f. S. o. S. 32 ff und 64 f.

3.a. Exkurs zu Kant

103

haft: Die geschichtlichen Phänomene sind Erscheinung des sich selbst denkenden Absoluten. Eine subtile Interpretation wird sich, selbst auf die Gefahr hin, Hegel zu „pressen", auf die verschiedenen historischen Gestaltungen der Selbstvernichtung der Reflexion einlassen müssen. Es sei der Versuch einer solchen konkret-historischen Deutung hier exemplarisch eingeschoben; er ließe sich, wie mancherorts aus dem Apparat ersichtlich, an allen Stellen des Hegelschen Gedankenganges anstellen.

a.

KANT

Der Anteil und die geheime Wirksamkeit der Vernunft in der Tätigkeit der Reflexion ist, daß der Verstand durch die regulative Funktion der Ideen, zu einer Totalität zu gelangen, über sich hinaus in den Regress getrieben wird. Die ins Unendliche setzende und entgegensetzende Tätigkeit des reflektierenden Verstandes findet ihren ersten Beleg in dem empirisch Unendlichen von KANTS Kritik der reinen Vernunft: „Denn in der Sinnlichkeit, d. i. im Raume und der Zeit, ist jede Bedingung, zu der wir in der Exposition gegebener Erscheinungen gelangen können, wiederum bedingt: weil diese keine Gegenstände an sich selbst sind, an denen allenfalls das Schlechthin-Unbedingte stattfinden könnte, sondern bloß empirische Vorstellungen, die jederzeit in der Anschauung ihre Bedingung finden müssen, welche sie dem Raume oder der Zeit nach bestimmt. Der Grundsatz der Vernunft also ist eigentlich nur eine Regel, welche in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen einen Regressus gebietet, dem es niemals erlaubt ist, bei einem Schlechthin-Unbedingten stehen zu bleiben." Diese „objektive Unendlichkeit" des Verstandes sieht sich in den Antinomien durch den Verstand neben dem Endlichen fixiert; beide. Endliches und Unendliches, sollen zugleich als einander entgegengesetzt bestehen. „Die mathematischen Antinomieen betrachten die Anwendung der Vernunft als bloßer Negativität auf ein fixirtes der Reflexion, wodurch unmittelbar die empirische Unendlichkeit producirt wird." Dieses Zitat aus Glauben und Wissen vermag unsere Deutung zu stützen. — Der Regress nun aber als Ausdruck des empirischen Unendlichen führt auf die »2 Kant; KdrV A 508 f = B 536 f. »5 Hegel; GW 4. 337 Z. 7 ff = SW 1. 312. Glauben und Wissen, oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. In: Kritisches Journal der Philosophie. Bd 2, Stück 1. Tübingen 1802.

104

II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

Frage nach der Möglichkeit eines Endes seiner selbst. Damit zerstört sich in der dritten, der ersten dynamischen, KANxischen Antinomie der Verstand selbst. Die als Negationen erkannten Produkte seiner selbst führen den Verstand, der nunmehr Vernunft geworden ist, zu seinem reinen Setzen ohne Entgegensetzen, zur Einsicht in die „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit" Die Vernunft setzt damit die der objektiven entgegengesetzte subjektive Unendlichkeit, „das der objektiven Welt entgegengesetzte Reich der Freyheit". Diese Setzung findet bei KANT ihre Ausführung in der Kritik der praktischen Vernunft von 1788. KANT bemerkt in deren Vorrede: „Mit

diesem Vermögen [seil.: der praktischen Vernunft] steht auch die transscendentale Freiheit nunmehr fest, und zwar in derjenigen absoluten Bedeutung genommen, worin die speculative Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der Causalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zu retten, darin sie unvermeidlich geräth, wenn sie in der Reihe der Causalverbindung sich das Unbedingte denken will, welchen Begriff sie aber nur problematisch, als nicht unmöglich zu denken, aufstellen konnte, ohne ihm seine objective Realität zu sichern, sondern allein um nicht durch vorgebliche Unmöglichkeit dessen, was sie doch wenigstens als denkbar gelten lassen muß, in ihrem Wesen angefochten und in einen Abgrund des Scepticisms gestürzt zu werden."

Der Zusammenhang mit unserem Text liegt unmittelbar auf der Hand. Das Fixieren von Endlichem und Unendlichem als entgegengesetzt zugleich Bestehenden geht über den es verantwortenden Verstand hinaus auf die Vernunft hin, anders gesagt: wendet den Verstand auf sich selbst zurück; die Reflexion wird sich selbst zu ihrem Gegenstand. Nur dadurch, daß sie sich so zerstört und reines Setzen ohne Entgegensetzen wird, kann sie der formalen Unausweichlichkeit der Antinomie entrinnen. So nebeneinandergestellt, sind aber objektive wie subjektive Unendlichkeit noch entgegengesetzt; sie müssen vereinigt werden. KANT setzt dazu in der Kritik der Urteilskraft von 1790 an. Er sieht seine Aufgabe, das objektive empirische, sinnliche mit dem subjektiven, übersinnlichen Unendlichen, Naturbegriff und Freiheitsbegriff zu vereinigen, so: „Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang *5 Kant: KdrV A 538 = B 566. Kant: KdprV A 4 = WA 5. 3.

3.a. Exkurs zu Kant

105

möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann; so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze auf gegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme. — Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitbegriff praktisch enthält, geben, wovon der Begriff, wenn er gleich weder theoretisch noch praktisch zu einem Erkenntnisse desselben gelangt, mithin kein eigenthümliches Gebiet hat, dennoch den Übergang von der Denkungsart nach den Principien der einen zu der nach Principien der anderen möglich macht." Hegel unterzieht in Glauben und Wissen die KANxische Lösung einer Kritik: Schon in der Kritik der reinen Vernunft ist der Verstand nicht zu sich gekommen, nicht vernünftig geworden, er hat keine wahrhafte Unendlichkeit produziert, sondern ist endlich geblieben. Ebenso auch in der Kritik der praktischen Vernunft. Die empirische Unendlichkeit des Reeder Progresses tritt in der praktischen Vernunft wieder auf. „Wenn KANT diesen Widerstreit erkannt hat, daß er nur durch und in der Endlichkeit nothwendig entstehe, und deßwegen ein nothwendiger Schein sey, so hat er ihn theils nicht aufgelöst, indem er die Endlichkeit selbst nicht aufgehoben hat, sondern wieder indem er den Widerstreit zu etwas Subjectivem machte, eben diesen Widerstreit bestehen lassen; theils kann KANT den transcendentalen Idealismus nur als den negativen Schlüssel zu ihrer [seil.: der Antinomie] Auflösung, insofern er beyde Seiten der Antinomie, als etwas an sich seyend, leugnet, gebrauchen, aber das Positive dieser Antinomieen, ihre Mitte ist dadurch nicht erkannt; die Vernunft erscheint rein blos von ihrer negativen Seite, als aufhebend die Reflexion, aber sie selbst in ihrer eigenthümlichen Gestalt tritt nicht hervor. Doch wäre dieß Negative schon hinreichend genug, um denn auch für die praktische Vernunft den unendlichen Progreß wenigstens abzuhalten, denn er ist ebendieselbe Antinomie wie der unendliche Regreß, und selbst nur für und in der Endlichkeit; die praktische Vernunft, die zu ihm ihre Zuflucht nimmt, und in der Freyheit sich als absolut constituiren soll, bekennt eben durch diese Unendlichkeit des Progresses

ä’ Kant: KdU A XIX f = B XIX f = WA 5.175 f.

106

II.

DIE METHODE.

1. Reflexion als Spekulation

ihre Endlichkeit und Untüchtigkeit, sich für absolut geltend zu machen." Ebenso ist für Hegel der KANxische Versuch einer Verbindung beider in der Kritik der Urteilskraft nur ein Ausweg, nicht aber wahrhafte Darstellung der Identität. Denn die Verbindung von Natur- und Freiheitsbegriff ist nach KANT ja nicht für die Erkenntnis; das Prinzip der Urteilskraft gründet in einem „Als ob" das nicht erkennbare Realität ist. Die Vermittlung bleibt im denkenden Subjekt als einem endlichen befangen, „auch diese anscheinend vollendete Aussöhnung soll schließlich dennoch nur subjektiv in Rücksicht auf die Beurtheilung wie auf das Hervorbringen, nicht aber das an und für sich Wahre und Wirkliche selbst seyn"

b.

JACOBI, FICHTE, SCHELLING

Dasselbe Verhältnis des Sich-selbst-vernichtens der Reflexion in ihrer Selbstverwirklichung konkretisiert sich in doppelter Weise nochmals auf umfassenderer geschichtlicher Ebene: KANT, JACOBI und FICHTE werden z. B. in Glauben und Wissen als die objektive, die subjektive und die sich aus objektiver und subjektiver vereinigende absolute Subjektivität der Reflexion gesehen „In der KANxischen Philosophie ist das Den“8 Hegel: GW 4. 337 Z. 17 ff = SW 1. 313. 3» Kant; KdU A XXV = B XXVII = WA 5. 180. - S. u. S. 187 ff. Hegel: SW 12. 95 f. — Die Punkte der Hegelschen Kantkritik, die hier abgeleitet wurden (zu Hegels Kantkritik vgl. I. Görland: Die Kantkritik des jungen Hegel. Frankfurt a. M. 1966; und J. Maier: On Hegel's Critique of Kant. New York 1939), werden unseres Erachtens von Fichte in seiner Wissenschaftslehre von 1804 aufgegriffen {Fichte: WW 4.180 ff = SW 10.102 ff), wie man überhaupt die Wissenschaftslehre von 1804 als Fichtes Erwiderung auf die Differenzschrift betrachten kann, wie L. Siep {Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804. Freiburg, München 1970) — unter anderem — nachzuweisen versucht. Eine andere Wertung dieser drei Gestalten des aufgehenden Deutschen Idealismus finden wir in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie {Hegel: SW 19. 534 ff). Das liegt wohl zum Teil daran, daß Hegel Geschichte der Philosophie zum ersten Male 1805/6, also schon zu Beginn seines Zerwürfnisses mit Schelling (vgl. auch F. W. ]. Schelling: Briefe und Dokumente. Hrsg, von H. Fuhrmans. Bonn 1962. Bd 1. 451—553: „Schelling und Hegel. Ihre Entfremdung"), gelesen hat. Die uns vorliegende Fassung (Hegel: SW 17—19) stellt eine Kompilation K. L. Michelets aus Quellen von 1805/6, 1816/17, 1823/24, 1825/26, 1829/30 sowie anderen, von Michelet nidit eigens aufgeführten Notizzetteln und Nachschriften dar (vgl. Hegel: SW 17. 2 ff). Von diesen Quellen stammen nur das Jenaer Heft (1805/6), der Heidelberger Abriß (1816/17) sowie einige Skizzenblätter von Hegels eigener Hand. Bis das Hegel-Archiv — hoffentlich in Bälde! — die kritische Ausgabe dieser Texte vorlegt, sind wir daher auf Vermutungen angewiesen, die in vorliegendem Falle dahingehend lauten, daß Hegels

3.b. Exkurs zu JacobE Fichte, Schelling

107

ken, das Unendliche, die Form des Objectiven das Erste; der absolute Gegensatz desselben, gegen das Besondere, Endliche, das Seyn, ist im erkennenden Subject, aber bewußtslos oder nicht zugleich objectiv für dasselbe, oder man kann auch sagen, die absolute Identität, in welcher der Gegensatz aufgehoben ist, ist rein objectiv, ein bloßer Gedanke; — beydes ist gleichbedeutend, denn beydes, diese Form absoluter Objectivität, das Jenseits der Identität für das Erkennen, und das Subjective, das Erkennen, wohinein der absolute Gegensatz verlegt wird, kommen nicht zusammen. In der jACOBischen Philosophie ist das Bewußtseyn über denselben das Erste, und der Gegensatz, der im Erkennen ist, flieht eben so, um ihn aufgelöst sich vorzustellen, zu seinem Gegentheil, einem Jenseits des Erkennens, aber es ist eine Mitte zwischen diesem Uebergang zu absolut entgegengesetzten vorhanden; aber diese Mitte ist selbst ein Subjectives, ein Sehnen und ein Schmerz. Dieses Sehnen ist in der FICHTEschen Philosophie mit der KANxischen Objectivität synthesirt." Diese Synthese aber ist wieder nicht wahrhafte Identität, nicht absolutes Subjekt-Objekt, nicht jene gesuchte Aufhebung der Subjekt-ObjektSpaltung in ihrer Selbsterkenntnis als Erscheinung des Einen, sondern, um wieder mit der Differenzschrift zu sprechen, „subjektive Identität des Subjekts und Objekts" „jene jACOBische subjective Vereinigung in der Lebendigkeit des Individuums ist selbst nur in objective Form auf genommen" — der Bereich der subjektiven Reflexion, das hieße aber in der hier zugrundeliegenden Terminologie: des objektiven Unendlichen, ist in seinen Positionen durchlaufen. „Nachdem auf diese Weise . . . diese Metaphysik der Subjectivität . . . den vollständigen Cyclus ihrer Formen in der KANxischen, jACOBischen und FicHXE'schen Philosophie durchlaufen, und also dasjenige, was zur Seite der Bildung zu rechnen ist, nemlich das Absolutsetzen der einzelnen Dimensionen der Totalität, und das Ausarbeiten einer jeden derselben zum System, vollständig dargestellt und damit das Bilden beendigt hat, so ist hierinn unmittelbar modifizierte Stellungnahme in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie einerseits durch den Bruch mit Schelling und die Weiterentwicklung seiner in der Differenzschrift schon exponierten eigenen Systemgedanken, andererseits jedoch auch durch seine (Hegels) zunehmend positive Einstellung gegenüber Jacobi bedingt war, die sich etwa in der Jacobi-Rezension (in: Heidelberger Jahrbücher der Literatur. 1817) äußerte. Vgl. K. Rosenkranz: C.W.F. Hegels Leben. 306 ff, und G.E. Müller: Hegel. Bern, München 1959.285 ff. Hegels explizite Fichte-Wertung hat sich hingegen, wie sich zeigen läßt (vgl. L. Siep: Hegels Fiditekritik und die Wissenschaftslehre von 1804. 14, 44 et passim) kaum mehr geändert. « Hegel: GW 4. 387 Z. 3 ff = SW 1. 392. GW 4. 33 Z. 37 = SW 1. 76 = Diff. 38. « Hegel: GW 4. 387 Z. 18 f = SW 1. 392.

108

II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

die äußere Möglichkeit gesetzt, daß die wahre Philosophie, aus dieser Bildung erstehend, und die Absolutheit der Endlichkeiten derselben vernichtend, mit ihrem ganzen, der Totalität unterworfenen Reichthum sich als vollendete Erscheinung zugleich darstellt." Diese „Metaphysik der Subjektivität", bezeichnet als Reflexionsphilosophie, die, in ihrer Wendung auf das Gegenständliche die objektive Unendlichkeit hervorgebracht hat und sich in dieser verliert und vernichtet, bringt also auf einer neuen Stufe nochmals (und immer aufs neue) das beschriebene Aufhebungsereignis in Gang: Die subjektive Unendlichkeit muß sich ihr konfrontieren, d. h. Subjektivität und Freiheit muß auch in die Objektivität hereingebracht werden, der Geist muß auch in der Natur erscheinen, ebenso wie die Natur bei FICHTE in der Intelligenz erschien. Die Reflexion geht hiermit über in die Spekulation, wird „Instrument des Philosophirens", die Philosophie erhebt sich auf den Standpunkt der Idee in ihrer Totalität: Das Wahre ist das Konkrete, die Einheit des Subjektiven. Diese subjektive Konkretion des Objektiven hat Hegel der bloß objektiven Form der Subjektivität bei FICHTE entgegengestellt als die eigentliche Leistung SCHELLINGS ^®. Die wahrhafte Vermittlung der Reflexion mit der Idee, d. h. der objektiven Unendlichkeit als der Notwendigkeit mit der subjektiven als der Freiheit, steht demnach noch aus. Zwar hat sich die Vernunft (in SCHELLING) schon als Negation gegenüber der Position der Reflexionsphilosophie geäußert, aber die Negation SCHELLINGS ist noch abstrakte, die nur verneint und noch nicht aufhebt Diese noch ausstehende Vereinigung setzt Hegel sich zur Aufgabe.

Für den, der noch einen historischen Hinweis und eine Stellungnahme bezüglich der — philosophisch allerdings unerheblichen — Streitfrage erwartet, ob nun Hegel hier noch ganz ScHELLiNGianer sei oder nicht mögen neben der eindeutigen Lösung dieser Frage durch die gedankliche

« Ebd. 412 Z. 23 — 413 Z. 7 = SW 1. 431 f. ** „Die Idee selbst ist bei Schelling herauszuheben, daß das Wahre das Konkrete ist, die Einheit des Objektiven und Subjektiven. Jede Stufe hat im System ihre eigene Form; die letzte ist die Totalität der Formen." (Hegel: SW 19. 682). „Der Mangel ist, daß diese Idee überhaupt, und dann die Bestimmung dieser Idee, die Totalität dieser Bestimmungen (welche ideelle und natürliche Welt giebt) nicht als durch den Begriff in sich nothwendig gezeigt und entwickelt sind. Es fehlt dieser Form die Entwickelung, die das Logische ist, und die Nothwendigkeit des Fortgangs. Die Idee ist die Wahrheit, und alles Wahre ist Idee; das muß bewiesen werden, und die Systematisirung der Idee zur Welt als nothwendige Enthüllung, Offenbarung muß gezeigt werden." (Ebd. 683). « S. o. S. 10.

4. Das Wissen

109

Entwicklung diese geschichtsphilosophisch interpretierten Aussagen ein deutlicher Hinweis sein. Wenn unsere Deutung in diesem Exkurs zutrifft, in der wir in weitem Umkreis von der synoptischen Methode Gebrauch gemacht haben, so lassen sich an ihr zwei Thesen, eine historische und eine geschichtsphilosophische, ablesen: 1. Hegel hat schon hier in seiner ersten Druckschrift einen Systemplan vor Augen, wie er ihn später ausführen wird: die Idee, die sich in Natur und Geist konkretisiert, in der hier verwendeten Terminologie: die Vernunft, die über die objektive Unendlichkeit und deren Negation, die subjektive Unendlichkeit, zu sich selbst findet. Diese systematische Konzeption, hier nur rahmenhaft angedeutet, wird unten noch näher zu untersuchen sein. 2. Was Hegel hier entwickelt, ist ein geschichtsphilosophisches Gesetz, eine Ausführung dessen also, was wir oben unter dem Titel „Notwendigkeitsthese" auftreten sahen. Die Entwicklung der Methode selbst ist nichts anderes als die begriffliche Entfaltung der Grundthese über das konkrete Auftreten von Philosophie. Die Frage nach dem Wesen der Philosophie hat das erste Moment ihrer Beantwortung, nämlich ihr Erscheinen, in ihrem zweiten Moment, der Methode, aufgehoben. II.1.4.

Das Wissen

Von den bisher gewonnenen Einsichten muß nun in der weiteren Bestiiirmung der Reflexion als des Mittels des Philosophierens sinnvoll Gebrauch gemacht werden. In Frage steht immer noch die Aussage, die Reflexion sei das und schlechthin das Instrument des Philosophierens, — also die Reflexion als Spekulation. Was aber soll Reflexion, wenn sie vom Philosophieren als Instrument angesetzt wird? Das Ziel, auf das hin Reflexion sich selbst vernichtet, ist das Wissen. Wissen ist formal bestimmt als „bewußte Identität des Endlichen und der Unendlichkeit", „Vereinigung . . . der sinnlichen und der intellektuellen, der nothwendigen und der freyen [seil.: Welt], im Bewußtseyn" „Die Reflexion als Vermögen des Endlichen, und das ihr entgegengesetzte Unendliche sind in der Vernunft synthetisirt, deren Unendlichkeit das Endliche in sich faßt." « S. u. S. 211. S. o. S. 92. “ GW 4. 18 2. 8 ff = SW 1. 52 = Diff. 19. 52 GW 4. 18 Z. 10 ff = SW 1. 52 = Diff. 19.

110

II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

Was aber meinen diese formalen Bestimmungen? — Reflexion in ihrem Geschäfte als Spekulation ist, so sagten wir, gerichtete Umkehr, die ihren eigenen Widerspruch, eben den, gerichtete Umkehr zu sein, erkennt und damit aufhebt, wodurch sie auch sich selbst aufhebt, und zwar genau dann, weim sie als das endliche Denken des Endlichen in ihrem Verendlichen, d. h. Beschränken und Entgegensetzen des Unendlichen ihrer eigenen Aufgabe, des Pro- bzw. Regresses, sich bewußt wird. Das endliche Reflektieren reflektiert damit das Unendliche, d. h. das von ihm sich selbst Entgegengesetzte; das objektiv Unendliche seiner unendlichen Tätigkeit wird in der gerichteten Umkehr eingebracht in das Endliche, in das als es selbst von sich Gesetzte. Die Reflexion muß, um diesen ihren eigenen Widerspruch aufheben zu können, sich selbst, und das heißt: das Gesetz, nach dem sie angetreten, das Gesetz des Widerspruchs, aufheben. Sie selbst wird zum unendlichen Denken, der Spekulation. „Insofern die Reflexion sich selbst zu ihrem Gegenstand macht, ist ihr höchstes Gesetz, das ihr von der Vernunft gegeben und wodurch sie zur Vernunft wird, ihre Vernichtung; sie besteht, wie Alles, nur im Absoluten, aber als Reflexion ist sie ihm entgegengesetzt; um also zu bestehen, muß sie sich das Gesetz der Selbstzerstörung geben. Das immanente Gesetz, wodurch sie sich aus eigner Kraft als absolut konstituirte, wäre das Gesetz des Widerspruchs; nemlich daß ihr Gesetztseyn sey und bleibe; sie fixirte hierdurch ihre Produkte als absolut entgegengesetzte dem Absoluten, machte es sich zum ewigen Gesetz, Verstand zu bleiben und nicht Vernunft zu werden, und an ihrem Werk das in Entgegensetzung zum Absoluten Nichts ist, — und als beschränktes ist es dem Absoluten entgegengesetzt, — festzuhalten." Der Übergang von der Reflexion in die Spekulation ist nur möglich, indem die Reflexion, sich als theoretische vernichtend, praktische Vernunft wird. Die Reflexion, die in sich ihre Möglichkeit einer Kausalität durch Freiheit erkennt, ist Praxis. Der als Notwendigkeit eingesehene Zufall des Entgegengesetzten ist als selbstgesetzt erkannt und damit in Freiheit gesetzt. Identität von Endlichem und Unendlichem, sinnlicher und intellektueller, notwendiger und freier Welt ist das Absolute, die Einheit von Theorie und Praxis. Durch die Einsicht der Reflexion, daß sie selbst nicht ein außerhalb stehender Beobachter einer in ihrem An-sich unerkennbaren anderen Sphäre, sondern selbst Teil dieses ganzen FreiheitNotwendigkeit-Bezuges, genannt „das Absolute" oder „die absolute Totalität", ist, ist die absolute Totalität selbst erkannt, d. h. fürs Bewußtsein 53 GW 4.18 Z. 13 ff = SW 1. 52 f = Diff. 19.

4. Das Wissen

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produziert worden; Bewußtes und Bewußtloses des von der Reflexion sich selbst entgegengesetzten „Woraufhin" ihres Gerichtetseins wird als Identisches bewußt dadurch, daß es als „Woher" der Umkehr der Reflexion, als in dieser schon vorausgesetztes in sie wieder eingebracht wird. Reflexion und vorausgesetztes als Ergebnis ihres Tuns wieder Eingebrachtes sind identisch, wenn sich die Reflexion auf sich selbst richtet; das Bewußtsein, Resultat des Immer-auf-sich-zurückkehrens der Reflexion wird zum Selbstbewußtsein, da die Reflexion als Akt der Begriffsbildung so ihren eigenen Begriff bildet. Das ist gemeint mit der Rede von der Selbstvernichtung der Reflexion als ihrer letzten und einzigen Wahrheit: Reflexion erkennt sich als endliche und das von ihr sich entgegengesetzte Unendliche als beschränkte Teile der Unendlichkeit der Vernunft. Indem Reflexion in ihrem Selbstbewußtsein um ihre Relativität weiß, weiß sie auch um das Absolute, ist ihre Tat ein Wissen. „Nur insofern die Reflexion Beziehung aufs Absolute hat, ist sie Vernunft, und ihre That ein Wissen; durch diese Beziehung vergeht aber ihr Werk, und nur die Beziehung besteht, und ist die einzige Realität der Erkenntniß; es gibt deßwegen keine Wahrheit der isolirten Reflexion, des reinen Denkens, als die ihres Vernichtens." Reflexion ist als Instrument des Philosophierens zweckrational eingesetzt zur Verwirklichung des angestrebten Zieles: Konstruktion des Absoluten fürs Bewußtsein, d. h. aber: Produktion des Wissens. Als solche, zweckrational bestimmte zielt Reflexion immer schon auf ihre eigene Vernichtung, ihre Aufhebung in ein Moment des Ganzen; Reflexion, somit formale Seite der Spekulation, d. h. Tätigkeit des noch nicht zu sich gekommenen Verstandes, der aber in seiner Tätigkeit zu sich kommen mn/?, ist der Widerspruch selbst. Nur durch Ansetzung des Widerspruches selbst kann es überhaupt gelingen, ihn aufzuheben. Somit ist Reflexion, wie sich auch aus der geschichtlichen Konkretion in unserem Exkurs zeigte, gesetzesartig das notwendig einzige Mittel des Philosophierens. Der trivial anmutende Satz, Philosophieren sei nur möglich unter der Bedingung des Denkens, erhält so eine ganz andere Tiefe: Spekulation ist notwendig verbunden mit der „Anstrengung des Begriffs" — enaYcoYT) zur „unio mystica" ist allein die Reflexion und nicht “ GW 4. 19 Z. 19 ff = SfV 54 = Diff. 20 f. “ In der Phänomenologie des Geistes führt Hegel aus: „Worauf es deswegen bei dem Studium der Wissenschaft ankommt, ist, die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen." (SW 2. 54). Diese ist nämlich als „deificatio" schon seit Augustin das in der Spekulation (s. o. Anm. 20) angestrebte Ziel.

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II.

DIE METHODE.

1. Reflexion als Spekulation

eine gleichsam ,^deus ex machina"-ähnliche Wesensschau, die sich selbst macht. Aber das gefundene Absolute ist nun nicht das Absolute schlechthin, es ist — und auch dies ist Resultat der Selbstvernichtung der Reflexion — von der Reflexion für das Bewußtsein hervorgebracht, produziert; es ist damit Wissen, absolutes Wissen zwar, aber doch Wissen, d. h. gewußte und damit objektive Totalität, in der zwar die Reflexion auch aufgehoben ist, aber ebenfalls als gewußte. Und dies ist nun in der Tat eine zentrale These: Die Vernunft und nicht etwa Materie oder Ich ist Erscheinung des Absoluten. Das Absolute, das immer nur gefaßt wird von seiner Erscheinung in seiner Erscheinung, ist immer und wesentlich gewußtes. So erklärt sich auch das, was man Hegel als seinen „Geistes-monismus" vorgeworfen oder als diesen an ihm gerühmt hat „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig" das ist unsere These, das Absolute sei als gewußtes eine objektive Totalität, in reiferer Hegelscher Fassung und apodiktisch ausgesprochen. Es ist die einfache Weiterentwicklung des Gedankens, Reflexion sei das Instrument des Philosophierens: Etwas ist immer ein als etwas gedachtes Etwas. Die unwiderlegbare Wahrheit des immer intentionalen Denkens, wie man es später genannt hat ®®, zeigt eindeutig seine Vorrangigkeit gegenüber jedem verkürzten Materialismus. „Aber das Absolute, weil es im Philosophiren von der Reflexion fürs Bewußtseyn producirt wird, wird hierdurch eine objektive Totalität, ein Ganzes von Wissen, eine Organisation von Erkenntnissen; in dieser Organisation ist jeder Theil zugleich das Ganze, denn er besteht als Beziehung auf das Absolute; als Theil, der andre außer sich hat, ist er ein Beschränktes und nur durch die andern; isolirt als Beschränkung ist er mangelhaft, Sinn und Bedeutung hat er nur durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen. Es kann deßwegen nicht von einzelnen Begriffen für sich, einzelnen Erkenntnissen, als einem Wissen die Rede seyn. Es kann eine Menge einzelner empirischer Kenntnisse geben; als Wissen der Erfahrung zeigen sie ihre Rechtfertigung in der Erfahrung auf, d. h. in der Identität des Begriffs und des Seyns, des Subjekts und Objekts; sie sind eben darum kein wissenschaftliches Wissen, weil sie nur diese Rechtfertigung in einer beschränkten, relativen Identität haben und sich weder als nothwendige Theile eines im Bewußtseyn organisirten Ganzen der Vgl. T. Haering: Hegel. Bd 1. 306 et passim. Hegel: SW 7. 33. Vgl. etwa E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Budi (Husserliana. Bd 3). 203 ff, 168 ff.

5. Der „gesunde Menschenverstand'

113

Erkenntnisse legitimiren, noch die absolute Identität, die Beziehung auf das Absolute in ihnen durch die Spekulation erkannt worden ist." II.1.5.

Reflexion und „gesunder Menschenverstand"

Das Ziel des Philosophierens, zu dessen Erreichung es sich der Reflexion als seines einzigen Mittels bedient und, da sie das einzige Mittel ist, notwendig bedienen muß, ist das Wissen. Einzelne Kenntnisse für sich sind kein Wissen schlechthin, sie sind, wie wir sahen, nur ein sogenanntes „Wissen der Erfahrung" ein Wissen also, das nicht die Beziehung zum Gesamt, der Totalität, selbst herzustellen in der Lage ist, sondern eines anderen, eben der Erfahrung, bedarf. Allein das wissenschaftliche Wissen ist in Wahrheit Wissen, d. h. solches, das nicht zufällig und relativ ist. Wissenschaftliches Wissen als Ziel des die Reflexion benützenden Philosophierens hat seine Rechtfertigung nicht in der beschränkten „Totalität" der Erfahrung, sondern in der absoluten: Seine Teile, wissenschaftliche „Er-kenntnisse", legitimieren sich als „nothwendige Theile eines im Bewußtseyn organisirten Ganzen der Erkenntnisse", eben jener „objektiven Totalität" ®®. Ihre Beziehung aufs Absolute muß durch die Reflexion in ihrem Geschäfte als Spekulation, d. h. durch die ihrer als ihres eigenen Widerspruchs, sich aufheben zu müssen, selbstbewußte Reflexion, erkannt sein. Kenntnisse werden zu Erkenntnis, wenn die sie hervorbringende Reflexion ihre wesentliche Bestimmung, sich im Selbstbewußtsein aufzuheben, erfüllt. Die abstrakte Einzelheit der Kenntnisse wird zur lebendigen und konkreten, sobald die Kenntnisse als einzelne erkannt und bewußt geworden, d. h. in der Allgemeinheit der Totalität als je besondere begriffen sind. Nun weiß aber jedermann vieles, hat viele Gewißheiten, an deren einzelner Wahrheit er nicht mehr zu zweifeln vermag noch auch gewillt ist, die ihm absolut gelten und evident scheinen. Es ist dies so Gewußte all jenes, zu dessen Rechtfertigung die Berufung auf den „sensus communis", den „bon sens", den „common sense" oder den „gesunden [allgemeinen Menschenverstand" hinreicht. Der gesunde Menschenverstand, GW 4.19 Z. 22 ff = SW 1. 54 f = Diff. 21. — Vgl. hierzu A. Hager: Das Hervorgehen des Hegelsdien Systems aus der Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants, Fidites und Sdiellings, dargestellt am Problem der Subjektivität. Diss. Freiburg i. Br. 1956 [Masch. Sehr.]. 73 f. Zur Geschichte des Begriffes „Erfahrung", wie er für Kant und damit für den Deutschen Idealismus bedeutsam wurde, vgl. H. Holzhey: Kants Erfahrungsbegriff. “2 S. u. S. 213 ff. S. o. S. 102.

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II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

oft auch als die allgemeine menschliche Vernünftigkeit angerufen, hat für sich und auf seiner Seite die Sicherheit der unmittelbaren sinnlichen Gewißheit gleichsam vor dem Sündenfall des Denkens, die sich jeder „Vernünftelei" der Reflexion zu erwehren weiß, wie DIOGENES VON SiNOPE die der Reflexion entsprungenen ZENONischen BewegungsparadoDer „gesunde" oder „gemeine Menschenverstand" spielte in der Geschichte der Philosophie schon immer dort eine entscheidende Rolle, wo man sich der „müßigen", oftmals unbequemen Spekulationen der Philosophie erwehren wollte. Bekanntlich blühte in England (Reid, Beattie) und in der Popularaufklärung Deutschlands (Nicolai, Mendelssohn, Krug u. a.) im ausgehenden 18. Jahrhundert die Philosophie des gesunden Menschenverstandes wieder einmal auf, zumal auch Kant selbst dem „gesunden Menschenverstand" einen gewissen Platz in der Philosophie zugestanden und ihn sogar zuweilen als Anfang der Spekulation verstanden hatte (vgl. Prolegomena, kVA 4. 259 f; vgl. auch H. Holzhey: Kants Erfahrungsbegriff. 296 ff). — Hegel hat offenbar für das Problem des „gesunden Menschenverstandes" schon früh ein größeres Interesse gezeigt: H. Glöckner (Hegel. 2. Aufl. Stuttgart 1958. Bd 2 = SW 22. 5 ff) spricht dem jungen Hegel sogar eine gewisse Vorliebe für den „gesunden Menschenverstand" zu. Eines der beiden — leider verloren gegangenen — „Specimina", die er 1790 in Tübingen zum Magisterexamen einreichte, trug den Titel Heber das Urtheil des gemeinen Menschenverstandes über Objectivität und Subjectivität der Vorstellungen. Vgl. hierzu die Erwähnung in dem Magisterprogramm des Tübinger Stiftes vom 21. 9. 1790 (F. Nicolin: Hegel. Leben — Werk — Wirkung. Stuttgart 1970. 66; G. Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. In; Hegel-Studien. 2 (1963), 128; H. Wacker: Das Verhältnis des jungen Hegel zu Kant. Kiel, Berlin 1932. 66). — Als direkte Quelle für dieses Kapitel in der Differenzschrift läßt sich für Hegel vermutlich das Philosophische Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten annehmen, das seit 1795 von Niethammer allein, ab 1796 zusammen mit Fichte herausgegeben wurde und 1800 sein Erscheinen einstellte. Hegel hat das Philosophische Journal — auch wegen der Mitarbeit seines Freundes Schelling an diesem — zumindest in der Berner Zeit nachweislich gelesen (vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1952—60. Bd 1. 25, 29, 33, 37 et passim). In dieser Zeitschrift, und zwar in deren erster Nummer, die Hegel am 30. 8.1795 „alle Tage zu erhalten" hoffte (ebd. 33), erschien einleitend ein Artikel des Herausgebers Niethammer unter dem Titel Von den Ansprüchen des gemeinen Verstandes an die Philosophie. Bestimmte Formulierungen schöpfte Hegel offenbar aus diesem Artikel, sowie auch aus dem ebenfalls 1795 erschienenen Aufsatz A. Feuerbachs d. Ä. Heber die Hnmöglichkeit eines ersten absoluten Grundsatzes der Philosophie (ebd. Bd 2, Heft 4. 306 ff, speziell 307; vgl. auch unten Anm. 73 zu II. 2). Für einige in der Zeit wohl gebräuchliche Formulierungen bei Hegel mag auch dessen Lehrer in Tübingen G. G. Storr (z. B. Bemerkungen über Kants philosophische Religionslehre. Aus dem Lat. Tübingen 1794. 105) die Quelle gewesen sein, was sich jedoch zum großen Teil aus mündlichem Vortrag Storrs erklären lassen wird (zu Hegel als Hörer Storrs 1790—1793 vgl. K. Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben. 25, und F. Nicolin: Hegel. Leben — Werk — Wirkung. 68, auch Hegel selbst in Briefe von und an Hegel. 12). — Zu Hegels späterer Beschäftigung in Jena mit dem Problem des „gesunden Menschenverstandes" vgl. die Hegelsche Rezension der Schriften W. T. Krugs im Kritischen Journal unter dem Titel Wie der gemeine Menschenverstand die Philosophie nehme, — dargestellt an den Werken des Herrn Krug's von 1802 (GW 4. 174 ff = SW 1. 191 ff). — Vgl. auch H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. 2. Aufl. Tübingen 1965. 16 ff; L. Hasler: Gesunder Menschenverstand und Philosophie. In: Hegel-Jahrbuch 1977/78 (Köln 1979), 239-248; W. Ch. Zimmerli: „Schulfüchsische“ und

5. Der „gesunde Menschenverstand"

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xien dadurch widerlegte, daß er sich bewegte. „Es ist bekannt, wie DIOGENES VON SINOPE, der Cyniker, solche Beweise vom Widerspruch der Bewegung ganz einfach widerlegte; —stillschweigend stand er auf, und ging hin und her, — er widerlegte sie durch die That. Aber die Anekdote wird auch so fortgesetzt, daß als ein Schüler mit dieser Widerlegung zufrieden war, DIOGENES ihn prügelte, aus dem Grunde, daß, da der Lehrer mit Gründen gestritten, er ihm auch nur eine Widerlegung mit Gründen gelten lassen dürfe. Ebenso hat man sich nicht mit der sinnlichen Gewißheit zu begnügen, sondern zu begreifen." Das, was der gesunde Menschenverstand weiß, sein unmittelbares „Wissen", das im Sinne obigen Zitates eben nicht begriffen ist, muß seinerseits selbst nun von der Reflexion als dem methodischen Mittel des Philosophierens abgesetzt, das heißt aber: begriffen werden, denn der gesunde Menschenverstand könnte sich der Reflexion schon in ihrem Beginnen widersetzen und so auch den Anfang des Philosophierens verunmöglichen, da er die Evidenz der sinnlichen Gewißheit auf seiner Seite hat. „Auch das Vernünftige, was der sogenannte gesunde Menschenverstand weiß, sind gleichfalls Einzelheiten, aus dem Absoluten ins Bewußtseyn gezogen, lichte Punkte, die für sich aus der Nacht der Totalität sich erheben, mit denen der Mensch sich vernünftig durchs Leben durchhilft; es sind ihm richtige Standpunkte von denen er ausgeht, und zu denen er zurückkehrt." ®® Der gesunde Menschenverstand ist das Vermögen des Entgegensetzens und Fixierens, bevor es in diese Tätigkeit, die bloße Reflexion, eingetreten ist, er ist Ausdruck des Gefühls der absoluten Identität, welches als solches der Zustand ist, der als zum Bewußtsein gebrachter und damit nicht mehr bloß gefühlter zum Teil der sich vernichtenden Reflexion, d. h. der Reflexion in ihrem Geschäfte als Spekulation, wird ®^. Das zu erkennende Absolute oder, wie wir es oben faßten ®®, die sich einsehende Relation selbst ist im gesunden Menschenverstand als noch nicht eingesehene Relation, als Gefühl anwesend. „Aber wirklich hat auch der Mensch nur solches Zutrauen zu ihrer [seil.: der Standpunkte] Wahrheit, weil ihn das Absolute in einem Gefühl dabey begleitet, und dieß ihnen allein die Bedeutung gibt."^^ „handgreifliche" Rationalität - oder: Stehen dunkler Tiefsinn und Common sense im Widerspruch? In: Wandel des Vernunftbegriffs. Hrsg, von H. Poser. Freiburg/München 1981. 137-176. Hegel: SW 17. 330. •• GPV 4. 20 Z. 3 ff = SW 1. 55 = Diff. 21. — Vgl. A. Teuerhadi: Ueber die Unmöglichkeit eines ersten absoluten Grundsatzes der Philosophie. 307. S. u. S. 123. “« S. o. S. 41. GW 4. 20 Z. 8 ff = SW 1. 55 = Diff. 21. — Vgl. F. I. Niethammer: Von den An-

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II.

DIE METHODE. 1.

Reflexion als Spekulation

Tritt der gesunde Menschenverstand in die Reflexion ein, macht er seine einzelnen Kenntnisse absolut und setzt sie so für, das heißt aber: behauptet sie gegen die Reflexion, so hat er „seine Kraft aufgegeben, nemlich seine Aussprüche nur durch die dunkle, als Gefühl vorhandne Totalität zu unterstützen, und allein mit demselben sich der unstäten Reflexion entgegenzustemmen" Für die Reflexion erscheinen, da gefühlte Totalität in ihren Augen nichts ist, die Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes „schief und als Halbwahrheiten" Der gesunde Menschenverstand ist als die Naivität des Noch-nichtreflektierens daher im Bereich der Reflexion und für diese sowohl geschichtlich als auch systematisch und methodisch ein „Anachronismus". Reflektierender gesunder Menschenverstand hat seinen Bereich, den des Gefühls, verlassen, ohne jedoch ganz in den der Reflexion übergehen zu können, da die Reflexion, wie wir sahen, in sich ihren Widerspruch trägt, selbst ihr eigener Widerspruch zu sein, und sich daher auflösen und vernichten muß. Dieses Selbstvernichten, welches die Reflexion teleologisch als Spekulation bestimmt, ist nun das, was zu erfassen der gesunde Menschenverstand nicht in der Lage ist, da ihm ja gerade das Bewußtwerden der absoluten Identität, das die Selbstvernichtung der Reflexion ist, ein ewig Fremdes und ein absolutes Jenseits bleiben muß. Hierin drückt sich nun ein Doppeltes aus: 1. Der gesunde Menschenverstand vermag das Einige nicht als aus Gegensätzlichem Ver-einigtes aufzufassen: Das von ihm gefühlte Absolute und dessen Erscheinung, seine eigenen, ihm unmittelbar gewissen Aussprüche, werden von ihm formal-identisch aufgefaßt. Wahres und Falsches sind ihm nicht Erscheinungen, und das heißt, wie wir obensahen: Formen, des ewig einen und wahren Wesens. Dadurch kann er nicht einsehen, daß das Absolute die sich — auch in seinem eigenen Einsehen — selbst einsehende Relation des Relativen ist. Sprüchen des gemeinen Verstandes an die Philosophie, a. a. O. ™ CW 4. 20 Z. 15 f = SW 1. 56 = Diff. 22. — „Aussprüche des gesunden oder gemeinen Menschenverstandes", zur damaligen Zeit zur Redewendung erstarrte Zusammenstellung (vgl. G. C. Storr: Bemerkungen über Kants philosophische Religionslehre. 105, auch F. I. Niethammer: Von den Ansprüchen des gemeinen Verstandes an die Philosophie. 5 et passim). GW 4. 20 Z. 12 = SW 1. 55 = Diff. 21. ™ Zum Begriff des „Naiven" vgl. F. Schiller: lieber naive und sentimentalische Dichtung (TS 3. 118 ff), wobei sich Schiller auf die Vorarbeiten von M. Mendelssohn, D. Diderot, J. G. Sulzer und vor allem Kant (KdU § 54) stützen konnte. S. o. S. 41 et passim.

5. Der „gesunde Menschenverstand"

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2. Umgekehrt vermag er - und dies ist die andere Seite desselben das Gegensätzliche oder Entgegengesetzte nicht als vereinigtes Entgegengesetztes zu fassen, die Entgegensetzung des Trennens ist ihm absolut. Die von ihm gefühlte Identität der Entgegengesetzten, seine eigentliche Kraft, aus der seine Gewißheit resultiert, eben jene „dunkle, als Gefühl vorhandne Totalität", wird ihm nicht bewußt, da er zwar reflektiert, ohne aber dabei die notwendige Implikation der Reflexion, ihre Selbstvernichtung, vollziehen zu können. „Denn wie für den gesunden Menschenverstand die Identität des Wesens und des Zufälligen seiner Aussprüche absolut ist, und er die Schranken der Erscheinung nicht von dem Absoluten zu trennen vermag, so ist auch dasjenige, was er in seinem Bewußtseyn trennt, absolut entgegengesetzt, und was er als beschränkt erkennt, kann er mit dem Unbeschränkten nicht im Bewußtseyn vereinigen; sie sind wohl in ihm identisch, aber diese Identität ist und bleibt ein Innres, ein Gefühl, ein unerkanntes und ein unausgesprochnes. So wie er an das Beschränkte erinnert und es ins Bewußtseyn gesetzt wird, so ist für dieses, das Unbeschränkte dem Beschränkten absolut entgegengesetzt." Diese zweite Seite des gesunden Menschenverstandes nun ist der Glaube. Glauben ist das Reflexionsverhältnis des gesunden Menschenverstandes zum Absoluten. Glauben ist Für-wahr-halten, welches als solches die unmittelbare Gewissheit des Gefühls mit der Unstetigkeit der Reflexion zu vereinigen sucht. Die sich so ergebende Vereinigung indes ist eine ungenügende: Gesunder Menschenverstand als Gefühl der absoluten Totalität ist das Noch-nicht der Reflexion, welches seine eigene Ungetrenntheit verlassen hat und in die Trennung von Beschränktem und Unbeschränktem, von Subjekt und Objekt, Diesseits und Jenseits übergegangen ist, sobald es zu reflektieren beginnt, ohne jedoch dabei seine auf sein Gefühl sich gründende unmittelbare Gewißheit der Identität aufgeben zu wollen. Das Noch-nicht der Reflexion aber ist das Nicht-mehr der unmittelbaren Gewißheit. „Die unmittelbare Gewißheit des Glaubens, von der, als dem Letzten und Höchsten des Bewußtseyns so viel gesprochen worden ist, ist nichts als die Identität selbst, die Vernunft, die sich aber nicht erkennt, sondern vom Bewußtseyn der Entgegensetzung begleitet ist." Die vollendete und sich vernichtet habende Reflexion aber, die Spekulation, weiß, ist Einsicht in die Relation selbst als erschienene und „ver” GW 4. 21 Z. 3 ff = SW 1. 57 = Diff. 22 f. ” GW 4. 21 Z. 18 ff = SW 1. 57 = Diff. 23. — Hier spielt Hegel offensidctÜdi auf Jacobi an (vgl. etwa Jacobi: WW 4/1. 210 f et passim; O. F. Bollnow: Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis. Stuttgart 1933. Neudruck Stuttgart [usw.] 1966. 85 ff).

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II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

steht deßwegen den gesunden Menschenverstand wohl" sie kennt sein Ungenügen, und in diesem ihrem Kennen liegt ihr Versuch, das Ungenügen des Glaubens zu verbessern, indem sie das Noch-nicht und das Nicht-mehr vollendet. Diese Vollendung stellt sie selbst in ihrer Entwicklung dar: Die unmittelbare, die sinnliche Gewißheit des gesunden Menschenverstandes kann nach dem „Sündenfall des Denkens" nur durch die Selbstvernichtung der Reflexion, die, wie wir es nannten „Revolution der Vernunft", als vermittelte und konkrete Gewißheit der Wahrheit wieder hergestellt werden „Die Totalität ist, in der höchsten Lebendigkeit, nur durch Wiederherstellung aus der höchsten Trennung möglich." Daher muß der gesunde Menschenverstand, dem sich auf die beschriebene Weise Wissen und Glauben trermt, die Spekulation geradezu hassen, denn sie scheint an sein Höchstes und Letztes, das Göttliche, Hand zu legen. Die Spekulation in ihrem Unternehmen, den Glauben als das ungenügende Verhältnis zum Absoluten in der Totalität des Wissens aufzuheben und so an seinen ihm wesentlich zukommenden Ort zu stellen, an dem er seine Berechtigung von eben dieser Totalität des Wissens her hat, wird vom gesunden Menschenverstand bekämpft und als Atheismus verschrien „Aber die Spekulation erhebt die dem gesunden Menschenverstand bewußtlose Identität zum Bewußtseyn, oder sie konstruirt das im Bewußtseyn des gemeinen Verstandes nothwendig entgegengesetzte zur bewußten Identität, und diese Vereinigung des im GlauGW 4. 20 Z. 20 f = SW 1. 56 = Diff. 22. ” S. o. S. 74. Vgl. hierzu auch Schillers „Utopie" der sich durch die Reflexion wieder herstellenden Naivität. „Sie [seil.: die Naiven und das Naive] sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen." (Schiller: TS 3. 119). Vgl. Hölderlin: StA 3. 63, 82, 163, 236 et passim; auch die in ihrer Formulierung zwar irreführenden, aber dasselbe meinenden Ausführungen bei F. I. Niethammer: Von den Ansprüchen des gemeinen Verstandes an die Philosophie. 5. CW 4. 13 Z. 36 — 14 Z. 1 = SW 1. 46 = Di/f. 14. Hier bezieht sich Hegel deutlich auf die beiden Ereignisse, die damals als „Streite" in die Geschichte eingingen; den „Pantheismusstreit", zu dessen Beginn Jacobi laut und vernehmlich verkündet hatte: „Spinozismus ist Atheismus" (WW 4/1. 216, vgl. auch unten S. 150), und den „Atheismusstreit", der besonders die akademische Welt in Jena aufwühlte und 1799 mit der Entlassung Fichtes endete. Vgl. auch die Zusammenstellung Pichte und Porberg: Die philosophischen Schriften zum Atheismusstreite. Leipzig 1910.

5. Der „gesuirde Menschenverstand'

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ben getrennten ist ihm ein Greuel. Weil das Heilige und Göttliche in seinem Bewußtseyn nur als Objekt besteht, so erblikt er in der aufgehobenen Entgegensetzung, in der Identität fürs Bewußtseyn nur Zerstörung des Göttlichen." Zum philosophischen Geschäft, der Kritik in oben ausgeführtem Sinne, ist der gesunde Menschenverstand als ungenügendes Verhältnis zum Absoluten nicht in der Lage. In der wahrhaften Spekulation, welche als aufgehobene Reflexion, d. h. als die sich vollendende Entwicklung des Begriffs, allein Anspruch darauf erheben kann, Philosophie zu sein, kann der gesunde Menschenverstand als das Noch-nicht dessen, dessen Nicht-mehr er in der Philosophie zu beurteilen hat, immer nur Vernichtung, destruktive Negation, sehen, deren Gehalt ihm immer transzendent bleiben muß. Besonders unverständlich erscheinen ihm daher auch alle jenen philosophischen Systeme, die die „Vollständigkeit der Entgegensetzung", die der gesunde Menschenverstand hat, nicht als solche zu vereinigen suchen, sondern dogmatisch eines der Entgegengesetzten zum Prinzip erheben: Die Materie des Materialismus und das Ich des Idealismus sind für ihn nur empirisch-sinnliche Materie, empirisch-sinnliches Ich; das transzendentale Verständnis dieser Begriffe muß ihm völlig abgehen. Die eigentlich „spekulative Tendenz" in diesen Versuchen kann er nicht sehen, die systematisch darin besteht, den Pluralismus niederzuschlagen und als Prinzip das eine Absolute anzusetzen, unter welchem Namen auch immer, — und geschichtlich darin, durch den Dogmatismus die grundsätzliche Entzweiung verschärft und damit das Bewußtsein eines Bedürfnisses nach Vereinigung verstärkt zu haben und, so die „Revolution der Vernunft" ermöglichend, diese einzuleiten. »1 CW 4. 21 Z. 22 ff = SW 1. 57 f = Diff. 23 (s. o. Anm. 80). 82 S. o. S. 64 f. 88 Zu der Entwicklung des Begriffes „Geist" als des Hegelschen „Namens" vgl. H. Dreyer: Der Begriff Geist in der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel. Halle 1907; K. Hallwass: Zur philosophischen Spiegelung des Begriffskomplexes „Geist" in der deutschen Philosophie zwischen 1760 und 1830. Berlin 1952; H.-G. Gadamer: Hegel und der geschichtliche Geist. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. 100 (1940), 25 ff; und natürlich den immer noch großartigen Artikel Geist, für das Grimm'sehe Wörterbuch verfaßt von R. Hildebrand (Neudruck Halle 1926). 8^ „Die Hartnäkkigkeit des gesunden Menschenverstandes sich in der Kraft seiner Trägheit, das Bewußtlose in seiner ursprünglichen Schwere und Entgegensetzung gegen das Bewußtseyn, die Materie gegen die Differenz gesichert zu halten, die das Licht nur darum in sie bringt, um sie in einer hohem Potenz wieder zur Synthese zu konstruiren — erfodert wohl unter nördlichen Klimaten eine längere Zeitperiode, um vor der Hand nur so weit überwunden zu werden, daß die atomistische Materie selbst mannichfaltiger, die Trägheit zunächst durch ein mannichfaltigeres Kombiniren

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II. DIE METHODE. 1. Reflexion als Spekulation

Wir sagten, dem gesunden Menschenverstand als dem durch halbe Annäherung an die Reflexion pervertierten Instinkt des Gefühls könne die Spekulation nur als destruktive Negation erscheinen, als bloße Zerstörung und schlechte Aufhebung. Daß er sie in der Tat nur so verstehen kann, zeigt sich darin, daß er sie haßt. Würde er sie nämlich wahrhaft als Negation in ihrem ganzen Sinne begreifen, so würde sich als diese absolute Negativität die Vernunft erweisen, welche als solche auch ihre eigenen Setzungen aufzuheben, absolut zu negieren, verpflichtet ist, die sich, meint das, in ihrer Tätigkeit, der Spekulation, letztlich selbst als Erscheinung des Absoluten erkennt und dadurch aufhebt. Die Wiederherstellung der Totalität, und das heißt hier: der absoluten Gewißheit, erfolgt ja gerade aus der höchsten Zuspitzung der Gegensätze; die Aufhebung der sinnlichen Gewißheit dient nur ihrer absoluten Rechtfertigung. Gesunder Menschenverstand und seine Negation, die ihrer Entelechie, der eigenen Vernichtung, zustrebende Reflexion als Spekulation, finden sidi vereinigt in der lebendigen Identität des Absoluten, d. h. in der auf den Begriff gebrachten Wirklichkeit. Dies meint aber nichts anderes, als daß die dunkel gefühlte Identität von Theorie und Praxis, das verantwortliche Handeln, oder wie auch immer man die Vereinigung von subjektiver und objektiver Unendlichkeit, von Notwendigkeit und Freiheit, sonst noch neimen mag, als konkrete und rationale Identität nur möglich ist aufgrund des Denkens „Wenn für den gesunden Menschenverstand nur die vernichtende Seite der Spekulation erscheint, so erscheint ihm auch diß Vernichten nicht in seinem ganzen Umfang, wenn er diesen Umfang fassen könnte, so hielte er sie nicht für seine Gegnerin; denn die Spekulation fodert in ihrer höchsten Synthese des Bewußten und Bewußtlosen, auch die Vernichtung des Bewußtseyns selbst, und die Vernunft versenkt damit ihr Reflektiren der absoluten Identität und ihr Wissen und sich selbst in ihren eignen Abgrund, und in dieser Nacht der blossen Reflexion und des und Zersetzen derselben und durch die hiemit erzeugte größere Menge fixer Atomen in eine Bewegung auf ihrem Boden versetzt wird, so daß der Menschenverstand in seinem verständigen Treiben und Wissen sich immer mehr verwirrt, bis er sich fähig macht, die Aufhebung dieser Verwirrung und der Entgegensetzung selbst zu ertragen." (GW 4. 22 Z. 35 — 23 Z. 9 = SW 1. 59 f = Diff. 25.) — Man hört in angeführtem Zitat deutlich die Anklänge an Schellingsche Terminologie und Gedanken (vgl. etwa Sdielling: WW 2. 318 ff = SW 3. 318 ff et passim), verbunden mit der „Klima-Mystik", die sich (s. o. S. 61 f., Anm. 44) mit der zeitgenössischen Naturphilosophie ebenso wie mit der Geschichtsphilosophie und der Theologie paarte. Vgl. oben S, II, Anm. 3. S. o. S. 111. — Vgl. hierzu auch T. W. Adorno: Stichworte. Frankfurt a. M. 1969. 171.

5. Der „gesunde Menschenverstand'

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räsonnirenden Verstandes, die der Mittag des Lebens ist, können sich beyde begegnen." Könnte der gesunde Menschenverstand das Vernichten der Spekulation als die Negativität der Vernunft selbst auffassen, — dann.... Aber eben darin liegt sein Unvermögen; würde ihm nämlich das Vernichten der Spekulation in seinem ganzen Umfang erscheinen, dann wäre er nicht mehr gesunder Menschenverstand, sondern schon die in die Entgegensetzung, in den radikalen Zweifel, damit in die Preisgabe der sinnlichen Gewissheit eingegangene Reflexion, die notwendig, wie wir zeigten, auf dem Wege zu ihrer Selbstvernichtung ist und damit Spekulation wird. Genauer: Er selbst wäre schon Spekulation, denn nur die Einsicht in die Relation selbst, in die Identität von Absolutem und seiner Erscheinung, kann sich selbst als diese Relation und als in ihr aufgehoben erkennen.

GW 4. 23 Z. 10 ff = SW 1. 60 = Diff. 25. — „Abgrund", „Nacht" und „Mittag" stammen aus dem Vokabular der Mystik und des Pietismus. Vgl. auch Hölderlin: StA 3. 43,145, 205, 217, 225 et passim („Nacht des Abgrunds", „Nacht des Lebens", „Abgrund des Lebens", u. v. a.). Adorno (Drei Studien zu Hegel. Frankfurt a. M. 1957. 108) führt diese Stelle als Beispiel dafür an, daß es — auch schon beim frühen Hegel — darauf ankomme, nicht aus dem einzelnen Wort heraus, sondern aus der „Kenntnis des Hegelschen Gesamtzuges, zumal der Begriffskonstruktion des ganzen Kapitels" zu deuten.

II. DIE METHODE.

122

II.2.

2. Antinomie

Die Antinomie

Jene Grenze, an der Theorie der Notwendigkeit in Theorie der Freiheit übergehen muß, um so sich mit dieser ihrer Entgegensetzung zur absoluten Theorie des Absoluten zu verbinden, ist also der Ort, an dem die Reflexion zu ihrer Wahrheit, ihrer Selbstvernichtung, gelangt. Mit „Reflexion als Spekulation", und das heißt: ,, . . . als Instrument des Philosophirens", ist somit auf eben diesen Grenzpunkt hingewiesen, der als methodisches Prinzip zur Erreichung der im Ausgang nur gefühlten, im Ziel aber bewußten Identität von Theorie und Praxis, die „das Absolute" heißt, entfaltet ist. Dieses methodische Prinzip läßt sich nun so formulieren; Um philosophieren, das heißt aber: um Wirklichkeit begreifen zu können, muß das unmittelbare Verhältnis zur Wirklichkeit verlassen, die Wirklichkeit auf den Begriff gebracht werden. Diese scheinbare Tautologie impliziert aber folgendes: Die Wirklichkeit kann nur auf den Begriff gebracht werden, indem der Akt der Begriffsbildung selbst einsetzt. Der Ansatz dieser Aktivierung liegt im „Funktionskreis instrumentalen Handelns" Die Reflexion als das so aktivierte Instrument des Philosophierens erschöpft sich erst in der Bildung ihres eigenen Begriffs, welche ihre Selbstvernichtung ist. Dies meint den potentiellen Eintritt in den unendlichen Regreß, der nur dadurch vermieden werden kann, daß der Begriff des Aktes der Begriffsbildung, der Reflexion, als der Begriff des Begriffs selbst von ihr erkannt wird. Dies ist der Fall eben dann, wenn das Analysieren als die tätige Reflexion sein eigenes Analysieren zu analysieren hat. Anders gesagt: Der unendliche Regreß kann nur so aufgehoben werden, daß die Reflexion ihn als ihr eigenes Prinzip einsieht. Die Reflexion wird überall und immer, wo sie bis ans Ende vorstoßen will, anstelle dieses festen Endes den unendlichen Regreß finden, — also sich selbst, da sie als Reflexion nach ihrem eigenen Gesetz (welches als Gesetz des Widerspruchs n. b. die „List der Vernunft" darstellt) alles, und das ist: letztlich sich selbst, reflektieren muß. In diesem ihrem letzten Reflektieren auf den unendlichen Regreß erkennt sich die Reflexion als dieser Regreß selbst und ist damit ihr eigenes endli* S. o. S. 21, vgl. auch unten S. 229.

Vorbemerkungen

123

dies, durch sich, den Regreß, begrenztes Selbstbewußtsein. Selbstbewußtsein als Bestimmung der Reflexion ist daher wesentlich unendlicher Regreß. Als selbstbewußtes Endliches aber — und dies ist die nichtaporetische, die weiterführende Seite des Regresses, welcher ja das immanente Stoßen auf die Grenze ist — hört die Reflexion auf, unendlicher Regreß, d. h. Reflexion, zu sein; die Grenze ist als Grenze erkannt und auf das Umgrenzende sowie damit auf die Totalität der Sichbegrenzenden hin überschritten: Die Reflexion wird „überfliegende" Spekulation. Nachdem wir nun gesehen haben, daß Reflexion schlechthin das Mittel des Philosophierens ist und ihre Wahrheit in ihrem qualitativen Umschlag, d. h. im Selbstvernichten, hat, bestimmt sich also unsere Frage nach dem Wesen der Philosophie als ihrer Methode, angegangen in der Frage nach dem Instrument des Philosophierens, der Reflexion, zu der nach deren Wahrheit, d. h. deren qualitativem Umschlag. Es rückt damit die Grenze, an der die Theorie der Notwendigkeit in die der Freiheit übergeht, ins Zentrum unserer Frage. Die so befragte Grenze ist — abstrakt in einem Dasein ^ gesehen — der Punkt, — auf unseren Fall appliziert: der Punkt des qualitativen Umschlags in der abstrakten Entwicklung der Reflexion zur Spekulation. Als dieser Punkt war gesehen worden ® die Antinomie. Unsere Grundfrage nach dem Wesen der Philosophie als nach ihrer Methode konkretisiert sich nun also weiter zu der nach der Antinomie. Antinomie ist sprachlicher Ausdruck und als solcher Form der Erscheinung des Wesens der Philosophie. Unsere konkretisierte Frage nach der Erscheinung des Wesens der Philosophie, welches oben * als identisch mit dem Absoluten erkannt worden war, ist somit zunächst formal, d. h. sie fragt abstrakt nach der Grenze, also nach dem Punkt. Diese erste, bloß formale Konkretion der Frage nach der Reflexion als der Methode, als die sich das Wesen der Philosophie erwiesen hatte, entspricht jener zweiten Seite unserer Aufgabe in dieser Frage, welche zweite Seite wir als Aufgabenstellung so faßten: die Ergebnisse des reflektierenden Denkens auf den in ihnen sich zeigenden „Grundtypus" hin zusammenzufassen ®. Diesem ersten Konkretionsansatz in der Frage nach der Grenze, der nur ihre Form betrifft, wird ein zweiter Ansatz zu folgen haben, der als selbst konkreter die konkrete Grenze erfaßt und somit die Wahrheit der Reflexion „in concreto" ist. • 3 ^ =

Hegel: SW 4.146. S. o. S. 103. S. o. S. 51 ff. S. o. S. 94.

124

II.

DIE METHODE.

2. Antinomie

in dem sich also auch die Frage nach der Methode so konkretisiert, daß sie als die nach dem Wesen der Philosophie evident wird. II.2.1.

Exkurs: Die Antinomie bei

KANT

Um nun der Grenze der Reflexion in ihrer abstrakten Bestimmung als dem Punkt ihrer Selbstvernichtung, der Antinomie, näherzukommen, ist es angebracht, den Begriff „Antinomie" an seinem genuinen Ort aufzusuchen, der uns in der KANiischen Philosophie, genauer: in der Kritik der reinen Vernunft, gegeben ist. Wir werden uns jedoch, da es sich hierbei um einen Exkurs handelt, der nichts weiter als gleichsam das Rüstzeug zum weiteren Vorgehen bereitzustellen hat, knapp fassen und die Antinomie nur nach Maßgabe ihrer Relevanz für Hegel betrachten müssen, um nicht der Gefahr zu erliegen, uns vollends in den Fallstricken der „Transzendentalen Dialektik" zu verfangen und so das Ziel unserer Untersuchungen aus dem Auge zu verlieren. KANT führt die Antiomie, entsprechend seiner logisch-analogisch verfahrenden Einteilung der „Transzendentalen Dialektik" nach den formalen Arten der Vernunftschlüsse, als zweite Gruppe dialektischer Schlüsse nach den Paralogismen und vor dem Ideal der reinen Vernunft ein. „Die zweite Art des dialektischen Arguments wird also, nach der Analogie mit hypothetischen Vernunftschlüssen, die unbedingte Einheit der objectiven Bedingungen in der Erscheinung zu ihrem Inhalte machen." ® „Hier [seil.: in der Anwendung der Vernunft auf die objektive Synthesis der Erscheinungen] zeigt sich nämlich ein neues Phänomen der menschlichen Vernunft, nämlich: eine ganz natürliche Antithetik, auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen braucht, sondern in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich geräth und dadurch zwar vor dem Schlummer einer eingebildeten Überzeugung, den ein bloß einseitiger Schein hervorbringt, verwahrt, aber zugleich in Versuchung gebracht wird, sich entweder einer sceptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegentheils Gehör und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Beides ist der Tod einer gesunden Philosophie, wiewohl jener allenfalls noch die Euthanasie der reinen Vernunft genannt werden könnte." ^ • Kant: KdrV A 406 = B 433. ’’ Ebd. A. 407 = B 433 f.

1. Exkurs zu Kant

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Die „natürlidie Antithetik" oder der „Widerstreit . . ., der nicht vermieden werden kaim, man mag es anfangen wie man will" spielt sich nach KANT im Rahmen des vorgegebenen Kategorienbereiches ab, diesen jedoch nicht völlig ausmessend, sondern nur in einigen zu Ideen gesteigerten Kategorien. „Also werden erstlich die transscendentalen Ideen eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien sein, und jene werden sich in eine Tafel bringen lassen, die nach den Titeln der letzteren angeordnet ist. Zweitens aber werden doch auch nicht alle Kategorien dazu taugen, sondern nur diejenige, in welchen die Synthesis eine Reihe ausmacht, und zwar der einander untergeordneten (nicht beigeordneten) Bedingungen zu einem Bedingten. Die absolute Totalität wird von der Vernunft nur so fern gefordert, als sie die aufsteigende Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten angeht, mithin nicht, wenn von der absteigenden Linie der Folgen, noch auch von dem Aggregat coordinirter Bedingungen zu diesen Folgen die Rede ist." ® Nach diesem Einteilungs- und Auswahlprinzip gelangt KANT bekanntlich zu der Auffassung, es gebe vier und nur vier Antinomien der reinen Vernunft. „Es sind demnach nicht mehr als vier kosmologische Ideen nach den vier Titeln der Kategorien, wenn man diejenigen aushebt, welche eine Reihe in der Synthesis des Mannigfaltigen nothwendig bei sich führen." Wir wissen nun aber, daß Hegel auf diese spezifische Ableitung der Antinomien durch KANT nie viel Wert gelegt, ja, ihre Wichtigkeit sogar energisch bestritten hat. In der Seinslogik führt er aus: „Zunächst bemerke ich, daß KANT seinen vier kosmologischen Antinomien durch das Eintheilungsprincip, das er von seinem Schema der Kategorien hernahm, einen Schein von Vollständigkeit geben wollte. Allein die tiefere Einsicht in die antinomische oder wahrhafter in die dialektische Natur der Vernunft zeigt überhaupt jeden Begriff als Einheit entgegengesetzter Momente auf, denen man also die Form antinomischer Behauptungen geben könnte. Werden, Daseyn u. s. f. und jeder andere Begriff könnte so seine besondere Antinomie liefern, und also so viele Antinomien aufgestellt werden, als sich Begriffe ergeben." In anderer Hinsicht jedoch mißt er den Antinomien selbst offensichtlich große Bedeutung zu, wie eine Stelle aus demselben Zusammenhang belegen mag: „Diese KANTischen Antinomien bleiben immer ein wichtiger Theil der kritischen « Ebd. A. 422 = B 450. » Ebd. A 409 £ = B 436. Ebd. A 415 = B 422. ” Hegel: SW 4.. 227.

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II. DIE METHODE. 2. Antinomie

Philosophie; sie sind es vornehmlidi, die den Sturz der vorhergehenden Metaphysik bewirkten, und als ein Hauptübergang in die neuere Philosophie angesehen werden können, indem sie insbesondere die Überzeugung von der Nichtigkeit der Kategorien der Endlichkeit von Seite des Inhalts herbeiführen halfen." Zitierte Stellungnahme aus der Seinslogik kann uns als methodischer Hinweis dienen: Die Darstellung der Antinomie bei KANT ist „sehr unvollkommen" das Antinomische selbst, nicht die bestimmte Antinomie, ist es, was bei KANT Hegels Interesse und Beifall hervorruft. Ebensowenig wie die Darstellung der Antinomien kann uns auch ihre Auflösung durch KANT dem Hegelschen Antinomieverständnis näherbringen, denn auch diese ist — nach Hegel — im höchsten Maße unbefriedigend. „Die kritische Auflösung nämlich durch die sogenannte transcendentale Idealität der Welt der Wahrnehmung hat kein anderes Resultat, als daß sie den sogenannten Widerstreit zu etwas Subjektivem macht, worin er freilich noch immer derselbe Schein, d. h. so unaufgelöst bleibt als vorher." Soll unser Exkurs also für unsere Intention fruchtbar und sinnvoll werden, so haben wir uns allein an die grundsätzliche Bestimmung der Antinomie durch KANT ZU halten, unbeschadet dessen, daß wir vielleicht KANT damit Unrecht tun. Die Antinomie — dies ist die prinzipielle Aussage KANTS — ist der notwendige „Widerstreit der Gesetze der reinen Vernunft" Da dieser 12 Ebd. 226. *2 „Bei ihrem großen Verdienst aber ist diese Darstellung sehr unvollkommen; Theils in sich selbst gehindert und verschroben, Theils schief in Ansehung ihres Resultats, welches voraussetzt, daß das Erkennen keine anderen Formen des Denkens habe, als endliche Kategorien." (Ebd. 227). — Zu der verschiedenen Deutung der Antinomien bei Kant und Hegel vgl. auch die, wenn auch nur sehr knappe (24 S.) Arbeit von C. Stommel: Die Differenz Kants und Hegels in Bezug auf die Erklärung der Antinomien. Halle — Wittenberg 1876. — Zu erwähnen ist noch H. Glöckners Metakritik an Hegels Antinomiekritik und -lösung (Hegel. Bd 2. 128, 214 f, 220 f et passim). Glöckners Grundgedanke, den er in vielfältiger Form äußert, auf den er sogar eine neue Philosophie aufbauen möchte, scheint uns indessen nicht sehr weit zu führen, obwohl er bis auf den heutigen Tag immer wieder von den verschiedensten Autoren aufgewärmt wird (neuestens wieder von W. Becker: Hegels Begriff der Dialektik und das Prinzip des Idealismus. Stuttgart [usw.] 1969). Glöckner behauptet nämlich, Hegel begehe den verhängnisvollen Fehler einer Verwechslung von Unterschied und Gegensatz, von „Heterothesis" und „Antithesis", oder auch schlicht von konträrem und kontradiktorischem Gegensatz, und verfalle gerade dadurch dem Panlogismus. Damit verfällt Glöckner selbst aber in den Fehler, das schon vorauszusetzen, was doch erst gewonnen werden soll. Es geht Hegel ja gerade darum aufzuweisen, daß hinter jedem Unterschied ein Gegensatz steht, sofern er soll gedacht werden können. “ Hegel: SW 4. 228. f^ant: KdrV A 407 = B 434.

1. Exkurs zu Kant

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Widerstreit notwendig und nicht etwa bloße Sophistikation ist, muß angegeben werden können, warum er auf treten muß. „Eine solche dialektische Lehre [seil.: der reinen Vernunft] wird sich nicht auf die Verstandeseinheit in Erfahrungsbegriffen, sondern auf die Vernunfteinheit in bloßen Ideen beziehen, deren Bedingungen, da sie erstlich als Synthesis nach Regeln dem Verstände und doch zugleich als absolute Einheit derselben der Vernunft congruiren soll, wenn sie der Vernunfteinheit adäquat ist, für den Verstand zu groß und, wenn sie dem Verstände angemessen, für die Vernunft zu klein sein werden; woraus denn ein Widerstreit entspringen muß, der nicht vermieden werden kann, man mag es anfangen, wie man will." Was kann das nun heißen? — Bekanntlich eröffnet KANT seine transzendentale Dialektik, die Logik des Scheins, mit Erörterungen über die Vernunft, und zwar, da es sich ja um die transzendentale Dialektik handelt, im besonderen über deren reinen Gebrauch. Als Prinzip der Vernunft in ihrem reinen Gebrauch wird dort (in Analogie zu ihrem logischen Gebrauch) angegeben, sie habe „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden" wobei angenommen werden muß, „wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben" In den Antinomien als Vernunftschlüssen, in denen das Unbedingte (die Einheit der Totalität) auf die bedingte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bezogen ist, ergibt sich also ein Widerstreit zwischen Mannigfaltigkeit und Endlichkeit der Verstandeserkenntnis auf der einen und Einheit und Unendlichkeit des Vernunftprinzips auf der anderen Seite, d. h. es läßt sich entweder ein Schluß ziehen, der das Bestreben der Vernunft nach dem Unbedingten mit der Mannigfaltigkeit des Bedingten des Verstandes so vereinigt, daß das Unbedingte vom Bedingten, oder daß umgekehrt das Bedingte vom Unbedingten bedingt wird. Im ersten Falle ist die Bedingung, anders: das Bedingt-sein, des Bedingten für die Vernunft zu „klein", im zweiten für den Verstand zu „groß", um als Bedingung aufgefaßt werden zu können Bei genauerem Zusehen zeigt sich jedoch, daß die Bezugspunkte des Ungenügens der Bedingung austauschbar sind. Wollen wir in der von KANT vorgelegten Quantifizierung des Zureichens von Bedingungen bleiben, so ist ebenso das erste Bedingungsverhältnis, daß die vollständige “ Ebd. A 422 = B 450. ” Ebd. A 307 = B 364. Ebd. A 307 f = B 364. Vgl. ebd. A 422 = B 450. — S. o. S. 125.

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II. DIE METHODE. 2. Antinomie

Reihe des Bedingten das Unbedingte bedinge^ für den Verstand zu „groß" — er fällt dabei in den unendlichen Regreß — wie auch das zweite, daß nämlich das Unbedingte das Bedingte bedinge, für die Vernunft zu „klein", denn das Bedingtsein des Bedingten durch das Unbedingte drückt das Unbedingte als in Beziehung zum Bedingten stehend, d. h. als nur einseitig Unbedingtes aus: Wenn das Unbedingte verstanden ist als das Bedingende des Bedingten, so ist es damit etwas anderes als das Bedingte, es ist nicht wahrhaft Unbedingtes, sondern zugleich vom Bedingten Bedingtes, denn das Bedingende ist nur in seinem Bedingen, — ohne Bedingtes also kein Unbedingtes. Die Antonimie ist mithin das immer für den Verstand zu „Große", den Verstand Überschreitende, und zugleich das für die Vernunft, da es, indem es für den Verstand ist, nicht vernünftig sein kann, „zu Kleine". Demnach haben wir es in den Antinomien mit einem doppelten Widerstreit zu tun, nämlich einerseits nüt ihrem „Weder — noch" als ihrem Zwischen-Verstand-und-Vernunft-stehen, das sich in jedem der beiden einander antinomisch gegenüberstehenden Schlüsse äußert, und dem sich so antinomisch Gegenüber-stehen selbst andererseits, welches Ausdruck der sich widersprechenden Richtung des immer nur einsinnig zu reflektierenden Bedingens ist. Darin deutet sich nun aber bereits die Möglichkeit einer — von der KANTischen differenten — Lösung der Antinomie selbst an. Es handelt sich ja, wie wir sahen, bei der Antinomie um einen Widerstreit von Verstand und Vernunft, der darum entsteht, weil die Vernunft den Verstand in sich faßt wobei das In-sich-fassen einsinnig verstanden bleiben muß, weil vom Verstand aus zur Vernunft und von dieser zurück in zwei Schritten gegangen wird. Gerichtete Umkehr in diesem Sinne ist das Auszeichnende der Reflexion. Verstand wie Vernunft werden von der Reflexion, d. h. aber: von der Tätigkeit des Verstandes, in ihrer Beziehung betrachtet. Verständig betrachtet, ist die Vernunft in der Tat das absolute Jenseits des Verstandes, der dialektische Schein des Widerspruchs muß daher notwendig sein und bleiben. Die Beziehung zwischen Verstand und Vernunft faßten wir oben so, daß die Vernunft der zu sich gekommene Verstand sei. Das heißt für uns: Wenn sich zwischen Verstand und Vernunft ein Widerstreit, ein Kampf ergibt, so nur deshalb, weil Verstand und Vernunft hier absolut entgegengesetzt, d. h. verständig, gefaßt werden. Die Antinomie — und das ist der Weg zu Vgl. etwa ebd. A 302 = B 359. S. o. S. 75. 22 S. o. S. 69. - Vgl. auch Kant; KdrV A 422 f = B 450 f.

2, Formales Prinzip der Philosophie

129

ihrer Aufhebung — ist, in der Beziehung zwischen Verstand und Vernunft gedacht, der Widerspruch des Verstandes als bloßen Verstandes mit sich als von der Vernunft geleitetem. Dieser Selbstwiderspruch des Verstandes zeigte sich uns als kulminierend im unendlichen Regreß Erkennt der Verstand sich als Selbstwiderspruch, so steht er nicht mehr als einsinnig verständige Vernunft in der Antinomie, sondern die Antinomie in ihm, wodurch sie aufgelöst, d. h. aufgehoben ist. — Dann könnte sich auch zeigen, daß die doppelte Widersprüchlichkeit der Antinomie in Wahrheit die Selbstaufhebung des Widerspruches in ihrer äußeren Erscheinung ist. Dies ist es auch, was Hegel an der beigezogenen Stelle der Seinslogik als die Auflösung der Antinomie im Auge hat, wenn er sagt: „Ihre [seil.: der Antinomie] wahrhafte Auflösung kann nur darin bestehen, daß zwei Bestimmungen, indem sie entgegengesetzt und einem und demselben Begriffe nothwendig sind, nicht in ihrer Einseitigkeit, jede für sich, gelten können, sondern daß sie ihre Wahrheit nur in ihrem Aufgehobenseyn, in der Einheit ihres Begriffes haben." So ist als Bestimmung der Antinomie im folgenden festzuhalten, sie sei Ausdruck des Widerstreits von Bedingtem des bloßen Verstandes und dem von ihm als der verständigen Vernunft diesem entgegengesetzten Unbedingten. Sie erscheint in Form zweier sich widersprechender Sätze, deren jeder für sich wahr, und das heißt: innerhalb des verständigen Regredierens beweisbar, ist. II.2.2.

Die Antinomie als das formale Prinzip der Philosophie

Die Grenze der Reflexion, auf die sie bei ihrem eigenen Reflektieren ihrer selbst stößt, ist sie selbst in ihrer eigenen Endlichkeit und Bedingtheit. Im Denken ihres eigenen „Nicht", der Negation, d. h. des Unendlichen und Unbedingten, gerät sie in eine Aporie, in ihr notwendig regreßhaftes Selbstbewußtsein. Diese Aporie, als Scheitern verstanden, wäre notwendig die absolute Grenze des Denkens überhaupt, allerdings durch ihre Absolutheit als solche niemals erfahrbar, wenn sich das Reflektieren bei seinem Selbstbewußt-werden immer noch selbst als absolut verstehen könnte. Aber die Selbstvernichtung der Reflexion besteht gerade darin, daß sie von Anfang das Absolute sucht, sie ist immer schon unterwegs zu sich, d. h. (in ihren eigenen Begriffen) sie setzt 23 s. o. S. 75. “ Hegel: SW 4. 228.

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II.

DIE METHODE.

2. Antinomie

das Absolute notwendig als Ziel voraus Das bedeutet aber, daß sie, indem sie sich selbst, die sie sich doch als absolut durch das Gesetz des Widerspruchs, nämlich „daß ihr Gesetztseyn sey und bleibe" konstituierte, nun als begrenzt, damit aber eben als nicht absolut sondern relativ zu dem sie Begrenzenden, erkennt, d. h. sich als des Regresses selbst-bewußt ist, auf der Suche nach dem Absoluten ebenso notwendig über sich selbst hinausgetrieben wird, dadurch aber, da ihre Grenze, sie selbst nämlich, ihre Grenze bleibt, über die sie nicht hinaus kann, sich selbst aufheben und zu einem anderen werden muß Der Punkt dieses Umschlages, die Grenze — abstrakt betrachtet —, ist die Antinomie, das, wie wir sagten, Sich-widersprechen von Verstand als noch endlichem und seinem sich von sich als noch nicht unendlichem Entgegengesetzten, worin sich das Stehen im Punkt als das quantitative „Noch" und „Noch-nicht" zeigt. Sehen wir uns nun daraufhin den Punkt dieses interessanten Umschlages, des Wahrwerdens der Reflexion, genauer an. Die Reflexion bringt als Reflexion Begriffe hervor, sie hatte sich ja erwiesen als Akt der Begriffsbildung. Als Begriffsbildung aber ist die Reflexion bereits subsumierend tätig, sie bringt das je Einzelne, auf das als besonderes sie sich in ihrer Umkehr richtet, als Allgemeines wieder ein, d. h. sie subsumiert das Besondere unter das Allgemeine. Die Reflexion ist somit — KANxisch gesprochen — im gleichen Tätigkeit des Verstandes und der (allerdings reflektierenden) Urteilskraft. Begriffsbildung kann mithin — logisch gesehen — nur als immer auch zugleich Urteilen verstanden werden. Anders gesagt: Unter dem Zugriff der Reflexion erscheint der Begriff immer nur als ge-urteilter, in Subjekt und Objekt zertrennter, als Satz. Die einfachste Ur-teilung eines Begriffes ist die, in der er unter sich selbst subsumiert wird, die Tautologie oder der Satz der Identität, formal gesagt: „A = A". Die bloße Reflexion nun, die in ihrer gerichteten Umkehr nur auf anderes, vermeintlich Fremdes geht, sieht hierin nur die reine Gleichheit, das „ = ", die gegebene Selbstübereinstimmung des

S. o. S. 84 ff. 2» CW 4. 18 Z. 18 ff = SW 1. 52 == Diff. 19. 27 S. u. S. 171 ff. 2» S. o. S. 97. 22 Vgl. hierzu und im folgenden auch die Wendung „ge-urtheilt" bei Hölderlin, vermutlich auf dem Deckblatt seines Fichte-Vorlesungsexemplars notiert, von Beißner unter dem Titel Urtheil und Seyn publiziert: StA 4. 216 f.

2. Formales Prinzip der Philosophie

131

A" 30 YQJ^ ihrer eigenen Tätigkeit, dem Teilen des Urteilens, aber abstrahiert sie dadurch, denn sonst müßte sie die Ungleichheit des Geteilten im Satz der Identität ausgesagt finden. „In A = A, als dem Satze der Identität wird reflektirt auf das Bezogenseyn; und diß Beziehen, diß Einsseyn, die Gleichheit ist in dieser reinen Identät enthalten; es wird von aller Ungleichheit abstrahirt; A = A, der Ausdruk des absoluten Denkens, oder der Vernunft, hat für die formale, in verständigen Sätzen sprechende Reflexion nur die Bedeutung der Verstandes-Identität, der reinen Einheit d. h. einer solchen, worin von der Entgegensetzung abstrahirt ist." Reflektiert jedoch die Reflexion auf sich selbst, das heißt (nach Maßgabe des bisher Entwickelten): kommt sie zu ihrem Selbstbewußtsein, wird sich ihres eigenen Widerspruchs, der sich in ihrem Ur-teilen äußert, bewußt, so muß sie das, wovon sie in der reinen Gleichheitsdeutung des Satzes „A = A" abstrahierte, das dieser Deutung Entgegengesetzte, in ebendiesem Satz ausgedrückt finden. Dadurch wird sie selbst spekulativ, ihr Satz „A = A" aber zum Satze „A = B". Logisch gesehen ist das eine „A" Subjekt, das andere Prädikat. „A" wird dadurch, daß von ihm prädiziert, abgetrennt, ge-urteilt wird, es sei „A", zu einem Zweifachen, sich selbst Widersprechenden. Indes, der zweite Satz, „A = B", widerspricht als sich widersprechender auch dem ersten als sich gleichem. In ihm wird also ebenfalls abstrahiert, und zwar von dem was der erste Satz aussagt, von der reinen Identität. In „A = A" und „A = B" haben wir den formalen Widerstreit zweier Sätze vor uns, als welcher die Antinomie auftritt. Die Antinomie selbst aber ist weder der eine noch der andere Satz für sich, sondern die Beziehung zwischen beiden Sätzen, die sich uns aus dem Hervorgehen des zweiten aus dem ersten als eine, jedoch eine einsinnige, anzeigte. Ebenso aber, wie aus dem Satze „A = A" der Satz „A = B" hervorgeht, bzw. sich bei Selbstreflexion der Reflexion als in diesem enthalten erweist, gilt auch umgekehrt: Der Satz „A = A" geht aus dem Satze „A = B" hervor, bzw. erweist sich als in diesem enthalten, da in „A = B" „B" als „A" (ebenso wie „A" als „B") bestimmt wird, wenn beide als Ur-teilung des in ihnen ausgesagten Begriffs gedacht sind. Aus „A = A" und „A = B" folgt „B = A". Daher gilt: „(A = A) = (A = B)". Die Beziehung beider Sätze sei, so sagten wir, die Antinomie, was heißen soll: das SichMan beachte die Übereinstimmung mit Anm. 2 zum ersten Kapitel des ersten Abschnittes der Seinslogik {Hegel: SIN 4. 98 ff). 31 GW 4. 24 Z. 36 — 25 Z. 4 = SW 1. 62 f = Diff. 27.

132

II.

DIE METHODE.

2. Antinomie

widersprechen zweier Sätze, die beide — und das ist das, was in diesem Schritt gegenüber früheren hinzukommt — nicht nur gleich, sondern auch durcheinander bedingt, ineinander enthalten sind. „Dieser zweyte Satz ist so unbedingt, als der erste, und insofern Bedingung des ersten, so wie der erste Bedingung des zweyten Satzes ist. Der erste ist bedingt durch den zweyten, insofern er durch die Abstraktion von der Ungleichheit, die der zweyte Satz enthält, besteht; der Zweyte, insofern er, um ein Satz zu seyn, einer Beziehung bedarf." Fassen wir nun die Antinomie selbst gleichsam metasprachlich wieder formal und nennen den Satz „A = A" „A" und den Satz „A = B" „B", so ergibt sich als Ausdruck des Widerstreits in der Antinomie wieder der zweite Satz „A = B". Damit aber kann dieser Satz, da er ja eben die Beziehung der Identität zwischen den sich widersprechenden Sätzen aussagt, auch analog wieder heißen „A = A", denn „A = A" als „A" ist, wie sich zeigte, identisch mit „A = B". „Beyde Sätze sind Sätze des Widerspruchs nur im verkehrten Sinne; der erste der Identität sagt aus, daß der Widerspruch = O ist; der Zweyte, insofern er auf den ersten bezogen wird, daß der Widerspruch ebenso nothwendig ist, als der Nichtwiderspruch; beyde sind als Sätze, für sich Gesetzte von gleicher Potenz. Insofern der zweyte so ausgesprochen wird, daß der erste zugleich auf ihn bezogen ist, so ist er der höchst mögliche Ausdruk der Vernunft durch den Verstand; diese Beziehung beyder ist der Ausdruk der Antinomie; und als Antinomie, als Ausdruk der absoluten Identität, ist es gleichgültig, A = B; oder A = A zu setzen, wenn nemlich A = B, und A = A als Beziehung beyder Sätze genommen wird." Die Antinomie ist demnach der höchst mögliche Ausdruck der Vernunft durch den Verstand, anders gesagt: der Ausdruck des Unbedingten durch Widerspruch des Bedingten, welches Bedingte seinerseits die Identität und Differenz des Bedingten und Unbedingten ist; der Widerspruch also ist die „rein formale Erscheinung des Absoluten" Erinnern wir uns an das zurück, was wir oben über Erscheinung und Form ausführten, so fin»2 GW 4. 25 Z. 19 ff = SW 1. 63 = Diff. 28. 33 GW 4. 25 Z. 33 — 26 Z. 5 = SW 1. 64 = Diff. 28. — Der Ausdruck „Potenz" stammt natürlich von Schelling; gemeint ist hier wohl das, was man in der formalen Logik als „gleichstufig" bezeichnet. 33 GW 4. 27 Z. 16 = SW 1. 66 = Diff. 30. — Vgl. hierzu und im folgenden A. Kulenkampff; Antinomie und Dialektik. Zur Funktion des Widerspruchs in der Philosophie. Stuttgart 1970. — Es handelt sich dabei um eine ausgezeichnete und sehr scharfsinnige Untersuchung. 33 S. o. S. 49 ff.

2. Formales Prinzip der Philosophie

133

den wir hier bestätigt, daß das in seinem Denken Sich-urteilen des Absoluten sein Erscheinen als Form, und zwar als Widerspruch, ist. Um nun in der notwendigen Konkretion des bisher abstrakt Entwickelten einen Schritt vorwärts zu tun, müssen wir diese Rückerinnerung in Beziehung bringen zu dem, was die zweite Seite des Sich-urteilens der Reflexion (als der einen Seite des sich-urteilenden Absoluten) eigentlich ist. Das sich denkende Absolute teilt sich in sich als Denkendes, Subjekt, und sich als im Denken dieses Denkenden Gedachtes, Objekt seines Denkens: Die Relation, das Wesen, erscheint in seinen Relaten. Als Aufgabe der Philosophie war angesetzt, das Absolute fürs Bewußtsein zu konstruieren. Philosophie soll also das in den Relaten erscheinende Wesen der Relation durch die Relate in deren Identität in der in ihnen erscheinenden Relation bewußt machen. Die Relate sind: Subjekt und Objekt. Zur Erfüllung dieser Aufgabe muß sich die Philosophie der Reflexion als ihres schlechthin einzigen Mittels bedienen. Die Reflexion ist es aber, die erst die Relation in ihre Relate ur-teilt. Die Reflexion geht als gerichtete Umkehr auf von ihr als Fremdes Vermeintes. Das urteilende Trennen der Reflexion ist also ein dreifaches: Sie geht von sich als vermeintem Einen aus zum vermeinten Anderen ihrer selbst und bringt dieses andere als Anderes ihrer selbst wieder in sich ein, indem sie von dem vermeinten Anderen ihrer selbst ein Eigenes abzulösen meint. Dieses Eigene, den Begriff, zertrennt sie in ihrem Urteil „A = A", welches sich als „A = B" erwies. Das erste Trennen ist also ein Trennen von Subjekt und „I>ing an sich", von dem das Subjekt in einer zweiten Trennung das Objekt ablöst und als Begriff einbringt, wodurch die dritte Trennung, die sich in „A = A" aussprechende von Objekt und Begriff, geschieht. Worum es nun also gehen muß, ist, diese mehrfache Zertrennung der Relation in ihre Relate aufzuheben, indem ihre ursprüngliche Einheit wiederhergestellt, indem sie re-identifiziert wird. Re-identifikation ist Synthese. Das Prinzip der Philosophie ist also — so gesehen — Ausdruck der Synthesierung von Subjekt und Objekt, genauer: von Subjekt als Ausgang, Spontaneität und Rückkehr, Begriff, und Objekt als Ziel, Ding an sich, und Punkt der Umkehr, Gegenstand, — die Synthesierung also der Relate untereinander und der Relation mit den Relaten. „Soll das Princip der Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen werden, so ist zunächst als Gegenstand dieser Aufgabe nichts vorhanden, als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und GW

4. 16 Z. 19 f =

SW

1. 50 =

Diff.

17.

134

II.

DIE METHODE.

2. Antinomie

Objektiven^ oder das absolute Denken; die Reflexion aber vermag nicht die absolute Synthese in einem Satz auszudrükken, wenn nemlich dieser Satz als ein eigentlicher Satz für den Verstand gelten soll; sie muß, was in der absoluten Identität Eins ist, trennen und die Synthese und die Antithese getreimt, in Zwei Sätzen, in einem die Identität, im andern die Entzweyung, ausdrükken." Somit ergibt sich für unsere Überlegungen bezüglich der Antinomie folgendes: „A = A" ist als Satz der Identität Ausdruck der Synthese, „A = B" Ausdruck der Antithese von Subjekt und Objekt. Die in der Aufgabe der Philosophie geforderte prinzipielle Synthesierung von Subjekt und Objekt in ihrer ursprünglichen und absoluten ge-urteilten Identität findet sich jedoch weder in der reinen Identität, in der von der 5uhjekt-Oh]ekt-Entgegensetzung abstrahiert ist, noch in der reinen Nicht-Identität, in der von der Subjekt-Objekt-Jdcnfzfäf abstrahiert ist, ausgedrückt. In diesem Sinne muß das Antinomische beider Sätze als ihr eigener Ausdruck auf der höheren Stufe der Beziehung zwischen beiden Sätzen bzw. Urteilen sidi realisieren. Die Identität von Subjekt und Objekt sowie die Differenz beider sind zur absoluten Identität, deren formaler Ausdruck die Antinomie ist, zu synthesieren. „A = A [als Beziehung beider Sätze zu verstehen] enthält die Differenz des A als Subjekts und A als Objekts, zugleich mit der Identität, so wie A = B die Identität des A und B, mit der Differenz beyder." Wir finden hier den Ansatz zur sich in sich fortbewegenden Dialektik, wie man ihn deutlicher wohl kaum zu finden erhoffen kann ; „A = A" als These der reinen Sichselbstgleichheit fordert, retrospektiv gesagt: enthält, „A = B", seine Negation, die Antithese, deren antithetischer Charakter die Aufhebung des Antithetischen selbst in einer Negation der Negation fordert, sodaß die Synthese beider ihre Beziehung aufeinander ist, die aber bei genauem Zusehen in These und Antithese schon ausgedrückt ist. Die Synthese selbst ist These .. . etc. Das leere sich-selbstgleiche Sein ist das Nichts. Die Wahrheit von Sein und Nichts ist das Werden, Entstehen wie Vergehen Die Grenze der Reflexion ist — abstrakt gefaßt —, so sagten wir, der Punkt ihrer Selbstvernichtung, anders: der Punkt ihres Umschlagens in die Spekulation. Als abstrakte Grenze ist die Antinomie formal für die GW 4. 24 Z. 28 ff = SW 1. 62 = Diff. 27. 38 GW 4. 26 Z. 5 ff = SW 1. 64 = Diff. 28 f. 33 Zu „Methode" s. u. S. 211 ff. — Wir finden hier nur den „Ansatz", weil die Antinomie als solche ihrer Formalität (s. u. S. 165 ff) wegen noch nicht „Methode" im hier angezielten Sinne sein kaim. 0» Ebd. IX. '“i S. o. Anm. 80 zu II. 1. Vgl. Jacobis Spinoza Büchlein. X ff. 103 lYas heißt: Sidi im Denken orientieren? 1786 (WA 8.131 ff); und Einige Bemerkungen zu L. H. Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden. 1786 (ebd. 149 ff). Fliegender Brief an Niemand den Kündbaren (Titel der ersten Fassung: Entkleidung und Verklärung. Ein fliegender Brief an Niemand den Kündbaren, o. O. 1786). 105 Cott. Einige Gespräche. Gotha 1787. '“o Philosophische Schriften. Gera 1785—1787. Ethik. 1790—1793.

3. Exkurs zu Fichte und Spinoza

151

Die SpiNOZA-„Renaissance", die durch JACOBIS Spinoza-Büchlein eingeleitet wurde, verpflichtete in erster Linie natürlich auch die Philosophen von Profession, sich tiefer als bisher mit SPINOZA auseinanderzusetzen: FICHTE, wie wir sahen'°^, im ganzen eher ablehnend, SCHELUNG und Hegel zusammen mit HöLDERLIN dagegen als Absolventen des Tübinger Stifts, in dem das „EV xal 3iäv" der Pantheisten und Pansophen zur schwärmerischen Losung erhoben wurde und SPINOZAS „amor intellectualis Dei" in vielfach gespiegelter Version auftauchte, als (mehr oder weniger) überzeugte SpiNozisten, die SPINOZA zumindest „gehörig zu schätzen" wußten. Hegel setzt SPINOZAS Anfang mit einer Definition, der darum, weil der (als Verstandesbegriff aufgefaßte) Begriff der Substanz durch seine Vereinigung Entgegengesetzter „aufhört, ein Begriff zu seyn" Ausdruck der Antinomie ist, dem RpiNHOLD-FicHTESchen abstrahierenden und reflektierenden „Reinigen" der empirischen Tatsachen scharf entgegen: SPINOZAS Anfang mit einer Definition sei, so führt er aus, „ein Anfang, der mit dem Begründen, Ergründen, Deduciren der Principien des Wissens, dem mühsamen Zurükführen aller Philosophie auf höchste Thatsachen des Bewußtseyns u.s.w. den seltsamsten Kontrast macht." „SPINOZA'S Begriff der Substanz" ist die Hegelsche Kontamination der Definitionen, die an der Spitze der Ethik SPINOZAS stehen, insbesondere der Definitionen 1 und 3. Diese gilt es nun zu betrachten, um zu erfassen, wo Hegel in ihnen die Antinomie sieht. Def. 1: „Per causam sui intelligo id, cujus essentia involvit existentiam; sive id, cujus natura non potest concipi, nisi existens." Def. 3: „Per substantiam intelligo id, quod in se est, et per se concipitur: hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat." S. o. S. 27 ff; vgl. auch unten S. 154. Vgl. Hölderlins Eintrag in Hegels Stammbuch, insbesondere den Nachtrag, der allerdings eventuell nicht von Hölderlins, sondern von Hegels eigener Hand stammt (Hölderlin; SWB 1.1116 und Anm. zu 558). Als Quellen für Hölderlin und wohl auch — zumindest vermittelt — für Hegel dürfen einerseits natürlich Jacobis Spinoza Büchlein und andererseits FV. Heinse: Ardinghello und die glückseeligen Inseln angenommen werden. Vgl. auch K. Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben. 40 und T. Haering; Hegel. Bd 1. 45 ff et passim. I»» GW 4. 24 Z. 27 = SW 1. 62 = Diff. 27. Gemeint ist: „... aufhört, ReflexionsbegriH zu sein". 1“ GW 4. 24 Z. 22 ff = SW 1. 62 = Diff. 27. Spinoza: Ethica. Pars 1. Def. 1 et 3 (WW 2. 86). 108

152

II.

DIE METHODE.

2. Antinomie

Die Substanz ist demnach das, was in sich ist, was nicht anders verstanden werden kaim als als Explikation der erstenDefinition:Das,,in se esse" der Substanz ist ihr „a se esse", d. h. ihr „Causa-sui"-sein. Damit entfaltet die dritte Definition die Bestimmung, die Substanz sei „causa sui", so, daß sie sich begreifendes und dadurch verursachendes Sein sei. Die „causa sui" schließt in ihrer Essenz ihre Existenz ein, in ihr ist „Was" und „Daß" identisch. Die „natura" der „causa sui" kann nicht anders begriffen werden als als seiend. Begriffen wird sie als Substanz aber „per se", was heißen muß: Die Substanz begreift sich selbst. Indem die Substanz sich und nur sich durch sich und nur durch sich (denn ihr Begriff bedarf ja keiner anderen Begriffe, um daraus gebildet zu werden) begreift, ist sie Ursache ihrer selbst, da sie sich als sich begreifend begreift, d. h. sich in ihrem Wesen begreift, welches ihr Dasein notwendig in sich schließt. Könnte sie sich in ihrem Wesen so begreifen, daß dieses ihr Dasein nicht in sich schlösse, so würde sie eines anderen bedürfen, um sich als existierend zu begreifen, was sie aber per definitionem nicht darf. Die Substanz ist daher Ursache, die sich, die Ursache, als ihre eigene Wirkung hervorbringt, indem sie sich als Wirkung der Ursache durch sich („per se") als Ursache der Wirkung begreift. „Wir stellen uns vor, die Ursache bewirkt etwas, und die Wirkung ist etwas Anderes, als die Ursache. Hier [seil.: in SPINOZAS „causa sui"] hingegen ist das Herausgehen der Ursache unmittelbar aufgehoben, die Ursache seiner selbst producirt nur sich selbst; es ist dieß ein Grundbegriff in allem Spekulativen. SPINOZAS Substanz ist also, wie Hegel sagt, „Ursache und Bewirktes, . .. Begriff und Seyn"^^^. Die Substanz, ausgedrückt im Satz des Grundes, verstanden als Ausdruck seiner Beziehung auf den Satz der Identität, ist die Antinomie bei SPINOZA, wie Hegel sie sieht. Das Sich-widersprechen von Identität und Nichtidentität wird als ihre Identität aufgefaßt. Diese „Einfalt" SPINOZAS, die Philosophie mit der Philosophie anfangen und die Vernunft gleich unmittelbar mit der aufgezeigten Antinomie auftreten zu lassen, könne — so Hegel — nur dann gehörig geschätzt werden, wenn die Vernunft von der Subjektivität des Reflektierens sich gereinigt habe. Dies hat nun offenbar, wie wir sahen, die Philosophie FICHTES nicht vermocht, — ganz zu schweigen von den REiNHOLoischen Versuchen Hegel: SW 19. 379. 114 (jjY 4 24 Z. 18 f = SW 1. 62 = Diff. 26. — Vgl. auch Reinholds Abschnitt über Spinoza in: Beyträge zur leichtern Übersicht .... 20 ff. S. o. S. 137 f.

3. Exkurs zu Fichte und Spinoza

153

bemerkt im Anschluß an die Entwicklung des absolut-ersten Grundsatzes der Wissenschaftslehre, über diesen Grundsatz, auf den KANT hingewiesen, den DESCARTES in subalterner weil einseitiger Weise aufgestellt und den REINHOLD besser als dieser, aber immer noch einseitig, von KANT her gefaßt habe, sei SPINOZA hinausgegangen. „Er [seil.: SPINOZA] leugnet nicht die Einheit des empirischen Bewußtseins, aber er leugnet gänzlidi das reine Bewußtsein. Nach ihm verhält sich die ganze Reihe der Vorstellungen eines empirischen Subjekts zum einzigen reinen Subjekte, wie eine Vorstellung zur Reihe. Ihm ist das Ich (dasjenige, was er sein Ich nennt, oder ich mein Ich nenne) nicht schlechthin, weil es ist; sondern weil etwas anderes ist. — Das Ich ist nach ihm zwar für das Ich — Ich, aber er fragt: was es für etwas außer dem Ich sein würde. Ein solches „außer dem Ich" wäre gleichfalls ein Ich, von welchem das gesetzte Ich (z. B. mein Ich) und alle möglichen setzbaren Ich Modifikationen wären. Er trennt das reine, und das empirische Bewußtsein. Das erstere setzt er in Gott, der seiner sich nie bewußt wird, da das reine Bewußtsein nie zum Bewußtsein gelangt; das letzte in die besondern Modifikationen der Gottheit. So aufgestellt ist sein System völlig konsequent und unwiderlegbar, weil er in einem Felde sidi befindet, auf welches die Vernunft ihm nicht weiter folgen kann; aber es ist grundlos; denn was berechtigte ihn denn, über das im empirischen Bewußtsein gegebne reine Bewußtsein hinaus zu gehen? Was ihn auf sein System trieb, läßt sich wohl auf zeigen: nämlich das notwendige Streben, die höchste Einheit in der menschlichen Erkenntnis hervorzubringen. Diese Einheit ist in seinem System; und der Fehler ist bloß darin, daß er aus theoretischen Vernunftgründen zu schließen glaubte, wo er doch bloß durch ein praktisches Bedürfnis getrieben wurde: daß er etwas wirklich Gegebenes aufzustellen glaubte, da er doch bloß ein vorgestecktes, aber nie zu erreichendes Ideal aufstellte. Seine höchste Einheit werden wir in der Wissenschaftslehre wiederfinden; aber nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann. Ich bemerke noch, daß man, wenn man das Ich bin überschreitet, notwendig auf den SpiNOzismus kommen muß! (daß das LEiBNizische System, in seiner Vollendung gedacht, nichts anderes sei, als SpiNOzismus, zeigt in einer sehr lesenswerten Abhandlung: Über die Progressen der Philosophie usw. SALOMO MAIMON) und daß es nur zwei völlig konsequente Systeme gibt; das Kritische, welches diese Grenze anerkennt, und das SpiNOzische, welches sie überspringt." FICHTE

Fichte: WW 1. 294 f = SW 1.100 f.

II.

154

DIE METHODE.

2. Antinomie

Es wird hieraus deutlich, was Hegel meint, wenn er sagt, um die Antinomie in SPINOZAS Ansatz als Ausdruck der Philosophie selbst begreifen und schätzen zu können, müsse die sie beurteilende Vernunft sich von aller Subjektivität des Reflektierens gereinigt haben. FICHTE bemängelt an SPINOZA — ganz im KANxisch-kritischen Sinne —, er überfliege mit seiner Fassung der Substanz, Gott, das im empirischen Bewußtsein gegebene reine Bewußtsein. FICHTE verkennt eben damit, daß das von ihm als unbegründet, „metaphysisch" angesehene Sich-aufheben der für die und von der bloßen Reflexion gesetzten Definition Ausdruck der notwendigen Selbstvernichtung der Reflexion im Regreß, mithin Ausdruck des Selbstbewußtseins ist. Er erweist mit seiner Kritik an SPINOZA nichts anderes, als daß die Definition als Reflexionssatz in ihrer Form einseitig, folglich von einem anderen begründet sein müsse, und ist erstaunt darüber, daß SPINOZA den empirisch-abstrahierenden Regreß des „Begründens, Ergründens und Deducirens" von vornherein in dem als antinomischer Ausdruck des Grundes selbst erkannten Satz der Nicht-Identität abbricht. Die Nicht-Identität selbst als die gesuchte Verbindung von Sich-selbst-gleichem und Entgegengesetztem aufzufassen, ist FICHTE, da er von seinem höchsten Satz der subjektiven Identität ausgeht schlechterdings unmöglich; also erscheint ihm SPINOZAS Antinomie des Grundes als „unbegründet". „So setzt SPINOZA den Grund der Einheit des Bewußtseins in eine Substanz, in welcher es sowohl der Materie (der bestiimnten Reihe der Vorstellung) nach, als auch der Form der Einheit nach notwendig bestimmt ist. Aber ich frage ihn, was deim dasjenige sei, was wiederum den Grund der Notwendigkeit dieser Substanz enthalte, sowohl ihrer Materie (den verschiedenen in ihr enthaltenen Vorstellungsreihen) als ihrer Form nach (nach welcher in ihr alle möglichen Vorstellungsreihen erschöpft sein und ein vollständiges Ganzes ausmachen sollen). Für diese Notwendigkeit nun gibt er mir weiter keinen Grund an, sondern sagt: es sei schlechthin so; und er sagt das, weil er gezwungen ist, etwas Absolut-erstes, eine höchste Einheit, anzunehmen: aber wenn er das will, so hätte er ja gleich bei der ihm im Bewußtsein gegebenen Einheit stehen bleiben sollen, und hätte nicht nötig gehabt, eine noch höhere zu erdichten, wozu nichts ihn trieb." FICHTES SpiNozA-Kritik richtet so im Grunde das eigene System. Hätte er nämlich in SPINOZAS Definitionen die Antinomie erkannt, so hätte er wohl bemerken müssen — und dies ist der Sinn der Hegelschen Rede vom „gehörig schätzen" —, daß SPINOZA gar nicht eine höhere Einheit als er S. o. S. 142.

“8 Fichte: Vm 1. 315 = SW 1.120 f.

155

4. Exkurs zu Reinhold

mit seinem Prinzip gewollt, sondern nur den ansatzweise adäquaten formalen Ausdruck des immer nur einen Prinzips der Philosophie gefunden hatte. Dann wäre auch FICHTES Urteil über ihn nicht im Rahmen einer a-historischen, subjektivierend-dogmatischen Einstellung zur Geschichte geblieben, sondern hätte sich zu einem absoluten, kritischphilosophischen, zum geschichtlichen Urteil erheben können „Die besondre spekulative Vernunft findet darin [in diesem Falle in SPINOZAS Philosophie] Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch, sie schaut sich in ihm als ein und dasselbe und als ein anderes lebendiges Wesen an." 12» Von hier aus findet nun auch die oben schon betrachtete Einstellung FICHTES ZU SPINOZA als begründet in der „Eigenthümlichkeit der Form des Fichteschen Systems, der ganzen sthenischen Beschaffenheit desselben" eine weitere Deutung: Die Form des FiCHXESchen Systems, das Aufbauen auf dem in Form eines absolut-ersten Grundsatzes geäußerten Prinzip, nicht etwa mangelnde spekulative Tendenz des Denkens, verhindert in dem beschriebenen Sinne ein Verständnis der SpiNOzischen Antinomie (und jeder anderen in der Geschichte erschienenen Philosophie) durch FICHTE. Indessen ist, wie Hegel selbst anmerkt, bezüglich der nun dargelegten Kritik Hegels an FICHTE darauf zu achten, „daß in dieser Darstellung zunächst von dieser Philosophie als System, die Rede ist, und nicht insofern es die gründlichste und tiefste Spekulation, ein ächtes Philosophiren, und durch die Zeit, in welcher sie erscheint, und in der auch die KANTische Philosophie die Vernunft nicht zu dem abhandengekommenen Begriff achter Spekulation hatte erregen können, um so merkwürdiger ist.''^^^

II.2.4.

Exkurs: Die Anwendung des Denkens

(REINHOLD)

Die Antinomie war formales Prinzip der Philosophie nicht nur als abstrakte Grenze der Reflexion, sondern auch als die widersprüchliche Verbindung von Subjekt und Objekt, Denken und Sein. Diese beiden Antinomien selbst stehen zueinander im Verhältnis der Antinomie: Die Grenze der Reflexion, abstrakt die Antinomie von „A = A" und „A = B", ist als gedachte zugleich identisch und nicht-identisch mit der Antinomie S. o. S. 32 ff. GW 4.12 Z. 10 ff = SW 1. 43 f = Diff. 12. 121 s. o. S. 27 ff und S. 153 f. GW 4. 34 Z. 6 ff = SW 1. 76 = Diff. 38.

156

II.

DIE METHODE.

2. Antinomie

von Denken und Sein als ihrer Verbindung. Das Denken selbst, dessen Antinomie im Satz des Grundes ausgedrückt ist, steht demnach in seiner eigenen Antinomie; somit ist auch hier der Widerspruch der gedachten Antinomie des Denkens und der des Denkens und Seins zu fassen als deren Identität. Wird nun aber das Denken an sich, das reine Denken, gefaßt als „A = A" ohne Beziehung auf „A = B", so ist im Denken des Denkens wieder abstrahiert von dem ihm Entgegengesetzten, das Denken ist wieder nur von der Reflexion und für sie. „In der Antinomie, wenn er für den formellen Ausdruk der Wahrheit anerkannt wird, hat die Vernunft das formale Wesen der Reflexion unter sich gebracht. Das formale Wesen hat aber die Oberhand, wenn das Denken in der einzigen Form des ersten, dem Zweyten entgegengesetzten Satzes, mit dem Charakter einer abstrakten Einheit als das erste Wahre der Philosophie gesetzt und aus der Analyse der Anwendung des Denkens ein System der Realität der Erkenntniß errichtet werden soll." Hegel zielt hier ab auf den REINHOLD der Beyträge zur leichtern Übersicht ... von 1801. Bekanntlich hat REINHOLD verschiedene Stadien und Entwicklungsstufen als Denker durchlaufen Er selbst sagt hierzu in seinen Beyträgen zur leichtern Übersicht: „Auch die Revolution in der teutschen Philosophie ist anders ausgefallen, als ihre Urheber und Freunde hofften, und ihre Gegner fürchteten; . . . anders, als ich am Anfänge derselben (in den Briefen über die KAtcjische Philosophie) ankündigte; anders, als ich in der Mitte derselben, durch meine Theorie des Vorstellungsvermögens, ihren Fortgang zu befördern versuchte, und anders, als ich gegen das Ende derselben ihr Ziel durch die Wissenschaftslehre erreicht glaubte, und dieses in der kleinen Schrift über die Paradoxieen der neuesten Philosophie, und in den Sendschreiben an LAVATER und FICHTE über den Glauben an Gott, behauptete." Und: „Es herrschte einst die Popularphilosophie, als ich gegen dieselbe für die KAtcxische auftrat. Der buchstäbliche KAmianismus hatte die Oberhand, als ich denselben zu bekämpfen anfieng. Der empirische Criticismus KANTS ist im Begriffe, der reinen Ichlehre das Feld zu räumen, während ich mich genöthiget sehe, mich dem Unwillen der Bekenner von beyden auszusetzen. Was ich seit Einem Jahre her für die wahre Philosophie erkenne. 123 GW 4. 26 Z. 18 ff = SW 1. 65 = Diff. 29. 124 Vgl. hierzu A. Klemmt: Karl Leonhard Reiriholds Elementarphilosophie; und A. Klemmt: Die philosophische Entwicklung Karl Leonhard Reinholds nach 1800. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 15 (1961), 79 ff und 250 ff; besonders 81. Reinhold; Beyträge zur leichtern Übersicht... Istes Heft. III f.

4. Exkurs zu Reinhold

157

ist bisher nur in einem unscheinbaren Buche aufgestellt, das außer mir, meines Wissens, noch keinen einzigen öffentlichen Vertheidiger gefunden hat" 1^®, nämlich in BARDILIS Grundriß der ersten Logik REINHOLD ist 1801 also BARDiLianer, seine Beyträge zur leichtern Übersicht . .. sind der Verteidigung und Kommentierung von BARDILIS Logik gewidmet. Hegel hat jedodi — im Gefolge FICHTES — die Auffassung vertreten, der BARDiLianer REINHOLD sei im Grunde immer noch der REINHOLD der Elementarphilosophie, welche These er auch zu beweisen unternimmt „In dieser neu aufgelegten Theorie seiner eignen Lehre findet REINHOLD, nicht unähnlich jenem Manne, der zu seiner größten Zufriedenheit, aus dem eigenen Keller unwissenderweise bewirthet wurde, — alle Hoffnungen und Wünsche in Erfüllung gegangen, die philosophischen Revolutionen im neuen Jahrhundert geendigt, so daß nunmehr der philosophische ewige Frieden, in der allgemeingültigen Reduktion der Philosophie durch Logik unmittelbar eintreten kann."^^° Es sei nun kurz auf die Gedanken des BARDiLianers REINHOLD eingegangen, wie er sie in den Beyträgen zur leichtern Übersicht . . . entwickelt: Nach REINHOLD gibt es drei, zueinander in Beziehung stehende Voraussetzungen des Philosophierens, die erfüllt sein müssen, damit Philosophie wahrhaft beginnen kann: 1. Liebe zur Wahrheit als Wahrheit 2. Glaube an Wahrheit als Wahrheit »26 Ebd. XV. »21 C. G. Bardili: Grundriß der ersten Logik, gereinigt von den Irrthümern bisheriger Logiken überhaupt, der Kantisdien insbesondere. Stuttgart 1800. — Zur Rezeption dieses Werkes durch Fichte, Schelling und Hegel vgl. M. Zahn: Fichtes,

Schellings und Hegels Auseinandersetzung mit dem „logischen Realismus" Christoph Gottfried Bardilis. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 19 (1965), 201 ff und 453 ff. »28 Ygj pichtes Bardili-Rezension in den Nummern 214 und 215 (Spalten 1705 ff) der Erlanger Litteratur-Zeitung. 30./31. Oktober 1800 (Fichte: SW 2. 490 ff). — Vgl. auch M. Zahn: Fichtes, Schellings und Hegels Auseinandersetzung ... 203 und besonders 453 ff. »29 Ygi etyya GW 4. 88 Z. 33 ff = SW 1.162 ff = Diff. 108 ff. — Vgl. wieder M. Zahn: Fichtes, Schellings und Hegels Auseinandersetzung ... 464 ff. »30 Qy\/ 4 90 2.13 ff = SW 1.165 = Diff. 110. — Hegel argumentiert hier polemisch

im Gefolge der Fichteschen Bardili-Rezension (s. o. Anm. 128), auf die er sich auch bezieht, wenn er sagt: „Es ist nemlidi behauptet worden, daß der Grundriß der Logik nichts als die aufgewärmte Elementar-Philosophie sey." (GW 4. 88 Z. 33 ff = SW 1.162 = Diff. 108). »2» Reinhold: Beyträge zur leichtem Übersicht... Istes Heft. 67. »’* Ebd. 67 ff.

158

II.

DIE METHODE.

2. Antinomie

3. das Urwahre oder an sich Wahre und Gewisse, welches aber, als Voraussetzung ausgesprochen, zweifach ist: „Das Philosophiren setzt vorläufig, um auch nur als bloßer Versuch denkbar zu seyn, voraus: Erstens, daß es ein An sich selbst Wahres und Gewisses gebe, das der Philosoph schon bey, und in seinem Streben nach Wissen, aber insoferne auch nur durch Glauben kennt, und bekennt — Zweytens aber auch, daß es im Menschen, ausser der wahren und eigentlichen, eine nur scheinbare und an sich unwahre Erkenntniß geben könne, und wirklich gebe, eine eingebildete Realität der Erkenntniß in einem falschen Glauben oder vermeyntlichen Wissen, mit einem Worte Irrthum, welcher durch den Versuch, die Realität der Erkenntniß ergründend zu bewähren, wo möglich, und so weit als möglich, aufgehoben werden soll. Ohne die Voraussetzung des Irrthums würde der Versuch zu philosophiren überflüssig, und ohne Voraussetzung der Wahrheit im Glauben, vergeblich, ohne beydes, gleich widersinnig seyn." Wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind, ist die Aufgabe der Philosophie, die schon immer die war, die Realität der Erkenntnis zu ergründen so konkretisiert, daß sie in der Herleitung der Möglichkeit und Wirklichkeit des Erkennbaren und der Erkenntnis aus dem absoluten Grund beider, dem Urgrund oder Urwahren, besteht. Die Realität der Erkenntnis in dem und für das Wissen ist also in dem Verhältrüs von Wahrem und Urwahrem begründet Das Urwahre für sich ist das schlechthin Unbegreifliche und Unerklärliche, also kann die Philosophie, die es ja begreifen und erklären soll, es nur aus einem mit ihm in Beziehung stehenden begreiflichen Wahren begreifen. Dieses begreifliche Wahre, das zum Ausgangspunkt gemacht werden muß, ist dasjenige, das unmittelbar „unter" dem unbegreiflichen Urwahren und damit „über" allem anderen begreiflichen Wahren als dessen höchstes steht, es muß das sein, „welches alles übrige Begreifliche unter sich begreift" Mit der Suche nach dem Verhältnis des obersten Begreiflichen zum Unbegreiflichen beginnt das Philosophieren als ein Streben nach Wissen, ohne selbst schon Wissen zu sein Das oberste Begreifliche, mit 133 Ebd. 70. 134 Ebd. 2. 133 Ebd. 72. 13« Ebd. 73. 137 vVerm wir dieses Prinzip logisch weiterverfolgen, so können wir tatsächlich — wie dies Hegels Ansicht ist — nie zu einem Ergebnis gelangen, wobei „Ergebnis" hier den Übergang vom Streben zum Wissen bezeichnet. Das anhaltende „Noch-nicht" des hypothetischen Ansatzes wird zum unendlichen Perennieren einer Propädeutik, die nicht weiß, wofür eigentlich sie Propädeutik sein soll. „Wenn das Anlaufen nicht über

4. Exkurs zu Reinhold

159

dem das Philosophieren beginnt^ ist demnach, solange das Philosophieren in diesem Sinne noch Streben ist, „nur problematisch und hypothetisch" als erstes Begreifliches angesetzt Aus dieser Fassung der Aufgabe der Philosophie leitet REINHOLD nun die möglichen Arten verschiedener Philosophien ab; Skeptizismus, Dogmatismus, und zwar sowohl als materialistischen wie als idealistischen Dogmatismus Nach Ausführungen über die transzendentale Fassung des idealistischen Dogmatismus bei KANT, FICHTE und SCHELLING kommt REINHOLD auf die Fehlerhaftigkeit all dieser Arten von Philosophie zu sprechen, die ihm zufolge ihren Grund in der mangelnden Reinheit des Denkens hat. „Wer nicht schon für irgend eine der beschriebenen Philosophieen eingenommen; aber durch Glauben an Wahrheit und Liebe für dieselbe beseelt ist, der wird sich sehr leicht davon überzeugen: der

gemeinschaftliche Fehler aller der beschriebenen Auflösungen der ersten Aufgabe der Philosophie liege schon in der Art und Weise, wie bey denselben die Aufgabe gefaßt ist; und bestehe eigentlich darin: daß beym Fassen dieser Aufgabe, oder was dasselbe heißt, beym Aufstellen des vorläufigen Begriffes von Erkenntniß, das Denken durch Phantasie gemisbraucht sey." Damit die Aufgabe der Philosophie in der beschriebenen Weise gelöst werden kann, muß also nach REINHOLD das Denken als Denken in seiner Anwendung völlig neu untersucht werden. „Diesen Versuch hat BARDILIS Grundriß der ersten Logik aufgestellt, und in demselben diejenige, durch PLATON eingeleitete, durch LEiBNiTzen weiter fortgesetzte, Untersuchung der Realität der Erkenntniß wiederhergestellt und vollendet, welche, indem sie das Urwahre an dem Wahren, und das Wahre durch das Urwahre enthüllt, — die Realität der Erkenntniß in einem Wissen, und durch ein Wissen, wahrhaftig bewährt."

Als vorläufiger, hypothetischer Ausgangspunkt des Philosophierens, der — der Aufgabe gemäß — zu untersuchen ist, wird also angenommen

den Graben hinüber kommt, so wird der Fehler nicht auf das Perenniren dieses Anlaufens, sondern auf die Methode desselben geschoben. Die wahre Methode aber wäre die, wodurch das Wissen schon diesseits des Grabens in den Spielraum des Anlauffens selber, herüber gezogen, und die Philosophie auf die Logik reducirt wird." (GW 4. 83 Z. 4 ff = SW 1.153 = Diff. 100.) 138 Reinhold: Beyträge zur leichtern Übersicht... 74. — Vgl. Fichtes Aufstellung seines ersten Grundsatzes durch die Annahme „irgendeiner Tatsache des empirischen Bewußtseins" (Fichte: WW 1. 286 = SW 1. 92). S. o. S. 141. 13® Reinhold: Beyträge zur leichtern Übersicht... 76 f. i»» S. o. S. 169 f.

202

II. DIE METHODE. 3. Transzendentale Anschauung

rückführen, ist Konstruktion als Rekonstruktion. Die Konstruktion erweist sich aber immer erst im Nachhinein als Synthesis, als Rekonstruktion, da das Bewußtsein des einen ursprünglichen Zusammenhangs des Getrennt-seins erst möglich ist, wenn das, wovon ausgegangen wird, das Einseitige, seinem Anderen gegenübergestellt und mit ihm vereinigt wird. Die Vereinigung aber als eine Vereinigung Getrennter, bezeichnet als „spekulatives" oder „transzendentales Wissen", im allgemeinen als „Philosophie", ist somit das „ursprüngliche Band" das die Getrennten verbindet: Die Getrennten sind nur als durch ihre Trennung Verbundene. „Das Band des Getrennt-seins wiederherstellen" heißt; es rekonstruieren, indem das vom Einen getrennte Andere dem Einen konstruiert wird. Das bedeutet aber im Ausgang von dem Einen, daß dieser Ausgang in seiner Richtung durch das ursprünglich Verbunden-sein des Einen mit dem Anderen auf das Andere hin bestimmt ist. Die Konstruktion der der Antinomie korrespondierenden Anschauung kann daher gefaßt werden als die notwendige Ausrichtung der Aufhebung des Einen auf das Andere, des Begriffs auf die Anschauung. Die Anschauung als das, worauf sich die Reflexion in ihrer Selbstvernichtung in der Antinomie richtet, wird also in dieser Redeweise von der sich in der Antinomie vernichtenden Reflexion gefordert. Eine Forderung ist ein Postulat. „Weil das spekulative Wissen als Identität der Reflexion und der Anschauung begriffen werden muß; so kann man, insofern der Antheil der Reflexion, der als vernünftig antinomisch ist, allein gesetzt wird, aber in nothwendiger Beziehung auf die Anschauung steht, in diesem Fall von der Anschauung sagen, sie werde von der Reflexion postulirt." Das Postulat, in diesem Sinne verstanden, hätte also in der Philosophie, wie wir schon bei ScHELLiNG sahen die Funktion der Einführung der ursprünglichsten Konstruktion. Daß diese Konstruktion erforderlich ist, läßt sich, da es die alle anderen Konstruktionen begründende sein soll, allerdings schlechthin nicht mehr beweisen, sondern nur noch postulieren. Mit diesem Ausdruck „Postulat", der die Notwendigkeit der ersten und ursprünglichsten Konstruktion umschreibt, ist nun die Schwierigkeit nur auf eine neue Ebene verlagert. Der Ausdruck „Postulat" hat eine historische und systematische Belastung, die sich auf zwei sich auseinander ergebende Grundnenner bringen läßt: 110 Vgl. GW 4. 65 Z. 31 ff = SW 1. 126 Anm. = Diff. 78 Anm., eine vonPlaton(Tim. 31c) stammende, von Fichte und Schelling oft gebrauchte Metapher. GW 4. 29 Z. 4 ff = SW 1. 69 = Diff. 32. ”2 S. o. S. 180 f.

3.a. Exkurs zu Kant

203

1. Das Postulat im KANxischen Sinnne, die postulierte Idee

2. Das Postulat als Forderung des der Idee Entgegengesetzten. Die Frage nach dem, was der Ausdruck „Postulat" hier meint, läßt sich erst dann befriedigend beantworten, wenn die Quellen der beiden so ermöglichten Mißverständnisse gefaßt und eliminiert, — das kann aber in der Beschäftigung mit Hegel nur heißen: aufgehoben sind. a. Exkurs: Postulat bei

KANT

und Konstruktion

hatte in seiner Kritik der praktischen Vernunft Unsterblichkeit, Freiheit und das Dasein Gottes als Postulate der praktischen Vernunft aufgestellt, wobei ihm „Postulate" als „Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht" d. h. als „subjective, aber doch wahre und unbedingte Vernunftnothwendigkeit" galten. Unsterblichkeit, Freiheit und Dasein Gottes sind nun aber eben jene Begriffe, „welche die speculative Vernunft zwar als Aufgaben vor tragen, sie aber nicht auf lösen konnte" ^1®, in deren Auflösungsversuch sie nur zu Paralogismen, Antinomien und einem unbestimmten Ideal kommen konnte — also Ideen. Ideen in diesem Verständnis können aber nicht das sein, was hier von der Reflexion postuliert wird. Ideen wie Unsterblichkeit, Freiheit und Dasein Gottes sind nicht in dem hier gemeinten Sinne Postulate, sie sind, wie ScHELLiNG Sagen würde, „unendliche Aufgaben" Wie schon KANT zugibt, sind Ideen Produkte der Vernunft, d. h. das von KANT in seinem verständigen Reflektieren als Produkt gesetzte Vernünftige. Dieses stellt sich allein her durch die Synthese der Antinomie, die Vereinigung Entgegengesetzter. Die Synthese der Antinomie aber muß nicht postuliert werden, wie wir sahen: Als der sich aufhebende Widerspruch ergibt sie sich aus der Antinomie selbst. „Es kann nicht davon die Rede seyn, Ideen zu postuliren; denn diese sind Produkte der Vernunft, oder vielmehr, das vernünftige durch den Verstand als Produkt gesetzt; das vernünftige muß seinem bestimmten Inhalte nach, nemlich aus dem Widerspruch bestimmter entgegengesetzter, deren Synthese das vernünftige ist, deducirt werden, nur die diß antinomische ausfüllende und haltende Anschauung ist das postulable." KANT

Kant: KdprV A 238 = WA 5.132. ”■* Ebd. A 23 Anm. = WA 5.11 Anm. Ebd. A 239 = WA 5.132. 118 Vgl. ebd. A 239 f == WA 5. 132 f. Sdielling: WW 1. 375 = SW 1. 451. — Vgl. oben S. 182. »8 GW 4. 29 Z. 8 ff = SW 1. 69 = Diff. 32.

204

II. DIE METHODE. 3. Transzendentale Anschauung

Eine postulierte Idee im Sinne KANTS ist, als der Grundtypus aller Ideen, die ScHELLiNGSche „unendliche Aufgabe": der unendliche Pro- oder Regreß, welcher ein Zusammen von Empirischem und Vernünftigem darstellt, „aber das Positive dieser Antinomieen, ihre Mitte ist dadurch nicht erkannt; die Vernunft erscheint rein blos von ihrer negativen Seite, als aufhebend die Reflexion, aber sie selbst in ihrer eigenthümlichen Gestalt tritt nicht hervor. Doch wäre dieß Negative schon hinreichend genug, um denn auch für die praktische Vernunft den unendlichen Progreß wenigstens abzuhalten, denn er ist ebendieselbe Antinomie wie der unendliche Regreß, und selbst nur für imd in der Endlichkeit; die praktische Vernunft, die zu ihm ihre Zuflucht nimmt, und in der Freyheit sich als absolut constituiren soll, bekeimt eben durch diese Unendlichkeit des Progresses ihre Endlichkeit und Untüchtigkeit, sich für absolut geltend zu machen" Im unendlichen Pro- oder Regreß ist die Anschauung der Zeit das Empirische, die Verunendlichung desselben in ihrer unendlichen Aufgabe das Vernünftige. Das Vernünftige aber kann eben durch die Fassung als Aufgabe nicht verwirklicht werden. „Im empirischen Progreß ist sie aber nicht rein verunendlicht, deim sie soll in ihm als endliches, — als beschränkte Momente bestehen, er ist eine empirische Unendlichkeit." Hiermit ist recht genau die postulierte Idee der Unsterblichkeit der Seele bei KANT beschrieben. Da nämlich, so führt dieser aus die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetz im durch dieses bestimmbaren Willen die absolute Bedingung des höchsten Guts, dessen Bewirkung das Ziel jedes moralisch bestimmbaren Willens sein muß, diese absolute Angemessenheit als Heiligkeit aber eine Vollkommenheit sei, „deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt zu keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist" so könne diese absolute Angemessenheit „nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus" zur ihr angetroffen werden. „Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich." Also ist die Unsterblichkeit der Seele eine zur Erreichung des höchsten Gutes zu postulierende Idee. Damit ist nun aber einerseits die Endlichkeit in der Zeit gesetzt, die Endlichkeit des menschlichen Wesens, seiner Seele nämlich, andererseits »2» 221 »2* “2

Hegel: GW 4.337 Z. 23 ff = SW 1. 313. GW 4. 29 Z. 16 ff = SW 1. 69 = Diff. 32 f. Kant: KdprV A 219 ff = WA 5.122 ff. Ebd. A 220 = WA 5.122. Ebd.

3.a. Exkurs zu Kant

205

aber auch die Unendlichkeit, die Überwindung seiner Endlichkeit durch die Unsterblichkeit seiner Seele. Indes wird dadurch die Vollkommenheit von vornherein als unmöglich bestimmt, da die Annäherung an sie als unendlich bezeichnet wird. Die Unendlichkeit der Seele als ihre Unsterblichkeit wird eine endliche Unendlichkeit, eine durch die empirische Sterblichkeit in der Abstraktion von ihr bestimmte, eine bedingte, empirische Unendlichkeit. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, auch für alle anderen KANiischen Ideen, die sich somit alle als Antinomien erweisen. „Die wahre Antinomie, die beydes, das Beschränkte und unbeschränkte, nicht nebeneinander, sondern zugleich als identisch setzt, muß damit zugleich die Entgegensetzung aufheben; indem die Antinomie die bestimmte Anschauung der Zeit postulirt, muß diese, — beschränkter Moment der Gegenwart, — und Unbeschränktheit seines Außersichgesetztseyns — beydes zugleich, also Ewigkeit seyn." Das Postulierte des Postulats darf also nicht die Idee sein, was sich nach diesen Darlegungen von selbst versteht, da sich die Idee ja nun als Antinomie bestimmt hat, aber gerade die Anschauung der Antinomie postuliert ist. Das zweite mögliche Mißverständnis wäre es, wollte man annehmen, die zu postulierende Anschauung sei als der notwendigen Antinomie, der Idee, entgegengesetzte zu postulieren. Verhielte es sich so, so wären Idee und Anschauung beide nur endlich und beschränkt, der Begriff bliebe Begriff und würde nicht Idee (der transzendentale Begriff), die Anschauung würde nicht zur transzendentalen. „Die Anschauung, die der Idee entgegengesetzt ist, ist beschränktes Daseyn, eben weil sie die Idee ausschließt." Die transzendentale Anschauung wird vielmehr gefordert als das mit der Reflexion Identische, das Andere der Antinomie, als, wie wir sagten sich aufhebende Anschauung. „Die Anschauung ist wohl das von der Vernunft postulirte, aber nicht als beschränktes, sondern zur Vervollständigung der Einseitigkeit des Werks der Reflexion, nicht daß sie sich entgegengesetzt bleiben, sondern Eins seyen." Das Postulat der Konstruktion des sich aufhebenden Begriffs fordert somit nichts anderes, als den Begriff als das zu nehmen, was er immer schon war, als Idee, d. h. als Vernunftbegriff. Da Vernunft der zu sich gekommene Verstand ist, ist in der zur Spekulation gewordenen Reflexion der zu sich, und das heißt: zu dem, was er immer schon war, oder zu seiner Wahrheit, gekommene Verstandesbegriff gefordert. Nur von einem 12* 125 12« 127

GW 4. 29 Z. 18 ff = SW 1. 69 = Diff. 33. GW 4. 29 Z. 24 f = SW 1. 70 = Diff. 33.

S. o. S. 194. GW 4. 29 Z. 25 ff = SW 1. 70 = Diff. 33.

206

II. DIE METHODE. 3. Transzendentale Anschauung

noch nicht zu sich gekommenen Verstandesbegriff aus ist es notwendig, eine transzendentale Anschauung zu postulieren. Das Postulieren und das Postulat selbst sind somit, vom erreichten philosophischen Blickwinkel her gesehen, nur uneigentliche Redeweisen, die Identität von Idee und Sein als das sie einigende Band der Differenz benötigt als Ausgangspunkt alles philosophischen Denkens diese Hilfsbegriffe nicht mehr. „Man sieht überhaupt, daß diese ganze Weise des Postulirens darin allein ihren Grund hat, daß von der Einseitigkeit der Reflexion ausgegangen wird; diese Einseitigkeit bedarf es, zur Ergänzung ihrer Mangelhaftigkeit, das aus ihr ausgeschlossene Entgegengesetzte zu postuliren. Das Wesen der Vernunft erhält aber in dieser Ansicht eine schiefe Stellung, denn sie erscheint hier als ein nicht sich selbst genügendes, sondern als ein bedürftiges. Wenn aber die Vernunft sich als absolut erkennt, so fängt die Philosophie damit an, womit jene Manier, die von der Reflexion ausgeht, aufhört; mit der Identität der Idee und des Seyns; sie postulirt nicht das eine, denn sie setzt mit der Absolutheit ummittelbar beyde und die Absolutheit der Vernunft ist nichts anders, als die Identität beyder." II.3.4. Die „Formalität" der transzendentalen Anschauung und der spekulative Satz Wir sagten oben die Rede von der Formalität der Antinomie meine ihr Über-sich-hinausgehen-sollen aber Nicht-über-sich-hinausgehen-können, sie selbst aufgefaßt als ihre eigene Schranke. Solle sie aber wahrhaft über sich hinausgehen, was ihre Bestimmung ist, so dürfe sie nicht ihre Schranke bleiben, sie müsse wirklich übergehen, ihre Grenze als ihre Schranke, und das heißt: sich selbst, vernichten, sich und ihr Gegenteil, zu dem sie übergehen soll, aufheben. Dieses wirkliche Übergehen oder Unendlich-werden der endlichen Reflexion wurde als Postulat ihrer Konstruktion begriffen: Die Antinomie fordere ihr Anderes, in dem sie zugleich mit diesem sei. Dieses Andere, das Unendliche, wurde gefaßt als die transzendentale Anschauung. Nun zeigt sich aber, daß diese als die sich aufhebende Anschauung, sobald sie postuliert, d. h. die Konstruktion des sich aufhebenden Begriffes gefordert wird, die Endlichkeit als ihren Charakter weiter mit sich führen muß; die das Antinomische ausfüllende, einzig postulable transzendentale Anschauung steht als solche in Entgegensetzung zum„tran4 29 Z. 28 — 30 Z. 2 = SW 1. 70 = Diff. 33. 12» S. o. S. 166 ff. 128 GPV

4. Der spekulative Satz

207

szendentalen Begriff", der notwendigen Antinomie oder der Idee. Anders: Als transzendentale Anschauung bleibt sie doch Anschauung, die zum „transzendentalen Begriff" hinzu gefordert, postuliert wird. Daher sieht man überhaupt, „daß diese ganze Weise des Postulirens darin allein ihren Grund hat, daß von der Einseitigkeit der Reflexion ausgegangen wird" Die bestimmte Negation bleibt Negation des Bestimmten, kann nicht selbst wieder Negation der Negation, d. h. sich aufhebende Endlichkeit, werden. Das Postulieren selbst als ausgehend von der endlichen Reflexion ist eine Manier, die immer ein Sollen bleibt. Eine so postulierte transzendentale Anschauung ist in der Tat ein „Jenseits", das nie erreicht werden kann, ein absolutes Mystikum, dessen Irrationalität über jeden Versuch eines rationalen Ansatzes triumphiert. Im Grunde sind wir durch die transzendentale Anschauung nicht weiter gelangt als schon durch die Antinomie: Wie die Antinomie die Grenze des begrifflichen Denkens ist, so ist entsprechend eine transzendentale Anschauung, ein „intellectus archetypus", der als transzendent schon definierte Bereich des „Dinges an sich". Nichts anderes als die kritische These KANTS, daß durch den Verstand über die Verstandeserkenntnis nicht hinausgegangen werden könne, entwirft sich, auf dogmatische Weise, d. h. im von KANT kritisierten Sinne „metaphysisch", ausgedrückt, vor unseren Augen, wenn wir den Schritt zur transzendentalen Anschauung akzeptieren; die transzendentale Anschauung ist mithin negativ ebenso formal wie die Antinomie, eben weil die Antinomie sie fordert. Das gebieterische „nihil ulterius" der KANTischen Kritik macht als transzendentale Anschauung den Versuch, auch einmal auf dem Kopf zu gehen, wodurch es allerdings jeder Fähigkeit zum effektiven Fortschreiten verlustig geht, denn vom Moment der Einführung des Mystikums einer transzendentalen Anschauung an kann in der Tat die Wissenschaft keinen Schritt vor noch zurück tun, da sie ihr einziges Element, das begriffliche Denken, aufgegeben hat. So verhält es sich denn auch bei SCHELLING, wenn man davon absieht, daß bei ihm viel über „intellektuelle Anschauung" geredet wird. Was aber heißt das bisher aus der Entwicklung des Gedankens begrifflich-abstrakt Hergeleitete nun konkret? — Die erwiesene „Formalität" der transzendentalen Anschauung zeigt, daß „transzendentale Anschauung" ein Wort ist, das nicht sich selbst meint, denn würde es sich selbst meinen, dann hätten wir zwar Erbauliches, aber keine Philosophie vor uns. „Transzendentale Anschauung" meint also etwas anderes, ist ein formaler Hilfsbegriff, der — als Zugeständnis an SCHELLING oder einfach >3» GW 4. 29 Z. 28 ff = SW 1. 70 = Diff. 33.

208

II. DIE METHODE.

3. Transzendentale Anschauung

in Ermangelung eines besseren Ausdrucks — zur Bezeichnung eines Gemeinten eingeführt ist, welchem wir nun weiter nachzufragen haben. Den Hinweis auf die Notwendigkeit eines solchen Weiterfragens bietet die Apostrophierung der systematischen Einführung der transzendentalen Anschauung, des Postulierens, als bloße „Manier". Bedienen wir uns bei der Erfragung dessen, was das Gemeinte der uneigentlichen Redeweise „transzendentale Anschauung" sei, jenes FiCHXEschen Gedankens, der Begriff sei die Ruhe, die Anschauung dagegen die Bewegung Wenn wir also nach der Anschauung fragen, fragen wir nach dem, was die Bewegung in den Begriff bringt. Als Ausgangspunkt ist angenommen die Antinomie. Das der Antinomie Fehlende, diese durch sein Fehlen zu einem Formalen Stempelnde ist also die Bewegung. Die Antinomie sei, so sagten wir der notwendige Widerstreit zweier beweisbarer Sätze, also „A = B", wobei „A" und „B" als Sätze verstanden sind. „A" ist das Subjekt des Satzes von Sätzen, reine gesetzte Sichselbstgleichheit, „A = A". Folglich ist das Prädikat „B" zu verstehen als „A = B", deim dem Subjekt „A" als „A = A" soll etwas zu- oder abgesprochen werden, das Prädikat „B"; dieses kann aber nicht „B = B" sein, reine gesetzte Sichselbstgleichheit, denn sonst wäre es „A", der Satz somit keine Antinomie, sondern wieder reine gesetzte Sichselbstgleichheit, „A = A". — „(A — A) — (A = B)" ist also der Ausdruck der Antinomie. Danüt nun, daß „A" bestimmt ist als „B", also „A = B", löst sich seine Bestimmung, „A = A" zu sein und zu bleiben, auf, es ist „A = B". Die Antinomie „(A = A) = (A = B)", als Antwort auf die Frage: „Was ist ,A'?", welches die We^ensfrageist, verstanden, heißt also: Das Wesen von „A" (oder seine Substanz) ist „A = B". Das reine „A = A", die als Subjekt gesetzte Sichselbstgleichheit, löst sich hierbei gleichsam auf; „A" ist nicht, was es zu sein schien, auch nicht sein reines Anderes, sondern es ist wesentlich „A = B". Das Wesen dieser Bestimmung von „A" ist nun wieder als Satz gefaßt, für den dieselbe Frage gilt: „Was ist ,A'?". Das Wesen von „A" als „A = B" entwickelt sich somit als es selbst, „A == B" als „A = (A = B)" löst das bestimmte Subjekt des Wesens auf und führt es auf sich selbst zurück, aber nun als das, was sich selbst und sein Anderes in sich hat. „A" in seiner wesentlichen Bestimmung ist es selbst und sein Wesen, „A" in „B" ist „A = B" und nur als solches „A". 131 vvlssen, daß Hegel diesen Begriff später hat fallen lassen (vgl. SW 2. 59 f et passim). S. o. S. 176 f. S. o. S. 131 f.

4. Der spekulative Satz

209

Beginnen wir nun bei der reinen Sichselbstgleichheit, dem Begriff „A", so zeigt sich in ihm, daß er an ihm selbst sein Anderes hat, mit dem zusammen allein er das ist, was er ist, oder, wie wir es oben sagten; „A" ur-teilt sich selbst in sich und sich, in „A = A", welches zweite „A", da es nicht das erste ist, „Nicht-A" ist: also „A = Nicht-A", „A = B". Der reine gesetzte Begriff hat es also schon in sich, sobald er für sich wird, seine Negation zu sein, welche nur durch ihre eigene Negation, die Negation der Negation also, das ist, was „A" ist. Das Aufheben des Subjekts in seinem Prädikat erweist sich als die Zurückführung des in sich geurteilten Begriffes in sich als Begriff. Schon im Begriff selbst steckt demnach — gleichsam — seine Bewegung, der Begriff in seiner notwendigen Antinomie trägt seine Bewegung in sich, ist das Sich-auflösen des Subjekts im Prädikat, wie wir es genannt haben, die Reduktion des sich in Subjekt und Prädikat ge-urteilt habenden. Begriffes in sich; er ist selbst das, was ihm erst konstruiert werden sollte. Dies wird einleuchtend, wenn wir darauf auf merken, daß das Sich-auflösen des Subjekts im Prädikat die Negation der Negation oder die Reduktion, d. h. eben das ist, was wir oben als die „Konstruktion", welche Rekonstruktion, d. h. Synthesis, ist, gefordert haben. Für diese Rekonstruktion des Begriffs aus seinem Sich-ge-urteilt-haben, dem Urteil, für diesen „Gegenstoss" des Prädikats gegen das Subjekt kennen wir den Ausdruck „spekulativer Satz". „Transzendentale Anschauung" ist mithin uneigentlicher Ausdrude für das im Ausdruck „spekulativer Satz" adäquat Ausgedrückte. Der spekulative Satz erweist sich so als Ausdruck der Negation der Antinomie, des sich aufhebenden, d. h. negierenden Begriffs, — also drückt der spekulative Satz die Negation der Negation des Begriffs aus. „Transzendentale Anschauung" meint folglich die sich aus der Aufhebung wiederherstellende Einheit des Begriffs als Einheit von Begriff und Anschauung, den realisierten Begriff, welcher Idee ist. Daher sind Idee und transzendentale Anschauung am Anfang der Philosophie als ihr für die Reflexion vorausgesetztes Ziel unmittelbar eines und wesentlich Begriff, denn nur in ihm ist diese Identität. Das Prinzip der Philosophie ist nicht eine irrationale „intellektuelle Anschauung", sondern die transzendentale im hier entwickelten Sinne, 134 S. o. S. 130. 135 Daß wir mit der Ansetzung des Terminus „spekulativer Satz" schon zur Interpretation der Differenzschrift auch vom rein historischen Gesichtspunkt her gesehen nicht ganz falsch liegen, beweisen Entwürfe aus der Frankfurter Zeit, die in Richtung auf eine Entwicklung dessen tendieren, was in der Phänomenologie dann zum ersten Mal den Namen „spekulativer Satz" erhält. — Vgl. Hegels theologische Jugendschriften. 383.

210

n. DIE METHODE. 3. Transzendentale Anschauung

d. h. der sidi realisierende Begriff. Der reale oder konkrete Begriff und der formale der Reflexion sind nicht unmittelbar dasselbe, erst die Bewegung des letzteren ist dieser. Der reale Begriff als Prinzip ist somit jene „schwebende Mitte" und ihre Extreme zugleich, die sich für seine „Rekonstruktion", den spekulativen Satz, so schön am Exempel des Rhythmus demonstrieren läßt. „Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, daß die Natur des Urtheils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird, und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält. — Dieser Konflikt der Form eines Satzes überhaupt, und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs ist dem ähnlich, der im Rhythmus zwischen dem Metrum und dem Accente stattfindet. Der Rhythmus resultirt aus der schwebenden Mitte und Vereinigung beider. So soll auch im philosophischen Satze die Identität des Subjekts und Prädikats den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten, sondern ihre Einheit soll als eine Harmonie hervorgehen. Die Form des Satzes ist die Erscheinung des bestimmten Sinnes oder der Accent, der seine Erfüllung unterscheidet; daß aber das Prädikat die Substanz ausdrückt, und das Subjekt selbst ins Allgemeine fällt, ist die Einheit worin jener Accent verklingt." Dadurch, daß die intellektuelle Anschauung als transzendentale gefaßt und so spekulativer Satz wird, erhält sie die Notwendigkeit, sich darzustellen. Die Philosophie ist nichts anderes als das „A = B" der Antinomie, aber die Entfaltung des Begriffes in seine Antinomie und aus dieser in sich selbst als in das Andere seiner selbst und seines Anderen muß entwickelt werden, soll die Philosophie nicht in einem Ahnen, in dem mystischen Ansdrauen und Fühlen einer intellektuellen Anschauung steckenbleiben

lä» Hegel: SW 2. 57 f. Ebd. 59 f; s. o. Anm. 131.

II. DIE METHODE. 4. Methode und System

II.4.

211

Methode und System

Als Prinzip der Philosophie haben wir ihre Methode, die überwundene Reflexion oder den spekulativen Satz, erkannt. „Spekulativer Satz" ist ein Ausdruck und drückt als solcher selbst einen Ausdruck aus. Nach dem bisher Entwickelten ist es jedoch unmittelbar einleuchtend, daß wir den durch den Ausdruck „spekulativer Satz" ausgedrückten Ausdruck als Form, und das heißt ^; als geformtes Wesen, zu verstehen haben. Der so verstandene spekulative Satz drückt das Wesen der Philosophie, aber dieses nicht als Prinzip aus. Das Prinzip der Philosophie wäre, abgelesen am spekulativen Satz: Vernichtung aller Entgegensetzungen in der Identität als Entgegensetzung selbst. „Das Bedürfniß der Philosophie kann sich darin befriedigen, zum Princip der Vernichtung aller fixirten Entgegensetzung, und zu der Beziehung des Beschränkten auf das Absolute durchgedrungen zu seyn; «diese Befriedigung im Princip der absoluten Identität findet sich im Philosophiren überhaupt." ^ Mit der Fassung des Prinzips als des spekulativen Satzes aber ergibt sich, wie wir sahen, die Notwendigkeit, daß das Prinzip sich darstellt, denn wenn in der Tat der spekulative Satz Ausdruck der Bewegung des Begriffs ist, so ist es nicht damit getan, diese Bewegung glaubwürdig zu versichern, sondern dann muß sich der Begriff auch bewegen, d. h. er muß in seiner Bewegung erscheinen. Sonst wäre zwar das Wesen der Philosophie als erscheinendes bestimmt, aber wir würden dennoch nur über das Wesen, nicht über es in seiner Erscheinung, sondern über es als abstraktes reden. „Das Wesen muß erscheinen" heißt also: Das Prinzip muß sich darstellen, der Begriff muß sich bewegen, was äquivalente Aussagen sind. Bei der Befragung der Methode, in welcher wir sie nun als zum Prinzip gewordene vor uns haben, erfragen wir — erinnern wir uns zurück ® — das Wesen der Philosophie. Das bedeutet aber, daß „Das Prinzip muß sich darstellen" und „Der Begriff muß sich bewegen" als Synonyma von „Das Wesen muß erscheinen" soviel meinen wie: Philosophie muß erscheinen. Das Wesen der Philosophie erwies sich uns als Einsicht in 1 S. o. S. 49 ff. 2 CW 4. 30 Z. 5 ff = SW 1. 70 = Diff. 33. 3 S. o. S. 93.

212

II.

DIE METHODE.

4. Methode und System

die grundlegende Relation von Absolutem und seiner Erscheinung, das heißt also: als das Absolute selbst^. „Erscheinen des Absoluten" meint aber: Sich-denken des Absoluten. Sich-denken des Absoluten ist absolutes Wissen oder, wie wir es nannten absolute Theorie des Absoluten. Somit heißt „Das Prinzip der Philosophie muß sich darstellen" nichts anderes als: Das Absolute muß sich in absoluter Theorie seiner selbst wissen. Absolute Theorie des Absoluten oder absolutes Wissen impliziert als Relation, genauer: sich wissende Relation selbst, d. h. als Relation alles nur irgend möglichen Relativen, dieses erst hervorbringend, dessen Totalität. Totalität aber, rein als Totalität verstanden, kann nicht die bloße Summe alles Relativen meinen, deim wäre Totalität die Summe alles Relativen, so hätte sie das Summieren selbst außer sich, wäre nur „Produkt", nicht aber auch „Produzent". Totalität als Implikat der grundlegenden Relation hat selbst Relationscharakter, den wir in dem Begriff „Kontinuität" fassen können. Kontinuität als Relationscharakter der Totalität ist totale Kontinuität, die den Gegensatz ihrer gegen die Diskretion in sich faßt. So verstanden können — zunächst von außen her — Kontinuität und Totalität als Momente des erscheinenden, und daß heißt: sich wissenden. Absoluten angesetzt werden. Die kontinuierliche Totalität des Wissens heißt „System". — „Das Prinzip der Philosophie muß sich darstellen" meint also: Das Sich-wissen des Absoluten muß System werden. „Es muß das Bedürfniß entstehen, eine Totalität des Wissens, ein System der Wissenschaft zu produciren. Hierdurch erst befreyt sich die Mannichfaltigkeit jener Beziehungen von der Zufälligkeit, indem sie ihre Stellen im Zusammenhang der objektiven Totalität des Wissens erhalten, und ihre objektive Vollständigkeit zu Stande gebracht wird. Das Philosophiren, das sich nicht zum System konstruirt, ist eine beständige Flucht vor den Beschränkungen, mehr ein Ringen der Vernunft nach Freyheit, als reines Selbsterkennen derselben, das seiner sicher, und über sich klar geworden ist. Die freye Vernunft und ihre That ist Eins, und ihre Thätigkeit ein reines Darstellen ihrer selbst." * * Zur Identität von Absolutem und Wesen der Philosophie s. o. S. 50 ff. « S. o. S. 122. • GW 4. 30 Z. 22 ff = SW 1. 71 = Diff. 34. — Vgl. die vielzitierte Stelle aus Hegels Brief an Schelling vom 2. 11. 1800 {Briefe von und an Hegel. Bd 1. 59 f): „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetem Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln ...". Was man zumeist zu zitieren unterläßt oder als rein biographisch uninteressant beiseite zu schieben pflegt, ist der Nachsatz: „... ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist." Dieser Nachsatz zeigt deutlicher als jede emphatische Behauptung, daß

1. Kontinuität und Totalität

213

Es wird im folgenden also darum gehen, die zum sich-darstellen-müssenden Prinzip gewordene Methode, welche das System ist, in ihren Implikaten, den Aspekten oder Momenten der Kontinuität und der Totalität zu erfassen. Kontinuität und Totalität als Momente des Systems sind, um mögliche Mißverständnisse auszuschalten, von den Systemauffassungen KANTS, FICHTES und SCHELLINGS abzusetzen. Diese Absetzung wird uns auf unseren Ausgangspunkt, die geschichtliche Einstellung als philosophische Kritik zurückführen. Abschließend werden wir vom geschichtlichen Standpunkt aus sehen, wie unsere Grundfrage nach dem Wesen der Philosophie in dem Verhältnis von Methode und System aufgeht. II.4.1.

Kontinuität und Totalität

„Das Absolute soll fürs Bewußtseyn konstruirt werden" ®, so war die Aufgabe der Philosophie umschrieben. Wir sahen, daß „Konstruktion des Absoluten fürs Bewußtsein" Selbstbewußtwerdung des Verstandes, absolutes Wissen, anders: absolute Theorie des Absoluten meint. „Wissen" ist im allgemeinen Ausdruck des Resultats einer subjektiven Tätigkeit: Ich lerne etwas oder nehme etwas „zur Kenntnis" ®, und dann weiß ich es. Dieses Wissen als von seinem Entstehen abgetrenntes Resultat desselben richtet sich auf anderes, auf ein Objekt des Wissens. Die grundsätzlich apophantische Struktur des reflexiven (und das heißt in diesem Falle: des sprachgebundenen) Denkens offenbart sich auch hier: Etwas weiß etwas von etwas, oder: weiß etwas als etwas. Diese Struktur umschreibt genau die Reflexion in abstrakter Form, den Selbstwiderspruch der gerichteten Umkehr. Indessen zeigte sich uns, daß es sich hierbei nicht um Wissen, sondern um Kenntnis handelt, die als solche zufällig ist. „Es kann eine Menge einzelner empirischer Kenntnisse geben; als Wissen der Erfahrung zeigen sie ihre Rechtfertigung in der Erfahrung auf, d. h. in der Identität des Begriffs und des Seyns, des Subjekts und Objekts; sie sind eben darum kein wissenschaftliches Wissen, weil sie nur diese Rechtfertigung in einer beschränkten, relativen Identität haben und sich weder als nothdie Intention des Hegelschen Systems von allem Anfang an eingreifende Rüdekehr in das Leben der Menschen, d. h. Konkretisierung oder besser Re-konkretisierung des Reflektierens ist; Das Bedürfnis der Philosophie will sich realisieren. - Vgl. M. Baum! K. Meist: Durch Philosophie leben lernen. Hegels Konzeption der Philosophie nach den neu aufgefundenen Jenaer Manuskripten, ln: Hegel-Studien. 12 (1977), 43-81; s. u. S. 280 ff. ’ S. o. S. 32 ff und 64 f. ® GW 4.16 Z. 19 = SW 1. 50 = Diff. 17. » S. o. S. 20 ff.

214

II.

DIE METHODE.

4. Methode und System

wendige Theile eines im Bewußtseyn organisirten Ganzen der Erkenntnisse legitimiren, noch die absolute Identität, die Beziehung auf das Absolute in ihnen durch die Spekulation erkannt worden ist." Absolutes Wissen, absolute Theorie des Absoluten, erfordert also mehr. Die empirische Kenntnis, das Wissen der Erfahrung, ist zufällig, nicht wissenschaftliches Wissen, sondern einzeln Gewußtes. Selbst wenn das Prinzip, die aufgehobene Antinomie oder der spekulative Satz, eingesehen ist, bleibt das einzeln Gewußte ein Zufälliges, wenn nicht die Beziehung auf das Absolute in ihm hergestellt wird, wenn das Prinzip sich nicht darstellt. „Das gewußte wäre seinem Inhalte nach ein zufälliges, die Entzweiungen, aus deren Vernichtung es ging, gegeben, und verschwunden, und nicht selbst wieder konstruirte Synthesen, der Inhalt eines solchen Philosophirens hätte überhaupt keinen Zusammenhang unter sich, und machte nicht eine objektive Totalität des Wissens aus. Wegen des unzusammenhängenden seines Inhalts allein ist diß Philosophiren gerade nicht nothwendig ein Räsonniren; lezteres zerstreut die Gesetzten nur in grössere Mannichfaltigkeit, und wenn es in diesen Strom gestürzt, haltungslos schwimmt, so soll die ganze selbst haltungslose Ausdehnung der verständigen Mannichfaltigkeit bestehen bleiben; dem wahren obschon unzusammenhängenden Philosophiren dagegen verschwindet das Gesetzte und seine Entgegengesetzten, indem es dasselbe nicht bloß in Zusammenhang mit andern Beschränkten, sondern in Beziehung aufs Absolute bringt, und dadurch aufhebt." Das wahre, obschon unzusammenhängende Philosophieren, also die als spekulativer Satz erkannte Methode des Philosophierens ohne ihre Darstellung, wäre Destruktion, absoluter Skeptizismus, der nur das Moment der Vernichtung in der sich aufhebenden Reflexion sieht. Alle Entgegengesetzten höben sich selbst auf, und es bliebe bei der abstrakten Negation, denn da die Entgegengesetzen mannigfaltig sind, wäre es auch ihre Vernichtung. Um das Bild des Kampfes von Verstand und Vernunft sprechen zu lassen, würde das heißen: Der totale, aber unkoordinierte Vernichtungskrieg setzte ein, der an allen Orten zugleich zu kämpfen hätte. Dies wäre eine Art von Beziehung des Relativen auf das Absolute, aber eben jene, die in der Antinomie stehenbleibt; anders: Das Absolute würde in dieser Beziehung relativiert. Die sich aufhebende Antinomie wäre zwar verschwunden, aber dieses Verschwinden wäre seinerseits nur ein zufälliges. „Weil aber diese Beziehung des Beschränkten auf das Absolute ein mannichfaltiges ist, da die Beschränk»» GW 4.19 Z. 30 ff = SW 1. 55 = Diff. 21. S. u. S. 216 ff. 12 GW 4. 30 Z. 8 ff = SW 1. 70 f = Diff. 33 f.

1. Kontinuität und Totalität

215

ten es sind, so muß das Philosophiren darauf ausgehen, diese Mannichfaltigkeit als solche in Beziehung zu setzen." Wieder droht die Gefahr, in die bereits überwundene bloße Reflexion zurückzufallen. Wie läßt sich dieser Rückfall vermeiden? — Das Prinzip der Philosophie ist, wie wir sagten, der spekulative Satz. Der spekulative Satz ergab sich als Ausdruck der Selbstüberwindung der Reflexion, nicht als das bloße Überwinden-sollen, sondern als das tatsächliche Überwinden. Indem die Reflexion über ihre Grenze hinausgeht, hat sie sich verlassen, ist nicht mehr Reflexion, aber sie ist noch. Wäre sie nicht mehr, so wäre sie auch nicht über sich hinausgegangen. Auch die paradox erscheinende Umkehrung gilt: Die Reflexion ist nicht, wenn sie Reflexion bleibt. Dadurch, daß die Antinomie als Ausdruck des Selbstwiderspruchs der Reflexion aufgehoben ist, wird sie spekulativer Satz, der seinerseits wieder sich als Satz aufheben muß, um nicht in einer neuen Antinomie stehenzubleiben. Diese Bewegung der Selbstaufhebung ist geführte Bewegung, sie hat einen Zusammenhang. Was kann das heißen, sie sei geführte Bewegung? — Bewegung bedarf eines Ausgangspunktes und einer Richtung. Auf unsere Frage appliziert, würde das heißen: Das Sich-aufheben der Reflexion bedarf eines Ausgangspunktes. Dieser Ausgangspunkt ist gegeben, er ist die Reflexion, bzw. die Antinomie selbst. Die Richtung, deren das Sich-aufheben der Reflexion zudem bedarf, ist ebenfalls durch sie selbst gegeben, durch ihren eigenen Widerspruch. Bildlich gesprochen: Das Sich-aufheben zweier Kräfte (welche in unserem Fall aber zugleich verschieden und identisch sind) ergibt eine dritte, die resultierende Kraft, wie das Kräfteparallelograirun anschaulich zeigt. Das Bild läßt uns jedoch bereits hier im Stich, denn — genauer besehen — zeigt sich schon in seinem Ansatz, daß die beiden angenommenen Kräfte als verschiedene und doch identische die Resultante (Diagonale des Parallelogramms) vorausnehmen. Die bildliche Vorstellung kann uns also auf dieser Höhe der Abstraktion nicht mehr leitend sein. Der spekulative Satz als Aufhebung der Antinomie ist — und das ist zu betonen — ein neuer Satz, der als Satz wieder seinen eigenen Widerspruch in sich trägt. Er geht über die Erscheinung der Antinomie, deren Aufhebung er ist, hinaus, unterliegt ihr aber wieder, sobald er erscheint. Er selbst setzt sich also wieder sein Anderes entgegen und vernichtet sich und jenes in einer neuen Aufhebung. Das Gesetz seiner Aufhebung trägt er in sich, und dadurch ist deren Richtung ebenso wie ihr Ausgangspunkt i’ GW 4. 30 Z. 20 ff = SPV 1. 71 = Diff. 34.

216

II.

DIE METHODE.

4. Methode und System

bestimmt, der die Stufe der Aufhebung ist, auf der er sich jeweils bewegt. „(A = A) = (A = B)" als Ausdruck der Antinomie hebt sich auf zum spekulativen Satz „C" der, als Satz verstanden und somit der Erscheiung angehörig, in seiner eigenen Antinomie steht, also „(C = C) = (C = D)", deren Aufhebung der spekulative Satz „E" ist, der als Erscheinung denselben Gesetzen unterliegt etc. . . Die Bewegung des Sich-aufhebens der Antinomie ist also, wie wir sagten, geführte Bewegung, geführt durch ihr Prinzip, die Aufhebung der Entgegensetzung. Auf „A" und „B" folgt „C" und nichts anders. „C" kann nicht nur, sondern muß folgen. Es gilt also: Nach Maßgabe des Prinzips muß auf „A" und „B" etwas folgen, und nach Maßgabe desselben Prinzips kann nur „C" folgen. Das meint die Rede von der geführten Bewegung. — Diese ist mithin — auf diese Weise linear projiziert — kontinuierlich. Die Kontinuität meint, rückbezogen auf die beschränkten mannigfaltigen Entgegensetzungen, deren Zusammenhang. Der Zusammenhang der beschränkten Mannigfaltigen erlaubt, daß diese zusammenhängend, also sowohl beschränkt als auch unbeschränkt, ebenso mannigfaltig wie eins sind. Damit jedoch ist es nicht getan. Hinge nämlich dieser Zusammenhang, die kontinuierliche Bewegung von einem zum anderen und von diesem aus jenem, von der Erfahrung ab, so wäre er und auch das in ihm Zusammenhängende abhängiges, d. h. relatives Gewußtes, der Zusammenhang selbst wäre beschränkt und damit wieder zufällig. Absolute Theorie des Absoluten impliziert aber Notwendigkeit. Notwendigkeit, so sagten wir ^®, sei die begriffene Zufälligkeit. „Begriffene Zufälligkeit" heißt aber: als Erscheinung des Absoluten begriffene Zufälligkeit, — in unserer linearen Projektion gesehen: Position des Einzelnen in seinem Zusammenhang. „Position" meint aber nicht nur das „Zwischen" in bezug auf das Vorausgegangene und das Folgende, sondern auch: Stellung des Beschränkten im Ganzen des Beschränkten. Bei genauerem Zusehen ist dies schon im Begriff der Kontinuität enthalten: Kontinuität ist Eigenschaft des Daß wir diesen spekulativen Satz „C" nennen, ist völlig beliebig und rein definitorisch. Wir könnten ihn auch, um völlig im Bereich eines Grundzeichens zu bleiben, wieder „A" nennen und mit einem Index zur Kennzeichnung versehen, etwa: „(A = A) = (A = Ä)" wird aufgehoben in dem spekulativen Satz „Ai" etc. Geraten wir hier nicht wieder in einen unendlichen Regreß? — Das wäre wohl der Fall, werm es sich bei der Antinomie und ihrer Aufhebung im spekulativen Satz um eine „anzuwendende Form" handeln würde. Dies ist jedoch nicht der Fall, da die Negation in der Antinomie zu einer qualitativen Neufassung des als „Subjekt" gesetzten „A" führt. S. o. S. 62.

1. Kontinuität und Totalität

217

KontinuumSy Kontinuum aber ist das Gesamt eines kontinuierlidien Zusammenhanges, die Totalität. Kontinuität und Totalität machen die beiden unzertrennlichen Aspekte oder Momente des Zusammenhanges aus, welcher Zusammenhang der Einzelnen untereinander und ihrer mit dem Ganzen ist. Der erkannte Zusammenhang der Einzelnen untereinander und ihrer mit dem Ganzen ist das System. Das Prinzip der Philosophie, ausgedrückt im spekulativen Satz, trägt, wie wir sahen, die Kontinuität als die geführte Bewegung der sich aufhebenden Reflexion in sich. Gilt dies auch für die Totalität? — Kontinuität und Totalität sind, so sagten wir, unzertrennlich miteinander verbunden, sie sind äquivalente Aspekte des Zusammenhanges. Wenn also das Prinzip der Philosophie die Kontinuität seiner Entfaltung in sich trägt, so notwendigerweise auch seine Totalität. Allein, dieser Schluß ist formal, — er gibt keine inhaltliche Bestimmtheit über die uns beschäftigende Frage nach der im Prinzip implizierten Totalität. Auf einem anderen Wege können wir indessen hier weiterkommen. Besinnen wir uns darauf, daß unsere Beweisführung beim Begriff der Kontinuität auf einer linearen Projektion fußte. Durch diese lineare Projektion, symbolisiert im Alphabet, legte sich uns die Vorstellung nahe, bei der erfragten Totalität handle es sich um eine endliche Anzahl. Schon die von Hegel oft benutzte Projektion des Zusammenhanges in einen Kreis, der keinen Anfang und kein Ende hat, folglich auch nicht endlich, aber dennoch eine Totalität ist, oder auch jede Limes-Projektion zeigt jedoch die Unhaltbarkeit und Zufälligkeit einer solchen Vorstellung, obwohl — dies muß hier angemerkt werden — auch diese Projektionen aus anderen Gründen insuffizient sind. Anders gesagt: Es geht in der Konstitution des Systems darum, den bereits vorgegebenen Bereich das sich ur-teilende Absolute, zum Bewußtsein zu bringen, oder die Identität von endlichem und unendlichem Denken zu denken. Das sich ur-teilende Absolute als denkendes aber ist der als Urteil verstandene Begriff, welcher nichts anderes ist als die Negation der Negation des Begriffs, auch „anschauender Begriff" genannt^®, d. h. der spekulative Satz. Der spekulative Satz als Prinzip der PhiloDiese Projektionen sind als „Vorstellungen" alle gebunden und daher durchaus relativ, schlechte Unendlichkeit. Man kann sagen, daß nur ihre Aufhebung die wahre Projektion entstehen lassen körmte. „Bereich" ist hier als uneigentlicher Begriff eingeführt, da seine übliche Bedeutung wieder eine Ausgrenzung des Relativen aus dem Absoluten nahelegt. 1» S. o. S. 98 ff. 2» S. o. S. 206 ff.

218

II. DIE METHODE. 4. Methode und System

Sophie ist somit zugleich Anfang, Fortgang und Ende Prinzip und Prinzipiat. Das Prinzip, welches es selbst und sein Prinzipiat ist, ist nicht mehr das abstrakte Erste, sondern zugleich potentielle Kontinuität und Totalität. Um diese zu einer aktuellen werden zu lassen, ist nicht etwas Neues notwendig, welches wiederum das Prinzip prinzipiierte, sondern nichts als die Erfüllung des Bedürfnisses des Prinzips. Das sich und sein Prinzipiat in sich begreifende Prinzip bedarf des Prinzipiates, um in diesem Sinne Prinzip werden zu können. „Potentia" und „actus" wären im Prinzip unmittelbar identisch, würde das Reflektieren, welches selbst Prinzipiat des Prinzips ist, dieses nicht an seiner Entfaltung in das Prinzipiat hindern. Durch die Reflexion auf die Reflexion oder die Selbstreflexion der Reflexion aber wird die Kraft der Negativität, die das Prinzip ist, wieder freigesetzt, indem die Reflexion in der Antinomie sich als Prinzipiat, als ihren eigenen Widerspruch und somit in ihrer vermeinten Absolutheit als Hemmnis des Sich-Prinzipiierens des Prinzips erkennt. Allein, durch die Rede von dem Hemmen der Reflexion gegenüber dem Sich-Prinzipiieren des Prinzips erhält die Reflexion eine schiefe Stellung. Es entsteht die Vorstellung, als sei die Reflexion etwas Überflüssiges. Wohl ist die Reflexion zu beseitigen, aber sie kann nur beseitigt werden durch sich selbst, und das heißt: die Reflexion muß notwendigerweise sein. Ohne sich als ihr eigenes Hemmen ihres Über-sich-hinausgehens könnte sie sich niemals beseitigen. Es ist unmittelbar einleuchtend, daß wir hier von zwei verschiedenen „Prinzipien" reden. „Prinzip I" wäre gleichsam das bloße Prinzip, das reine „A", welches „A = A" ist. Das Prinzip muß sich als der reinen Sichselbstgleichheit das Prinzipiat entgegensetzen, welches als entgegengesetzt dem Prinzip „Non-A", „Ä", also „B" ist. Das wahre Prinzip, gleichsam „Prinzip II", wäre Identität von Prinzip und Prinzipiat, also „A = Non-A", „A = Ä", „A = B". Wir sehen, daß das Prinzip, Aufhebung der Entgegensetzung oder spekulativer Satz, auch für sich selbst gilt. Demnach begründet oder prinzipiiert das Prinzip auch sich selbst, was nur ein anderer Ausdruck für die Identität von Prinzip und Prinzipiat im Prinzip ist. Die Selbstbegründung des Prinzips oder das spekulative Prinzip ist mithin Identität von Prinzip und System oder — genetisch ausgedrückt —: das Werden des Systems. Kontinuität und Totalität als aus Abstraktion gewonnene Momente des konkreten Systems gehen in ihm von ihrer Möglichkeit in ihre Wirklichkeit über. Vgl. die Erörterungen zu „Prinzip" (s. o. S. 135).

219

2. Exkurs zu Kant, Fichte, Schelling

II.4.2.

Exkurs: Die Systemkonzeption bei

KANT, FICHTE

und

SCHELLING

Zur scharfen Abgrenzung des soeben Ausgeführten sei dies geschichtlich mit anderen Konzeptionen konfrontiert. Hegel ist nicht der erste und nicht der einzige, der die Philosophie als System fordert; KANT, FICHTE und SCHELLING können als zeitlich unmittelbar benachbarte Exponenten des Gedankens angeführt werden, das Wissen transzendental zu begründen, und das heißt: Philosophie als System zu ermöglichen und aufzustellen. Wir werden gut daran tun, die Systemauffassungen dieser drei Philosophen kurz kritisch zu beleuchten, wobei „Kritik" hier im ursprünglichen Wortsinn als „Scheidimg" verstanden sein will, was soviel heißen soll, daß hiermit der Unterschied der Hegelschen Systemkonzeption von denen der genannten drei Philosophen und damit die eigentliche Leistung Hegels freigelegt wird. KANT legt sein Systemverständnis knapp umrissen in der „Architektonik der reinen Vernunft" dar. Uns interessieren hier nur seine allgemeinen Ausführungen zum Gedanken des Systems, — die spezifische Ableitung und Architektonik in materialer Hinsicht zu seinem eigenen geplanten System ist eine Thematik für sich. Wie auch Hegel geht KANT von der Mannigfaltigkeit der vorliegenden einzelnen Erkenntnisse aus. Diese bilden ein bloßes „Aggregat", eine „Rhapsodie". Damit diese „gemeinen Erkenntnisse" zur Wissenschaft werden können, müssen sie „systematische Einheit" erhalten, das heißt aber nach KANT: Sie müssen unter einer Idee geeint sein. System ist also „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" Diese geforderte Idee ist „der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen" der, genauer gefaßt, erstens den Umfang des Mannigfaltigen und zweitens die Stellung der Teile untereinander a priori bestimmt, der also Totalität und Kontinuität ermöglicht. Bis hierher scheint die KANTische Fassung sich von derjenigen Hegels nicht wesentlich zu unterscheiden ^®. Doch hat KANT schon in der kurzen rekapitulierten Passage einen Hinweis darauf gegeben, daß unsere Deutung zu allgemein ist: Die leitende Systemidee ist „Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen". Diesen Hinweis finden wir nun bestätigt, wenn KANT fortfährt, die Systemidee enthalte also „den Zweck

22 23 23 23 2»

Kant: KdrV A 832 ff = B 860 ff. Ebd. A 835 ff = B 863 ff.

Ebd. A 832 = B 860. Ebd. S. o. S. 213 ff.

220

II.

DIE METHODE.

4. Methode und System

und die Form des Ganzen" die mit dem Zweck kongruiere Die Form des Ganzen ist also der Zweck, auf den hin die ihn enthaltende Idee die mannigfaltigen Erkenntnisse ordnet. Die Einheit des Zweckes, d. h. die bezweckte einheitliche Form des Ganzen, das System, ist mithin selbst regulativ systembildend, aber dennoch Prinzip : Das System will sich selbst als Form. Um aber wahrhaft zum System werden zu können, bedarf die leitende Idee, welche sich nun entschlüsselt hat als Totum und Kontinuum der Form, und zwar der systematischen, eines Schemas. Sie ist auf dieses angewiesen als auf die „a priori aus dem Princip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile" Das Schema nun meint hier nichts anderes als die Form selbst. Das Prinzip ist mithin seinerseits prinzipiiert von der Trennung „Form — Inhalt", die in der Tat als Trennung von „Form" und „Materie", jener Reflexionsbegriffe also, die „aller andern Reflexion zum Grunde gelegt werden" das gesamte KANTische Denken durchzieht, der Unterscheidung von „a priori" und „a posteriori" So kann sich für KANT — durchaus konsequent, wenn auch vielleicht sich dieser Konsequenz nicht immer bewußt — die regulativ das System fordernde Idee ebenso wie das Prinzip nur auf die Form beziehen. Hierfür bietet denn auch die Architektonik dessen, was KANT für das zu errichtende System der Philosophie ansieht, einen sprechenden Beleg. FICHTES „Prinzip der Philosophie in Form eines absoluten Grundsatzes" haben wir oben kennengelernt. Es kommt hier aber nur darauf an, die Komponente seiner Systemauffassung herauszuarbeiten. — FICHTE übernimmt von KANT die Trennung von Form und Inhalt oder, wie er auch sagt, von Form und Gehalt. Hypothetisch setzt er die Wissenschaft an als bestehend aus systematischer Form und gewissem (= gewußtem) Inhalt, der auf einem gewissen Grundsatz beruht, wobei die systematische Form nicht substantiell, sondern nur akzidentell wäre. „Das Wesen der Wissenschaft bestünde sonach, wie es scheint, in der Beschaffenheit ihres Inhalts und dem Verhältnisse desselben zu dem Bewußtsein desjenigen, von Kant: KdrV A 832 = B 860. Wie ersichtlich ist, entscheiden wir uns hier für die Lesart, die von Wille vorgeschlagen wurde, und die sich z. B. durch KdU A XXVI = B XXVIII = WA 5.180 stützen ließe. Vgl. ebd. *® Kant: KdrV A 833 = B 861. •* Ebd. A 266 = B 322. Hierin rezipiert Kant — über die Vermittlung der Schulphilosophie — die von uns angeführte (s. o. S. 43 ff) Wesenslehre des Aristoteles. S. o. S. 137 ff.

2. Exkurs zu Kant, Fichte, Schelling

221

welchem gesagt wird, daß er wisse: und die systematische Form wäre der Wissenschaft bloß zufällig; sie wäre nicht der Zweck derselben, sondern bloß etwa das Mittel zum Zwecke." Die Philosophie nun, um deren System es uns hier ja geht, wäre die Wissenschaft der Wissenschaft, d. h. die Wissenschaft, die die Gewißheit wissenschaftlicher Grundsätze und die Befugnis, auf eine bestimmte Art aus ihnen die Gewißheit anderer Sätze zu folgern, begründet, die also — zusammenfassend gesagt — die Frage nach der Möglichkeit von Wissenschaft beantwortet — FICHTE unternimmt also tatsächlich einen Versuch zur Selbstbegründung der Wissenschaft und damit des Wissens, da ja die Wissenschaft der Wissenschaft, die Philosophie, selbst Wissenschaft ist, und wenn sie, was ihre Aufgabe ist, wie die Möglichkeit der Wissenschaft schlechthin, so auch ihre eigene Möglichkeit begründen muß. FICHTE versucht, die Aufgabe der Selbstbegründung des Wissens so zu lösen; Der Grundsatz, auf dem die Philosophie aufgebaut sein muß, wenn sie Wissenschaft sein soll, muß absoluter Grundsatz sein, d. h. sein Gehalt muß seine Form, seine Form seinen Gehalt bedingen. Wenn es in ihr weitere Grundsätze gibt, so können dies außer dem absolut-ersten nur noch zwei sein, da sie als Grundsätze zumindest nach einer Seite hin unbedingt sein müssen, aber nur nach Form oder Gehalt unbedingt sein können, da sie sonst absoluter Grundsatz wären. Gibt es außer den drei Grundsätzen noch abgeleitete Sätze, so gilt: „Wenn nun alle Sätze einer Wissenschaftslehre an sich verschieden sein sollen — wie sie es denn sein müssen, denn sonst wären es nicht mehrere Sätze, sondern ein und ebenderselbe Satz mehrere Male: — so kann kein Satz seine vollkommene Bestimmung anders, als durch einen einzigen unter allen erhalten; und hierdurch wird denn die ganze Reihe der Sätze vollkommen bestimmt, und es kann keiner an einer anderen Stelle der Reihe stehen, als an der er steht. Jeder Satz in der Wissenschaftslehre bekommt durch einen bestimmten anderen seine Stelle bestimmt, und bestimmt sie selbst einem bestimmten dritten. Die Wissenschaftslehre bestiiiunt sich mithin selbst die Form ihres Ganzen." Hiermit hätte FICHITE die von ihm vorausgesetzte KANTische „Stufe" gleichsam eingeholt. Er muß aber über sie hinausgehen, da er seinen Vorsatz, die Wissenschaft nach Form und Gehalt in sich selbst zu begründen, zu erfüllen hat: Da im ersten Grundsatz Form und Gehalt einander gegenseitig begründen und alle anderen Sätze — direkt oder indirekt — aus diesem abgeleitet sind, bestimmt also in der ganzen Tickte: WW1.168 = SW 1. 39 (zitiert nach der 2. Auflage). WW 1.172 = SW 1. 43. 3« WW 1. 179 f = SW 1. 50 f.

222

II. DIE METHODE.

4. Methode und System

Wissenschaftslehre als Philosophie die Form den Gehalt und umgekehrt. Totalität und Kontinuität scheinen sich gegenseitig zu fordern, das System scheint selbstbegründend. Indes: wäre es dies wirklich, woher stammt dann die Berechtigung oder Notwendigkeit des Übergangs vom absolut-ersten Grundsatz zu den teils bedingten, teils unbedingten Grundsätzen, woher des weiteren der Übergang von diesen zu den abgeleiteten Sätzen Wie und woher kommt die Bewegung in das System? Bei Hegel bildet sich, wie wir sahen, das System aus der Bewegung des ge-urteilten Begriffs, das Prinzip ist die Bewegung selbst nur in ihrer Realisation zum System bei FICHTE hingegen muß die Bewegung immer aufs neue hereingebracht werden, das Bedürfnis, eine Totalität des Wissens, ein System der Wissenschaft zu produzieren, ist nicht ein Bedürfnis des Prinzips selbst, sondern ein äußerliches. — FICHTE drückt zwar die Tendenz aus, zur Selbstbegründung des Wissens zu gelangen, aber er begründet das Wissen, nicht dieses sich selbst, „die Philosophie des Systems und das System selbst fallen nicht zusammen" Es ist unschwer zu sehen, daß dies seinen Grund darin hat, daß FICHTE das Prinzip der Philosophie in Form eines absoluten Grundsatzes ausgesprochen hat was heißen soll, daß sein systematischer Ansatz nicht das Erkennen der Antinomie, sondern ein Deduzieren aus ihr ist. So konnte er die Aufhebung der Antinomie nicht als notwendig einsehen, die erst die Selbstbewegung und damit Selbstbegründung in Gang bringen kann. Bei ScHELLiNG nun scheint es so zu sein, daß er derjenige ist, der die Erfüllung der geforderten Identität von Prinzip und Prinzipiat, von Philosophie des Systems und System selbst geleistet hat, sagt doch Hegel selbst: „Das Princip der Identität ist absolutes Princip des ganzen ScHELLiNc'schen Systems; Philosophie und System fallen zusammen; die Identität verliert sich nicht in den Theilen, noch weniger im Resultate." Doch die Erfahrungen, die wir oben *- mit der postulierten Konstruktion der Antinomie, der intellektuellen Anschauung, bei SCHELLING gemacht haben, lassen zumindest einen vergewissernden Blick auf seine Systemkonzeption als ratsam erscheinen. Da SCHELLING sich nirgends zusammenhängend darüber äußert, was er unter „System" verstehe, müssen wir Vgl. hierzu auch W. Hartkopf: Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 21 (1967), 173 ff. *8 S. o. S. 217 f. 39 GIV 4. 31 Z. 21 f = SW 1. 72 = Diff. 35. 9» S. o. S. 137 ff. « CW 4. 63 Z. 4 ff = SIV 1. 122 = Diff. 75. ^9 S. O. S. 177 ff.

2. Exkurs zu Kant, Fichte, Schelling

223

den oben dargelegten Systementwurf zwischen 1800 und 1801 als die Realisierung seiner Systemidee verstehen und seine theoretische Systemkonzeption aus dieser heraus deuten. Dabei gehen wir von der Hypothese aus, die auch durch die Vorerinnerung zur Darstellung meines Systems von 1801 gestützt wird das ScHELLiNGsche System sei, ausgehend vom Prinzip der intellektuellen Anschauung, von zwei Seiten her in der Naturund Transzendentalphilosophie dargestellt, wobei die Naturphilosophie von der intellektuellen Anschauung gleichsam rückwärts, die Transzendentalphilosophie aber vorwärts gehe Die Philosophie selbst oder das eigentliche System SCHELLINGS steht also im „Indifferenzpunkt von Subjektivem und Objektivem" SCHELLING geht somit — dies mag als Grundgedanke seiner Systemkonzeption gelten — von dem in der Philosophie zu Erreichenden, der Aufhebung aller Entgegensetzung, unmittelbar aus und setzt die Erreichung der Indifferenz, d. h. des von der Philosophie Bezweckten, als Postulat der intellektuellen Anschauung dem Philosophieren selbst voraus. „Ich nenne Vernunft die äbsolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird . . . Das Denken der Vernunft ist jedem anzumuthen." Von dem durch die intellektuelle Anschauung gegebenen „Indifferenzpunkt" schreitet SCHELLING nun in der Darstellung ... nicht mehr wie in der Natur- und Transzendentalphilosophie einsinnig vor- oder rückwärts, sondern deduziert im Indifferenzpunkt „more geometrico". „lieber die Methode, welche ich bei der Construktion dieses Systems angewendet habe, wird sich am Ende der ganzen Darstellung bestimmter als am Anfang derselben sprechen lassen. Die Weise der Darstellung betreffend, so habe ich mir hierin SPINOZA zum Muster genommen, nicht nur, weil ich denjenigen, welchem ich, dem Inhalt und der Sache nach, durch dieses System am meisten mich anzunähern glaube, auch in Ansehung der Form zum Vorbild zu wählen den meisten Grund hatte, sondern auch weil diese Form zugleich die größte Kürze der Darstellung verstattet und die Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt." Das „absolute Identitätssystem" das SCHELLING hiermit aufzustellen versucht (er hat es niemals beendet), ist so als die Vermittlung oder „Wahrheit" der Naturund der Transzendentalphilosophie anzusehen. „Wer dieses System, so wie « S. o. S. 182 ff. Vgl. Schelling: WfV 3. 4 = SW 4. 108. “ Wobei die Überlagerung der Potenzen zu berücksichtigen ist (s. o. S. 192 f). “O Schelling: WW 3. 11 = SW 4.115. WW 3.10 = SW 4. 114. ‘8 WW3. 9 = SW 4.113.

Ebd.

224

II. DIE METHODE. 4. Methode und System

idi es jetzt vortrage, vorerst selbst begreift, hernach es mit jenen ersten Darstellungen zu vergleichen Lust hat und im Stande ist; wer ferner einsieht, wie viele Anstalten zu der vollständigen und evidenten Darlegung, die ich jetzt davon geben zu können überzeugt bin, erforderlich gewesen sind, wird es natürlich und nichts weniger als tadelnswerth finden, daß ich diese Anstalten wirklich erst gemacht, und daß ich die vollständige Erkenntniß dieser Philosophie, welche ich wirklich für die alleinige zu halten die Keckheit habe, von ganz verschiedenen Seiten her vorzubereiten gesucht habe, ehe ich wagte, sie selbst in ihrer Totalität aufzustellen." Darstellung und als diese gefaßte Methode des Systems sind bei ScHELLiNG, wie man sieht, nicht dasselbe wie das Dargestellte, — Prinzip und System differieren. Die Methode tritt als ein Äußeres, das System als eine Form zu dem Inhalt. Das karm auch nicht anders sein, da die intellektuelle Anschauung als Indifferenzpunkt postuliert wird und folglich das Resultat als imvermitteltes nur gesetztes, nicht gewordenes ist. Das Wissen kann sich bei SCHELLING nicht selbst begründen, sondern bleibt fremdbegründet, was bedeutet, daß das System für das Dargestellte eine fremde Form bleibt. Das Prinzip kann nicht es selbst zusammen mit dem von ihm Prinzipiierten sein, da das ScHELLiNGsche Prinzip, die intellektuelle Anschauung, sich als indifferente, sich nicht bewegende Identität gibt, aus der schlechterdings nichts hervorgehen kann. So erklärt sich auch auf einer neuen Ebene das spätere Wort Hegels, daß wir uns (z. B. durch SCHELLING) an das innere Anschauen verwiesen sähen, wodurch uns die Bewegung des Satzes, die Arbeit des Begriffs, d. h. also die Negation der Negation, die allein die Wahrheit ist, erspart bleibe Wir haben uns nun kurz die Systemauffassungen KANTS, FICHTES und ScHELLiNGs Vergegenwärtigt. Bei KANT ist das System als Form bewußt als ein Fremdes gegen den Inhalt gesetzt, FICHTE hebt diese Entgegensetzung auf und versucht, sich das System aus seinem Grundsatz ergeben zu lassen. Dabei verkennt er jedoch den antinomischen Charakter des Grundsatzes selbst, wodurch die systembildende Bewegung immer aufs neue hereingebracht werden muß. SCHELLING endlich spricht zwar die wahre Philosophie in ihrem Ansatz aus, aber sie ist nicht auf den Begriff gebracht, sondern nur im intellektuellen Anschauen intendiert. Von der intellektuellen Anschauung zur Darstellung des Systems führt nur eine äußerliche Brücke, die des deduktiven Verfahrens. »» WW 3. 3 = SW 4.107. S. o. S. 207. “ Hegel: SW 2. 59 f.

3. Methode^ System, Kritik

225

Hegels eigentliche Leistung ist demnach schon hier, am Anfang seines philosophischen Schaffens, nicht zu verkennen. Die Selbstbegründung des Wissens als Kontinuität und Totalität des sich entfaltenden Begriffes ist die einzige Kontinuität und Totalität, die nichts außer sich hat. Bei Hegel ist das Prinzip das Resultat als das Werden zu diesem ®*. Allerdings ist hierbei zu beachten, daß wir in der Differenzsdirift vorläufig nur einen das System aus dem Begriff der Philosophie, aus der Frage nach ihrem Wesen explizierenden Entwurf, nicht aber das System selbst vor uns haben. Einlösung dieser Konzeption wird nicht die Phänomenologie, sondern erst die Logik sein. II.4.3.

Methode, System, Kritik und das Wesen der Philosophie

Erinnern wir uns dessen, was wir oben über die geschichtliche Einstellung zur Philosophie ausführten. Philosophiegeschichte als „Geschichte der in unendlich mannichfaltigen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft" ®® bedient sich zur Emanzipation, und das heißt: zur Aneignung, Internalisierung und Bewußtmachung von Tradition als konkreten Mittels der Kritik. Philosophische Kritik, so gesehen Organon der geschichtlichen Einstellung, die sich auch als kritisch-philosophische kennzeichnen ließ, ist ebenso wie Philosophiegeschichte selbst wesentlich Philosophie, nicht historische Selbstbefriedigung eines äußerlichen Tuns, das an die Stelle der überflüssig gewordenen Philosophie selbst träte ®®. Um dies nun von der erreichten Stufe der Systemkonzeption her zu begreifen, müssen wir uns vertieft mit der Frage befassen: Was ist philosophische Kritik? „Die Kritik, in welchem Theil der Kunst oder Wissenschaft sie ausgeübt werde, fodert einen Maaßstab, der von dem Beurtheilenden eben so unabhängig, als von dem Beurtheilten, nicht von der einzelnen Erscheinung, noch der Besonderheit des Subjects, sondern von dem ewigen und unwandelbaren Urbild der Sache selbst hergenommen seye." Woran kann sich die philosophische Kritik orientieren? Wenn sie philosophische sein soll, dann nur an der Philosophie selbst oder, was dasselbe heißt, an deren Idee. „Wie die Idee schöner Kunst durch die Kunstkritik nicht erst geschaffen oder erfunden, sondern schlechthin vorausgeVgl. U. Cuzzoni: Werden zu sich. Eine Untersuchung zu Hegels „Wissenschaft der Logik". Freiburg, München 1963. Zur Entwicklung der Logik-Konzeption Hegels vgl. die oben (S. 111, Anm. 9) genannten Arbeiten. 5. o. S. 64 f. “ GW 4. 31 Z. 31 f = SW 1. 73 = Diff. 35. ^ Vgl. oben S. 3; vgl. auch W. Ch. Zimmerli: Inwiefern wirkt Kritik systemkonstituierend? " GW 4. 117 Z. 5 ff = SW 1.173.

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II. DIE METHODE. 4. Methode und System

setzt wird, eben so ist in der philosophischen Kritik die Idee der Philosophie selbst die Bedingung und Voraussetzung, ohne welche jene in alle Ewigkeit nur Subjectivitäten gegen Subjectivitäten, niemals das Absolute gegen das Bedingte zu setzen hätte." Was wir hier „Idee der Philosophie" genannt haben, meint — von dem bisher Entwickelten her gesehen — die Einsicht in die Einheit von Wesen und Form der Philosophie. Diese Einsicht in die — anders gesagt — grundlegende Relation als Maßstab für das zu Messende, welches das der Kritik vorliegende philosophische System ist, stellt das Gemeinsame von Messendem (Kritiker) und zu Messendem (zu Kritisierendem) dar. Das Gemeinsame, das Kriterium der Kritik, kann verdeutlichend gefaßt werden als das „tertium comparationis", worin sich ausdrückt, daß das Tun der Kritik ein vergleichendes ist. Zusammen mit diesem Gedanken ergibt sich als Folgerung des über das Kriterium Ausgeführten: Nur Philosophie, d. h. Darstellung der Einsicht in die Einheit von Wesen und Form, kann Philosophie, d. h. Darstellung der Einsicht in die Einheit von Wesen und Form, in diesem Sinne kritisch beurteilen. Mit anderen Worten: Es folgt, daß die philosophische Kritik „nur für diejenigen [sdl.: Kritiker] einen Sinn habe, in welchen die Idee der Einen und selben Philosophie vorhanden ist; eben so nur solche Werke betreffen kann, in welchen diese Idee als mehr oder weniger deutlich ausgesprochen zu erkennen ist" ®®. Philosophie als „philosophische Idee", d. h. als Einsicht in die Einheit von Wesen und Form, ist demnach Voraussetzung für philosophische Kritik. Dies meint die Rede von der philosophischen Kritik als Philosophie. Folglich wird in der philosophischen Kritik das Verhältnis der Einsicht in die Einheit von Wesen und Form zu der besonderen Form beurteilt, in welcher als philosophischem System sie sich als philosophisches System ausspricht oder darstellt. Die Einsicht in die Einheit von Wesen und Form ist nicht, sobald sie erreicht wird, objektives Resultat und nur als solches der Kritik unterworfen, sondern sie besteht wesentlich in ihrer Reflexivität, sich auf sich selbst zu beziehen, was soviel heißt wie: Soll das beurteilte philosophische System in der Tat ein philosophisches sein, so muß die Einheit von Wesen und Form als Einheit von Philosophie und System, d.h. als sich selbst begründende Kontinuität und Totalität, erscheinen. Daraus folgt nun aber, daß die philosophische Kritik, indem sie die Idee der Philosophie als Kriterium annimmt, in dem mit ihm als Maß Gemessenen eigentlich die Idee der Philosophie in ihrer Erscheinung sucht. Für =« GW 4. 117 Z. 9 ff = SW 1. 173. =» GW 4. 118 Z. 23 ff = SW 1.175.

3. Methode, System, Kritik

227

die philosophische Kritik als philosophische bedeutet das, daß in ihr, dem Messenden, die Einsicht in die Einheit von Philosophie und System, also die realisierte Idee, sich selbst voraussetzt, — jene Systemkonzeption also, die wir oben entwickelt haben ®®. Die Aufgaben der philosophischen Kritik, die sich also auf das Verhältnis der Idee der Philosophie zu ihrer Realisierung im kritisierten System richtet, lassen sich folgendermaßen umschreiben : — Wenn die Idee aber wissenschaftlich, d. h. in einem System, aus gesprochen ist, so ist es Aufgabe der philosophischen Kritik, zu vorderst zu unterscheiden zwischen der „interessanten Individualität" res tun als das beurteilte „System" verwerfen. Um diese Verwerfung aber als eine der philosophischen Kritik und nicht eine eines bloß subjektiven Meinens auszuweisen, muß die philosophische Kritik die Mühe auf sich nehmen, die „Nullität" des beurteilten „Systems" philosophisch weiterzuentwickeln und somit klar an den Tag zu bringen ®^. Dies ist ermöglicht durch die vorauszusetzende Totalität der beurteilenden Systemkonzeption. — Ist die Idee der Philosophie zwar vorhanden, aber „ohne wissenschaftlichen Umfang mit Geist als eine Naivetät" ausgedrückt, so hat die philosophische Kritik dies zwar „mit Freude und Genuß" gleichsam als Kunst anzunehmen ®®, aber auch aufzuweisen, daß hier keine Philosophie vorliegt. — Wenn die Idee aber wissenschaftlich, d. h. in einem System, ausgesprochen ist, so ist es Aufgabe der philosophischen Kritik, zuvörderst zu unterscheiden zwischen der „interessanten Individualität", in der sich jedes wahrhaft philosophische System zeigt, da das Wesen der Philosophie oder das Absolute sich ja in seine Form individuiert ®^, und der bloßen subjektiven Beschränktheit, der gegenüber sie allerdings mit der gebotenen Schärfe aufzutreten hat. Sie hat „den hierdurch getrübten Schein der Philosophie . . . herunter zu reißen" ®®. Und das erklärt nun nochmals, warum Fichte nicht die wahrhaft geschichtliche Einstellung haben konnte: Seine „bornierte" Systemkonzeption erlaubte keine philosophische Kritik, der Mangel an letzterer indessen verhinderte eine mögliche Systemkorrektur (vgl. oben S. 27 ff und 154 f). Vgl. im folgenden CW 4.118 ff = SW 1.175 ff. Es liegt hier eine Beweistechnik der philosophischen Kritik vor, die eine Erweiterung der „Ad-absurdum-führens" darstellt. “ S. o. Anm. 13 zu I. 3. S. o. S. 36 ff. Hegel: CW 4. 119 Z. 31 f = SW 1.177.

228

II. DIE METHODE.

4. Methode und System

— Liegt aber tatsächlich die „interessante Individualität" vor, so setzt das eigentliche Hauptgeschäft der philosophischen Kritik ein: Sie muß an das in dem vorliegenden System sich ausdrückende Bedürfnis ihren Maßstab, das objektive Bedürfnis der Philosophie und seine Befriedigung, d. h. die philosophische Idee, anlegen und kann so die allenfalls vorliegenden Beschränktheiten der Gestalt des Systems an dessen eigener „spekulativer Tendenz" messen. „Es ist möglich, daß eine ächte Spekulation sich in ihrem System nicht vollkommen ausspricht, oder daß die Philosophie des Systems und das System selbst nicht zusammenfallen; daß ein System aufs bestimmteste die Tendenz, alle Entgegensetzungen zu vernichten, ausdrükt, und für sich nicht zur vollständigsten Identität durchdringt. Die Unterscheidung dieser beyden Rüksichten wird besonders in Beurtheilung philosophischer Systeme wichtig. Wenn in einem System sich das zum Grunde liegende Bedürfniß nicht vollkommen gestaltet hat, und ein Bedingtes, nur in der Entgegensetzung bestehendes zum Absoluten erhoben hat, so wird es als System Dogmatismus, aber die wahre Spekulation kann sich in den verschiedensten sich gegenseitig als Dogmatismen und Geistesverirrungen verschreyenden Philosophieen finden." Die philosophische Systemkonzeption, Ausdruck der realisierten Idee der Philosophie, sei, so sagten wir, Voraussetzung für philosophische Kritik. Oben zeigte sich indessen, daß umgekehrt philosophische Kritik Voraussetzung für Philosophie und damit auch für die philosophische Systemkonzeption ist, indem sie gleichsam das „Bauzeug des Zeitalters" für diese verfügbar macht. Wir sehen hier also wieder jenenZirkel oder doppelten Voraussetzungscharakter, dem wir schon bei der gegenseitigen Bedingung von objektivierender und subjektivierender Einstellung zur Philosophie auf der einen und kritisch-philosophischer auf der anderen Seite ®®, sowie bei dem als Voraussetzungen ausgesprochenen Bedürfnis der Philosophie begegneten. Dieser Zirkel ist jedoch — äußerlich betrachtet — bedingt durch den reflektierenden Zugriff, der in die aporetisch scheinende Antinomie führt. Diese ist indessen dadurch überwunden, daß beide S. o. S. 90 ff. CW 4. 31 Z. 20 ff = SW 1. 72 f = Diff. 35. — Im folgenden lenkt Hegel die allgemeinen Ausführungen des ersten, von uns thematisierten Abschnittes der Differenzsdirift auf deren Explikation an Fichte hin. 0® S. o. S. 64 f. »» S. o. S. 35 f. S. o. S. 82 ff.

3. Methode, System, Kritik

229

Sätze, sowohl der, die philosophische Kritik sei Voraussetzung der Philosophie, als auch der umgekehrten Inhalts, für sich allein falsch und nur zusammen wahr sind. Der sie überwindende spekulative Satz ist: Philosophische Kritik ist Philosophie, was soviel heißen soll wie: Sie sind beide ineinander immer schon übergegangen, Philosophie ist sie selbst und ihre Voraussetzungen, welche Kritik und sie selbst sind. So haben uns unsere Gedanken zu unserem Ausgangspunkt zurückgeführt: Die „geschidrtliche Ansicht philosophischer Systeme" ist als notwendige Implikation oder, wenn man so will, dialektische Äquivalenz der Frage: „Was ist Philosophie?" nicht nur behauptet, sondern erwiesen. Halten wir zusammenfassend Rückschau auf die Entwicklung dieser Frage, so zeigte sie sich uns zunächst als eine geschichtliche Frage. Die Entfaltung dieser Frage führte uns auf die Notwendigkeitsthese bezüglich der „Revolution der Vernunft" aus der die Frage nach dem Wesen der Philosophie sich zu der nach ihrer Methode bestimmte. Die in einem ersten Zugriff instrumentalistisch als Mittel verstandene Methode war die Reflexion. Genauer betrachtet, hob sich die Reflexion in ihrem eigenen Widerspruch auf, sie vernichtete sich nicht nur in der Antinomie, sondern transzendierte sich im „Gegenstoß", der Negation der Negation, dem spekulativen Satz. Dieser als Methode hatte in sich die Notwendigkeit, sich zu bewegen und darzustellen, d. h. sich zum System zu erweitern. Wenn wir von der Systemstufe aus nun die Methode betrachten, so zeigt sich, daß sie nicht ein Instrument, d. h. ein fremdes Mittel zur Erreichung eines außer ihm liegenden Zweckes, das zudem auf etwas außer ihm Liegendes „angewendet" würde, sein kann, sondern allenfalls, wenn man paradox formulieren will, das Mittel zur Aufhebung ihres eigenen instrumentalen Charakters, anders: das Mittel, das sich selbst bezweckt, ist. Alle Voraussetzungen wie etwa die KANxische, man müsse, bevor man erkennen könne, zuerst das Instrument des Erkennens kritisch untersuchen, haben demnach „einen unwahren Inhalt, indem sie das als endlich und unwahr Bekannte zu einem Unumstößlichen und Absoluten machen, nämlich ein beschränktes als Form und Instrument gegen seinen Inhalt bestimmtes Erkennen; dieses unwahre Erkennen ist selbst auch die Form, das Begründen, das rückwärts geht." Die Methode ist mithin nicht ein gegen die Sache Unterschiedenes, sondern vielmehr die Sache selbst. Das, was „die Sache selbst" meint, läßt sich nach unseren geschichtsphilosophischen Erörterungen als „Revolution der Vernunft" oder als „Zu-sich-kommen des Verstandes", also fügU S. o. S. 90 ff. 7== Hegel: SPV5. 350.

230

II.

DIE METHODE. 4.

Methode und System

lieh als „Werden der Vernunft" umschreiben. „Am reinsten gibt sich die weder synthetisch noch analytisch zu nennende Methode des Systems wenn sie als eine Entwiklung der Vernunft selbst erscheint, welche die Emanation ihrer Erscheinung, als eine Duplicität, nicht in sich immer wieder zurükruft — hiemit vernichtete sie dieselbe nur — sondern sich in ihr zu einer durch jene Duplicität bedingten Identität konstruirt, diese relative Identität wieder sich entgegensetzt, so daß das System bis zur vollendeten objektiven Totalität fortgeht, sie mit der entgegenstehenden subjektiven zur unendlichen Weltanschauung vereinigt, deren Expansion sich damit zugleich in die reichste und einfachste Identität kontrahirt hat." Die Geschichte ist der „historische", die Reflexion der „methodische" Einstiegspunkt in die „Entwiklung der Vernunft". Die Ausgangsfrage nach dem Wesen der Philosophie hat auf eine eigentümliche und bemerkenswerte Weise sich selbst beantwortet. Das Wesen der Philosophie ist — so kann man nun apodiktisch sagen (dieses möge im ausgeführten Sinne als spekulativer Satz verstanden sein) — ihre Methode. Und man geht wohl nicht fehl, wenn man hinzufügt: und ihre Methode ist der Anfang. Die Problematik des Anfangens ist die der Vermittlung des unbestimmten Unmittelbaren welche die der Frage ist. Die Frage nach dem Wesen der Philosophie fragt demnach nach sich selbst, — unsere Hypothese, die Grundfrage der Philosophie sei die nach ihrem Wesen ^®, bestätigt sich hierin und schließt sich selbst zusammen mit ihrer Entfaltung zu einem Kreis.

Das „weder — nodi" der Methode formuliert Hegel in der Begriffslogik positiv als „sowohl — als auch": „Die Methode der Wahrheit aber, die den Gegenstand begreift, ist zwar, wie gezeigt, selbst analytisch, da sie schlechthin im Begriffe bleibt, aber sie ist ebenso sehr synthetisch, denn durch den Begriff wird der Gegenstand dialektisch und als anderer bestimmt." (SW 5. 346; Hervorhebungen von mir, W. Z.). GW 4. 31 Z. 11 ff = SW 1. 72 = Di/f. 35. — Es läge nahe, diese Beschreibung der Methode als eine Beschreibung der Schellingschen Methode zu verstehen. Aus dem bis anhin Entwickelten erweisen sich jedoch die Unterschiede. Vgl. etwa Hegel: SW 4. 87. ™ S. o. S. 6 und 17. — Zum Verhältnis von Kritik und System bzw. Philosophie vgl. auch R. Bubner: Problemgeschichte und systematischer Sinn einer Phänomenologie. In; Hegel-Studien. 5 (1969), 95 ff.

AUSBLICK Philosophie, Wissenschaft und die Notwendigkeitsthese Zu Beginn unseres Gedankenganges hatten wir verschiedentlich ^ den engen Zusammenhang von Philosophie und Wissenschaft betont, so daß es nun angebracht ist, abschließend auf diesen Konnex Ausblick zu nehmen. Von der erreichten „Systemstufe" aus ergeben sich dabei in der wesentlichen Verbindung von Philosophie und philosophischer Kritik, bzw. Philosophiegeschichte weitreichende Konsequenzen. Wenn Philosophie sich nur als System, als Kontinuität und Totalität der sich entwickelnden Methode, wahrhaft als Philosophie entwickelt und so ihre eigene Frage in dieser selbst beantwortet, so haben wir in dem sich uns daraus ergebenden Kreis, der kein vitiöser Zirkel ist, das vor uns, was wir als „Selbstbegründung des Wissens"^ bezeichneten. Die Selbstbegründung des Wissens aber ist Antwort auf die Frage nach dem, was Wissen sei. Da dessen Selbstbegründung sich jedoch als nur in ihrer Realisierung möglich erwies, die Realisierung von Kontinuität und Totalität des Wissens aber „Wissenschaft" heißt, können wir sagen, daß Philosophie die Selbstbegründung des Wissens, mithin Wissenschaft ist. Wissenschaft und Philosophie wären also identisch. Indessen lehrt uns bekanntlich der Augenschein, daß es sich damit nicht so verhält: Philosophie ist nicht identisch mit Wissenschaft, sondern gleichsam nur eine Art von Wissenschaft, — ja sogar eine, die aus ihrer traditionellen Spitzenposition im hierarchischen Gebäude der sogenannten „Einzelwissenschaften" mehr und mehr verdrängt wird und langsam bis zur Bedeutungslosigkeit herabzusinken scheint^. Hier herrscht ein manifester Widerspruch. Unsere Gedanken erwiesen die Identität von Philosophie und Wissenschaft, die Erfahrung hingegen lehrt uns das Gegenteil. Im Gefolge einer objektivierend-empirischen Wissenschaftsauffassung sind wir eher geneigt, dem Augenschein denn der „überfliegenden Spekulation" zu trauen; Philosophie wird folglich, wenn überhaupt, als Einzelwissenschaft unter einem sinkenden Stern oder ‘ S. o. S. 19 et passim. ^ S. o. S. 225 et passim, ä S. o. S. 2 et passim.

232

Ausblick

— und das ist das Gegenmoment — als subjektive „Weltanschauung", und damit als unwissenschaftliche Sache jedes Einzelnen betrachtet. Unsere voraufgegangenen Erörterungen machen uns jedoch vorsichtig gegenüber solchen Einschätzungen. Wir müssen uns, wenn wir uns ihres Geltungsbereiches versichern wollen, nach ihrem Zustandekommen fragen. Wie gehen wir vor, wenn wir empirisch die Tatsache, oder besser: den Sachverhalt, der Nicht-identität von Philosophie und Wissenschaft behaupten? — Aus der Menge aller uns vorliegenden Einzelwissenschaften, die uns vordringlich im Rahmen der als wissenschaftsbestimmend privilegierten Ausbildungsstätten von Wissenschaftlern und Technikern, den Universitäten und Hochschulen, begegnen, abstrahierend, bilden wir einen an diesen „Daten" orientierten Allgemeinbegriff, in dem wir die Merkmale dessen, was wir „Wissenschaft" nennen, enthalten denken. Was wir damit eigentlich tun, ist, gleichsam „hinter" den Einzelwissenschaften ihr Wesen zu suchen, welches erlaubt, sie alle „Wissenschaft" zu nennen. Warum diese und gerade diese Einzelnen, die wir als „Einzelwissenschaften" bezeichnen, als „Daten" für das, was Wissenschaft ist, angenommen werden, bleibt unbefragt, ebenso auch, wenn wir weniger eklektisch, sondern an einem bestimmten Zweck orientiert, die Wissenschaft z. B. als wesentlich emanzipatorisch ansehen, die Rechtfertigung dieser Zwecksetzung selbst sowie die in einer teleologischen Bestimmung dieser Art notwendig mit eingeführte Bedingung der Möglichkeit des Hervorgehens verschiedener Wissenschaften aus einem ihnen gemeinsamen Zwecke Das Grundproblem bei der so vorgenommenen Bildung des Wissenschaftsbegriffs ist demnach das des herrschenden Wissenschaftspluralismus, nämlich das des Verhältnisses von Einem und Vielem ®, — bei dem empirisch-eklektischen Vorgehen das des Einigungsprinzips des Vielen zu Einem, bei dem teleologischen das des Unterscheidungskriteriums des Einen in Vieles. Dieses Problem ist Resultat des reflektierenden Zugriffs, in dem Eines und Vieles, sofern überhaupt darauf reflektiert wird, getrennt erscheinen. Reflexion als Akt der Begriffsbildung aber trägt in sich, wie wir sahen, ihren eigenen Widerspruch, sie führt in ihre Antinomie. Betrachten wir nun den diese Überlegungen veranlassenden Widerspruch im Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie, so sehen wir uns in der Tat der Antinomie gegenüber: — Die Philosophie ist identisch mit der Wissenschaft, „A — B". — Die Philosophie ist nicht identisch mit der Wissenschaft, „A ^ B". ^ Man wird erkennen, daß sich diese Fragen in Sonderheit an J. Habermas richten, ä S. o. S. 49 ff.

Philosophie, Wissenschaft, „Notwendigkeitsthese

233

Genau betrachtet enthält bereits der erste Satz die ganze Antinomie, da in ihm als „A = B" sowohl Identität als auch Nicht-identität von „A" und „B" ausgesagt ist. Das heißt nun aber nichts anderes, als daß Wissenschaft und Philosophie in ihrem ausgesprochenen Verhältnis als spekulativer Satz verstanden werden müssen: Philosophie als eine Wissenschaft unter anderen ist nur mit diesen zusammen Philosophie; das System der Philosophie als realisierte Selbstbegründung des Wissens erweitert sich — so besehen — zum System der Wissenschaften. Philosophie kann somit als das mit dieser identische Selbstbewußtsein der Wissenschaft betrachtet werden. Nur — und dies ist von ganz entscheidender Wichtigkeit — gibt es kein System der Wissenschaft in diesem Sinne. Da das System der Wissenschaft als realisiertes aber Philosophie ist, ist Philosophie noch gar nicht. Und hier ist es nun, wo die geschichtliche Seite der Philosophie ins Spiel kommt. Sie war gefaßt worden als der Kreis oder doppelte Voraussetzungscharakter von System und Kritik. Nur durch philosophische Kritik, d. h. durch Emanzipation im Sinne der Aneignung von Tradition, ist das System der Wissenschaft möglich. Hegel hat diese Voraussetzung als Aufgabe in seinem „System der Wissenschaft" gesehen und gelöst, — aber im vollen Bewußtsein der Geschichtlichkeit und des Erscheinung-seins seiner Lösung nur für seine Zeit lösen können. Hegels Lösung in ihrem Erscheinung-sein als die letzte und — in materialer Hinsicht — für alle Zeiten allgemeingültige Lösung zu nehmen, wäre nicht nur ebenso falsch, wie sie durch eine andere geschichtlich ersdhienene Lösung, etwa die des wissenschaftlichen Positivismus oder auch die des dialektischen Materialismus, ersetzen zu wollen, sondern auch der Dialektik des Hegelschen Denkens völlig unangemessen. Geht man von der Voraussetzung aus, daß unsere Zeit ebenso wie die Hegels deutliche Züge des Antagonismus des Verstandes mit sich selbst, der Weigerung der Erscheinung des Absoluten, sich ihrer als Erscheinung des Absoluten bewußt zu werden, trägt ®, und daß weiterhin Philosophie als Wissenschaft in ihr nicht mehr existent scheint, so ist man zu der Annahme gezwungen, das „Bedürfnis der Philosophie" sei wieder im Entstehen. „Werm die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das * Diese Prämisse ist vorläufig nur eine durch nichts bewiesene These. Sie müßte Gegenstand einer zusätzlichen Untersuchung werden, in der man sie allerdings — unseres Ermessens — exakt nachweisen könnte.

234

Ausblick

Bedürfniß der Philosophie." ^ Nach Annahme dieser Folgerung erhält Hegels „Notwendigkeitsthese" als absolute Wahrheit und Gültigkeit beanspruchende prognostischen Aussagewert: „Immer dann, wenn, und überall dort, wo das menschliche Denken außer sich ist, muß es zu sich kommen." Das menschliche Denken ist jetzt und hier außer sich, — es muß zu sich kommen. Wir sagten, diese These erhalte prognostischen Wert. Ihr „muß" würde demnach heißen: wird. Jetzt und hier wird das menschliche Denken zu sich kommen. Allein, es ist daran zu erinnern, daß die Notwendigkeit der Notwendigkeitsthese nicht die des Pan-determinismus, sondern freie Notwendigkeit ist®. Das bedeutet, daß die eingesehene Notwendigkeit frei zu erfüllende Forderung und Auftrag ist: Es muß eine neue Philosophie entstehen, und das heißt: erarbeitet werden, welche nach Maßgabe des Kriteriums philosophischer Kritik *, d. h. nach Maßgabe der Idee der Philosophie, die verschwundene Macht der Vereinigung wieder in das Leben der Menschen bringt und den Gegensätzen ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung neu entstehen läßt.

’ GW 4.14 Z. 4 ff = SW 1. 46 = Diff. 14. « S. o. S. 63. *> S. o. S. 225 ff.

Anhang GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND PHILOSOPHIEGESCHICHTE IM DENKEN DES JUNGEN HEGEL» Von Geschichtsphilosophie wird oft geredet - von Philosophiegeschichte dagegen und ihrem Verhältnis zur Geschichtsphilosophie seltener. Und das ist eigentlich erstaunlich, denn Philosophiegeschichte ist etwas, was wir alle - professionell oder nicht, zumeist jedoch mit schlechtem Gewissen betreiben; - mit schlechtem Gewissen deswegen, weil wir nicht recht sagen können, warum wir es eigentlich tun. Philosophiegeschichtlich ist auch die Fragestellung, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt. Und zwar ist sie dies auf eine zweifache Weise: zum einen nimmt sie Bezug auf Gedanken eines Mannes, der in der Geschichte der Philosophie eine gewichtige Stellung innehat, zum anderen aber sind eben diese Gedanken selbst solche, die philosophiegeschichtliches Tun in seiner ganzen Problematik zu ihrem Gegenstand machen. Diesem zwiefach philosophiegeschichtlichen Charakter des gewählten Themas liegt eine doppelte Absicht zugrunde, die ich in Form von zwei Thesen folgendermaßen formulieren möchte; These 1: Bereits in den sogenannt „theologischen"* und in anderen Jugendschriften Hegels aus der Berner und Frankfurter Zeit findet sich eine implizite Geschichtsphilosophie, die sich etwa um die Jahrhundertwende, also zur Zeit von Hegels bedeutsamem Wechsel von Frankfurt nach Jena, entscheidend ändert. Vertrat Hegel in Bern und in gemäßigter Form auch in Frankfurt die Ansicht, das Prinzip der geschichtlichen Bewegung sei der Zerfall der Religion im Christentum, so entwickelt er in Jena den Gedanken, die Philosophiegeschichte enthülle das „immanente Gesetz" der Geschichte überhaupt.

’ Leicht gekürzter und überarbeiteter Nachdruck aus: Natur und Geschichte. X. Deutscher Kongreß für Philosophie. Kiel 8.-12. Oktober 1972, hrsg. von K. Hübner und A. Menne. Hamburg 1973. ' Vgl. G. Lukäcs: Der junge Hegel. 31 ff.

236

Anhang

These 2: Aus der ersten These, die ich zur Hauptsache ausführen will, ergibt sich bei reflexiver Deutung zumindest eine Möglichkeit, die Frage nach dem Grund und der Berechtigung unseres eigenen philosophiegeschichtlichen Tuns durch Formulierung eines Leitfadens zur Auffindung einer philosophischen Theorie der Philosophiegeschichte ansatzweise zu beantworten: Philosophiegeschichte ist integrierender Bestandteil der Philosophie, da sie uns erlaubt, unsere Gegenwart aus der Geschichte zu denken, mithin „unsere Zeit in Gedanken zu erfassen"^. I. Zur Stützung der ersten These wenden wir uns zunächst den Arbeiten Hegels aus der Berner und Frankfurter Zeit zu, die ihre Wurzeln in seiner theologischen Ausbildung in Tübingen haben. Neben dem seit dem sogenannten „Fragmentenstreit" um REIMARUS und LESSING^ diskutierten Problem von Vernunftreligion und positiver Religion ist es, wie bekanntlich RITTER betont hat^, vor allem das Ereignis der französischen Revolution, das Hegel beeindruckt hat. Aus dem Umkreis dieser beiden Ansatzpunkte entspringt denn auch Hegels erste Deutung der Geschichte, wie sie sich aus den „theologischen Jugendschriften" und anderen Dokumenten destillieren läßt. Daß dieser bislang nur eine geringe Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, mag daran liegen, daß sich keine systematische Ausarbeitung des frühen Hegelschen Geschichtsverständnisses finden läßt. Indessen zeigen zahlreiche entsprechende Bemerkungen, Notizen und Exzerpte aus der Tübinger und auch schon aus der Stuttgarter Zeit^ recht früh ein starkes Interesse Hegels an dieser Thematik. Die Ausgangslage des Hegelschen Denkens in der Berner Zeit läßt sich am besten mit jenen berühmt gewordenen Sätzen aus dem Brief Hegels

^ „.. . und so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfaßt." Hegel: SW 7.35. ^ Vgl. P. Cornehl: Die Zukunft der Versöhnung. Göttingen 1971. 29 ff., auch: W. Ch. Zimmerli: Hegel und die Zukunft der Religion. In: Hegel-Studien. 8 (Bonn 1973), 258-276. ^ „Das Ereignis, um das sich bei Hegel alle Bestimmungen der Philosophie im Verhältnis zur Zeit, in Abwehr und Zugriff das Problem vorzeichnend, sammeln, ist die französische Revolution, und es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe ^

hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels." (J. Ritter: Hegel und die französische Revolution. 18); s.o. S. 77 f. Anm. 24. Vgl. Dokumente zu Hegels Entwicklung. 3 ff., 7, 9f., 37, 43 f., 46 f., 49 ff., 69, 139, 145,

171 f.

Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel 237

an ScHELLiNG vom Ende Januar 1795 wiedergeben, die auf Gedanken aus der Tübinger Zeit zurückgehen: „Das Reich Gottes komme, und unsre Hände seien nicht müßig im Schoße", und: „Vernunft und Freiheit bleiben unsre Losung und unser Vereinigungspunkt die unsichtbare Kirche."^ In diesen Worten faßt Hegel seine Einschätzung der gegenwärtigen Situation zusammen. Die französische Revolution hat Hegel eine Möglichkeit gezeigt, den „alten Sauerteig"^ auf die Seite zu schaffen, sowohl den politischen, als auch den geistigen. Daß Hegel ein glühender Verehrer der Revolution gewesen ist, wird wohl heute niemand mehr bezweifeln, jedoch wächst in ihm, wie PöGGELER gezeigt hat®, in dieser Zeit die Überzeugung, daß die politische Revolution allein versagen müsse, wenn ihr nicht eine geistige vorausgehe, - ein Gedanke, der sich ihm schon vor der französischen Revolution aufgedrängt hatte, wie ein offensichtlich zustimmendes Exzerpt vom 22. 3. 1787 zeigt, in dem es heißt: „Wie in den Begebenheiten, so in den Einsichten des menschlichen Geschlechts geschehen große Revolutionen niemals ohne vorbereitet zu sein."^ Aus einer im Frühjahr oder Sommer 1796^° verfaßten Stelle im ersten Zusatz zur „Positivität der christlichen Religion" läßt sich ersehen, in welcher Richtung sich bei Hegel dieser Gedanke entwickelt hat. Dort sagt er: „Die Verdrängung der heidnischen Religion durch die christliche ist eine von den wunderbaren Revolutionen, deren Ursachen aufzusuchen den denkenden Geschichtsforscher beschäftigen muß. Den großen, in die Augen fallenden Revolutionen muß vorher eine stille, geheime Revolution in dem Geiste des Zeitalters vorausgegangen sein, die nicht jedem Auge sichtbar, am wenigsten für die Zeitgenossen beobachtbar, und ebenso schwer mit Worten darzustellen, als aufzufassen ist. Die Unbekanntschaft mit diesen Revolutionen [. . .] von der Art, wie die, daß eine einheimische, uralte Religion von einer fremden verdrängt wird, eine solche Revolution, die sich unmittelbar im Geisterreiche zuträgt, muß um so unmittelbarer in dem Geiste der Zeit selbst ihre Ursachen finden. Diesen Gesichtpunkt als leitendes Motiv angenommen, ergibt sich unter Ansetzung der religionsgeschichtlichen Situation, in der Hegel sich

® Briefe von und an Hegel. Bd. 1, 18. 7 Ebd. 11. ® O. Pöggeler: Philosophie und Revolution beim jungen Hegel. ^ Dokumente zu Hegels Entwicklung. 139. Datierung nach G. Schüler: Zur Chronologie von Hegels fugendschriften. 130. Hegels theologische fugendschriften. 220.

238

Anhang

befand, für die Berner Zeit eine Konzeption, die sich etwa folgendermaßen skizzieren läßt: Die Religion hat für Hegel die Funktion, Theorie und Praxis in der Realisation seiner vorhin genannten Losung „Vernunft und Freiheit" zu vermitteln oder, was der Verstand nicht vermag, die Grundsätze praktisch zu machen^^. Die Analyse der gegenwärtigen Situation der Religion, die Hegel bereits in Tübingen in Abhebung von der Volksreligion der Antike begonnen hatte, zeigt ihm jedoch, was sich bereits im Fragmentenstreit deutlich äußerte: Die christliche Religion der Gegenwart, insbesondere ihre Theorie, die Theologie, ist zu dieser Vermittlung unfähig, sie ist zerrissen, verhärtet und dogmatisiert, - kurz: sie ist positiv geworden. Wie kommt es zu dieser Positivität? - Dies wird für den Hegel der Berner Zeit zur zentralen Frage. Sein Beantwortungsversuch läuft in verschiedenen Varianten der „Positivitätsschrift" darauf hinaus, daß Jesus als der Lehrer einer Tugendreligion, der es unternahm, die im Judentum positiv gewordene Religion und Tugend zur Moralität zu erheben^^, teils in seiner Lehre durch die Anpassung an den jüdischen Geist^^, teils auch durch die Unfähigkeit seiner Jünger^^, diese Tugendreligion richtig zu verstehen, zum Begründer einer Sekte wurde, die sich positive Gebote gab. Die Ausdehnung dieser kleinen Sekte zu einer großen Gemeinde, die Tatsache, daß Jesu Privatreligion zur Staatsreligion wurde, führte zu Hochmut, Proselytenmacherei und Intoleranz. Die Kirche wurde so zu einem Staat im Staate, der - vom Staate getrennt - sich eigene Gesetze gab, und seine Untertanen nach und nach entmündigte^®. Diese Wendung von der Privatreligion zur Staatsreligion war nur möglich auf dem Boden eines Staates, dessen Bürger selbst jeden lebendigen Bezug zum Göttlichen und zur Natur verloren hatten und in Unfreiheit und Knechtschaft geraten waren, - nämlich des römischen Kaiserreiches'^. - Die antike Polisreligion wird in dieser entscheidenden Revolution von der „Knechtsreligion" der christlichen Kirche verdrängt, die christliche Kirche tritt das Erbe der jüdischen Positivität an. Die nachchristliche Geschichte wird von Hegel bis hin zu seiner Gegenwart als Geschichte einer einzigen großen Degeneration nachgezeichnet.

« Vgl. ebd. 12. Vgl. ebd. 154 et passim. Zu Semlers „Akkomodationstheorie" vgl. P. Cornehl: Die Zukunft der Versöhnung. 38 f.; Hegels theologische Jugendschriften. 158 ff. Hegels theologische Jugendschriften. 152 ff. Ebd. 173 ff. Ebd. 221 ff.; vgl. hierzu auch Dokumente zu Hegels Entwicklung. 3 ff.

Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel 239

Die geschichtsphilosophischen Implikationen dieses Geschichtsbildes liegen auf der Hand, vergegenwärtigt man sich den vorhin entwickelten Ausgangspunkt Hegels: Das Denken der Geschichte, insbesondere das Aufsuchen von Gründen „in dem Geist der Zeiten"^* für diese Revolution der Religion soll offensichtlich eine „stille geheime Revolution" im Geist des gegenwärtigen Zeitalters vorbereiten helfen, die mit einem Schlage die lebendige Moralität des Christentums wiederhersteilt. Bereits am 10. August 1787 hatte Hegel in einem Schulaufsatz'^ „Über die Religion der Griechen und Römer" bemerkt, daß wir aus der Geschichte des vielfachen Strebens der Menschen, die Wahrheit zu erforschen, lernen können, auf unsere „ererbten und fortgepflanzten Meinungen" zu achten und diese nötigenfalls zu korrigieren^^. Geschichtsphilosophie reflektiert also auf die Bedingungen, unter welchen sich Revolutionen des menschlichen Geistes hervorbringen lassen, - in diesem Falle auf die Bedingungen der Möglichkeit eines Umsturzes der herrschenden Orthodoxie und Positivität in der Religion, mithin der Verwirklichung von Vernunft und Freiheit. Die französische Revolution hatte hierzu gleichsam das Modell abgegeben, ein Modell für die geistige Revolution des Christentumes, nur hatte sie den Fehler gemacht, die politische Revolution gleichsam ohne die vorhergehende Revolution des Bewußtseins zu versuchen, die nach Hegels Ansicht in der Berner Zeit nur in einer Revolution der Religion bestehen kann: „Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte, Verachtung des Menschengeschlechts, Unfähigkeit desselben zu irgend einem Guten, durch sich selbst etwas zu sein. Mit Verbreitung der Ideen, wie etwas sein soll, wird die Indolenz der gesetzten Leute, ewig alles zu nehmen, wie es ist, verschwinden. Diese belebende Kraft der Ideen - sollten sie auch immer noch Einschränkung an sich haben - wie die des Vaterlandes, seiner Verfassung u.s.w. - wird die Gemüter erheben, und sie werden lernen, ihnen aufzuopfern, da gegenwärtig der Geist der Verfassungen mit dem Eigennutz einen Bund gemacht, auf ihn sein Reich gegründet hat."^^ Und daß Hegel die Zeit für diese Revolution als gekommen erachtete, zeigt der berühmt gewordene Satz aus demselben Brief an SCHELLING vom 16. April 1795: „Ich glaube, es ist kein besseres Zeichen der Zeit als dieses, daß die

Hegels theologische Jugendschriften. 156. Vgl. K. Rosenkranz: G. W.F. Hegels Leben. Dokumente zu Hegels Entwicklung. 47 f. Briefe von und an Hegel. Bd. 1. 24.

18.

240

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Menschheit an sich selbst so achtungswert dargestellt wird; es ist ein Beweis, daß der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet.", - man könnte versucht sein hinzuzufügen: . und unsre Hände seien nicht müßig im Schoße. In der so skizzierten Hegelschen Geschichtskonzeption und in seiner Auffassung von der Funktion des Denkens dieser Geschichte als Geschichtsphilosophie muß sich nun die Frage stellen, wie die Revolution des Geistes durch die Vermittlung von Theorie und Praxis als Realisation von Vernunft und Freiheit in der Religion soll geschehen können. Mit dieser Frage ist zugleich der Übergang von Bern nach Frankfurt markiert. Man hat - vor allem von seiten linkshegelianischer Interpretation her - in diesem Übergang einen entscheidenden Bruch vom revolutionären zum restaurativen Denken Hegels gesehen^^. Bezüglich der geschichtsphilosophischen Auffassung können indessen die Frankfurter Arbeiten nur als eine konsequente Weiterführung der früheren Ansätze betrachtet werden24. Hegel bleibt auch hier der Denker der Revolution. Hatte er in Bern geschichtlich nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Umsturzes der herrschenden Religionsauffassung gefragt, so richteten sich seine Reflexionen in Frankfurt nun auf ihre Konkretisierung. Die Konkretisierung der Religion als der Vermittlung von Theorie und Praxis - erkenntniskritisch von Subjekt und Objekt, Intelligenz und Natur - ist die Liebe, die einzige christlichreligiöse Art der Vermittlung, in der nicht eines der vermittelten Momente in die Botmäßigkeit des anderen gerät. Vom Standpunkt dieser Einsicht in die absolute Vermittlungsfunktion der Liebe, die in dem Zentrum der Lehre Jesu steht, schreibt Hegel nun seine Geschichte nochmals neu. Gewiß, - ein Wandel in der Begrifflichkeit, der auf eine Abwendung von der KANxischen Position, auch auf eine Beeinflussung durch SCHILLER und HöLDERLIN zurückzuführen sein mag, ist zu konstatieren. Daher setzt auch die Geschichte nun mit der alttestamentlichen Entfremdung des Menschen von der Natur ein^s, wie sie durch die Sintflut versinnbildlicht ist. Dieses Heraustreten aus der Einheit mit dem Objektiven, aus der ScHiLLERSchen Naivität, in die Zerrissenheit des Sentimenta22 Ebd. 18. 22 Vgl. etwa G. 2'*

Lukäcs: Der junge Hegel. 124 ff.; in weiterem Sinne auch Th, W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. 44. P. Cornehl (Die Zukunft der Versöhnung. 107) hat mit guten Gründen versucht, eine solche

Konsistenz des Gedankenganges auch in der Eschatologiediskussion aufzuzeigen. Vgl. auch H. Liebeschütz: Das Judentum in der Geschichtsphilosophie des frühen Hegel, ln: HegelJahrbuch. 1968/69 (Meisenheim a. G. 1970), 323-331. 22 Hegels theologische Jugendschriften. 243 ff.

Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel

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lischen, ist der Beginn der Geschichte und wird von Hegel dem Judentum zugeordnet. Der Mensch als den fremden Objekten Ausgelieferter schafft sich die positive Gesetzreligion des Judentums, dessen Grundstruktur das ist, was Hegel von nun an „Schicksal" nennt. Gegen dieses Schicksal tritt Jesus mit seiner Lehre der Liebe auf. „Jesus bekämpfte nicht nur einen Teil des jüdischen Schicksals, weil er nicht von einem anderen Teil desselben befangen war, sondern stellte sich dem ganzen entgegen. In diesem Kampfe mußte Jesus unterliegen, sein Unterliegen aber war der resignative Rückzug einer schönen Seele, um sich nicht auf das Schicksal, das sie bekämpfte, einlassen zu müssen. Seine Jünger, die die Notwendigkeit dieses Rückzuges nicht sahen, schufen den auferstandenen Jesus als individuelle Gestalt zum Göttlichen um. Endliches und Unendliches sollten in ihm vereinigt werden. Die Verbindung des auferstandenen Gottessohnes Christus mit dem Individuum Jesus hängt als „Zweierleiheit der Naturen"^^ „allen Formen der christlichen Religion, die sich im fortgehenden Schicksale der Zeit entwickelt haben"^®, an. Die Versöhnung in der Liebe, die Jesus vollzogen hat, ist eine bloß subjektive, sie ist keine Versöhnung mit der objektiven Wirklichkeit, sondern eine nur gefühlte Vereinigung mit dem Unendlichen. Nach dem Tode Jesu tritt daher das Schicksal der Entzweiung wieder auf den Plan. Endliches und Unendliches bleiben sich fremd. In Hegels nicht näher datierbaren^^ Fragmenten historischer Studien findet sich die Charakterisierung der Christen als jenes Teiles des „Genius der Menschheit", der, „als den Menschen die Herrschaft ihrer Ideen über die Objekte genommen war", den äußeren Objekten entfloh, „die ihm versagt waren", und sich dem Glauben in die Arme warf, „daß jenes Unsichtbare sie selbst und die äußeren Objekte beherrschen würde"®°. Das Ziel, zu dem seine Reflexionen über die Konkretisierung der Revolution der christlichen Religion Hegel führten, erweist sich so als Aporie: eben jene Versöhnung, die die Religion in der Liebe zwischen Subjekt und Objekt herbeiführen sollte, bleibt eine bloß subjektive; die erhoffte Lösung der Revolutionsproblematik in der Religion bleibt aus. Hegel mußte seine Theorie der Geschichte erneut überdenken. Den Ansatz hierzu bot der Kernpunkt, an dem seine ersten Versuche scheiterten: die bloß

22 28 2’ 3®

Ebd. 261. Ebd. 335. Ebd. 341 f. Vgl. G. Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. 133. Dokumente zu Hegels Entwicklung. 264.

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subjektive Verbindung von Endlichem und Unendlichem im Dogma der Gottessohnschaft. Zum einen sammelt Hegel in der Frankfurter Zeit, wie uns seine historischen Studien^^ und andere Zeugnisse^^ zeigen, nun realgeschichtliches, politisches und ökonomisches Material zum Erweis der Zerrissenheit der nachchristlichen Zeit von ihrem Anbeginn bis zu seiner Gegenwart, zum anderen versucht er, die grundlegenden Begriffe des Endlichen und Unendlichen, deren Einheit für ihn „Leben" heißt, tiefer zu fassen, wie wir aus dem sog. „Systemfragment von 1800"^^ ersehen können. Hier wird allerdings die Aporie des Religiösen noch nicht überwunden, sondern in ihrer Faktizität stehengelassen. II. Die eigentliche Wende in seiner Geschichtsphilosophie, die wir nun näher als Durchführung der transzendentalen Frage nach Revolution umschreiben können, fällt zusammen mit Hegels Entschluß, nach Jena zu gehen. Und hier ist es gleich die erste, in ihrer entscheidenden Bedeutung bisher viel zu wenig beachtete Schrift Hegels, die uns die neue Position samt eigenen Systemansätzen vollständig vor Augen führt. Es handelt sich dabei um die sog. „Differenzschrift" von 1801. An die Stelle der Religion und ihrer Geschichte tritt für Hegel nun die Philosophiegeschichte und ihre systematische Funktion in der Philosophie. Heinz KIMMERLE hat in seiner wertvollen Arbeit^ mit großer historisch-philologischer Kenntnis etwas Licht in die dunklen Zusammenhänge des Jenaer Systems gebracht. In seiner Entdeckerfreude hat er sich indessen in einem Anhang^® dazu verleiten lassen, die zumindest nicht ganz eindeutige These aufzustellen, Hegel vertrete in der „Differenzschrift" „unmißverständlich die Auffassung, daß die Philosophie als solche keine Geschichte hat"^®, und er beginne erst nach 1805, die „Geschichte der Philosophie als das innere Gesetz der Geschichte" aufzufassen^^. Nun hat Hegel zwar in der Tat in 31 33 33 3* 33

Ebd. 257 ff. Vgl. O. Pöggeler: Philosophie und Revolution beim jungen Hegel. 226. Hegels theologische Jugendschriften. 345 ff.; s. u. S. 77. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. H. Kimmerle: Zum Verhältnis von Geschichte und Philosophie im Denken Hegels. Ebd. 301-312; vgl. auch die Erstfassung: Notwendige geschichtliche und philosophische Bemerkungen zum Verhältnis von Geschichte und Philosophie bei Hegel, ln: Hegel-Jahrbuch. 1968/69 (Meisenheim a. G. 1970), 135-146. 33 Ebd. 301. 33 Ebd. 306.

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der „Differenzschrift" die Ansicht geäußert, daß „jede Vernunft, die sich auf sich selbst gerichtet und sich erkannt hat, eine wahre Philosophie producirt, und sich die Aufgabe gelöst (habe), welche, wie ihre Auflösung, zu allen Zeiten dieselbe ist"^®, daß mithin die Philosophie nur eine und zu allen Zeiten dieselbe sei. Diese Ansicht hat Hegel aber niemals geändert®^. KIMMERLE übersieht, daß Hegel hier bereits Wesen und Form der Philosophie dialektisch aufeinander bezieht: ln Rücksicht auf ihr inneres Wesen bleibt die Philosophie zwar immer identisch, indes - das Wesen muß erscheinen, die Philosophie muß geschichtliche Form, Gestalt annehmen, sie gehört „wie jede lebendige Gestalt zugleich der Erscheinung"^o an. Dies ist es, was Hegel „unmißverständlich formuliert"! Man darf nicht übersehen, daß hier „Identität" der Philosophie bereits explizit „Identität der Identität und Nichtidentität"^' heißt. So hat für Hegel 1801 die Philosophie in der Tat eine Geschichte, - diese Geschichte ist zu beobachten und zu denken, sie muß „durch einen verwandten Geist gebohren . . . werden'"^2, wie er sich ausdrückt. Die Aufgabe der Philosophiegeschichte als philosophischer Disziplin ist also, gleichsam den Puls der Geschichte, die Geschichte der Philosophie, zu fühlen und so die „Geschichte der in unendlich mannichfaltigen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft"^® zu erkennen. Sie hat zu beobachten, wie sich die Vernunft in der „interessanten Individualität" eines geschichtlich gewordenen philosophischen Systems, nämlich in seiner jeweiligen Erscheinungsform, aus dem „Bauzeug eines besondern Zeitalters . . . eine Gestalt organisirt"“^. Warum soll sie das tun? Diese Frage bringt uns zurück auf die von uns als Grundtenor der Geschichtsphilosophie des jungen Hegel erkannte Problematik der Revolution. Philosophie muß ihre eigene Geschichte erfassen, um den Zeitpunkt der geistigen Revolution zu erkennen. Diese Revolution wird von Hegel gemäß seiner Wende zur Philosophie nicht mehr als die Revolution der Liebesreligion gegen die Orthodoxie, son-

38 GW 4. 10 Z. 26 ff. = SW 1.41 = Di//, 10.; s.o. S. 34. 3^ Vgl. etwa SW 6.25, 17.62,69 et passim; vgl. auch /. Ritter: Hegel und die französische Revolution. 9. “ GW 4. 9 Z. 23 f. = SW 1.40 = Diff. 8. ‘*3 „Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegenstehen und Einsseyn ist zugleich in ihm." (GW 4.64 Z. 13 ff. = SW 1.124 = Diff. 77.) « GW 4.9 Z. 27 f. = SW 1.40 = Diff. 9. « GW 4.31 Z. 31 f. = SW 1.73 = Diff. 35. « GW 4.12 Z. 9 f. = SW 1.43 = Diff. 12.

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dem als die der Vernunft gegen die Herrschaft des Verstandes gesehen, wobei „Vernunft" - bereits im Sinne der „Phänomenologie des Geistes" das Selbstbewußtwerden des Verstandes als einseitiger Erscheinung des Absoluten meint. Hegel beschreibt in der „Differenzschrift" exakt die „Mechanismen" der Revolution: Verstandesherrschaft, wachsende Unerträglichkeit der Widersprüche, Usurpation der Vernünftigkeit durch den Verstand, subversive Tätigkeit, „List" der Vernunft, - und schließlich offener Kampf, revolutionäres Umschlagen des Verstandes in die Vernunft, welches aber - und hier liegt die Überwindung der Aporien aus der Frankfurter Zeit - nicht eine neue Negation, einen weiteren Widerspruch hervorbringt, indem nun die Vernunft den Verstand in unendlicher Entgegensetzung fixierte. Vielmehr hebt der Verstand sich endlich selbst in der Einsicht in seine eigene Mangelhaftigkeit auf und wird so zu Vernunft. Die Philosophiegeschichte hat systematisch im Rahmen der Philosophie demnach die Funktion, aus den aus dem jeweiligen „Bauzeug des Zeitalters" organisierten Gestalten der Vernunft die interessante Individualität in dem Sinne zu ersehen, daß sie sich über den Stand der Herrschaft des Verstandes und den Grad, den das wachsende Bedürfnis zur Überwindung der Widersprüche annimmt, bewußt wird. Mit anderen Worten: Philosophiegeschichte ermöglicht die richtige Einschätzung der eigenen Zeit auf der Grundlage der Tradition und somit deren Überwindung. Hegel stellt hierbei eine These auf, deren Analyse zeigt, daß er den Gesichtspunkt der Konkretisierung seiner Geschichtsphilosophie als transzendentaler Revolutionstheorie nicht aus den Augen verloren hat. Er formuliert: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie".^^ Das „Bedürfnis der Philosophie" ist nun aber genau das, was wir als die „Revolution der Vernunft gegen den Verstand" bezeichnet haben: das Bedürfnis der Philosophie ist mithin ihr Bedürfnis nach Selbstverwirklichung als Realisation des reflexiven Defizienzerkennens des Verstandes. Der Verstand erkennt sich als defizient und hebt eben damit diese seine Defizienz auf, wird zur Vernunft, welche in ihrer jeweiligen Erscheinung Philosophie ist. Wenn wir dies näher betrachten, so zeigt sich uns, daß Hegel hier « GW 4.14 Z. 4ff. = SW 1.46 = Diff. 14. ; s.o. S. 90 ff.

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zumindest tendenziell - ein geschichtsphilosophisches Grundgesetz vorlegt, in dem die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Auftreten von Philosophie genannt sind. Und wir gehen wohl kaum zu weit, wenn wir letzteres mit der Herbeiführung der „Revolution der Vernunft", diesem Leitmotiv des Denkens Hegels, identifizieren. Das allgemeine Grundgesetz von Hegels „Revolutionstheorie" nennt nun aber in der Formulierung der Bedingungen in konstitutiver Funktion „das Leben der Menschen". Philosophie erhält mithin die Aufgabe, die konkreten Widersprüche im Leben der Menschen aufzuheben. Die geschichtsphilosophische These als Grundgesetz der Hegelschen „Revolutionstheorie" stellt damit die philosophiegeschichtliche Beurteilungsbasis dafür dar, wann und wo Philosophie ihre „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden'"*^ hat, um es mit Hegels bekannten Worten aus seinem Brief vom 2. November 1800 an SCHELLING ZU sagen. III. Die philosophiegeschichtliche Behandlung des Zusammenhanges von Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel muß sich, soll sie überhaupt einen Sinn haben, der Frage nach ihrer Rechtfertigung stellen. Eine solche Rechtfertigung kann jedoch dies lehrt uns die transzendentale geschichtskritische Reflexion - grundsätzlich nur im Auf weis hermeneutisch-gegenivärtiger Relevanz bestehen. Das heißt aber, daß wir die soeben entwickelten Gedanken nicht einfach historisch-objektiv verstehen dürfen, sondern sie auf unser eigenes Tun applizieren müssen. Es zeigt sich so eine dialektische Beziehung zwischen unserem philosophiegeschichtlichen Tun und seinem „Gegenstand". Das Ergebnis unseres Nach-denkens des von Hegel Vor-gedachten ist, daß wir bei Hegel durch unser eigenes Tun eben dieses Tun selbst bereits beschrieben finden. Das bedeutet aber, daß wir das geschichtsphilosophische Grundgesetz, das wir gefunden haben, zumindest versuchsweise für diese thematische Ausübung von gegenwärtigem philosophiegeschichtlichen Tun in Ansatz bringen. Diese reflexive Interpretation, die als Applikation des im philosophiegeschichtlichen Interpretieren Gefundenen auf das philosophiegeschichtliche Interpretieren selbst offenbar in der Lage ist, die Rechtfertigung dieses philosophiegeschichtlichen Tuns ^ Briefe von und an Hegel. Bd. 1. 59 f.

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ZU leisten, führt dazu, Hegels Vorschlag, die Geschichte der Philosophie aufgrund des genannten geschichtsphilosophischen Grundgesetzes als philosophiegeschichtliche Beurteilungsbasis für den Status der „geistigen Revolution" zu verstehen, als eine (bisher zumindest weder widerlegte noch überholte) Möglichkeit, Philosophiegeschichte ohne schlechtes Gewissen zu betreiben, einmal hypothetisch zu akzeptieren. Das heißt allerdings, daß das genannte geschichtsphilosophische Gesetz einer Überprüfung unterzogen werden müßte, und dies kann nur geschehen, indem man es anwendet. Es wäre mithin als Leitfaden zu einer zu konzipierenden philosophischen Theorie der Philosophiegeschichte, die nach Maßgabe des Gesagten selbst philosophiegeschichtlich sein muß, das von Hegel formulierte Grundgesetz, nachdem es durch geeignete Präzisierungen und Einschränkungen applikationsfähig gemacht ist, zum Zwecke seiner Überprüfung in Anwendung zu bringen. Dieser Leitfaden könnte uns zu einer Theorie der Philosophiegeschichte führen, die deren systematische Funktion durchsichtig macht.^^ Die Philosophie erhielte damit in philosophiegeschichtlicher Absicht zumindest für die Überprüfung des geschichtsphilosophischen Grundgesetzes, bei dessen Bewährung aber bis auf weiteres, die Aufgabe, unsere Zeit daraufhin zu untersuchen, ob und in welcher Weise in ihr die Gegensätze im Leben der Menschen ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden sei.

Grundsätzliche Überlegungen zu einer Theorie der Philosophiegeschichte habe ich vorgelegt in: W. Ch. Zimmerli: Wozu noch Phüosophiegeschichte? Legitimationsprobleme als Ansatz zu einer Philosophiegeschichtstheorie. In: Studio Phüosophica. 37 (1977), 199-234.

DIE BEZIEHUNG VON DIALEKTIK UND REALITÄT* Zu Hegels früher „Realdialektik" Wenn wir uns mit der Genesis von Hegels Dialektik befassen, so ist das Interesse, das uns dazu nötigt, ein zugleich historisches und systematisches: Wir fragen nicht nur nach der geschichtlichen Entstehung der Hegelschen Dialektik, sondern auch nach den Bedingungen der Entstehung von Dialektik überhaupt und damit im gleichen nach einer Bestimmung dessen, was mit dem Terminus „Dialektik" im Blick ist. Daher soll im folgenden von dreierlei die Rede sein: — Erstens von einem der drei Faktoren, die für die Eingrenzung der Entstehungsbedingungen der Hegelschen Dialektik namhaft zu machen sind. Über die anderen beiden Faktoren, die religions-geschichtsphilosophische Wende und die philosophiehistorische Situation, habe ich bereits gehandelt^; hier soll es um das Verhältnis von Denken und „Realität" gehen, das, wie ich meine, ein ganz bestimmtes sein muß, soll Dialektik möglich sein^. — Zweitens werde ich - der Behauptung einer systematischen Relevanz folgend - den explizierten Befund auszuweiten und generalisationsfähig zu machen versuchen, um damit überprüfbare strukturelle Merkmale des Verhältnisses von Dialektik und Realität zu gewinnen. — Diese können nun drittens dazu dienen, einen Vorschlag dafür zu formulieren, was wir unter „Dialektik" verstanden wissen wollen. Ob-

* Leicht gekürzter und überarbeiteter Nachdruck aus: Hegel-jahrbuch. 1974 (Köln 1975). ' Vgl. W. Ch. Zimmerli: Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel. S. o. S. 235 ff.; ders.: Schellings „Deduktion eines allgemeinen Organs der Philosophie“ als

Bindeglied zwischen romantischer Kunstauffassung und der Neubegründung der Dialektik in Hegels Jenaer Philosophie. In: R. Brinkmann (Hg.): Romantik in Deutschland. Sonderband der Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart 1978.

404-420. ^ Ganz ohne Zweifel stehen diese drei Bedingungsfaktoren nicht isoliert nebeneinander, sondern sind durch mannigfaltige Beziehungen miteinander verbunden, deren Thematisierung jedoch Gegenstand einer genaueren Ausarbeitung des im dritten Teil (Dialektikbegriff) Skizzierten sein müßte.

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wohl Dialektik zu definieren wohl im strengen Sinne unmöglich ist^, läßt sich - so meine ich - eine Bestimmung wesentlicher Implikate geben, die der Begriff „Dialektik" notwendigerweise mitmeint. Wo anhand historischer Situationen dermaßen prinzipielle Probleme diskutiert werden, liegt die Vermutung nahe, daß - implizit oder explizit - auch Auseinandersetzungen ausgetragen werden, zumal wenn das Problem noch eines ist, das mitten in der Diskussion steht. So ist es auch in diesem Falle, und zwar werde ich mich - stellvertretend - vordringlich mit LUKäCS, aber auch mit D. HENRICH und M. BUHR auseinandersetzen. Dabei gehe ich von drei Vermutungen aus, die ich thesenhaft formuliere, um sie anschließend zu diskutieren. These 1: Die Realität, mag man sie geschichtlich, gesellschaftlich, politisch oder ökonomisch gewichtend auslegen, spielt bei der Entstehung der Hegelschen Dialektik eine entscheidende Rolle, indessen nicht als deren Fundort, sondern als ihr Bewährungsbereich, der sie im gleichen auch evoziert. Darin ist eingeschlossen, daß die Hegelsche Dialektik - auch in ihrer frühen, noch systematisch unentwickelten Form - nichts Mystisches ist, sondern etwas, das an der Realität auch scheitern oder sich an ihr verändern kann. Die argumentative Ausweitung dieses, zumal am frühen Hegel ablesbaren Befundes läßt sich in Form einer zweiten These so vornehmen: These 2: Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Dialektik ist demnach stets eine Realitäts-Situation, die nicht selbst dialektisch ist (was sollte das auch heißen?) sondern Dialektik evoziert und an der diese sich bewähren oder scheitern kann. Damit ergibt sich für die Dialektik selbst: These 3: Dialektik ist nicht - und auch beim frühen Hegel nicht - Struktur der Realität, die die Theorie nun nur noch abzubilden hätte, sie ist aber auch nicht bloße Denkmethode, sondern sie ist reflektierte Manifestation einer „Defizienzerfahrung" erklärenden und beschreibenden Bewußtseins gegenüber einer von ihm nicht mehr zu erfassenden, d. h. von ihm als „kontingent" apostrophierten Realität. Damit ist Dialektik aber nichts absolut und überzeitlich Gültiges, sondern je auf die Bedingungen der Realität angewiesen, unter denen sie erst entstehen kann. Dialektik erweist sich damit ihrerseits als historisch. ^ Vgl. dazu R. W. Meyer: Ist Dialektik definierbar? In; Hegel-Jahrbuch. 1974 (Köln 1975),

118-127.

* G. Lukäcs: Der junge Hegel; D. Henrich: Hegel im Kontext; M. Buhr: Zur Geschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie. Leipzig 1972.

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I. Die dialektik-evozierende und -bewährende Realitätskonstitution beim frühen Hegel Wenn ich von der „frühen" Philosophie Hegels spreche, so meine ich damit sein Denken vor 1801, denn um 1801 - dies ist meine rein philosophiehistorische Annahme über die Randbedingungen - findet sich ein entscheidender Einschnitt, der damit zusammenhängt, daß Hegel hier, genauer in der „Differenzschrift", eine erste, wie man sagen könnte: teildialektische, weil noch teil-programmatische „Phänomenologiekonzeption" entwickelt hatte, deren Genesis also zu interessieren hat. Damit steht zu vermuten, daß um die Jahrhundertwende eine entscheidende Neuorientierung im Denken Hegels eingesetzt hat. Mit dieser Diagnose befinde ich mich in Übereinstimmung mit Manfred BUHR, der 1965 in seinem Akademievortrag zum Thema „Der Übergang von Fichte zu Hegel"® ausführt: „Die Jahrhundertwende bietet sich aus drei Gründen als Einschnitt an. Zunächst war Hegel durch den Tod seines Vaters im Januar 1799 in die Lage versetzt, eine selbständige wissenschaftliche Tätigkeit aufzunehmen. Die Erbschaft war zumindest so hoch, daß er jetzt daran denken konnte, das demütigende Hauslehrerdasein aufzugeben. Das ist der äußere Grund, der einen Einschnitt in Hegels Entwicklung nahelegt. Zweitens finden sich im sogenannten Frankfurter Systemfragment mit dem Datum des 14. September 1800 im ümriß die wesentlichen Elemente (Vorstufen) der Hegelschen Dialektik zusammen, wie die Frankfurter Zeit überhaupt die Entstehungszeit der Hegelschen Dialektik ist, während in der folgenden Jenaer Periode von Hegel der Grundstein zu seinem objektiv-idealistischen System gelegt wurde. Schließlich entstammt der Frankfurter Zeit auch die Schrift Die Verfassung Deutschlands. Sie begründet die welthistorische Notwendigkeit einer bürgerlichen ümgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Hegel stellt fest: ,Das deutsche Staatsgebäude ist nichts anderes als die Summe der Rechte, welche die einzelnen Teile dem Ganzen entzogen haben, und diese Gerechtigkeit, die sorgsam darüber wacht, daß dem Staat keine Gewalt übrigbleibt, ist das Wesen der Verfassung.' Aus dieser Feststellung leitet Hegel dann die Forderung ab, den deutschen politischen Status quo umzugestalten: ,Der gemeine Haufen des

5 Erschienen im Akademie-Verlag. Berlin 1965 (Vorträge und Schriften. Heft 98); wiederabgedruckt in: M. Buhr: Zur Geschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie. 58-78.

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deutschen Volkes nebst ihren Landständen, die von gar nichts anderm als Trennung der deutschen Völkerschaften wissen und denen die Vereinigung derselben etwas ganz Fremdes ist, müßte durch die Gewalt eines Eroberers in Eine Masse versammelt, sie müßte gezwungen werden, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten/ Die Einsicht Hegels in die welthistorische Notwendigkeit einer bürgerlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland ist für seine weitere Entwicklung entscheidend. Im Prinzip hält er daran bis an sein Lebensende fest."^ Der erste Grund interessiert für unsere Fragestellung nicht, hingegen trifft die Zusammenstellung des zweiten und dritten Grundes recht genau das, was ich mit der Frage nach der Beziehung von Dialektik und Realität meine. Es ginge nun also darum, diese Beziehung am Exempel des Systementwurfes von 1800 und der Schrift über die Verfassung Deutschlands darzulegen. Indessen muß hier bereits präzisiert werden; Anders als BUHR es - recht generell und auch mit dem damaligen Forschungsstand nicht ganz in Übereinstimmung^ - darstellt, ist nach heute anerkannter Datierung* nur der kleinste Teil der Manuskripte zur Verfassungsschrift, nämlich der erste Entwurf {1799f, die Einleitung (1799/ 1800)10 sowie das Fragment über Landeshoheit und Reichsmacht (1799)H überhaupt in Frankfurt entstanden - rein quantitativ also etwa ein VierzehnteP^. Analysieren wir diese nun plötzlich recht schmal gewordene Textbasis - im Zusammenhang mit anderen auch realitätsbezogenen Textpartien aus der Zeit vor der Jahrhundertwende -, so erhalten wir die folgenden Resultate: 1. Zum einen diagnostiziert Hegel eine völlige Auflösung aller die Individualität und Partikularität zusammenhaltenden und verbindenden Allgemeinheit. „Im Deutschen Reiche ist die machthabende Allgemeinheit, als die Quelle alles Rechts, verschwunden, weil sie sich isoliert, zum

Ebd. 70 f. ’’ Vgl. dazu etwa die Datierungen von Hoffmeister, Haering u. a.; aber auch die für den heutigen Forschungsstand verbindlichen Datierungen durch G. Schüler {Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften) müßten Buhr bekannt gewesen sein. ® Nach den Datierungen von G. Schüler (s. o. Anm. 7) und H, Kimmerle: Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften, ln:Hegel-Studien 4 (1967), 137 ff. ^ Dokumente zu Hegels Entwicklung. 232-288, z. T. auch in TWS 1. 451-460. i“ G. W.F. Hegel: TWS 1. 457-460. » TWS 1. 603 f. Nämlich in TWS 1 nur 11 von 150 Seiten.

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Besonderen gemacht hat"^^, formuliert Hegel in der „Einleitung" von 1799/1800. Dem entspricht auch bereits das, was Hegel im „Ersten Entwurf" von 1798/99 - historisch-konkret auf die Koalitionskriege und den Rastatter Kongreß bezogen - sagt: „Außer den Despotien, d. h. den verfassungslosen Staaten, hat kein Staat eine elendere Verfassung als das Deutsche Reich, dies ist eine ziemlich allgemein gewordene Überzeugung; und der durch die fortdauernden Friedensunterhandlungen geendigte Krieg hat jedem die lebhafteste Empfindung davon gegeben. Und auch im Fragment über „Landeshoheit und Reichsmacht" von 1799 äußert Hegel diese Diagnose, wenn er hier das partikularisierende Prinzip auch genauer spezifiziert: „Die Landeshoheit, der Stolz der deutschen Stände, der Stolz ihrer Untertanen, zu einem besonderen Staate zu gehören, ist in Rücksicht aufs Ganze das Prinzip, von dem es zerrissen wird, eins ist unverträglich mit dem anderen; aber sie hat so viele lockende Reize, sie war von dem Charakter des Volks so sehr unterstützt, daß jeder Stand es übersah, daß diese Absonderung die Grube ist, die er sich selbst gräbt, daß, je mehr er in seinem Streben, sich zu isolieren, Fortschritte macht, er an Stärke verliert, daß jeder Gewinn Vergrößerung der Gefahr ist."^^ 2. Diese partikularistisch depravierte Verfassung versucht Hegel nach dem Muster seines Vorgehens in den religionskritischen Schriften von Bern und Frankfurt genetisch auf ihre Entstehungsbedingungen hin zu durchleuchten. Die Verfassung ist Produkt vergangener Zeiten, das gleichsam anachronistisch quer zu den Tendenzen der eigenen Zeit steht. Die Gründe für dieses Inkompatibelwerden von Verfassung und je gegenwärtiger Zeit sind Anfang 1799 für Hegel im Umkreis des durch die Tat einzelner entstandenen Privatbesitzes zu sehen, der seinerseits durch gegenseitigen „Kampf um Anerkennung" - sich in Form von Gesetzen zum Allgemeinen verfestigt, welches indessen „mehr eine Sammlung als ein System"^^ von Gesetzen bildet, eine verworrene Mannigfaltigkeit ohne Einheit. Gesetze sind damit Abstraktionen von Besitzwirklichkeiten, das deutsche Staatsrecht mithin eigentlich ein Privatrecht, die politischen Rechte ein Eigentum. In seinen nicht genau datierbaren historischen Studien aus der einschlägigen Zeit generalisiert Hegel diese These 13 i'i 15 15

TWS 1. 459. Dokumente zu Hegels Entwicklung. 283 = TWS 1. 452. TWS 1. 603. Dokumente zu Hegels Entwicklung. 285 = TWS 1. 454.

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und bezieht sie - modernen Ohren fast völlig vertraut - auf die Staaten der neueren Zeit insgesamt, allerdings in für ihn damals typischer Kontraposition zu Verfassungen des Altertums, - gemeint ist im Gefolge MONTESQUIEUS Griechenland: „In den Staaten der neueren Zeit ist Sicherheit des Eigentums die Angel, um die sich die ganze Gesetzgebung dreht, worauf sich die Rechte der meisten Staatsbürger beziehen. In mancher freien Republik des Altertums ist schon durch die Verfassung des Staats das strenge Eigentumsrecht, die Sorge aller unserer Obrigkeiten, der Stolz unserer Staaten, beeinträchtigt worden . . . Wie sehr der unverhältnismäßige Reichtum einiger Bürger auch der freiesten Form der Verfassung gefährlich und die Freiheit selbst zu zerstören im Stande sei, zeigt die Geschichte . . ., und es wäre eine wichtige Untersuchung, wieviel von dem strengen Eigentumsrecht der dauerhaften Form einer Republik aufgeopfert werden müßte"^^. 3. Daraus resultiert nun in der fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung der Widerspruch zwischen bürgerlichem Privat- und politischem Amtseigentum, denn das bürgerliche Privateigentum als rechtlich Allgemeines bleibt dennoch nach der materialen Seite hin ein „Isoliertes, Beziehungsloses", während das politische Amtseigentum auch in materialer Hinsicht Beziehung auf andere ist, indem „politisches Amtseigentum" Herrschaft und Verfügungsgewalt bedeutet. - Im Versuch der verfassungsmäßigen Lösung dieses Widerspruchs triumphiert in Deutschland der „Trieb zu isolieren"^®, wie Hegel es in dem Fragment „Landeshoheit und Reichsmacht" 1799 formuliert. Das heißt, daß „jeder das Seinige so viel als möglich der Gewalt aller zu entziehen suchte" und daß gar „die Rechte der Trennung vom Ganzen, die die einzelnen Stände sich errungen haben, . . . heilige, unverletzliche Rechte, auf deren Erhaltung das ganze Staatsgebäude ruht''^®, geworden sind. 4. Die „Einleitung" von 1799/1800 fügt diesen Widerspruchsgedanken in einen weiteren Zusammenhang ein, aus dem sich nun auch die von Hegel ins Auge gefaßte Lösung des Widerspruchs ableiten läßt. Nicht nur die verfassungs- und rechtsbegründende „machthabende Allgemeinheit" ist verschwunden, sondern dies Verschwinden ist nur gleichsam eine der vielen Einsetzungsinstanzen des generellen Satzes, der auf die vorhin aufgezeigte geschichtliche Entfremdung zurückgreift: „Alle Erscheinungen dieser Zeit zeigen, daß die Befriedigung im alten Leben sich nicht Dokumente zu Hegels Entwicklung. 268 f.; auch abgedruckt in TWS 1. 439. >8 TWS 1. 604. Dokumente zu Hegels Entwicklung. 287 f. = TWS 1. 456.

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mehr findet.Und damit ist auch der Ansatzpunkt für die Überwindung dieses schlechten „alten Lebens" gegeben. „Das Gefühl des Widerspruchs der Natur mit dem bestehenden Leben ist das Bedürfnis, daß er gehoben werde; und dies wird er, wenn das bestehende Leben seine Macht und alle seine Würde verloren hat, wenn es reines Negatives geworden ist."^^ Das Leben als beschränktes muß diese Defizienzerfahrung machen, um seine eigene Beschränkung zu überwinden. Es muß sich gleichsam - und dies klingt schon fast phänomenologisch - an seiner eigenen intendierten Wahrheit messen: „Aber das Beschränkte kann durch seine eigene Wahrheit, die in ihm liegt, angegriffen und mit dieser in Widerspruch gebracht werden; es gründet seine Herrschaft nicht auf Gewalt Besonderer gegen Besondere, sondern auf Allgemeinheit; diese Wahrheit, das Recht, die es sich vindiziert, muß ihm genommen und demjenigen Teile des Lebens, das gefordert wird, gegeben werden. 5. Was Hegel mit diesem „Angriff" und dem antizipierten Erfolg desselben meint, läßt sich am deutlichsten ablesen, wenn man die Beschreibung der deutschen Staatsverfassung von 1798/99 mit einem Passus aus dem „Grundkonzept zum Geist des Christentums" vom Herbst 1798, also etwa aus der gleichen Zeit, vergleicht. - Die deutsche Staatsverfassung beschreibt Hegel wie folgt: „Das Gebäude der deutschen Staatsverfassung ist das Werk von vergangenen Jahrhunderten; es wird nicht vom Leben der jetzigen Zeit getragen; das ganze Schicksal mehr als eines Jahrhunderts ist seinen Formen eingeprägt und die Gerechtigkeit und Gewalt, Tapferkeit und Feigheit, die Ehre, das Blut, die Not und das Wohlsein längst verflossener Zeiten, längst verwester Geschlechter wohnt in ihnen; das Leben und die Kräfte, deren Entwicklung und Tätigkeit der Stolz der jetzigen lebenden Generation sind, haben keinen Anteil an ihnen, kein Interesse für dasselbe und keine Nahrung von ihnen; das Gebäude mit seinen Pfeilern, seinen Schnörkeln steht isoliert vom Geiste der Zeit in der Welt."^ Einen analogen Zustand findet Hegel in der jüdischen Nation zur Zeit Jesu gegeben, wenn er - ebenfalls in eindeutiger Generalisierung - in den ersten Sätzen des „Grundkonzeptes" ausführt: 20 2' 22 23

rWS 1. 458. Ebd. TWS 1. 459. Dokumente zu Hegels Entwicklung. 283 = TWS 1. 452 f.

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„Zu der Zeit, da Jesus unter der jüdischen Nation auftrat, befand sie sich in dem Zustande, der die Bedingung einer frühen oder später erfolgenden Revolution ist und immer die gleichen allgemeinen Charaktere trägt. Wenn der Geist aus einer Verfassung, aus den Gesetzen gewichen ist und jener durch seine Veränderung zu diesen nicht mehr stimmt, so entsteht ein Suchen, ein Streben nach etwas anderem, das bald von jedem in etwas anderem gefunden wird, wodurch denn eine Mannigfaltigkeit der Bildungen, der Lebensweisen, der Ansprüche, der Bedürfnisse hervorgeht, die, wenn sie nach und nach soweit divergieren, daß sie nimmer nebeneinander bestehen können, endlich einen Ausbruch bewirken und einer neuen allgemeinen Form, einem neuen Bande der Menschen ihr Dasein geben; je loser dies Band ist, je mehr es unvereinigt läßt, desto mehr Samen zu neuen Ungleichheiten und künftigen Explosionen liegt darin. Revolution ist es also, was Hegel als die Lösung ansieht, - und was Hegel in diesem Falle unter „Revolution" versteht, habe ich ebenfalls oben bereits entwickelte^, hier sei nur zusammengefaßt; gemeint ist eine geistige Revolution, geschehe dies nun durch Religion oder Philosophie oder beide miteinander. Die Analyse der einschlägigen Texte aus der Frankfurter Zeit gipfelt also in dem als notwendig empfundenen Postulat der geistigen Revolution, das Hegel dann nach 1801 als in einer systematischen Defizienzerfahrung einzulösen sieht, wie es die „Rumpfphänomenologie" der „Differenzschrift" und - über viele Zwischenstufen - die durch die entscheidende Dimension intersubjektiver Anerkennung, d. h. des Geistes erweiterte ausgeführte „Phänomenologie" belegen, - kurz: in dem, was wir „Dialektik" nennen. Genau diese Systematisierung der Defizienzerfahrung - und das muß mit aller Deutlichkeit gegen LUKäCS und auch gegen M. BUHR gesagt werden - findet sich aber im Systemfragment von 1800 noch nicht, es findet sich darin nur die Defizienzerfahrung des unendlichen Progresses, eine Fassung des Widerspruchs mithin, die zwar Dialektik evoziert, ihrerseits aber nichts Dialektisches an sich ist und sein kann. - LUKäCS hat dagegen behauptet, in einem berühmten Satz dieses Systemfragments (das er n. b. in seinem Umfang falsch zählt, weswegen er auch für die beiden überlieferten Manuskriptbogen falsche Zahlen angibt^^) gelange Hegel „zu einer 2« rws 1. 297.

Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel, s. o. S. 235 ff. 25 Die Bogen des Manuskripfs sind mit Buchstaben und Doppelbuchstaben durchgezählt;

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verhältnismäßig klaren Formulierung seiner späten Dialektik" oder auch gar zur bereits „entwickelten Form der Hegelschen Dialektik"^^. Dieser ebenso berühmte wie lange und zugegebenermaßen nicht einfache Satz bei Hegel lautet: „Wenn schon das Mannigfaltige nicht als solches hier mehr gesetzt ist, sondern zugleich durchaus in Beziehung auf den lebendigen Geist, als belebt, als Organ vorkommt, so würde damit eben noch etwas ausgeschlossen und bliebe demnach eine Unvollständigkeit und eine Entgegensetzung, nämlich das Tote; mit anderen Worten, wenn das Mannigfaltige nur als Organ in Beziehung gesetzt wird, so ist die Entgegensetzung selbst ausgeschlossen, aber das Leben kann eben nicht als Vereinigung, Beziehung allein, sondern muß zugleich als Entgegensetzung betrachtet [werden]; wenn ich sage, es ist die Verbindung der Entgegensetzung und Beziehung, so kann diese Verbindung selbst wieder isoliert und eingewendet werden, daß [sie] der Nichtverbindung entgegenstünde; ich müßte mich ausdrücken, das Leben sei die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung, d. h. jeder Ausdruck ist Produkt der Reflexion, und sonach kann von jedem als einem Gesetzten aufgezeigt werden, daß damit, daß etwas gesetzt wird, zugleich ein Anderes nicht gesetzt, ausgeschlossen ist; diesem Fortgetriebenwerden ohne Ruhepunkt muß aber ein für allemal dadurch gesteuert werden, daß nicht vergessen wird, dasjenige zum Beispiel, was Verbindung der Synthesis und Antithesis genannt wurde, sei nicht ein Gesetztes, Verständiges, Reflektiertes, sondern sein für die Reflexion einziger Charakter sei, daß es ein Sein außer der Reflexion ist. Dadurch, daß man - verleitet durch ähnlich lautende spätere Formulierungen - den Ausdruck „Verbindung der Verbindung und Nichtverbindung" als dialektische Identität versteht, verschließt man sich, ebenso wie LUKäCS es getan hat, die Augen dafür, daß hier nur die Grenze, nicht aber diese als Schranke der Reflexion formuliert ist. LUKäCS verwechselt, wie ich meine, und wie er auch selbst indirekt zugibt, Dialektik und Widerspruch. Der Widerspruch ist selbst noch nichts Dialektisches, solange er zu seiner Überwindung noch ein Außerrationales, die Kontin-

erhalten sind die Bogen hh und yy, der Schlußbogen mit dem Datum 14. Sept. 1800. Daraus läßt sich rückschließen, daß es sich um insgesamt 49 Bogen gehandelt haben muß (a-yy), von denen Bogen 33 und 49 erhalten sind, nicht aber, wie G, Lukäcs meint (Der junge Hegel. 254), der 8. und 47. von 47 Bogen. 27 Ebd. 264. 28 TWS 1. 422.

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genz der Religion etwa, oder eine intellektuelle Anschauung postulieren muß. Realität wird - so meine ich - beim frühen Hegel bis zur Jahrhundertwende als grundsätzlich und notwendig widersprüchlich erkannt; die Mittel zur Überwindung dieser Widersprüchlichkeit entstammen aber nicht eben dieser Realität, wie LUKäCS das ohne Zweifel meint, wenn er Dialektik als „gedankliche Widerspiegelung der bewegten Widersprüche der objektiven Wirklichkeit"^^ versteht, was auch immer das heißen soll. Eine frühe „Realdialektik" Hegels im eigentlichen Sinne existiert also gar nicht^*’. Was sich findet, ist Hegels frühe Erkenntnis der widersprüchlichen Verfassung seiner zeitgenössischen Realität und eine ihm durch Tradition und sein eigenes Leben gegebene Defizienzerfahrung des reflektierenden Bewußtseins gegenüber diesen Widersprüchen. Zweifelsohne sind diese Defizienzerfahrungen ausgelöst und evoziert durch die in der Realität zu beobachtenden widersprüchlichen Sachverhalte, und ebenso zweifellos sind dies auch die in „einfacher" Selbstanwendung, d. h. Reflexion der tradierten Denkmuster erzeugten gedanklichen Lösungen der widersprüchlichen Realitätssachverhalte. Das heißt nicht, daß die Realität, als Natur oder als Gesellschaft, dialektisch strukturiert sei, sondern nur, daß ihre widersprüchliche Verfassung eine dialektische Denk- und Erfahrungsweise erfordert, weil reflektierende Rationalität hier am Ende ihrer Kompetenz angelangt ist. Damit wird Realität aber auch zum Bewährungsfeld des neuen, d. h. dialektischen Erklärungsmusters. Die ganze komplizierte Konstruktion der ökonomischen Basis der Hegelschen Philosophie^^, die sich nur durch als solche bereits suspekte Vermutungen über den allfälligen Inhalt des verlorenen SiEWART-Kommentares (auf Sand) unterbauen lassen, würde damit überflüssig, - es brauchte auch keine „Unterschlagungslegende"^^ mehr. G. Lukäcs: Der junge Hegel. 265. ^ In dieser Frage bin ich explizit anderer Ansicht als D. Henrich, der von Frankfurt an eine kontinuierliche Entwicklung Hegels bis zur reifen Systematik annimmt. „Ein solcher Bruch", - so Henrich „wie er nach der Ankunft in Frankfurt eintrat, ist aber in Hegels philosophischer Biographie nicht noch einmal zu konstatieren. Aus dem Begriff der Liebe geht durch den Begriff des Lebens der des Geistes kontinuierlich hervor." (D. Henrich: Hegel int Kontext. 66 f.) Mit dieser These manövriert Henrich sich allerdings in die prekäre Lage, das Kunststück vollbringen zu müssen, die Genese der Dialektik ohne Dialektik nachzuweisen. Vgl. G. Lukäcs: Der junge Hegel. 208 ff. Immer wieder unternimmt es Lukäcs, dem Leser zu suggerieren, die einschlägigen Originalmanuskripte Hegels seien aus politischen Interessen absichtlich „verloren" worden.

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II. Ausweitung auf das Verhältnis von Realität und Dialektik Wenden wir das am Frankfurter Hegel exemplarisch Entwickelte ins Grundsätzliche, so müssen wir uns fragen: Was sollte denn das überhaupt heißen, es gebe eine Dialektik in der gesellschaftlich-geschichtlichen Realität (vielleicht sogar in der Natur!), deren bloßes Abbild die vermeintlich autonome Dialektik des Denkens sei? Eine solche These, wie LUKäCS Z. B. sie des öfteren aufstellt, könnte nur zweierlei bedeuten: entweder einen noch hinter den von KANT in seinem Erkenntniskritizismus erreichten Standpunkt zurückfallenden metaphysisch-mystischen Glauben über die Beschaffenheit der „Welt an sich", oder aber die Anerkennung bewährter dialektischer Sätze über die Realität, - tertium non datur. Für den Bereich, in dem wir uns bewährter Sätze bedienen, um über Wirklichkeit dialektisch zu reden oder auch zu denken (was sich ja bekanntlich nicht ausschließt), dürfen wir eine, die Wahrheitsfähigkeit dialektischer Aussagen überhaupt erst begründende, sprachlich sicherlich unpräzise Identifikation von Ding an sich und Erscheinung zulassen, - hier können wir dann von „dialektischer Verfassung der Wirklichkeit" sprechen. Dort, wo dies aber nicht der Fall ist, müssen wir uns geradezu hüten, Dialektik und Realität schlicht zu vermengen. Denn nur dort, wo der Rationalitätstyp reflektierenden, genauer: beobachtenden und beschreibenden Bewußtseins sich gegenüber einer nicht anders als widersprüchlich zu erfassenden Realitäts-Situation als defizient erfährt und diese Defizienzerfahrung dann systematisch reflektiert, kann überhaupt so etwas wie Dialektik auf treten. Widersprüchlichkeit der zu reflektierenden Realität ist mithin „conditio sine qua non" für Dialektik, - mit anderen Worten: eine Realitätssituation, die mit dem je gerade eingeübten prinzipiellen Reflexionstyp nicht erfaßt werden kann. Damit kann aber Dialektik auch scheitern, - dann nämlich, wenn im Rahmen des je gerade eingeübten Rationalitätstyps Erklärungen ausgearbeitet werden können, die den Rückgriff auf Dialektik nachträglich überflüssig machen; nicht als falsch erweisen (das würde wohl auch schwerfallen), sondern durch eine „leichtere" Form ersetzen. Nicht, als ob dadurch Dialektik eine Art von Theorie- oder Hypothesenbildungsform für schwere oder gar hoffnungslose Fälle geworden wäre, - sie ist vielmehr gar keine Methode in diesem Sinne, sondern sie ergibt sich materialiter aus dem, was man „bestimmte Negation" zu nennen pflegt, - in diesem Falle: bestimmte Negation des Erklärens von Realität nach Maßgabe des je gerade eingeübten Rationalitätstyps. Wir können mithin pointiert sagen: Es gibt Zeiten der Dialektik und andere; denn nur unter ganz bestimmten

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historisch-politisch-gesellschaftlichen Situationen kann Dialektik als systematisierte Reflexion von Defizienzerfahrung auftreten. ln der „Differenzschrift" von 1801 formuliert Hegel bekanntlich diese Realitätsbedingungen in der gesetzesartigen Formel: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie"^^. Damit sind aber nur die Realitätsbedingungen, noch nicht die Einlösung derselben, anders: nur die Defizienzerfahrung („Bedürfnis der Philosophie") nicht ihre systematische Reflexion, in den Blick genommen. Das Realitätsproblem evoziert seine Lösung, diese muß sich wieder am Realitätsproblem bewähren, - was diese Lösung aber ist, sagt das Realitätsproblem allein noch nicht. III. Ändert sich die Dialektik? Akzeptiert man diese Bestimmung des Verhältnisses von Realität und Dialektik, so bleibt also die Frage noch offen, was denn Dialektik materialiter sei. Als formale Bestimmung hatte ich vorgeschlagen: Dialektik ist weder Struktur der Realität, welche die Theorie nur noch abzubilden hätte, noch bloße Denkmethode, sondern systematisch reflektierte Manifestation einer Defizienzerfahrung, die erklärendes und beschreibendes Bewußtsein gegenüber einer ihm kontingent und unerfaßbar bleibenden Realität macht. Hegels „Phänomenologie des Geistes" legt klar, was in ihren Vorstufen nur angedeutet war: daß die Reflexion der Defizienzerfahrung dazu führt, den eigenen Rationalitätstyp als - synchron und diachron intersubjektiv konstituierten zu begreifen^^. Die materiale Bestimmung dessen, was „Dialektik" heißt, ist somit letztlich immer rückbezogen auf den jeweiligen Gehalt des als defizient erfahrenen und reflektierten, mithin permanent scheiternden Rationalitätstyp. Daraus ergeben sich aber Konsequenzen für die diachrone Entwicklung der Dialektik selbst: 33 GW 4.14 Z. 4ff, = SW 1.46 = Diff. 14 = TWS 2. 22; s, o. S. 90ff. 3^ Vgl. dazu - wenn auch in eigener (und zuweilen eigentümlicher) Terminologie - P. Günter: Vernunft wird Geist. Zur phänomenologischen Negation der Differenz von absolutem Idealismus und historischem Materialismus, ln: Hegel-Jahrbuch. 1975 (Köln 1976), 357-365.

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- Wenn nämlich die Dialektik so aufgefaßt wird, ist es sinnlos, generell von der „dialektischen Entwicklung der Geschichte", von „dialektischen Beziehungen zwischen Basis und Überbau" etc. zu sprechen. Dies alles sind bestenfalls Widersprüche. Dialektisch werden sie nur dadurch, daß andere Rationalitätstypen am Versuch ihrer Erklärung und Aufhebung scheitern. Das heißt; dialektisch ist immer nur erfaßte Realität, nie Realität „an sich". - Daraus folgt, daß der Gedanke einer „naturwüchsigen dialektischen Entwicklung" nichts als Projektion eines aufgrund erfahrener Defizienz vollzogenen Reflexionsproduktes auf einen gleichsam prädefizienten Zustand ist. „Hinter dem Rücken" der handelnden Subjekte ereignet sich überhaupt nichts: das Ansich, mit dem im Vollzug dialektischer Defizienzerfahrungs-Reflexion das Vermeinte zur Deckung gerät, kommt erst in diesem Moment überhaupt zur Geltung, - es tritt erst im Nachhinein in die Existenz. - Unter diesen Bedingungen muß aber Dialektik - zumindest in materialer Hinsicht - sich stets ändern. Dialektik heute hat zugegebenermaßen andere Gehalte als Dialektik vor 150 Jahren; und Ergebnisse einer durch ihre zeitgenössische Realität evozierten und an dieser bewährten Dialektik unverändert auf die heutige Realität zu übertragen, könnte nur unter der Annahme sinnvoll sein, daß es in der gesamtgeschichtlichen Entwicklung zwei exakt identische Momente geben könnte. Vielmehr ist, wie Hegel auch sagt, „das wahre Eigenthümliche . . . die interessante Individualität, in welcher die Vernunft aus dem Bauzeug eines besondern Zeitalters sich eine Gestalt organisirt hat"^®. - Nun läßt sich aber, wie ich meine, kein Argument dagegen finden, daß Dialektik in formaler Hinsicht ewig gleichbleiben muß. Nehmen wir nämlich an (was wir als gegeben annehmen dürfen und müssen), daß die Hegelsche und MARXsche Dialektik als je bestimmte und konkrete „Gestalt" in das Reservoir eingeübter Rationalitätstypen eingegangen sind, so bliebe dennoch stets in Geltung, daß „Dialektik" nun die aus systematischer Reflexion von Defizienzerfahrung dieser Rationalitätstypen an der Realität entstandene bestimmte Negation derselben hieße. In dieser Hinsicht begründete Dialektik also auch noch die Einreden gegen ihre formal unveränderbare Gültigkeit. Nur eine in diesem Sinne gegen erstarrte Rationalitätsdogmatik auch in sich selbst, d. h. sowohl gegen andere als auch gegen sich dialektische 35 GW 4.12 Z. 9 f, = SW 1.43 = Diff. 12 = TWS 2. 19; s. o. S. 38 ff.

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Dialektik ist dazu in der Lage, die sich ihrerseits weiterentwickelnden Realitätszusammenhänge zu klären, denen gegenüber die eingeübten Rationalitätstypen versagen. MARX hat es Hegel gegenüber versucht, Dialektik dialektisch gegen sich zu wenden; auf die dialektische Gegenwendung gegen MARX warten wir bis heute. Nötig wäre sie, denn defizient genug sind die heute fraglos integrierten Rationalitätstypen angesichts immer komplexer werdender Realitätsbedingungen, und auch an Erfahrung dieser Defizienz fehlte es nicht: was aussteht, ist einzig die Entscheidung, die „harte Arbeit dieses Begriffs", die systematische Reflexion der Defizienzerfahrung für die heutigen Zustände auf sich zu nehmen.

^ Vgl. zu diesem Kontext W. Ch. Zimmerli: Was ist das eigentlich - Dialektik? In: R. SimonSchaeferlW. Ch. Zimmerli: Theorie zwischen Kritik und Praxis. Jürgen Habermas und die Frankfurter Schule. Stuttgart-Bad Cannstatt 1975. 165-176.; allgemein zur Rationalitätskritik W. Ch. Zimmerli (Hg.): Wissenschaftskrise und Wissenschaftskritik. Philosophie aktuell 1. Basel/Stuttgart 1974.

„RÜCKKEHR ZUM EINGREIFEN IN DAS LEBEN DER MENSCHEN" VERSUS „EULE DER MINERVA"* Zur Unvereinbarkeit von dialektischer Praxis der Philosophie und praktischer Philosophie Es ist ein zur Zeit gravierender Mangel in der philosophischen Beschäftigung mit Hegel - aber nicht nur mit ihm daß entweder zugunsten des Historischen das Systematische und Methodische, oder aber jenes zugunsten von diesem vernachlässigt wird. Daher soll in den folgenden Überlegungen eine Verbindung von beidem versucht werden. - Nun ist es zwar ein wichtiger hermeneutischer Grundsatz, der der juristischen Hermeneutik entstammt, daß Verstehen Applikation einschließe^ indessen meint „Applikation" dort eine zugleich sorgfältig durch ihre wirkungsgeschichtlichen Aberrationen verfolgte, vermittelte Beziehung des Textes auf den Interpreten. Wenn ich in dem Versuch einer Vermittlung von historischer und methodisch-systematischer Untersuchung, den ich nun unternehme, eine unmittelbare Applikation in Form einer Generalisierung von Interpretationsergebnissen vornehme, so deswegen, weil sich nachweisbar in der thematisierten Problematik keine bedeutsamen wirkungsgeschichtlichen Stationen finden und weil wir heute noch an derselben Stelle stehen wie Hegel, vielleicht ein weniges sogar noch hinter ihm. - Ich fasse daher in einer ersten These zusammen: Die im gleichen historische und systematisch-methodische Untersuchung eines durch Hegel veranlaßten Problems kann eine direkte Applikation ihres Ergebnisses zulassen, da die heutige Diskussion die Konzeption Hegels keineswegs obsolet gemacht hat, sondern ihrer ganz im Gegenteil zu ihrer eigenen Klärung bedarf. Ein Wort noch zum Titel: Was auch immer er bedeuten mag, sicher ist: wir fragen nach der praktischen Philosophie im Zusammenhang von und ausgelöst durch die Philosophie Hegels. Unter „praktischer Philosophie"

' Leicht gekürzter und überarbeiteter Nachdruck aus: Hegel-Jahrbuch. 1977178 (Köln 1979). ' Vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. 290 ff. und 307 ff.

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verstehe ich dabei im traditionellen Sinne etwa KANTS eine der theoretischen Philosophie zur Seite gestellte eigene Theorie entweder formal oder material normativer Art. I. Führen wir uns zunächst zwei Personenkennzeichnungen vor Augen: Wer kann das wohl sein, der - so HABERMAS 1963^ zugleich „Hegel und Feuerbach und Marx in einem" ist, dessen Philosophie sich aber „nach Allem accomidieren" kann, „was eben an der Tagesordnung ist", also ein ,,hochmüthige[s] und nur gegen die Macht gefällige[s] Treiben" ist - so ein anonymer Rezensent 1822^. Der solche Beurteilungen hervorrief, eine divergierende Meinungsfülle, die bis in die politischen Zuordnungen zu Faschismus und Kommunismus hineinführte“*, ist kein anderer als Hegel. Wie lassen sich solche Unterschiede in der Einschätzung eines Philosophen erklären? In aller Regel hat man sich heute entwicklungsgeschichtlich arrangiert: Der junge Hegel ist revolutionär, der alte Hegel reaktionär^, der junge Philosoph hat nichts zu verlieren und kann daher sagen, was er denkt, der ältere Philosophiebeamte fürchtet um seine Stellung und scheidet das, was er mündlich sagt, säuberlich von dem, was er publiziert. (Als Schlüsselereignis zur Umkehr wird dabei oft das Datum der Karlsbader 2 /. Habermas: Hegels Kritik der französischen Revolution. In: ders.: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. 3. Aufl. Neuwied/Berlin 1969. 107. ^ Rezension von Hegels Rechtsphilosophie von einem mit „Z. C." unterzeichnenden Rezensenten in Hermes oder Leipziger Kritisches Jahrbuch der Literatur, „Jan." 1822, I 309-351; abgedruckt in: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie. Hrsg. v. K.-H. Ilting. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1973. 437. * Vgl. dazu H. Kiesewetter: Von Hegel bis Hitler. Eine Analyse der Hegelschen Machtstaatsideologie und der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus. Hamburg 1974; W. R. Beyer: Hegel-Bilder. Kritik der Hegel-Deutungen. 3. Aufl. Berlin 1970; O. Negt (Hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels. Frankfurt a. M. 1970. ^ So - dem Sinne nach - /. Habermas: Hegels Kritik der französischen Revolution, aber in gewisser Weise auch K.-H. Ilting: Einleitung: ,Die Rechtsphilosophie' von 1820 und Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie. In: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie. 25-126. Indessen sehen die Hintergründe wohl weniger differenzenreich aus: Das ganze 19. Jahrhundert hält den Hegel der Rechtsphilosophie für einen Vertreter der Restauration, und S. Hook vertritt gar die Auffassung, Hegel habe spätestens seit Beginn seiner Berliner Lehrtätigkeit eine restaurative Politik unterstützt. (S. Hook: From Hegel to Marx. Studies in the intellectual development of Karl Marx. 3. Aufl. The University of Michigan 1968; ders.: Hegel rehabilitated? In: Hegel's Political Philosophy. Hrsg, von W. Kaufmann. New York 1970. 66, 91 f., 96.)

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Beschlüsse - Annahme durch die Bundesversammlung: 20. 9. 1819, Inkraftsetzung durch Preußen: 18. 10. 1819 - genannt, die der Demagogenverfolgung im Anschluß an die Ermordung KOTZEBUES folgten.) Diese Auffassung differenziert ihrerseits eine eher Hegel-apologetische Position, wie sie etwa von E. WEIL und J. RITTER eingenommen wurde^ und derzufolge die Annäherung Hegels an den preußischen Staat als konsequente Weiterentwicklung seiner liberalen politischen Philosophie auf gef aßt werden muß, da dieser Staat liberal gewesen sei, und eine dritte Lesart, wie sie vor allem seit 1972 von Shlomo AVINERI vertreten wird^, schließt sich hieran an und besagt im Grunde, daß sich nicht die Hegelsche Philosophie geändert habe, sondern nur ihre Beziehung zur Realität dadurch, daß eben diese eine andere geworden sei. Eine Verbindung von beiden letztgenannten Auffassungen versuchte K. H. ILTING durch seine Edition der verschiedenstufigen Materialien und Fassungen der Rechtsphilosophie zu erhärten®. Damit ist bereits gesagt, daß es insbesondere die Hegelsche „Rechtsphilosophie" von 1820 ist, die die genannte Meinungsvielfalt hervorrief. Ich würde meinen, daß die Diskussion um Hegels politische Philosophie, seinen Standort in Fragen der gesellschaftlichen Praxis etc.® längst nicht so facettenreich wäre, gäbe es einige Sätze der „Rechtsphilosophie" nicht. - Damit ist aber zugleich - wenigstens implizit - auch bereits gesagt, daß man die Frage nach einer praktischen Philosophie Hegels von nur einer Seite her angeht: von der der rechts-, staats- und gesellschaftspolitischen Äußerungen Hegels nämlich. Meine zweite These nun, die mittelbar historischer Art ist, lautet: Eine prinzipienorientierte systematische Methodenreflexion kann - sowohl in historischer wie auch in systematischer Hinsicht - unsere Frage nach der Beziehung von theoretischer und praktischer Philosophie bei Hegel (und anderswo) bedeutend fruchtbarer machen als eine gleichsam einäugig auf die sogenannte politische Philosophie Hegels ausgerichtete „ex-post-Gesinnungsschnüffelei".

^

E. Weih Hegel et l'Etat. Paris 1950; J. Ritter: Hegel und die französische Revolution. ^ S. Avineri: Hegels Theorie des modernen Staates. 1972, dt. Frankfurt a. M. 1976. * fC.-H. Ilting: Einleitung: Die ,Rechtsphilosophie' von 1820 und Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie. ^ Eine repräsentative Auswahl aus dieser Diskussion bietet M. Riedel (Hg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1975, wobei Bd. 1 die Diskussion im

19. Jahrhundert, Bd. 2 diejenige nach dem 2. Weltkrieg dokumentiert.

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In zwei Punkten bedarf es in der These Gesagte noch der weiteren Ausführung: a) „Prinzipienorientierte systematische Methodenreflexion" soll heißen eine Untersuchung der Frage, ob die Prinzipien der - in diesem Falle Hegelschen Philosophie, die genau besehen Systemprinzipien sind, nicht bereits Deutungsmuster abgeben, die erlauben, die Frage nach theoretischer und praktischer Philosophie bei Hegel so zu beantworten, daß damit auch Hegels verschiedenartige politische Äußerungen auf einen Nenner zu bringen sind. b) Wenn ich Fruchtbarkeit nicht nur in historischer, sondern auch in systematischer Hinsicht behaupte, so heißt das im Zusammenhang meiner allgemeinen Vorbemerkungsthese, daß mit dem vorgeschlagenen Vorgehen eine Einsicht erreicht oder verdeutlicht werden kann, die sich natürlich unter Berücksichtigung hermeneutischer Regeln - als weiterhin gültig erweist. Im Endeffekt wird sich diese gültige Einsicht in etwas Trivialem, nämlich einer Textsortendifferenzierung, niederschlagen. Bevor ich nun an die prinzipienorientierte Methodenreflexion gehe, möchte ich noch einem Mißverständnis vorab begegnen, das entstehen könnte, hielte man mein Effizienzmißtrauen gegenüber der genannten „ex-post-Gesinnungsschnüffelei" für eine Äußerung des Unmuts über die Methode der entwicklungsgeschichtlichen Analyse. Selbstverständlich haben entwicklungsgeschichtlich verfahrende Untersuchungen ihr gutes Recht, und zu einem guten Teil gehe ich selbst von ihnen aus^°. Aber zur Beantwortung grundsätzlicher philosophischer Fragen sind sie weder in regulativer, noch gar in konstitutiver, sondern allein in „purgativer“ Funktion beizuziehen. Soll heißen: sie können dazu beitragen, ein Problem philosophischer Art von seinem entwicklungsgeschichtlich-akzidentellen Ballast zu befreien, damit man es in einer entwicklungsgeschichtlich andersartigen Situation dennoch in lösbarer Form wieder vor sich hat; sie können nicht dazu beitragen, ein philosophisches Problem selbst zu lösen. Wohl aber sind entwicklungsgeschichtliche Analysen in der Lage, scheinbar philosophische Probleme als eher historische zu durchschauen und so zu „lösen". Aber kehren wir zurück zu unserem Problem, das ich kurz exponieren möchte, indem ich es an den im Titel genannten beiden Hegel-Zitaten illustriere. Das erste entstammt dem berühmt gewordenen Brief Hegels

Vgl. hierzu W. Ch. Zimmerli: Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte des jungen Hegel, s. o. S. 235 ff.; ders.: Die Beziehung von Dialektik und Realität, s. o S. 247 ff.

■Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen" versus „Eule der Minerva

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an ScHELLiNG vom 2. November 1800, kurz bevor Hegel nach Jena ging; es dokumentiert also, wenn man so will, die, wie ich meine entwicklungsgeschichtlich entscheidende Wende Hegels^k In diesem Brief schreibt Hegel unmittelbar vor dem Zitat unseres Titels den unterdessen durch häufiges Zitieren fast schon abgedroschenen Satz: „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetem Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist. Hegels Bildung ging also von „untergeordnetem Bedürfnissen" der Menschen aus, Bedürfnissen nämlich, wie sich nachweisen läßt, eher praktischer Art, von denen her er sich zur systematisch vorgehenden philosophischen Wissenschaft getrieben fühlte, vom Ideal zur Reflexionsform. Jetzt, während er noch an der Systematisierung seiner religionskritisch-philosophischen Revolutionstheorie^^ arbeitet, stellt sich ihm die Frage nach einer Rückkehr „zum Eingreifen in das Leben der Menschen". Mit anderen Worten: Hegel fragt sich danach, wie er aus dem Bereich der Theorie, in dem er sich in seiner Frankfurter Zeit bewegt hatte, wieder in die Praxis zurückkehren könne. - Ist dies nun die Frage des unbekannten Frankfurter Hauslehrers, der in seinem Köfferchen einen Stoß Manuskripte zu religionskritischen und politisch-praktischen Fragen sowie ein Systemfragment mit sich führt, an seinen Freund, den bekannten JungProfessor, ob dieser nicht eine Stelle für ihn habe? Oder ist es der im Theoretiker schlummernde Vollblutpraktiker und talentierte Journalist, als der er sich zwischen „Phänomenologie" und „Logik" erwies?^^ - Zu viele Indizien sprechen gegen die Lesart dieses Schreibens als einer bloßen Stellenbewerbung, und so scheint sich die stärkere Interpretation aufzudrängen, Hegel sei damit befaßt, ein System zu entwerfen, eine Theorie, nach deren praktischer Umsetzbarkeit er sich nun frage. Mit anderen Worten: Das Bestreben Hegels, eine philosophische Theorie zu konzipieren, die nicht zuletzt die Aufgabe einer nichtausschließenden Beziehung

Vgl. W, Ch. Zimmerli: Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel, s. o. bes. S. 242 f. Briefe von und an Hegel. Bd. 1. 59 f. Vgl. W. Ch. Zimmerli: Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel., s. o., bes. S. 237 ff. '■* IN. R. Beyer: Zwischen Phänomenologie und Logik. Hegel als Redakteur der Bamberger Zeitung. Frankfurt a. M. 1955.

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des „common sense" auf die philosophische Spekulation zu lösen hatte^®, dieses Bestreben hatte bezüglich der Frage nach dem Theorie-Praxis-Verhältnis zur Konsequenz, daß die ursprüngliche Gleichbedeutsamkeit von Theorie und Praxis für das Wissen des „common sense" nun zu einer Gleichursprünglichkeit von Theorie und Praxis in der Philosophie wurde - so M. RIEDEL. So sieht es noch 1800 beim jungen Hegel aus. Aber eben dieser Hegel, der 1795 gar noch hoffte, daß in Sachen Religion und Politik „mit der Verbreitung der Ideen, wie etwas sein soll, [. . .] die Indolenz der gesetzten Leute, ewig alles zu nehmen, wie es ist, verschwinden" werde^^, dieser selbe Hegel läßt es 1820/21 in der berühmt-berüchtigt gewordenen Vorrede zur „Rechtsphilosophie" anders klingen. „Es ist ebenso töricht", sagt Hegel dort, „zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Zeit hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit. [. . .] Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen - einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt."^* Und es ist dieselbe Vorrede, in der er auch - wenig später - unser zweites Titelzitat bringt; „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug."^^ Zum Belehren also, wie die Welt sein soll, damit aber auch zum Verändern der Welt oder gar zum Eingreifen in das Leben der Menschen - so sieht es hier aus - kommt die Philosophie ohnehin immer zu spät. Es kommt nun ganz offensichtlich darauf an, dieses Zitat so zu interpretieren, daß es mit anderen systematischen Grundgedanken Hegels sowie mit seinem frühen Anliegen, in das Leben der Menschen mit seiner Philosophie einzugreifen, kompatibel wird. Zu diesem Zwecke bedarf es nur noch einer einzigen historischen Erinnerung: Sowohl die Jenaer Sy-

Vgl. hierzu L. Hasler: Gesunder Menschenverstand und Philosophie. Vom systematischen Sinn der Auseinandersetzung Hegels mit Wilhelm Traugott Krug, ln; Hegel-Jahrbuch 1977/78. (Köln 1979), 239-248. A4. Riedel: Theorie und Praxis im Denken Hegels. Interpretationen zu den Grundstellungen der neuzeitlichen Subjektivität. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1965, bes. Kap. V.2; „Die Gleichursprünglichkeit des Theoretischen und Praktischen". 96 ff. Briefe von und an Hegel. Bd. 1. 24. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse 1820/21. TWS 7. 26. rws 7. 28.

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stementwürfe als auch die „Phänomenologie", die „Logik" und die „Heidelberger Enzyklopädie" liegen bereits vor, als die zitierten Passagen aus der „Vorrede" geschrieben wurden. Damit soll gesagt sein, daß sowohl die methodische wie auch die systematische Konzeption ausgearbeitet sind, als es gilt, in Fragen der praktischen und politischen Philosophie systematisch Stellung zu nehmen. Wohl hatte er sich in der Zwischenzeit an der einen oder anderen Stelle zu politischen Problemen geäußert. Die systematische Bearbeitung derselben im Rahmen und auf der Höhe des Niveaus des enzyklopädisch umrissenen Systems dialektischer Genese steht aber erst jetzt an. Das hat direkte Konsequenzen, die wir uns nun vor Augen führen wollen. II. Welchen Sinn und Zweck hat das Hegelsche System? Am weitesten verbreitet ist die Meinung, es handle sich dabei um idealistisch entwickelte methodische Strukturen, die dem Bereich des Geistigen entlehnt und nun dem der Natur und der gesellschaftlich-geschichtlichen Realität gleichsam aufgesetzt würden - ein Monismus um seiner selbst willen. Allein sehen wir uns das etwas genauer an. Ein erstes großes und zu einem guten Teil unlösbares Exempel und Rätsel für das, was für Hegel ein methodisch entwickeltes wissenschaftliches System ist, stellt seine „Phänomenologie des Geistes" dar. Sie verfährt in einer von Hegel schon seit 1800/01 entwickelten dialektischen Methode, die sich beschreiben läßt als „systematisierte Reflexion von iterierender [. . .] Defizienzerfahrung erklärenden und beschreibenden Bewußtseins gegenüber einer von ihm nicht mehr zu erfassenden, d. h. von ihm als ,kontingent' apostrophierten Realität"2°. Allerdings hat eine solchermaßen gekennzeichnete Methode den Nachteil, daß sie ihrerseits in ihren einzelnen Schritten beliebig iterierbar ist. Sie selbst gäbe noch keine Auskunft darüber, wo ihr Ende zu liegen hätte, mit welcher Gestalt des Bewußtseins sie gleichsam aufhören müßte, und so müßte man denn eine zusätzliche Annahme einführen, die die Anzahl der zu ,absolvierenden' Stufen oder deren letzte festlegte. Aber Dialektik beginnt in der Form, die sie in der Hegelschen „Phänomenologie" annimmt, von allem Anfang an selbstreflexiv gleichsam „inmitW. Ch. Zimmerli: Was ist das eigentlich - Dialektik? 168.

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ten". Nicht irgendein Bewußtsein reflektiert seine eigenen Defizienzen, sondern das Bewußtsein, als das Hegel sich und andere in seiner Zeit weiß. Somit ist die „Phänomenologie des Geistes", die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins", wie sie früher heißen sollte, aufzufassen als der Versuch eines je konkret „inmitten" beginnenden reflektierenden Bewußtseins, durch die Aporien und Defizienzen hindurch die Stationen seines Weges nachzuvollziehen von dem, wie es sich als scheinbar einfachstes natürliches Bewußtsein zu wissen vermeint, bis zu seiner Wahrheit, soll heißen: bis es weiß, was es ist, warum es das ist und warum es das, was es ist und warum es das ist, bis anhin nicht wußte. - Dieser Weg ist gleichsam der Weg des denkenden Subjektes zu sich selbst - genauer: von dem, was es je zu sein meinte, zu dem, als was es sich nun je zu sein erweist, ohne es zuvor gewußt zu haben. Da sich dies aber so verhält, führt Hegel den genannten Selbsterfahrungsweg in einer ständigen Differenz von thematisiertem Bewußtsein und thematisierendem „Wir" vor, das bereits zwar nicht auf der zu erreichenden Stufe der Selbsttransparenz steht, diese aber material repräsentiert, ohne über ein anderes als das Thematisierte je zu reflektieren^^. Der „Mechanismus" gleichsam, nach dem dies geschieht, ist der eines konsequenten, aber um die bestimmte Negation erweiterten reflexiven Fallibilismus: Das thematisierte Bewußtsein erfährt dauernd, daß es das, was es zu sein meinte, gerade nicht ist. Und dadurch wird es stets aufs neue gezwungen, seine Hypothesen über das, was es ist, zu ändern damit aber auch sich selbst, bis es das zu sein weiß, was es an sich ist. Das, was es an sich ist, ist aber auch nicht von Anfang an „an sich" da, sondern entsteht erst mit der zunehmenden reflexiven Transparentwerdung des reflektierenden Bewußtseins. „Ex post factum", in der sozusagen „reflexionshistorischen Erklärung", fügen sich dann die einzelnen Erfahrungen von Scheitern und darauf folgendem schlagartigem Wechsel des Selbstverständnisses, die subjektiv „hinter dem Rücken des reflektierenden Bewußtseins" mit ihm geschehen, zu einer rational rekonstruierbaren „objektiven Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins" zusammen, die nun neben den Gestalten eines Bewußtseins auch Weltgestalten zu enthalten beginnt, da sich zu Beginn des Geistkapitels das Bewußtsein zwar abstrakt als gesellschaftlich und

Zur Diskussion um die „Phänomenologie des Geistes" vgl. die informative Textsammlung: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes". Hrsg, von H. F. Fulda und D. Henrich. Frankfurt a. M. 1973.

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geschichtlich konstituiert weiß, die Faktoren dieses Konstituiertseins nun aber nach denselben methodischen Regeln der Defizienzreflexion erinnern muß. Es ist bekannt, daß auf diesem Wege der Selbstkonstitution durch systematisches Erinnern die Moralität ebenso eine erinnerte Gestalt ist wie die Religion; ebenso müßte aber meines Erachtens auch Klarheit darüber entstehen, daß das heißt, daß die ganze „Phänomenologie", insbesondere aber deren Geistkapitel, sozusagen apophantisch spricht: Die Weltgestalten wie die Bewußtseinsgestalten sind nicht das, was sie „an sich" sind, allein, sondern zugleich das, als was sie erinnert werden. So besehen beginnt dann eigentlich auch das enzyklopädische System in der „Logik" damit, daß das am Ende der „Phänomenologie" erreichte absolute Wissen als absolute Idee sich abstrakt als das Allereinfachste, die qualitativ abstrakteste Bestimmung des „Seins" setzt und damit den Anfang ihrer eigenen apophantisch-reflexiven fortschreitenden Bestimmung und Konkretisierung macht. Das philosophische Element aber, die Philosophie, die das Wissen der absoluten Idee ist, „depotenziert" sich quasiScHELLiNGsch in ihr abstraktes apophantisch-sich-Wissen in der Natur, genauer: in der Wissensform der Mechanik, um sich von dort über das organische Leben zur Seele und von dieser über Recht, Staat, Kunst und Religion zu sich selbst zu konkretisieren. Alledem liegt das systemkonstitutive dialektische Grundprinzip der „Phänomenologie" zugrunde: Philosophische Reflexion ist der Ausgangspunkt, das, um transzendental zu sprechen, Faktum, dessen Wirklichkeitsbedingungen apophantisch in den Selbstreflexionsformen des philosophischen Geistes diesem sukzessive transparent werden, ihn so erst zur philosophischen Reflexion konkretisierend. Spätestens seit dem Geistkapitel der „Phänomenologie" ist aber auch klar, daß diese Terminierung bei der philosophischen Reflexion auch historisch aufzufassen ist: Fortschreitende Gewinnung von Selbsttransparenz hat ihre absolute Grenze in der erreichten Selbsttransparenz oder der erreichten Konkretisierung dessen, wovon als abstraktem ausgegangen wurde. Hieraus und, wie ich meine, allein hieraus läßt sich denn auch eine sinnvolle Erklärung für die bei Hegel sonst immer stoßenden Formeln vom „Ende der Kunst", vom „Ende der Geschichte" oder vom „Ende der Philosophie" geben: Gemeint ist damit jeweils Geschichte, Kunst oder Philosophie als konkrete, als solche mithin, die sich als bestirnter Stufen von Reflexivität in der Konkretisierung der Idee hinsichtlich ihrer Konstituentien transparent geworden sind. Dann hat Philosophie in der Tat, wie Hegel ebenfalls in der Vorrede zur „Rechtsphilosophie" festhält, die Aufgabe, „das was ist zu begrei-

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fen, [. . .] denn das was ist, ist die Vernunft"^^. Die „Vernunft" aber meint hier den Gang der sich selbst erreichenden Reflexion. Wenn ich mithin die konstituierenden Faktoren der bestehenden Gesellschaft und der in ihr vorkommenden Denkformen aus ihrer Kontingenz dadurch befreit habe, daß ich sie in ihrer Genese apophantisch erinnert und begriffen habe, ist bereits alles geleistet, was Philosophie zu leisten imstande ist. („Bereits alles" sage ich -, dabei ist mir kein einziger einigermaßen gelungener Versuch bekannt. Ähnliches auch nur anzugeben. Diese Formulierung ist ein Eingeständnis meiner Meinung, daß auch das beeindruckende Opus von Karl MARX in dieser Hinsicht der Hegelschen systematischen Philosophie nichts entgegenzusetzen habe. Selbst in der reifen Phase der ökonomischen Schriften nämlich, im „Kapital", zieht MARX aus der grundsätzlichen Einsicht Hegels in die Selbstterminiertheit radikaler Reflexion nicht die Konsequenz, keine prophezeienden Prognosen oder Handlungsanweisungen mehr abzuleiten, sondern Reflexion allein als das Begreifen dessen, was ist, nämlich der kapitalistischen Gesellschaft in ihren genetisch bedingten Regelzusammenhängen, aufzufassen.) Für Hegel aber ergibt sich, so meine ich, aus dem selbstreflexiven Ansatz seiner dialektischen Philosophie zwingend, daß im systematischen Sinne weder die Ableitung normativer bzw. programmatischer noch auch die Gewinnung prognostischer Aussagen möglich sei. Daraus erklärt sich nun, daß Hegel niemals eine eigene Ethik in Angriff genommen hat. Hierin Ähnlichkeit mit SPINOZA aufweisend^^, verzichtet Hegel darauf, irgendein Sollen oder eine Zukunft zu entwerfen, es sei denn, es handle sich um Ethisches und Normatives im Rahmen des apophantisch aufzufassenden „Seienden", des Begriffenen. Seit seiner frühen KANi-Kritik in der Berner und Erankfurter Zeit kehrt seine Polemik gegen das abstrakte subjektivistische Sollen immer aufs neue wieder, sogar in der „Großen Logik"24. Ich fasse das jetzt über die Systematik Hegels und deren Konsequenzen für die praktische und politische Philosophie Hegels Entwickelte in meiner dritten These so zusammen:

“ TWS 7. 26. Bekanntlich stellt ja auch Spinozas Ethica ordine geometrico demonstrata keine „praktische Philosophie" im engeren Sinne dar, sondern eine Ontologie, aus der eine Theorie des Geistes und der Affekte sowie der daraus resultierenden Unmöglichkeit menschlicher Freiheit folgt. 24 pwS 5. 142 ff. - Zur Sollensproblematik vgl. auch O. Marquard: Hegel und das Sollen, ln: Philosophisches Jahrbuch. 71 (1964).

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Methodisches Prinzip der systematischen Dialektik Hegels ist, daß diese als systematisierte Reflexion iterierender Defizienzerfahrung erklärenden und beschreibenden Bewußtseins gegenüber einer von ihm nicht mehr zu erfassenden Realität selbstreflexiv angesetzt und daher von einer Abstraktionsstufe ihrer selbst zu sich selbst konkretisiert wird. Das gilt aber nicht nur für die „Phänomenologie", sondern im Grunde ebenso für die „Logik" und die „Enzyklopädie". Daraus folgt die Unmöglichkeit systematisch zu rechtfertigender präskriptiver und prognostischer Sätze im Rahmen eines dialektischen Systems, woraus sich seinerseits das Fehlen jeder individualistischen, kollektivistischen und politischen Ethik bei Hegel ebenso erklärt wie das einer futurischen Geschichtsphilosophie. III. Nach dem Gesagten rückt offenbar die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) von präskriptiven Sätzen in die Nähe der Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) von Sätzen im Zusammenhang einer futurischen Geschichtsphilosophie, also von historischen Prognosen. Und es läßt sich, wie ich nun in einem stärker analytisch argumentierenden Teil zeigen will, in der Tat hier ein Bedingungszusammenhang aufweisen. - Zunächst einmal müssen wir uns aber darüber klar sein, daß wir argumentativ bereits die „linguistische Wende" mitvollzogen haben, indem wir unser Systemproblem als ein Problem der Folgebeziehung von Sätzen formulierten, und es mag viele geben, die hierbei Widerwillen verspüren, in der Meinung, damit bringe man die dialektische Philosophie um ihr eigentliches Leben. Aber -, zum einen wird wie ich eingangs bereits bemerkte, zuviel systematisch-methodische Philosophie ohne Philosophiehistorie, aber auch zuviel Philosophiehistorie ohne systematisch-methodische Argumentation betrieben. Und die Mittel systematisch-philosophischer Argumentation, die wir heute haben, sind nun einmal die scharfgeschliffenen Waffen analytischer Begrifflichkeit. - Zum anderen aber - und das ist vielleicht beruhigender - soll mein Schritt in die sprachlogische Ebene hinein zu einem ganz und gar anderen Ende führen; Er soll aufweisen, daß die Hegelsche Konzeption eine Begründung liefern kann, wo wir mit

25 TWS 7. 26.

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Hilfe des analytischen Instrumentariums nicht weiter als bis zum schlichten Konstatieren und Unterscheiden kommen. Wenn wir zunächst einmal die präskriptiven Sätze untersuchen, so läßt sich das Problem etwa so formulieren: Aufgabe der Hegelschen Philosophie ist - gemäß eigener Aussage die Aufgabe, „das was ist zu begreifen"25 (nämlich die Vernunft). Hegels Philosophie bestände also im strengen Sinne aus lauter deskriptiven Sätzen^®. (Natürlich kommen bei Hegel auch präskriptive Sätze vor; eine genauere Untersuchung derselben würde allerdings wohl zum Ergebnis haben, daß sie zum überwiegenden Teil metatheoretisch-methodologischer Art sind. Die eigentlich auf die verhandelte Sache bezogenen Sätze dagegen sind in einem strengen Sinne deskriptiv oder indikativisch.) Nun gilt aber das allgemeine Prinzip, daß aus deskriptiven Sätzen keine präskriptiven abgeleitet werden können. Um welche Präskriptiva aber geht es uns genau? Die Gesamtheit der präskriptiven oder vorschreibenden Sprache zerfällt nach HARE in einer ersten Dichotomie in Imperative und Werturteile^^, seien diese letzteren nun moralischer Art oder nicht. Schon für Werturteile, etwa „A ist gut", gilt aber, daß sie aus indikativischen Sätzen nicht abgeleitet werden können, es sei denn, diese seien ihrerseits versteckte Präskriptiva. Dies ist der ursprüngliche Sinn der unterdesseri in anderer - PoppERscher - Formulierung bekannt gewordenen sog. „naturalistic fallacy", des naturalistischen Fehlschlusses. Bei G. E. MOORE nämlich, dem „Klassiker" der modernen Meta-Ethik, der 1903 diese Bezeichnung in seinem Epochewerk „Principia Ethica" einführte, war der naturalistische Fehlschluß noch ein solcher bloß im Bereich der Werturteile, wie sich daraus erkennen läßt, daß er als die logische Identifizierung des Prädikates „gut" mit anderen - deskriptiven - Prädikaten eingeführt wird. MOORE schreibt dort: „Und doch ist ein [. . .] simpler Fehler in bezug auf ,gut' weit verbreitet. Es mag sein, daß alle Dinge, die gut sind, auch etwas anderes sind, so wie alle Dinge, die gelb sind, eine gewisse Art der Lichtschwingung hervorrufen. [. . .] Aber viel zu viele Philosophen haben gemeint, daß sie, wenn sie diese anderen Eigenschaften nennen, tatsächlich ,gut' definieren; daß diese Eigenschaften in Wirklichkeit nicht ,andere' seien, sondern absolut und gleichbedeutend mit Gutheit. Diese Ansicht möchte ich den ,naturalistischen Fehlschluß' nennen . . Ich halte mich hier an die von R. M. Hare vorgeschlagenen und seither gebräuchlichen terminologischen Distinktionen (R. M, Hare: Die Sprache der Moral. 1952, dt. Frankfurt a. M. 1972). 27 Ebd. 21. 2* G. E. Moore: Principia Ethica. 1903, dt. Stuttgart 1970. 40 f.

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Aber - wir fragen ja nach der gesamten praktischen Philosophie Hegels und nicht nur nach einer Zusammenstellung von Werturteilen. Hier ist es wieder HARE, der das Grundprinzip explizit formuliert, das allerdings seiner Meinung nach auch schon der HuMESchen „is-ought"-Regel zugrunde liegt^^. Er stellt als wichtigste Schlußregel für praktische Schlüsse folgende auf: „Kein Schlußsatz im Imperativ kann gültig aus einer Prämissenmenge gefolgert werden, die nicht mindestens einen Imperativ enthält. "30 Dabei verhält es sich keineswegs so, daß Imperative und Indikative in allen Bestandteilen unterschieden und nicht ineinander überführbar wären. HARES Analyse eines jeden Satzes, sei er nun deskriptiv oder präskriptiv oder sonst wie, in ein Phrastikon, das gleichsam auf den Referenten verweist, und ein Neustikon, das die Modalinformation vermittelt, ermöglicht uns, hier genauer zu sehen. Neustika nämlich sind, selbst wenn die Phrastika zweier Aussagen identisch sind, kaum ineinander überführbar (sieht man einmal vom Streitfall „Sollen impliziert Können" ab). Wenn wir uns fragen, wie denn etwa eine Bewertung bei Hegel aussehen müßte, so könnte man sich z. B. vorstellen, daß sein Satz über die Wirklichkeit des Vernünftigen von ihm negativ bewertet würde. Das Phrastikon bliebe also das gleiche, es träte nur die Bewertung „nicht gut" dazu; es gälte mithin das Neustikon „nicht gut" von dem Phrastikon „Wirklichkeit des Vernünftigen, Vernünftigkeit des Wirklichen". Ein Imperativ der politischen Philosophie Hegels aber könnte so vorgestellt werden, daß z. B. von dem Phrastikon „Dein Stürzen des Monarchen" das Neustikon gälte „Tu es!". Wir wollen fürs erste einmal völlig von der „dadaistischen Kleinkindersprache" absehen, als die dieses analytische Vorgehen erscheinen könnte. Ebenso sollen uns hier die Differenzierungen etwa des hypothetischen Imperativs als einer möglichen Ausnahme nicht interessieren^^. Wichtiger ist uns vielmehr die Beziehung zur historischen Prognose, die ja für Hegel im gleichen Maße unmöglich wird wie präskriptive Sätze. R. M. Hare: Die Sprache der Moral. 51. - Hare bezieht sich dabei auf D. Hume: Treatise on Human Nature, iii. I. 1, R. M. Hare: Die Sprache der Moral. 50. 31 Ebd. 38. 32 Obwohl das Problem der sog. „counterfactual conditionals" hierbei besonders apart sein dürfte. - Vgl. dazu N. Goodman: The Problem of Counterfactual Conditionals. In; Journal of Philosophy. 44 (1947), 126 ff.; vgl. auch die Darstellung bei W. Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1. Berlin/Heidelberg/New York 1969. 283 ff.

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Es ist auch erkenntnispsychologisch äußerst aufschlußreich, daß K. R. POPPER hier erstaunlich klar sieht, wenn er im Anhang zur „Offenen Gesellschaft" die Frage nach einem Sinn der Geschichte so beantwortet: „Die Geschichte hat keinen Sinn, das ist meine Behauptung, [. . .] Weder die Natur noch die Geschichte kann uns sagen, was wir tun sollen. Tatsachen, seien es nun Tatsachen der Natur oder Tatsachen der Geschichte, können die Entscheidung nicht für uns treffen, sie können nicht die Zwecke bestimmen, die wir wählen werden."^3 Es läßt sich nur durch Betriebsblindheit und äußerste Aversion erklären, daß POPPER, obwohl er einsieht, daß ein enger Zusammenhang zwischen historischer Prognose und Ableitung präskriptiver Sätze besteht, nicht merkt, daß sich identisch der gleiche Sachverhalt bei Hegel thematisiert findet und daß dieser hierzu eine Erklärung liefern könnte. Stattdessen reproduziert POPPER das unüberlegte Interpretenmärchen, daß „Hegel, von scheinbar fortschrittlichen und sogar revolutionären Annahmen ausgehend, unter Verwendung jener allgemeinen dialektischen Methode [. . .] die Dinge verdreht und schließlich bei einem überraschend konservativen Ergebnis endet"^^. Schließlich darf nicht vergessen werden, daß es ja auch POPPER war, der im Rahmen einer methodologischen Differenzierung von Prognose und Prophezeiung für die Historiographie nur die letztere einräumte (und verwarf )35. Aber, was ist es denn, was POPPER und HARE, aber auch eine ganze Menge sich „Dialektiker" nennender Philosophen von Hegel hätten lernen können? - Ich möchte es die „A-historizität präskriptiver Sätze" nennen. Wären nämlich präskriptive Sätze in irgendeiner Weise geschichtlich, d. h. wirklich und d. h. vernünftig, dann könnten sie auch aus den deskriptiven Sätzen über die vernünftige Wirklichkeit abgeleitet werden. Anders gewendet: verfügten wir über ein futurisches, mithin prognostisches Wissen über Geschichte - eine n.b. aus self-destroying-Gründen absurde Vorstellung -, dann kennten wir auch das Ziel der Geschichte und den Gang dorthin. Dann könnten wir universelle Gesetzeshypothesen im Rahmen der Geschichte testen - obwohl auch diese Vorstellung wieder nicht ganz sauber ist, da es sich dabei ja nur um numerisch begrenzte Allsätze handeln würde. - Aber - wie auch immer: dann wäre es möglich, präskriptive Sätze abzuleiten. Paradox formuliert, ist es gerade die Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen den beiden von POPPER ^ K. R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. 1944, dt. Bern 1958. 344. 34 Ebd. 63. 35 K. R. Popper: Das Elend des Historismus. 2. Aufl. Tübingen 1969.

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formulierten Regeln, sowie deren Befolgung, die Hegel POPPERS Kritik eintragen. - Ich generalisiere das Ausgeführte zur vierten These: Dialektische Theorie im von Hegel vorgelegten Sinne (und ich kann mir keine andere denken, die nicht im gleichen Sinne verfahren müßte) und praktische Philosophie als Inbegriff präskriptiver Sätze, die systematisch gerechtfertigt sind, schließen sich aus. Eine jede Philosophie oder Theorie, die aus ihrem theoretischen Bestand Handlungsanweisungen und geschichtliche Prognosen ableitet, ist nicht dialektisch. Nun existieren aber ganz offenkundig von Hegel eine ganze Menge von Texten zu politisch-gesellschaftlicher Thematik, in denen er zumindest wertet, zuweilen auch Handlungsanweisungen gibt. - Wie verträgt sich das? Ist er nun kein Dialektiker mehr? Und was hätte das für Konsequenzen? Kommen wir zur Beantwortung dieser Frage abschließend auf unsere Textsortendifferenzierung. Wir können so argumentieren: Durch die MooRE-HARE-PoppERschen Schluß-Verbotsregeln ist ja - und das muß deutlich gesehen werden - keine ontologische Aussage gemacht, sondern nur gesagt, daß sich selbst einleuchtende präskriptive bzw. historischprognostische Sätze nicht hinreichend systematisch deduktiv rechtfertigen lassen. Das schließt indessen nicht aus, daß Hegel wie jeder andere Sterbliche auch, in nicht-systemimmanenten Texten seine Ansichten zu Themen der praktischen Philosophie sozusagen journalistisch exponierte. Und es schließt natürlich ebenfalls nicht aus, daß Hegel argumentationspragmatisch seine theoretischen Ergebnisse ünd Methoden zur Erhöhung der Plausibilität seiner präskriptiven Sätze in die Waagschale warf. Mit der Schlußthese 5 möchte ich daher vorschlagen: In Sachen „praktische Philosophie" muß man bei Hegel zwei Textsorten unterscheiden: die der systemimmanenten dialektischen Beschreibung dessen, was ist, und die der eher nach außen gerichteten politischen, gesellschaftlichen oder sonst praktischen Äußerungen, die nicht im Rahmen des Systems stehen^^. Die erste Textsorte zeichnet sich

^ Dieses Resultat steht offenkundig im Gegensatz zu der globalen Vereinheitlichungsthese, die /. Habermas vertritt (/. Habermas: Nachwort. In: G. W. f. Hegel: Politische Schriften. Frankfurt a. M. 1966. 343 ff.). Trotzdem entspricht es aber auch nicht der schlichten Trennungsthese eines H. Falkenheim, die eher karriere-biographisch argumentiert und daher psychologisch zu werden droht (H. Falkenheim: Eine unbekannte politische Druckschrift Hegels. In: Preußische Jahrbücher. CXXXVIII (1909), 193 ff.). - Vielmehr entspricht dieses Ergebnis recht genau dem, was man sich als dialektische Beziehung von Systematik und Tages-

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durch fast völliges Fehlen von Wertungen und Handlungsanweisungen aus, in der zweiten ist beides vorhanden. Was sich in beiden Textsorten ausspricht, nenne ich „dialektische Praxis der Philosophie", die insofern mit praktischer Philosophie im Sinne des Inbegriffs begründeter präskriptiver Urteile unvereinbar ist. Die Eule der Minerva beginnt wohl, wie Hegel sagt, ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung; das hindert sie nicht daran, auf ihren kurzen Beinen auch bei Tage schon herumzulaufen!

journalismus vorstellen könnte: Identität des Nichtidentischen, d. h. der Identität (des Gedankens der Unableitbarkeit von Präskription aus Deskription) und der Nichtidentität (der beiden „Textsorten").

IDENTITÄT" ALS POLEMISCHER BEGRIFF’

Hegels Identitätskonzept und seine Folgen I. Wir denken. Aber wir denken nicht ohnehin und geradezu, sondern gelenkt, verkürzt und formelhaft. Mit unserem Sprechen und unserem Spracherwerb, mit dem also, was wir durch unser sprechendes Denken sind, weil wir es geworden sind, erübrigt sich uns vieles, ist und bleibt selbstverständlich. Der Bestand an unproblematischen Selbstverständlichkeiten bestimmt und hält fest, was wir im Wandel, im raschen Entstehen und Vergehen bleiben. Es ist das, was wir unsere „Identität" nennen. Und eben deswegen gehört der Begriff der Identität selbst unmittelbar zu den Begriffen, die selbstverständlich sind. Das Verständnis von Identität begleitet unproblematisch (weil aller Problematisierung selbst schon zugrunde liegend) all unser problematisierendes Denken und Vorstellen. Was aber geschieht, wenn die Selbstverständlichkeit des Selbstverständlichen fraglich wird, wenn wir nicht mehr wissen, wer wir sind und was wir tun sollen, wenn Identitätskrise oder gar Identitätsverlust drohen?i - Sicher werden dann auch und gerade die unproblematischen Begriffe zum Problem und zumal der der Identität. Dabei erweist sich im Regelfall die Ungeheuerlichkeit des Unterfangens, stets Vorauszusetzendes unter Voraussetzung seiner selbst trotzdem zu problematisieren. Wir denken. Aber wir denken - und hier liegt ein zweites Problem schon in unserem eher äußerlichen Sprachdenken Identität nicht als iden' Leicht gekürzter und überarbeiteter Nachdruck aus: Hegel-Jahrbuch. 1980 (Köln 1981). ' Ich meine damit nicht die bei der „gesunden Persönlichkeit" in der Identitätsentwicklung von Stufe zu Stufe zu konstatierenden Krisen der Identität, wie sie etwa thematisiert werden von E. H. Erikson {Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1966), insbesondere in dem darin enthaltenen, zuerst 1950 publizierten Aufsatz Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit (ebd. 55-121). Vielmehr stehen hier Identitätskrisen personal-adulter und sozial-postindustrieller Provenienz im Blick, die offenbar in gewissem Sinne kovariant sind.

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tisch, sondern als different, und zwar noch bevor wir sie problematisieren. Es ist für uns selbstverständlich und konstituiert geradezu die Selbstverständlichkeit unserer eigenen Identität, daß logisch-mathematische und sozial-personale Identität nicht identisch sind.^ Auch diese Selbstverständlichkeit aber wird problematisch, wenn Identität fraglich wird. Dann steht diese Differenz im Identitätsbegriff plötzlich zur Befragung an. Und hier erweist sich etwas Merkwürdiges: Wer begreifen (und nicht nur stumm nachvollziehen) will, was Identität heißt, der muß, a. der Selbstverständlichkeit der eigenen Identität, b. der Selbstverständlichkeit der Identität des Identitätsbegriffes, und c. der Selbstverständlichkeit der Differenz im Identitätsbegriff verlustig gegangen sein. Wir können uns das gedanklich vergegenwärtigen, wenn wir uns nach den Bedingungen fragen, als unter welchen stehend das Denken von Identität gedacht werden muß: Identität muß verstanden werden als vollkommene Übereinstimmung in jeglicher Hinsicht; „übereinstimmen" aber ist ein zwei- oder mehrstelliges Prädikat: A stimmt mit B, bzw. mit B, C, D, usw. überein. Nun kann es aber zwei vollkommen Übereinstimmende nicht geben; zumindest im Raumzeitpunkt müssen sie sich unterscheiden, so will es das „principium identitatis indiscernibilium"^, also kann in Form gleichsam eines „Grenzübergangs" des Sets an Unterscheidungskriterien gegen O im strengen Sinne von „Identität" nur als von Selbstidentität gesprochen werden: A ist nur mit sich selbst identisch. Damit dies aber überhaupt gedacht werden kann, muß im Identischen selbst bereits die Möglichkeit einer Differenz angenommen werden, - was sollte sonst A=A mehr aussagen als das bloße A? Pragmatisch formuliert ist also das

2 D. Henrich formuliert das in seinem informativen Überblicksaufsatz {„Identität" - Begriffe, Probleme, Grenzen. In: O. MarquardlK. Stierte (Hg,): Identität. Poetik und Hermeneutik VIII. München 1979, 135) in seiner Terminologie ganz eindeutig: „Aus dieser Skizze wird schon deutlich geworden sein, daß der Zusammenhang zwischen genuin philosophischen Problemen und dem, was der in die psychologische Allerweltsaufklärung eingesickerte Terminus ,Identität' besagt, nur ganz indirekt ist." Ich halte diese Feststellung als Beschreibung bzw. als Antwort auf die quaestio facti zwar für zutreffend, meine indessen, auf der Theorie-Ebene bzw. in der Entgegnung auf die quaestio iuris mit Hilfe meiner nachfolgenden Hegel-Interpretation eine gegenläufige Auffassung vertreten zu müssen. ^ Vgl. K. Lorenz: Die Begründung des principium identitatis indiscernibilium. ln: Studia Leibnitiana. Suppl. 3 (1969), 149-159.

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Behaupten, das Begreifen oder gar das Beweisen von Identität an die Voraussetzung gebunden, daß Nichtidentität gedacht oder behauptet wurde. „Identität" erweist sich - so betrachtet - schon in einem ersten Zugriff nicht als der friedfertige Basisbegriff, der allem zugrunde liegt und in den alles zurückkehrt, sondern als ein Begriff der zweiten Stufe, ein Antwortbegriff, der eine Anfrage oder einen Angriff voraussetzt. „Identität" ist seiner pragmatischen Bestimmung nach - ein Begriff des Streits, kurz: ein polemischer Begriff. Wenn aber gilt, daß der Begriff der Identität, als - streng verstanden ausschließlich „Selbstidentität" bedeutend, dort schlechterdings nie gedacht werden kann, wo vollständige Identität vorliegt, sondern immer nur dort, wo zumindest die Möglichkeit einer Differenz in der Identität vorausgesetzt wird, dann ist er noch in einer weiteren Bestimmung polemisch: er beinhaltet Widerstreit, nämlich zwischen seiner strengen Semantik, auch noch die Denkbarkeit von Nichtübereinstimmung auszuschließen, und der Voraussetzung, nur unter Annahme der Möglichkeit (= Denkbarkeit) von Nichtübereinstimmung seinerseits „denkbar" zu sein. Diese Gedanken, scheinbar eigens und anfänglich gedacht, leuchten nicht zuletzt deswegen ein, weil sie uns wirkungsgeschichtlich durch die Art nahegebracht worden sind, in der Hegel Identität zu denken unternahm. Ein Rückgriff auf die Hegelsche Fassung des Identitätsbegriffes, nicht in der „Großen Logik", sondern in der Frühphase seiner systematischen Versuche in Jena, hat folglich systematischen und selbstvergewissernden Sinn. Deswegen soll zunächst die Entwicklung des polemischen Identitätsgedankens durch seine verschiedenen Seiten hindurch nachvollzogen werden (II), um an diesem Muster eines seither mit positiver Konnotation „dialektisch" genannten Denkens einen Anhalt dafür zu gewinnen, wie Identität/wr uns zu denken sei (III).

■* Dem grundsätzlich polemischen Charakter der Hegelschen Logik und Realphilosophie geht eine kaum bekannte ältere Arbeit von A. Meusel (Hegel und das Problem der philosophischen Polemik. Berlin 1942) nach, die die Fortsetzung einer früheren Arbeit von A. Meusel (Der Sinn der philosophischen Polemik bei Kant. Berlin 1939) darstellt. Allerdings verfügt Meusel weder über das begrifflich-logische noch über das historisch-philosophische Rüstzeug, um seine Grundidee auch interpretativ fruchtbar machen zu können.

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II. Die für die Jenaer Zeit in Ansatz zu bringenden für uns wichtigen Randbedingungen und Voraussetzungen fasse ich der Kürze halber thesenhaft zusammen. 5 1. In einem noch durchaus auf das Praktischwerden seiner Philosophie ausgerichteten Sinne versucht Hegel in der Jenaer Zeit zweierlei systematisch zusammenzudenken: historische Kritik und Einleitung in die Philosophie. Das kritische Geschäft ist ihm - sicher nicht unbeeinflußt von den Jenaer Romantikern um SCHELLING^ - das mit dem doktrinalen Geschäft zu vereinigende Gegenstück zu diesem. Infolgedessen lassen sich in der Phase der Jenaer Kritischen Schriften deutliche Parallelen zwischen seiner Kritiktätigkeit („Kritisches Journal der Philosophie") und seiner Arbeit an den von ihm in Vorlesungen vorgetragenen Systementwürfen feststellen, und zwar insbesondere hinsichtlich des ,negativen' Teiles der Philosophie, der als Einleitung begrifflicher Art aufgefaßten Logik, die nur in dieser polemischen Eunktion - indirekt - spekulativen Charakter hatte. 2. Diese Zeit ist gekennzeichnet durch eine enge Zusammenarbeit Hegels mit ScHELLiNG, in der fraglos dieser in stärkerem Maße der Gebende war. Um so wichtiger werden Punkte, an denen Hegel von SCHELLING abweicht, da sich an ihnen die Ansatzpunkte dialektischen - und d. h. hier einstweilen nur; alternativen und weiterführenden - Denkens zeigen. 3. Der wichtigste Begriff der Philosophie SCHELLINGS in dieser Zeit wird ebenfalls fraglos der der Identität; man spricht bekanntlich geradezu von einer „identitätsphilosophischen Phase" SCHELLINGS. Mithin ist zu vermuten, daß in Zusammenarbeit mit und in Absetzung von SCHELLING auch bei Hegel dieser Gedanke wichtig werden wird. 4. Seit den zunächst nur wenig beachteten, nun aber zunehmend bedeutsamer werdenden Manuskriptfunden Eva ZIESCHES, über die sie 1975 in der „Zeitschrift für philosophische Eorschung" berichtete^ und die in Bd. 5 der Gesammelten Werke erscheinen werden, verfügen wir nun über eine bessere Basis, um die ersten beiden Jahre von Hegels Jenaer Systementwurf-Tätigkeit nicht nur aus zweiter Hand (ROSENKRANZ®) rekonstru5 Im übrigen verweise ich außer auf meine ebenfalls im Anhang abgedruckten Arbeiten besonders auf W. Ch. Zimmerli: Inwiefern wirkt Kritik systemkonstituierend?. * Vgl. W. Ch. Zimmerli: Schellings „Deduktion eines allgemeinen Organs der Philosophie" als Bindeglied zwischen romantischer Kunstauffassung und der Neubegründung der Dialektik in Hegels Jenaer Philosophie. ^ E. Ziesche: Unbekannte Manuskripte aus der Jenaer und Nürnberger Zeit im Berliner Hegel-Nachlaß. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 29 (1975), 430-444. * K. Rosenkranz: G. W.F. Hegels Leben. 189 ff.

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ieren zu können. Wir wissen nun zum einen, daß die Vorerinnerung in der „Differenzschrift" in der Tat bereits 1801 einen systematischen Einleitungssinn, ähnlich dem der „Phänomenologie des Geistes" hatte, was BUBNER und ich zuvor bereits vermutet hatten.^ Wir sehen nun aber zum anderen auch, wie Hegel sein System aufzubauen beabsichtigt, nämlich vierteilig: Einer „Logik/Metaphysik", als Wissenschaft der Idee als solche, folgt als zweiter Teil eine „Wissenschaft der Realität der Idee", die Naturphilosophie. Den dritten Teil macht die „Philosophie des Geistes" aus, was wir heute wohl eher mit „Philosophie des objektiven Geistes" wiedergeben würden, gefolgt vom vierten Teil, der „Philosophie der Religion und Kunst", die „zur reinen Idee zurückkehrt und die Anschauung [des] Geistes organisirt."!*’ Schließlich gibt uns Hegel aber auch - und damit verlasse ich den Bereich der thesenhaft in Erinnerung gerufenen Voraussetzungen - in den uns überlieferten Teilen der Vorlesungsmanuskripte von 1801/02 einen Aufschluß über sein Verständnis von Identität, und zwar in der „Logica et Metaphysica", d. h. eben in jenem Teil, in dem er, allerdings noch auf verschiedene Schritte verteilt, die Funktion historischer und begrifflicher Kritik mit derjenigen einer Einleitung in das philosophische Denken zusammenzudenken versucht. Diese Logik/Metaphysik umreißt er in seinen Vorlesungsmanuskripten von 1801/02 folgendermaßen: a) Sie stellt die Formen der Endlichkeit, d. h. des der Vernunft beraubten Verstandes, dar; b) sie zeigt in ihnen die sich von ihnen unbemerkt in ihrem Nachahmungsbetrieb auswirkende vernünftige Totalitätstendenz auf als Totalität der Verstandesidentität; und c) sie weist das Im-Widerspruch-sich-aufheben der verständigen Formen in der Antinomie auf, so daß nun gilt: „die Erkenntniß der Vernunft insofern sie der Logik angehört, wird also nur ein negatives Erkennen derselben seyn"^L „Von diesem dritten Theile der Logik, nemlich der negativen, oder vernichtenden Seite der Vernunft wird der Übergang zur eigentlichen Philo’ R. Bubner: Problemgeschichte und systematischer Sinn einer Phänomenologie. In: Hegel-Studien. 5 (1969), 189 ff., wiederabgedruckt unter dem Titel Problemgeschichte und systematischer Sinn der „Phänomenologie“ Hegels in R. Bubner: Dialektik und Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1973. 9-43; vgl. oben S. I ff. *0 GW 5. Ms. 2a. Die von E. Ziesche aufgefundenen Manuskripte werden hier und im folgenden nach der Transkription für den Bd. 5 der Gesammelten Werke, aber nach der OriginalManuskript-Paginierung zitiert. H GW 5. Ms. 186.

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Sophie oder zur Metaphysik gemacht werden; wir haben hier vor allen Dingen uns das Princip aller Philosophie vollständig zu konstruiren, und nach seinen verschiednen [Momenten] deutlich zu machen; aus der wahren Erkenntnis desselben, wird die Überzeugung hervorgehen, daß es zu allen Zeiten nur Eine und eben dieselbe Philosophie gegeben hat. , ."12 _ Dieses in der Metaphysik vollständig zu konstruierende Prinzip aller Philosophie nun muß, auch wenn wir keine ausgeführten Passagen hierüber besitzen, das Prinzip der Identität von Subjektivem und Objektivem, das Prinzip des Subjekt-Objekts, sein, wie aus einer entsprechenden Passage des gleichzeitig verfaßten „Skeptizismus-Aufsatzes" hervorgeht, in dem Hegel in scharfer Polemik gegen SCHULZE sagt; „diese fürs gemeine Bewußtseyn nur vorausgesetzte, bewußtlose Identität bringt die Metaphysik zum Bewußtseyn, sie ist ihr absolutes und einziges Prinzip"^^. Hierzu paßt in Ergänzung eine Stelle aus den Vorlesungsmanuskripten am Beginn der Logik: „Die Philosophie hat nemlich als die Wissenschafft der Wahrheit, das unendliche Erkennen, oder das Erkennen des Absoluten zum Gegenstände; diesem unendlichen Erkennen aber oder der Spekulation aber steht das endliche Erkennen oder die Reflexion gegenüber, nicht als ob beyde absolut einander entgegengesetzt wären, das endliche Erkennen, oder die Reflexion abstrahirt nur von der absoluten Identität desjenigen was in der vernünftigen Erkenntniß aufeinander bezogen, oder einander gleichgesetzt ist, und durch diese Abstraktion allein, wird es ein endliches Erkennen."^“* Wir können also mindestens drei Identitätsbegriffe aus den Kritischen Schriften sowie aus den gleichzeitig entstandenen Vorlesungsmanuskripten herauslesen: 1. einen Begriff der unbewußten, fürs gemeine Bewußtsein nur vorausgesetzten Identität; 2. einen Begriff der bewußten, genauer: von der Metaphysik zum Bewußtsein gebrachten Identität, auch „absolute Identität" oder „Identität der Spekulation bzw. der Vernunft" genannt; 3. einen durch Abstraktion von dieser entstehenden Begriff von Identität, auch „Verstandesidentität" oder „Reflexionsidentität" genannt. Ganz offenkundig liegt hier einer jener Eälle vor, in denen mit einem Begriff mehrere Bedeutungen verbunden werden, also das, was wir in

GW 5. Ms. 19 b f. ‘3 GW 4. 226 Z. 11 ff. 3“ GW 5. Ms. 17 a f. 12

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der Liste der Ursachen logischer Fehler als „Äquivokation" kennen. Beruht also Hegels Dialektik auf Äquivokationen? - So ganz neu wäre diese Vermutung ja nicht. - Um ihr und den mit ihr verbundenen Vorwürfen zu begegnen, muß die Bedeutung aller drei Identitätsbegriffe klargemacht werden. a) Was soll das heißen: die bewußtlose, vom gemeinen Bewußtsein immer nur vorausgesetzte Identität? - Erinnern wir uns an SCHELLING. Sein Identitätssystem, dem Hegel hier in gewisser Weise noch folgt, geht von der Überlegung aus, daß die Möglichkeit von Erkennen und Handeln davon abhänge, daß wir als Grundprinzip der Welt und des Denkens von Welt eine ursprüngliche, sich selbst durch alle Manifestationen hindurch erhaltende indifferente Subjekt-Objekt-Einheit im polaren Sinne annehmen, von SCHELLING am Beispiel des Magnetismus exemplifiziert. Dieses Subjekt-Objekt durchzieht Sein und Denken und manifestiert sich schließlich auch in den Haupt-Seinsbereichen Natur und Intelligenz: diese ist bewußt, was jene unbewußt ist. Daher hat das gemeine Bewußtsein in der Natur die Subjekt-Objekt-Identität (aber als bewußtlose) zur Voraussetzung, setzt sie aber nicht, sondern hält in seinem Setzen (= expliziten Denken) an der Differenz von Subjektivem und Objektivem fest. b) Die Spekulation dagegen, die alles nur als Teil des Ganzen, nur als Element des einen Subjekt-Objekt-Totums sieht, bezieht jedes Einzelne in seiner Differenz von Anderem auf die Identität von Denken und Sein und vernichtet damit die Aufrechterhaltung der Differenz von vorausgesetzter Identität und gesetzter Differenz; sie begreift Identität als „Identität von Identität und Nichtidentität"^^. Damit soll gesagt sein, daß sie jedes Einzelne, das als von Anderem unterschieden gedacht wird, in diesem Unterschiedensein zugleich auf das Ganze von Natur und Intelligenz bezieht, genauer: daß sie nach Maßgabe des ScHELLiNGschen Identitätssystems in der dritten Potenz der Subjekt-Objekt-Identität anzusiedeln ist, der die indifferente Identität der ersten beiden Potenzen ihrerseits transparent ist. c) Die dritte Sorte von Identität, die hier vorkommt, die Verstandesidentität bzw. die Identität der Reflexion, ist als Abstraktionsprodukt von dieser spekulativ gedachten Identität aufzufassen, ScHELLiNGSch gesprochen: als Stufe der Bewußtwerdung der stets vorausgesetzten unbewußten Identität, in der gleichsam die Identität der Identisch-Gesetzten be-

'5 Vgl. R. Schneiter: Schellings Gesetz der Polarität. GW 4.64 Z. 13 ff. = SW 1. 124 = Di//. 77.

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reits bewußt, die Identität des Nicht-Identischen aber noch unbewußt ist.^^

Wenn wir diese Bestimmungen der drei scheinbar äquivok gebrauchten Identitätsbegriffe reflektieren, so ergibt sich uns eine Reihe von zusätzlichen Bestimmungen, die mit dem über die Entwicklung des Hegelschen Denkens Vorausgesetzten übereinstimmen: 1. Der Identitätsbegriffi, wie wir den fürs gemeine Bewußtsein nur vorausgesetzten Begriff von Identität der Kürze halber nennen wollen, wird offenbar durch den Identitätsbegriff2, den der Spekulation nämlich, erst eingeholt und zum Bewußtsein gebracht. Erst von der Stufe der erreichten Konstruktion der Identität fürs Bewußtsein, die gleichzeitig das Denken des Absoluten oder der Totalität ist, wird diese zuvor an sich seiende Identität überhaupt für das reflektierende Bewußtsein. - Wir können also davon ausgehen, daß fürs Bewußtsein Identitäti und Identität2 zusammenfallen, da es keine Stufe der Entwicklung des Bewußtseins gibt, auf der sowohl Identitäti als unbewußte als auch Identität2 als bewußte gleichzeitig bewußt wären, denn auch auf der Stufe der Identität2 wird ja nichts anderes bewußt, als daß sie mit Identitäti im Grunde identisch ist. 2. Identität3 nun aber, die Reflexionsidentität, die als Abstraktionsprodukt von Identität2 eingeführt worden war, erweist sich als nicht „absolut entgegengesetzt" zu dieser; sie ist vielmehr ihrerseits Voraussetzung der Setzung von dieser. Wie sollte nämlich die Identität von als identisch und von als nicht-identisch Gesetztem anders überhaupt denkbar werden als dadurch, daß zunächst einmal Nicht-Identität von als identisch und von als nicht-identisch Gesetztem behauptet wäre? Zwar zeigt die ex-postRekonstruktion des spekulativen Identitätsbegriffes auf, daß der Reflexionsidentitätsbegriff Identität3 sich als Abstraktionsprodukt der Identität von Identitätsbegriffi und Identitätsbegriff2 verstehen läßt, das ändert indessen nichts daran, daß er notwendige Voraussetzung zum Verständnis der Genese der Einsicht in die Identität von bewußtlos vorausgesetzter und bewußt konstruierter Identität ist. 3. Wir sehen mithin, daß der Unterschied zwischen den drei Begriffen der Identität ein positionaler ist: sie unterscheiden sich hinsichtlich der Die scheinbare Differenz zu sonstigen Auffassungen Hegels erklärt sich und löst sich auf, sobald man berücksichtigt, daß in der hier vorgelegten Stufung ein methodisches und nicht ein systematisches Prinzip wirksam wird. Systematisch gesehen stünde Identitäti vor Identitäti; methodisch gesehen muß sie als Abstraktionsprodukt das, wovon sie abstrahiert wurde, ihrerseits voraussetzen.

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Stufen der Bewußtwerdung der einen Identität, die erst auf der Stufe des Begriffes von Identität2 vollendet ist. Damit wird diese, zunächst von SCHELLING in scheinbar objektivem Verlauf ssinne bzw. ontologisch übernommene Ablaufsordnung, die ich hier in ihren Hauptschritten rekonstruiert habe, ihrerseits reflexiv: sie muß auf die Entstehung der Art, in der sie gedacht wird, zurückbezogen werden, bevor dazu übergegangen werden kann, die reine innere Bewegung des so Entstandenen zu denken, welche Aufgabe dann die spekulative Logik einzulösen hätte. - Anders und stärker entwicklungsgeschichtlich formuliert: Die frühe Hegelsche Logik kann die ihr zugedachte Aufgabe, durch eine ausgeführte Kritik der endlichen Denkbestimmungen der formalen Logik hindurch das reflektierende Bewußtsein auf den Standpunkt des spekulativen Denkens zu erheben, nicht anders lösen als dadurch, daß sie - vor aller Logik - die Genese des reflektierenden und spekulierenden Bewußtseins selbst thematisiert, um so den Punkt begreiflich zu machen, von welchem aus der gleichsam als Sollwert vorentworfene Begriff einer spekulativen Identität sich nicht mehr als nicht-identisch mit dem reflektierenden Bewußtsein erweist. Und das ist erst dann erreicht, wenn das, was ich eingangs „soziale und personale Identität" genannt habe, sich als konkret gefüllte Identität von Identität und Nichtidentität im reflektierenden Bewußtsein selbst herstellt, mit anderen Worten: erst dann, wenn sich das reflektierende Ich als Ich = Ich, d. h. als mit sich identisch dadurch weiß, daß es sich als durch seine Beziehung auf Nicht-Ich, auf Natur, als ebenso geschichtlich und gesellschaftlich begriffenes Wir konstituiert weiß.^^ Dieses Wissen ist nicht dadurch schon erreicht, daß die Identität von Ich und Nicht-Ich als subjektive wie bei FICHTE postuliert oder als Indifferenz intellektueller Anschauung wie bei SCHELLING nur vorausgesetzt würde. Und dieses Wissen ist vielleicht auch nicht einmal dadurch zu erreichen, daß eine „Phänomenologie des Geistes" zu ihrem auch schon für Hegel selbst problematischen - Ende geführt wird.^®

Vgl. hierzu die Beschreibung, die Hegel am Anfang von Kap. VI „Der Geist" in der Phänomenologie von dem bisherigen Gang durch die Bewußtseins- und SelbstbewußtseinsGestaltung im Übergang zu den „Gestalten einer Welt" gibt {Hegel: Phänomenologie. 313 ff.). Nachdem Hegel selbst verschiedentlich Kritik an der methodischen Ausrichtung der Phänomenologie geübt hatte, relativierte er sie bekanntlich durch seine Bearbeitungsmaxime für die Vorbereitung einer Neuausgabe kurz vor seinem Tode: „Eigentümliche frühere Arbeit, nicht umarbeiten, - auf die damalige Zeit der Abfassung bezüglich - in Vorrede: das abstrakte Absolute herrschte damals." (Ebd. 578.)

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Ich fasse das in diesem Schritte Entwickelte zusammen; Hegel versucht, in der Phase seiner frühen Vorlesungsnotizen und Systementwürfe, parallel zu seinen Kritischen Schriften, mit Hilfe einer als „Logik und Metaphysik" bezeichneten Kritik der endlichen Verstandesbestimmungen der Formalen Logik, das reflektierende Bewußtsein auf den Standpunkt der Spekulation zu erheben, d. h. in die Philosophie einzuführen. Dabei ergibt sich - in logischer Terminologie gesprochen - die Notwendigkeit, von dem die Verstandeslogik konstituierenden Identitätsbegriffa, der die Identität des als identisch Gesetzten im Unterschied zu dem als nicht-identisch Gesetzten beinhaltet, zum Idenitätsbegriff2 zu gelangen, der auch hierzwischen Identität beansprucht. Der Versöhnungsbegriff von Identität wird damit polemisch. Dabei erweist sich nun allerdings die Notwendigkeit, diesen spekulativen Identitätsbegriff aus seiner nur spekulativen Fassung reflexiv in der personalsozialen Identität des reflektierenden Bewußtseins einzulösen, um so die drohende Nichtidentität von reflektierendem Bewußtsein und thematisierter spekulativer logischer Identität abzuwenden, um - mit anderen Worten - der bloßen Äquivokation im Identitätsbegriff zu entgehen. Hegel versucht dies, indem er seinem System der Philosophie anstelle der geplanten Logik in Einleitungsfunktion als Einleitung und ersten Systemteil eine „Phänomenologie des Geistes" voranstellt, ein Versuch, der auch ihm selbst später als zwar der Tendenz nach richtig, der Ausführung nach aber zumindest „eigentümlich" erscheint. Das Gesagte beinhaltet die These, daß Hegel, obzwar der Begriff der personalen und sozialen Identität zu seiner Zeit so nicht existierte, aus der Immanenz der Gedankenbewegung heraus zu einer Konstitution und Begründung der begrifflichen Identität in der Einheit des sie Denkenden geführt wurde. In diesem Sinne antizipiert Hegel also den heute fehlenden Begründungszusammenhang zwischen beiden Identitätsbegriffen.^° III. Wir denken. Aber wir denken nicht ohnehin, sondern gelenkt, verkürzt und formelhaft. Indem wir versuchen, das in diesem Denken als selbstverständlich Vorausgesetzte ideologie- oder anderweitig kritisch vor uns zu bringen, versuchen wir uns nicht nur dessen zu vergewissern, was wir Hier ist das oben (S. 278, Anm. 2) antizipierte Ergebnis erreicht.

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denken, sondern immer zugleich auch dessen, was wir durch unser Denken und darüber hinaus sind. So denken wir denn auch philosophiehistorisch, aber Sinn macht das für uns nur in dieser genannten systematischen Absicht. - Können wir nun, was unsere zweifelhaft gewordene Identität betrifft, von Hegel lernen? Wir können es zumindest in verschiedener Weise versuchen: - Wir können Hegel (oder wen auch immer) feiern, und diese Feier hat fraglos einen identitätskonstitutiven Sinn: Wer gefeiert wird, wird eben dadurch explizit als Vorfahr anerkannt, dessen Erbe man anzutreten gewillt ist. - Wir können aber auch durch Hegel, und indem wir ihn kritisieren, andere feiern, die das, was dieser schief sah oder nur ahnte, weniger schief gesehen oder gar vollendet zum Ausdruck gebracht haben. Auch diese Form, von Hegel zu lernen, ist weitverbreitet und hat zweifellos in derselben Hinsicht, wenn auch mit anderem Inhalt eine identitätskonstitutive Funktion: wir eignen Tradition oder Erbe als Gegenerbe an. - Wir können aber Hegel nicht, so wie er ist, auf unsere Gegenwart übertragen. Dazu fehlt es uns - grob gesprochen und in allem schuldigen Respekt gegenüber den Größen unserer heutigen Philosophie und Wissenschaft - an KANTS, FICHTES und SCHELLINGS; dazu fehlt es uns aber auch an Französischen Revolutionen und Württembergischen Verfassungen. - Was uns daher bleibt, wenn wir weder Hegel noch seine Vollender feiern wollen, ist, aus solchem zu lernen, was uns als zeitunabhängige oder zumindest auch für uns heute noch gültige Einsicht erscheint. Was ich damit meine, will ich für unseren spezifischen Fall des Identitätsbegriffes so veranschaulichen: Unsere Identität als Identität von Identität und Nicht-Identität zu denken, hieße in dem konkreten Falle der sozial-personalen Identität, daß wir uns dessen eingedenk sind, daß das, was wir sind, in letzter Instanz nicht allein davon abhängt, was wir sind, sondern von dem, was wir nicht sind. Wir sind also, was wir sind, indem wir sowohl sind, was wir sind, als auch sind, was wir nicht sind. Das heißt - konkret gesprochen -, daß das menschliche Individuum seine Identität im gleichen sich selbst und der Geschichte sowie den Gruppen und Kollektiven, denen es angehört, verdankt. Seine eigene Identität bildet es aus, indem es zugleich normative Vorgaben und Leitgedanken seiner Geschichte sowie der Gruppen übernimmt, an denen es partizipiert, und sich gegenüber den Normen und Leitgedanken dieser Gruppen absetzt. Die Entwicklungspsychologie Piagets liefert hierfür eindrückliche empirische Belege^^. Aber - eben hier liegt unser Identitätsproblem, das zu der eingangs

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erwähnten Identitätskrise führt, gerade nicht. Unser Identitätsproblem, von dem ausgehend sich die Frage nach dem Zusammenhang von logisch-mathematischer und personal-sozialer Identität für uns stellt, besteht ja nicht darin, daß wir nicht die Vorstellung hätten, unsere sozialpersonale Identität müsse als Identität von Identität und Nicht-Identität im geschilderten Sinne gedacht werden. Vielmehr finden wir in der heutigen Diskussion um personale und soziale Identität kaum einen Autor, für den nicht feststände, daß das einzelne Individuum das, was es ist, dadurch ist, daß es das durch Teilhabe am Kollektiv, an Gruppen, durch Beziehung auf den Anderen (Kommunikation) oder das Andere (Arbeit) wird. Nicht am spekulativen Sollwert einer „dialektisch" genannten Identitätsauffassung fehlt es mithin, auch wenn diese zuweilen in systemtheoretischer Verkleidung auftritt.^ Woran kann es sonst fehlen? - Wenn das, was Hegel über den polemischen Charakter des spekulativen Identitätsbegriffes implizit darlegte, ein im ausgeführten Sinne übertragbares Element wäre (daß er nämlich stets die Verstandesbehauptung der Nichtidentität von formaler Identität des als identisch und formaler Nichtidentität des als nicht-identisch Gesetzten voraussetzt), könnte es vielleicht eben hieran fehlen. - Indessen wird doch allenthalben in der (zu Unrecht) als „Positivismus" verketzerten Analytischen Philosophie die formale Identität in diesem Sinne bestimmt und behauptet.^^ - Somit kann es also nur an jenem Reflexivitätszusammenhang fehlen, den Hegel mit seiner „Phänomenologie" abzudecken versuchte. Diese lehrte uns nämlich nicht nur, daß wir bei der Verstandesidentität, sozial-personal gewendet: beim bloßen Ich=Ich, nicht stehen bleiben dürfen, sondern sie lehrte uns mit besonderer Deutlichkeit, daß sich die zu erreichende nicht bloß spekulative, sondern eingelöste dialektische Identität aus einem unbewußten, stets vorausgesetzten bloßen Ahnen von Identität zuerst einmal in einen ausformulierten Verstandesbegriff der Identität als Ich = Ich entwickeln muß, damit dieser von hier aus zu einem

Vgl. z. B. /. Piaget: Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt a. M. 1973; äers.: Abriß der genetischen Epistemologie. Olten 1974. Vgl. die identitätstheoretischen Ansätze, die sich zusammengestellt finden in O. Marquard/K. Stierle (Hg.): Identität; J. Habermas: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976; auch schon: /. Habermas/N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Frankfurt a. M. 1971. Vgl. die in den Literaturangaben bei D. Henrich {„Identität" - Begriffe, Probleme, Grenzen. 185 f.) unter 4 und 5 genannte Literatur.

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Begreifen seines konkreten Konstituiertseins vorangehen kann, das sich als Identität von Ich = Ich und Ich = Nicht-Ich formulieren läßt. So verstanden wäre das uns beschäftigende Identitätsproblem als ein gleichsam polemisches Defizit an reiner, individueller Ich-Identität aufzufassen, das ich als „Individualitätsdeßzit" bezeichnen möchte. Es fehlt gleichsam in unserer „Phänomenologie" alles vor dem Geistkapitel, und so muß denn jeder Versuch, Identität spekulativ zu denken, einen Riesensprung über eine gründlich veränderte Welt hinweg unternehmen. Wir bewegen uns dabei im luftleeren Raum, weil das, was wir so ohnehin und fundamental zu denken versuchen oder gar gedacht zu haben vorgeben, sich in nichts durch das, was wir erfahren, phänomenologisch einlösen läßt. Wir sind mithin - allerdings nur, falls wir von Hegel zu lernen gewillt sind, und falls es uns stört, als Schlafwandler von dialektischer Identität immer nur zu träumen - gehalten aufzuarbeiten, was es für uns in unserer Welt soll heißen können, daß Ich = Ich bin. Bin ich denn ich oder nicht vielmehr ein bloßes Bündel, sei es nun „of perceptions" oder von gesellschaftlichen Verhältnissen? Gehe ich nicht unter in der Geschichte, in Gesellschaften, Staaten, Verwaltungen und Kollektiven? Was tue ich, um mich als Individuum behaupten zu können?^'* - Es besteht keine Hoffnung, jemals sinnvoll, durch reflexive Erfahrung abgesättigt, dialektische oder gar versöhnte personale und soziale Identität denken und vielleicht auch realisieren zu können, solange diese Voraussetzung der inhaltlichen Füllung des Ich = Ich nicht gegeben ist. Dieses Negative können wir von Hegel lernen. Solange wir es nicht tun, entsteht zwar nicht Hegels, aber unsere Dialektik aus Äquivokationen und für das Papier, auf dem wir sie entwickeln, gilt die Aufforderung HUMES: „Ins Feuer damit!"

2'* Vgl. die ebd. unter 6 genannte Literatur.

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PERSONENREGISTER Diejenigen Ziffern, die sich nur auf die Anmerkungen der betreffenden Seiten beziehen, sind kursiv gesetzt. Aufgenommen wurden die Namen aller vorkommenden historischen Personen mit Ausnahme G. W. F. Hegels. Adorno, T. W. 120, 121, 240 Apelles 39 Aristoteles 16, 30, 41, 43-48, 49, 220 Augustinus 68, 99, 111 Avineri, S. 263 Bardili, C. G. 157, 159, 164 Baum, M. 213 Baumgartner, H. M. II Bayle, P. 150 Beattie, J. 68, 114 Beaumarchais, P. A. C. 37 f. Beck, J. S. 138 Becker, W. 126 Beißner, F. 130 Bengel, J. A. 100 Benz, E. 62 Beyer, W. R. III, 262, 265 Boeder, H. 42, 136 Boehm, R. 43, 47 Boethius, A. M. T. S. 99 Böhme, J. 68, 88, 100 Bollnow, O. F. 36, 117 Braun, H. II, 11 Brinkmann, R. IV, 247 Brockard, H. I Bubner, R. 70, 230, 281 Büchner, H. 1,7,138 Büttner, M. II Buhle, J. G. G. 173 Buhr, M. 248, 249, 250, 254 Burkert, W. 24 Claudius, M. 150 Condillac, E. B. 71 Cornehl, P. 236, 238, 240

Curtius, E. R. 23 Cusanus, N. 100 Descartes, R. 61, 62, 73, 79, 153 Diderot, D. 116 Diels, H. 41, 136 Dilthey, W. 10, 76 Diogenes Laertius 41 Diogenes von Sinope 114 f. Döderlein, J. L. 68 Dreyer, H. 119 Düsing, K. IV, 100, 177, 178, 280 Engels, F. 91 Erdmann, J. E. 7, 10, 138 Erikson, E. H. 277 Eschenmayer, A. K. A. IV, 191 Eucken, R. 69 Falkenheim, H. 275 Fetscher, I. 80 Feuerbach, A. (d. Ä.) 114, 115, 144 Feuerbach, L. 262 Fichte, I. H. 174 Fichte, J. G. 7, 8, 9, 27-31, 37, 64, 73, 79, 101, 103, 106-108, 114, 118, 137-149, 151, 152, 153-155, 156, 157, 159, 161, 165, 167, 168, 172, 173-177, 178, 179, 180, 181, 189, 194, 196, 197, 202, 208, 213, 219, 220-222, 224, 227, 228, 285, 287 Forberg, F. K. 118 Frankel, H. 42 Fraser, A. C. 23 Fuhrmans, H. 106 Fulda, H. F. 15, 268

Personenregister Gadamer, H.-G. 12, 15, 114, 119, 261 Gibbon, E. 39, 62 Girndt, H. II, 10, 11, 64 Glöckner, H. 114, 126 Goethe, J.W. 67/., 71, 150 Görland, I. 106, 196 Goodman, N. 273 Grabmann, M. 68 Grass, G. 2 Green, T. H. 23 Grose, T. 23 Günter, P. 258 Guzzoni, U. 225 Habermas, J. 2, 12, 21, 63/., 232, 260, 262, 275, 288 Haering, T. 8, 10, 112, 151, 250 Hager, A. 113 Hahnemann, S. IV Hallwass, K. 119 Hamann, J. G. 23, 24, 71, 150 Hare, R. M. 272, 273, 274, 275 Hartkopf, W. 11, 222 Hartmann, N. 96 Hasler, L. IV, 114, 266 Haym, R. 10 Hegel, H. 8 Heidegger, M. 4, 5, 52/., 54 Heinse, W. 25, 151 Henrich, D. IV, 8, 248, 256, 268, 278, 280, 288 Herder, J. G. 39, 62, 64, 69, 150 Herodot 24 Hesiod 24 Hildebrand, R. 119 Hoffmeister, J. 70, 114 Holbach, P. H. D. 73 Hölderin, F. III, 2, 8, 16, 25, 35, 36, 39, 62, 69, 70, 76, 118, 121, 130, 151, 240 Hoffmeister, J. 250 Holtkamp, H. 96 Holzhey, H. 23,24,113,114,172 Homer 24, 39 Hook, S. 262 Horaz 182 Horkheimer, M. 4

303

Hübner, K. 235 Hülsen, A. L. 64 Humboldt, W. 3 Hume, D. 23, 24, 273, 289 Husserl, E. 1, 112 Ilting, K. H.

262, 263

Jacobi, F. H. 103, 106 f., Jakob, L. H. Jamme, Ch. Jäsche, G. B.

36, 38, 58, 64, 73, 76, 117, 118, 150 f., 198 138, 150 III 141

Kabitz, W. 30 Kant, I. 10, 23, 24, 30, 38, 39, 58, 68, 73, 76 f., 79, 88, 96, 97, 100, 103-106, 107, 113, 114, 116, 119, 124-129, 137, 138, 141/., 150, 153, 154, 155, 156, 159, 164, 165, 167, 168, 169, 170, 172 f., 174, 176, 177, 178, 179, 182, 183, 187-190, 194, 196, 198, 199, 201, 203-205, 207, 213, 219 f., 221, 224, 229, 240, 257, 262, 270, 278, 287 Kaufmann, H. 262 Kiesewetter, H. 262 Kimmerle, H. 9, 34, 242, 243, 250 Klemmt, A. 138, 156, 165 Klopstock, F. G. 71 Kojeve, A. 80 Kolmer, P. 11 Kopernikus, N. 96 Kotzebue, A. v. 263 Kranz, W. 41, 136 Kroner, R. 10, 38, 58, 76/. Krug, W. T. 114, 266 Kulenkampff, A. 132, 169 Küng, H. 78 Lasson, G. 9 Lavater, J. K. 156 Leibniz, G. W. 30, 64, 68, 153, 159, 173 Lessing, G. E. 150, 236 Liebeschütz 240 Liebrucks, B. 11 Liedtke, M. 97

304

Personenregister

Locke, J. 23, 68 Löwith, K. 81 Lorenz, K. 278 Luhmann, N. 288 Lukäcs, G. 8, 10, 76, 180, 182, 235, 240, 248, 254-257 Luther, M. 21, 39, 71, 87 Mahnke, D. 200 Maier, J. 106 Maimon, S. 138, 153 Marcuse, H. 4, 11, 79 Marquard, O. 270, 278, 288 Marx, K. 79, 91, 259 f., 262, 270 Marx, W. 11 Maurer, R. K. 81 Mauthner, F. 150 Meist, K. 213 Mendelssohn, M. 114, 116, 150 Menne, A. 235 Mery, M. 28, 67 f., 199 Meusel, A. 278 Meyer, R. W. 25, 248 Michelet, K. L. 106 Montesquieu, C. d. S. 39, 62, 69, 252 Moore, G. E. 272, 275 Müller, G. E. 107 Negt, O. 262 Newald, R. 71 Nicolai, F. 114 Nicolin, F. 15, 87, 114 Niethammer, F. 1. 114, 115, 116, 118 Nietzsche, F. 81 Nohl, H. 36 Oetinger, F. C.

68, 100

Paracelsus 68 Parmenides 41, 136 Piaget, J. 288 Pindar 24 Platon 24, 36, 71, 159, 202 Pöggeler, O. 7, 10, 52, 53, 78, 178, 237, 242 Popper, K. R. 272, 274, 275

Queneau, R.

80

Raffael 39 Rat, M. 38 Raymundi, P. 68 Rehmke, J. 1 Reid, T. 68, 114 Reimarus 236 Reinhold, K. L. 7, 9, 18, 19, 22, 23, 25, 35, 50, 64, 79, 89, 90, 137, 138, 140, 142, 147-149, 151, 152, 153, 155-165, 176, 198, 199 Riedel, M. 263, 266 Rink, F. T. 173 Ritter, C. II Ritter, J. 8, 77/., 236, 243, 263 Rohs, P. 43 Rosenkranz, K. 10, 13, 87, 107, 114, 151, 239, 280 Schelling, F. W. J. IV, 7, 8, 9, 10, 35, 43, 62, 65, 70, 71, 73/., 87, 100, 106, 107, 108, 114, 120, 132, 149, 151, 157, 159, 172, 177-187, 189-194, 195, 197, 199, 202, 203, 207, 212, 213, 219, 222-224, 230, 237, 245, 247, 265, 280, 283, 285, 287 Schiller, F. 69, 70, 71, 116, 118, 240 Schleiermacher, F. E. D. 58, 76 Schmid, K. C. E. 138 Schneider, W. 68 Schneiter, R. 184, 283 Schreiter, K. G. 39 Schüler, G. 114, 237, 241, 250 Schultz, J. 138 Schulze, G. E. 137, 138, 147-149 Schwarz, J. 39, 70 Semler 238 Seuse, H. 60 Shakespeare, W. 39 Siep, L. IV, 106, 107 Simon-Schaefer, R. 260 Sinclair, I. 8, 16 Sophokles 39 Spiazzi, M. 68, 183 Spinoza, B. 28 f., 30, 38, 73, 149-155, 223, 270 Steffens, H. 62 Stegmüller, W. 273

305

Personenregister Stewart, J. D. 256 Stierte, K. 278, 288 Stommel, C. 126 Storr, G. C. 114, 116 Sulzer, J. G. 116 Swedenborg, E. 62 Tauler, J. 60 Tetens, J. N. 24, 68 Thomas von Aquin 68, 99, 183, 188 Tietze, F. 42 Trede, J. H. III Ulrich, J. A. H.

7

Vergil 39 Verweyen, H. J.

II

Wackenroder, W. H. 70 Wacker, H. 114 Weil, E. 263 Wille, E. 220 Winckelmann, J. J. 69 Wolff, C. 64, 68, 150, 173 Zahn, M. 157 Zenon 41/., 114 Ziesche, E. 280, 281 Zimmerli, W. Ch. IIff-, 64, 114, 236, 246 f-, 260, 264 f-, 267, 280 Zimmerli, W. T. 21