Die Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes [1 ed.] 9783428466795, 9783428066797


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German Pages 459 Year 1989

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Die Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes [1 ed.]
 9783428466795, 9783428066797

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 564

Die Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes Von Viola Schmid

Duncker & Humblot · Berlin

VIOLA SCHMID

Die Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 564

Die Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes

Von Dr. Viola Schmid

Duncker & Humblot * Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Schmid, Viola: Die Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes / von Viola Schmid. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 564) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-06679-0 NE: GT

D 29 Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-06679-0

Meinem Vater und Elsa-Franziska

Vorwort „Familie" bezeichnet eine Summe von örtlichen, zeitlichen und persönlichen Koordinaten des menschlichen Lebens. In der Kindheit teilt man den Lebensraum mit Erwachsenen, da nur sie die notwendige Fürsorge geben können. Wie lange diese örtliche Gemeinschaft fortbesteht, kann der einzelne ab einem bestimmten Alter selbst bestimmen. Persönlich werden in der frühesten Kindheit die entscheidenden Fundamente für die spätere Entwicklung und die Verwurzlung eines Menschen im Leben gelegt. Die Erfahrung Familie, die in ihrer Bedeutung gleich nach der Erfahrung des Menschen mit sich selbst kommt, haben w i r mit unseren Ahnen gemeinsam. Die Chance einer Lebensverwirklichung mit anderen Menschen bietet sich uns wie ihnen, aber vielleicht auch das Empfinden von Zwang zur Gemeinschaft mit ungeliebten Menschen. Neben Menschen, die mit ihrer Familie positiven Erfahrungen machen durften gibt es viele, die aus gestörten Familien hervorgingen und die ihr Leben lang gegen diese Erfahrungen ankämpfen müssen. Die einzelne von Inzest oder Gewalttätigkeit befallene Familie stellt deshalb die Berechtigung des abstrakten Schutzes dieser Lebensform in Art. 6 GG in Frage. Es fehlt aber - und das wird aufzuzeigen sein - an alternativen, rechtlich abstrahierbaren Lebensformen, die vergleichbare Sinngehalte aufweisen. Die theoretischen Spielarten des Familienlebens - ζ. B. das Zusammenleben von lediger Mutter und Kind, eines Vaters mit seinem Kind - sind gleichgeblieben. Geändert hat sich die Chance ihrer Verwirklichung. Beispielsweise ist der Entschluß einer ledigen Frau allein mit ihrem Kind zu leben heute leichter durchführbar, da die Frauen nicht mehr in dem Maße von der außerhäusigen Erwerbstätigkeit ausgeschlossen sind und den Familienunterhalt selbst verdienen können. Damit hat sich an der gesellschaftlichen Stellung eines Familienmitglieds viel im letzten Jahrhundert geändert. Das Leben miteinander scheint ob der größeren Selbständigkeit der ehemals rechtlich schwächsten Mitglieder (Mutter, Kinder) schwerer geworden zu sein. Je mehr der einzelne in das Zentrum seines Lebens rückt und sich von Zwängen, wie ζ. B. Heiratsverboten frei macht, desto eher wird das Scheitern eines Lebens mit dem anderen eingestanden. Je größer die Freiheit des einzelnen, desto mehr werden „herkömmliche" Lebensformen nach dem „Warum" hinterfragt. Die Familie scheint angesichts steigender Scheidungszahlen dieser Fragestellung nicht mehr gewachsen zu sein.

8

Vorwort

Was aber, wenn gerade die höheren Scheidungszahlen als Indiz dafür gedeutet werden könnten, daß die Menschen mehr an das Ideal der „absoluten Liebe" glauben und deshalb auch bereit sind mehrere, emotional und/ oder finanziell anstrengende Versuche zu machen, sich durch einen Fehlschlag nicht entmutigen lassen. Generell scheint mir deshalb Vorsicht bei der Übernahme von Meinungen, die deshalb den Tod der Familie vorhersagen, angebracht. Zutreffend ist, daß mit einem gewachsenen Ausbildungsniveau vieler Frauen deren Wahlfreiheit zwischen Beruf und/oder Familie wächst. Auch wächst die Erkenntnis, daß das Bett, das jeden Morgen neu gemacht werden muß, kein manifestes Erfolgserlebnis wie ein Schriftsatz oder ein Kaufvertragsabschluß beschert. Gleichermaßen steigt das Interesse der Gesellschaft an Flexibilität der Arbeitszeit, Selbstbestimmung und qualitativem Leben. Vielleicht erkennen wir aber auch, daß der vermeintliche Rationalismus der leistungsbestimmten Berufswelt nicht ausreicht ein Leben zu erfüllen. Vielleicht werden wir um so mehr nach einer Ausgleichswelt suchen, die „Familie" heißt. Ob also das Kinderaufziehen in Zukunft in professionelle Hände gelegt wird und beide berufstätige Eltern den Kindern nur noch in der Freizeit begegnen, kann jetzt allenfalls vermutet werden. Neben den viel beachteten Anzeichen für das Versagen von Familien hat die „normale" Familie wenige Chronisten. Auch ihre Existenz sollte aber bei Diskussionen, welche Familienform in Art. 6 GG zu schützen ist, nicht vergessen werden. Bei mir spielt Familie nicht nur im buchstäblichen Sinn eine große Rolle. So waren mein Vater und Elsa immer für mich da. Mein Bruder Markus legte Nachtschichten am Computer ein. Er und Günther übernahmen es auch, diese Arbeit für den Verlag vorzubereiten. Ohne die Fürsorge meines Doktorvaters, Herrn Prof. Dr. Helmut Lecheler an der Universität Erlangen-Nürnberg, der mich auch durch seine K r i t i k unterstützt hat, hätte ich den Mut für diese Arbeit nicht aufgebracht. Welche Schritte ich bei meinem Versuch der Erfassung der Familie gegangen bin schildert das folgende Kapitel.

Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung

23

Β. Terminologie: Die Arten der Familie und die Rechtsprechung des BVerfG zum Familienbegriff

28

I. Die Herkunftsfamilie

28

II. Die Zeugungsfamilie

28

III. Die Kernfamilie (nuclear family)

29

1. Ein soziologischer Kernfamilienbegriff

29

2. Der Familienbegriff des BVerfG

29

IV. Die erweiterte Familie

31

1. Die Großfamilie (joint family)

31

2. Die generationale Familie (generational family)

31

a) Die Stammfamilie

31

b) Die Mehrgenerationenfamilie

32

3. Die modifizierte erweiterte Familie (modified extended family)

...

a) Patrilokalität

32 32

b) Uxorilokalität

32

c) Neolokalität

32

V. Die Kleinfamilie VI. Die unvollständige Familie 1. Die Restfamilie 2. Die Halbfamilie

33 33 33 33

a) Der Begriff

33

b) Die Rechtsprechimg des BVerfG

34

VII. Die sukzessive und die rekonstituierte Familie

34

1. Die sukzessive Familie

34

2. Die rekonstituierte Familie

35

VIE. Die (Alternativ-)Familie C. Verbaler Auslegungsansatz: die Etymologie des Wortes „Familie" I. Der Bedeutungsgehalt des Wortes „familia" II. Die Verwendung des Wortes „Familie" in der deutschen Rechtssprache III. Zusammenfassimg: Das Ergebnis der etymologischen Auslegung

36 37 37 38 40

10

Inhaltsverzeichnis

D. Die Familie als Gegenstand des römischen, germanischen, preußischen und nationalsozialistischen Rechts I. Die Ahistorizität der Familie? II. Die „familia" der Römer

42 42 42

1. Diegentes

43

2. Die „familia"

45

a) Der Bedeutungsgehalt des Wortes „familia"

45

b) Die patria potestas

45

c) Die Familienzugehörigkeit

47

aa) Die Blutsverwandtschaft

47

bb) Die Formen der Verwandtschaft

48

cc) Die Ehe

49

3. Zusammenfassung

50

4. Die augusteischen Ehegesetze

50

a) Die Eheverbote

50

b) Der Ehe- und Familienzwang

51

III. Haus und Sippe des germanischen Rechtskreises 1. Die Sippe oder die Verwandtschaftsgruppe

52 52

a) Die Sippe als Siedlungsverband

52

b) Die Sippe als Heerverband

52

c) Die Sippe als Schutzverband

53

d) Zusammenfassung

53

2. Die Familie

53

a) Die Munt

54

b) Die Familienzugehörigkeit durch Blutsverwandtschaft oder Munterwerb

55

c) Die Ehe

55

3. Zusammenfassung IV. Das „Haus" im preußischen allgemeinen Landrecht (ALR)

57 58

1. Der Familienbegriff des ALR

58

2. Die Zugehörigkeit zur Familie

59

3. Die Funktion der Familie

61

a) Die Ehe

61

b) Die Familie

61

V. Das Nationalsozialistische Familienrecht 1. Die Ehe

62 62

a) Die „Funktionalisierung" der Ehe

63

b) Die „staatliche Konkurrenz"

65

2. Familien und Bevölkerungspolitik .

65

3. Zusammenfassung

66

Inhaltsverzeichnis E. Die Familie im Bürgerlichen Gesetzbuch I. Vorbemerkung II. Die Institution „Ehe" im Sinne v. Savignys 1. Die Unterscheidung von Obligation und absolutem Recht a) Das absolute Recht

68 68 70 70 70

b) Die Obligation 2. Die Institute des Familienrechts: Ehe, väterliche Gewalt und Verwandtschaft

71

3. Die Beibehaltung der Unterteilung von Schuld-, Sachen- und Familienrecht im BGB

72

4. Der metaphysische Hintergrund für die Abschichtung der Familie aus dem Recht - die Trennung von Urrecht, Selbst und äußerer Welt ,

73

5. Die „Institution Familie"

71

74

a) Das natürliche Element

74

b) Das sittliche Element

75

c) Das rechtliche Element

75

d) Gesamtbetrachtung

76

6. Die Verrechtlichung der Familie

76

a) Die Verrechtlichung sittlicher Gebote

76

b) Die „Familienpflichtrechte"

76

c) Die Durchbrechung des Institutionenarguments und der Generalklauseltechnik zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit

78

d) Die Probleme Savignys bei einer Scheidung von Recht und Sitte innerhalb der Familie

81

e) Die drei Elemente der Ehe

82

f) Das „wichtigste" Element

83

7. Zusammenfassung

84

8. 130 Jahre später

85

III. Die „Institution Familie" 1. Vorbemerkung

87 87

a) Das Verhältnis der Institution „Ehe" zur Familie

87

b) Familie und Recht

90

2. Die Institution „Familie" gemessen an der Trias „Rechtsschutzinteresse, individuelle Freiheit und Institution" a) Die individuelle Freiheit aa) Die individuelle Freiheit der Kinder und/oder der Eltern . .

93 93 93

bb) Die eigenen Rechte der Kinder

94

cc) Zusammenfassimg

95

b) Die Überprüfung von § 1626 Abs. 2 S. 2 und § 1618 a BGB anhand ihrer Rechtsschutzfunktion für die Kinder c) Die Institution

97 101

Inhaltsverzeichnis

12

IV. Die Begründung der Familie im BGB 1. Die Verwandtschaft

102 103

a) Die Blutsverwandtschaft

103

b) Die Schwägerschaft

105

c) Die Bedeutung der Institute Verwandtschaft, Schwägerschaft und Eltern-Kind-Beziehung 105 2. Die Annahme an Kindes Statt a) Die Annahme aa) Die Annahme eines geborenen Kindes bb) Die pränatale Adoption b) „ A n Kindes Statt" 3. Die Pflegekindschaft

106 106 106 107 109 109

4. Die elterliche Sorge als Familienaufgabe - das Verhältnis von Verwandtschaft und Sorgeberechtigung 111 5. Die Ehe des BGB

114

6. Zusammenfassung

117

F. Die Erscheinungsformen der Familie in der Geschichte I. Vorbemerkung 1. Vorgehensweise 2. Der soziologische Hintergrund

120 120 120 122

a) Der Schicht- oder Klassenbegriff

122

b) Das Kontraktionsgesetz

122

c) Der „Mythos" von der vorindustriellen Großfamilie

123

d) Die Universalität der Kernfamilie?

125

e) Der Familienzyklus

126

II. Vorindustrielle „Familienformen", das Haus 1. Die Mitglieder a) Der Herr des Hauses

130 130 130

b) Die dem Hausrecht unterworfenen Personen im Bauernhaus . . . 131 c) Die dem Hausrecht unterworfenen Personen im Handwerk

. . . . 132

d) Die dem Hausrecht unterworfenen Personen im Handelshaus . . . 132 2. Das Haus als Familienform a) Die Kernfamilie aa) Der Kernfamilienbegriff

133 133 133

bb) Die Landfamilie

134

cc) Die Stadtfamilie

135

dd) „Single-Haushalte"?

135

b) Die Mehr-Generationen-Familie

136

aa) Die Stammfamilie und die Drei-Generationen-Familie . . . . 136 bb) Die Mehr-Generationen-Familie

137

Inhaltsverzeichnis c) Die (Kern-)Familie aa) Die (Kern-)Familie ohne Gesinde bb) Die (Kern-)Familie mit Gesinde

138 138 138

d) Restfamilienformen

140

3. Zusammenfassung III. Der Übergang 1. Die Familie in der Hausindustrie

142 143 143

a) Der Begriff

143

b) Familiengröße, Zusammensetzung und Wohnverhältnisse

145

c) Die Situation des Kindes

146

d) Zusammenfassung

147

2. Die Familie des Bürgertums

148

a) Der Begriff aa) Der Bürger des Allgemeinen Preußischen Landrechts bb) Die Bürger ab der Mitte des 19. Jahrhunderts

148 148 149

b) Die Entstehung des Leitbilds der bürgerlichen Familie

150

c) Die Auswirkung des neuen Familienbildes auf das Leben in der Familie aa) Die geänderten Wohnverhältnisse bb) Die Erziehungsinstanzen cc) Die Anzahl der Mitglieder d) Zusammenfassung: Die Bedeutung der Familie im Bürgertum als Erziehungsinstanz und Gegenstruktur zur Gesellschaft . . . . IV. Postindustrielle Familienformen 1. Die „proletarische" Familie

151 151 152 152 153 157 157

a) Der Begriff

157

b) Die ökonomische Basis und das Familienleben

157

c) Die Zusammensetzung der Familie

159

d) Die Situation des Kindes

161

e) Zusammenfassung

162

2. Famiiiale Veränderungen seit 1949

163

a) Die Wohnverhältnisse

163

b) Die Eheschließung als Resultat des Kinderwunsches

164

c) Von der Institution „Familie" zu den Teilbeziehungen zwischen Mann, Frau, K i n d und Großeltern aa) Die Situation des erziehungsbedürftigen Kindes bb) Die Mehr-Generationen-Familie cc) Die familiale Umweltoffenheit der Kernfamilie dd) Die Bedeutung der Verwandten für die Kernfamilie ee) Die Hilfeleistungen der Verwandten für die Kernfamilie . . . d) Zusammenfassung

165 166 167 169 170 172 173

V. Zusammenfassung: Familie im sozialen Wandel?

175

Inhaltsverzeichnis

14

G. Der Aufbau eines Systems „Familie" I. Familie als System 1. Ein familial strukturiertes Gesellschaftssystem a) Graphische Darstellung

180 180 181 181

b) Eigenschaften dieses Gesellschaftsmodells

182

c) Prozeßtheoretische Analyse

182

2. Ein Gesellschaftssystem, das Familie nur als eines unter vielen Teilsystemen kennt 184 a) Graphische Darstellung

184

b) Die Eigenschaften dieses Gesellschaftsmodells

185

c) Prozeßtheoretische Analyse aa) Funktionale und strukturelle Trennungsprozesse

186 187

bb) Die Bewertung struktureller und funktioneller Trennungsprozesse als „Funktionsverlust der Familie" 187 cc) Die legitime Indifferenz des gesellschaftlichen Teilsystems Familie gegenüber anderen Teilsystemen 189 dd) Die relative Autonomie des Teilsystems Familie

190

ee) K r i t i k an einer relativen Autonomie des Teilsystems Familie 190 ff) Die staatliche Entscheidungsintervention zwischen den Funktionsträgern 191 3. K r i t i k am Konzept der Differenzierung: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft - Rechtfertigung eines Konzepts 193 II. Die Funktionen der Familie

198

1. Die Reproduktion

198

2. Die Sozialisation

199

3. Die Statuszuweisung

199

4. Die Regeneration

199

5. Der Spannungsausgleich

199

6. Das Gruppenleben

200

7. Die Familie als Schranke ehelicher Sexualität

200

8. Die Versorgung

200

9. Die Konsumption

200

10. Die Produktion

201

11. Zusammenfassung

201

III. Die Familie und der Nutzen für den einzelnen

202

IV. Die Familie und die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

204

1. Was ist Verwandtschaft und wie funktioniert dieses Zurechnungssystem? 205 a) Die These von der familienlosen Urhorde oder die Familie als Erbgut des Menschen 206 b) Die Mutterschaft als Zentrum der Verwandtschaftszurechnung 207

Inhaltsverzeichnis c) Matrilineare und bilineare „Verwandtschaften"

208

d) Wievielen verwandtschaftlich begründeten Familien kann ein Kind angehören? 211 e) Ausnahmen vom Prinzip verwandtschaftlicher Zurechnung

. . . 212

2. Die Blutsverwandtschaft und Kryokonservierung, In-vitro-Fertilisation und Embryotransfer 214 a) Die Kryokonservierung aa) Der Begriff bb) Die Problematik b) Die Insemination

214 214 214 216

aa) Der Begriff

216

bb) Die rechtliche Beurteilung

217

c) Die In-vitro-Fertilisation aa) Der Begriff

221 221

bb) Die Verwandtschaft als genetische Verwandtschaft oder als „Mutterschoßprinzip" 222 d) Eigene Stellungnahme: Das Recht auf Postexistenz V. Die Familie und ihr Zusammenleben

223 229

1. Das Zusammenleben der Familienmitglieder und die Familienaufgabe der Erziehung unmündiger Kinder 229 2. Gibt es eine Familie, die keine Erziehungsaufgaben als Vater und Mutter erfüllt? 230 3. Die Bedeutung des gemeinsamen Lebensmittelpunkts zur Feststellung des Vorherrschens von Kern- oder erweiterten Familienformen 231 4. Die Frage nach dem Zusammenleben der Familie und der Überprüfung des Kindeswohls durch staatliche Gerichte und Behörden . . . . 233 a) Die Rechtsprechung des BVerfG aa) Das Zusammenleben der erweiterten und der Kernfamilie

233 . . 233

bb) Die Halbfamilie bestehend aus Mutter und K i n d

234

cc) Die Halbfamilie bestehend aus Vater und Kind

234

dd) Die Pflegefamilie als „soziale Familie"

235

b) Eigener Lösungsvorschlag aa) Die eheliche Familie

236 236

bb) Die sukzessiven Familien

238

cc) Die Pflegefamilie

239

dd) Die Halbfamilie bestehend aus Mutter und Kind

240

ee) Die Halbfamilie bestehend aus Vater und Kind

241

ff) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern

241

gg) Die modifizierte, erweiterte Familie

241

hh) Alternativfamilien

242

VI. Zusammenfassung

242

16

Inhaltsverzeichnis

H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

244

I. Die Entstehungsgeschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie in der Weimarer Reichs Verfassung - Art. 119 bis 121 der WRV als verfassungsrechtliche Vorbilder des Art. 6 GG 244 1. Der Text der Familienvorschriften der WRV

244

2. Die mit Art. 119 bis 121 WRV befaßten Verfassungsgeber

245

a) Die Nationalversammlung

245

b) Der Verfassungsausschuß

246

c) Der Unterausschuß

246

3. Die Stellungnahmen im Verfassungsausschuß

247

a) Art. 119 WRV

247

b) Art. 120 WRV

249

c) Art. 121 WRV

249

d) Art. 122 WRV

250

4. Die Stellungnahmen in der Nationalversammlung

250

a) Art. 119 und 121 WRV

251

b) Art. 120 WRV

256

5. Bewahrender Schutz und/oder Öffnung gegenüber dem Wandel? . . . . 258 6. Die BindungsWirkung, Rechtsnatur und der Inhalt der familienrechtlichen Vorschriften der WRV 259 a) Art. 119 WRV

260

b) Art. 120 WRV

261

aa) „Erziehung"

262

bb) Das „natürliche" Recht cc) Die „Eltern" c) Art. 121 WRV

262 Λ

262 263

aa) Die Bindungswirkung

263

bb) Die gleichen Bedingungen

263

II. Die Entstehungsgeschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie im Grundgesetz 264 1. Die mit Art. 6 GG befaßten Verfassungsgeber

264

a) Der Parlamentarische Rat

264

b) Die Ausschüsse

264

2. Die Stellungnahmen des Grundsatzausschusses bezüglich Art. 6' Abs. 1 GG 265 a) Das „Ob" einer Ehe und Familie schützenden Verfassungsnorm 265 b) Setzt die Familie des Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe der Eltern voraus? 267 aa) Ist die Ehe Familie?

267

bb) Die vollständige Familie als Regelungsgegenstand

267

cc) Die Gemeinschaft von nichtehelicher Mutter und K i n d als „Familie" 269

Inhaltsverzeichnis c) Art. 6 Abs. 1 GG als Gruppengrundrecht

271

d) Art. 6 Abs. 1 GG als Einrichtungsgarantie

271

3. Die Erörterungen im Parlamentarischen Hauptausschuß: Die Ordnung Ehe - Familie - Staat 272 a) In 1. Lesung b) In 2. Lesung 4. Der Entwurf des Redaktionsausschusses

272 274 275

a) Der Entwurf und seine Begründung

275

b) Die Auslegung des Entwurfs im Schrifttum

275

c) Die Auslegung der Begründung des Entwurfs

277

d) Zusammenfassung

277

aa) Die Stellung von Haupt- und Redaktionsausschuß

277

bb) Die Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 5 GG als Auslegungskriterium für Art. 6 Abs. 1 GG 278 5. Die Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 5 GG a) Die Stellungnahmen im Grundsatzausschuß

279 279

aa) Die Stellung des Art. 6 Abs. 5 GG im Grundrechtskatalog . . . 279 bb) Die Gleichberechtigung ehelicher und nichtehelicher Kinder 279 b) Die Diskussionen im Hauptausschuß

281

aa) Die rechtliche Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern 281 bb) Die rechtliche Gleichstellung der Halbfamilie bestehend aus Mutter und nichtehelichem K i n d mit der Familie des Art. 6 281 Abs. 1 GG c) Die Anmerkung des Redaktionsausschusses

282

6. Ehe als Grundlage der Familie in den Beratungen zum Grundgesetz? 282 a) Beurteilung der Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 5 GG . . . 282 aa) Der Schutz des nichtehelichen Kindes und des ehelichen Kindes 282 bb) Der Schutz der nichtehelichen Mutter

283

cc) Der Schutz der Halbfamilie bestehend aus Mutter und nichtehelichem Kind 283 dd) Der Schutz der Halbfamilie bestehend aus Vater und nichtehelichem Kind 286 ee) Der Schutz der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern 286 b) Das Elternrecht als natürliches Recht der ehelichen Familie? . . . . 287 aa) Die Stellungnahmen im Grundsatzausschuß: Die Simultanoder die Konfessionsschule 288 bb) Die Diskussionen im Hauptausschuß cc) Die Stellungnahme des BVerf G c) Fazit 2 Schmid

289 289 292

Inhaltsverzeichnis

18

I. Die Garantie der Institution Familie

293

I. Die Begriffsgeschichte der Instituts-, institutionellen und Einrichtungsgarantien 293 1. Die Anfänge

293

2. Die Unterscheidung privater und öffentlich-rechtlicher Einrichtungen 294 3. Die weitere Entwicklung

294

4. Der Grund für die Entwicklung der Lehre von den Einrichtungsgarantien 297 II. Der inhaltliche Gehalt der „Einrichtung" 1. Institut, institutio bzw. Institution und Einrichtung

300 300

2. Die Unterscheidung von Einrichtungen öffentlich- und privatrechtlichen Charakters 300 a) Die Einrichtung öffentlichrechtlichen Charakters und der privatrechtliche Normenkomplex 301 b) Die status-quo-Garantie der institutionellen Garantie

302

c) Die Begrenzung rechtlicher Gestaltung der Institution auf das „Minimum" 304 3. Die „Institution" nach der Lehre von den Einrichtungsgarantien . . . . 307 a) Vorbemerkung aa) Die Institution in soziologischer Betrachtung

307 308

bb) Die Institution in juristischer Betrachtung

309

b) „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens" . . . 310 aa) Das Regeln-oder Gesetzesdenken (Normativismus)

311

bb) Das Entscheidimgsdenken (Dezisionismus)

311

cc) Das Ordnungsdenken

312

dd) Stellungnahme

312

c) Die konkreten Ergebnisse bei der Ermittlung des Schutzbereichs durch die Lehre von den Einrichtungsgarantien 314 aa) Die Zuhilfenahme von Argumenten aus der Theologie am Beispiel der Monogamie der in Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ehe 315 bb) Die „innere Organisation" von Ehe und Familie in der Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts und i n einer Entscheidung des BVerwG 317 d) Die induktive Methode aa) Die Bestandsaufnahme

324 324

bb) Steht der Wandel der Familie einem induktiven Ansatz entgegen? 325 cc) Die Freiheit vor dem Recht als notwendiger Schutz einer staatsfremden, freiheitlichen Familie 330 e) Der Rückgriff auf außerrechtliche Lebensordnungen

332

Inhaltsverzeichnis III. Die „Institution" Familie 1. Vorbemerkung: Die Bestandteile einer Institution

334 334

2. Die idee directrice oder die Institution als Mittler von Individuum und Norm

335

a) Subjektives und objektives Recht

336

b) K r i t i k beider Ansätze aa) Das soziale Milieu bb) Der „Rechtsbestand" der Institution cc) Die Idee

338 338 339 340

c) Die Vereinnahmung der Institution durch das Individuum

340

d) Die Gesellschaft der Verfassungsinterpreten

340

3. Die „Institutsgarantie Familie" i n der Rechtsprechung des BVerfG 344 a) Die Anwendung dieses Auslegungsansatzes auf die in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte „Ehe" b) Die Anwendung dieses Auslegungsansatzes auf die „Familie" . . . aa) Das gesetzlich normierte Institut der Familie bb) Die „heute herrschenden Anschauungen" cc) „Vorgefundene, überkommene Lebensformen" dd) Der „offene Begriff" Familie? 4. Eine Gesamtheit von Personen

346 347 348 350 358 359 362

5. Die Aufgabe der Institution Familie als Instrument zur Befriedigung von im Menschen angelegter Bedürfnisse 363 a) Der aa) bb) cc)

Grund für die Entstehung von Institutionen wie der Familie Der verschiedenen Bedürfnisarten Kritik Das Beispiel der in Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Kernfamilie

b) Veränderte Bedürfnisse, veränderte Institutionen

363 363 363 365 368

c) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern und die Halbfamilie als neue Familieninstitution? 373 6. Die Institution als Mittel zur kulturellen Erhöhung des Menschen oder der freie Mensch als Ergebnis oder Schöpfer der Institutionen 374 a) Das Menschenbild

375

b) Das Verhältnis von Mensch - Institution - Bewußtsein - Handlung 377 c) Das Leben in der Institution Familie - die Überanstrengung? . . . 378 d) Der freie Mensch als Feind der Institution Familie?

380

e) Die Institution als „Totengräber" ihrer selbst?

383

7. Die Institutionalisierung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern - Der Mensch ohne Freiheit vor dem Recht

384

a) Die Rechtsprechung

385

b) Ein Beispiel aus dem Sozialhilferecht

387

c) Ein Beispiel aus dem Arbeitslosenhilferecht

388

d) Ein Beispiel aus der Versicherungswirtschaft 389 e) Ergebnis: Die Vermutung zugunsten der ehelichen Familie in Art. 6 Abs. 1 GG 390

Inhaltsverzeichnis

20

Κ. Die Mehrdimensionalität des Art. 6 Abs. 1 GG I. Die wertentscheidende Grundsatznorm 1. Der Begriff

396 396 396

2. Die Grundsatznorm des gesamten (die Familie betreffenden) einfachen Rechts? 398 a) Die Grundsatznorm des die „Familie" nennenden, einfachen Rechts 398 b) Das die Familie „betreffende" Recht

399

c) Art. 6 Abs. 1 GG als Grundsatznorm für die gesamte einfachgesetzliche Rechtsordnung 399 3. Die Grundsatznorm des Verfassungsrechts a) Der Begriff

400 400

b) Die Argumente gegen die Auffassung von Art. 6 Abs. 1 GG als Grundsatznorm des Verfassungsrechts 401 c) Die Argumente für die Auffassung von Art. 6 Abs. 1 GG als Grundsatznorm des Verfassungsrechts 402 d) Die staatstheoretische Bedeutung des Art. 6 Abs. 1 GG anhand von Beispielen aus dem Ausländer- und Asylrecht 402 aa) Leistungsrechte für die eheliche Familie und/oder der Schutz der Persönlichkeitssphäre 402 bb) Der Nachzug von ausländischen Familienangehörigen

. . . . 403

cc) Die Ausweisung eines ausländischen Familienmitglieds . . . 407 e) Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 6 Abs. 1 GG als Ausdruck des „besonderen" Verhältnisses von Staat und Familie 409 f) Ergebnis: Art. 6 Abs. 1 GG, der verstärkend neben andere Freiheitsrechte tritt 410 II. Die Individualgarantie 1. Art. 6 Abs. 1 GG als Zukunfts- oder Gegenwartsrecht?

414 414

a) Die Rechtsprechung des BVerfG

414

b) Stellungnahme

415

2. Das Abwehr- und das Leistungsgrundrecht

416

3. Die Grundrechtsträger des Art. 6 Abs. 1 GG

417

a) Der Vater und/oder die Mutter als Grundrechtsträger

418

b) Die Kinder als Grundrechtsträger

418

c) Machen die Grundrechtsträger ein Individualrecht oder ein Gruppengrundrecht geltend? 418 aa) Der Grundsatz der Gleichheit der Familien

419

bb) Die Mittelbarkeit einer Grundrechtsverletzung

419

cc) Art. 6 Abs. 1 GG als Gruppengrundrecht - der Grundsatz der Familieneinheit 420 4. Die Verletzung des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 1 GG: Die konkrete oder abstrakte Gefährdung der Familie 424

Inhaltsverzeichnis III. Die Einrichtungsgarantie Familie und das Einzelgrundrecht in Art. 6 Abs. 1 GG 427 1. Liegt beiden Garantiearten dieselbe Familie zugrunde? a) Die Grundrechtsträger des Art. 6 Abs. 1 GG

427 428

b) Der Schutzbereich der Individualgarantie

428

c) Eigene Stellungnahme

432

aa) Ein Vergleich mit anderen Grundrechten, die eine Einrichtungs- und eine Institutsgarantie beinhalten bb) Eigener Lösungsvorschlag

435 438

2. Die Prüfungsreihenfolge bei Art. 6 Abs. 1 GG 440 a) Der Staat handelt mit Bezug auf die Familie, indem er sie in seiner Regelung beim Namen nennt oder typisch familiale Sachverhalte, wie z.B. die Verwandtschaft, die Unterhaltspflicht usw. regelt 440 b) Der Staat handelt i n Bezug auf einzelne Familienmitglieder . . . 441 c) Der Staat handelt ohne Bezug auf die Familie L. Schlußbemerkung

442 443

I. Die Kernfamilie

443

II. Die Restfamilie

444

III. Die Halbfamilie und die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern 445 IV. Die Vermutungswirkung zugunsten der ehelichen Familie V. Das Zusammenleben als Strukturprinzip der Familie VI. Familie und Verwandtschaft

446 447 448

VII. Das Verhältnis von Freiheitsrecht und Institution bei Art. 6 Abs. 1 GG 449 V m . Art. 6 Abs. 1 GG als Negativdefinition IX. Eine Familiendefinition Literaturverzeichnis

450 450 452

Α. Einleitung Die Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit soll im Folgenden kurz beschrieben werden. In Art. 6 Abs. 1 GG heißt es: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung". Art. 6 Abs. 1 GG spricht damit von einer „Ehe" und einer „Familie". - Das Verhältnis dieser beiden Lebensordnungen zueinander ist spätestens seit den Beratungen zum Erlaß der Weimarer Reichsverfassung Gegenstand kontroverser Auffassungen. Beide Lebensordnungen sind unterschiedlich weitgehend erforscht und aufgearbeitet worden. Während die Ehe in der Jurisprudenz weite Beachtung und Erörterung gefunden hat, läßt sich ein Gleiches für die Familie nicht behaupten. Geschichtliche Erhebungen über die Entwicklung der Familie werden erst seit ca. 30 Jahren 1 durchgeführt. Hierfür gibt es wohl mehrere Gründe: Seit dem Konzil von Trient (1545 - 1563)2 reichte das erklärte Einverständnis beider Ehepartner für eine gültige Eheschließung nicht mehr aus. Eine dritte Person mußte anwesend sein, die diese Erklärungen bezeugen konnte. Die Ehe war damit kein Privatissimum zweier Personen mehr. Die Liebe, die zwei Menschen füreinander empfinden, reichte für eine gültige Eheschließung nicht mehr aus. Die „Ehe" bedurfte nun der Öffentlichkeit. Wenn man vor einen Dritten treten muß, um den Willen zur Eheschließung zu bekunden, dann hat dies auch Auswirkungen auf den actus contrarius. Das nur tatsächliche Verlassen oder Verstoßen des anderen Ehepartners ist als Auflösungsakt für so formal gestifteten Ehen nicht mehr ausreichend 3. Der Ehegatte, der an der Ehe nicht mehr festhalten will, sieht sich damit auch bei der Scheidung dem Erfordernis einer Mitwirkung Dritter ausgesetzt. Wenn die Scheidung dann durch ein 1 Einen Überblick zur Literatur bietet D. Klippel: Entstehung und Strukturwandel der modernen Familie, FamRZ 1978, S. 558, derselbe: Neue Literatur zur Sozialgeschichte der Familie, FamRZ 1984, S. 1179 und FamRZ 1985, S. 444. 2 Siehe hierzu Horst Herrmann: Ehe und Recht, Freiburg i.Br., 1972, S. 39 ff; D. Schwab: Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung i n der Neuzeit, S. 72 ff mit einer Auseinandersetzung der Sakraments- und Vertragstheorien zur Ehe. 3 Gleich ob man hier die christliche Begründung für die Lebenslänglichkeit der Ehe heranzieht, die den Ehegatten die Verfügungsbefugnis über das einmal gestiftete Sakrament der Ehe abspricht oder, wie oben geschildert, lediglich auf dem formalisierten Ablauf der Eheschließung verweist.

24

Α. Einleitung

strenges „Lebenslänglichkeitsprinzip" ganz ausgeschlossen ist und zudem die eheliche Liebe fehlt, dann w i r d die Lebensordnung „Ehe" zum fremdbestimmten Zwang für das Individuum. Wenn der einzelne im Zeitalter der Aufklärung erkennt, daß sein und des Monarchen Handeln objektiven Gesetzen, wie ζ. B. der Vernunft unterworfen sind, dann beginnt er auch die Berechtigung dieses „Zwanges" zu hinterfragen. Mit einem ungeliebten Ehepartner leben zu müssen, stellt sich als der vielleicht weitgehendste Eingriff in die Handlungsfreiheit eines Menschen dar. Sobald der Mensch deshalb, wenn auch vorerst nur theoretisch, seinen Anspruch auf politische Teilhabe geltend macht, muß er neben dem Abschluß des Staatsvertrages auch fähig sein, mit seinem Ehepartner einen Vertrag zu schließen und diesen im Einvernehmen mit dem Ehepartner wieder aufzulösen. Die Befreiung von politischer Ohnmacht hat auch das Bestreben nach Dispositionsbefugnis in persönlichen Angelegenheiten zur Folge oder zur Voraussetzung. Die Familienväter der Aufklärung waren damit beschäftigt Rechte für sich zu erstreiten, weshalb die Emanzipation der Familienkinder dem Grundgesetz vorbehalten blieb. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb die Lebensordnung Ehe schon viel früher in ihrem Verhältnis zur individuellen Freiheit des Menschen in Frage gestellt wurde als die Familie. - Den oben geschilderten Interessen des einzelnen stehen Belange des Ehepartners, der (kirchlichen) Moral und der Effektivität staatlichen Handelns gegenüber. Der andere Ehepartner hat - falls er sich nicht mit der Scheidung einverstanden erklärt - im Vertrauen auf die einmal erfolgte Eheschließung, Lebenszeit und -kraft in die Beziehung investiert. Seine Freiheit, den einmal geschlossenen Vertrag zu erfüllen („pacta sunt servanda") ist grundsätzlich nicht weniger schützenswert als das Interesse des scheidungsbereiten Partners. Das Institut der Ehe ist auch ein moralischer Appell an den einzelnen, nicht allein und schutzlos, sondern in Gemeinsamkeit mit und für andere sein Leben zu verbringen. Durch die gesamtgesellschaftliche Verbreitung dieses Ideals wird sichergestellt, daß in das Zentrum des Lebens vieler Menschen nicht nur die eigene Person tritt. Dazu trägt auch der Solidarcharakter der Ehe bei, der den Partner verpflichtet in einer Lebensgemeinschaft auch mit einem unattraktiv oder krank gewordenen Menschen zu verharren und ihm zu helfen. Der Staat bedarf der Kinder, um auch in Zukunft ein Staat zu bleiben. Dieses Interesse des Staates hat nun nicht etwa zur Folge gehabt, daß die Familie vorrangig zum Gegenstand staatlicher Regelung gemacht

Α. Einleitung

wurde. Bevölkerungspolitik konnte vielmehr aufgrund der rechtlichen Verfaßtheit des Instituts Ehe effektiv betrieben werden. Ein solcher Versuch ist ζ. B. für das „alte Rom" in den augusteischen Ehegesetzen nachweisbar. Es ist sicher auch kein Zufall, daß dieser Versuch im „goldenen Zeitalter" Roms gemacht wurde, als die staatliche Macht durch ihren Repräsentanten Augustus zu lange nicht gekannter Kontinuität und Respektabilität gelangte. Es ist wohl auch kein Zufall, daß Staatstheorien - ob die Hauslehre des Aristoteles oder die Souveränitätslehre des Bodin - die Familie zur Keimzelle des Staates oder Vertragsschließenden des Staatsvertrages erklären. In der praktischen Politik lag demgegenüber der Schwerpunkt auf der Befassung mit dem Rechtsinstitut der Ehe. Durch das Publizitätserfordernis der Eheschließung wurde die Ehe nämlich für den Staat beeinflußbar. Leichter, als dies bei der Familie, die im Schlafzimmer und nicht vor den Augen der Öffentlichkeit begründet wurde, der Fall war. Auch war es, solange Verhütungsmittel wenig effektiv waren, die Kenntnis von ihrem Einsatz nicht in allen Schichten verbreitet und die Bereitschaft zu ihrer Anwendung ζ. B. kirchlich stark beeinflußt wurde, ausreichend, die Ehe zum Anknüpfungspunkt eines staatlichen Dirigismus zu machen. Lediglich das preußische ALR von 1794, das Sinnbild eines starken Herrschers, wagte es, über diesen Anknüpfungspunkt hinauszugehen und Familienpflichten en detail aufzuschreiben 4. Mit dem verbreiteten Einsatz effektiver Verhütungsmittel, wie ζ. B. der Pille, wurde dieser bis dahin bestehende, nahezu zwangsläufige Zusammenhang von Ehe und Familie weitgehend durchbrochen. Es gibt heute ein zumindest faktisches Entscheidungsrecht des Individuums, ob es sich fortpflanzen w i l l oder nicht. Noch weitergehend machen die modernen Befruchtungstechnologien es möglich, daß einer Person ein Kind zugeordnet wird, ohne daß sie einen Geschlechtspartner haben muß. Ein „Einzelkind" im doppelten Sinne. Diese Fortschritte haben zur Folge, daß der Staat immer mehr mit einer Gemeinschaft von Eltern und Kindern unmittelbar in Berührung kommt und nicht länger über den „Transmissionsriemen" der Ehe. - Das Verhältnis von Staat und Familie wird dabei mit einer Interessentrias konfrontiert, nämlich mit den Interessen der Eltern, der Kinder und des Staates. Anders als beim Rechtsinstitut der Ehe, das nach einem jahrhundertelangem Weg einigermaßen ausgelotet und austariert erscheint, fehlen solche Erfahrungen bei der Familie. Beispielsweise steht in keinem 4 Gegenüber einem vergleichsweise liberalen Scheidungsrecht, das zur damaligen Zeit i n Preußen herrschte, drängt sich der Verdacht auf, daß der so abgerungene eheliche Freiraum der erwachsenen Individuen zu Lasten eines familiären Freiraums eingetauscht wurde.

26

Α. Einleitung

Gesetz, wie eine Familie begründet w i r d und wann sie endet. Damit werden bereits zwei Kardinalfragen zur Familie des Art. 6 Abs. 1 GG angesprochen. Zum einen ist nämlich fraglich, ob auch die (Ur-ur-)Großeltern zur Familie des Art. 6 GG gehören; zum anderen ob nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern oder Elterngemeinschaften bestehend aus Vater und Kind oder Mutter und K i n d als Familie in Art. 6 Abs. 1 GG anzusehen sind. - Man kann bei der Familie auch andere als personale Unterscheidungen einführen, weshalb am Anfang dieser Arbeit ein Definitionenkalender steht. Dieser Definitionenkalender hat den Zweck, mögliche Erscheinungsformen der Familie darzustellen. Ein Weg diese Familienformen der Familie des Art. 6 Abs. 1 GG zuzuordnen ist die wörtliche Auslegung. - I m folgenden Kapitel w i r d dann versucht, die „Familie" in Art. 6 Abs. 1 GG in ihrer wörtlichen Bedeutung zu erfassen. Selbst wenn dieser verbale Auslegungsansatz ergäbe, daß „Familie" ζ. B. eine Gemeinschaft von Eltern und Kindern ist, dann wäre damit überhaupt noch nicht gesagt, ob das Wort „Familie", das wahrscheinlich vom lateinischen „familia" herstammt, einen Aussagegehalt auch für die heutige, nahezu zwei Jahrtausende ältere Familie und weiter für Art. 6 Abs. 1 GG hat. - Deshalb erschien es wichtig, die rechtliche Ausgestaltung der Familie in mehreren Zeitepochen zu untersuchen. Um diese rechtlichen Familienauffassungen und ihr Verhältnis zur Persönlichkeitssphäre des einzelnen einzuordnen, mußte für vergangene Rechtsepochen zum Teil auf die rechtlichen „Ehebilder" Bezug genommen werden. In Ermangelung einer gesetzlichen Regelung der Familie hat die rechtliche Regelung der Ehe hier Indizcharakter für die Auffassung des Gesetzes von der Persönlichkeitssphäre des Menschen und der Familie. Auch die Regelung der Scheidung wurde zu diesem Zweck einbezogen, weil sie teilweise die Auffassung des Normgebers zur Ehe spiegelbildlich wiedergibt. - Die rechtlichen Erscheinungsformen der Familie können nicht beurteilt werden, ohne daß man auch Fakten über die Lebensart, Zusammensetzung und Haushaltsführung der Familien kennt. Beispielhaft werden hier vor- und postindustrielle Familienformen vorgestellt. Diese Lebensformen waren und sind Hintergrund des AIR, des BGB, der WRV und des GG. - Aus der Rechts- und der Sozialgeschichte der Familie ergeben sich Anhaltspunkte dafür, wie das Verhältnis von einzelnem - Familie - Staat ausgestaltet werden kann. Ein Abschnitt, der die Familie als „System" begreift, versucht mögliche Gestaltungen einer Gesellschaft und ihre Beziehung zum Individuum und zur Familie deutlich zu machen. Dieses Vorverständnis ist Grundlage für die juristische Interpretation von Art. 6 Abs. 1 GG.

Α. Einleitung

- Eine Würdigung der Entstehungsgeschichte des Art. 6 GG und seiner Vorläuferregelungen, nämlich der Art. 119 ff WRV wird aufzeigen, daß zumindest bezüglich der Frage, ob auch die Großeltern zur Familie des Art. 6 Abs. 1 GG gehören, ein Problembewußtsein der historischen Verfassungsgeber nicht bestanden hat. Auf der anderen Seite wird die politische und ideelle Kompromißnatur einer Familiengewährleistung während der Beratungen zum Erlaß der WRV und des GG sehr deutlich. - Als juristischer Anknüpfungspunkt, der der individuellen Freiheit des einzelnen in der Familie und der großen Bedeutung der rechtlichen Ausgestaltung der Familie als Lebensraster einer Verantwortung für andere gerecht wird, ist der Ansatzpunkt der Instituts- oder institutionellen Garantie gewählt worden. Mit der Bezeichnung der Familie als Institution soll nicht angedeutet werden, daß die Familie aus dem Kontext der übrigen Grundrechtsgewährleistungen herausfällt oder ihr allein kraft ihrer Eigenschaft als Institution ein höherer Geltungsgrund zukomme 5 . „Familie" ist kein Freiheitsrecht, das lediglich die Beziehung einer Person zu einer Freiheit umschreibt, wie ζ. B. die Eigentumsgarantie oder die Garantie der freien Meinungsäußerung. „Familie" hat eine Personengesamtheit zum Gegenstand und damit neben der Beziehung einer Person zu Rechten auch die Beziehung von Personen zueinander. Um eine Aufspaltung in Personenbeziehungen oder Einzelrechte, die mit der „Familie" unvereinbar wäre, zu vermeiden, wurde der Begriff der Institution als Ausgangspunkt gewählt. Auch eine Darstellung des Verhältnisses der Institution zur Bestimmung oder Schöpfimg durch den Menschen, zum Wandel durch die Zeit, ermöglicht es, im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG eine Auseinandersetzung mit dem gleichzeitig gewährleisteten, individuellen Freiheitsrecht vorzunehmen. Mittels dieser Abwägung von individuellen und objektiven Elementen innerhalb der Familiengewährleistung wird versucht, eine strikte Trennung des Familieninternums, d. h. der Beziehung der Familienmitglieder zueinander auf der einen, und des Familienexternums, d. h. der Beziehung der Familienmitglieder oder der Familie zum Staat auf der anderen Seite, durchzuführen. - Am Ende dieser Arbeit, die viele Familiengesichtspunkte und -meinungen aufweist, wird zu diskutieren sein, ob Art. 6 Abs. 1 GG nur eine Negativdefinition dessen enthält, was „Familie" auf keinen Fall sein kann und im übrigen eine weite Gestaltungsfreiheit des einfachen Gesetzgebers 6 eröffnet. 5 Der Gruppenbegriff hätte hier das Verhältnis zwischen Staat und Gruppe weniger gut berücksichtigen können als dies der Institutionenbegriff tut. 6 Im Sinne der „Wesentlichkeitstheorie" des BVerfG, siehe hierzu K. Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 195.

B. Terminologie: Die Arten der Familie und die Rechtsprechung des BVerf G zum Familienbegriff Wenn am Beginn dieser Arbeit ein Definitionenkalender steht, dann ist dieser „trockene" Beginn für die Beschäftigung mit einem so vielschichtigen Thema wie dem Menschen vielleicht unvermeidbar 1 . Die hier auftauchende Vielseitigkeit des Familienlebens und seiner Gestaltung muß bereits den Schutz einer „Familie" in Art. 6 Abs. 1 GG in Frage stellen. Wollte der Verfassungsgeber eine Gestaltungsfreiheit bezüglich aller, auf den folgenden Seiten erscheinenden Organisationsmöglichkeiten eröffnen? Oder hatte er vielmehr eine feste Vorstellung von „Familie", die lediglich eine der vom Wortsinn nahezu sämtlich abgedeckten Alternativen umf aßte? Im Folgenden sollen zur Kennzeichnung gelebten Gruppenverhaltens soziologische Fachbezeichnungen eingeführt werden. Diese Vorgehensweise soll aber keine Deckungsgleichheit von soziologischem und rechtlichem Familienbegriff implizieren, sondern nur der Herausarbeitung zu behandelnder Fallgruppen dienen. I. Die Herkunftsfamilie Grundsätzlich w i r d jeder Mensch in eine Familie hineingeboren, die wir als „Herkunfts- oder Abstammungsfamilie" bezeichnen können 2 - 3 . Π. Die Zeugungsfamilie Es beruht auf der Willensentschließung jedes einzelnen Menschen, ob er eine eigene, sog. Zeugungsfamilie gründen will. Diese Zeugungsfamilie kann eine Kernfamilie sein.

1 Dem gleichen Problem begegnet die Arbeit von F. Neidhardt: Die Familie in Deutschland, S. 9 ff. 2 Ebd., S. 11. 3 Die modernen Befruchtungstechnologien werden im Kapitel G IV 2 behandelt.

III. Die Kernfamilie (nuclear family)

29

ΠΙ. Die Kernfamilie (nuclear family) 1. Ein soziologischer Kernfamilienbegriff

Als Kernfamilie wird die Gruppe von Mann und Frau 4 mit ihren unverheirateten und unmündigen, angenommenen und eigenen Kindern definiert 5 . Die Kernfamilie unterscheidet sich damit von anderen „Gruppen" durch die geschlechts- und generationsabhängige Umschreibung der Rollen ihrer Mitglieder. Die Unterscheidung erfolgt einmal nach dem Geschlecht (Vater, Sohn / Mutter, Tochter), zum anderen nach der Generation (Vater, Mutter / Sohn, Tochter) 6 der Mitglieder. „Familie" besteht damit aus der typischen Begegnung von Geschlechtern und Generationen 7 . Der oben vorgestellte Kernfamilienbegriff beinhaltet bereits eine Entscheidung über drei Aspekte des Familienlebens. Eine Verwandtschaft der Mitglieder miteinander ist nicht ausnahmslos notwendig. Auch ein Zusammenleben, ein gemeinsamer Haushalt der Mitglieder wird für diesen Familienbegriff nicht gefordert. Zeitlich ist die Familie auf das Verhältnis von erziehungsbedürftigen Kindern im weitesten Sinne zu ihren Eltern begrenzt. 2. Der Familienbegriff des BVerf G

Das BVerf G definiert Familie als „. . . umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem Recht und Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen" 8 . Auch diese Definition sieht das Zusammenleben von Eltern und Kindern nicht ausdrücklich als konstitutiv für die Familieneigenschaft an. Regelmäßig wird aber vom Vorliegen einer Haushaltsgemeinschaft auszugehen sein 9 . Die Verwandtschaft der Mitglieder wird ebenfalls nicht ausnahmslos als Tatbestandsmerkmal der Familie verlangt. Das Gericht stellt fest, es sei allgemein anerkannt, daß zu den Kindern auch die Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder gehörten 10 . Dem Stief-, Adoptiv- und Pflegekindverhältnis liegen hierbei grundsätzlich unterschiedliche, einfachgesetzliche Zugehörigkeitsbestimmungen zugrunde.

4 R. König in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, S. 206; E. Wallner/M. Pohler-Funke: Soziologie der Familie, S. 22. 5 H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: Familie in der Gesellschaft, S. 595. 6 F. Neidhardt: Die Familie i n Deutschland, S. 10. 7 Ebd. 8 BVerfGE: 10, 59 (66); 49, 286 (300); 53, 224 (245); 62, 323 (330). 9 BVerfGE: 61, 358 (372); 31, 194 (205). 10 BVerfGE: 18, 97 (106).

30

Β. Terminologie: Die Arten der Familie

- Bei Stiefkindern liegt regelmäßig im Verhältnis zu einem Elternteil Blutsverwandtschaft im Sinne von § 1589 BGB vor. Das Verhältnis von Stiefelternteil zu Stiefkind, das rechtlich als Schwägerschaft zu definieren ist, soll wohl aufgrund der positiven Aspekte der Integration des Stiefkindes in eine vollständige Familie 1 1 in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt werden. - Adoptivkinder gelten demgegenüber mit ihren Adoptiveltern kraft einer gesetzlichen Anordnung als verwandt (§§ 1754, 1755 BGB). - Zumindest bei den Pflegekindern ist diese Anbindung an die die Verwandtschaft betreffenden Regelungen des bürgerlichen Rechts aufgegeben. Pflegekinder sind nämlich in der Regel (§ 27 Abs. 2 Nr. 2 JWG) nicht mit ihren Pflegeeltern verwandt. Lediglich in Bezug auf die Zeitspanne, für die die Familie besteht, ergeben sich entscheidende Unterschiede zur obigen Kernfamiliendefinition. Nach Auffassung des BVerfG scheiden die Kinder mit Erlangung der Volljährigkeit nicht aus dem in Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familienverband aus 12 . Dieses Modell einer lebenslänglichen Herkunftsfamilie der Mitglieder nähert sich damit der grundsätzlich lebenslänglichen ehelichen Gemeinschaft an. Obwohl die Kinder lebenslang der Herkunftsfamilie angehören, soll Art. 6 Abs. 1 GG keine erweiterte Familienform schützen 13 . Dies hat zur Folge, daß die Enkel mit ihren Eltern einer in Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familie angehören. Des weiteren gehören die Eltern weiterhin ihren jeweiligen Herkunftsfamilien mit ihren Eltern an. Die Großeltern und ihre Enkel bilden aber keine in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familiengemeinschaft. Graphisch kann diese Rechtsprechung

= Kernfamilie bestehend aus Grofleltern u. Vater od. Mutter = Kernfamilie bestehend aus Vater, Mutter, "Enkel"

Es gibt für das Verhältnis von drei oder mehr Generationen zueinander aber auch andere Familienmodelle und -begriffe.

n BVerfGE: 22, 163 (173). 12 BVerfGE: 57, 170 (178). 13 BVerfGE: 48, 327 (339).

IV. Die erweiterte Familie

31

IV. Die erweiterte Familie Hierbei handelt es sich um eine Familie von zwei oder mehrere (Kern-) familien, die miteinander absteigend oder aufsteigend verwandt sind 14 » 15 . Für die erweiterte Familie ist das Fortbestehen der Haushaltsgemeinschaft von Eltern und Kindern auch nach Heirat der Kinder charakteristisch. Man unterscheidet hauptsächlich zwei Formen der „erweiterten Familie": 1. Die Großfamilie (joint family)

Als Großfamilie w i r d eine Familienform bezeichnet, bei der die Brüder beim Tode des Vaters nicht auseinandergehen, sondern mit ihren Frauen und Kindern in ungeteilter Erbengemeinschaft auf gemeinsam besessenem Grund und Boden weiterleben 16 . Charakteristisch für diese Familienform ist, daß sie sich auf Verwandte in der Seitenlinie (Brüder,Vettern) erstreckt. Demgegenüber umfaßt die zweite Form der Großfamilie, die generationale Familie, lediglich Abkömmlinge eines Stammvaters 17 . 2. Die generationale Familie (generational family)

Sie umfaßt mehrere Generationen von Abkömmlingen eines Patriarchen, aber nicht die kollateralen Verwandten wie ζ. B. seine Brüder. Hierbei können in Bezug auf die Machtverteilung unter den Generationen zwei Arten der mehrgenerationalen Familie unterschieden werden. a) Die Stammfamilie Typisch für sie ist, daß das männliche Mitglied der ersten Generation die Familiengewalt und Vertretungsmacht innehat. Alle Abkömmlinge bleiben in dieser Familienform lebenslang vom Familienältesten abhängig. Der Prototyp dieser Herrschaftsform ist die Gestalt des „paterfamilias" im römischen Recht 18 .

14 E. Wallner/M. Pohler-Funke: S. 61. 15 Beispiel: Die Kernfamilie der Eltern und die durch Heirat des Sohnes gegründete Kernfamilie mit zugehörigen Kindern. 16 R. König: Staat und Familie in der Sicht des Soziologen, S. 56. 17 Im Rahmen dieser Arbeit wurde auf den Begriff der erweiterten Familie und nicht der Großfamilie abgestellt. Auch wenn mehrere Generationen zusammenleben, müssen ihre Mitglieder nicht so zahlreich sein, daß die Bezeichnung Großfamilie angebracht wäre. 18 R. König: Staat und Familie in der Sicht des Soziologen, S. 56.

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Β. Terminologie: Die Arten der Familie b) Die Mehrgenerationenfamilie

Hier ist die Kernfamilie innerhalb des Generationenverbandes als Substruktur erkennbar und jeweils ihrem Familienvater unterworfen. Die mittleren und späteren Generationen sind jeweils nur ihrem unmittelbaren Erzeuger untergeordnet. 3. Die modifizierte erweiterte Familie (modified extended family)

Der Begriff 19 geht von dem Modell der Kernfamilie aus. Im Unterschied zu Auffassungen, die von der „isolierten Kernfamilie" sprechen, umfaßt der Begriff der modifizierten, erweiterten Familie auch die Kontakte zu Verwandtschaftsnetzen. Sie umgeben die Kernfamilie und unterstützen sie auch in Notlagen. Weiter setzt der Begriff der modifizierten erweiterten Familie eine bestimmte Wohnordnung voraus. Man kann hier drei Alternativen unterscheiden, nämlich die Patri-, Uxori- und die Neolokalität 20 . a) Patrilokalität Sie liegt vor, wenn das Ehepaar oder die Kernfamilie den Wohn oder Lebensbereich der Eltern des Mannes als ihren Lebensmittelpunkt wählen. b) Uxorilokalität Dieser Begriff bezeichnet den gemeinsamen Lebensraum von Ehepaar oder Kernfamilie mit den Eltern der Frau. c) Neolokalität Hier begründet das Ehepaar oder die Kernfamilie einen eigenen, von den Eltern des Mannes oder der Frau getrennten Wohnsitz. Die modifizierte erweiterte Familie ist damit die aus der Herkunftsfamilie ausgezogene und neolokal (= an neuer Wohnstätte) lebende Kernfamilie, die mit der Verwandtschaft enge Kontakte und freundliche, sowie kooperative Beziehungen unterhält. Charakteristisch für diese Form der erweiterten Familie ist die getrennte Haushaltsführung der Kernfamilien der „Kinder" an einer neuen Wohnstätte. 19 Hierbei handelt es sich um eine Bezeichnung, die E. Litwak prägte. Nachweise bei H. Tyrell: Probleme einer Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der privatisierten modernen Kernfamilie, ZfS 1976, S. 393 (415). 20 Zu den Wohnformen der Kleinfamilie (S. 537, 548), der polygamen Familie (S. 551) und der erweiterten Familie (S. 553), M. Koschorke: Formen des Zusammenlebens in Deutschland, KZfSS 1972, S. 533.

VI. Die unvollständige Familie

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V. Die Kleinfamilie Die Begriffe Klein- und Kernfamilie werden juristisch oft synonym verwendet. Die Kleinfamilie entspricht aber nur einer historischen Phase der bürgerlichen Gesellschaft, in der Bürger die Kinderzahl vorübergehend klein hielten, um in dem neuen Industriesystem sozial aufzusteigen 21 . Der Begriff der Kleinfamilie orientiert sich damit an der Zahl der Mitglieder. Die Definition der Kernfamilie besagt demgegenüber nichts über die Anzahl ihrer Mitglieder. Die heutige Kernfamilie ist wohl eine Kleinfamilie; eine Aussage, die ζ. B. für die Kernfamilie des 16. Jahrhunderts so nicht zutrifft. Die Bezeichnung „Kleinfamilie" trifft auch keine Aussage darüber, wie die Rollenverteilung innerhalb der Familie erfolgt.

VI. Die unvollständige Familie Der Terminus „Unvollständigkeit" bezieht sich auf einen Ausfall im M i t gliederkreis der Familie 2 2 . Zwei Formen der unvollständigen Familie sind zu unterscheiden: 1. Die Restfamilie

Die Restfamilie entsteht, wenn einer oder beide Ehegatten durch Tod oder Scheidung aus dem bisherigen Familienverband ausscheiden. 2. Die Halbfamilie

a) Der Begriff Davon zu unterscheiden ist die aufgrund der Nichtehelichkeit der Kinder von Anfang an unvollständige Familie, die Halbfamilie. Denkbar sind hier folgende Fallkonstellationen: - Ein Elternteil lebt mit seinem nichtehelichen Kind zusammen; - zwei Eltern leben mit ihrem gemeinsamen nichtehelichen K i n d zusammen; - zwei Lebenspartner bringen eigene (nicht-) eheliche Kinder in ihre Beziehung ein und haben gemeinsame nichteheliche Kinder. 21 R. König in: Handbuch der empirischen Soziologie, S. 206. Diese terminologische Unterscheidung Königs ist unter dem Gesichtspunkt angegriffen worden (H. Rosenbaum: Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft, S. 97), daß König seine eigene Terminologie nicht konsequent einhalte. Dennoch soll hier an dieser Unterscheidung festgehalten werden. Damit soll einer Vermengung historischer Analysen einerseits und den Bestandteilen eines Familienbegriffs andererseits vorgebeugt werden. 22 R. König: ebd., S. 255.

3 Schmid

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Β. Terminologie: Die Arten der Familie b) Die Rechtsprechung des BVerfG

23

Die nichteheliche Mutter und das Kind sind für das BVerfG eine Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG 2 4 . Etwas zurückhaltender w i r d die Familieneigenschaft der Gemeinschaft von nichtehelichem Vater und Kind behandelt. „Jedenfalls das Zusammenleben von nichtehelichem Vater und K i n d " 2 5 soll als eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Gemeinschaft anzusehen sein. Inwieweit das bürgerlichrechtliche Unterhaltsverhältnis von nichtehelichem Vater und K i n d die Familieneigenschaft begründet, muß als in der Rechtsprechung des Gerichts offen angesehen werden. Auch wenn man bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit gemeinsamen Kindern nach einer Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG fragt, ergibt sich, ähnlich wie beim Lebenslänglichkeitsmodell des BVerfG, eine „Schnittmenge" :

V = Vater Κ = Kind M = Mutter

Das Kind ist hier also „Schnittmenge" zwischen der Mutter und der Vaterfamilie. In Fortführung dieses Gedankens wird in der Literatur angenommen, daß in Art. 6 Abs. 1 GG bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit gemeinsamen Kindern zwei Familien geschützt seien 26 , also zwei (Halb-)Familien. ΥΠ. Die sukzessive und die rekonstituierte Familie 1. Die sukzessive Familie

Im deutschen Eherecht ist die Polygamie, d. h. die Doppelehe, ungesetzlich (Doppeleheverbot des § 20 Ehegesetz). Dennoch führt die erhöhte Zahl von Scheidungen und Wiederverheiratungen nach der Verwitwung bei zunehmend steigendem Lebensalter zu einer sukzessiven Vielmännerei 23 24 25 26

Es soll an dieser Stelle lediglich ein grober Überblick gegeben werden. BVerfGE: 18 97 (106). BVerfGE: 56 363 (382). Th. Maunz in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 6 Rdn. 16 a.

VII. Die sukzessive und die rekonstituierte Familie

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(Polyandrie) bzw. Vielweiberei (Polygynie). Die Anzahl der Personen, die im Laufe ihres Lebens mehrere „Zeitehen" eingehen, nimmt zu. Unter dem Begriff „sukzessive Familien" sollen die „neuen" Ehegatten (Wiederverheiratung) und ihre in diesen Ehen geborenen Kindern im Verhältnis zu vorherbestehenden Familiengemeinschaften behandelt werden. Die Kinder aus verschiedenen (ehelichen) Beziehungen einer Person sind blutsmäßig miteinander in der Seitenlinie verwandt; sie sind also Halbgeschwister im Sinne von § 1589 BGB. Generell wird nach der Rechtsprechung des BVerfG die spätere Familie auf dem Boden und mit der Hypothek der früheren Familie gegründet 27 . 2. Die rekonstituierte Familie

Hier ist zwischen zwei Fallkonstellationen zu unterscheiden: - Wenn nur einer der Ehegatten Kinder mit in die Beziehung bringt, dann sind diese mit dem Stiefelternteil verschwägert. - Wenn beide Ehegatten Kinder in die Beziehung einbringen 28 , dann sind diese mit dem Stiefelternteil verschwägert. Mit den vom Stiefelternteil stammenden Kindern sind sie aber weder verwandt noch verschwägert. Das BVerfG 29 zählt auch Stiefkinder zur Familie. Der Begriff Stiefkind findet sich in keiner Vorschrift des (bürgerlichen) Rechts; geschweige denn, daß das Gericht selbst erklärt, ob alle Halbgeschwister „Stiefkinder" sind oder nur diejenigen, die innerhalb der mit dem (neuen) Ehepartner gegründeten Lebensgemeinschaft leben. Dies liegt aber von der Wortbedeutung nahe, da das Kind „Stiefkind" nur im Verhältnis zum Stiefeiternteil ist und ein solches Zusammenleben gerade vorausgesetzt wird. Auch hatte das Gericht bisher keinen Anlaß, zwischen Stieffamilien zu unterscheiden, die infolge von Verwitwung oder Scheidung entstanden waren. Im letzteren Fall existiert ein Elternteil, dessen elterliche Sorge „anwartschaftsähnlich" ruht (§ 1680 Abs. 2, 1681 Abs. 1 S. 2 BGB). Eine Förderung der Stiefelternschaft kann hier zu Lasten der natürlichen Elternschaft und vielleicht der weiterbestehenden Erstfamilie gehen. Ob durch die Scheidung die frühere Familie mit der „Familiengemeinschaft" aufgelöst wird, ist bisher vom BVerfG noch nicht eindeutig entschieden 30 worden. Jedenfalls die Kindeseigenschaft gegenüber beiden Eltern behalten die Kinder auch nach der Scheidung 31 . 27

BVerfGE: 66 84 (96). Mit Ausnahme der von einem Ehegatten adoptierten Kinder, die mit dem anderen Ehegatten weder verwandt noch verschwägert sind, siehe hierzu: A. Sandhop: Stief eitern: Eine soziologische Analyse der „rekonstituierten" Familie, S. 22. 29 BVerfGE: 45 104 (123). 30 BVerfGE: 31 194 (204). 28

3*

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Β. Terminologie: Die A r t e n der Familie

Wenn man die Restfamilie durch Art. 6 Abs. 1 GG schützen will, bleibt offen, ob das Kind durch (zeitweiligen) Wechsel in die Beziehung mit dem Stiefelternteil aus der (Rest-)Familie ausscheidet. Andernfalls könnte eine Zugehörigkeit zu zwei Familien bestehen. Dann würde es sich um eine Anbindung an zwei auch verwandtschaftlich begründete Personengemeinschaften Verbindungen handeln. V I I I . Die (Alternativ-) Familie

Untersuchungen über amerikanische Wohngemeinschaften ergaben eine weite Skala unterschiedlich motivierter Lebensgemeinschaften zwischen Erwachsenen und Kindern 3 2 . Im Blickpunkt dieser Arbeit sollen nur solche Wohngemeinschaften stehen, die sich selbst als Alternativfamilien begreifen, d. h. die in einer Erweiterung traditioneller Familienrollen den Schlüssel zu einer Neubelebung des Familienlebens sehen 33 . Eigentümlich ist diesen Gruppen ein hoher Organisationsgrad - die Sorge um Kinder wird als gemeinsame begriffen - und eine in anderen Lebensformen nicht registrierbare Stabilität; dies ergab auch eine Untersuchung von Wiener und Münchner Wohngemeinschaften 34 . Schlechtere Sozialisationserfolge können diesen Gruppen - mangels Vergleichbarkeit und statistischer Erfassung - von vornherein nicht zugeschrieben werden. Es fehlt aber gerade aufgrund der Individualität der jeweiligen Lebensform an einem Anknüpfungspunkt für die rechtliche Regelung der über das Individuum hinausgehende Personengesamtheit 35. Im Rahmen dieser Personengruppen können deshalb lediglich ζ. B. die miteinander verwandten Personen als rechtlich erfaßbare Substrukturen - die Kernfamilien - geschützt werden.

BVerfGE: 31 194 (208). B. Zablocki: Alienation and Charisma, A Study of Contemporary American Communes in New York, 1980, S. 226 ff, 242 ff. 33 Ebd., S. 242 f. 34 E. Haider: Kollektive Wohnformen, Ergebnisse einer Analyse von Wiener Wohngemeinschaften, Wien, 1976. 35 Zur Vielgestaltigkeit dieser Lebensformen siehe H. Schenk: Wir leben zusammen - nicht allein, Köln, 1984, S.103, wo eine Wohngemeinschaft als Zusammenschluß von Kleinfamilien geschildert wird. Erfahrungsberichte und Einblicke hierzu liefern: J. A. Schülein: Kommunen und Wohngemeinschaften: Der Familie entkommen? Gießen, 1978 und Kommune 2, Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums, S. 68 ff, Luxembourg, 1975. 32

C. Verbaler Auslegungsansatz: die Etymologie des Wortes „Familie" Für die Universalität der Lebensform Familie spricht, daß ihr Name mehr oder weniger unverändert in einer Vielzahl von Sprachen auftaucht. Von der türkischen „familja" 1 bis zur englischen „family" finden sich viele ähnlich klingende Bezeichnungen für Personengemeinschaften, Frauen, Kinder und/oder Diener. Ein Ausgangspunkt des Familienbegriffs ist wahrscheinlich das lateinische „familia". I. Der Bedeutungsgehalt des Wortes „familia"

Über den Ausgangspunkt der verschiedenen Bedeutungen des Wortes und der Reihenfolge ihrer Entstehung herrscht Unklarheit. Zwei unterschiedliche Bedeutungsvarianten sind erkennbar, nämlich zum einen eine bodenbezogene und zum anderen eine personenbezogene Bedeutung von „familia". Wenn „familia" von dem oskischen Wort „famel" (entspricht von der Wortbedeutung dem lateinischen servus = Sklave) abstammt, dann ist „familia" das von den „famuli" verwaltete Besitztum. Neben dieser bodenbezogenen Bedeutung wurde „familia" dann im Laufe der Zeit auf den Inbegriff der Menschen, die auf diesem Boden lebten, ausgedehnt 2 . Dies geschah zuerst in Bezug auf die „famuli" und dann auf alle Personen, die durch ihre Abstammung vom selben Stammsitz miteinander verbunden waren. Zentrum der „familia" war nach dieser Ansicht das Landgut, also die Standortbestimmung innerhalb einer agrarischen Gesellschaftsordnung. Erst allmählich werden alle Personen, die eine gemeinsame Bodenzugehörigkeit haben, als personenrechtlicher Familienverband bezeichnet 3 . Es wird aber auch eine Doppelbedeutung von „familia" im Sinne eines Oberbegriffes für „res" und „personae" angenommen. „Familia" sei nämlich alles, was beim census anzugeben sei. Hierzu gehöre bei einem Landgut sowohl das sachliche als auch das persönliche Inventar. 1 W. Meyer-Lübke: Romanisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg, 1935, S. 277. 2 Georg Wissowa: Paulys Real-Encyclopädie („RE"), Stuttgart, 1909, 6/2, Sp. 1983 f. 3 Ebd.

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C. Verbaler Auslegungsansatz: die Etymologie des Wortes „ F a m i l i e "

Es kann aber dahinstehen, ob „familia" primär oder sekundär einen personenrechtlichen Einschlag hatte. Jedenfalls ist die Verwendung von „familia" als Bezeichnung für einen schollenverwurzelten Personenverband schon bei den Römern gesichert. I I . D i e Verwendung des Wortes „Familie" in der deutschen Rechtssprache

In Deutschland ist die „familia" als Nominativ und der Plural „Familien" seit dem 16. Jahrhundert vereinzelt 4 nachweisbar 5 . Im 17. Jahrhundert hat man sie als Fremdwort vielleicht noch französisch ausgesprochen 6»7. Vielleicht ist dies auch typisch für ein Bürgertum, das sich bewußt von der Lebensform des deutschen „Hauses" distanzieren wollte. Der Hausbegriff war bis dahin die verbreitete und gängige Bezeichnung für das, was w i r im Alltagsleben als Familie bezeichnen. Zum Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist die „Familie" dann mit „Macht allenthalben eingedrungen" 8 . Als Bedeutungsgehalte für die „Familie" der damaligen Zeit sind feststellbar: „Familie" zum einen als Bezeichnung für - die weitere oder engere, erbberechtigte Verwandtschaft, die Dynastie oder das Geschlecht (vor allem für den Adel) 9 ; - „Weib und K i n d " 1 0 ; - das Objekt der hausväterlichen Gewalt, also Personen und Sachen auf dem ihm gehörenden Grundstück. Hierzu zählen ζ. B. die Dienerschaft und/oder bisweilen die Kinder, manchmal sogar die Ehefrau. Im Unterschied zum aristotelischen Hausbegriff, der das Haus als Strukturelement 4 D. Schwab in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Berlin, 1964 1971, Sp. 1067. 5 Trübners Deutsches Wörterbuch, 2. Bd., Berlin, 1940, S. 289. 6 Friedrich Kluge/Alf red Götze: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin, 1951, S. 189. 7 Im Spätmittelalter bezeichnet „famille" „sowohl die Dienerschaft als auch die Gemeinschaft der durch Ehe oder Verwandtschaft verbundenen, und unter dem selben Dache lebenden Personen" (D. Schwab in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 268). Auch die französische „famille" hat zwei Bedeutungsinhalte: das „Haus" auf der einen, das mit der älteren Vokabel „maison" benannt wird, und die Verwandtschaft auf der anderen Seite. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wird denn auch zum Teil diffizil zwischen „maison" als Einzelfamilienbegriff und „famille" als Verwandtschaftsbegriff unterschieden. Zusammenfassend läßt sich jedoch feststellen, daß aus der französischen Wurzel der „Familie" keine neuen BedeutungsVarianten erwachsen. 8 Jakob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 3. Bd., Leipzig, 1862, Sp. 1305. 9 D. Schwab in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 269. w F. Kluge/A. Götze: Fn. 6, S. 189.

II. „ F a m i l i e " i n der deutschen Rechtssprache

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der „polis" begreift, soll „Familie" im deutschen Recht den Hausherrn selbst nicht einbezogen haben 11 . Deshalb besteht die „Familie" auch nach dem Tode des Hausherrn fort 1 2 , da das Landgut auch nach dem Tode des Hausherrn in seiner Gesamtheit weiterbesteht. Indes darf bezweifelt werden, ob „Familie" in dieser Aussage wirklich nur die Personen- und Sachgesamtheit unter Ausschluß des Familienvaters bezeichnet. Die den Tod des Hausherrn überdauernde „Familie" könnte nämlich auch die durch Nachkommen weiterbestehende „Familienverwandtschaft" bezeichnen; deren Mitglied auch der Hausvater ist. Bereits hier zeigt sich, wie schwer unterschiedliche Familienbedeutungen inhaltlich zu trennen sind. Zusammenfassend feststellbar ist, daß „Familie" sowohl als Bezeichnung für die „Einzelfamilie" als auch für die Abstammungsverwandtschaft nachweisbar ist. Erkennbar ist weiterhin, daß „Familie" als Bezeichnung für die „Einzelfamilie" (entspricht einer engeren Bedeutung) in Konkurrenz zum „Haus"-Begriff tritt. „Familie" w i r d dann in der Folge allgemein übliche Bezeichnung für das „Haus", während das „Haus" nur noch das adelige Geschlecht, die adelige „Familie" bezeichnete („aus guten Hause") 13 . Der Hausbegriff der Ökonomik und des Naturrechts wird also als „Familienbegriff" fortgeführt, das „Haus" wird dagegen zur „Veste der Familie" 1 4 . Da diese Sinngabelung am Ende des 18. Jahrhunderts vollzogen ist, sind Tendenzen, die Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts plötzlich wieder von „Haus" anstelle von „Familie" sprechen, schon durch den bloßen Wortgebrauch als restaurativ erkennbar. Ein berühmter Vertreter dieser neuen „Hauslehre" war W.H. Riehl. Er sah die „Familie" in einer Krisen- und Auflösungssituation begriffen, die durch Aufklärung, Liberalismus, Egalitarismus und industrielle Entwicklung verursacht war. Die Rückkehr zur patriarchalisch-autoritären Struktur der „stabilen" Familie wurde von diesem konservativen Sozialreformer als Lösungsmodell für die Entfremdung von Mensch und Umwelt propagiert 15 . Ein aktuelles Beispiel, wie sich bestimmte Familienauffassungen bereits durch die Wortwahl zuordnen lassen, ist die Verwendimg des Großfamilienbegriffs, der die Vorstellung eines intimisierten Zusammenlebens mehrerer Generationen und die Übernahme von Pflegetätigkeiten im Alter suggerieren soll 1 6 .

11

D. Schwab: Fn. 9, S. 269. 12 Zedier Bd. 9 (1735), S. 205, zitiert nach D. Schwab: ebd., S. 269. » Ebd., S. 271. " Ebd., S. 270. 15 E. Wallner/M. Pohler-Funke: Soziologie der Familie, S. 14. 16 Inwieweit diese Annahme den Tatsachen gerecht wird, siehe unter Kapitel F.

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C. Verbaler Auslegungsansatz: die Etymologie des Wortes „ F a m i l i e " I I I . Zusammenfassung: Das Ergebnis der etymologischen Auslegung

Aufgrund des Obengesagten läßt sich feststellen, daß die etymologische Abstammung der Wortes „Familie" keine Antworten auf die strukturelle Verfaßtheit, die Zahl der Mitglieder und die Funktionsweise der „Familie" zu geben vermag. Aus heutiger Sicht macht die Verbindung des Familienbegriffs mit der vorindustriellen „Familienform" des „Hauses" jede etymologische Herleitung inhaltlicher Aussagen darüber, was „Familie" sein kann, soll und ist, unmöglich. Wenn wir von „Familie" sprechen, meinen w i r vorrangig die privatisierte „Kernfamilie", eine Familienform, die sich durch eine bewußte Zuwendung zu Kindern und einen hohen Grad gelebter Intimität auszeichnet 1 7 . Ob die frühere „Familie", nämlich die „Hausfamilie", noch in den bäuerlichen Familienformen weiterlebt, wird festzustellen sein. Auch in der Gegenwart umfaßt der Begriff der „Familie" die Verwandtschaft einer Person. Welche Rolle die Verwandtschaft, das Geschlecht, als umfassendere oder antagonistische Familienform im Verhältnis zur Einzelfamilie spielt, muß geklärt werden; nämlich ob sie die größere Familie oder bloßes, nicht eigenwertiges Tatbestandsmerkmal der Entstehung einer Familie ist. Etymologisch betrachtet können jedenfalls zumindest männliche Verwandtschaftsbezeichnungen eine größere Kontinuität in Bezeichnung und Bedeutung für sich beanspruchen als die „Familie" 1 8 . Gegensätzlich könnten sich „Familie" und die weitere Verwandtschaft gegenüberstehen, wenn die Einzelfamilie durch die hohe Intimität ihrer Mitglieder einen Familienprimat beanspruchen kann. Als dritter, grundsätzlicher Komplex wird das Problem der „Restfamilie" zu erörtern sein; d. h. derjenigen Personengruppen, die in erhöhtem Maße auf ökonomische Hilfeleistung von Familienexternen angewiesen sind und damit wirtschaftlich nicht autonom sind. Dies gilt ζ. B. für eine Witwe mit unmündigen, kleinen Kindern. Die Vielfältigkeit bzw. Unterschiedlichkeit der unter „Familie" subsumierbaren Beziehungs- und Lebensformen muß deshalb zu einer differenzierten Betrachtungsweise zwingen. Deshalb sollen in einem historischen Vergleich - die Begründung und das Ende der Familienzugehörigkeit durch Ehe, Verwandtschaft, Adoption und Vertrag ( Pflegekind); - die Auswirkung der Familienzugehörigkeit auf den einzelnen und die Dauer derselben; 17

H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: Familie in der Gesellschaft, S. 135. Ernst Erhard Müller: Großvater - Enkel - Schwiegersohn, Heidelberg, 1979, S. 45, 121 ff. 18

III. Zusammenfassung: Das Ergebnis der etymologischen Auslegung

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- und die Stellung der Familie im Verhältnis zur größeren oder anderen Einheit - dem Staat oder der Gesellschaft - in der jeweiligen Rechtsordnung der Römer und Germanen, in den Familienauffassungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts (1794), des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1896), der Weimarer Reichsverfassung (1918) und im nationalsozialistischen Ehe- und Familienrecht dargestellt werden.

D . Die Familie als Gegenstand des römischen, germanischen, preußischen und nationalsozialistischen Rechts I. Die Ahistorizität der Familie?

In der hohen Intimität der heutigen Kernfamilie liegt der Ansatzpunkt für einen Streit, der in der Soziologie und nicht in der Jurisprudenz ausgetragen wird. Ist die heutige Familie überhaupt im Wege einer historischen Betrachtungsweise erschließ- und definierbar? Die etymologische Analyse hat vielleicht nur ergeben, was historische Wirklichkeit ist; nämlich das Fehlen einer kontinuierlichen Familienentwicklung. Wenn Außeneinflüsse, angefangen von - der durch Einführung der Geldwirtschaft Schritt für Schritt erzwungenen Ablösung der Feudalherrschaft; - der industriellen Revolution; - bis zur Pille, die erstmals dem Individuum die Chance gab, selbstverantwortlich über das „Ob" und die Größe seiner Familie zu entscheiden; die Lebensform „Familie" so geprägt haben, daß kontinuierliche, inhaltliche Strukturen und Definitionsmerkmale nicht erkennbar sind, dann w i r d eine historische Betrachtungsweise für die Suche einer Definition der Familie keine unmittelbaren inhaltlichen Schlußfolgerungen zulassen. Auch das Ergebnis, daß Familie nur ein Analogon zur jeweiligen Staatsund Gesellschaftsform ist und über keine eigene inhaltliche Autonomie und Identität verfügt, rechtfertigte indes die Überprüfung.

Π . D i e „familia" der Römer

Herkömmlicherweise werden drei Zeitperioden des römischen Privatrechts unterschieden: Das altrömische, das vorklassische und das klassische Recht 1 . Dabei kennt das römische Staats- und Gesellschaftsleben wie die aristotelische Ökonomik eine Begriffstrias: Die „res publica", die „gentes" und die „familia". Über das historische und theoretische Verhältnis dieser drei Gemeinschaftsformen zueinander sind die unterschiedlichsten Mutmaßungen angestellt worden. Ausgehend von der Definition des Aristoteles, 1

Siehe weiter M. Käser: Römisches Privatrecht, S. 1 ff.

II. Die „ f a m i l i a " der Römer

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daß der Mensch ein „von Natur staatenbildendes Wesen und der Staat, der alle anderen umfassende und an Leistungsfähigkeit überragende soziale Verband ist, der anders als die übrigen durch sich selbst bestehen kann" 2 wollte man den Staat als originäre Gesellungsform des Menschen begreifen 3. Jedenfalls läßt sich während der drei Zeitepochen bereits ein viertes Element in der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung ausmachen, nämlich der einzelne Rechtsträger. Deutlich w i r d dies am Beispiel des Unterhaltsrechts. I n altrömischer Zeit standen alle Mitglieder eines Familienhaushaltes unter der patria potestas des paterfamilias. Entsprechend der Aufteilung von res publica, gentes und familia in bestimmte Zuständigkeitsbereiche, stand dem Vater auch ein „jus vitae ac necis" über die seiner Gewaltunterworfenen zu. Bereits in klassischer Zeit - im zweiten nachchristlichen Jahrhundert - ergehen mehrere kaiserliche Reskripte, in denen eine Unterhaltsverpflichtung und ein korrespondierendes Recht des Sohnes auf Unterhaltsgewährung vom Vater bestimmt werden 4 . Bereits hier tritt neben die Ganzheit der familia eine qualifizierte Beziehung zweier Familienmitglieder zueinander. Diese einzelne Beziehung war von Rechts wegen aus der ganzheitlichen Macht des Familienvaters herausgelöst worden; sie wurde damit zumindest teilweise zur Verantwortung. Für diese Verantwortung hatte der paterfamilias vor familienfremden Personen - der öffentlichen Meinung und den Gerichten einzustehen. Weitere Ausführungen über die Geschichte der römischen res publica müssen zugunsten der Kürze der Darstellung entfallen. Im Folgenden sollen aber die „gentes" und die Entwicklung der römischen Familie bzw. der augusteischen Familienpolitik kurz dargestellt werden. 1. Die gentes

Als älteste Gemeinschaftsformen - etwa auf der Stufe der einwandernden Italiker - werden größere Personenverbände geschichtlich überliefert. Ob es sich hierbei um die gentes oder andere Agnat en-Verbände gehandelt hat, ist eindeutig nicht mehr nachweisbar 5 . Den Begriff der „gentes" kennen w i r aus dem öffentlichen und staatlichen Leben in Rom. Die Aufgaben der gentes im staatlichen Leben bestanden in der Verfolgung von Zielen im Senat, der Führung von Kleinkriegen und der Existenz als Kultverband mit eigenen Gottheiten. Ihrem Wesen nach steht die gens demnach der germanischen „Sippe" als Verwandtenverband nahe. Die gentes hatten in altrömi2

Eduard Meyer: Die Geschichte des Altertums, 1. Bd., Darmstadt, 1953, S. 10 ff. Ebd., S. 9. 4 E. Krause: Die gegenseitigen Unterhaltsansprüche zwischen Eltern und Kindern in der deutschen Privatrechtsgeschichte („Unterhalt"), S. 12. 5 M. Käser: Das römische Privatrecht („RPR"), 1. Band, S. 22. 3

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D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

scher Zeit eine bedeutende politische Rolle gespielt, sie aber schon in der frühen Republik mit dem Erstarken der Staatsgewalt verloren. Rechtlich kennen wir die gentes aus den Zwölftafelgesetzen. Die Gentiles waren hier nach den Agnaten zur Vormundschaft, Pflegschaft und Intestaterbfolge berufen. Ihnen fiel es also anheim, den Ahnenkult der Familie zu pflegen. Die Bedeutung der gentes ging im Laufe der Jahrhunderte zurück, im zweiten Jahrhundert nach Christus war nur noch ein Drittel ehemaliger gentilizischer Geschlechter vorhanden. Dieser Sachverhalt drückt sich auch in einer ζ. T. synonymen Verwendung von „gens" und „familia" in klassischen Texten aus6. Woher die gentes kamen und wie sie sich ursprünglich zusammensetzten, ist nicht eindeutig nachweisbar. Als Strukturprinzip oder/und Zeitpunkt ihrer Entstehung werden verschiedene Alternativen diskutiert. Waren die gentes eine - Föderation kleiner Personengruppen vor Gründung der Stadt (753 v. Chr.), - ein natürliches Ergebnis der blutsmäßigen religiösen oder wirtschaftlichen Verbundenheit von Personen, oder - ein künstlicher und später Zusammenschluß eines Interessenverbandes? Die Verbände mehrerer Familien, die sich selbst auf einen gemeinsamen Stammvater (pater gentis) zurückführen und einen gemeinsamen nomen gentile führen, 7 haben jedenfalls später das Bewußtsein einer Blutsverwandtschaft verloren. Die gemeinsame Abstammung ist hier nur noch Fiktion. Die gentes wurden erwähnt und dargestellt, um bereits für die frührömische familia das Verhältnis von Staatsentstehung und Familie darzustellen. So gibt es auch hier die Meinung, daß der staatlichen Macht Familienverbände vorausgegangen waren. Die große Macht des Familienvaters über die Familienangehörigen stellt sich aus dieser Sicht als Relikt einer vorstaatlichen Macht dar. Wenn man aber mit einem hohen Alter der römischen Staatsgemeinde rechnen muß, dann wird dieser politische Charakter der gentes und familiae in Frage gestellt 8 . Bezieht man in diese Analyse die Machtausstattung des paterfamilias ein, dann ergeben sich mehr Anhaltspunkte für die Annahme, daß die familia mit ihrer personalen und funktionalen Abgrenzung zur civitas ohne Dazwischentreten der gens funktionsfähig war, die einzelne Familie sich also früh aus der staatlichen und verwandtschaftlichen Umklammerung zu lösen vermochte. 6

J. Gaudemet: Reallexikon für Antike und Christentum („RAC 7"), Sp. 321. M. Käser: RPR I, S. 22, 53. β M. Käser: RPR I, S. 56. 7

II. Die „familia" der Römer

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2. Die „familia"

a) Der Bedeutungsgehalt des Wortes „familia" Das Wort „familia" hatte in der Rechtssprache drei Bedeutungen. Es bezeichnete so unterschiedliche Sachverhalte wie den Hausstand als Ganzes mit den zugehörigen Personen und Sachgütern, einen Verband freier Personen oder lediglich das zum Haus gehörende Vermögen 9. Im ersteren Sinne war „familia" demnach eine Bezeichnung für ein komplexes Lebensverhältnis, das als Oberbegriff so verschiedenartige Beziehungen wie die des Hausherrn zu seiner Frau, seinen Kindern, den Sklaven und den Freigelassenen, erfaßte. Mit leiblicher Vaterschaft oder Verwandtschaft der Familienmitglieder kann nur ein Teilausschnitt dieses Lebenssachverhalts umschrieben werden 10 . Bereits bei der Verwendung von „familia" in der Rechtssprache wird deutlich, daß der Familienbegriff originär mehrdeutig ist. Umso mehr muß sich das Interesse auf das Charakteristikum der römischen Familie, nämlich die in frührömischer Zeit unbeschränkte Macht des Familienältesten konzentrieren. b) Die patria potestas Aus der Übersetzung des Begriffs „familia" geht bereits hervor, daß die zentrale Gestalt der familia der Herrscher des Hauses, der paterfamilias, war. Seine Macht über lebendes „Inventar" hatte den Namen patria potestas. Die Besonderheit der patria potestas bestand anfangs in der sachlichen und zeitlichen Unbeschränktheit der Herrschaftsmacht. Sie umfaßte die ausschließliche Züchtigungs- und Strafgewalt (ius vitae ac necis) über die Familienmitglieder. Da die Frau, die Kinder und die Sklaven zivilrechtlich nicht geschäftsfähig waren und deshalb vor den Rechtspflegeorganen keine Ansprüche gegenüber dem Mann und Vater einklagen konnten, konnte die familia auch nicht mittelbar aus dem Familieninneren staatlicher Einmischung geöffnet werden. Der paterfamilias allein war zur Vertretung der Familie und ihrer Mitglieder nach außen befugt. Auch von außen konnte die Schwelle des Hauses und damit des örtlichen Geltungsbereichs der patria potestas vom Staat nur überschritten werden, wenn es sich um übergeordnete Gesamtinteressen wie z. B. den militärischen Schutz oder die Verehrung gemeinsamer Gottheiten handelte.

9 M. Käser: RPR I, S. 50. 10 Sandro-Angelo Fusco: Familie und Erziehung in der römischen Antike, S. 10 f in Heinz Reif (Hrsg.): Die Familie in der Geschichte, Göttingen, 1982.

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D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

Das einzelne Familienmitglied konnte damit von der res publica keinen Beistand gegenüber Mißbräuchen des paterfamilias erwarten. Die Ahndung solcher Mißstände blieb sakralen Strafdrohungen, censorischer Rüge und damit der öffentlichen Meinung vorbehalten. Neben der sachlichen Unbeschränktheit der Bestimmungsgewalt des Patriarchen fehlte es auch an einer rechtlichen Grenze für den Zeitraum der Unterworfenheit. Die patria potestas war lebenslang - bis zum Tode des Stammvaters unterlagen ihr die Kinder 1 1 . Ursprünglich korrespondierten mit den Rechten des paterfamilias keine Verpflichtungen 12 . Die Unterhaltspflicht wurde erst im Laufe der Zeit aus der pietas gegenüber den Ahnen, deren Verehrung eine der Hauptfunktionen der römischen familia war, entwickelt 1 3 . Von der frührömischen bis zur klassischen Zeit w i r d dieser Grundsatz durch die Anerkennung einer Unterhaltspflicht des paterfamilias gegenüber Kindern, später der Mutter gegenüber den Kindern und dann der Kinder gegenüber dem paterfamilias und der Mutter durchbrochen. Dieser rechtlichen Inpflichtnahme des paterfamilias scheint ein Wandel der öffentlichen Meinung vorangegangen zu sein. So wurde z. B. der paterfamilias, der von seinem Bestimmungsrecht über die Kinder unangemessen Gebrauch machte, hierfür nicht mehr öffentlich belobigt. Auch wurde vielleicht als Resultat der Erfordernisse einer städtischen Lebens- und Wirtschaftsform - die selbständige Vermögensfähigkeit der Haussöhne in klassischer Zeit zunehmend anerkannt. In einem städtischen Leben wird auch die schollengebundene, agrarische Wirtschaftsform mit dem gemeinsamen Haushalt aller Generation obsolet. Der Begriff „familia" kann jetzt deshalb auch Kernfamilien bezeichnen, die vorher unter der einigenden Macht der patria potestas als Untergruppen innerhalb der Stammfamilie nicht scharf abgegrenzt waren. Über die Kernfamilie hinaus bezeichnete „familia" auch den Inbegriff der Personen, die durch agnatische Verwandtschaft miteinander verbunden sind und zwar nachdem der gemeinsame paterfamilias gestorben war 1 4 » 1 5 .

11 Söhne konnten entweder durch den Tod des Vaters, durch Adoption oder emancipatio (eine förmlichen Aufgabe der patria potestas durch den paterfamilias) von der patria potestas des paterfamilias frei werden. 12 Anders als der germanische Muntwalt haftete der paterfamilias auch nicht für Verfehlungen der Familienmitglieder. » E. Krause: „Unterhalt", S. 12. 14 M. Käser: RPR I, S. 50; J. Gaudemet: RAC 7 (1969), Sp. 320 f. 15 Diese erweiterte Bedeutung von „familia" wird dem Sachverhalt einer Familienerbengemeinschaft (consortium), die den Namen „ercto non cito" trägt (M. Käser: RPR I, S. 99), gerecht. Das Besondere an dieser Gemeinschaftsform, die es agnatischen Miterben gestattete, gemeinsam das Haus- und Familienerbe zu verwalten und hieraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, war die gemeinschaftliche Ausübung der Familiengewalt. Innerhalb der ercto non cito waren die durch den Tod des Erblassers entstandenen Kernfamilien (familia proprio iure), die um einen paterfamilias gruppiert waren, deutlich abgegrenzt.

II. Die „ f a m i l i a " der Römer

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c) Die Familienzugehörigkeit aa) Die Blutsverwandtschaft Durch die Auflösung der Familienganzheit - der Regelung von Pflichten und Rechten einzelner Familienangehöriger - war es notwendig, eine personelle Bestimmung dieser Rechts- und Pflichtenträger zu treffen. Hier bot sich ein Anknüpfen an das Merkmal des „Zusammenlebens" oder an die „Blutsverwandtschaft" an. Vordergründig hat das „Zusammenleben" eine größere Publizität als die nicht immer ins Auge springende „Blutsverwandtschaft". Bei einem städtischen Leben - einer beginnenden Erkennbarkeit der Kernfamilie infolge der zunehmenden Emanzipation des „Familienvaters" vom paterfamilias - ist der Tatbestand des Zusammenlebens als Grundlage einer Unterhaltsverpflichtung weniger geeignet: zum einen können sich Wohnungen ändern, zum anderen bedeutet auch die Überprüfung der Wohnverhältnisse ein Eindringen in die Lebensverhältnisse einer Familie. Weiter sind die Rechtsbeziehungen des paterfamilias zu den in seinem Haus lebenden Personengruppen wie Kindern, Sklaven usw. so unterschiedlich, daß das „Zusammenleben" kein sachgemäßes Zuordnungskriterium ist. Das der „Blutsverwandtschaft" zugrundeliegende „Veranlasserprinzip" eignete sich - jedenfalls in Bezug auf die Eltern-Generation - zur Begründimg einer Unterhaltspflicht besser. Mit dieser anderen Bedeutung von familia (Verwandtschaft) hängt auch die Bejahung einer Familienzugehörigkeit neolokal wohnender Söhne und ein Abstellen auf die Blutsverwandtschaft der einzelnen Mitglieder zusammen. Ulpian 1 6 drückt dies mit folgenden Worten aus: „Item appelatur familia plurium personarum quae ab eiusdem ultimi genitoris sanguine profiscuntur." Zur Kaiserzeit konnte also unter „familia" entweder die Kernfamilie (Vater, Mutter und ihre Nachkommen) oder die große Gruppe all derer, seien es Nachkommen oder Seitenverwandte, die einst tatsächlich der gleichen patria potestas unterstellt waren (Bruder und Schwester, Onkel, Neffen, Vettern) bezeichnet werden 17 . Die Definition Ulpians wird indessen als lükkenhaft kritisiert. Das Recht der Adoption mache die Geburt „ab eiusdem ultimi genitoris sanguine" nicht zum einzigen Entstehungsgrund der Familie. Hierbei ist zu ergänzen, daß die Adoption im römischen Familienleben eine weitaus bedeutendere Rolle spielte als heutzutage. Grund hierfür war der religiöse Ahnenkult, der neben oder vor der agrarisch bedingten, wirtschaftlichen Funktionszuweisung an die familia von großer Bedeutung für den Römer war. Die Achtung vor den Ahnen verpflichtete zur Zeugung von 16 17

Dig 50, 16, 195, 4. J. Gaudemet: RAC 7 (1969), Sp. 320 f.

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D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

Kindern. Anders konnten die Pflege der Ahnenschreine und die Gebete für die Ahnen in der nächsten Generation nicht gewährleistet werden. Blieben solche leiblichen Nachkommen aus, so wurden Adoptionen angestrebt 18 . Auch die Geburt selbst reichte bei einem innerhalb einer legitimen Ehe (iustum matrimonium) geborenen Kind zur Begründung einer Familienzugehörigkeit nicht aus. Es bedurfte vielmehr einer Annahme durch den Vater (tollere liberos) - auch bei den Germanen w i r d grundsätzlich ein Aufheben des Kindes vom Boden verlangt 19 . Zur familia gehörten neben den Blutsverwandten auch die Sklaven und Freigelassenen. Ulpians Definition ist also auch hier zu ungenau. Die Kanzlei Iustinians definierte ζ. B. familia: „Parentes et liberos, omnesque propinquos et substantiam, libertus etiam et patronos nec non servus" 20 . bb) Die Formen der Verwandtschaft Zwei Formen der Verwandtschaft, nämlich „agnatio" und „cognatio" können unterschieden werden. Gaius 21 bezeichnet „agnatio" als Verwandtschaft, die durch das männliche Geschlecht und „cognatio" als Verwandtschaft, die durch das weibliche Geschlecht vermittelt wird. Ungeklärt bleibt bei dieser Definition, warum der Adoptierte, der mit dem Annehmenden nicht verwandt war, als „Agnat" bezeichnet wurde. Um auch seine agnatische Abkunft erklären zu können, w i r d angenommen, daß der Anknüpfungspunkt für die agnatio die Unterworfenheit unter die patria potestas und nicht die Blutsverwandtschaft gewesen ist. Die Richtigkeit dieser Auffassung bestätigt sich auch im Hinblick auf die Einordnung des Sohnes, der sich vom Vater emanzipiert hatte. Auch er wurde nicht als Agnat bezeichnet, obwohl seine durch die männliche Linie vermittelte Verwandtschaft außer Zweifel stand. An der Bedeutung von agnatio als durch Männer vermittelter Verwandtschaft ist aber in einer Hinsicht festzuhalten: Aufgrund des Rechtssystems der Römer, welches Rechte nur Männern zugestand - die Frau hatte die Stellung einer Tochter des Mannes und war als solche nicht rechtsfähig - konnte die agnatische Zugehörigkeit nur durch 18 Zur Bedeutung römischen Götter- und Ahnenkults für die familia siehe Erich Burck: Die altrömische Familie, S. 98 ff in Hans Oppermann (Hrsg.): Römertum, Darmstadt, 1970. 19 Bis zur Spätantike war das illegitime K i n d allein durch die Geburt weder der Familie der Mutter noch der des Vaters zugeordnet. Eine Familienzugehörigkeit wurde also durch Rechtsakt und nie durch biologische Tatsachen, wie z. B. das Austreten aus dem Mutterleib bzw. die bloße Blutsgemeinschaft, begründet. Mit der Mutter galten die nichtehelichen Kinder zwar als kognatisch verwandt; da die Frau unfähig war, Familiengewalt auszuüben oder zu vermitteln, wurde eine gemeinsame Familienzugehörigkeit mit dem Großvater abgelehnt (M. Käser: RPR I, S. 351). 20 J. Gaudemet: RAC 7 (1969), Sp. 321. 21 Inst. 1, 156.

II. Die „ f a m i l i a " der Römer

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einen Mann vermittelt werden. Nur er konnte die (stamm-)väterliche Gewalt ausüben. Der Rechtsbegriff der agnatio war also untrennbar mit der Unterordnimg unter die patria potestas des paterfamilias verbunden; er ist damit Ausdruck einer Wertung und beschrieb nicht nur eine biologische Tatsache. Mit dem Entstehen einer staatlichen Strafgewalt ist jedoch ein Rückgang der Patriarchenvorrechte festzustellen. Der gewaltorientierte agnatioBegriff wurde deshalb schließlich durch die Verwandtschaftsbezeichnung der „cognatio" verdrängt bzw. ging in ihr auf 2 2 . Neben der Bedeutung als durch Frauen vermittelter Verwandtschaft bezeichnete „cognatio" später die „natürliche" Verwandtschaft als Oberbegriff schlechthin. Die cognatio als Begriff für eine „natürliche" Verwandtschaft hatte deshalb erhebliche Bedeutung für die Feststellung von Ehehindernissen. Neben der Verwandtschaft begründete auch die Ehe Familienverhältnisse. cc) Die Ehe Für die Römer war die Ehe ein primär sozialer Tatbestand und kein Rechtsverhältnis. Bei der sog. manu-Ehe, in der der Ehemann die ehemännliche Gewalt über die Frau erwarb 23 , mußte die patria potestas des paterfamilias durch einen Rechtsakt aufgehoben werden. Patria potestas und manus waren mit der Zugehörigkeit zu einem Familienverband - des paterfamilias oder des Ehemannes - verknüpft. Die Frau schied deshalb bei der manu-Ehe aus ihrer Herkunftsfamilie aus. Die patria potestas über ihre Kinder stand dem paterfamilias (ihres Mannes) zu. Neben den formalisierten Ehebegründungsformen (confarreatio und coemptio) kannte das römische Recht die Ersitzung der ehemännlichen Gewalt durch usus: in vorklassischer Zeit wurde hierfür ein einjähriges, nicht für mehr als drei aufeinanderfolgende Nächte (trinoctium) unterbrochenes Zusammenleben gefordert. Es ist indes verfehlt, in der usus-Ehe eine Vorläuferin der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zu sehen. Der paterfamilias der Frau hatte nämlich ein Jahr Zeit, um die Frau vom Brautwerber zurückzuverlangen und damit den Übergang der ehemännlichen Gewalt zu vereiteln 24 . Neben der manu-Ehe gab es auch die manusfreie Ehe, in der die Ehefrau nicht in den Familienverband des Mannes eintrat und auch weiterhin der Bestimmungsgewalt ihres paterfamilias unterstand 25 . 22 J. Gaudemet: RAC 7 (1969), Sp. 326. 23 Und so die stammväterliche Gewalt ersetzte. 24 M. Käser: RPR I, S. 78. 4 Schmid

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D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten 3. Zusammenfassung

Für die römische Familie waren vielleicht in den Wanderzeiten größere Familienverbände - die gentes - und in einer agrarischen Wirtschaftsordnung die Stammfamilie typisch. Mit einer Urbanisierung der Bevölkerung ging die Emanzipation der Söhne einher. Sie wurden als rechtsfähig anerkannt und konnten sich deshalb immer weitergehend von der stammväterlichen Bestimmungsgewalt lösen. Gut nachverfolgbar ist bei der römischen familia, daß nach der Vertreibimg der Ertruskerkönige auch das Recht des Stammvaters über die Kinder und Kindeskinder einer Rechtfertigung bedarf: seiner Verantwortung für die seiner Gewalt Unterworfenen in der Form einer Unterhaltsverpflichtung. Die Ausbildung von Unterhaltspflichten auch der „Kinder" gegenüber ihren „Eltern" w i r d demgegenüber eher auf einem Rückgewährprinzip beruhen. Die Verwandtschaft ist für die römische familia mit ihren (gekauften) Lebenspartnern, wie ζ. B. den Sklaven wahrscheinlich nicht konstitutiv. Das teilweise Zusammenfallen von familia und unterhaltsbegründender Verwandtschaft hat aber dazu geführt, daß bereits ein römisches Gesetzeswerk das hohe Interesse des Staates an dem Verantwortungsraster „Familie" mit trauriger Aktualität zum Ausdruck brachte. 4. Die augusteischen Ehegesetze

Die augusteischen Ehegesetze sind eine anschauliche Parallele zu den beinahe zwei Jahrtausende älteren, eherechtlichen Gesetzen der Nationalsozialisten. Ziel der Ehegesetzgebung26 des Augustus war die Bewahrung der italischen Erbmasse innerhalb der herrschenden Schicht des römischen Imperiums. Mittel hierfür waren zum einen der Ausspruch von Eheverboten und zum zweiten eine gesetzliche Verpflichtung zur Eheschließung und Kinderzeugung. a) Die Eheverbote Die lex julia de maritandis ordnete Eheverbote für freigeborene, römische Bürger mit Dirnen, Kupplerinnen und beim Ehebruch Ertappten an. Den Senatoren als öffentlichen Würdenträgern war darüberhinaus die Ehe mit freigelassenen Frauen und Schauspielerinnen verboten 27 . Besonders bemer25 Nur bei „glücklichen", manusfreien Ehen wurde dem Heimholungsverlangen des paterfamilias dann i n klassischer Zeit von Rechts wegen eine Absage erteilt; M. Käser: RPR I, S. 224. 26 Lex julia de adulteris (18 v. Chr.), lex julia de maritandis ordinibus (18 v. Chr.), lex papia poppaea (9 n. Chr.). 27 M. Käser: RPR I, S. 319.

II. Die „ f a m i l i a " der Römer

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kenswert ist, daß die lex julia ein Wiederverheiratungsverbot gegenüber ehebrecherischen Frauen enthielt. Die Parallele zu dem von den Nationalsozialisten neu eingeführten § 9 EheG ist unverkennbar. b) Der Ehe- und Familienzwang Die Instrumentalisierung des einzelnen zum Subjekt der Bevölkerungsvermehrung zeigt sich deutlich in der lex papia: Männer von 25 bis 60, Frauen von 20 bis 50 Jahren waren verpflichtet, in einer den Gesetzen entsprechenden Ehe zu leben. Darüberhinaus wurde verlangt, daß sie mit 25 oder 20 Jahren schon Kinder, mindestens jedoch ein Kind hatten. Auch verwitweten und geschiedenen Ehegatten wurde - bei Witwen im Widerspruch mit guter alter Sitte - eine Wiederverheiratung angesonnen. Bei den Frauen wurden Fristen, die durch die erste Papia beim Tod des Mannes von ein auf zwei, bei Scheidung von einem halben auf eineinhalb Jahre verlängert wurde 2 8 , gesetzt. Die Einhaltung dieser Heirats- und Gebärpflichten wurde durch gewisse Vorzüge im öffentlichen Recht belohnt. Zu den Nachteilen bei Nichteinhaltung gehörte ζ. B. der Ausschluß der Teilnahme Eheloser an religiösen Festen. Die Kreise der Sanktionen wurden aber noch weiter gezogen. Das Privatrecht benachteiligte ζ. B. die Erben, die mit dem Erblasser nicht oder nur sehr weitläufig verwandt waren. Falls diese Verwandten im ehepflichtigen Alter noch nicht verheiratet waren, bzw. keine Kinder hatten, erwarben sie nichts oder nur die Hälfte der Erbschaft oder des Legats. Auch wenn der Kreis der unbeschränkt erbenden Verwandten mit sechs oder sieben Graden relativ weit gezogen erscheint, die kinderlosen, zurückbleibenden Ehegatten wurden stark benachteiligt: sie konnten nur ein Zehntel des ihnen Vermachten erwerben 29 . Über das Schicksal und den Erfolg der Ehegesetze wissen w i r nichts Verläßliches. Von zeitgenössischen Schriftstellern lernen wir, daß bei unzähligen Gelegenheiten die Gesetze ζ. B. durch Scheinadoptionen und Scheinehen umgangen wurden. Juvenal fragte: „ U b i nunc lex julia dormis?" Zu diesem Schlaf der Gesetze trug sicher auch bei, daß eine in Widerspruch zu den Eheverboten geschlossen Ehe erst in späteren Zeiten als nichtig qualifiziert wurde 3 0 . Auch darf wahrscheinlich der Einfluß des Christentums nicht unterschätzt werden. Für die Kirche waren Kinderzeugung und Eheschließung 28 H. Siber: Die Ehegesetzgebung des Augustus, Deutsche Rechtswissenschaft, 4. Bd. (1939), S. 156 (159). 29 M. Käser: RPR II, S. 724; mißverständlich: H. Siber: S. 161, der die Frau zu den exceptae personae zählt. 30 Pal Csillag: The Augustan Laws On Family Relations, Budapest, 1976, S. 200.

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D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

Teile der von Gott geschaffenen Schöpfungsordnung. Menschen oder der Staat durften in diese Ordnung weder belohnend noch bestrafend eingreifen. Hinzu kommt, daß das Christentum durch das Zölibat eine generelle Aufwertung der Ehelosigkeit mit sich brachte 31 . Interessant an den augusteischen Gesetzen ist, daß ein „goldenes Zeitalter" den Princeps veranlaßt, an das Morgen, an die Zukunft seines Volkes zu denken 32 . Regierung bedeutet für diesen hervorragenden „primus inter pares" nicht nur die Bewältigung der Gegenwart, sondern auch die Kontinuität seines Volkes in der Zukunft. Π Ι . Haus und Sippe des germanischen Rechtskreises 1. Die Sippe oder die Verwandtschaftsgruppe

Die Existenz der germanischen Sippe als Rechtsgebilde ist umstritten. Herkömmlich werden zwei Arten der Sippen unterschieden. Zum einen die „feste Sippe" 3 3 , als der auf reiner Männerverwandtschaft beruhende Verband der Abkömmlinge eines Stammvaters. Zum anderen die „wechselnde Sippe" als Bezeichnimg für die Gruppe aller Blutsverwandten einer Person 34 . Die Sippe wird durch die Eigenschaften als Siedlungs-, Schutz- und Heerverband charakterisiert. a) Die Sippe als Siedlungsverband Soweit Sippen nicht bei der Völkerwanderung auseinandergerissen wurden, sollen sie Siedlungs- und Wirtschaftgemeinschaften gebildet haben 35 . Sie erfüllten vielleicht die Funktion einer Gemeinde und verteilten Land an Einzelfamilien. b) Die Sippe als Heerverband Tacitus beschreibt als Stärke des germanischen Heeres seine Aufgliederung in Familien und Sippenverbände. Anhand von Hochrechnungen, die sich auch an den Zahlen über die Gesamtbevölkerung bzw. ihrem zeitlichen Anwachsen orientieren, läßt sich eine durchschnittliche Zahl von drei oder vier Kriegern der festen Sippe ermitteln. Die Sippe als Heeresverband kann deshalb nur Verwandte aller Art umfaßt haben und nicht nur die Blutsver31

Ebd., S. 204. Ebd., S. 204 f. 33 Karl Kroeschell: Die Sippe im germanischen Recht, ZRG 1960 (77), S. 1 (2). 34 Felix Genzmer: Die germanische Sippe als Rechtsgebilde in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte (ZRG) der Savigny-Stiftung, germ. Abteilung, 1950 (67), S. 34. 35 Walther Schulz: Die germanische Familie in der Vorzeit, Leipzig, 1925, S. 28. 32

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wandten einer Person 36 . Die besondere Funktion der Sippe als Kampfverband wird damit zumindest mittelbar in Frage gestellt, da aufgrund der Daten nicht mehr von einem festgefügten Verwandtschaftsverband mit eigener Identität ausgegangen werden kann. c) Die Sippe als Schutzverband Auch bei der vermeintlichen Sippenfehde oder Sippenrache ist der Begriff Sippe nicht ohne weiteres faßbar. Die isländische „Graugans" - ein Gesetzestext - spricht den ehelichen oder nichtehelichen nächsten Verwandten, die in vielen Rechten gerade nicht zur Sippe gezählt werden 37 , ein Racherecht bzw. ein Recht zum Bußgeldempfang zu. Erwähnt w i r d aber nicht die „Sippe" 3 8 . Für die frühgeschichtliche Zeit w i r d deshalb die Existenz der Sippe als definierter Verwandtschaftsgruppe abgelehnt 39 . d) Zusammenfassung Wenn von der germanischen Sippe gesprochen wird, muß zwischen der Frühzeit und den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende unterschieden werden. In der Frühzeit war mit der agnatischen Verwandtschaft vielleicht die Stellung als Vormund oder Bürge öfter oder vorrangig verbunden. Auch in dieser Zeit läßt sich aber eine Eigenpersönlichkeit der „Sippe" als Personengruppe nicht ausmachen. Differenzierte Verwandtschaftsbeziehungen und -bezeichnungen herrschen demgegenüber vor. Später findet dagegen eine Lösung von festgefügten, agnatischen Verwandtschaftzusammenhängen statt. Auch der Mutter kann die Vormundschaft übertragen werden; die Bürgschaft beruht nicht mehr auf verwandtschaftlichen, sondern auf vertraglichen Beziehungen 40 . Mit dem Abbau der Verwandtschaftszusammenhänge w i r d auch die Gestalt der germanischen Einzelfamilie deutlicher. 2. Die Familie

Das germanische Recht kennt nur einen Begriff für die ehemännliche und väterliche Gewalt - nämlich die Munt. Ahnlich wie die patria potestas war die Bestimmmungsgewalt des Muntwalts Zentrum der Familie. 36

F. Genzmer: Fn. 34, S. 37, 39. Nichteheliche Kinder konnten allenfalls faktisch geduldet und dadurch anerkannt werden (Irene Wiebrock: Die Sippe der Germanen der Frühzeit bis zum Ausgang der Völkerwanderung, Marburg, 1979, S. 53 ff). 38 F. Genzmer: Fn. 34, S. 43, 45. 39 F. Genzmer: Fn. 34, S. 48 f. « I. Wiebrock: Fn. 37, S. 102. 37

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a) Die Munt Im Gegensatz zur patria potestas währte die Munt nicht für die Lebenszeit des Muntwalts. Der junge Germane schied mit Begründung eines eigenen Hausstandes aus der Vatermunt aus. Die Tochter wechselte durch die Muntehe in die Munt des Ehemannes 41 . Hieraus schließt man, daß die germanische Kultur im Gegensatz zur römischen von Anfang an die Aufgliederung der Verwandtschaft in sogenannte Kern- und erweiterte Familien kannte 42 . Die Emanzipation des jungen Germanen aus der Munt durch Heirat spricht gegen eine rechtliche Begünstigung der Entstehung von Stammfamilien 43 . Dafür spricht auch, daß der heiratsfähige und ehelose Mann in der Vorzeit als nicht vollwertig angesehen wurde. Hierbei darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß Mittel zum Erwerb der Braut und zum Unterhalt des Hausstandes nicht jedem zur Verfügung standen 44 . Die Erscheinungsform des Hagestolzes mag deshalb nicht so selten gewesen sein. Auch von der Reichweite her unterscheidet sich die Muntgewalt von der patria potestas. Die Muntgewalt entwickelte sich sehr früh von einer bloßen Herrschaftsmacht zu einer Schutzgewalt. Dies drückt sich vor allem in der Haftung des Muntwalts für seine Muntlinge aus: Wo der römische paterfamilias für die deliktischen Handlungen der seiner Gewalt Unterworfenen urspünglich nicht haftbar gemacht wurde, konnte der Muntwalt sich von seiner Haftung nur durch Preisgabe des Täters befreien 45 . Der Muntwalt konnte zwar grundsätzlich unbeschränkt über die Muntlinge und deren Vermögen verfügen. Er konnte aber alleine weder über die Munt selbst verfügen, was z. B. bei der Eheschließung des Muntlings, bei der er die Genehmigung der Verwandtschaftsgruppe brauchte, deutlich wird. Auch über das Familiengut konnte er nur unter Mitwirkung der künftigen Erben insgesamt verfügen 46 . Die germanische Familie weist deshalb neben den herrschaftlichen Elementen auch genossenschaftliche auf. Dies zeigt sich auch in der Stellung der muntunterworfenen, germanischen Ehefrau, die als Leiterin des Hauswesens die Schlüsselgewalt innehatte 47 .

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Heinrich Mitteis: Deutsches Privatrecht, 8.Aufl., München, 1978, S. 69. D. Schwab: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Sp. 1067. 43 W. Schulz: Die germanische Familie i n der Vorzeit, S. 25, der von einer ursprünglichen Verbreitung der „Großfamilie" ausgeht, bei den Germanen Deutschlands für die erweiterte Familie jedoch keinen Anhaltspunkt findet. 44 Ebd., S. 23. 45 H. Mitteis: Fn. 41, S. 131. 46 D. Schwab: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Sp. 1068; H. Mitteis: Fn. 41, S. 54. 47 H. Mitteis: Fn. 41, S. 60. 42

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b) Die Familienzugehörigkeit durch Blutsverwandtschaft oder Munterwerb Der Hausgewalt des Muntwalts unterstanden die Ehefrau, die aufgenommenen, evtl. auch nicht von der Ehefrau stammenden Kinder 4 8 , alle im Hause lebenden Verwandten und das freie Gesinde (famuli) 49 . Die unfreien Knechte und Mägde standen nicht unter der Munt des Hausherrn, sondern unter dem rein sachenrechtlichen Herrschaftsregime des „Gewehres". Auch bezüglich des freien Gesindes und der freien Kebse gilt die Munt nur mit einer Einschränkung: Diese Personengruppen konnten sich im Gegensatz zur Ehefrau und den Kindern durch Verlassen der Hausgemeinschaft von der Munt befreien 50 . Auch mit dem Hausherrn nicht Verwandte oder nicht Verheiratete konnten sich seiner Munt unterstellen. Eidlich versprach z. B. ein Freier einem anderen Treue und Gehorsam und erwarb damit das Recht als Tischgenosse im Hause aufgenommen zu werden 51 . Bezeichnet wird dieses Institut als Gefolgschaft 52 . Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß das germanische Haus wie die römische familia neben der rechtlichen oder blutsmäßigen Verwandtschaft der Mitglieder die Integration einzelner in den Haushalt genügen läßt. Alle diese Personen, die in einem Haushalt zusammenlebten, müssen also als Mitglieder der „entsprechenden" Familie begriffen werden. Daneben knüpfte aber vor allem das Erbrecht an die verwandtschaftlichen, vorrangig die agnatischen Beziehungen an. Auch bei der Eheschließung mit Muntübergang sind bestimmte Verwandte der Frau, von denen die Munt auf den Ehemann übergeht, beteiligt. c) Die Ehe Das germanische Recht unterschied wie das römische zwischen Ehen mit „Munt"-Übergang und muntfreien Ehen. Der Brautwerber erwarb die Munt über die Frau durch einen Vertrag der beiderseitigen Verwandtschaftsgruppen. Als Gegenleistung hatte der Brautwerber für die Mimt den Muntschatz zu bezahlen (Wittum). Nach Abschluß dieses Verpflichtungsgeschäftes 48 Karl von Amira: Grundriß des germanischen Rechts, 3. Aufl., Straßburg, 1913, S. 184. 49 H. Mitteis: Fn. 41, S. 52. 50 Johannes Hoops (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Bd., Straßburg, 1913 - 1915, S. 10 f. 51 K. von Amira: Fn. 48, S. 188. 52 Mit zunehmender Siedlungsstreuung konnte man auch Gefolge eines Herrn werden, ohne sein ständiger Hausgenosse zu sein. Dies ist der Ursprung der feudalrechtlichen Vasallität - für die Dienste unter dem Herrn werden die Vasallen durch Lehen belohnt.

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D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

wurde die Braut dem Mann übergeben und unterstand damit seiner Gewalt 5 3 . Anders als im römischen Recht sind Munt und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie nicht notwendig miteinander verbunden: Die germanische Frau schied aus ihrer Verwandtschaft nicht durch die Heirat aus. Die „Sippe" wachte sogar darüber, ob die Schutzgenossin als rechte Ehefrau ihres Mannes behandelt wurde. Anders als im römischen Recht führt also die Heirat mit Muntübergang nicht zur Ersetzung der Herkunftsfamilie. Von dieser Ehe mit Muntübergang unterscheiden sich die Friedel- und die Kebsehe. Die Friedelehe ist eine reine Konsensehe - ihr fehlt also der oben zuerst geschilderte Akt des Munterwerbs von Muntwalt. Praktische Bedürfnisse rechtfertigen die Friedelehe: Sie ermöglichte zum Beispiel die Einheirat eines Schwiegersohnes in das Haus des Schwiegervaters, wenn er oder seine Verwandtschaft nicht genügend Mittel für die Gewährung eines Wittums hatten. Mutter und K i n d der Friedelehe standen weiterhin unter der Munt ihres (Groß-)Vaters; der Vater konnte die Munt über Frau und Kinder später durch Abarbeitung des Wittums erwerben. Die Friedelehe fand - vergleichbar der sine-manu-Ehe - bei Heiraten von standesungleichen Partnern Verbreitung. Dadurch, daß der Brautwerber vom Wittum entbunden war, hatte er keinen Anspruch auf eine Mitgift der Braut 5 4 . Unter der Friedelehe stand die Kebsehe, die als Nebenehe oder als Ehe zwischen Freien und Unfreien (die sich vertraglich nicht binden konnten) eingegangen wurde. Die Ehefrau, die unter der Munt des Mannes stand, unterschied sich von der Friedel oder der im Haus gehaltenen Kebse durch ihr Recht auf Lebensgemeinschaft mit dem Mann und durch ihre Zugehörigkeit zur Verwandtschaftsgruppe des Mannes 55 . Die Kinder dieser Mutter hatten nach ihrer Anerkennung durch den Vater eine stärkere Rechtsstellung als die Kinder der Kebse und der Friedel 56 . Mit dem Vordringen der christlichen Lehre ging eine weitere Verschlechterung der Rechtsposition der Kebse und nichtehelicher Kinder einher. Das führte dazu, daß beim nichtehelichen Kind zum Teil sogar die Verwandtschaft zu Vater und Mutter (filii nullius) abgeleugnet 57 wurde. Die Kebse und Friedel wurden als Ergebnis der Anstrengungen der 53 Über diesen äußerlichen Erwerb der Muntgewalt hinaus wurde aber für die Ehe noch ein internes Verpflichtungsgeschäft und ein Vollzugsakt gefordert. Umringt von ihren Verwandten gaben sich die Brautleute im Konsensgespräch ihr Jawort. Das Vollzugsgeschäft war das vor Zeugen meist nur symbolisch vollzogene, eheliche Beilager. Als Zeichen des vollzogenen Beilagers bekam die Frau vom Mann die Morgengabe. 54 H. Mitteis: Deutsches Privatrecht, S. 54 ff. 55 K. von Amira: Grundriß des Germanischen Rechts, S. 177 f. 56 Ebd., S. 184; sie hatten zunächst als sogenannte Winkelkinder sogar Alimentations·, Abfindungs- bzw. Erbrechte nach dem Vater. 57 H. Mitteis: Deutsches Privatrecht, S. 71.

III. Haus u n d Sippe des germanischen Rechtskreises

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„Sippe" der Muntehefrau schlechter behandelt 58 . Es spricht viel dafür, daß im germanischen Rechtskreis die rechtliche Einordnung der Familie ohne mundium - soweit es die Kinder als filii naturales betraf - sehr kinderfreundlich war. So ist, was die Erbberechtigung der Kinder und die Bestimmungsgewalt des Hausherrn über Kinder aus muntfreien und Ehen mit mundium anging, eine im Vergleich zum römischen Recht überraschende Annäherung der Rechtspositionen feststellbar 59 , die erst mit Verbreitung des Christentums aufgegeben wurde. 3. Zusammenfassung

Anders als die römische familia scheint die Kernfamilie bei den Germanen sowohl nach den Stammesrechten als auch in der Rechtsentwicklung bis zum Mittelalter erkennbar zu sein. Anders als das römische Recht kennt das germanische Recht eine „Volljährigkeit" zumindest der Söhne. Dies scheint nicht das Ergebnis einer nahezu tausendjährigen Rechtsfortbildung zu sein 60 , sondern dem germanischen Recht von vornherein innewohnend. Hieraus erklärt sich auch, daß bis zum 13. Jahrhundert in vielen Familienrechten Entscheidungen zur Begründung der Kernfamilie bzw. über Vormundschaft oder Vermögensfürsorge gemeinsam mit bestimmten Verwandten getroffen werden. Zwar existiert die Sippe als Gegenpol zur Familie nicht, sehr wohl aber ist die Kernfamilie in die verwandtschaftlichen Zusammenhänge eng eingebunden. Rechtlich äußert sich dies ζ. B. dadurch, daß die Verwandten beim Vorhandensein minderjähriger Kinder und Versterben eines Ehegatten eine Zersplitterung der Liegenschaften durch eine erneute Heirat des überlebenden Ehegatten dadurch verhindern konnten, daß sie der Übernahme von Immobilien in die neue Ehegemeinschaft widersprachen 61 . Da zumindest der germanische Sohn aus der Munt des Vaters durch die Gründung eines eigenen Hausstandes ausschied, gab es für rechtliche Regelungen jenseits der Gebiete des Erb- und Unterhaltsrechts keine Grundlage. Von einer rechtlichen Verpflichtung des Muntwalts zu Unterhaltsleistungen kann aufgrund seiner überragenden Stellung nicht gesprochen werden. Den Muntunterworfenen steht kein subjektives Recht zu, die Unterhalts Verpflichtung wird insoweit nur als „Rechtsreflex des Gemeinschaftsrechts" qualifiziert 62 .

58 Ernst Hoyer: Die Ehen minderen Rechts in der fränkischen Zeit, Brünn, 1926, S. 230. 59 Ebd., S. 221, 225. 60 500 vor bis 500 nach Christus als grobe Begrenzung dieses Zeitraums. 61 So für ein Recht aus den 20er Jahren des 13. Jahrhunderts, Georg Adenauer: Das Ehe- und Familienrecht im Mühlhäuser Reichsrechtsbuch, Bonn, 1962, S. 109 f. 62 Mit weiteren Nachweisen, E. Krause: „Unterhalt", S. 27.

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D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

Nachdem die grundsätzlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der römischen und germanischen Familie aufgezeigt wurden, schließt sich ein großer Sprung in der Zeitentwicklung an. Im Recht der Eheschließung brachte das Konzil von Trient die Erkenntnis, daß das kanonische Recht lediglich die formalisierte Eheschließung als Grundlage der christlichen Ehe anerkenne 63 . Auch das moderne Naturrecht gepaart mit dem Vertragsgedanken der Aufklärung brachte einen grundlegenden Wandel in der theoretischen Erfassung des Verhältnisses von Familie zur natürlichen Gegebenheit und zum Staat 6 4 mit sich. Am vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung steht beispielhaft das Preußische Allgemeine Landrecht (ALR) von 1794, das deutschrechtliche wie naturrechtliche Elemente mit solchen des gemeinen Rechts verbindet 65 . Neu und beispielhaft ist dieses Recht vor allem in einer Beziehung: Die traditionelle Souveränität des paterfamilias oder Muntwalts - w i r d von einem absolutistischen Staat abgebaut. Familie ist in ihren vielen Einzeläußerungen nicht mehr vorrangig naturgegeben, sondern wird rechtlicher Regelung zugängig. Desweiteren gibt es keinen einigenden paterfamilias mehr, keinen Grundsatz der Familieneinheit, sondern die rechtliche Aufspaltung in innerfamiliäre Personenbeziehungen wird zur Regel. Nicht mehr vertritt eine Person - der Muntwalt oder paterfamilias - die Familie als Ganzes vor dem Staat. Auch Kinder oder die Mutter können unter bestimmten Voraussetzungen eigene Familienrechte gegenüber dem Hausvater vor staatlichen Gerichten einklagen. Es handelt sich nicht mehr um „private" Rechte einzelner Familienmitglieder gegen andere, sondern um drittgerichtete, modern gesprochen, öffentlichrechtliche Pflichten - wenn auch vielleicht nicht Rechte - der Familienmitglieder. I V . Das „Haus" i m preußischen allgemeinen Landrecht (ALR) 1. Der Familienbegriff des ALR

Das ALR definierte den Staat als „die bürgerliche Gesellschaft, die aus mehreren kleineren, durch Natur oder Gesetz oder durch beide zugleich, verbundenen Gesellschaften und Ständen" besteht 66 . Die Familie ist eine dieser Gesellschaften. Ihre besondere Stellung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft des ALR erklärt sich aus ihrer Eigenschaft als einzig originärer und damit naturverbundener Gemeinschaft im Sinne dieser Gesellschaftsdefinition 67 . 63 Hierzu D. Schwab: Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung i n der Neuzeit, 1967, S. 72 ff. 64 Ein hervorragender Überblick hierzu bei E. Krause: „Unterhalt", S. 129 bis 144, der die Familienauffassungen von Grotius, Pufendorf, Thomasius und Wolff darstellt. 65 Ebd., S. 148. 66 ALR Teil 1,1. Titel § § 2 - 4 zitiert nach H. Dörner: Industrialisierung und Familienrecht, S. 25.

IV. Das „ H a u s " i m preußischen allgemeinen Landrecht (ALR)

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Die „bürgerliche" Gesellschaft ist hier nicht der Gegenpart zu einem absolutistischen Staat: vielmehr ist der Begriff „bürgerliche Gesellschaft" an einem bereits bei Aristoteles auffindbaren Gegensatzpaar orientiert. Der societas civilis als Zusammenschluß aller freien Bürger auf der einen, steht die societas domestica als „ökonomisch bestimmter und unter der Leitung des Hausherrn stehender Gesellungsform auf der anderen Seite gegenüber. Die societas domestica ist ihrerseits noch in mehrere kleinere Gesellschaften aufgespalten 68 . Nach Aristoteles besteht die polis demzufolge aus Hausgemeinschaften. Das „Haus" (oikos) bildet eine natürliche Lebensgemeinschaft, deren Strukturmerkmale denen der Polis parallel entsprechen. Der Mann beherrscht die Frau, wie die Polis ihre Bürger beherrscht. Gegenüber den Kindern herrscht der Vater als Monarch und das Verhältnis von Hausherr und Sklaven w i r d durch die Herrschaftsform der Tyrannis gekennzeichnet 69 . Das Haus als Bestandteil der Polis ist auf deren Bedürfnisse ausgerichtet. Der Unterschied beider Gesellungsformen besteht darin, daß im Gegensatz zum Haus die Polis sich selbst genügen kann. Das Haus ist demgegenüber auf den Schutz durch die größere Einheit angewiesen70. Dem Haus als Teil des Staatsaufbaus w i r d bei Aristoteles deshalb noch nicht die Funktion einer „Nische" der Individualität, einer Gegenstruktur zur Gesellschaft beigemessen. Das Haus entwickelt deswegen keine Abwehrhaltung gegenüber der größeren Polis, sondern konstituiert sich analog zur größeren Einheit. Diese Sichtweise für das Verhältnis Staat-Familie macht sich das ALR zu eigen, obwohl sie im ausklingenden 18. Jahrhundert kaum mehr den realen Gegebenheiten entsprach. Die industrielle Revolution kündigte sich in einem gestiegenen Waren- und Umsatzverkehr, in der Heimindustrie und in einer Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte in der bürgerlichen Familie an. Für weite Teile der Bevölkerimg besaß die Identität von „Hausvater und Arbeitgeber", die für das Hausmodell der Ökonomik typisch war, keine Gültigkeit mehr. Dieser Umbruch kommt auch in den gesetzlichen Bestimmungen über die Familienangehörigkeit zum Ausdruck. 2. Die Zugehörigkeit zur Familie

Auf der einen Seite stellt das ALR fest, daß die Verbindung zwischen den Ehegatten, und zwischen Eltern und Kindern, die eigentliche häusliche Gesellschaft ausmache71. Auf der anderen Seite wird die Zugehörigkeit des Gesindes zur Familie betont. β7 Ebd., S. 29. Ebd., S. 26 69 D. Schwab in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 259. 70 Ebd., S. 259. 71 ALR § 3, Teil II, 1. Titel.

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D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

Für die Individualität des Hauses im ALR spricht, daß die in der Aristotelischen Hauslehre vorkommende Gleichstellung der im Haus enthaltenen kleineren Gemeinschaften mit staatlichen Ständen und Klassen nicht erwähnt wird. Auch muß daraus, daß die Hauszugehörigkeit des Gesindes ausdrücklich festgestellt wird, geschlossen werden, daß die Verfasser nicht mehr selbstverständlich dessen Hauszugehörigkeit voraussetzen konnten 7 2 . Ein formales Indiz dieser „Unsicherheit" ist auch die rechtlich in einer eigenen Norm vorgenommene Bewertung des Gesindes73 als familienangehörig. Die Kernfamilie ist durch die Regelungen des ALR von Verwandtschaftszusammenhängen weitgehend freigestellt. Dies kommt auch in der expliziten Regelung einer staatsbürgerlichen Volljährigkeit der Kinder zum Ausdruck. Das ALR kannte eine Volljährigkeit der Kinder mit 24 Lebensjahren. Die Volljährigkeit deckte sich aber nicht mit der Entlassung aus der väterlichen Gewalt. Sie erfolgte bei Söhnen nur dann, wenn sie über eine abgesonderte Wirtschaft verfügten 74 . Erst mit der Fähigkeit zu einer vom Haus unabhängigen Lebensunterhaltung - sei es durch eigenes Gewerbe, sei es durch die Ausübung eines Berufs - wurde der Sohn von finanzieller und persönlicher Bevormundung durch den Vater frei. Die Mittel hierfür mußten wohl in der Regel vorher vom Vater zur Verfügung gestellt worden sein. Der Sohn hatte deshalb gegen den Vater einen Anspruch auf Ausstattung bei Beginn seines Gewerbes 75 . Da in der damaligen Zeit sowohl die Eröffnung eines Gewerbes wie auch der Erwerb eines Arbeitsplatzes mit finanziellen (Ausbildungs-)Aufwendungen verbunden war, und über diese nur der Hausvater entschied, resultierte hieraus eine weite ökonomische und damit auch rechtliche Abhängigkeit der Söhne von ihren Vätern. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Bedeutung der väterlichen Gewalt ist, daß die Höhe der Ausstattung in das Ermessen des Vaters gestellt wurde 7 6 . Die Folgen dieser rechtlichen und faktischen, staatlich nur begrenzt kontrollierbaren Vatermacht traf die Söhne empfindlich 77 . Bis zur Entlassung aus der väterlichen Gewalt konnten ζ. B. auch volljährige Söhne nicht über geschenktes und ererbtes Vermögen verfügen. Dies blieb dem Hausherrn vorbehalten. Trotz dieser großen Machtbefugnis wurden rechtliche Ansprü72

dert. 73

Siehe hierzu die „Abgrenzung nach unten" des Kleinbürgertums im 18. Jahrhun-

H. Dörner: Industrialisierung und Familienrecht, S. 27. Zusammenfassend wird das Institut der väterlichen Gewalt über Volljährige im ALR als rechtliches Pendant zu der aus der ökonomischen Komponente des Hauses resultierenden, ökonomischen Abhängigkeit beschrieben, H. Dörner: Industrialisierung und Familienrecht, S. 64 f. 75 ALR § 232. 76 ALR § 237. 77 Die Töchter mußten bei dieser Darstellung außer Betracht bleiben, da sie unmittelbar von der väterlichen in die ehemännliche Gewaltunterworfenheit wechselten und zeitlebens einer Familie - der Herkunfts- oder der selbst gegründeten Familie unterworfen waren. 74

IV. Das „Haus" i m preußischen allgemeinen Landrecht (ALR)

61

che der Söhne auf die Mittel, die sie zur Emanzipation vom Vater befähigten, gesetzlich festgelegt. Der Vater konnte damit nicht mehr aus eigenem Gutdünken darüber entscheiden, wie lange die Söhne seiner elterlichen Gewalt unterstanden. In der Theorie bedeuten diese Regelungen deshalb einen großen Einschnitt in der rechtlichen Familienauffassung. Praktisch über die Anzahl der geführten Klagen ist nichts bekannt - förderten vielleicht vorher und nachher viele Väter auch sine obligo die Ausbildung und Erwerbsfähigkeit ihrer Söhne und durch die Anwendung gewisser Heiratsstrategien die wirtschaftliche Sicherheit ihrer Töchter. 3. Die Funktion der Familie

a) Die Ehe Hauptzweck der Ehe ist im ALR die Erzeugung und Erziehung der Kinder. Daneben kann eine Ehe aber auch zur wechselseitigen Unterstützung der Ehepartner geschlossen werden 78 . Ergänzt wurden diese Vorschriften über die „Versorgungsanstalt" 79 Ehe um normative Verhaltensmuster und -Verpflichtungen, von deren Einhaltung der Staat sich offenbar eine größere Beständigkeit der Familienverhältnisse versprach. Ein Beispiel für solche Verhaltensgrundsätze ist § 180 ALR, der den stillenden Ehefrauen die Verweigerimg der Beiwohnung gestattete. Auch die die eheliche Treue behandelnden Paragraphen illustrieren diese Absicht: Nicht nur daß die Ehegatten zur ehelichen Treue wechselseitig verpflichtet 80 wurden; sogar Handlungen, welche den Verdacht eines Ehebruchs erregen konnten, sollten vermieden werden 81 . Die öffentliche Moral wurde hier zur Stärkung der individuellen Ehe verwendet. b) Die Familie Auch die Art und Weise der Aufzucht des Nachwuchses wurde den Eltern en detail vorgeschrieben. „Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet" 8 2 . Die Dauer der Stillzeit sollte von der Entscheidung des Vaters abhängen, der sich aber bei einer Gesundheitsgefährdung für Mutter und Kind einem Gutachterurteil beugen müsse 83 . „Körperliche Pflege und Wartung, solange die Kinder derer bedürfen, muß die Mutter selbst oder unter ihrer Aufsicht besorgen" 84 . „Vor dem zurückgelegten vierten Jahre 78

ALR §§ 1, 2. H. Hattenhauer: Grundbegriffe des bürgerlichen Rechts, S. 138. so ALR § 181. 81 ALR § 183. 82 ALR § 67. 83 ALR §§ 68, 69. 84 ALR § 66. 79

62

D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

kann der Vater das K i n d wider den Willen der Mutter ihrer Aufsicht und Pflege nicht entziehen" 85 . Anhand dieser Vorschriften zeigt sich, daß die Familie kein privatum war, sondern ihr vom Staat die Aufgabe der Nachwuchsproduktion zugewiesen wurde. Nicht nur materielle Verpflichtungen kamen auf Eltern und Kinder zu, sondern auch sittliche - wie sich ζ. B. aus den Regelungen über die eheliche Treue ersehen läßt. Ehe- und Familienmoral galten als Rückgrat für die Familie und ihre Mitglieder und dienten somit mittelbar der Bewältigung der familiären Aufgaben. Ehe- und Familienmoral konnten aus diesem Gesichtspunkt nicht als private, sondern nur als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Religion und Moral als Privatsache des einzelnen zu betrachten blieb späteren Zeiten vorbehalten 86 . Nicht nur den Eltern, sondern auch den Kindern erlegte das ALR familienbezogene Pflichten auf: Die Kinder mußten ζ. B. den Eltern in der Wirtschaft nach Kräften helfen 87 und das bei diesen Gelegenheiten Erworbene an die Eltern abgeben 88 . Das Vernunftsrecht des ALR versuchte also durch die Aufstellung von familienrechtlichen Regelungen ein stabiles Familienleben zu begünstigen. Man hat den Eindruck, daß kirchliche und moralische Ideale der Zeit hierbei allenfalls eine unterstützende Funktion hatten; als Mittel zum Zweck benutzt wurden. Deshalb akzeptierte das Rechtssystem mittels einer vergleichsweise liberalen Regelung der Scheidung und der Nichtehelichenfrage beim Versagen dieser Zweckinstitutionen den Neuanfang 89 . Diese Auffassung läßt sich auch für das nationalsozialistische Familienrecht nachweisen.

V. Das Nationalsozialistische Familienrecht 1. Die Ehe

Art. 119 Abs. 1 S. 1 WRV schützte die Ehe als Grundlage der Familie und als Element der Bevölkerungspolitik. Auch unter nationalsozialistischer Herrschaft galt diese Vorschrift formell und materiell fort. Ihr materieller Schutzgehalt reichte jedoch nicht aus, um die Entartungen der Nationalsozialisten zu verhindern 90 . In einer totalitären Gesellschaft wurde die Ehe zur bloßen Fortpflanzungsgemeinschaft degradiert. 85 86

S. 32. 87

ALR § 70. H. Hattenhauer: S. 149 und H. Dörner: Industrialisierung und Familienrecht,

ALR § 121. ALR § 123. 89 St. Buchholz in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, S. 1633 ff. 90 Die Weigerung der Kirche, Eheschließungen von Juden und Christen, von Protestanten und Katholiken miteinander zu vollziehen, hatte die Entstehung eines Staat88

V. Das Nationalsozialistische Familienrecht

63

Die geschichtliche Erfahrung zeigt hier, daß Familienschutz immer Eheschutz sein muß. Durch Mischehengesetze und Eheverbote wurde von vornherein die Entstehung bestimmter Familien verhindert. Die nationalsozialistische Ehegesetzgebung war damit ein präventives Mittel gegen die Entstehung vom Regime nicht gewünschter Familien. Verbunden mit einer Förderung so gefilterter, kinderreicher Familien sollte es langfristig zu einer Verdrängung nichtarischen Erbguts kommen. Die Freiheit der Ehe als entscheidendem Bollwerk gegen eine solche Rassenfamilienpolitik steht deshalb im Zentrum der folgenden Ausführungen. Dabei waren die bevölkerungspolitischen Ambitionen der Nationalsozialisten mit denen des Kaiser Augustus im goldenen Zeitalter durchaus vergleichbar, unterschieden sich aber in der Wahl der Mittel. Wo Augustus wahrscheinlich ohne viel Erfolg - an das Gewinn- und Kapitalstreben des einzelnen appellierte, wählten die Nationalsozialisten zwei Wege. Auf der einen Seite unterwarfen sie die Ehe einem ungenierten Funktionsdiktat wozu die Zeit reichte - auf der anderen Seite betrieben sie - wenn auch vorläufig mit prozentual niedrigem Anteil - die Schaffimg staatlicher Konkurrenzeinrichtungen. a) Die „Funktionalisierung"

der Ehe

Ein Beispiel hierfür ist § 55 EheG, der erstmalig im deutschen Recht einen generellen, objektiven Zerüttungstatbestand bei der Scheidung einführte 91 . Dem beklagten Partner wurde zwar ein Widerspruchsrecht gewährt, das jedoch unbeachtlich war „wenn die Aufrechterhaltung der Ehe bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe nicht gerechtfertigt ist" 9 2 . Dabei wurde die Nichtbeachtlichkeit des Widerspruchs als Regel, die Bestandskraft der Ehe als Ausnahme aufgefaßt. Der Grund hierfür liegt in der Annahme, daß die Ehe nach dreijährigem Getrenntleben und eingetretener Zerrüttung für eine Volksgemeinschaft wertlos war 9 3 . Man kann verschiedene Fallgruppen bilden, in denen der Widerspruch unbeachtlich ist. Maßgeblich waren hier Aspekte wie der Kindersegen, den eine neue Ehe versprach, die völkisch unerwünschte Altehe oder die Legalisierung außerehelicher Beziehungen.

liehen Eheschließungsrechts begünstigt, s. St. Buchholz: S. 1627 ff (1651, 1653). Die staatliche Gesetzgebung konnte deshalb vielleicht sogar im Einklang mit Art. 119 Abs. 1 WRV regeln, welche Ehen für diesen Staat geschützt werden sollten oder nicht (Rassegesetze). Damals bestand noch die Meinung, daß sämtliche Grundrechte im Rahmen der einfachen Gesetzgebung eingeschränkt werden könnten. 91 „Ist die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten seit drei Jahren aufgehoben und infolge einer tiefgreifenden unheilbaren Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht zu erwarten, so kann jeder Ehegatte die Scheidung begehren." 92 M. Gordon: Das Wesen der Ehe, S. 202. 93 E. Volkmar: Großdeutsches Eherecht, Berlin, 1939, § 55 EheG Anm. 4.

64

D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

Auch die volkswirtschaftlichen Belange, die durch die verminderte Arbeitskraft eines durch eheliche Streitereien erschöpften Arbeiters geschädigt wurden, begründeten die Unmaßgeblichkeit des Widerspruchs 94 . Vor allem der Aspekt der Legalisierung einer außerehelichen Beziehung scheint im Widerspruch zu dem ebenfalls neu eingeführten § 9 EheG zu stehen, wo ein Eheverbot gegenüber Partnern eines Ehebruchs ausgesprochen 95 wurde. Vor dem Hintergrund der oben zitierten Rechtsprechung kann § 9 EheG damit nur als generalpräventives Abschreckungsmittel bezeichnet werden, bei dessen Androhung es aber im Interesse des Wachstums der Volksgemeinschaft blieb. Erst in späteren Entscheidungen wird dem Widerspruch der kinderreichen Frau gegenüber den bevölkerungspolitischen Erwartungen an die neue Verbindung der Vorrang eingeräumt. Die kinderreiche Frau als „Trägerin der völkischen Z u k u n f t " 9 6 und die wirtschaftliche Versorgung ihres Nachwuchses verpflichteten dann den Mann in der alten Ehe zu verharren, obwohl die neue Beziehung Kindersegen versprach 97 . Es ging also bei der Einrichtung Ehe anfangs nur um die Erzeugung von möglichst viel Rasseangehörigen, später auch um die für den Staat kostengünstigste Aufzucht durch die eheliche, und damit rechtliche Inpflichtnahme des Unterhaltsschuldners. Diese Grundeinsicht dokumentierte sich auch in der Einführung eines neuen, objektiven Zerrüttungstatbestandes, nämlich der Scheidung aufgrund vorzeitiger Unfruchtbarkeit (§ 53 EheG) eines Ehegatten 98 . Hinzuzufügen ist, daß die Scheidung wegen Unfruchtbarkeit ausgeschlossen war, wenn die Ehegatten bereits ein gemeinschaftliches, erbgesundes Kind hatten. Der Mindest-Ein-Kind-Ehe wurde also erhöhter Bestandsschutz zuteil (§ 53 Abs. 2 EheG). Falls die Unfruchtbarkeit bereits bei der Eheschließung bestand, gewährte §37 EheG einen Aufhebungsgrund 99 , und zwar sowohl für den zeugungsfähigen Mann als auch für die gebärfähige Frau. Bemerkenswert ist, daß die sexuelle Domestizierungsfunktion der Einrichtung Ehe 1 0 0 gegenüber den bevölkerungspolitischen Belangen nur zweitrangig war: „Da die Erzeugung von Nachkommenschaft zur Sicherung des Bestandes der völkischen Gemeinschaft unerläßlich und deshalb zu den wichtigsten Aufgaben der Ehe gehört, würde es dem richtig verstandenen Wesen der Ehe widersprechen, 94

M. Gordon: Das Wesen der Ehe, S. 210 ff. Ebd., S. 212. 96 Ebd., S. 214. 97 Ebd., S. 215. 98 Th. Ramm: Das nationalsozialistische Familien- und Jugendrecht, Heidelberg, 1984, S. 6 f; M. Gordon: S. 152. 99 Erich Volkmar: Großdeutsches Eherecht, 1939, § 37 EheG Anm. 4. 100 Beispiele siehe ebd. 95

V. Das Nationalsozialistische Familienrecht

65

wenn nicht auch bei vorhandener Beiwohnungsfähigkeit der Zeugimgsfähigkeit die ausschlaggebende Bedeutung beigelegt würde" 1 0 1 . Als Grundlage des nationalsozialistischen Ehe- und Familienrechts wird demnach die Befreiung des Individuums aus der gestörten Ehe propagiert. Dies verschleiert jedoch nur das allein ausschlaggebende bevölkerungspolitische Interesse des Regimes. Gestörte Ehen sind in der Regel zumindest quantitativ schlechtere Nachwuchsproduktionsanstalten als „heile" Beziehungen. Die letzte Konsequenz einer solchen, durch die Abkehr vom individuellen und damit vom Vertragsdenken losgelösten Eheauffassung wurde im Ehegesetz nicht gezogen. Die Scheidung gegen den Willen der Ehegatten - auf Antrag der Staatsanwaltschaft - zum Schutz lebenswichtiger Interessen der Gemeinschaft, wie vom Eheausschuß der Akademie für deutsches Recht vorgeschlagen, ist nicht übernommen worden. b) Die „staatliche Konkurrenz" Bereits vor Erlaß des Ehegesetzes vom 6.7.1938 wurde die Institution „Lebensborn" gegründet. Diese Anstalt diente der Aufzucht nichtehelicher Kinder und war durch ihre Existenz eine Offerte an Frauen, sich legal ungewollter Kinder zu entledigen 102 . Angesichts der bevölkerungspolitischen Zielsetzung der Familiengesetzgebung bestand nämlich ein striktes Abtreibungsverbot. Auf der Linie von Lebensborn lag auch Himmlers Weisung „Zur Kinderzeugung", die nach Kriegsbeginn unverheirateten Frauen nahelegte „guten Blutes nicht aus Leichtsinn, sondern aus tiefsten sittlichen Ernst" Geschlechtsverkehr auszuüben und nichteheliche Kinder zu gebären. Die materielle Sorge für diesen Nachwuchs wollte der Staat übernehmen. Himmler wagte zudem einen Vorstoß zugunsten der Doppelehe, die jeden gesunden Mann und „verdienten Frontkämpfer" zur effektiven Weitergabe seiner Erbeigenschaften befähigen sollte. Die Ehe sollte so nicht mehr alleinige Grundlage der Erhaltung der Nation (Art. 119 Abs. 1 S. 1 WRV) in der Zukunft bleiben. 2. Familien und Bevölkerungspolitik

Die Mutter-Kind-Familie und ihre sittliche und rechtliche Gleichstellung mit der ehelichen Familie war für den Nationalsozialismus, der die Familie lediglich aus volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Überlegungen am Leben ließ, kein theoretisches Problem. In einem Staat, der durch den 101

Ebd. 102 Thilo Ramm: Das nationalsozialistische Familien- und Jugendrecht, Heidelberg, 1984, S. 12 und Fn. 46. 5 Schmid

66

D. Die „ F a m i l i e " i n verschiedenen Rechtsgebieten

Grundsatz : „ D u bist nichts - dein Volk ist alles" 1 0 3 charakterisiert werden kann und in dem die Funktion der Ehe in der Bevölkerungsvermehrung bestand, war die durch Verwandtschaft ihrer Mitglieder strukturierte Kernfamilie entbehrlich. Ein Beispiel hierfür ist das Schicksal „besonders gutrassiger kleiner Kinder" polnischer Eltern. Diese Kinder wurden nach Trennung von ihren Familien durch Lebensborn als „deutsche Waisenkinder aus den wiedergewonnenen Ostgebieten" 104 aufgezogen. Dieser Sachverhalt war im übrigen auch Grund für die Aufnahme des Art. 6 Abs. 3 in das Grundgesetz. Des weiteren darf die Bedeutung eines Jugendzwangsverbandes wie der Hitlerjugend, in die jeder Zehnjährige eintreten mußte, nicht unterschätzt werden. Die in der Biedermeierzeit noch gerühmte, gemeinsam verbrachte Familienfreizeit wich einer für jedes Mitglied einzeln und staatlich organisierten Freizeitbestimmung. Der Antagonismus zwischen Eltern- und Kindergeneration war zudem als politisches Kampfmittel zur Steuerbarkeit der Massen geeignet. Peer groups suchten nach einer Autorität und nahmen die entfernte staatliche lieber als die unmittelbare elterliche an. Pflegeindustrien wie Lebensborn machten der Familie als Sozialisationsund Soziabilisierungsinstanz Konkurrenz, die die Familie wohl nur deshalb auffangen konnte, da sie insgesamt kostengünstiger und für den einzelnen wohl attraktiver (Solidaritätsgedanken einer dauernden Partnerschaft) war. 3. Zusammenfassung

Die eheliche Familie sollte aufgrund der Stabilität ihres Subsystems quantitativ möglichst viele Kinder produzieren (Mutterkreuz). Die Ehe dient damit nur zur Produktion und Erziehung von erbgesundem Nachwuchs und ist hierfür auch nur deswegen geeignet, weil die Stabilität der Beziehung die Quantität der Produktion (Kinder) positiv beeinflußt. Dies belegen auch Hitlers Äußerungen: „Ein völkischer Staat wird damit in erster Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande herauszuheben haben, um ihr die Weihe jener Institution zu geben, die berufen ist, Ebenbilder des Herrn zu zeugen und nicht Mißgeburten zwischen Mensch und Affe" 1 0 5 . Neben der Ehe sind konkurrierende Institutionen wie Lebensborn zur selektiven Auswahl erbgesunden Nachwuchses als Angebot an nicht verheiratete Mütter nützlich. Die Familie als Hort der Intimität kann in einem totalitären Staat gerade nicht gefördert werden. Familiäre Sozialisationsleistungen werden so früh wie möglich durch den Staat übernommen. Eine individuelle Vermittlung 103 104 105

M. Gordon: Das Wesen der Ehe, S. 148. Th. Ramm: Das nationalsozialistische Familien- und Jugendrecht, S. 40. Adolf Hitler: Mein Kampf, München, 1935, S. 444.

V. Das Nationalsozialistische Familienrecht

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von kulturellen Werten steht, solange nicht der Staat bis in das letzte Wohnzimmer eingedrungen ist und so die Linientreue garantiert wird, dem auch kulturellen Totalitätsanspruch des Staates entgegen. Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik hielt sich dabei im verbalen Rahmen der WRV („dient der Vermehrung der Nation", „kinderreiche Familien") - der Sinngehalt eines an der Menschenwürde und Selbstbestimmung festhaltenden Verfassungswerks wurde durch die nationalsozialistische Praxis und das Alltagsleben indes in ihr Gegenteil verkehrt 1 0 6 .

106

5*

Th. Ramm: Das nationalsozialistische Familien- und Jugendrecht, S. 45.

E. Die Familie im Bürgerlichen Gesetzbuch I . Vorbemerkung

Vergleicht man die familienrechtlichen Regelungen des ALR von 1794 mit dem BGB von 1896, so fällt auf, daß das BGB nur Rahmenbestimmungen des persönlichen Familieninternums enthält. So werden z.B. die Nutznießung und Verwaltung des Kindesvermögens, die güterrechtliche Seite des Familieninternums, viel genauer geregelt als die väterliche Gewalt. Hier bleibt es bei einer gesetzlichen Feststellung der väterlichen Gewalt oder Sorgeberechtigung, während sich die Gesetzesinitiativen zur Aufnahme eines Paragraphen, der die Gehorsamspflicht der Kinder gegenüber ihren Eltern aussprechen wollte, nicht durchsetzen konnten. Dieser Verzicht auf Regelungen über die Berechtigung zur Verweigerung des Beischlafes während der Stillzeit und über die Länge der Stillzeit erfolgte nicht zufällig. Die Verfasser der größten kodifikatorischen Glanzleistung des 20. Jahrhunderts hatten eine neue Technik entwickelt. Durch die Benutzung sog. Generalklauseln in der Gesetzgebung sollten dem Staat und seinem Rechtssystem die Regelung persönlichkeitsbestimmter Familienangelegenheiten en detail verschlossen bleiben. Das Privatrecht des BGB, das von der Autonomie der Mitglieder ausging, wollte sich nicht mehr zum Instrument staatlicher oder kirchlicher Ordnungsvorstellungen machen. Das Privatrecht erkannte damit eine Intimsphäre des Individuums an. Belege für das Selbstbewußtsein dieses Gesetzgebers, das sich von ordnungspolitisch orientierten Gerechtigkeitsvorstellungen abhob, sind in der Diskussion um die Regelung der Ehescheidung zu finden. Hier lehnte man es nämlich ab, die katholische Trennimg von Tisch und Bett anstelle eines Scheidungsrechts in das BGB zu übernehmen. Als Grund hierfür wurde angegeben, daß der unschuldige Teil und seine Kinder lebenslang mit dem schuldigen Teil ohne die Chance auf eine Rekonstituierung der Familie leben müßten 1 . Vorangegangen war diesem Wissen, was des Rechts und was der Sitte und damit der Privatheit des Individuums sei, die Arbeit vor allem von F. K. v. Savigny. An diesem Punkt muß erklärt werden, wieso der Ausscheidung des Familienverhältnisses aus dem Geltungsbereich des Rechts so große Bedeutung zugemessen wurde. Der Kampf um Individualfreiheiten vor allem wäh1 Benno Mugdan: Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das deutsche Reich, 4. Bd., 1899, S. 301.

I. Vorbemerkung

69

rend der Aufklärimg ließ die „Revolutionäre" nach dem Vertragsgedanken greifen. Historisch müssen hierbei die zwei Pfeiler der Aufklärungsdiskussion gesehen werden: zum einen das Vertragsdenken, das absolutistische Macht zwang, sich vertraglich zu binden bzw. zu legitimieren. Der Monarch, der als Resultat dieser Gedanken durch den Unterwerfungsvertrag seiner Untertanen in der konstitutionellen Monarchie eingesetzt ist, w i r d in eine vertragliche Bindung gezwängt. Die Stärke dieser Bindung bzw. seiner Inpflichtnahme w i r d dabei durch die Verhandlungsmacht der übrigen Individuen bestimmt. Zweiter Pfeiler des Aufklärungsdenkens ist die Außerrechtlichkeit bestimmter Sachverhalte. Wo ein Vertrag, wo das Recht nicht regeln kann, da versagt die Macht des Staates. Entsprechend muß auch die strikte Zuordnung von Familiensachverhalten zu metaphysischen Ordnungen als Abwehrhaltung gegen ein staatliches Regelungsbedürfnis, wie ζ. B. im ALR gesehen werden. Als theoretisches Argument wurde die Vorstaatlichkeit bzw. Überstaatlichkeit einzelner Einrichtungen ins Felde geführt, nachdem der Vertragsgedanke keinen Schutz für die Familie gebracht hatte. Mit der Entdeckung von Grundrechten hat die Zuordnung von Familiensachverhalten zu dem Recht entzogenen Sachbereichen - wie Geschichte oder Sitte - eine weitere Bedeutung erhalten. Zum einen anerkannte einer der profilierten Vertreter in der juristischen Dogmatik, C. Schmitt, lediglich vor- oder überstaatliche Bereiche menschlichen Handels als grundrechtsfähig an. Zum anderen bildeten die dem sittlichen und damit dem außerrechtlichen Gehalt der Familie entnommenen Strukturmerkmale der Institutsgarantie „Familie" die Schranken für Eingriffe des einfachen Gesetzgebers in die Familie. Es ist kein Zufall, daß E. Schef fier 2 die Vor- und Überstaatlichkeit bzw. den überverfassungsrechtlichen Rang der Familie in ihrem 1954 erschienenen Aufsatz betont. Auf einer weiteren Stufe der Rechtsentwicklung, in der Freiheiten durch den Rechtsstaat und nicht nur durch die bloße natürliche Vorgegebenheit begründet werden, müssen realistische Darstellungs- und Sichtweisen solcher angeblich originärer Institute, wie der Familie, gefunden werden. Diejenige Familienform, die vielleicht einmal vorstaatlich gewesen ist, unterscheidet sich von unserem heutigen Familienleben mit Geschirrspülmaschine, Schule und technisierter Arbeitswelt grundlegend. Aus einem weiterem Grunde ist eine Ablösung vom Naturrecht notwendig. Einer „Flaschenerziehung" i m Sinne Aldous Huxley s und einer i n Israel praktizierten Kibuzzerziehung, die sich durch eine Ablösung von Erziehungsfunktionen 2 E. Schef fier: Ehe und Familie, S. 251. Zu den Zusammenhängen mit der Positivität oder der Überpositivität der Grundrechte, Roman Herzog: Allgemeine Staatslehre, Athenäum, 1971, S. 367 ff.

E. Die Familie i m Bürgerlichen Gesetzbuch

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aus der Familie auszeichnet3, können natürliche oder naturrechtliche Argumente nicht überzeugend entgegengesetzt werden. Eine an Klarheit und Übersichtlichkeit hervorstechende Bemühung um die Zuordnung von Familie zu Recht und außerrechtlichen Sachverhalten, hat hierbei F. K. v. Savigny geleistet. Seine Gedanken zur Familie sind für den Schritt über den „Graben" von ALR- zur BGB-Gesetzgebungstechnik so bedeutsam, daß sie einer Untersuchung der einzelnen Vorschriften des BGB von 1896 und 1987 vorangestellt werden. Π . D i e Institution „Ehe" i m Sinne v. Savignys 1. Die Unterscheidung von Obligation und absolutem Recht

Die vom gemeinen Recht geprägten Rechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts unterschieden streng zwischen relativen (Obligationen) und absoluten Rechten; also zwischen Rechtspositionen, die nur gegenüber Vertragspartnern, und Rechten, die gegenüber jedermann geltend gemacht werden konnten. Diese Unterscheidung warf die Frage auf, welchen von beiden Rechtsbereichen das Familienrecht bzw. die Familienverhältnisse zuzuordnen seien. Das Wesen von Obligation und absolutem Recht charakterisierte Savigny dabei wie folgt 4 . a) Das absolute Recht „Die erste mögliche Beziehung zu einer fremden Person ist die, worin dieselbe auf ähnliche Weise wie eine Sache, in das Gebiet unserer Willkür herein gezogen, also unserer Herrschaft unterworfen wird. Wäre nun diese Herrschaft eine absolute, so würde dadurch in dem Anderen die Freiheit und Persönlichkeit aufgehoben; w i r würden nicht über eine Person herrschen, sondern über eine Sache, unser Recht wäre Eigentum an einem Menschen, sowie es das römische Sklavenverhältnis . . . ist." Savigny faßt in seinem „System des Römischen Rechts" die väterliche Gewalt nicht als ein solches absolutes Recht auf. Er betont damit die Freiheit auch der Personen, die unter väterlicher Gewalt stehen. Diese Auffassung kann sich auf eine Entwicklung berufen, die schon von der altrömischen bis zur spätklassischen Zeit zu beobachten ist. I n zunehmendem Maße w i r d der ursprünglich unbeschränkt herrschende paterfamilias in der Ausübung seiner Erziehungsrechte durch die pietas (religiöse Verpflichtung) und später durch das Recht in Schranken gehalten. 3 4

H. Darin/Drabkin: Der Kibbuz, Stuttgart, 1967, S. 159. F. K. v. Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, 1. Bd., S. 338 f.

II. Die I n s t i t u t i o n „Ehe" i m Sinne v. Savignys

71

b) Die Obligation Die Obligation unterscheidet Savigny von der Inhaberschaft über ein absolutes Recht in zweifacher Weise5: - Das Obligationenrecht muß eine Restfreiheit des einzelnen respektieren, was beim absoluten Recht nicht gefordert wird. Die väterliche Gewalt, die bei Savigny nicht absolut ist, könnte deshalb dem Forderungsrecht zuzuordnen sein. - Die Obligation hat als Bezugspunkt nur eine Handlung, die aus der Freiheit des Handelnden ausgeschieden und dem Willen des anderen unterworfen gedacht wird. Das Familienverhältnis besteht demgegenüber aus vielen Rechten und Pflichten der Mitglieder und kann deshalb nach Meinung Savignys dem Forderungsrecht nicht unterworfen werden 6 . 2. Die Institute des Familienrechts: Ehe, väterliche Gewalt und Verwandtschaft

Deshalb muß neben Obligation und absolutes Recht das Familienrecht als dritte Kategorie privatrechtlicher Bindung treten 7 . Jenseits dieser formalen Überlegungen einer Zuordnung des Familienrechts hat Savigny auch eine materiell-inhaltliche Begründung für die suigeneris-Natur der Familie. Von Obligationen und absoluten Rechten unterscheidet er die Familienbeziehungen durch die Unselbständigkeit des familienlosen Individuums. Die „Unselbständigkeit" des Individuums ohne Familie bei Savigny erklärt sich aus seinem Staatsbild. „ I n den Familien sind die Keime des Staates enthalten, und der ausgebildete Staat hat die Familien und nicht die Individuen unmittelbar zu Bestandteilen 8 ' 9 ." Zu diesem konstruktivistischen Definitionsmerkmal des Staates tritt gleichberechtigt - ein zweites Merkmal hinzu: „der Naturzusammenhang". Savigny w i l l den Staat nicht als theoretisches Gedankengebäude auf dem s Ebd., S. 339. 6 Zwar kennen wir heute komplexe Vertragswerke, die eine Fülle von Verpflichtungen und Rechten der Vertragsparteien beinhalten. Die Verpflichtung immündigen und nicht geschäftsfähigen Partnern gegenüber - den Kindern, die i n das „Obligationenverhältnis" hineingeboren wurden - rechtfertigt eine besondere Natur des Familienverhältnisse gegenüber der Obligation anzunehmen. 7 Des weiteren erlaubt Savignys Vergleich des Wesens des absoluten Rechts und der väterlichen Gewalt eine inhaltliche Aussage: Im Privatrecht kann es eine die Individualfreiheit einer anderen Person ausschließende Rechtsgewalt nicht geben. 8 F. Κ . v. Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, 1. Bd., S. 344. 9 Diese Denkweise entspricht auch dem rechtlichen Familienmodell „des Hauses". Das Vertretungsprinzip, daß nämlich der Hausherr die seinem Hausrecht Unterworfenen vertritt, macht es auch staatsrechtlich unmöglich, die Individuen zu Vertragschließenden zu erklären. Diese Konsequenz wird auch von Bodin gezogen, der den Staatsvertrag von Familienvätern abschließen läßt.

72

E. Die Familie i m Bürgerlichen Gesetzbuch

Reißbrett stehen lassen, sondern in den Naturzusammenhängen der Menschheit - nämlich der Endlichkeit menschlichen Lebens - verankern. Der Staat als Idee ist nicht sterblich; was aber wenn seine Bürger, die Träger der Staatsidee aussterben? Hier w i r d die Funktion der Familie offenbar: Als Keimzelle des Staates gewährleistet sie seine generationenüberdauernde Existenz; etwas wozu der einzelne nicht fähig ist 1 0 . Jeder Mensch ist deshalb in zweifacher Hinsicht ergänzungsbedürftig: zum einen - in Bezug auf das andere Geschlecht, ohne das keine Nachkommen gezeugt werden können; - und zum anderen in Bezug auf seine Lebenszeit. Da unser Dasein auf Erden beschränkt ist, bedarf es der Nachkommenschaft, und damit der Fortentwicklung und Kontinuität der Menschheit und des Staates auf der einen und dem Recht auf Postexistenz des einzelnen auf der anderen Seite 11 . Aus dieser Unselbständigkeit des einzelnen ergibt sich bei Savigny die Notwendigkeit dreier sich ergänzender familienrechtlicher Institute, nämlich der Ehe (Geschlecht), der väterlichen Gewalt (zeitliches Moment) und der Verwandtschaft 1 2 ' 1 3 . 3. Die Beibehaltung der Unterteilung von Schuld-, Sachen- und Familienrecht im BGB

Durch die Gedanken von Savigny läßt sich die Einteilung des Bürgerlichen Gesetzbuches in Schuld-, Sachen-, und Familienrecht erklären. Von den beiden anderen Teilgebieten unterscheidet sich das Familienverhältnis (bestehend aus den drei Instituten) dadurch, daß es die Person als Ganzes, und insofern als ein Glied in dem organischen Zusammenhang der „Menschheit" zum Gegenstand hat. Die Obligation hat demgegenüber nur einzelne Handlungen, das absolute Recht ein Herrschaftsrecht über die „ganze" Person zum Gegenstand. Ein weiterer Unterschied: Der Stoff der Familienverhältnisse ist für Savigny durch die organische Natur des Menschen bestimmt. Der Stoff der Obligation ist willkürlicher Natur, also durch Vertragsabschluß und Gestaltungsfreiheit geprägt. Die Verwandtschaft des Großvaters mit seinem Enkelkind hat mit einer Gestaltungsfreiheit beider 10 Savigny kann hier sinngemäß von der Funktion der Familie sprechen, da er anders als nachfolgende Generationen - eine organisierte, vermeintlich sozialstaatliche Massenaufzucht von Kindern (wie im Nationalsozialismus) nicht vor Augen hatte und in seiner Tendenz, die Familie aus dem rechtlichen Regelungsbereich herauszuheben, individualistisch gesinnt war. 11 F. Κ . v. Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, 1. Bd., S. 340. 12 Ebd., S. 342. 13 A m wenigsten begründet Savigny die Notwendigkeit der Verwandtschaft. Lediglich die positiven Erfolge einer Gesetzgebung, die seit nahezu zwei Jahrtausenden an die Verwandtschaft anknüpfte, sprechen für diese. Demgegenüber wurde hier die Terminologie „Ehe" und „väterliche Gewalt" beibehalten, da S. nicht willkürlich aktualisiert werden soll.

II. Die I n s t i t u t i o n „Ehe" i m Sinne v. Savignys

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nur entfernt etwas gemein. Auch ist die Obligation vorübergehender, das Familienverhältnis dauernder Natur. Schuldverhältnisse, die über einen bestimmten Zeitraum 1 4 verpflichten, werden allein aufgrund der Länge der Zeitdauer als knechtend und damit sittenwidrig qualifiziert (§ 138 Abs. 1 BGB). Das Familienverhältnis ist deshalb ein besonderes, von Obligation und absoluten Rechten zu unterscheidendes Rechtsgebiet. Diese Andersartigkeit führt zu einer Aufteilung des Privatrechts in Sachen-, Obligationenund Familienrecht. In konsequenter Fortführung dieser Gedanken gelangt man auch zu einer Aufteilung in persönliche und andere, von vermögensrechtlichen Interessen beeinflußte Familienrechtsangelegenheiten 15 . Zu den persönlichen Familienrechten zählt die elterliche Personensorge, zu den vermögensrechtlichen Familienangelegenheiten das eheliche und familiäre Güterrecht. Bezüglich der vermögensrechtlichen Familienangelegenheiten behält der Grundsatz der Vertragsfreiheit des bürgerlichen Rechts (Art. 2 Abs. 1 GG, §§ 241, 305 BGB) weitgehend Geltung, während für die persönlichen Familienangelegenheiten die Unübertragbarkeit, Unvererblichkeit und die strenge Bindung der Rechte an die Inhaberschaft einer familiären Rolle (Mutter, Vater . . .) typisch ist. 4. Der metaphysische Hintergrund für die Abschichtung der Familie aus dem Recht die Trennung von Urrecht, Selbst und äußerer Welt

Savigny begründete seine Aufteilung in Obligation, absolutes Recht und Familienrecht mit einer - modern gesprochen - Modellvorstellung des Verhältnisses „Individuum und Recht". Er erkennt drei Bereiche: - Das ursprüngliche Selbst. Ihm entspricht das sog. Urrecht, welches wir gar nicht als eigentliches Recht behandeln. - Das in der Familie erweiterte Selbst. Die hierin mögliche Herrschaft unseres Willens gehört nur teilweise dem Rechtsgebiet an, und bildet hier das Familienrecht. - Die äußere Welt Die Herrschaft des Willens, die sich hierauf bezieht, fällt ganz in das Rechtsgebiet und bildet das Vermögensrecht, welches wieder in das Sachen- und Obligationenrecht zerfällt. 14 Bei den Bierlieferungs- und Abnahmeverträgen hat man als Anhaltspunkt einen Zeitraum von 20 Jahren (Palandt/Heinrichs: § 138 BGB Anm. 5 c). 15 K. Larenz: Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, München, 1980, S. 188.

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E. Die Familie im Bürgerlichen Gesetzbuch Vermögensrecht Familienrecht Sitte Selbst

Für Savigny, der die Regeln der ehelichen Lebensgemeinschaft und der väterlichen Gewalt lediglich in der Sitte angesiedelt sieht, bewegt sich die Familie nur im zweiten Kreis. Für ihn ist - anders als im BGB geschehen eine Scheidung persönlicher und vermögensrechtlicher Familienangelegenheiten nicht erforderlich, da er von vornherein lediglich vermögensrechtliche Aspekte als familienrechtsfähig ansieht. Anderes gilt für das BGB, das mit dem Ehevertragsrecht (§ 1408 BGB) in den äußersten Kreis vordringt, und auf der anderen Seite z. B. deliktische Ansprüche (§ 823 ff BGB) zwischen den Ehegatten modifiziert (§ 1359 BGB) und so das Familienrecht auf das allgemeine Vermögensrecht wirken läßt. Auch für Savigny stellt sich, wenn auch in etwas anderem Umfang, das Problem des Verhältnisses von „Recht und Familie". 5. D i e „Institution Familie"

Weil die Familie nicht in das gewöhnliche Raster von durch Vertrag begründeten und absoluten Rechten paßt, muß Savigny eine andere Betrachtungsweise zur Familie entwickeln. Das Wesen der Familie ist für ihn in der menschlichen Natur begründet (ius naturale) 16 . „Dieses Naturverhältnis ist aber für den Menschen notwendig zugleich ein sittliches Verhältnis", formuliert Savigny 17 . Neben das Naturvèrhâltnis tritt die Rechtsform, in die ein staatlicher Gesetzgeber die Familie einpaßt. Bei Savigny ergibt sich also eine Dreiteilung des Familienverhältnisses, nämlich in eine natürliche, eine sittliche und eine rechtliche Komponente 18 . Wichtig ist jetzt die Bewertung der einzelnen Komponenten des Familienverhältnisses und die Zuordnung von Sachverhalten zu einer bestimmten, nämlich der natürlichen, sittlichen oder rechtlichen Komponente der Familie. a) Das natürliche Element Savigny erkennt zwar die Kausalität des menschlichen Fortpflanzungstriebs für die Familie an, gesteht ihm aber keine selbständige Herrschaft 16

F. Κ . v. Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, 1. Bd., S. 346. Ebd., S. 346. 18 Die Ähnlichkeit mit einem faktischen, normativen und metaphysischen Institutionenbegriff sei hier nur angemerkt; B. Rüthers: Institutionelles Rechtsdenken im Wandel der Verfassungsepochen, S. 42 ff. 17

II. Die I n s t i t u t i o n „ E h e " i m Sinne v. Savignys

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über die Familie zu. Trieb und Naturzweck fänden sich zwar beim Menschen wie beim Tier; Tier- und Menschenfamilie seien aber völlig unterschiedlich. Er wendet sich damit gegen Kant, der die Familie als Resultat des für beide Geschlechter notwendigen Geschlechtsverkehrs definiert. Eine solche Definition ist für Savigny Verkennung und Herabwürdigung des Familienrechtsverhältnisses, das von der Sitte beherrscht wird. b) Das sittliche Element Im Gegensatz zum Fortpflanzungstrieb diskutiert Savigny als den eigentlichen Inhalt der zur Familie gehörenden Rechtsverhältnisse die Macht bzw. „das Recht, welches w i r gegen die andere unserem Willen unterworfene Person haben, nur daß diese Unterwerfung nicht eine totale, sondern eine beschränkte, lediglich die Familienbeziehung afficierende", ist. Die väterliche und ehemännliche Gewalt als eigentlichen Inhalt des Familienverhältnisses lehnt er ab, da das römische Recht eine rechtliche Verpflichtung des Sohnes oder der Ehefrau zum Gehorsam nicht kenne 19 . Vehement wehrt sich Savigny gegen eine Verrechtlichung dieser väterlichen Gewalt. Er bezieht sich auf das römische Recht, das keine Klagen im Innenverhältnis zwischen Sohn und Vater, zwischen Ehefrau und Ehemann kenne 20 . Väterliche Gewalt und Treue in der Ehe gehören seiner Ansicht nach in den sittlichen Bereich, und könnten nicht dem Rechtsbereich überlassen werden. c) Das rechtliche Element Da also die väterliche Gewalt für Savigny in der Sitte wurzelt, bleibt für den originären Rechtscharakter der Familie nur die Stellung des einzelnen im organischen „Ganzen" übrig. Diese Erfahrung macht jede Person innerhalb der Familie; sie ist nicht nur Mensch, sondern auch Ehegatte, Vater und Sohn und lebt so in einer festbestimmten, von ihrer individuellen Willkür unabhängigen, und in einer großen, vom Naturzusammenhang begründeten Lebensform. Hierin bestehe der Inhalt der Familie 2 1 , an den das Recht anknüpft. Das Recht bestimme Anfang und Ende dieser Rolle durch die Institute der Heirat, der Scheidung und der Verwandtschaft. Nicht regelbar für das Recht sei das innerfamiliäre (Alltags-)Leben.

19 20 21

F. Κ . v. Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, 1. Bd., S. 348 f. Ebd., S. 348. Ebd., S. 349 f.

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E. Die Familie im Bürgerlichen Gesetzbuch d) Gesamtbetrachtung

Die Freihaltung des familiären Raumes vor dem Recht ist das dogmatische Postulat der scharfen Scheidung Savignys zwischen Obligationen-, absoluten Rechten und dem Familienrecht. Erst durch die von Savigny eingeführte Trennung wird es überhaupt plausibel, daß bestimmte Bereiche des Familienrechts staatlicher Regelung entzogen sind. Durch diese „Verbannung" des Rechts aus dem Innenverhältnis der Familie sieht auch Savigny seine Unterscheidung zum Obligationenrecht und den absoluten Rechten, die er für die Erfassung der Familie als nicht sachgemäß definiert hat, als gerechtfertigt an 2 2 . Es entsteht also technisch gesprochen ein Rückkoppelungseffekt. Wie bedeutsam und grundlegend Savignys Modell für die Eroberung eines familienrechtlichen Freiraums war, zeigten die gegenläufigen Bestrebungen des ALR und der Pandektisten unter der Vorhut von B. Windscheid. 6. Die Verrechtlichung der Familie

Eine andere Gewichtung des Verhältnisses von Recht und Familie findet sich bei B. Windscheid 23 . a) Die Verrechtlichung

sittlicher Gebote

Die Existenz sittlicher Pflichten, deren äußere Anerkennung die Aufgabe des Rechts ist, wird nicht bestritten. Dennoch werden diese sittlichen Pflichten dadurch verrechtlicht, daß das Gesetz dem einzelnen Familienmitglied Rechtspositionen gegen den Pflichtunterworfenen einräumt. Zumindest diese vom Recht gewährten Forderungen verrechtlichen die sittliche Pflicht der Familienmitglieder; machen sie also zu einer rechtlichen. b) Die „Familienpflichtrechte" Trotz des vermeintlich rechtlichen Charakters des Familieninternums kommt man nicht umhin das Besondere, das diese Familienrechte von den anderen Rechten des Privatrechts unterscheidet, zu betonen: „Die Pflicht ist das Prinzipale und das Recht nur um der Pflicht willen da, während bei allen übrigen Rechten die Pflicht nur die andere Seite des Rechts ist" 2 4 .

22

Ebd., S. 349. Th. Kipp in B. Windscheid: Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Bd., S. 171 ff. 2 * Ebd., S. 172. 23

II. Die I n s t i t u t i o n „Ehe" i m Sinne v. Savignys

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Hintergrund dieser Meinung ist eine gänzlich andere Bewertung der Stellung des paterfamilias im römischen Recht als bei Savigny. Wo Savigny das familienrechtliche Verhältnis klar vom absoluten Eigentumsrecht über die Sklaven trennt, und mit der Begründung der Erstreckung der väterlichen Gewalt lediglich auf das private und nicht auf das öffentliche Recht die sittliche Natur des Familienverhältnisses begründet, betont Windscheid die sittliche Pflicht schon des römischen paterfamilias und damit die Gewährung von Individualrechten primär zur Erzwingung der Einhaltung dieser Pflichten. Mit dieser Aussage wird die Verrechtlichung der bei Savigny als sittlich qualifizierten Innennormen gefordert. Familienrechte unterscheiden sich also von sonstigen Rechtspositionen dadurch, daß sie den Begünstigten nur zur Kontrolle der Pflichteinhaltung des einzelnen Familienmitglieds gewährt werden. Diese Sichtweise des Gemeinrechtlers Windscheid bietet eine Erklärung für das eigentümliche Zusammenspiel der Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft auf der einen (§ 1353 Abs. 1 S. 2 BGB) - und der Nichtvollstreckbarkeit des Titels (§ 888 Abs. 2 ZPO) auf der anderen Seite. Das Recht auf Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft geht weniger weit als die sittliche Pflicht des lebenslänglich gebundenen Ehegatten. Dem ist entgegengehalten worden, daß wie bei sonstigen Rechten auch Ansprüche aus dem Familienverhältnis vorwiegend zugunsten des einzelnen bestehen 25 . Diese Ansicht vermag das Defizit von rechtlich normierten Familienpflichten und der individuellen Einklagbarkeit bzw. Vollstreckung derselben, die im Familienrecht des BGB allenthalben festzustellen ist, nicht zu erklären. Die Tendenz zur lex imperfecta hat sich im Familienrecht verstärkt, wie ζ. B. an der Einführung der § 1618 a und § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB deutlich wird. Im Familienrecht scheint es typisch zu sein, daß Rechte des einzelnen zugunsten der Leistungsoptimierung der Familienfunktionen gewährt werden. Die Familienpflicht geht dabei regelmäßig weiter als das einklagbare Recht eines Familienmitglieds. Festzuhalten ist deshalb: Das Familieninternum kann nach Ansicht Windscheids in Einklang mit der Sitte vom Recht voll in Besitz genommen werden. Die Unterwerfung unter die väterliche Gewalt ist deshalb eine rechtliche, und keine Frage der Sitte, wie bei Savigny. Die Hoffnung auf einen rechtsfreien - und damit dem staatlichen Einfluß entzogenen - familiären Innenraum, hat sich nach dieser Meinung nicht erfüllt. Wenn man vor diesem Hintergrund die Generalklauseltechnik des BGB analysiert, dann zeigt sich ein Unterschied zwischen Familien- und Ehe25

Ebd., S. 172, Fn 2.

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E. Die Familie i m Bürgerlichen Gesetzbuch

recht. Während bei der Ehe durch die Einführung der grundsätzlichen lebenslangen Ehe- und Lebensgemeinschaft das gesamte Eheleben unter die Generalklausel fällt, so beschränkt sich diese Generalklauseltechnik bei der Familie auf den Zeitraum, in dem die Kinder erziehungsbedürftig sind. Lediglich die erziehungsbedürftigen Kinder unterstehen der väterlichen Gewalt. Weitergehende, generalklauselartige Erfassungen des Familienlebens blieben einer späteren Epoche (§ 1618 a BGB) vorbehalten. Welche weitreichenden Folgen die Aufgabe der strikten Scheidung von sittlichem und rechtlichem Bereich hat, zeigt sich bereits in der Unterscheidung von vermögensrechtlichen und persönlichen Familienangelegenheiten. Die vermögensrechtlichen Angelegenheiten werden negativ definiert, nämlich als diejenigen, die nicht persönliche Familienrechte sind. Sie sollen grundsätzlich wie andere Forderungen behandelt werden. Persönliche Rechte hätten demgegenüber ihren Grund in der sittlichen Natur der Familie 2 6 , für sie gälten die allgemeinen Vorschriften nur sehr eingeschränkt. Wer w i l l bestimmen, welche Rechte im Sinne einer bürgerlichen Rechtskodifikation sittlicher Natur sind? Diese Frage wird nur „ex post", d. h. nach der Normierung diskutiert, und daß die Zugewinngemeinschaft (§§ 1372 ff BGB) als Ausdruck einer güterrechtlichen Lebensgemeinschaft sittlichen Gerechtigkeitsgeboten entsprechen kann, w i r d nicht bestritten. Das Güterrecht ist aber gerade ein Paradebeispiel für Familienrecht, das nach dem Recht der Obligationen behandelt werden soll. Die klare Trennung von Recht und Sitte in der Familie ist mit solchen Unterscheidungskriterien also aufgegeben. Der Gesetzgeber kann nicht mehr auf eine sittliche Familienvorstellung verweisen und Bezug nehmen, sondern muß diese rechtlich, z. T. en detail ersetzen. Auch diese Anschauungsweise muß differenzierte Kriterien zum Schutz der einzelnen Familie entwickeln. Dies geschieht technisch, indem man dem Institutionenargument als Grundlage der Generalklauseltechnik das Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit gegenüberstellt. c) Die Durchbrechung des Institutionenarguments und der Generalklauseltechnik zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit Gerade in Bezug auf die Festlegung des Ehegüterrechts wird vom BGBGesetzgeber ein solcher Rückzug vom Wesens- oder Institutionenargument vorgenommen. Anlaß ist die Frage, ob die Gütergemeinschaft als vermögensrechtliches Abbild der ehelichen Lebensgemeinschaft bevorzugter gesetzlicher und eventuell einziger Güterstand werden soll. 26

Ebd., S. 173.

II. Die I n s t i t u t i o n „ E h e " i m Sinne v. Savignys

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Die Motive formulieren: „Sobald man aber die in dieser Beziehung aus dem Wesen der Ehe sich ergebenden sittlichen Pflichten in Rechtspflichten umwandelt, hört nach der Natur des Rechtes die Möglichkeit einer Berücksichtigung des einzelnen Falles auf, und das System der Gütergemeinschaft muß daher bei dem Versuche, ein dem sittlichen Wesen der Ehe vollständig entsprechendes Recht herzustellen, zu Rechtssätzen gelangen, deren Anwendung im Einzelfalle dem sittlichen Wesen der Ehe keineswegs entspricht" 2 7 . Hier spielt der Einzelfall, der durch die Verrechtlichung sittlicher Gebote nicht sachgerecht gelöst wird, eine große Rolle. Bei den personalen Ehewirkungen „traut" sich der Gesetzgeber hier mehr zu. Nur durch die Mißbrauchsklausel des § 1353 Abs. 2 BGB w i r d der generelle Anspruch auf eheliche Lebensgemeinschaft ausgeschlossen. Und wann die Klage auf Wiederherstellung des ehelichen Lebens aus innerehelichen Gründen mißbräuchlich ist, könnten die staatlichen Gerichte ohne „Verletzung des sittlichen Wesens der Ehe" im Einzelfall entscheiden. Dem liegt eine zu optimistische Einschätzung der Möglichkeiten der rechtssprechenden Gewalt zugrunde. Bei § 1353 BGB greift der Staat durch den auf eine Klage tätig werdenden Richter in das Eheleben ein, bei einer gesetzlichen Regelung der ehelichen Gütergemeinschaft durch den Gesetzgeber unmittelbar. Dem Gesetzgeber bringt das BGB Mißtrauen entgegen, soweit er „Ehe und Familie" regeln will. Seine schematisierenden Regeln passen nicht auf jeden Einzelfall, so daß er auf Generalklauseln verwiesen wird. Generalklauseln setzen dabei die Existenz einer Institution voraus - was anderes könnten sie rahmenartig umfassen und umschreiben? Wie sonst könnten sie ausgelegt werden? In personalen Familienangelegenheiten befaßt sich die Rechtsprechung intensiver mit den Einzelfällen, aufgrund der generalklauselartigen Ermächtigungsgrundlage (§ 1353 BGB) des Gesetzes bleibt ihr auch kein Lebensraum innerhalb von Ehe und Familie verschlossen. Auch die Rechtsprechung ist eine staatliche „Behörde", und letztlich bleibt es beim Zusammenspiel von wertausfüllungsbedürftiger Generalklausel und Rechtsprechung bei einem, wenn auch punktuell auf die einzelne Lebensgemeinschaft bezogenen, staatlichen Dirigismus bis in den Kernbereich der persönlichen Intimität des einzelnen. Dabei w i r d als selbstverständlich vorausgesetzt, daß dieser Eingriff, der theoretisch durch das Wesen der Ehe gerechtfertigt wird, nicht selbst das „sittliche Wesen der Ehe" verletzt. Dies wäre ζ. B. der Fall, wenn das „sittliche Wesen der Ehe" in der „Intimität der Ehegatten" besteht. Dann verletzte auch die unter Rechtsschutzgesichtspunkten nicht zu rechtfertigende Klage auf Herstellung des ehelichen Lebens das Wesen der Ehe als Institution und die konkrete Ehe. 27

S. 81.

B. Mugdan: Die gesamten Materialien zum bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Bd,

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E. Die Familie i m Bürgerlichen Gesetzbuch

Dem einzelnen Ehegatten, der seine Rechte hier einklagt, nützt letztendlich weder der Sieg noch die Niederlage. Staatliche Vollstreckungshilfe bei der Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft kann er nicht beanspruchen. Man fragt sich deshalb, welchen Sinn die Eröffnung eines solchen Rechtsanspruches der Ehegatten gehabt haben mag. Im 19. Jahrhundert, in dem die Vorarbeiten zur Schöpfung des BGB geleistet wurden, herrschte ein politisch anderer Zeitgeist. Die eheliche Familie wurde als Verhaltensraster vor allem den Unterschichten zur Verfügung gestellt. Wenn der einzelne sich den Zwängen dieser Institution nicht gewachsen zeigt, dann konnte das Band zwischen den Ehegatten auf Antrag des Schuldlosen zerschnitten werden. Wie bei der Klage auf Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft, so sprach auch beim Scheidungsbegehren das öffentliche Interesse gegen beide Ehegatten. Auch wenn das Verfahren auf Antrag von einem von beiden überhaupt erst in Gang kam, mußten beide aus ihrem intimsten Leben Einzelheiten offenbaren, um dem Staat zu beweisen, daß sie in ihrer Gesamtheit am Raster der ehelichen Institution gescheitert waren. Bis heute hat sich an dieser Beweislastverteilung nichts geändert. Auch nach dem Zerrüttungsscheidungsrecht müssen die Ehegatten beweisen, daß sie sich auseinandergelebt haben und keinen gemeinsamen Lebens- und Wohnraum mehr innehaben. Ein weiterer Punkt der K r i t i k gegen eine vermeintlich einzelfallgerechte Rechtssprechung in Ehe- und Familienangelegenheiten sind die Erfahrungen, die man während des Nationalsozialismus mit der Rechtssprechung gemacht hat. Die juristische Dogmatik und die Gerichte „schafften" es sogar, vor der Verbreitung des Nationalsozialismus geschlossene Mischehen zwischen Deutschen und Juden wegen eines (rückwirkend fingierten) Irrtums des arischen Ehegatten anfechtbar und damit für aufhebbar zu erklären 2 8 . Wie generell und grundsätzlich eine „einzelfallgerechte" Rechtsprechung zu urteilen vermag, konnte ebenfalls gerade während des Nationalsozialismus beobachtet werden. Hier entschieden die Gerichte nämlich in sehr einhelliger und genereller Weise über das „Wesen der Ehe". Das Bestreben für eine größere Einzelfallgerechtigkeit durch Enthaltsamkeit des Gesetzgebers und daraus folgendem Freiraum für Rechtsprechungsmaßnahmen, verkehrte sich in das Gegenteil. Durch eine Kontrolle der Rechtsprechungsorgane wurde ein „stiller" Familienwandel, vorbei an dem durch formale Publizitätsakte gebundenen Gesetzgeber begünstigt. Der vom Gesetzgeber durch die Generalklausel erzwungene Freiraum konnte so besonders leicht und familienfeindlich in eine noch stärkere staatliche Einflußnahme auf die Familie durch die Rechtsprechung münden 29 . 28

M. Gordon: Das Wesen der Ehe, S. 198.

II. Die I n s t i t u t i o n „ E h e " i m Sinne v. Savignys

81

Welche Folgen die aus d e m M i ß t r a u e n gegenüber d e m Gesetzgeber hergeleitete Beschränkung auf Generalklauseln auch heute n o c h haben k a n n , zeigt sich b e i einer K o m m e n t i e r i m g i n n e r h a l b des Rechtsprechungskommentars „ P a l a n d t " z u § 1618 a B G B 3 0 . A l s Beispiel f ü r die R ü c k s i c h t n a h m e v e r p f l i c h t u n g w i r d h i e r die E i n s c h r ä n k u n g des Radiokonsums w ä h r e n d der K r a n k h e i t eines F a m i l i e n m i t g l i e d s genannt. d) Die Probleme

Savignys

bei einer

von Recht und Sitte innerhalb

der

Scheidung Familie

A u c h Savigny h a t seine T r e n n u n g v o n n a t ü r l i c h e n , s i t t l i c h e n u n d rechtl i c h e n Elementen der F a m i l i e zumindest i n einem P u n k t e n i c h t e r k l ä r t , b z w . n i c h t aufrechterhalten können. W i e k a n n eine N i c h t b e a c h t u n g r e i n s i t t licher V e r h a l t e n s p f l i c h t e n rechtliche G r u n d l a g e eines Scheidungsbegehrens werden, w e n n der Gesetzgeber i m F a m i l i e n i n t e r n u m E n t h a l t s a m k e i t ü b e n m u ß 3 1 , b z w . auf die generalklauselartige Erfassung des Familienlebens v e r wiesen bleibt? F ü r die F a m i l i e gesprochen: Wieso k a n n eine L e b e n s f ü h r u n g 29 Ein weiteres Argument gegen die einzelfallgerechte Rechtsprechung im Zusammenspiel mit Generalklauseln findet man auf, wenn man die Entwicklung bei der Eigentumsgewährleistung der Art. 153 WRV, 14 GG vergleicht (parallel zu § 1353 BGB regelt auch § 903 BGB generalklauselartig das Eigentum als sachbezogene Handlungsbefugnis des Inhabers, soweit ihr nicht das Gesetz und Rechte Dritter entgegenstehen). Bei der Einschätzung der „Gefährlichkeit" von Gesetzgebungs- oder Einzelakten für ein Grundrecht und seinen Inhaber, ging man ursprünglich von einer geringeren Intensität des „Eingriffs" durch den Normgeber aus. Das Reichsgericht entwickelte eine sogenannte Einzelakttheorie, die einen Eingriff gerade dann vermutete, wenn die Verwaltung auf den einzelnen Eigentumsberechtigten zugriff und nicht das Parlament mittels abstrakt-genereller Norm. Auch wenn die Entwicklung der Lehre von den Institutsgarantien gerade dazu diente, auch den Grundrechtsschutz vor dem Gesetzgeber zu gewährleisten, so stellt doch diese rechtsgeschichtliche Entwicklung eine generelle Begünstigung der Rechtsprechung vor dem Gesetzgeber in Frage. Man könnte argumentieren, daß eine unterschiedliche Sichtweise durch die Unterschiede des Familienrechts und der Eigentumsgewährleistung in der Verfassung angebracht sei. Der nähere Inhalt des Eigentums wird vom Gesetzgeber bestimmt (Art. 14 Abs. 1 S. 2 BGB). Es lag deshalb nahe, dem das Eigentum regelnde Gesetz gerade keine Eingriffswirkung beizumessen. Die Familiengewährleistung enthält demgegenüber keinen Interpretationsvorbehalt zugunsten des einfachen Gesetzgebers. Dennoch greift die sich auf Generalklauseln berufende Rechtsprechung ungleich tiefer ein, als es dem Subsidiaritätscharakter des Art. 6 GG entspricht. Anders als Art. 14, Abs. 1, S. 2 GG kennt Art. 6 keinen Gestaltungsspielraum und eröffnet auch nicht wie bei Art. 14 Abs. 3 GG und Art. 15 GG eine Sozialisierungsmöglichkeit der Familie. Aus diesem Grunde muß, wenn schon beim Eigentum von jeher der einzelne punktuelle Zugriffsakt als freiheitsgefährdend angesehen wurde, erst recht bei der Familie das falsche Bild der weniger eingreifenden oder sachgemäßer zugreifenden Familienrechtsprechung aufgegeben werden. Wenn durch die Generalklausel der Rechtsprechung Tür und Tor geöffnet wird, dann verschwinden - im Vergleich zur Partikularregelung der Familienangelegenheiten des ALR - rechtsfreie Teilbereiche. 30 Palandt/Diederichsen: § 1618 a BGB Anm. 2. 31 H. Dörner: Industrialisierung und Familienrecht, S. 87.

6 Schmid

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E. Die Familie i m Bürgerlichen Gesetzbuch

des Abkömmlings, die nur das Sittengesetz verletzt und deshalb eventuell eine Beeinträchtigung der Familienehre darstellt 32 , den Erblasser zum Pflichtteilsentzug berechtigen (§ 2333 Nr. 5 BGB)? Hier ziehen sittliche, oft ungeschriebene Gebote unmittelbar rechtliche Folgen nach sich. Dies sind Beispiele einer gesetzlichen Erhöhung, weil Sanktionierung außerrechtlicher Normen - nämlich der Sitte. Die Wirkung außerrechtlicher Normen auf das Familienrecht ist dabei unterschiedlich. e) Die drei Elemente der Ehe Zum einen können ihnen über Einfallsklauseln in Rechtsvorschriften unmittelbare (§ 2333 Nr. 5 BGB „ehrlos" oder „unsittlicher Lebenswandel") Rechtswirkung zuteil werden. Zum anderen können sie mittelbar auf das Familienrecht einwirken. Dies zeigte sich an dem Begründungsmoment, das Savigny als preußischen Gesetzgebungsminister zur Verschärfung des „liberalen" Scheidungsrechts anwandte. Jetzt zog er aus dem natürlichen Element des Instituts Ehe die rechtspolitische Folgerung. Die Ehe als „wesentliche und notwendige Form des menschlichen Daseins", als „ i n Beziehung auf den Staat unentbehrliche Grundlage seines Bestehens" 33 sei als „Institution" der wichtigste und eigentümlichste Gesichtspunkt, der von der Gesetzgebung zu beachten sei. Der Superlativ „wichtigster" verweist auf die beiden anderen topoi, die Savigny zur Ehe entwickelt. Aus einem Vergleich der Ehe mit anderen privatrechtlichen Instituten, wie Eigentum und Obligationen, gewinnt er die anderen Wesenselemente der Ehe: - Auch in der Ehe brauchte der einzelne Ehegatte Rechtsschutz vor Verletzungshandlungen des anderen, der Staat sei also auch in diesem Verhältnis zur Rechtsschutzgewährung verpflichtet. - Die Effektivität dieses Rechtsschutzes werde aber durch das weitere topoi der Ehe, die individuelle Freiheit des einzelnen Ehegatten, begrenzt. - Drittes, und wie bereits gesagt, wichtigstes Element der Ehe, sei ihre Eigenschaft als Institution. „Institution" w i r d hier als überindividuelle Ordnung, die gerade über der individuellen Freiheit der einzelnen Ehegatten steht, definiert. Durch das „Wichtigste" ist bereits viel über das Verhältnis der drei Elemente zueinander ausgesagt: So ist der Rechtsschutz des verletzten Ehegatten nicht vollstreckbar, soweit er auf ein tatsächliches Zusammenleben mit dem anderen gerichtet 32 33

Palandt/Edenhof er : § 2333 BGB Anm. 2 d. F. Κ . v. Savigny: Vermischte Schriften, 5. Bd., S. 238.

II. Die I n s t i t u t i o n „ E h e " i m Sinne v. Savignys

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ist (§ 1353 Abs. 1 S. 2 BGB, § 888 Abs. 2 ZPO), da hier der individuellen Freiheit des anderen Ehepartners der Vorrang zukommt. Die individuelle Freiheit beider Ehegatten ist durch die ursprüngliche Nichtexistenz einer Konventionalscheidung im BGB eingeschränkt. Seine Rechtfertigung findet der Ausschluß der Scheidung, bzw. ein strenges Scheidungsrecht in der „Würde der Ehe als Institution". f) Das „wichtigste"

Element

Zum Konfliktfeld der drei Elemente der Ehe bemerkt Savigny: Der Rechtsschutz, den der Staat dem von seinem Ehegatten verletzten Ehepartner gewährt, w i r d mit den Maßnahmen und Maßgaben der Institution Ehe inhaltlich vereinbar sein 34 . Dagegen w i r d die individuelle Freiheit eines Ehegatten oft in Konflikt kommen: - mit staatlicher Rechtsschutzgewährung zugunsten des anderen Ehegatten; - mit der individuellen Freiheit des anderen Ehegatten; - mit den Verhaltensanforderungen, deren Maß die „Institution Ehe" bestimmt. Wie soll sich der Gesetzgeber, der sich gegenüber den Eheleuten und der „Institution Ehe" verpflichtet sieht, verhalten? Die eigentlich problematische Frage, ob die Ehe auf übereinstimmenden Scheidungsantrag der Ehepartner aufzulösen ist, läßt er bei seinen weiteren Erörterungen geschickt hinter sich. Die scharfe Grenze zwischen der Ehe und dem Konkubinat 3 5 müsse erhalten bleiben, ist seine einzige Rechtfertigung für ein die Konventionalscheidung nicht akzeptierendes Scheidungsrecht. Dabei entspräche die Konventionalscheidung der individuellen „Freiheit" beider Ehegatten und keine Argumente bezüglich einer staatlicher Rechtsschutzgewährung stünden ihr entgegen. Hypothetisch setzt sich Savigny mit einem gesetzgeberischen laissezfaire 36 im Eherecht auseinander. Als mögliche Begründung hierfür zitiert er die Machtlosigkeit des Gesetzes bei der Rettung schlechter Ehen und der Begründung guter Ehen. Zwang könne hier allenfalls ein äußerliches Zusammenhalten der Gemeinschaft bewirken. Eine gute Ehe werde durch Gesetze nicht berührt und brauche solche auch nicht, eine schlechte werde nicht besser. 34

Ebd., S. 239 f. 5 Ebd., S. 241. 36 Ebd., S. 244 ff. 3

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E. Die Familie i m Bürgerlichen Gesetzbuch

Diesen Argumenten wird die Rechtlosigkeit des verlassenen oder tyrannisierten Ehegatten gegenübergestellt. Gesetzliche Untätigkeit münde sehr schnell in das Ausliefern eines Menschen in die Gewalt und gegenüber den Rechtlosigkeiten eines anderen Menschen ein. Auch kommt Savigny zu einer anderen Bewertung der Macht des Gesetzes auf den einzelnen als die Ansicht des staatlichen laissez-faire im Familienrecht. Er sieht den Grund für kranke Ehen „größtenteils" 37 in der Gesetzgebung. Dies wird verständlich, wenn man den historischen Anlaß der Schrift Savignys berücksichtigt. In Preußen war durch die naturrechtlich bestimmte Fassung des materiellen Scheidungsrechts, des Corpus iuris Fridericianum von 1749 eine „Scheidung infolge Einwilligung, verschuldensunabhängiger Gründe und geringfügiger Verfehlungen" 38 möglich geworden. I m großen und ganzen wurde diese „scheidungsfreundliche" Grundtendenz auch im ALR beibehalten. Der rasche Anstieg der Scheidungsziffern in Preußen seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts 39 ist für Savigny der unmittelbare Effekt dieser fehlerhaften Gesetzgebung, die es deshalb zu ändern gilt. Ein strenges Eherecht und damit Ehescheidungsrecht könne einer Leichtfertigkeit bei der Eheschließung vor allem der „unteren Stände" 40 vorbeugen. Mehr Überlegung bei der Eheschließung erhöhe die Beständigkeit der Ehen. Ein strenges Ehegesetz vermöge, auch im Einzelfall den wankenden Ehegatten zur Selbstdisziplin zu motivieren 41 . Das Ehebild eines Rechtssystems ist hier wieder das Abbild seines Scheidungsrechts. 7. Zusammenfassung

Savigny glaubt an die Macht des Gesetzes den einzelnen, wenn auch nicht zu positivem Tun, so doch mindestens zur Unterlassung schwerwiegender (Ehe-)Verfehlungen veranlassen zu können. Folglich fordert er auch, daß das Gesetz der Sitte und ihrem Wächter, der „öffentlichen Meinung", nicht die Wahrung der Ehemoral überlassen darf. Das Gesetz darf nicht hinter der Sitte zurückbleiben, sondern muß mit ihr übereinstimmend auf die Verbesserung des Zustandes hinwirken 4 2 . Diese Lenkungsinitiative des Gesetzgebers muß sich aber auf den Beginn und das Ende der ehelichen Gemeinschaft, also die Begründung des Status, beschränken. Des weiteren findet sich bei Savigny besonders schön herausgestellt ein Gegensatzpaar, das in 37

Ebd., S. 251. St. Buchholz in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, S. 1629 ff. 3 9 Ebd., S. 1630, Fn. 11. 40 Ebd., S. 246. 41 Ebd., S. 247. « Ebd., S. 250. 38

II. Die I n s t i t u t i o n „Ehe" i m Sinne v. Savignys

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den nächsten eineinhalb Jahrhunderten die juristische Diskussion im Eheund später auch im Familienrecht völlig unreflektiert beherrschen wird, nämlich der Gegensatz von Institution und individueller Freiheit. 8.130 Jahre später

Wiederholt sei noch einmal Savignys Begriff von der Institution „Ehe": Der Naturzusammenhang von Ehe und Familie mit dem Weiterbestehen der Menschheit rechtfertigte es, Ehe als „Institution" mit erhöhtem Geltungsanspruch gegenüber individueller Freiheit und Rechtsschutzgewährung im Recht der personalen Ehewirkungen zu bezeichnen. Wie schnell diese offen eingestandene Wertung ihre Schärfe und Aussagekraft verliert, zeigt beispielhaft eine Kontroverse aus den Jahren 1967 1968: - K. Larenz schrieb in seinem Lehrbuch des allgemeinen bürgerlichen Rechts: „. . . die Ehe als ein höchstpersönliches Verhältnis zweier Menschen . . . (muß) von der Ehe im Sinne einer Institution unterschieden werden .. . die Verfestigung der Ehe zu einer rechtlich anerkannten und geregelten Institution (ist) von nicht zu unterschätzender Bedeutung auch (!) für die einzelne Ehe. Sie setzt ein für alle gültiges Maß für das Zusammenleben der Geschlechter, dem nachzuleben sich die Ehepartner verbunden fühlen. Die rechtliche Bindung bietet darüber hinaus den einzelnen . . . einen H a l t . . . Das Wissen um die grundsätzliche Unauflösbarkeit der Ehe als rechtlicher Verbindung verbürgt in der Regel die Ernstlichkeit des Entschlusses, die Ehe einzugehen, und stärkt den Willen, an der einmal eingegangenen Verbindung festzuhalten. Darüber hinaus ist die rechtliche Ausgestaltung und Verfestigung der Ehe zu einer Institution von größter Bedeutung für das soziale Zusammenleben überhaupt" 4 3 . Fazit: Die gleiche Bewertung gesetzlichen Einflusses auf menschliches Verhalten auch 130 Jahre später. Anders aber der Inhalt des Begriffs „Institution". Wo Savigny noch von der Höherwertigkeit der Institution gegenüber der individuellen Freiheit ausgeht, w i l l Larenz mit dem Begriff „Institution" nur eine „Ordnung bezeichnen, die an diejenigen, die in sie eintreten, gewisse Forderungen stellt und sie andererseits in bestimmten Erwartungen schützt" 4 4 . Eine Institution ist also ein vorgeprägtes Verhaltensmuster, das dem Menschen hilft, seine Ehe und sein Leben zu bewältigen. Wo aber die einzelne Ehe zerstört ist, kann die „Institution Ehe" nicht mehr helfen. Der Grundsatz der Lebenslänglichkeit der „Institution Ehe" wird dann zugunsten « Zitiert nach E. Wolf: zur „Institution Ehe", JZ 1967, S. 749 (749). 44 K. Larenz: Zur „Institution Ehe", eine Erwiderung, JZ 1968, S. 96.

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der konkreten Ehe immanent eingeschränkt. Deshalb ist die Möglichkeit der Scheidung der einzelnen Ehe wesensimmanenter Bestandteil der Institution „Ehe". Kurz gesagt: Die Ausnahme bestätigt die Hegel. Wenn man die Verwendung des Institutionenbegriffs bei Larenz und Savigny vergleicht, dann schließt Savigny vom Sollen auf das Sein und Larenz vom Sein auf das Sollen 45 . Es wird damit auch klar, daß sich hinter dem Begriff der Institution im Sinne von Larenz doch eine überindividuelle Ordnung wie bei Savigny verbirgt, und sei es auch nur der „Stolperstein", der dem autonom bestimmten Individuum zu seinem eigenem Besten bei der Trennung vom Ehepartner in den Weg gelegt wird. In der Sicht Larenz nimmt die Scheidung den Platz der überindividuellen Institution ein, die bei Savigny Ehe heißt. Ohne Versorgungsausgleich und ohne Beteiligung der Versorgungsträger kann die Ehe nicht geschieden werden. Da die Institution „Ehe" bei ihm nicht mehr lebenslänglich ist da zugunsten des konkreten Einzelfalls eingeschränkt - so sind allenfalls die Wirksamkeitserfordernisse eines strengen Scheidungsrechts Ausdruck einer überindividuellen Ordnimg. Auch ein Blick auf die gesetzliche Regelung des Scheidungsrechts bestätigt dieses Ergebnis. Das Scheidungsrecht läßt sich nicht in das Schema Gläubiger - Schuldner - Vertrag einordnen. Aber auch die eheliche Lebensgemeinschaft hat, wenn sie auch nicht lebenslänglich ist, überindividuelle Elemente. Die Rechte der Ehegatten sind parallel auf ein Ziel, die Erhaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft ausgerichtet. Ein Ziel, das sämtliche Rechte und Ansprüche des einzelnen Ehegatten gegen den anderen beschränkt, was z. B. durch den Haftungsmaßstab des § 1359 BGB und die aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB folgende Pflicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen gegen den anderen Ehegatten zu verzichten 46 , deutlich wird. - Vehement gegen die Institutionalisierung der Ehe wendet sich E. Wolf. Einen Zweck der Ehe gibt es für ihn nicht: „Die eheliche Gemeinschaft ist Sein, nicht Gefühl oder Tätigkeit" 4 7 . Weder sittliche noch bevölkerungspolitische Außeneinflüsse sollen die Ehe berühren 48 , die nicht in der Produktion von Kindern, sondern in der Gemeinschaft der Ehegatten ihr Wesen findet 4 9 . Deshalb darf der staatliche Gesetzgeber auch nur Regelungen treffen, die dem Wesen der Ehe als privatissimum entsprechen. Konsequenz ist die 45 Wenn von vornherein feststeht, daß ein gewisser Prozentsatz der Ehen scheitern wird, dann ist es nicht überzeugend, die Lebenslänglichkeit der „Institution Ehe" als ein für alle gültiges Maß für das Zusammenleben der Menschen zu bezeichnen; und dies vor allem angesichts immer steigender Scheidungsziffern. 46 Palandt/Diederichsen: § 1353, Anm. 2b ff; J. Gernhuber: Lehrbuch des Familienrechts, S. 250. 47 E. Wolf: Scheidung und Scheidungsrecht, S. 270. « Ebd., S. 262. « Ebd., S. 277.

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Forderung nach der Zerrüttungsscheidung, die allein dem freibestimmten Willen der Individuen entspricht. Eine Freihaltung des Eheinternums vom Recht wird, soweit ersichtlich, nicht gefordert. Wichtig an dieser Sichtweise ist, daß Ehe als Eigenwert gesehen wird, die, falls sie kinderlos bleibt, genauso verfassungsrechtlichen Schutz (Ehe und Familie) beanspruchen darf, wie die „Familie" 5 0 . Dieser Ausblick in das 20. Jahrhundert zeigt, wie unverändert („der Naturzusammenhang") die juristische Diskussion blieb, sie sich aber immer mehr von der faßbaren Scheidung Savignys i n die drei Elemente des Eherechts trennte 51 . „Institution" wird nunmehr als Sammelbegriff aller Gemeinwohlbelange verwendet, die den Ehegatten als Individuen den Weg in eine Freiheit voneinander verstellen. „Der Anspruch der Ehe auf Lebenslänglichkeit versagt aber da, wo sich das Eheband nach Auflockerung seiner sittlichen Grundlagen als unerträgliche Fessel für die Persönlichkeit der Ehegatten erweist" 52 . Wenn Ehegatten sich vom Lebenslänglichkeitsgebot der „Institution" Ehe überfordert fühlen, dann ist die Scheidung der einzelnen, kranken Ehe M i t tel zum Zweck der Erhaltung der Institution „Ehe", denn gesunde Ehen können am besten für die Lebensform „Ehe" werben. Eine solche Verwendung des Institutionenbegriffs scheint weniger geeignet dem Verhältnis Familie und Recht näher zu kommen. I m Folgenden soll deshalb versucht werden, Savignys Ehemodell auf die Familiengesetzgebung zu erstrecken. Savigny selbst hat nie versucht das Eltern-Kind-Verhältnis institutionell zu interpretieren 53 . Ι Π . Die „Institution Familie" 1. Vorbemerkung

a) Das Verhältnis der Institution

„Ehe" zur Familie

Savigny selbst hat zur Institution Familie nie Stellung genommen. Auch sonst fällt in der historischen Literatur auf, daß sie sich hauptsächlich auf 50 Enttäuschend ist, daß das angeblich geschützte Prinzip der Einehe nur durch die unkritische Bezugnahme auf natürliche und anthropologische Wurzeln der Menschheit gestützt wird. „Die christlich-europäische Ehe ist danach keine geschichtliche „Form" neben anderen, sondern die Verwirklichung eines menschlichen Urgehalts, der zugleich natürliche, aller Vielgestaltigkeit zugrundeliegende Ordnung ist" (E. Wolf: a.a.O., S. 278). 51 An dieser Erfahrung ändert es auch nichts, wenn K. Larenz i n den neueren Auflagen seines Lehrbuchs seine Formulierung nicht mehr beibehalten hat. 52 A. Wieruszowski: Ehe, Familie, Mutterschaft: Art. 119 Abs. 1 S. 1 WRV Anm § 1 III, S. 78. 53 So auch H. Dörner: Industrialisierung und Familienrecht, S. 87.

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die Ehe, und nicht auf die Familie konzentriert hat. Diese Tatsache erklärt sich in der Jahrhunderte alten Nichtachtung der Rechte der Kinder, die zwar wie kleine Erwachsene behandelt wurden, die aber gegenüber einem absolutistischen Staat noch weniger aussichtsreich eine effektive Teilhabe an der Macht fordern konnten als die „großen Erwachsenen". Deshalb kämpften auch nur die freien Individuen gegen die Joche der Institution Ehe; das Familienbestimmungs- und vor allem das Erziehungsrecht wurde dem Hausvater gleichsam als Belohnung für seinen Eheschluß und damit für den Eintritt in eine dem Staat äußerst nützliche Institution gewährt. Auch daß die Familie lange als vor-, überstaatliches und anthropologisches „Muß" definiert wurde mag zur Vernachlässigung der theoretischen Aufarbeitung beigetragen haben. Seit dem Konzil von Trient, das eine formalisierte Eheschließung im kanonischen Recht einführte, mußte der staatliche Gesetzgeber und auch die Kirche sich mit dem Rechtsinstitut Ehe auseinandersetzen. Die Begründung der Familie war zwar vom Recht aus gesehen nie eine natürliche, da Ehe oder (beim nichtehelichen Kind) Verwandtschaft nach rechtlichen Kriterien bestimmt werden und wurden. Dieses Problem wurde aber zugunsten eines anderen in den Hintergrund gedrängt. Die problematische Frage unserer Zeit ist, ob die Ehe die Familie oder die Familie die Ehe institutionalisiert 54 . Wenn nämlich der Schutz der Institution Ehe sich auch auf die Familie in Art. 6 Abs. 1 GG erstreckt, dann ist „Familie" nur die eheliche Familie. Anders würde die Konkurrenzlosigkeit der Institution Ehe im Verhältnis zum Zurechnungsmodus Verwandtschaft aufgehoben. Ein Anhaltspunkt für diesen Vorrang der ehelichen Bestimmung der Familienangehörigkeit bieten §§ 1591 i.V.m. § 1595 a, 1596 BGB, die dem nichtehelichen Vater des Kindes eine Ehelichkeitsanfechtung nicht zugestehen, wenn die Mutter verheiratet ist. Hier ignoriert das Recht die Blutsverwandtschaft des nichtehelichen Vaters mit seinem Kind zugunsten der ehelichen Lebensgemeinschaft. Umgekehrt gilt: Wenn Familie eine Institution ist, die sowohl durch die Ehe - „vertraglich" - als auch durch z. B. die Verwandtschaft begründet werden kann, dann ist die eheliche Familie nur eine Form der Familie. In der Ehe- und Familiengeschichte zeigt sich, daß man sich weder für die eine, noch für die andere Begründungsform allein entschieden hat. Die verwandtschaftliche und eheliche Abstammung der Kinder von den Eltern war die Regel, die bloß eheliche oder nur verwandtschaftliche Zugehörigkeit die Ausnahme. Selbst unter der Geltung des nationalsozialistischen Ehegesetzes oder des ALR, wo die Ehe nur eine bevölkerungspolitisch geduldete Vorstufe der Familie war, wurde der nichtehelichen Familie bzw. dem nichtehelichen Kind und seiner „Verwandtschaft" nicht der Rang einer Familie zuerkannt. Nichteheliche Kinder sollten vielmehr in staatlichen Massenauf 54

W. Zeidler: Ehe und Familie, S. 592, 595 - 597.

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zuchtanstalten erwachsen werden, bzw. billigte man (ALR) lediglich dem nichtehelichen Kind Unterhaltsansprüche zu. Die Gruppe bestehend aus Mutter und nichtehelichem Kind wurde weder rechtlich noch sittlich anerkannt und geschützt. Gegenüber einer Ansicht, die grundsätzlich nur die eheliche Familie als „Familie" im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG schützen will, werden Bedenken aus Art. 6 Abs. 5 GG geltend gemacht. Eine solche Auffassung spalte die Bevölkerung in zwei Klassen, nämlich in Kinder mit verfassungsrechtlich geschützten Familienbanden und solchen ohne. In der Praxis des BVerfG lassen sich hierzu zwei Fallgruppen unterscheiden: - In der Masse der Fälle geht es bei den nach Art. 6 Abs. 1 GG gerügten Verfassungsverstößen um finanzielle Mehrbelastungen der Familie im Vergleich zu Einzelverdienern und eheähnlichen Lebensgemeinschaften. - In wenigen Fällen geht es um die Wahrung der personalen Intimsphäre der Ehe und Familie ζ. B. durch die Zulassung von Brief verkehr mit persönlichen Inhalten eines U-Häftlings mit seinen Eltern und um die Schaffung familienfreundlicher Besuchszeiten in den Gefängnissen. Vor allem bei der zweiten Fallgruppe fragt sich, ob ein an der Menschenwürde als vornehmsten Wert orientiertes Verfassungssystem dem nichtehelichen Kind und seinen Eltern eine solche Rechtsposition versagen darf. Es liegt außerhalb der Umstände, die ein Kind beeinflußen kann, ob es ehelich oder nichtehelich zur Welt kommt. Dies ist auch der Grund, weshalb sich bereits in der Frühzeit der Aufklärung Mitleid mit dem zumindest äußeren Geschick der Nichtehelichen, ihrer Verachtung durch die Gesellschaft und der Gleichstellung mit Komödianten und Scharfrichtern regte 55 . Um wenigstens die rechtlichen Lebensumstände zu verbessern, bieten sich verfassungsrechtlich zwei Ansatzpunkte an: Der Schutz des nichtehelichen Kindes nach Art. 6 Abs. 5 GG und/oder der Schutz von Halbfamilien nach Art. 6 Abs. 1 GG. Die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 GG könnte auch als Ziel des Art. 6 Abs. 5 GG, der für das nichteheliche Kind eine Gleichbehandlung der Nichtfamilie, ζ. B. bestehend aus „Mutter und nichtehelichem Kind" bei diesen personalen Familienwirkungen verlangt, angesehen werden. Zu berücksichtigen ist, daß das nichteheliche Kind nichts für seine nichtehelichen Abstammung kann. Dieser Grundsatz hat sich im Verlaufe eines Jahrhunderte dauernden Prozesses sogar im kanonischen Recht durchgesetzt. Auf der anderen Seite spricht eine jahrhundertealte Tradition für die eheliche Familie und damit für die moralisierende und rechtliche Herrschaft der Ehe über die Familie 56 » 57 . Aus dem oben Gesagten folgt, daß das Recht 55 G. Schubart-Fikentscher: Die Unehelichen-Frage in der Frühzeit der Aufklärung, Berlin, 1967, S. 1, 41 ff. 56 Ob sich hieran unter dem Gesichtspunkt des Bedeutungswandels einer Norm im Verfassungsrecht für die heutige Interpretation des Verhältnisses von Ehe und Familie etwas geändert hat, bleibt einem späteren Teil der Untersuchung vorbehalten.

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wenn auch bisweilen unter Bezug auf biologische Gegebenheiten - auch die Begründung der Familie regeln will. Wie aber ist es mit der rechtlichen Durchdringung des Familieninternums bestellt? b) Familie und Recht Interessant ist, daß sich der Gesetzgeber Ende des 19. Jahrhunderts genau dort gegen eine Verrechtlichung des Familienlebens ausgesprochen hat, wo die eheliche Lebensgemeinschaft in § 1353 BGB einklagbar wurde 5 8 . Ein Entwurf des BGB enthielt eine Vorschrift mit folgendem Inhalt 5 9 : „Kinder sind ihren Eltern Ehrerbietung und, so lange sie unter deren Erziehungsgewalt stehen oder im Hausstande derselben auf Grund der gesetzlichen Unterhaltspflicht von ihnen unterhalten werden, kindlichen Gehorsam schuldig. Eine Klage auf Erfüllung dieser Verbindlichkeiten findet nicht statt. In Betreff solcher Kinder, welche unter der elterlichen Erziehungsgewalt stehen f i n d e t . . . Anwendung; andere Kinder können zur Erfüllung der Verpflichtung zum Gehorsam auf Antrag der Eltern durch Anwendung geeigneter Zwangsmittel von Seiten des Vormundschaftsgerichts angehalten werden." In der Begründung zu diesem Entwurf wird zwischen zwei Arten von Rechtsvorschriften unterschieden: - Ist die sittliche Pflicht nur das Motiv für die Aufstellung bestimmter Rechtssätze, „so liegt darin von Seiten des Rechts zwar eine Anerkennung der sittlichen Pflicht als solcher, der letzteren wird dadurch aber nicht der Charakter einer allgemeinen Rechtspflicht zuteil" 6 0 . - „Durch jene natürlich-sittliche Grundlage der Familienrechtsverhältnisse wird jedoch keineswegs gehindert, daß in einzelnen Beziehungen der Inhalt der Familienrechtsverhältnisse, die durch das natürliche und sittliche Gesetz gebotenen Pflichten und Befugnisse zum Gegenstande rechtlicher Normierung gemacht werden und durch Ausstattung mit Rechtszwang auch den Charakter von Rechtspflichten, bzw. Rechtsansprüchen erlangen". 57 Anders als beim ehelichen Kind wird die Zugehörigkeit eines nichtehelichen Kindes zu einer ehelichen Familie durch ein Unterlassen begründet, nämlich der Nichtanfechtung der Ehelichkeit durch das Kind oder den (Schein-)Vater. Könnte man bei der Ehe schon aus der Mitwirkung des Staates als besonderem Formerfordernis des Ehevertrages auf den rechtlichen Charakter der Institution schließen, so müßte bei der Familie das Unterlassen von Rechtshandlungen dem Tun gleichgestellt werden. 58 F. Leske: Vergleichende Darstellung des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich und des Preußischen Allgemeinen Landrechts, S. 851. 59 G. Planck: Entwurf eines Familienrechts für das Deutsche Reich, S. 63 f. 60 Ebd., S. 1257 (1260 ff).

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Der Anspruch der Eltern auf Gehorsam und (übertragen bei § 1618 a BGB auf Beistand und Rücksicht) gegenüber unter der elterlichen Sorge stehenden Kindern ist also eine Rechtspflicht, da sie mit dem Instrumentarium staatlicher und elterlicher Erziehungsmaßnahmen durchsetzbar ist. Bei den nicht unter elterlicher Sorge stehenden Kindern entschieden sich die Verfasser des Entwurfs damals für einen Kompromiß. Vormundschaftliche Maßnahmen sollten es dem Unterhaltspflichtigen ermöglichen, seinen Anspruch auf Gehorsam gegen die unterhaltsberechtigten, volljährigen Kinder durchzusetzen. Die Pflicht des Gehorsams wurde damit verrechtlicht. Dabei wurde die bloße Hausgemeinschaft als Basis einer Gehorsamspflicht ausdrücklich abgelehnt 61 . Die Ehrerbietung, die auch volljährige, nicht unterhaltsberechtigte Kinder ihren Eltern entgegenbringen sollten, ließ sich nach dem oben dargestellten Schema nur schwer als rechtliche Verpflichtung einordnen. Mittel hierzu war ein „Kunstgriff", der auch bei einer Vorschrift wie § 2333 Nr. 5 BGB angewandt werden könnte. Die in § 287 des Entwurfes beinhaltete Ehrerbietungspflicht sei als Generalklausel von der staatlichen Rechtsprechung bei Alimentationspflichten zu berücksichtigen und aufgrund dieser Anwendungsgegebenheit sei auch die Pflicht zur Ehrerbietung eine rechtliche. Allein der Zusammenhang von sittlichen Verhaltenspflichten und rechtlicher Regelung soll also eine Verrechtlichung zur Folge haben. Interessant ist eine inhaltliche Parallele der Patriarchenmacht des 19. Jahrhunderts zur Stellung des paterfamilias über zwei Jahrtausende vorher. Genauso wie die patria potestas sich nur auf persönliche und wirtschaftliche Aspekte erstreckte, w i r d die Gehorsams- und Ehrerbietungspflicht nicht auf öffentlichrechtliche bzw. politische Freiheiten des Kindes erstreckt: „Es könnte die Vorschrift des Gehorsams politisch dazu mißbraucht werden, daß der Vater das Stimmrecht des Sohnes verkümmere" 62 . Familienwahl- bzw. -machtverbände sollten also vermieden werden. Die persönliche Macht des Patriarchen bricht sich hier schroff an der Staatsmacht. In den Gesetzgebungsberatungen beschloß die Mehrheit den § 287 zu streichen, „weil derselbe keinen rechtlichen Inhalt habe, vielmehr nur eine moralische Verpflichtung ausspreche, die allen, auch den ganz selbständigen und von den Eltern wirtschaftlich, unabhängigen Kindern in gleicher Weise obliege" 63 (und damit rechtlich nicht gegenüber allen Normadressaten erzwingbar sei). Allein die gemeinsame Anwendung einer sittlichen und einer Rechtsregel sollte also für eine Verrechtlichung sittlicher Gebote nicht ausreichen. Der Bereich der Familie, der dem Recht zugänglich ist, ist durch 61

Ebd., S. 1262. zitiert nach G. Planck: ebd., S. 1259, 1263. 63 Achilles/Gebhard/Spahn: Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 4. Bd., Berlin, 1897, S. 537. 62

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die Vollstreckbarkeit der Pflichterfüllung gekennzeichnet. Anders als bei der Ehe, bei der § 1353 Abs. 1 BGB von vorneherein nicht durchsetzbar ausgestaltet wurde. Dieses in den Motiven nachweisbare Prinzip des bürgerlichen Familienrechts, wurde mit weitreichenden Folgen erst in den letzten Jahren durchbrochen. Unverzüglich stellten sich die oben angesprochenen Probleme der Trennung von sittlichen und rechtlichen Pflichten ein. Wie aktuell diese Problematik bei § 1618 a BGB ist zeigt folgender Fall. Die vom Schädiger getötete Großmutter arbeitete im Betrieb ihres Kindes und im Haushalt mit. Die Tochter mußte nach dem Tod der Mutter Ersatzkräfte einstellen und verlangte nach § 845 BGB Schadensersatz. Die gesetzliche Verpflichtung zur Dienstleistung ergebe sich aus § 1618 a BGB 6 4 . Der BGH konnte die Frage der gesetzlichen Dienstleistungsverpflichtung dahinstehen lassen, da „Beistand" in § 1618 a BGB vom Wortsinn her nur „ i m Einzelfall unter besonderen Umständen (in schwieriger Lebenslage) eine solche tätige Mithilfe aus der Verantwortung füreinander unabweislich machen würde" 6 5 . Hier zeigt sich die schon an anderen Orten feststellbare Benachteiligung der Generationenfamilie deutlich. Entweder ist § 1618 a BGB nur Abbild einer realen Wirklichkeit und entfaltet keinen Rechtscharakter und ist damit überflüssig, oder das für alle verbindliche, gesetzliche Leitbild von der partnerschaftlichen Familie, hier gemeinsames Bewirtschaften eines landwirtschaftlichen Grundstücks, verpflichtet auch zur finanziellen Entschädigung ursprünglich nur familienbezogener Leistungen. Es geht nicht an, die Familie wegen ihrer Leistungsfähigkeit auf der einen Seite zu verrechtlichen, auf der anderen Seite ihr aber den vermögensrechtlichen Ersatzanspruch für tatsächlich innerhalb der Familie geleisteter Beiträge zum Bruttosozialprodukt zu versagen. Ganz abgesehen davon, daß sich für die vom BGH gewählte restriktive Auslegung von § 1618 a BGB („Beistand") keine Belegstelle in den Gesetzgebungsberatungen finden läßt und es einem Gericht nicht überlassen sein sollte, zu beurteilen, wann familiäre Hilfeleistung unabweisbar notwendig ist. Zusammenfassend läßt sich in Bezug auf moderne und alte Entwicklungen des BGB sagen, daß mit einer Verrechtlichung des Familieninternums, die über die Wahrung essentieller Rechtsschutzinteressen der Individuen hinausgeht, das Recht weder dogmatisch noch funktionell gute Ergebnisse erreicht. Diesen Bemühungen stehen, wie sich bei Augustus und im dritten Reich erwiesen hat, die Gefahren einer staatlichen Durchdringung des persönlichen Lebensraums des einzelnen gegenüber. Um so mehr w i r d eine Analyse der Familie unter den Gesichtspunkten Savignys ihre Berechtigung finden.

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OLG Bamberg: FamRZ 1985, S. 308 f. es BGHZ: FamRZ 1985, S. 309.

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2. Die Institution „Familie" gemessen an der Trias „Rechtsschutzinteresse, individuelle Freiheit und Institution"

Für die Abwägung der drei Elemente: individuelle Freiheit, Rechtsschutz und Institution kommen bei der Familie zwei Beziehungen in Betracht. Zum einen die Beziehung von Eltern zu ihren minderjährigen Kindern - ein Sachverhalt, den auch Art. 6 Abs. 2 GG regelt. Zum anderen die Beziehung von volljährigen Kindern zu ihren Eltern. Mit Eintritt der Volljährigkeit scheiden nach Auffassung des BVerfG die „Kinder" nicht aus dem in Art. 6 GG geschützten Familienverband aus 66 . Bezug genommen wird bei der Begründung dieses Ergebnisses auf die unterhaltsrechtlichen Vorschriften des BGB. Sie begründeten eine lebenslange Verpflichtimg von Eltern und Kindern. Auch § 1618 a BGB sei als familiäre Rücksichts- und Beistandsverpflichtung altersunabhängig. Als Folge stellt das Gericht fest, daß sich dieses Familienmodell der lebenslänglichen, ehelichen Lebensgemeinschaft annähere. Begründet w i r d die Einbeziehung auch volljähriger Kinder in die Familie des Art. 6 Abs. 1 GG ferner mit der Stärkung der Familie als Institution - „als dem von öffentlicher Kontrolle freien Raum für eine entlastende Selbstdarstellung". Bei der Anwendung der Argumente Savignys zum gesetzlichen Regelungsbereich in Bezug auf die Familie soll vor allem die Beziehung minderjähriger Kinder und ihrer Eltern zum Ausgangspunkt genommen werden. a) Die individuelle Freiheit Die Eltern und auch die Kinder sind grundrechtsfähig. Das K i n d ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit 67 (Art. 1 Abs. 1 S. 1; 2 Abs. 1 GG). Einer Auffassimg, die Art. 2 Abs. 1 GG in Persönlichkeits- und Autonomierecht aufspaltet, und dem Kleinkind bezüglich des Autonomierechts jegliche Grundrechtsfähigkeit abspricht, kann nicht gefolgt werden 68 . Das Kind wäre sonst in einer wichtigen Phase seiner Willensbildung rechtlos. aa) Die individuelle Freiheit der Kinder und/oder der Eltern Anders als z. B. im ALR ist der Staat unter Geltung des Grundgesetzes positiv zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG) des Kindes 66

BVerfGE: 57 170 (178). BVerfGE 24 119 (144), 55 171 (179). 68 Ekkehart Stein: Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung i n der Schule, Darmstadt, 1967, S. 32 ff. K r i t i k auch bei Monika Roell: Die Geltung der Grundrechte für Minderjährige, Berlin, 1984, S. 16 ff; s. auch die Besprechung von H. Lecheler, FamRZ 1986, S. 1072. 67

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verpflichtet, so daß hieraus bereits eine Rechtsschutzverpflichtung des Staates gegenüber den Kindern resultiert. Ein rechtsfreier Familienraum in dem Sinn, daß selbst Menschenrechtsverletzungen nicht sanktionierbar sind, stünde im Widerspruch zu dieser grundlegenden Verfassungsentscheidung. Der Gesetzgeber sieht sich also wie bei der Ehe mindestens zwei Rechtsträgern gegenüber. bb) Die eigenen Rechte der Kinder Bei Grundrechten des Kindes tritt das Problem auf, ob der Staat zwischen den Grundrechten der Kinder und dem ebenfalls grundgesetzlich abgesicherten Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) vermitteln darf oder muß, oder ob er aufgrund des Erziehungsprimats der Eltern zum Unterlassen rechtlicher Regelung verpflichtet ist. Der Rechtsschutzaspekt der Institution „Familie" setzt damit voraus, daß Kindes- und Elterngrundrecht nebeneinander bestehen. Die Eltern müßten i m Rahmen ihres Erziehungsrechtes an die Grundrechte der Kinder gebunden sein. Zur Grundrechtswirkung im Eltern-Kind-Verhältnis werden mehrere Meinungen vertreten. Ein Teil der Literatur begründet eine immittelbare Grundrechtswirkung im Eltern-Kind-Verhältnis durch die Annahme einer „ Halbbeamten " Eigenschaft der Eltern. Die Eltern seien Amtswalter des Staates. Weitgehend übereinstimmend w i r d aber die Eltern-Kind-Beziehung als privatrechtlich angesehen69. Begründet wird diese Ansicht mit dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG („natürliche"), der auf eine Vorstaatlichkeit und damit eine Nichtzugehörigkeit des Elternrechts zum öffentlichen Recht hinweist. Wenn das Eltern-Kind-Verhältnis als Privatrechtsverhältnis aufgefaßt wird, gibt es zwei Begründungsmöglichkeiten für die Geltung der Grundrechte im Familieninternum. Zum einen könnte eine unmittelbare Drittwirkung angenommen werden. Von der wohl herrschenden Lehre wird die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatbereich abgelehnt 70 . Die weitaus überwiegende, herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung geht von einer mittelbaren Drittwirkung aus. Über wertausfüllungsbedürftige Generalklauseln des einfachen Rechts wie z. B. „elterliche Sorge" in § 1626 BGB und „Kindeswohl" in § 1666 BGB kommen grundge-

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Nachweise bei Dieter Reuter: Kindesgrundrechte und elterliche Gewalt, Berlin, 1968, S. 92 f und Gustav Kuhn: Grundrechte und Minderjährigkeit, Neuwied, 1965, S. 59. 70 G. Dürig in Maunz/Dürig: Art. 1 Abs. 3 GG Anm. 127; BVerfGE 7 198 (205), 21 209 (216).

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setzliche Wertungen, wie ζ. B. die Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde 7 1 nach Art. 1 Abs. 1 GG zur Wirkung 7 2 . cc) Zusammenfassung Anders als im Verhältnis von Staat und Ehe bei der Scheidungsgesetzgebung, wo die allgemeine Handlungsfreiheit des einen Ehegatten gegenüber der des anderen abgewogen werden muß, ist bei der Trias Staat-Eltern-Kinder eine solche Abwägung von Art. 6 Abs. 2 GG richtungsweisend vorgegeben. Erst wenn die Eltern sich durch Kindesvernachlässigung (§ 1666 BGB) 71

Nur eine Meinung w i l l als Regulativ elterlicher Gewalt im Innenverhältnis von einer unmittelbaren Grundrechtswirkung ausgehen, um so die Grenzen des elterlichen Bestimmungsrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG festzusetzen (H. Krüger: Grundrechtsausübung durch Jugendliche (Grundrechtsmündigkeit) und elterliche Gewalt, FamRZ 1956, S. 329 (330). 72 A n dieser Stelle scheint es angebracht, die Konsequenzen einer unmittelbaren oder mittelbaren Drittwirkung von Kindergrundrechten aufzuzeigen: Festzustellen ist als erstes, daß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG eine zweifache Aussage enthält: - zum einen gewährt er ein Abwehrrecht der Eltern gegen den Staat - auf der anderen Seite ein Bestimmungsrecht der Eltern über ihre Kinder. Wenn man jetzt den Kindern Grundrechte gegenüber den Eltern zugesteht, dann ist dies mit Geschichte Und ursprünglichem Zweck der Grundrechte nicht ohne weitere Begründung vereinbar. Auch wenn dem Sozialstaatsprinzip und auch vielleicht Art. 6 Abs. 1 GG andere Wertungen zu entnehmen sind, so sind doch die Grundrechte vor allem als Abwehrrechte gegen einen intervenierenden Staat geschaffen worden. Das Verhältnis Eltern - Kinder mit dem Verhältnis Staat - Individuum zu parallelisieren, erscheint deswegen problematisch. Eine von elterlicher Liebe geprägte Familienbeziehung würde so öffentlichrechtlich zerfasert und eben nicht mehr Familie sein. Eine lange Geschichte - vom römischen paterfamilias bis zum Patriarchen des BGB (Privatrecht) von 1896 spricht gegen eine solche Verrechtlichung. Wenn man dennoch von einer Grundrechtsgeltung in der Familie ausgeht, dann stellt sich das Problem der Grundrechtsmündigkeit. Von Grundrechtsmündigkeit sprechen wir, wenn grundrechtsfähige Kinder Grundrechte (gegen den Willen ihrer Eltern) selbständig ausüben können (D. Reuter: Die Grundrechtsmündigkeit-Problem oder Scheinproblem, FamRZ 1969, S. 622). Ganz abgesehen davon, daß die Existenz einer Grundrechtsmündigkeit zum Teil im Schrifttum generell abgestritten wird (K. Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 115), ist zu beachten, daß eine Differenzierung nach dem jeweils i n Anspruch genommenen Grundrecht vorzunehmen ist. Auf jeden Fall ist bei Grundrechten, die an die menschliche Existenz per se anknüpfen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1,2 GG) die Ausübung des Grundrechts an keine Altersgrenze gebunden (I. v. Münch: Vorbemerkung zu Art. 1 - 1 9 ; Rdn. 13;). Wenn man also die Grundrechtsmündigkeit der Kinder bejaht hat, ergibt sich weiter das Problem, welche Grundrechte der Kinder gegen den Willen der Eltern möglicherweise geltend gemacht werden können. Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind wegen Art. 1 Abs. 1, Art. 1 Abs. 3 GG nicht zulässig, da die Menschenwürde als oberster und vornehmster Wert unseres Verfassungslebens entgegensteht. Das GG kennt kein Bestimmungsrecht über andere Personen, das zur Verletzung deren Menschenwürde berechtigt. Dem steht die Interventionsverpflichtung des Art. 1 Abs. 1 GG vom Wortlaut her klar entgegen. Anders dagegen, wenn es um die Rechte der Kinder auf freie Entfaltung der Persönlichkeit geht. Wer hier, wie ζ. B. die oben zitierte Ansicht, Grundrechte zumindest als Regulativ im Innenverhältnis gelten lassen will, der läßt nur noch einen Grundtatbestand an elterlicher Sorge in Art. 6 Abs. 2 S. 1 übrig (J. Gernhuber: Familienrecht, S. 61 f).

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außerhalb ihres Interpretationsprimats bewegen, ist der Staat aufgrund des Wächteramtes in einer vergleichbaren Situation, wie sie bei Eheleuten von vornherein gegeben ist; nämlich zum (Rechts-)Schutz des Kindes gegen und vor den Eltern, verpflichtet 73 . 73 Nur vielleicht in den ersten Lebensjahren fehlt es dem K i n d an Entscheidungsfähigkeit für sein Alltagsleben. Wenn man aber bejaht, daß Kinder gegen ihre Eltern Grundrechte geltendmachen können, dann fragt sich, ob es hier um eine scheinbare oder eine echte Grundrechtskollision geht. Wie schon erläutert, steht der Staat als Träger des Wächteramtes nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG sowohl Eltern als auch Kindern gegenüber: er ist zum einen dem Elternrecht verpflichtet, und andererseits den Kindern zum Schutz ihrer Grundrechte, jedenfalls in Bezug auf deren Menschenwürde. Die Frage, ob auch zugunsten der allgemeinen Handlungsfreiheit der Kinder der Staat Interessenabwägungen durch das von ihm gesetzte Recht zu treffen hat, setzt die vorherige Beantwortung der Frage voraus: Deckt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG Eingriffe der Eltern in Grundrechtspositionen der Kinder? Die Folge wäre eine Abwägung von Eltern- und Kindergrundrechten. Bevor man zu einer Abwägung verschiedener Grundrechtsinteressen kommt, ist zuerst die Frage zustellen, ob es sich hier wirklich um eine echte Grundrechtskollision handelt, oder, ob aus dem Blickwinkel des Staates Eltern- und Kindergrundrechte nur scheinbar kollidieren und sich deshalb aus Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2, S. 1 GG lediglich eine Grenzziehungsbefugnis (Art. 1 Abs. 1, 6 Abs. 2 S. 2 GG) für die elterliche Gewalt ergibt. Von einer echten Grundrechtskollision sprechen wir, wenn die durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 gedeckte Ausübung des Elternrechts in den Schutzbereich der Rechte der Art. 1, 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 GG der Kinder eingreift (Wolfgang Rüfner:" Grundrechtskonflikte" in: Festgabe aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des BVerfGE, 2. Bd., Tübingen, 1976, S. 453 (461)). Hierzu hat das BVerfGE die Maxime von der Elternverantwortung entwickelt (BVerfGE 24 119 (144), 56 363 (382)). „Die Verpflichtung des Staates . . . ergibt sich i n erster Linie daraus, daß das Kind als Grundrechtsträger selbst Anspruch auf Schutz des Staates hat" (BVerfGE 24 119 (144). Da das Kind als Wesen mit eigener Menschenwürde und des Rechts aus Art. 2 I GG zur Entfaltung seiner Persönlichkeit ausgestattet ist, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich die Verfassung niemanden Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind". Das Elternrecht ist also nicht ein eigennütziges, sondern ein fremdnütziges Recht. Innerhalb des Elternrechts stehen nach dem Willen des Verfassungsgebers sich Eltern und Kindergrundrechtsbindung nicht dialektisch gegenüber - elterliche Pflege wird von Art. 6 Abs. 2 S. 1 nicht bekämpft, sondern gefordert; sie ist nicht „Widerstand, an dem sich die Freiheit bricht, sondern Mittel mit denen sie sich i n den Lebensphasen des Betreuten entfaltet" (J. Gemhuber: a.a.O., S. 62). Die Entfaltung der Kindespersönlichkeit und die objektive Wertentscheidung des Art. 1 GG sind also wesensimmanente Bestandteile des Art. 6 Abs. 2 GG - nur Mißbrauch oder Vernachlässigung elterlicher Rechtspflichten rechtfertigen den Eingriff des Staates (BVerfGE 24 119 (144); Leibholz/Rinck Art. 6 Anm. 7). Von einer nur scheinbaren Kollision von Eltern und Kindergrundrechte sprechen wir, wenn der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 nur für ein Handeln i n Anspruch genommen werden kann, das bei weitester Anerkennung der Selbstverantwortlichkeit der Eltern noch als Pflege und Erziehung gewertet werden kann. Nicht aber könnte er für das Gegenteil, nämlich eine Vernachlässigung des Kindes i n Anspruch genommen werden. Die Eltern handeln nie im Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, wenn sie die Menschenwürde oder die Entfaltung des Kindes zur freien Persönlichkeit vereiteln. Es handelt sich also um den nur scheinbaren Fall einer Grundrechtskollision (so auch G. Dürig in Maunz/Dürig: Art. 19 Abs. 3 GG Rdn. 21, 22), der deshalb auch nicht durch eine Abwägung von Eltern- und Kindergrundrechten zu lösen ist (H. Krüger: a.a.O., FamRZ 1956, S.331, G. Dürig: a.a.O., Art. 19 Abs. 3 GG Rdn 22, der das Erziehungsrecht bei unmündigen Kindern inhaltlich auf die der Erziehung förderlichen Mittel beschränken will). Das Elternrecht hat also dem Interesse des Kindes zu dienen und hat nicht gegen die Kindesinteressen ausgespielt zu werden. Die Kindesinteressen kommen zwar auch in Grundrechten wie Art. 2 Abs. 1 und 2 GG zum Ausdruck -

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b) Die Überprüfung von § 1626 Abs. 2 S. 2 und § 1618 a BGB anhand ihrer Rechtsschutzfunktion für die Kinder Deshalb kann der Gesetzgeber, soweit kein Rechtsschutz der Kinder grundrechtlich gefordert ist (Kindesvernachlässigung), aus dem Rechtsschutzargument keine Regelungsbefugnis das Familienleben betreffend ableiten. Ein Beispiel dafür, daß er im BGB dennoch eine solche in Anspruch nimmt, ist § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB, der den Eltern einen partnerschaftlichen Erziehungsstil vorschreibt: „Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an". Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Vorschrift anhand der Trias von Savigny ist deshalb zu fragen, ob sie zur Verhinderung schwerer Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes durch die Eltern gefordert ist. Die Eltern bewegen sich nach dieser Vorschrift auf einem denkbar schmalen Grat:" Ein rein auf Gehorsam ausgerichteter und auf Unterwerfung unter den Willen der Eltern ausgerichteter Erziehungsstil" sei durch § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB verboten 74 . A u i der anderen Seite w i r d den Worten „streben Einvernehmen an" entnommen, daß die Eltern nicht ihre Erziehungsverantwortung im Sinne einer „falsch verstandenen antiautoritären Erziehung einfach auf das Kind abwälzen und seinem Willen überall nachgeben" 75 . § 1626 Abs. 2 BGB stellt sich auch nicht als eine bloße Leitlinie, als eine lex imperfecta 76 dar. Bereits bei den Beratungen wurden verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. Der Erziehungsprimat der Eltern in Art. 6 Abs. 2 GG widerspreche einer solchen gesetzlichen Normierung eines Erziehungsstils. Die Masse der Eltern habe die in § 1626 Abs. 2 BGB propagierte die Doppelfunktionalität der Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte und objektive WertentScheidung kann auch zur Ausgestaltung der sachlich immanenten Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 2 (F.Klein i n v. Mangoldt/Klein: Art. 6 GG Anm. IV 5 a, Vorbem. BXV 2a) herangezogen werden. Insoweit ist eine mittelbare Drittwirkung zu bejahen. Der fundamentale Unterschied zum normalen Fall der mittelbaren Grundrechtskollision liegt aber i n der Natur des Elternrechts bzw. der Elternpflicht. Das elterliche Bestimmungsrecht und die Ausübung des staatlichen Wächteramtes ergänzen sich nahtlos zum Schutze des Kindes. Handeln nämlich die Eltern innerhalb des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 2 S. 1, dann darf der Staat nicht eingreifen - vernachlässigen die Eltern ihre Pflicht, muß der Staat zugunsten der Kinder eingreifen und deren Grundrechte gegen die Eltern ausüben bzw. die Ausübung von Grundrechten durch die Kinder gegen den Willen der Eltern möglich machen. Deshalb ist aufgrund der Pflichtbindung, die noch durch das Wächteramt des Staates betont wird, eine Grundrechtsabwägung widerstreitender Eltern- und Kindesgrundrechte nicht statthaft (G. Dürig in Maunz/Dürig: Art. 19 Abs. 3 GG Rdn. 22, der ebenfalls das Vorliegen einer echten Grundrechtskollision verneint). 74 Palandt/Diederichsen: 1626 BGB Anm. 5 a. 75 Ebd. ™ BT Drucksache 7/2060 S. 15 (16). 7 Schmid

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Erziehung selbst nie kennengelernt und sei deshalb auch nicht fähig, sie an das Kind weiterzugeben. Die Überforderung der Eltern durch einen solchen „Intellektuellenparagraphen" 77 sei verfassungsrechtlich zumindest nicht „unbedenklich" 78 . Für die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift wurde geltend gemacht, daß sie in Verbindung mit § 1618 a BGB lediglich Teilaspekte des Eltern-Kind-Verhältnisses regele, nicht aber eine vollinhaltliche Rechtsbestimmung des Familieninternums darstelle 7 9 ' 8 0 . Der individuelle Lebensbereich des einzelnen wird vor den staatlichen Gerichten entblößt, ohne daß sich eine Effektivität dieser staatlichen Einmischung für die einzelnen Familienmitglieder, für das Individuum und letztendlich für den Staat nachweisen ließe. In einer Familie, in der sich die Mitglieder beider Generationen vor den Gerichten bekriegen, sind die Erfolgsaussichten des Rechts als Heilmittel von vornherein gering. Auch haben familienrechtliche Normen, wie § 1626 Abs. 2 Satz 2 BGB, keinen Bezug zur Praxis. Diese „Normen" werden, so weiß der Gesetzgeber bereits bei Erlaß der Vorschrift, nur von einem Bruchteil der Eltern erfüllt. Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, wie die in den Wirtschaftswunder jähren propagierte ZweiverdienerEhe und die durch Arbeitslosigkeit geprüfte Familie der 80er Jahre Zeit und Kraft für ein solches „Stehen" vor dem Kind aufbringen können. Der Entwurf zu § 1626 Abs. 2 S. 2 wurde damals verharmlost, indem man würdigte, daß „die große Mehrheit der Väter und Mütter ihre elterlichen Pflichten bereits so versteht und entsprechend handelt" 8 1 . Wenn dem so ist, dann wird die Norm an und für sich überflüssig, da sowohl der Regelungs- als auch der Leitbildcharakter verfehlt wird. Auch die Aussage, lediglich Teilaspekte des Eltern-Kind-Verhältnisses würden durch § 1618 a und 1626 Abs. 2 BGB geregelt, trifft nicht zu. Zwar soll die Äußerung eines einzelnen Kommentators nicht überbewertet wer77

Palandt/Diederichsen: 1626 BGB Anm. 5 a. Palandt/Diederichsen: 1626 BGB Anm. 5 a. 79 BT Drucksache 8/2788, S. 34. 80 Zudem wurde der Leitbildcharakter des § 1626 Abs. 2 S.2 BGB von den Befürwortern durch den Hinweis auf § 1353 BGB gerechtfertigt: Normen ohne Sanktionsbewährung seien im Familienrecht nicht unbekannt. Selbstverständlich ist die Pflicht zur und die Klage auf Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft eine Rechtspflicht und da auch mit einem Prozeß einklagbar keineswegs sanktionslos. Zumindest bezüglich der Prozeßkosten, die die unterlegene Partei zu tragen hat, kann von einer Sanktion gesprochen werden, wenn auch die Vollstreckung des Urteils selbst unterbleiben muß (§ 888 Abs.2 ZPO). Mittelbar läßt sich aus dem aus § 1353 BGB in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG von der Rechtsprechung gefolgerten Recht auf den räumlich gegenständlichen Bereich der Ehe auch die Entfernung Dritter aus der Ehewohnung zwangsvollstreckungsrechtlich durchsetzen. Als sanktionslos kann damit weder § 1353 BGB, noch § 1618 a BGB qualifiziert werden. Eigentlich müßte das Familienrecht des BGB öffentlich, und nicht privatrechtlich betitelt werden. Dies zeigt sich auch im Überhandnehmen der Materien der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 621 ZPO). 81 BT Drucksache 8/2788, S. 34, skeptisch über die Geltung als Rechtsnorm und die weiteren Auswirkungen für das Familien- und Eherecht: D. V. Simon: Die neuen Leitbilder im Ehe- und Familienrecht, S. 38 ff. 78

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den, es berührt aber unangenehm, wenn man im angesehenen Palandt als einem Rechtsprechungskommentar zu § 1618 a BGB findet: „Rücksichtnahme" bedeutet ζ. B." der Verzicht auf eine selbständige Urlaubsreise, damit die Familie zusammen verreisen kann" 8 2 . Die Pflicht zur Beistandsleistung soll ζ. B. den Nachhilfeunterricht durch ältere Geschwister beinhalten 83 . Einig ist sich die Literatur zudem, daß § 1618 a BGB Rechtspflichten beinhaltet. Welcher Raum bleibt, wenn solche Einzelheiten im Familienleben rechtlich diskutiert werden, noch für eine nicht geregelte, eine nicht voll inhaltliche Bestimmung des Familienlebens durch das Gesetz übrig? § 1626 Abs. 2 BGB und das Recht der elterlichen Sorge regeln die Beziehung von erziehungsbedürftigen Kindern und Eltern. § 1618 a BGB, der, wie sich im Gegensatz zu § 1619 BGB ergibt, keine Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern voraussetzt, regelt die gesamte Lebenszeit der Familienmitglieder 84 . Beide Bestimmungen greifen nahtlos ineinander über und können wegen ihrer generalklauselartigen Fassung (in der Zusammenschau mit § 1353 BGB) nur als Verrechtlichung des gesamten Familienlebens gewertet werden. Von einer Privatheit der Familie im Sinne einer Freiheit vor rechtlicher Normierung zu sprechen, ist angesichts dieser „privatrechtlichen" Lage verfehlt. Hier zeigt sich das Problem einer Generalklausel. Der Gesetzgeber soll zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit nur Grundsätzliches regeln dürfen, auf der anderen Seite wird durch die Generalklausel dem Recht ein Regelungsgehalt zuerkannt, der von der Verfassung nicht eröffnet ist. Das gleiche gilt für eine eheliche Intimität, die vom bürgerlichen Gesetzbuch ignoriert wird. Zwar entschied sich das BGB gegen eine Aufzählung einzelner ehelicher Pflichten und Rechte, wie es das ALR gekannt hatte; neu aber war die gerichtliche Einklagbarkeit der ehelichen Lebensgemeinschaft 85 . Inkonsequent ist es, de lege lata als Hauptargument gegen eine strafrechtliche Ahndung der Vergewaltigung in der Ehe die Ablehnung staatlicher Intervention in das Eheinternum anzuführen. Wo bleibt die gleiche K r i t i k bei § 1353 Abs. 2 BGB, der es Gerichten überläßt, die im Eheleben wurzelnde Mißbräuchlichkeit der Klage festzustellen? Wie können Ehe und Familie Instanzen einer demokratischen Resistance gegen totalitäre Regierungen werden, wenn sie, wenn auch auf Verlangen eines Ehegatten oder eines Familienmitglieds, gesetzlich generalklauselartig durchnormiert und im Einzelfall durch die Rechtsprechung „regelbar" sind? 82

Palandt/Diederichsen: § 1618 a Anm. 2. Ebd.; dagegen G. Knöpfel: Beistand und Rücksicht zwischen Eltern und Kindern (§ 1618 a BGB), FamRZ 1985, der diese Pflicht über § 1619 BGB gegenüber den Eltern, und damit mittelbar gegenüber den Geschwistern bestehen, annimmt. Siehe auch C. Hegnauer: Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig, ZBIJugR 1980, S.685. 34 BT Drucksache 8/2788, S. 43. 85 F. Leske: Vergleichende Darstellung des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich und des Allgemeinen Preußischen Landesrechts, S. 679 f. 83

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Es handelt sich hier nämlich nicht um Regelungen, die (Rechts-)Mißbräuche und damit Ausschreitungen behandeln, sondern um Normen für das A l l tagsleben. Für die Extremfälle stehen zum einen das Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen (§1631 Abs. 2 BGB) und als Spezialregelung zu § 1626 Abs. 2 BGB die Rücksichtnahmepflicht auf Eignung und Neigung des Kindes bei der Berufswahl nach § 1631 a BGB zur Verfügung. Bei dieser Regelung handelt es sich m. E. nicht nur um den Ausdruck einer bildungspolitischen Zeiteuphorie. Sie kann Mittel zur Emanzipation des Kindes von der Familie sein, d. h. dem „ K i n d " zu einer seiner Persönlichkeit entsprechenden, vom Familienhaushalt unabhängigen künftigen Lebensführung verhelfen. Auch dem BGB liegt die lebenslange Familie zugrunde, wie sich aus den Vorschriften des Unterhalts- und Pflichtteilsrechts ergibt 86 . Damit die Familie kein „Zwangs verb and" ist, muß das Gesetz einseitiger Willkür der Eltern bei der wirtschaftlichen und beruflichen Emanzipation der Kinder vorbeugen, bzw. abhelfen. Dieser Gedanke läßt sich schon in Regelungen des ALR über die Aussteuer- und Ausstattungspflichten für die sich wirtschaftlich selbständig machenden Abkömmlinge belegen, die dann im BGB einklagbar wurden 8 7 (damals § 1619 ff BGB). Dies läßt sich auch mit Savignys Auffassung von der Aufgabe des Familienrechts, nämlich Beginn und Ende der Mitgliedschaft des einzelnen im organischen Ganzen festzulegen, wenigstens mittelbar vereinbaren. Festzustellen ist deshalb: Aus einer Pflicht zur Rechtsschutzgewährung des verletzten und deshalb hilfsbedürftigen Familienmitgliedes lassen sich weder die rechtliche Einklagbarkeit zur ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 1353 Abs. 2 BGB) noch § 1626 Abs. 2 BGB rechtfertigen. Sie wären bei einem so verstandenen Familienschutz in Art. 6 GG verfassungswidrig. Die Scheidung bei der Ehe (Folgesachen wie Zuteilung der elterlichen Sorge und Festlegung von Unterhaltsansprüchen, usw.) und Maßnahmen auf der Grundlage von § 1666 BGB bei Verletzung des Kindeswohls (verschuldensunabhängig) durch die Eltern reichen aus dem Rechtsschutzgesichtspunkt als Möglichkeiten staatlicher Intervention aus. Etwas anderes könnte aber dann gelten, wenn § 1626 Abs. 2 BGB und § 1618 a BGB Parallelen zur „Institution Ehe" in § 1353 BGB wären. Wenn Zweck der Norm nämlich gerade das Aufstellen eines Verhaltensideals wäre, das die Institution Familie und deren gesamtgesellschaftliche Verbreitung fördern sollte, nämlich die partnerschaftliche Familie als für die Mitglieder und aufgrund ihrer gesetzlich bereits normierten Kostengünstig86 § 1608 BGB beläßt trotz Heirat des Unterhaltsberechtigten die Verwandten zumindest als subsidiäre Unterhaltspflichtige. Die soziologische Kernfamiliendefinition läßt sich deshalb auf dieses lebenslange potentielle Schuldverhältnis nicht anwenden. 87 F. Leske: Vergleichende Darstellung des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich und des Allgemeinen Preußischen Landesrechts, S. 851.

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keit (Unterhaltsrecht) für den Staat attraktivste Lebensform im Vergleich zu anderen Lebens-, Miet- und Wohngemeinschaften. Solches spricht auch aus der Begründung zur Neufassung der elterlichen Sorge:".. . Nämlich zur Förderung einer größeren Familienautonomie beizutragen und damit den Gefährdungen der Familie als Institution entgegen zu wirken" 8 8 . c) Die Institution Wenn also letztendlich die Institution der Familie geschützt werden soll, indem man glaubt, mit der Kraft der gesetzlichen Vorschrift intimstes menschliches Verhalten beeinflussen zu können, dann hat sich in Jahrhunderten der Familiengeschichte, insbesondere seit Savigny nichts geändert. Der einzige Unterschied besteht darin, daß Savigny einen rechtsfreien Raum, eine Barriere für den Gesetzgeber und den Staat errichtet hat, die im folgenden durch Etablierungsversuche eines Erziehungs- und Lebensideals beiseitegeschoben wurden. Anders als um 1850 haben w i r heute die Gewährleistung einer Handlungsfreiheit und einer Familie im Grundgesetz. Diese Veränderungen können doch auch beim Familienbild der Verfassung nicht ohne Einfluß geblieben sein. Die Rolle der Mutter als Aufzuchts- und Erziehungsinstanz, die des Vaters als Samenträger entspricht gerade nicht unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Dieses „Mehr" als das biologische und staatliche Muß, ist die Freiheit der Familie in ihrem Leben vor dem Recht. Auch müssen sich Auffassungen, die Regelungen wie § 1626 Abs. 2 Satz 2 BGB und § 1618 a BGB als Stärkung der Institution rechtfertigen wollen, fragen lassen, wie denn diese Institution beschaffen ist. Wenn man dann die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als Familie auch im Sinne des BGB anerkennen will, dann müßte dies mit genau den gleichen Zweckmäßigkeitsbegründungen unterlegt werden, die auch Erziehungsstilvorschriften und Beistandspflichten rechtfertigen. Ist es nicht vielleicht zweckmäßig, daß das Individuum in einer komplexen Umwelt wenigstens familienintern einen Zufluchtsort vor dem Recht findet? Ist es nicht wichtig für die Familienautonomie, daß der staatliche Gesetzgeber ein Wesenselement der Institution „Rechtsfreiheit" anerkennt? Welche Strukturmerkmale der Institution Familie in den Vorschriften des bürgerlichen Rechts ihren Widerklang gefunden haben, soll in den folgenden Abschnitten untersucht werden. Wie die Familie begründet, beendet und der Mißbrauch familiärer Gewalt geregelt wird, wird im Folgenden untersucht 89 . Besonderer Wert wurde auf die Darstellung des Adoptionsee BT Drucksache 8/2788, S. 43. 89 Nicht gefolgt werden kann der Auffassung Arnulf Schmitt-Kammlers: Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem Grundgesetz, Berlin, 1983, S. 19, der

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rechts gelegt, da hier unstreitig eine Lebensgemeinschaft rechtlich begründet wird, die einige der sozialen Funktionen der verwandtschaftlich begründeten Familie innehat. I V . D i e Begründung der Familie i m B G B

Es ist eher die Ausnahme als die Regel, daß das BGB den Begriff „Familie" verwendet. Vor allem in Novellierungen neueren Datums, wie z. B. bei § 1356 Abs. 2 Satz 2 BGB, w i r d auf die „Familie" Bezug genommen. Beim Unterhalts- und beim Erbrecht stellt der Gesetzgeber auf die „Verwandtschaft" ab. Diese ist grundsätzlich eine Blutsverwandtschaft, mit zwei Ausnahmen: - Nach der Einführung des Grundsatzes der Volladoption bei Minderjährigen kann durch einen öffentlich rechtlichen Gestaltungsakt ein gesetzliches Verwandtschaftsverhältnis bzw. ein Verhältnis, das diesem gleichzustellen ist, geschaffen werden. - Bei einer durch öffentliche Beurkundung geschlossenen, wirksamen Ehe, wird vermutet, daß ein Kind, das nach der Eheschließung geboren wird, ehelich und damit auch mit dem Scheinvater verwandt ist (§ 1591 Abs. 1 Satz 1 BGB). Auch wenn diese vermutete Verwandtschaft angefochten werden kann, so sind ihre Rechtswirkungen dennoch für den tatsächlich mit dem Kind blutsverwandten Erzeuger sehr erheblich. Er kann nämlich, wenn der Scheinvater und auch das K i n d die Vaterschaft und Verwandtschaft nicht anfechten, hiergegen nichts unternehmen. Dies rechtfertigt es, in der Vaterschaftsvermutung des § 1591 BGB - die auf römisches Recht zurückgeht 90 - eine Durchbrechung des Blutverwandtschaftsprinzips zu sehen. Soweit es um die elterliche Sorge für ein Kind geht, knüpft der Gesetzgeber nicht an die Familieneigenschaft an, sondern hat ein differenziertes System von Personenbeziehungen innerhalb der Familie entwickelt. Das Besondere hierbei ist, daß die Familie nicht im Ganzen zum Regelungsgegenstand gemacht wird, sondern die Regelungen des Gesetzgebers sich auf einzelne Rollen- und Personenbeziehungen beschränken. Die Gliederung des vierten Titels des zweiten Abschnitts des vierten Buchs des BGB lautet deshalb: „Das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und dem Kinde im allgebei Art. 6 Abs. 2 GG auf einen institutionellen Ansatz verzichten will. Mangels einer dem Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG vergleichbaren Inhaltsbestimmungbefugnis sei ein solcher Schutz bei Art. 6 Abs. 2 GG entbehrlich. Der Verfassungsgeber habe abschließend den Umfang des Elternrechts bestimmt. Diese Auffassimg bietet aber keinen Schutz gegenüber z. B. einer frühen Schulpflicht (s.a. S. 52 zum Elternrecht in der Schule). 90 Max Käser: Beweislast und Vermutung im römischen Formularprozeß in: Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte, 1954, S. 71 (238).

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meinen", „Die elterliche Sorge für eheliche Kinder" und „Die elterliche Sorge für nichteheliche Kinder." Obwohl der Gesetzgeber dies mit nahezu keinem Wort ausspricht, geht er wohl davon aus, daß Verwandtschaftsbeziehungen und die Eltern-KindBeziehung im Familienkreis angesiedelt sind. Wie sonst könnte er ζ. B. in § 1666 a BGB ohne weitere Erklärung von der „elterlichen Familie" sprechen? Für einen Gesetzgeber, der sich dafür entschieden hat, seinen besonderen Rechtsgebieten einen allgemeinen Teil - und damit auch zum Teil Legaldefinitionen - voranzustellen, erscheint dies ungewöhnlich 91 . Die Nichtbezugnahme - auch verbal - auf die „Familie" läßt sich nahtlos in die Gedankenführung Savignys einordnen. Wenn nämlich die Doppelnatur der Familie als rechtlicher und auch außerrechtlicher - biologischer und sittlicher - Tatbestand erkannt ist, dann beschränkt der Gesetzgeber seine Bezugnahme auf die „Familie" auf das „Minimum", d. h. soweit möglich nur auf ein Tatbestandsmerkmal, wie ζ. B. die Verwandtschaft oder das Zusammenleben. Dies entbindet uns nicht von der Prüfung, ob Anknüpfungen an die Verwandtschaft oder an die Ehe die Familiengewährleistung des Art. 6 Abs. 1 GG verletzen. Die grundsätzliche Enthaltsamkeit in Fragen einer Regelung des gesamtfamiliären Verhaltens erscheint vom Ausgangspunkt her Art. 6 Abs. 1 GG zu entsprechen. Im Folgenden sollen die einzelnen, einfachgesetzlichen Regelungen, die die Familie betreffen können, aufgezeigt werden. Eine Definition, was Familie ist, bzw. wer zur Familie gehört, bietet das BGB nicht. Es regelt aber, wie die Zugehörigkeit zu einer Familie begründet werden kann. Nach der Rechtsprechung des BVerfG, das sowohl Stiefkinder, Pflegekinder als auch Adoptivkinder als familienzugehörig im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG auffaßt, gibt es folgende Möglichkeiten, die Familienzugehörigkeit auf bürgerlich-rechtlichen Wege zu erlangen: Durch die Ehe und die natürliche Verwandtschaft der Kinder mit ihren Eltern (auch die Schwägerschaft zwischen Stiefkind und Stiefeiternteil), die Adoption und das Pflegekindverhältnis. 1. Die Verwandtschaft

a) Die Blutsverwandtschaft Das BGB entscheidet sich für das Prinzip der Blutsverwandtschaft. Es wird dabei zwischen Verwandten in gerader und in der Seitenlinie unterschieden: 91 Man könnte hiergegen einwenden, daß die Nennung der „Familie" durchgängig Gesetzesinitiativen der letzten 30 Jahren entspricht.

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- Als Verwandtschaft in „gerader Linie" bezeichnet man die Beziehung von Personen, die voneinander abstammen (§ 1589 Abs. 1 S. 1 BGB). - Als verwandt i n der Seitenlinie bezeichnet man Personen, die von derselben dritten Person abstammen. Da die gemeinsame Abstammung von einer Person ausreicht, unterscheidet das BGB nicht zwischen voll- und halbbürtigen Geschwister-Verwandtschaf ten 9 2 . Auch ist im BGB eine Tendenz festzustellen, die Geschwister, also Verwandte in der zweiten Linie, vom familiären Pflichtenverbund freizustellen. So gibt es z. B. keine Verpflichtung der Geschwister, einander Unterhalt zu gewähren. Lediglich im Erbrecht werden die Geschwister, wenn die Person, über die sie miteinander verwandt sind, verstorben ist, als Erben zweiter Ordnimg in der gesetzlichen Erbfolge berücksichtigt (§§ 1925 Abs. 1, 3 BGB) 9 3 . Ein Problem, das in der Einordnung dieser beiden Begrifflichkeiten - Verwandtschaft und Eltern-Kind-Beziehung - besteht, ist die Einordnung des Geschwisterverhältnisses. Dies wird deutlich am Beispiel der Unterhaltspflicht. Unterhalt schulden nur die Verwandten in gerader Linie einander. Auch die sonstige rechtliche Regelung ist auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern beschränkt. In der Literatur macht man sich bei 1618 a BGB Gedanken darüber, auf welcher Grundlage Geschwister einander Nachhilfeunterricht geben. Vom Wortlaut her, spricht § 1618 a BGB lediglich aus, daß Eltern und Kinder einander verpflichtet sind. Das „Einander" von Eltern und Kindern läßt gerade nicht auf eine Verpflichtung der Kinder untereinander schließen. Vielleicht stellt § 1618 a BGB eine Ausnahme dar: dann nämlich, wenn abweichend von der sonstigen Systematik des Gesetzes, auch der Beistand von Geschwistern untereinander gesetzlich festgelegt ist. Dies entspricht wohl einhelliger Meinimg 9 4 . Die konstruktive Begründung für eine solche Beistandspflicht der Geschwister ist freilich unterschiedlich: zum einen wird auf einen Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte abgestellt 95 , zum anderen wird die Beistands- und Rücksichtsnahmeverpflichtung zugunsten von Geschwistern mittelbar als Beistand für den dadurch entlasteten Elternteil konstruiert 96 . Bei der ersten Variante ist schon sehr fraglich, worin denn 92

Dies kam auch im alten § 1310 Abs. 1 BGB zum Ausdruck. Deshalb ist es auch möglich, daß die „Geschwister" aus verschiedenen Ehen stammen. Auch der nichteheliche Abkömmling ist bei Halbschwester und Halbbruder nach den Regeln des § 1925 Abs. 1, 3 BGB im Wege der gesetzlichen Erbfolge berechtigt. 94 Palandt/Diederichsen: § 1618 a Anm. 1; Münchener Kommentar/ Hinz: § 1618 a Rdn. 6. 95 Palandt/Diederichsen: § 1618 a Anm. 1. 96 G. Knöpfel: Beistand und Rücksicht zwischen Eltern und Kindern (§1618 a BGB), FamRZ 1985, 559. 93

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hier der Vertrag bestehen soll. Das ganze Familienrecht kennt als Begründung der Familienzugehörigkeit einen Vertrag zwischen Eltern und K i n d bzw. anderen Beteiligten jedenfalls nicht. Auch bei der Adoption Minderjähriger (dazu später) wird die Familienzugehörigkeit nicht durch Vertrag von Kind und Eltern begründet. Diese zweite Variante führt zu einem lebensnahen Ergebnis, aber auf welchen Umwegen? Deutlich w i r d an diesem Beispiel, daß es Tendenzen gibt, auch die Beziehungen der Geschwister untereinander zu verrechtlichen und in den Kreis der Familienpflichtigen einzubeziehen. Grundsätzlich besteht dieses Bedürfnis auch bei den Stiefeltern, bei denen der BGB-Gesetzgeber bisher, abgesehen von § 1371 Abs. 4 BGB, auf eine Inpflichtnahme oder Berechtigung verzichtet hat. b) Die Schwägerschaft Von der Verwandtschaft zu unterscheiden ist die Schwägerschaft. Mit Schwägerschaft wird das Verhältnis eines Ehegatten zu den Verwandten des anderen, aber auch genereller eine Kombination von Verwandtschaft und Heirat und umgekehrt bezeichnet: ζ. B. ist die Stiefmutter mit ihren Stiefkindern und umgekehrt verschwägert. Das Interesse des Gesetzgebers an der Beibehaltung einmal entstandener familiärer Bindungen im weitesten Sinne kommt in § 1390 Abs. 2 BGB zum Ausdruck. Die Schwägerschaft erlischt kraft seiner Regelung nicht durch die Scheidung der sie begründenden Ehe; Schwager bleibt Schwager, Stiefmutter bleibt Stiefmutter, usw. c) Die Bedeutung der Institute Verwandtschaft, Schwägerschaft, und Eltern-Kind-Beziehung Das Institut der Verwandtschaft hat zweifache Funktion: die eine wird in der Familiendefinition G. Plancks deutlich: „Die Familie w i r d gebildet durch den Kreis der durch die Ehe und durch Abstammung voneinander oder von gemeinschaftlichen Vorfahren verbundenen Personen" 97 . Die Verwandtschaft in gerader und in der Seitenlinie soll also Zurechnungsmodus für die Zugehörigkeit zur Familie sein. Daneben - mehr als nur ein bloßes Tatbestandsmerkmal der Familie - ist Verwandtschaft ein Rechtsbegriff, an den das BGB schwerwiegende und bedeutende, man möchte eigentlich sagen, typische Familienpflichten knüpft. So ist ζ. Β. die Pflicht zur Unterhaltsleistung an die Verwandtschaft geknüpft (§ 1601 BGB). § 1360 BGB muß deshalb die Unterhaltspflicht der nicht miteinander verwandten Ehegatten regeln. Auch das Erbrecht knüpft keinesfalls an die Familienzugehö97 E. Strohal: Plancks Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Bd., Berlin, 1928, S. 3.

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rigkeit, d. h. z. B. an das Bestehen einer gemeinsamen Haushaltung an, sondern an die Verwandtschaft (§ 1924 ff BGB). Auch bei der Auswahl eines Vormundes und anderen kindeswohlrelevanten Angelegenheiten (§1779 Abs. 3 S. 1 und § 1847 S. 2 BGB) sind Verwandte oder Verschwägerte des Mündels zu hören. Die Schwägerschaft hat zudem neben der Verwandtschaft Bedeutimg für das Bestehen gewisser Eheverbote (§ 4 EheG). Nicht auf Verwandtschaft gründet sich das Recht des nicht verheirateten Vaters auf elterliche Sorge. Auch nach Wegfall des § 1589 Abs. 2 BGB, der eine Verwandtschaft von nichtehelichem Kind und Vater ausschloß, vermag allein die mit der Mutter geschlossene Ehe - die eheliche Abstammung eines Kindes - ein Recht auf elterliche Sorge des Vaters zu begründen. Die Eltern-Kind-Beziehung stellt neben der Verwandtschaft einen weiteren Zurechnungsmodus dar: an sie geknüpft ist die Dienstleistungspflicht des Kindes in Haus und Geschäft der Eltern (§ 1619 BGB), solange es erziehungs- und/oder unterhaltsbedürftig ist und das Nutznießungsrecht der Eltern am Kindesvermögen (§ 1649 Abs. 2 BGB). Ein weiterer Zurechnungsmodus für die Familie ist die Annahme an Kindes Statt. 2. Die Annahme an Kindes Statt

a) Die Annahme aa) Die Annahme eines geborenen Kindes In der Zeit vom Erlaß des BGB bis heute hat das Adoptionsrecht tiefgreifende Wandlungen erlebt. Eine davon betraf die Form der Annahme. Bei Erlaß des BGB ging man davon aus, daß der Adoptionsvertrag durch den Adoptionswilligen und den zu Adoptierenden geschlossen wurde (§ 1741 S. 1 BGB a. F.). Bei unmündigen Kindern konnte der gesetzliche Vertreter den Adoptionsvertrag schließen. Durch das Adoptionsgesetz (vom 2.7.1976) entschied sich der Gesetzgeber für das Dekretsystem 98 . Das BGB unterscheidet zwischen der Adoption Voll- und Minderjähriger. Im Folgenden soll hauptsächlich auf die Adoption Minderjähriger als wohl häufigsten Fall Bezug genommen werden. Zur Wirksamkeit der Adoption eines Minderjährigen ist der Antrag des Annehmenden (§ 1752 Abs. 1 BGB), die Einwilligung des Kindes (§ 1746 Abs. 1 BGB) bzw. der Eltern des Kindes (§ 1747 Abs. 1 BGB) und ein Beschluß des Vormundschaftsgerichtes (§ 1752 Abs. 1 BGB) notwendig. Der Wandel der gesetzlich vorgeschriebenen Adoptionsform ist Folge einer ver98

Palandt/Diedrichsen: Anm. 1 vor § 1741 BGB.

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änderten Bedeutung der Adoption überhaupt: diente die Adoption früher vor allem kinderlosen, begüterten Menschen zur Perpetuierung ihres Lebenswerks, wie ζ. B. ein Unternehmen über ihre Lebenszeit hinaus zu erhalten, so wird heute beim Adoptionsrecht vor allem auf das Wohl des Kindes abgestellt (§ 1741 Abs. 1 BGB). Bemerkenswert ist erneut die Wortwahl des Gesetzes: § 1741 Abs. 1 BGB bejaht eine Adoption dann, wenn zu erwarten ist, daß zwischen den „Annehmenden und dem Kind ein ElternKind-Verhältnis entsteht". Im Adoptionsrecht w i r d also nicht vorausgesetzt, daß eine Familie entsteht. Vielmehr ist auch die Adoption von Kindern durch Alleinstehende zulässig und kann bei Prüfung im Einzelfall durch eine günstige Kindeswohlprognose gerechtfertigt werden. Der Wandel der Form, vom allenfalls vormundschaftlich bestätigten Vertrag zum öffentlichrechtlichen Gestaltungsakt, hat Auswirkungen auf die Lösung eines aktuellen Rechtsproblems: der sog. pränatalen Adoption. bb) Die pränatale Adoption Man hielt dieses Institut zur Verhinderung von Abtreibungen angezeigt". Eine große Rolle spielt der Gedanke einer pränatalen Adoption in der Diskussion um die rechtlich Einordnung der neuen Befruchtungstechnologien. Als Beispiel sei der Fall einer heterologen Insemination gewählt, d. h. die verheiratete Frau wird mit dem Samen eines fremden Mannes befruchtet. Der BGH sieht den Samenspender als nichtehelichen Vater und den Ehemann als Scheinvater an. Er hat keine Bedenken, die Samenspende dem Geschlechtsakt gleichzustellen. Die Vatereigenschaft macht der BGH also allein von der genetischen, vermeintlich nicht wertungsbedürftigen Verwandtschaftszurechnung abhängig. Demgegenüber schlagen Stimmen in der Literatur vor, das beiderseitige Einverständnis von verheirateten Partnern als Adoptionsantrag zu werten, und das Einverständnis des Samenspenders als Annahme (§ 145, 147 BGB). Eine solche Adoption wäre wegen des Mangels der gesetzlich vorgeschriebenen Form nichtig (§125 BGB). Vorstellbar wäre, ähnlich wie bei der postnatalen Adoption, die Einverständniserklärung des Samenspenders und auch die Anträge der Eltern vor dem Vormundschaftsgericht abgeben zu lassen. Das Vormundschaftsgericht könnte dann analog § 1752 BGB darüber Beschluß fassen, ob die persönlichen Verhältnisse der Partner eine am Kindeswohl orientierte (§ 1741 BGB), günstige Prognose erlauben. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Entscheidungskompetenz des Gerichtes viel sachnäher als die bisher praktizierte, vermeintliche Verantwortlichkeit des Arztes, des „Richters in Weiß". Denn, und darüber muß man sich im Klaren sein, die Ärzte werden genauso 99 Friedrich Wilhelm Bosch: Ehe und Familie in der Bundesrepublik Deutschland Grundfragen der rechtlichen Ordnung, Köln, 1983, S. 45 m.w.N..

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wie die Gerichte mit solchen Prognosen überfordert sein. Es spricht aber viel dafür, daß die Gerichte, die sonst in ihrem Tätigkeitsbereich mit Adoptionen befaßt sind auch bei prognostischen Kindeswohlentscheidungen einen einheitlicheren Beurteilungsmaßstab finden werden. Bei näherem Hinsehen aber w i r d die Problematik klar: Die Kindeswohlbarriere des § 1741 BGB steht bei Fremdadoptionen, bei denen Kinder von mit ihnen nicht verwandten oder verschwägerten Personen adoptiert werden, nicht zwischen den Eltern als Träger des Rechts auf Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und ihrem zukünftigen Kind, da in Bezug auf das zu adoptierende Kind ein staatlicher Verschaffungsakt notwendig ist. Würde man z. B. bei einer homologen Insemination ebenfalls eine Kindeswohlprüfung vornehmen, dann würde der Staat sich - anders als bei der natürlichen Zeugung - eine ex-ante Beurteilung der Erziehungsfähigkeit konkreter Elternpaare vorbehalten. Dies erscheint mit Art. 6 Abs. 1 GG, der eine Familiengründungsfreiheit enthält, unvereinbar. Zwar muß auch die Adoption durch den mit der Mutter nicht verheirateten Vater, der sein Kind adoptieren will, Gewähr für die Wahrung des Kindeswohls bieten. Das ist die Konsequenz der Annahme, daß Zentrum der Familie die Ehe der Eltern ist und dem Vater kein Erziehungs- und Familienrecht zusteht. Nur die Mutter, die das Kind auf die Welt bringt, hat nach dem BGB ein unmittelbares Recht auf die Sorge für das Kind. Ein weiteres Argument gegen pränatale Adoption bildet das Beispiel einer ledigen Frau, die ein Kind durch heterologe Insemination und nicht durch Geschlechtsakt anstrebt. Ihr würde im Einzelfall bei Zugrundelegung der Adoptionsvorschriften ein Kind aufgrund der staatlichen Prüfung ihrer Erziehungs- und Pflegefähigkeit vorenthalten, ein im Vergleich zur infolge eines Geschlechtsakts empfangenden Mutter gravierender Unterschied. Ohne besondere Prüfung des Einzelfalls eine heterologe Insemination vorzunehmen, kann bereits angesichts der in der Praxis entschiedenen Fälle nicht verantwortet werden. Zu oft sind einer oder beide Partner mit der Geburt und dem Aufwachsen des Kindes überfordert. Die Prüfung des Kindeswohls bei Inseminationsanträgen erscheint aber vom Ergebnis fragwürdig, da man im Falle der Ablehnung des Adoptionsantrages die Wunschmutter in den Ehebruch treibt. Dies läßt sich nur schwer mit dem verfassungsrechtlich geschützten Recht auf Ehe beider Ehepartner vereinbaren. Auch bei der pränatalen Anwendung der Adoptionsvorschriften auf z. B. die heterologe Insemination kann deshalb weder eine Eltern-Kind-Beziehung noch ein Familienverhältnis durch Vertrag über das Samengut begründet werden. Es würde sich auch hier um einen Gestattungsakt, und nicht um Willenserklärungen handeln.

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b) „An Kindes Statt" Dem heutigen Adoptionsrecht liegt der Grundsatz der sog. Volladoption (bei Minderjährigen) zugrunde. Das adoptierte K i n d erhält die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes des Annehmenden (§ 1754 BGB). Zum zweiten begründet die Adoption ein umfassendes gesetzliches Verwandtschaftsverhältnis mit den Verwandten des Annehmenden. Grundsätzlich erlöschen die bisherigen Verwandtschaftsverhältnisse durch die Adoption. Die Väter des BGB regelten die Wirkungen der Adoption anders. Vor allem die vermögensrechtlichen Auswirkungen der Adoption, wie ζ. B. der Verlust bzw. Erwerb von Unterhaltsansprüchen, der Verlust bzw. Erwerb von verwandtschaftlichen Erb- und Pflichtteilsrechten ließen sie vor der Volladoption zurückscheuen. Deshalb bewirkte die Adoption nach altem Recht vor allem den Übergang der elterlichen Gewalt. Das angenommene Kind trat jedoch nicht in die Familie des Annehmenden ein, ein verwandtschaftliches Verhältnis mit den Verwandten des Annehmenden wurde durch die Adoption nicht begründet (§ 1763 S. 1 BGB a. F.). Deshalb wurden auch die Verwandtschaftsverhältnisse mit den leiblichen Verwandten durch die Adoption nicht beeinflußt. Erb- und Pflichtteilsrechte blieben also gegenüber den leiblichen Verwandten bestehen. Lediglich vorrangiger Schuldner des Unterhaltsanspruches wurde der Annehmende (§ 1764 BGB a. F.). Wenn der Annehmende dann nicht mehr fähig war, seiner Unterhaltspflicht nachzukommen, fiel zwar nicht die elterliche Gewalt, wohl aber die tatsächliche Sorge für die Person des Kindes an die leiblichen Eltern zurück (§ 1601 ff, 1606, 1766 BGB a. F.). Aufgrund des Prinzips der Volladoption wird bei heutiger Rechtslage eine Eltern-Kind-Beziehung, die die Innehabung der elterlichen Sorge beinhaltet, zwischen Annehmenden und Adoptierten begründet und auch eine Einbindung des angenommenen Kindes in die weiteren Verwandtschaftszusammenhänge des Annehmenden erreicht. Dies ist wohl der Grund dafür, weshalb das BVerfG Adoptivkinder als Mitglieder einer in Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familie ansieht. 3. Die Pflegekindschaft

Im Gegensatz zum A L R 1 0 0 sah das BGB ursprünglich keine gesetzlich geregelte Pflegekindschaft vor. Als Begründung wurde angeführt, daß zum einen die Pflegekindschaft des ALR sich lediglich auf personen- und nicht die vermögensrechtlichen Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung erstrecke. Deshalb, und weil die Pflegeeltern ihren Beistand jederzeit wieder zurückziehen konnten, 1 0 1 fühlte man sich zur Nichtaufnahme des Instituts der Pfle100 ALR 2. Teil, 2. Titel §§ 753 ff. ιοί ALR 2. Teil, 2. Titel § 771 II.

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gekindschaft berechtigt 102 . Der Erkenntnis folgend, daß das Aufwachsen in einer Familie wohl die noch unter mehreren Alternativen beste Sozialisationsprognose für ein Kind beinhaltet, ist der bürgerliche Gesetzgeber von diesen Grundsätzen abgegangen. Neben den Regelungen in § 27 ff des JWG befassen sich heute § 1630 Abs. 3 und 1631 Abs. 4 BGB mit dem Verhältnis von Familienpflege und Elternschaft. Die Voraussetzungen einer Pflegekindschaft sind angesichts der jüngsten Rechtsprechimg des BVerfG auch für Art. 6 Abs. 1 GG bedeutsam. Das BVerfG 1 0 3 hält nämlich auch die Gemeinschaft von Pflegeeltern und Pflegekindern für eine Familie im Sinne von Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 GG. - Pflegekinder sind nach der Legaldefinition des § 27 JWG Kinder, die sich dauernd oder für einen Teil des Tages bei Pflegepersonen aufhalten, die in der Regel nicht mit ihnen verwandt sind (§ 27 Abs. 2 Nr. 2 JWG). - Nach der Intensität der Beziehung von Pflegekindern und Pflegeeltern unterscheidet das BGB in § 1632 Abs. 4 BGB. Wenn das K i n d „längere Zeit in Familienpflege" gelebt hat und ein dementsprechender Antrag der Pflegeperson vorliegt, kann im Hinblick auf das Kindeswohl die Herausgabe des Kindes an die leiblichen Eltern verweigert werden (§ 1632 Abs. 4 BGB). Ob das BVerfG nur die durch § 1632 Abs. 4 BGB verstärkten Bestandsschutz erhaltende Pflegeeltern-Pflegekind-Beziehung zur verfassungsrechtlichen Familie zählt, w i r d nicht deutlich. Das Gericht stellt lediglich darauf ab, ob das Verhältnis von Pflegeeltern und Pflegekindern die unmittelbare Trennungsphase von der Ursprungsfamilie überdauert hat. Das BVerfG hat auch nicht unterschieden, ob nur Pflegeeltern, denen die elterliche Sorge nach § 1630 Abs. 3 BGB zugesprochen wurde, oder jede Pflegefamilie Art. 6 GG untersteht 104 . Es hat nur festgestellt: Die „soziale Familie" stehe unter dem Schutz sowohl des Art. 6 Abs. 1 als auch des Art. 6 Abs. 3 GG 1 0 5 . Bei der Gegenüberstellung von Entscheidungsgründen und der rechtlichen Regelung der Pflegefamilie lassen sich folgende Besonderheiten erkennen: - Falls auch die Pflegefamilie, bei der keine Übertragung der elterlichen Sorge stattgefunden hat, unter Art. 6 Abs. 1 GG subsumiert werden soll, dann gibt es eine Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG, die die elterliche Sorge über die Kinder nicht eigenverantwortlich ausüben kann. 102

G. Planck: Entwurf, § 16, S. 1815. loa BVerfGE: 68 176 (187). 104 Die die unmittelbare Trennungsphase überdauert hat. los BVerfGE: 68 176 (187, 189).

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- Parallel zur Adoption kann auch bei der Pflegefamilie durch öffentlich rechtlichen Gestaltungsakt eine verfassungsrechtliche Familienzugehörigkeit begründet werden. - Im Unterschied zur Adoption (Minderjähriger) widersprechen sich aber öffentlich rechtlicher Gestaltungsakt (Pflegeerlaubnis nach § 28 JWG) und verwandtschaftlicher Status. Das Pflegekind kann deswegen einer Familie angehören, deren verwandtschaftlichen Status es nicht teilt. Noch weitergehend kann das Pflegekind zwei Familien gleichzeitig angehören: Der sozialen Familie und der Familie mit seinen leiblichen Eltern. Eine gleichzeitige Zugehörigkeit zu zwei Herkunftsfamilien kann aufgrund der Geltung des Prinzips der Volladoption bei der Adoption Minderjähriger nicht begründet werden. - Maßgebend bei der Abwägung der Grundrechtspositionen beider Familien soll dann das Kindeswohl bzw. die Kindeswohlprognose sein 106 . Die Pflegefamilie stellt sich damit als Durchbrechung sämtlicher Zurechnungsprinzipien der Familie dar. Die Pflegefamilie ist eine faktisch existierende Familiengemeinschaft, die mit etwa noch vorhandenen Familien (-resten) konkurriert. Diese Konkurrenzsituation ist weder bei der Adoption, auch wenn die Adoptionserklärung durch richterlichen Gestaltungsakt ersetzt wird (§ 1666 b BGB), noch bei der Familie, die aufgrund der Ehelichkeitsvermutung von § 1791 BGB fingiert wird, der Fall. Bei der Stieffamilie hatte das BVerfG noch keinen Anlaß zu entscheiden, ob Art. 6 Abs. 1 GG auch auf diese soziale Gemeinschaft mit dem anderen Elternteil angewendet werden kann. Generell legt diese Rechtsprechung zu einer „sozialen Familie" die Überprüfung des Verhältnisses von „Familie" zur Erziehungsaufgabe nahe. In einer Trennung der Erziehungsbefugnisse von den Erzeugern muß immer eine Gefahr für die Familie vermutet werden. Das Recht für eigene Kinder sorgen und leben zu dürfen, macht den Kern der Familiengewährleistung aus. Wie das bürgerliche Recht diese Verknüpfung von Vater und Mutter mit ihrem K i n d beurteilt, wird im Folgenden behandelt. 4. Die elterliche Sorge als Familienaufgabe das Verhältnis von Verwandtschaft und Sorgeberechtigung

Das BGB geht von einer strikten Vierteilung personenrechtlicher Verhältnisse aus: Die Ehe, die Verwandtschaft, die Eltern-Kind-Beziehung und die Innehabung der elterlichen Gewalt. Die Verwandtschaft ist vor allem Grundlage der vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen den einzelnen 106 BVerfGE: 68 176 (188).

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Personen. Unterhalts- und Erbteilsrechte beziehen sich allein auf das Verhältnis der natürlichen oder durch Adoption vermittelten Verwandtschaft. Dies bedeutet auch, daß die Innehabung der elterlichen Gewalt oder Sorge von der natürlichen Verwandtschaft zu unterscheiden ist. Nach dem Entwurf zum BGB sollte das nichteheliche K i n d zwar die Stellung eines ehelichen Kindes der Mutter und deshalb auch in Bezug auf ihre Verwandten haben, die elterliche Gewalt oder Sorge konnte der Mutter damals aber nicht zugesprochen werden. Auch nach Wegfall des § 1589 Abs. 2 BGB, der eine Verwandtschaft zwischen nichtehelichen Vater und K i n d ausschloß, bleibt es bei der alleinigen Innehabung der elterlichen Sorge durch die nichteheliche Mutter. Die Rechtsprechimg des BVerfG zum Verhältnis des nichtehelichen Vaters zu seinem Kind bzw. zur Ausübung der elterlichen Sorge durch ihn, ist lückenhaft. Unter Geltung der Vorschrift des § 1589 Abs. 2 sprach das BVerfG von der „natürlichen Verwandtschaft" zwischen Vater und K i n d und den daraus entspringenden Ansprüchen im Beamten-, Besoldungs-, Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht. Das Verhältnis von nichtehelichem Vater und Kind sei deshalb ein Rechtsverhältnis und nicht nur eine Summe jeweiliger Ansprüche. Es bestehe ein „Rechtsverhältnis im Sinne eines besonderen personenrechtlichen Grundverhältnisses " 1 0 7 . Mit Wegfall des § 1589 Abs. 2 BGB war für das BVerfG der Weg zur pauschalen Qualifizierung des Vater-Kind-Verhältnisses als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG frei 1 0 8 . Da in der Entscheidung eine Begründung genauso fehlt wie in der angegebenen Literaturfundstelle 109 , überrascht es nicht, daß in einer später erfolgten Entscheidung diese Feststellung eine nicht unerhebliche Einschränkung erfuhr. Nun führte das Gericht aus, daß „jedenfalls das Zusammenleben von Vater und nichtehelichem Kind als eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Gemeinschaft anzusehen i s t " 1 1 0 . Zum Vergleich: In der Art. 6 Abs. 1 GG offensichtlich vorschnell bejahenden Entscheidung, lebten die Beschwerdeführer nicht mit ihren Kindern zusammen. Bemerkenswert ist ferner, daß das BVerfG den neutralen Begriff „Beziehung" und nicht „Familie" oder „Gemeinschaft" für das Verhältnis von Vater und nichtehelichem Kind wählte 1 1 1 . Unklar ist, ob die Innehabung der elterlichen Sorge Tatbestandsmerkmal der Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG ist und weiter, ob das Zusammenleben von Personen Tatbestandsmerkmal der Familie ist. 107 BVerfGE: 8 120 (219). 108 BVerfGE: 45 104 (123). 109 Th. Maunz in Maunz/Dürig: Art. 6 Anm. 16. no BVerfGE: 56 363 (382). m BVerfGE: 45 104 (123), 48 327 (339).

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Wenig aussagekräftig ist ferner die diffizile Unterscheidung, die das BVerfG bei der Zuerkennung des Erziehungsrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG an den nichtverheirateten Vater trifft: Es unterscheidet drei Typen von nichtehelichen Vätern: - „Soweit ein nichtehelicher Vater an der Entwicklung seines Kindes keinen Anteil nimmt, kann ihm ein auf Verantwortung gerichtetes Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG nicht zukommen" 1 1 2 . - Falls der nichteheliche Vater am Kind Interesse zeigt und seine Bemühungen in dieser Richtung jedoch von der Kindesmutter vereitelt werden, dann sei es Aufgabe des Staates, eine „klare sorgerechtliche Lösung zum Wohl des Kindes zu treffen - was auch in § 1705 BGB geschehen i s t 1 1 3 " . - Falls Vater und Mutter gemeinschaftlich bei der Erziehung des Kindes die elterliche Verantwortung wahrnehmen und zusammenleben 114 , könne dem nichtehelichen Vater ein Recht aus Art. 6 Abs. 2 GG nicht abgesprochen werden. Jetzt würde man eigentlich erwarten, daß das BVerfG §§ 1705, 1711 BGB, die dem sich als Vater fühlenden und betätigenden nichtehelichen Erzeuger lediglich ein Umgangsrecht zusprechen, für verfassungswidrig erklärt. Das Gegenteil geschieht: Da die unverheirateten Eltern sich für eine „rechtsfreie" Partnerschaft entschieden hätten, bleibe das rechtliche Defizit der elterlichen Sorge des nichtehelichen Vaters (§ 1705 BGB) innerhalb des Gestaltungsspielraums des einfachen Gesetzgebers 115. Die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers wird mit der Anwendung eines „volenti non fit iniuria"-Prinzips begründet. Der um sein Kind bemühte und mit der nichtehelichen Mutter samt Kind evtl. zusammenlebende Vater hat sich gegen eine rechtsverbindliche Ausgestaltung seiner Beziehungen entschieden und damit auch gegen sein durch Ehe vermitteltes Erziehungsrecht. Für Verfassungsrecht und einfaches Recht gilt, daß die Blutsverwandtschaft kein Recht am Kind begründet. Von Personen, die nicht Mutter des Kindes sind, kann die elterliche Sorge de lege lata nur durch öffentlich sanktionierte Gestaltungsakte erworben werden. Zum einen durch Adoption, zum anderen durch Ehe und zum dritten mittels Übertragung der elterlichen Sorge durch das Vormundschaftsgericht auf die Pflegeeltern. Dies bestätigt die schon oben aufgestellte Behauptung, daß für die Schöpfer des BGB die Ehegattenbeziehung das Zentrum der Familie war. Dies 112 BVerfGE: 56 363 (383), die Erfüllung von Unterhaltspflichten soll bei der Beurteilung des Vaterverhaltens keine Rolle spielen. H3 BVerfGE: 56 363 (383). 114 BVerfGE: 56 363 (384). us BVerfGE: 56 363 (385, 386). 8 Schmid

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drückt sich auch im damaligen Namen der elterlichen Sorge, nämlich „väterliche Gewalt" aus. Nach Zuerkennung der elterlichen Sorge an die Mutter durch das Gleichberechtigungsgesetz und an die nichteheliche Mutter durch das Nichtehelichengesetz muß in Frage gestellt werden, ob die Verwandtschaft der Mutter mit dem Kind für die Zuteilung des Erziehungsrechts maßgeblich ist. Neben dem Erfahrungssatz „mater semper certa est" scheint hinter dieser Zuweisung eine Entscheidung für das nähere Bestimmungsrecht der Mutter über das Kind, und nicht des Vaters, zu liegen. Wenn dies der Fall ist, dann kann der Vater sich bei der Begründung seines Erziehungsrechts nicht auf die Verwandtschaft mit dem Kind, sondern nur auf die Ehe mit der Mutter berufen. Die Mutter-Kind-Beziehung wäre dann eigentliches Zentrum der Familie und des Familienbegriffs. In diesem Rahmen ist die Ausgestaltung der Ehe durch das BGB zu überprüfen. 5. Die Ehe des BGB

Für die Lebensform des Hauses unter Geltung des ALR war die Ehe ein in höchstem Maße ökonomisch bedeutsamer Vertrag. Motiv für den Vertragsschluß waren Mitgift, Arbeitskraft und zu erwartendes Erbe der Ehepartner. Mit dem Entstehen der Freizeitfamilie im Gefolge der industriellen Revolution, die das Ende der Familie als Arbeitsgemeinschaft mit sich bringt, geht eine Verinnerlichung der Familienbeziehung einher. Der Grund hierfür kann in der von der Familie übernommene Funktion des Spannungsausgleichs gesehen werden. Die „Ehe als Institution" ist das dogmatische Instrument, um diese Wirklichkeit in das Recht zu übertragen. „Ehe" im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist die auch bei den Beratungen zum Erlaß des GG bekannte „Ehe nach den Grundsätzen des christlichen Abendlandes" 116 . In § 1353 BGB w i r d das Lebenslänglichkeits- und Gemeinschaftsprinzip gesetzliche Wirklichkeit. Das Bild der Ehe w i r d aber auch durch ihr Spiegelbild, nämlich die Scheidung bestimmt. Der christlichen Gesamtanschauung entspricht es, daß im Eherecht nicht das Prinzip der individuellen Freiheit, sondern die Ehe als „eine vom Willen der Gatten unabhängige, sittliche und rechtliche Ordnung" anzusehen ist 1 1 7 . Weil aber das Zusammenleben in einer kranken Ehe vor allem dem unschuldigen Teil sittlich nicht mehr zugemutet werden kann, akzeptiert das BGB die Scheidung. Die Trennung von Tisch und Bett im kanonischen Recht, also das lebenslange Festhalten des einzelnen an der Institution Ehe, wird von den Vätern des BGB als in der 116 B. Mugdan: Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das deutsche Reich, 4. Bd, S. 301. 117 Ebd.

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Praxis ungerecht gegenüber dem schuldlosen Teil angesehen. Die gesicherte Versorgung und Erziehung der Kinder wie auch die Sittlichkeit stünden einem lebenslangen - solange der Partner lebt - Wiederverheiratungsverbot zu Lasten des schuldlosen Teils entgegen. Anders als „fortschrittliche" Tendenzen im 18. Jahrhundert erachtete das BGB eine auf Willkür bzw. dem Willen der Ehegatten beruhende Scheidung mit dem Wesen der sittlichen und rechtlichen „Ordnung Ehe" für unvereinbar. Deshalb entschied sich der bürgerliche Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts für das Prinzip der Verschuldensscheidung 118 und trennte zwischen absoluten und relativen Scheidungsgründen 119 . Absolute Scheidungsgründe begründeten das Scheidungsverlangen durch das Verhalten des anderen Teils „per se"; relative Scheidungsgründe zwangen demgegenüber zu der weitergehenden Darlegung, daß durch das schuldhafte Verhalten (subjektives Element) eines Partners eine Ehezerrüttung eingetreten sei (objektives Element). Erst mit der Einführung des § 55 des nationalsozialistischen Ehegesetzes, wurde der Richtungswechsel von der Verschuldens- zur Zerrüttungsscheidung vollzogen. Dem Besatzungsrecht verdankte das Ehescheidungsrecht dann die erneute Rückkehr zum Verschuldensprinzip. Ihm verdankt aber auch das deutsche Eherecht einen bisher in der Rechtsgeschichte nicht gekannten Ansatz, nämlich die Kinderschutzklausel des § 48 Abs. 3 EheG, die lautete: „Dem Scheidungsbegehren ist nicht stattzugeben, wenn das wohlverstandene Interesse eines oder mehrerer minderjähriger Kinder, die aus der Ehe hervorgegangen sind, die Aufrechterhaltung der Ehe erfordert." Dieser Ausschluß des Rechts der Ehegatten, die Scheidung voneinander zu verlangen, war von Amts wegen zu berücksichtigen 120 . Neu an dieser Vorschrift war, daß sie eine Prüfung des Kindeswohls im Einzelfall zur Voraussetzung des Scheidungsverlangens machte 121 . Über die gesetzgeberischen Motive zur Einführung des § 48 Abs. 3 EheG ist nichts bekannt 1 2 2 . Auch ist festzustellen, daß während seiner 30-jährigen Geltung, nämlich von 1946 1976, die Vorschrift wenig praktische Bedeutung entfaltete. Dies lag an dem in Abs. 2 der gleichen Vorschrift gewährten Widerspruchsrecht zugunsten des anderen Ehegatten. Bei Vorliegen dessen tatbestandsmäßiger Voraussetzungen wurde die Prüfung des § 48 Abs. 3 EheG entbehrlich. Der Rechtsge118 F. Leske: Vergleichende Darstellung des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich und des Allgemeinen Preußischen Landesrechts, S. 795. 119 Ausgenommen die Scheidung wegen Geisteskrankheit eines Partners; zum rechtlichen Hintergrund der Beratungen, H. Lange: Kontinuität und Diskontinuität im Familienrecht, S. 362 ff. 120 Palandt/Lauterbach: 31. Auflage, Anm. 6 zu § 48 EheG. 121 Der nationalsozialistische § 55 Abs. 3 EheG Schloß in genereller Weise das Scheidungsverlangen aus. Er nahm aber nicht Bezug auf das Wohl, sondern lediglich auf die Existenz eines Kindes. 122 So auch H. Hattenhauer: Das Recht des Kindes auf Familie, S. 10.

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danke der in § 48 Abs. 3 EheG enthalten war, hat sich, trotz eines ursprünglich anders lautenden Regierungsentwurfes auch in der Eherechtsreform von 1976 durchgesetzt. Diese Eherechtsreform brachte eine Renaissance des Zerrüttungsprinzips mit sich und beinhaltete einen § 1568 Abs. 1 BGB, der zur Vermeidung unbilliger Härten die Abweisung des Scheidungsantrages rechtfertigte; nämlich dann, wenn „ i m Interesse der aus der Ehe hervorgegangenen minderjährigen Kinder (es) aus besonderen Gründen ausnahmsweise notwendig ist, die Ehe aufrecht zu erhalten". Die Unterschiede zwischen dem auf Vorschlag des Vermittlungsausschusses hin eingefügten § 1568 B G B 1 2 3 und § 48 Abs. 3 EheG sind augenfällig. § 48 Abs. 3 EheG geht vom „wohlverstandenen Interesse", das die Aufrechterhaltung der Ehe erfordert, aus; § 1568 Abs. 1 BGB bezieht sich lediglich auf einen Ausnahmefall („ausnahmsweise"). Das bringt zum Ausdruck, daß die Schöpfer des § 1568 BGB grundsätzlich der Auffassung waren, daß Kinder in zerrütteten Ehen mehr leiden als in geschiedenen Familien. Deshalb war im Regelfall die Scheidung der Ehegatten auf deren Verlangen auszusprechen. Nicht nur die psychologische Rechtfertigung dieser These ist bestritten worden 1 2 4 , sondern auch deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit. Es wurde eingewandt eine den Ausnahmefall des § 1568 Abs. 1 BGB restriktiv anwendende Auslegung verstoße gegen das Recht der Kinder auf den besonderen Schutz der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG 1 2 5 . Wieder werden zur Begründung eines solchen Rechts der Kinder auf ihre eheliche Familie die beiden Topoi der individuellen Freiheit der Ehegatten und der Rechtsschutzgewährung zugunsten des Familienmitgliedes „ K i n d " herangezogen. Ein Recht des Kindes auf Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) solle zumindest zeitweise Vorrang vor den Individualinteressen der Eltern (Art. 2 Abs. 1 GG) haben. Ein Recht der Kinder auf zumindest zeitweisen Aufschub der Scheidung bis zur Volljährigkeit wird auch auf Art. 6 Abs. 2 GG gegründet. Nach Rechtssprechung des BVerfG beinhaltet Art. 6 Abs. 1 GG weder einen Maßstab bezüglich des Verhältnisses von Ehe zur Familie, noch von Familie zu Familie, noch von Familienmitglied gegen Familienmitglied, soweit Ehe und Familie diesen Maßstab nicht begrifflich voraussetzen 126 . Historisch gesehen gab es ein solches Recht der Kinder auf Beibehaltung der Ehe der Eltern nie, auch wenn das tatsächliche Verhalten der Ehepartner auf eine Scheidungsabstinenz hinzielte. Wenn Art. 6 Abs. 1 GG dann angesichts steigender Scheidungsziffern ein solcher Inhalt gegeben werden soll, ist fraglich, ob 123

Palandt/Diederichsen: Anm. 2 zu § 1568 BGB. H. Hattenhauer: Das Recht des Kindes auf Familie, S. 13. 125 Ebd., S. 15. 126 BVerfGE: 18 97 (107), 55 114 (128).

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dies mit dem Charakter der Institutionen von Ehe und Familie vereinbar ist oder vielleicht sogar gefordert wird. Dagegen spricht, daß der Verfassungsgeber über das innerfamiliäre Leben, über die Rollen- und Aufgabenverteilung in Art. 6 Abs. 1 GG nicht bestimmen wollte. Zudem hat das GG negativ oder positiv das Bestehen von besonderen Pflichten bzw. Rechten über andere festgestellt: zum einen hat es dies in Art. 3 Abs. 2 GG getan, in dem es bestimmt hat, daß Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Die Familie ist kein davon ausgenommener Raum, weil das GG mit der Familiengewährleistung sonst seinen eigenen Bestimmungen und Maßgaben widerspräche. Mann und Frau sind also auch in der Familie gleichberechtigt, was auch der ständigen Rechtsprechung des BVerfG 1 2 7 entspricht. Bei richtiger Verbindung von Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 GG ist „. . . nicht die Gefährdung der einen Bestimmung durch die andere zu befürchten, vielmehr ist anzunehmen, daß sie der Absicht des Grundgesetzgebers entsprechend, dazu dienen werden, einander zu erfüllen" 1 2 8 . Für dieses Ergebnis spricht auch der Wortlaut des Vorläufers des Art. 6 Abs. 1 GG, nämlich Art. 119 WRV, der die Ehe als auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter beruhend, definierte (Art. 119 Abs. 1 S. 2 WRV). Positiv hat der Verfassungsgeber ebenso dazu Stellung genommen, wo ein Recht eines Menschen über einen anderen bestehen könnte, bzw. verliehen wurde. In Art. 6 Abs. 2 GG regelt nämlich die Verfassung das „Ob" und das „Wie" der Rechtsausübung der Eltern über die Kinder. Daraus ist zu schließen, daß ein Kindesrecht auf Beibehaltung der ehelichen Familie, das gegen die beiden Eltern in Art. 6 Abs. 1 GG ausgeübt werden kann, dieser Systematik nicht entspricht. Auch wenn man berücksichtigt, daß die Problematik der Kindesgrundrechte eine neuere ist, und ihr deshalb mit systematischen und historischen Argumenten nur teilweise begegnet werden kann, ist vor diesem Hintergrund nach einer genaueren Begründung eines solchen Kindesrechts zu fragen. Die bloße Bezugnahme auf in der Psychiatrie umstrittene Ergebnisse reicht hierzu wohl nicht. Deshalb kann verfassungsrechtlich gegenüber der Regelung des § 1568 Abs. 1 BGB nichts eingewandt werden. Das bürgerliche Recht hat sich damit in verfassungskonformer Weise für die lediglich in Ausnahmefällen bei der Scheidung zu berücksichtigenden Kindeswohlinteressen entschieden. 6. Zusammenfassung

Die grundsätzliche Identität der Familie, bestehend aus Ehe, Verwandtschaft und Sorgeberechtigung ist deutlich geworden. Über die Haushalts127 BVerfGE: 3, 225 (242), 6, 55 (82); 10, 59 (67). 1 28 BVerfGE: 3, 225 (242).

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E. Die Familie i m Bürgerlichen Gesetzbuch

und Lebensgemeinschaft lassen sich allenfalls aus den Vorschriften über die Gestattung des Getrenntlebens von Ehegatten Schlüsse ziehen. Das Gesetz geht hier wohl grundsätzlich von einem Zusammenleben der Familie aus. Bei der ehelichen Familiengemeinschaft kommt dies auch durch die Verpflichtung der Ehegatten zur Lebensgemeinschaft zum Ausdruck. Auch stellt die Adoption wohl nur eine Ausnahme von der Regel der verwandtschaftlichen Begründung der Familie dar. Die Pflegeeltern sind aber nach dem BGB, anders als in der Rechtssprechung des BVerfG, nicht einmal „Eltern" ihrer Kinder, soweit ihnen nicht das Sorgerecht ausnahmsweise übertragen ist. Festzustellen ist weiterhin, daß das bürgerliche Recht nur in ganz wenigen Vorschriften, wie z. B. im § 1360 BGB überhaupt von „Familie" spricht. Regelungsgegenstand des Gesetzes sind: Ehe, Verwandtschaft, und ElternKind-Beziehung. Unverkennbar ist, daß der BGB-Gesetzgeber bewußt den Begriff Familie vermeiden will. Der neu benannte Titel eines Abschnitts des B G B 1 2 9 lautet denn auch „Rechtsverhältnis zwischen den Eltern und dem Kinde im Allgemeinen" und nicht etwa „Der Inhalt oder allgemeine Vorschriften bezüglich der Familie". Bezüglich der Anzahl der Personen, die zur Familie gehören, trifft das BGB weder generational - Großeltern - noch lateral - Geschwister - eine explizierte Aussage. Bei der Freigabe eines Kindes zur Adoption bedarf es lediglich der Einwilligung von Vater und Mutter, die Großeltern werden weder gefragt noch angehört. Auch die Adoptivgroßeltern werden sich evtl. einem Unterhaltsanspruch des adoptierenden Enkels gegenüber sehen, ohne daß sie an der zugrundeliegenden Adoption beteiligt waren. In diesem Zusammenhang ist vereinzelt von einer „Grundrechtsentmündigung der Adoptiv-Großeltern" 1 3 0 die Rede. Grundstruktur des Familienrechts sei das „Entweder-Oder" von Freiwilligkeit und Blutsverwandtschaft. Bei den Adoptiv-Großeltern mangele es an beiden. Deshalb sei das Recht der Adoptivgroßeltern aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt 1 3 1 . An dieser Stelle kann noch nicht beantwortet werden, ob es sich bei dem Grundsatz der Volladoption tatsächlich um eine Verletzung der Grundrechte der Großeltern aus Art. 6 Abs. 1 GG handelt. Festzustellen wäre nämlich als erstes der Kreis der Grundrechtsträger - nach dem BVerfG gehören die Großeltern hierzu nicht. Festzuhalten ist aber, daß falls die oben genannte Voraussetzung bejaht wird, die Adoption tatsächlich eine verfassungswidrige Durchbrechung der Grundstruktur „Familie" darstellen 129 Überschrift des 4. Teils neugefaßt durch Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.8.1969 (BGBl. I, S. 1243). 130 R. Scheid: Grundrechtsentmündigung der Adoptiv-Großeltern?, DRiZ 1976, S. 45. 131 Ebd., S. 46 f.

IV. Die Begründung der Familie i m BGB

119

könnte. Auch den weiteren Vorschriften des BGB über den Familiennamen und die Unterhaltspflicht entnimmt man, daß die Kernfamilie eher dem Bild des BGB entspricht. So schulden die Eltern grundsätzlich vor den Großeltern Unterhalt, bei § 1356 Abs. 2 Satz 2 BGB („auf die Belange... der Familie") würde es sehr weit führen, wenn hierzu auch die Großeltern zählen würden. Auch §§ 1616 - 1618 BGB lassen den Großeltern bei der Einbenennung eines nichtehelichen Kindes oder bei der Entscheidimg darüber, welchen Familiennamen das eheliche K i n d erhält, keine Mitsprache bzw. kein Einspruchsrecht. Bezüglich des Zentrums auch der ehelichen Familie spricht historisch viel für die Maßgeblichkeit der Vater-Kind-Beziehung. Der Vater hatte zumindest lange Zeit das Letztentscheidungsrecht bei Streitigkeiten. Ebenso eindeutig ist aber die Zuordnung des nichtehelichen Kindes zur Mutter. Auch wenn diese Klarheit des Gesetzes Geschichte ist 1 3 2 , so kann doch festgestellt werden, daß der Vater das familiäre Recht am Kind nur über die Ehe mit der Mutter erhält. Die Mutter und ihr Kind können damit als Zentrum des bürgerlich-rechtlichen Familienbegriffs angesehen werden. Die „Familiengesetzgebung" des BGB ist Voraussetzung für das Verständnis der verfassungrechtlichen Familienregelungen in der WRV und im GG. Bei den höchst kontrovers geführten Beratungen waren nämlich einzelne Vorschriften des BGB (allen voran § 1589 BGB a. F.) immer wieder Gegenstand verfassungsrechtlicher Formulierungsvorschläge.

132 Die Mutter ist heute gleichberechtigt an der familiären Sorge beteiligt und verpflichtet, das nichteheliche Kind mit seinem Vater verwandt und von dessen Verwandten gesetzlich erbberechtigt.

F. Die Erscheinungsformen der Familie in der Geschichte I. Vorbemerkung

Nach diesem rechtlichen Überblick über einfachgesetzliche Familienauffassungen soll für den Zeitraum der Kodifikationen des ALR, des BGB, der WRV und des GG das faktische Pendant, die Familie des Alltagslebens, vorgestellt werden. 1. Vorgehensweise

Vor allem drei Fragen an die Geschichte der Familie sind für den Juristen, der Art. 6 Abs. 1 GG anwenden will, von Interesse: (1) Liegen der „Familie" in Art 6 Abs. 1 GG die Kernfamilie und/oder erweiterte Familienformen zugrunde? (2) Sind Halb- und Restfamilienformen geschichtliche Erscheinungsarten der Familie? (3) Ist die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern eine geschichtliche Erscheinungsform der Familie? Dieser Abschnitt kann lediglich versuchen einen Überblick über Erscheinungsformen der Familie zu bestimmten Zeiten zu geben. In welchem Umfang gewisse Tatbestandselemente der geschichtlichen Familie juristisch geschützt werden sollen, ist eine Frage der juristischen Auslegung von Art. 6 Abs. 1 GG, und nicht allein der geschichtlichen und soziologischen Erfassung ihrer Erscheinungsformen 1. Mit diesem Vorgang einer juristischen Wertung dürfen Meinungen und Beurteilungen von Familiensoziologen und -historikern nicht verwechselt werden. Diese Wissenschaften können dem Juristen keine unbestrittenen und eindeutigen Erkenntnisse über die Entstehung heutiger Familienformen geben. Ergebnisse, die der Jurist diesen Wissenschaften entnimmt, sind selbst Resultate einer Auswertung verschiedener Erhebungsmethoden, Statistiken und Doktrinen. Neben die oben genannten drei Fragen tritt für den die Verfassung auslegenden Juristen eine vierte, die sich auch im Thema der Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 1986 niederschlägt, das lautet: „Verfassungsgarantie und sozialer Wandel - das Beispiel von Ehe und Familie". 1

Dies bleibt dem Kapitel über die Einrichtungsgarantien vorbehalten.

I. Vorbemerkung

121

Inwieweit und wann ein solcher Wandel stattgefunden hat, inwieweit man von feststehenden Grundlagen der Familie ausgehen oder eben nicht ausgehen kann, soll am Ende dieses Abschnittes zu beantworten versucht werden. „Versucht" deshalb, weil die einzelnen Untersuchungen und Theorien über die geschichtliche Entwicklung der Familie in keiner Arbeit umfangsmäßig erfaßt werden können, und deshalb jede Beschäftigung mit ihrem historischen Erscheinungsbild bruchstückhaft bleiben muß. Das Problembewußtsein hierfür sollte aber geweckt werden. Ein Beispiel: Es ist umstritten, ob in Art. 6 Abs. 1 GG die „Kleinfamilie" 2 oder die „Großfamilie" 3 zu schützen ist. Beide Ansichten lassen sich mit entsprechender Begründung auch aufgrund der neuesten Erkenntnisse der Familiensoziologie und Geschichtsschreibung 4 gut vertreten. Aus diesem Grund vermißt man in der Rechtsprechung eine Begründung, wieso man sich zur Auslegung der Familie des Art. 6 Abs. 1 GG für eine Familienform entschieden hat. Das dezisionistische Moment dieser Auslegung muß gerade ob der Vielschichtigkeit des Familienbegriffs und der hierzu vertretenen Meinungen nachvollziehbar und im besten Falle überzeugend sein. Nicht ausreichend - sowohl in juristischer als aüch anderer Betrachtungsweise - ist der pauschale Hinweis auf die vermeintliche Geltung einer Familienform in West- und Mitteleuropa 5 . Der vorliegende Versuch beschränkt sich demgemäß auf drei verschiedene Zeitepochen, nämlich auf vor- und postindustrielle Familienformen und evtl. Änderungen „der" Familie seit 1949. Wegen der großen Zeitperioden, die die einzelnen Abschnitte umfassen, können sich die Aussagen nur auf grundsätzliche Erkenntnisse beschränken. In der Auswahl der Zeitabschnitte liegt aber bereits eine Absage an anthropologische oder biologische Einordnungsversuche der heutigen Familie in Personengemeinschaften der Frühgeschichte 6 . Weiterhin sollen in den drei Zeitepochen mehrere Charakteristika des Familienlebens getrennt voneinander behandelt werden: 2

BVerfGE: 48, 327 (339). H. Lecheler: Der Schutz der Familie, FamRZ 1979, S. 1 (4). 4 Genau genommen kann man von keiner Familiengeschichtsschreibung sprechen, höchstens von einer Sozialgeschichte der Familie, die aufgrund der nachträglichen Analyse von Grabsteinen, Unterlagen von Pfarrämtern etc. rekonstruktiv vorgeht. Zu den Bedingungen historischer Familienforschung und Demographie, Karin Hausen: Familie als Gegenstand Historischer Sozialforschung, Geschichte und Gesellschaft, 1. Jahrg., Heft 2/3, S. 171 ff. K r i t i k bei H. Tyrell: Historische Familienforschung und Familiensoziologie, KZfSS 1977, S. 677 (688). 5 So E. Schef fier: Ehe und Familie, S. 252: „ I n West- und Mitteleuropa bildet die dem Pflugbauerntum angepaßte Kleinfamilie seit Jahrtausenden die herrschende Familienverfassung". E. Scheffler verweist auf Gerhart Mackenroth: Bevölkerungslehre, Göttingen, 1953, S. 359 f. Ihr ist das BVerG gefolgt in: BVerfGE 48 327 (339). 6 Zu einem solchen Versuch eingehend: F. Müller-Lyer: Die Entwicklungsstufen der Menschheit, 4. Bd., Die Familie, München, 1921 und R. König: Alte Probleme und neue Fragen in der Familiensoziologie, KZfSS 1966, S. 5, der kritisiert, daß die Urgeschichte der Familie vielmehr Aufmerksamkeit absorbiert habe als die Entwicklung der Familie in geschichtlicher Zeit. 3

122

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

- die Mitgliederzahl und -struktur der „Familie"; - die Art ihres Zusammenlebens; - die Zuordnung bestimmter „Familienformen" zu den jeweiligen Bevölkerungsschichten 7 . Unerläßlich zum Verständnis der geschichtlichen Erscheinungsformen der Familie sind gewisse soziologische Grundanschauungen, die im Folgenden kürzest umrissen werden sollen. 2. Der soziologische Hintergrund

a) Der Schicht- oder Klassenbegriff Als Schichtung kann man die Gliederung einer Sozialeinheit - besonders der Gesamtgesellschaft - im Sinne einer als vertikal verstandenen Wertdifferenzierung bezeichnen8. Für die Bestimmung der „Höhe" einer bestimmten Schicht kann an bestimmte Differenzierungskriterien angeknüpft werden wie ζ. B. an eine „natürliche" Ungleichheit, eine Ungleichheit in Bezug auf das Verhältnis zum Eigentum oder eine Ungleichheit aufgrund der Bedeutung einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle. Man könnte also eine Gesellschaft in Freie und Unfreie, in Besitzende und Nichtbesitzende und Angehörige von für unser Überleben wichtiger Berufe und andere einteilen 9 . Neben solchen grundsätzlichen Schichtungskriterien, können auch Unterschichtungen gebildet werden, wie ζ. B. gewisse Hierarchien beim Militär oder bei den Beamten. Wie sich dieser Schichten- zum Klassenbegriff verhält, ist nicht eindeutig. Zum Teil überschneiden sich Klassen- und Schichtenbegriff wohl, da auch die Bezeichnung „Klasse" bisweilen eine Sozialkategorie oder Schicht meint 1 0 . Grundsätzlich benutzt man „Klasse" und Klassifizierungen, um Sachverhalte in bestimmte Strukturen einzuordnen 11 . b) Das Kontraktionsgesetz Für den zeitlichen und sachlichen Zusammenhang von Kernfamilien und erweiterten Familienformen stellte E. Durkheim mehrere Hypothesen auf 12 . Die Industrialisierung und Verstädterung hatte seiner Ansicht nach zur 7 Zum Begriff: Wigand Siebel: Einführung in die systematische Soziologie, München, 1974, S. 240 ff. β Ebd., S. 240 ff, 286, 297. 9 Ebd., S. 241 ff. !o Ebd., S. 247 f. 11 Ebd., S. 83, 297. Z.B. marxistisch: die Stellung zu den Produktionsmitteln (Eigentum bzw. Verfügungsgewalt) und US-Amerikanisch: an beruflicher Stellung und Einkommen orientiert.

123

I. Vorbemerkung

Folge, daß die Familie sich nicht mehr um einen Patriarchen oder um einen Landbesitz, sondern um die Gatten als einzig permanenter und zentraler Zone innerhalb der Familie gruppierte. Diesen Vorgang bezeichnete er als Kontraktion. Zwei Aspekte können unterschieden werden: zum einen die Verengimg der Familie auf Eltern und Kinder aus weiteren Verwandtschafts- oder Familienzusammenhängen und zum zweiten eine auch zahlenmäßige Veränderung ihrer Mitglieder von der Groß- zur Kleinfamilie. Diese Kontraktionsthese kann in weitere Einzelthesen aufgelöst werden: - Wenn es stimmt, daß sich erst unter dem Einfluß der Industrialisierung die Kernfamilie gebildet hat, dann muß diese Kern- bzw. Gattenfamilie 13 eine neuere Erscheinung in der Geschichte sein (des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts 14 ). - Weil die Gatten- und Kernfamilie eine neuere Erscheinung ist, hat vorrangig die Industrialisierung sie zur herrschenden Familienform gemacht. Andere Ursachen für die Entstehung der Kern- oder Gattenfamilie scheiden damit vordergründig aus. - Weiter ist in der These einer „Zusammenziehung" der Familie aus weiteren Familienzusammenhängen konkludent die Behauptung enthalten, es habe früher solche erweiteren Familienzusammenhänge gegeben15. Diese Theorie w i r d durch neue empirische Forschungen teils bestätigt, teils widerlegt. Ihre Problematik soll in der Behandlung der folgenden drei Zeitepochen deutlicher gemacht werden. Diese These leitet aber auch über zu zwei Grundpositionen, die für die Einordnung der „Familiengeschichte" bedeutsam sind. c) Der „Mythos" von der vorindustriellen

Großfamilie

Das Kontraktionsgesetz könnte nicht überzeugen, wenn sich nicht in der Vergangenheit erweiterte Familienformen nachweisen ließen. Als man versuchte Familien und Haushaltsgrößen (inklusive Dienstboten) in der vorindustriellen Zeit mit statistischen Methoden zu erforschen, kam eine Untersuchung in England für die Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert auf eine konstante, mittlere Haushaltsgröße von 4.76 Personen 16 , der Durchschnitt in 12 R. König: Alte Probleme und neue Fragen in der Familiensoziologie, m.w.N. Der Verf. ist bewußt, daß diese Thesen in vielen Einzelergebnissen umstritten und zum Teil überholt sind, hält sie aber ob ihrer grundsätzlichen Fragestellung für bedeutsam. 13 Ein Ausdruck von E. Durkheim, der betonen will, daß in der Kernfamilie das Gattenpaar die zentrale und einzig permanente Zone der Familie darstellt, zit. n. H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: Familie in der Gesellschaft, S. 594. 14 So jedenfalls H. Rosenbaum, die den Durchbruch der industriellen Revolution auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert: Formen der Familie, S. 312 (314). 15 R. König: Alte Probleme und neue Fragen in der Familiensoziologie, S. 3 f.

124

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

der Gegenwart beträgt 3,04 Personen 17. Für komplexe „Großfamilien" oder erweiterte Familienformen scheint bei solchen Durchschnittswerten kein Platz in der „Familiengeschichte" zu sein 18 . „Durchschnittswerte" haben nur geringen Aussagegehalt, da mit dem Begriff der Durchschnittsfamilie die tiefgreifenden Unterschiede im Zusammenleben, im Rollenverhalten und in den Ansprüchen und Aufgaben, die das Individuum der Familie in so unterschiedlichen Lebensformen wie der Bauernfamilie, der Familie im alten Handwerk, der Familie in der Hausindustrie, der Familie im Bürgertum, der proletarischen Familie 1 9 und der Adelsfamilie zuwies, verschüttet werden. Gerade bei der letzteren lassen sich erweiterte Familienformen heute und in der Vergangenheit feststellen. Die unerwartet geringe Differenz in der Mitgliederzahl zwischen „alter" und „neuer" Familie von nur 1,5 Personen findet aber ihre Bestätigung in einer weiteren Beobachtung. Der starke Abfall der durchschnittlichen Haushaltsgrößen setzte nämlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, als sich verbesserte Wohn Verhältnisse, die Zunahme von Einzelhaushalten und ein allgemeiner Rückgang der Kinderzahlen nachweisen lassen 20 . Ein direkter Zusammenhang zwischen Industrialisierungsprozeß und Reduktion der in einem Haushalt zusammenlebenden Personen läßt sich damit nicht nachweisen. Deshalb wird gegen das Kontraktionsgesetz eingewandt, daß es eine Entwicklung der Familie der Unterschicht aus der Oberschichtsperspektive zu beschreiben versuche. Die Kontraktion könnte nämlich in den Unterschichten gar nicht stattfinden, da hier erweiterte Familienformen allenfalls vereinzelt vorkämen 21 , während beim Adel erweiterte Großfamilienformen vorherrschend waren. Zumindest für den mittel- und westeuropäischen Raum spricht viel für diesen Einwand. Anders als in osteuropäischen Gebieten lassen sich hier keine eindrucksvollen Statistiken über die Generationentiefe der Familien finden. In einer Bevölkerungsliste einer großrussischen Provinz von 1814 finden sich 35 % Ein- und Zwei-Generationenfamilien, aber 59 % DreiGenerationen-Familien und sogar 7,5 % Vier-Generationenfamilien 22 . Französische, niederländische, italienische, englische und österreichische Untersuchungen legen demgegenüber den Schluß nahe, daß sich schon in vorindu16 Weitere Nachweise bei H. Tyrell: Historische Familienforschung und Familiensoziologie, KZfSS (29) 1977, S. 676, (680 ff). 17 M. Mitterauer: Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie, S.132. 18 M. Mitterauer: Grundtypen alteuropäischer Sozialformen, S. 36 ff. Siehe auch Ρ. Laslett: Familie und Industrialisierung: eine „starke" Theorie, in Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart, 1976, S. 13 (23). 19 Unterscheidung übernommen von H. Rosenbaum: Formen der Familie. 20 M. Mitterauer: Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie, S. 132. 21 Kernfamilienformen werden weitgehend den nicht - oder nicht viel besitzenden Klassen zugerechnet, da hier kein Bedürfnis bestand, möglichst fähige Erben zur Weiterführung der Unternehmen zu bekommen. 22 M. Mitterauer: Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie, S. 133.

I. Vorbemerkung

125

strieller Zeit ein Gürtel durch Mitteleuropa zog, in dem Mehrgenerationenfamilien relativ schwach vertreten sind 23 . Eine entscheidende Rolle mag hierfür die Überbevölkerung West- und Mitteleuropas sein, die die Größe der Landgüter begrenzte und damit bei intensivster Bewirtschaftung auch deren Ertrag 2 4 . Eng verknüpft mit dieser behaupteten Verbindung von Kernfamilie und nichtbesitzenden 25 Bevölkerungsschichten und umgekehrt erweiterten Familienformen mit besitzenden, ist eine weitere Doktrin der Familiensoziologie : d) Die Universalität

der Kernfamilie?

Anknüpfend an die Erkenntnis, daß es keine komplexe Gesellschaft gibt, in der nicht mehrere Familientypen gleichzeitig anzutreffen wären 26 , versuchte man nachzuweisen, daß die Kernfamilie die „maßgebliche" oder „dominante" Familienform wäre. Vordergründig bestätigte sogar ein interkultureller Vergleich, daß in nahezu jeder Gesellschaft eine „Gruppe von Mann und Frau mit ihren unverheirateten und unmündigen Kindern" aufzufinden ist 2 7 . Weiter besitzt die Nichtauf findung von „Großfamilien" gewissen Indizwert für eine große Verbreitung der Kernfamilie 28 . Mit dieser „Universalität" der Kernfamilie wurde die Dominanz der Kernfamilie für unser Leben begründet. Eine Fortführung dieser These war dann die Auffassung von der „isolierten Kernfamilie", die ohne kernfamilienfremde Personen in den Hort ihrer Intimität einzulassen ihren Mitgliederkreis exklusiviert. Die Tatsache, daß Kernfamilien nahezu in allen Kulturen auffindbar sind, sagt aber nichts über die Qualität und das Zentrum dieses Familienlebens aus. Die Verhaltenserwartungen, die an die Familienmitglieder gestellt werden, sind in den einzelnen Kulturen sehr unterschiedlich zu bewerten. Des weiteren muß für unsere Fragestellung im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 GG beachtet werden, daß eine behauptete Universalität der Kernfamilie sich nur auf die Gruppe von Mann und Frau mit den unverheirateten und unmündigen Kindern bezieht. Die lebenslange Familie, die sowohl vom BVerfG als auch vom BGB propagiert wird, kann sich auf eine solche interkulturelle Konstanz gerade nicht berufen. Die weitere Überprüfung der These von der Universalität der Kernfamilie kann jedenfalls den Verdienst für sich beanspruchen, eine wichtige Fragestellung aufgeworfen zu haben. Was ist das Zentrum unseres Familienbe2

3 Ebd., S. 136. 24 Ebd., S. 143 ff. 25 R. König: Alte Probleme und neue Fragen in der Familiensoziologie, KZfSS 1966, S. 8. 26 Ebd., S. 1. 27 Mit Ausnahme der „Nayar", siehe zum Folgenden: R. Eickelpasch: Ist die Kernfamilie universal?, ZfS 1974, S. 323 ff. 28 M. Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, S. 122 ff (124).

126

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

griffs: Die Mutter-Kind-Einheit, die Gatten-Einheit 29 und/oder die VaterKind-Einheit 3 0 ? Von entscheidender Bedeutung wird die Beantwortung dieser Frage, wenn man die Halbfamilie, bestehend aus Mutter und Kind, als Familie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt ansieht. Wenn sich die Familie des Art. 6 Abs. 1 GG um die Mutter und nicht um die Gatten gruppiert, dann würde sich ein Schluß a maiore ad minus anbieten. Da die vollständige Familie unbestritten in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt ist, müßte sich dieser Schutz auch auf die kleinere Einheit - ihr Zentrum - erstrecken. W i l l man dies ablehnen, so muß man sich auch mit der These, daß die Mutter-Kind-Einheit das Zentrum der Familie ist, auseinandersetzen. Wenn die Mutter-Kind-Einheit Zentrum der Familie ist, dann müßte sie als minus zur Gattenfamilie (maius minus continet) (mit-)geschützt sein. Selbst wenn man die Gattenfamilie nicht als ein maius, sondern als ein aliud zur Mutter-Kind-Einheit begreift, böte sich der oben genannte Umkehrschluß an. Wenn schon die Mutter-Kind-Einheit als Zentrum der Gattenfamilie mitgeschützt ist, dann müßte die bloße Mutter-Kind-Einheit erst recht in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sein. Ferner ließe sich mit der Auffassung der Mutter-Kind-Einheit als Zentrum der Familie ein entscheidender Unterschied zur Halbfamilie, bestehend aus Vater und Kind begründen und die Versagung eines Erziehungsrechtes an den Vater auch aus der Generalnorm des Art. 6 Abs. 1 GG rechtfertigen 31 . Inwieweit die Mutter-Kind-Einheit in den Familien der Vergangenheit als Zentrum angesehen wurde, soll in den nächsten Abschnitten behandelt werden. Ein entscheidendes Argument gegen die Mutter-Kind-Einheit als Zentrum der Familie bilden aber Beobachtungen über den Familienzyklus. e) Der Familienzyklus Als Familienzyklus bezeichnet man die Zeitspanne, die die Familie im Leben eines Menschen beansprucht. Die rasante Steigerung der Lebenserwartung und die sich gesamtgesellschaftlich immer mehr verbreitende Auffassung, jungen Menschen immer früher rechtlich und ökonomisch den Ausstieg aus der Familie zu erleichtern, haben hier zu großen Veränderungen geführt. Eine Skizze macht diese Veränderungen seit dem 17. Jahrhundert deutlich 32 . 29

Also die Gattenfamilie als einzig permanente Zone der Familie. Für die Mutter-Kind-Einheit als Zentrum der Familie: R. Eickelpasch: Ist die Kernfamilie universal?, ZfS 1974, S. 325. 31 Art. 6 Abs. 2 GG spricht nur von den Eltern und eröffnet damit gerade nicht die unterschiedliche Erziehungsberechtigung von Vater und Mutter. 32 Vierter Familienbericht: S. 36. 30

I. Vorbemerkung Alter der Frau

Frauen

127

Männer

Veränderungen in den Lebensphasen heiratender Frauen seit dem 17. Jahrhundert

Hierzu ein Vergleich der Lebensphasen zweier Frauen, die im 18. und im 20. Jahrhundert leben. Vergleicht man die ersten ca. 28 Jahre, so sind sie bei beiden Frauen mit dem Aufwachsen, der Erziehung, einer evtl. Berufsausbildung bzw. Vorbereitung auf die Heirat ausgefüllt. Das Schaubild ist insoweit ungenau, da die Frauen vor 100 Jahren zum Teil erheblich später ihre Kinder bekamen und bei einer im Vergleich zur heute großen Säuglingssterblichkeit (mind. 30 %) auch ihre Gesundheit durch mehrere Geburten stark beansprucht wurde. Mit ca. 40 Jahren war die Fertilitätsphase der Frau des 18. Jahrhunderts beendet. Fast bis zu ihrem Lebensende widmete sie sich der Versorgung der Kinder, allenfalls ein paar Jahre blieben ihr, um sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Anders dagegen die Frau der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie erreicht ein durchschnittliches Alter von über 70 Jahren, obwohl ihre Fertilitätsphase durchschnittlich nicht bedeutend größer ist als die der Frau des 18. Jahrhunderts. Es verbleiben der Frau der Moderne vom 25. bis zum 45. Lebensjahr Erziehungs- und Pflegeauf gaben, nahezu weitere 30 Jahre lebt sie nach der Erfüllung dieser Fürsorgeaufgaben noch weiter 3 3 . Diese Entwicklung führt dazu, daß die Betreuung der Kinder im Leben der Eltern zu einer zeitlich begrenzten Phase wird. Eine Modellbiographie der Familie veranschaulicht dies 34 . 33 H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: Familie in der Gesellschaft, S. 114 ff.

128

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Phase möglicher Pflegebedürftigkeit

Tod der Frau

nachelterliche Familienphase

letztes Kind verläOt Elternhaus 1. Kind verläOt Elternhaus

aktive Familienphase Familiengründungsphase,

Geburt letztes Kind Geburt 1. Kind Heirat

Frau Mann

Modellbiographie einer Familie

Ein so unterschiedlicher Lebenslauf des einzelnen Familienmitglieds hat auch Folgen für die Art und die Anzahl der Generationen in der Familie. So zeigt eine schematische Darstellung einer Mehr-Generationen-Folge aus Eltern-, Großeltern- und Urgroßelternschaft 35 , daß der „Großmutterzeitraum" um 1900 bei etwa 14 Jahren lag, während er heute das Doppelte, nämlich 28 Jahre, erfaßt und unter gleichen Gegebenheiten noch einen Urgroßmutterzeitraum von 5 Jahren ermöglicht 36 .

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j Kind

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Led»«· -22J. 34

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Mutter - 22 J.

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Vierter Familienbericht: S. 159. Hier Generationen-Familie für Frauen, unter der Annahme, daß die Frauen mit jeweils 22 Jahren heiraten, mit 23 Jahren ihr erstes Kind, das jeweils ein Mädchen ist, gebären. 36 Skizze übernommen von H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: Familie in der Gesellschaft, S. 116. 35

I. Vorbemerkung

129

Diese Schematafeln, die relativ unproblematisch aus Bevölkerungszählungen gewonnen werden können, legen folgenden Schluß nahe: Die erweiterten Familienformen, die Juristen sich als „Großfamilie" vorstellen, sind eine verhältnismäßig neue Erscheinung in der Geschichte der Familienformen. Ein entsprechendes Durchschnittslebensalter wurde vorher nicht erreicht, während das Heiratsalter der Frauen zum Teil höher und die Fertilitätsphase der Frau nicht länger ausgenutzt wurde. Auch wenn man den Familienzyklus der Kernfamilie untersucht, eröffnen sich aufgrund dieser Faktoren neue Perspektiven. Die vollständige Familie ist heute nur noch eine Durchgangsphase im Familienzyklus, der Phasen der Unvollständigkeit vorausgehen bzw. nachfolgen 37 . Diese Erkenntnis muß Ansichten 38 , die lediglich die vollständige Familie in Art. 6 Abs. 1 GG schützen wollen, zumindest in Bezug auf ihre historische Berechtigung relativieren. Wenn die Vollständigkeit der Familie lediglich Durchgangsstadium für eine lebenslange Familie ist, dann überzeugt der Hinweis auf die mangelnde Leistimgsfähigkeit der Restfamilie nur dann, wenn man den Familienbegriff auf die Kernfamilie als Lebensgemeinschaft von Eltern und unverheirateten Kindern beschränkt 39 . Am Ende dieses Überblicks über einige Anschauungen und Thesen in der Familiensoziologie deutet sich das Ergebnis eines geschichtlichen Überblicks über die Familienformen bereits an. Das klare Vorherrschen eines Familienbildes wird öfters festzustellen sein, seine Exklusivität dagegen nie. Dies ist ein Charakteristikum der Familie und Konsequenz der Tatsache, daß zumindest 1987 was Familie ist und wer sich ihr zugehörig fühlt vom Individuum in seiner Privatsphäre bestimmt wird. Deshalb kann man zu Art. 6 Abs. 1 GG theoretisch mehrere Familienbegriffe vertreten. Man muß dann aber begründen, die Familie welcher Schicht, welcher Zeit mit welchem Rollenverhalten - es sei denn, eine solche gesetzliche oder verfassungsrechtliche Normenfestschreibung des Rollenverhaltens ist aufgrund des Regelungsgehalts der Vorschrift selbst unzulässig - man sich vorstellt bzw. man staatlicherseits schützen will. Hierzu ist es notwendig, überhaupt verschiedene Familienformen kennenzulernen und ihre Eigenarten zu analysieren. Die Wahl, die man dann zwischen ihnen trifft - und es muß zweifelsohne eine rechtliche sein - kann sich dann auf eine einzelne Familienform bzw. auf eine Bandbreite von Variationen erstrecken. Lediglich in der Frage, ob die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern oder ob Halbfamilien als „Familien" geschützt werden sollen, lassen sich bis heute durchgängige und aktualisierte Meinungen der konservativen Seite feststellen. Bezüglich der Frage des Schutzes von erweiterten 37 38 39

M. Mitterauer: Grundtypen alteuropäischer Sozialformen, S. 38. H. Lecheler: Verfassungsgarantie und sozialer Wandel, DVB1 1986, S. 905 (907). Konträr zur Rechtsprechung des BVerfG.

9 Schmid

1 3 0 F .

Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Familienformen und Restfamilien kann ein solches nicht behauptet werden. Der Staat interessierte sich, außer wenn es um entlastende Unterhaltszahlungen ging, in seinen Gesetzeswerken fast nie für die Großeltern. Die historische Auslegung, subjektiv objektiviert und/oder aktualisiert, hilft dort nicht weiter, weil allenfalls im Unterbewußtsein unserer Verfassungsväter und -mütter - sowohl bei der WRV als auch beim GG - wie selbstverständlich akzeptierte Bilder von der Familie angesiedelt waren. Welche Farben diese Bilder vielleicht gehabt haben, soll Gegenstand des folgenden Kapitels sein. Zuerst wird die vorindustrielle Familienform, nämlich das „Haus", vorgestellt. I I . Vorindustrielle „Familienformen", das Haus 1. Die Mitglieder

a) Der Herr des Hauses Die Stellung des Hausherrn ist im Mittelalter die des Mittlers zwischen Haus und Gemeinde. Der Hausherr ist das Zuordnungssubjekt für Hausgemeinschaften bzw. analog strukturierte familiale Sozialformen einerseits und der Ansprechpartner für gemeindlich-genossenschaftliche Personenverbände (Stände) andererseits 40 . Der Begriff „Hausherr" kann in zwei Substantive zerlegt werden: in „Haus" und „Herr". „Herr" bedeutet für den mitteralterlichen Hausherrn eine Herrschaft und Verantwortung für die in seinem Haus lebenden Personen. Diese Herrschaft wurde bereits von Aristoteles auf eine weitgehend natürliche oder politische Ungleichheit der Menschen zurückgeführt. So unterschiedlich die „Gleichheit" der Menschen, so unterschiedlich die Art der Herrschaft des Herrn als Repräsentanten der polis gegenüber den Hausangehörigen. Die Herrschaft des Mannes über seine Frau wird als eine königliche und politische bezeichnet. Eine politische, weil die Frau im Gegensatz zu Sklaven frei ist; eine königliche, da die Herrschaft des Mannes über die Frau dauernd besteht 41 . Eine demokratische Staatsform würde jeden Hausherrn in den gesamtgesellschaftlichen Rahmen einordnen. Vor der Entstehung solcher Staatsformen galten aber nur diejenigen Hausherrn, die tatsächlich einem „Haus" vorstanden, also z. B. Adelige (nicht aber die ritterlichen Gefolgsleute auswärtiger Fürsten) als zur Teilhabe an der gesellschaftlichen Macht berechtigt. Aus dem oben Gesagten folgt deshalb, daß das Zentrum des „Hauses" weder die Gattenbeziehung noch die Beziehung des Vaters zu den Kindern, 40

M. Mitterauer: Grundtypen alteuropäischer Sozialformen, S. 20 f. Siehe weiter bei Dorothea Willers: Die Ökonomie des Aristoteles, Breslau, 1934, S. 27 und H. Begemann: Strukturwandel der Familie, S. 16. 41

II. Vorindustrielle „Familienformen", das Haus

131

sondern der Hausherr selbst ist. Nur er ist gemeindefähig und später auch wahlberechtigt 42 . Er vertritt alle Hausangehörigen in der familienexternen Umwelt und vertritt diese Umwelt gegenüber den Hausangehörigen. Der notwendige Zusammenhang von Hausbesitz und Herr begann sich mit der Entstehung der Städte aufzulösen. Die Existenznöte der Städte, denen die Bewohner auch aufgrund der schlechten hygienischen Verhältnisse „ i n den Mauern wegstarben", führten zu einer Erweiterung des Kreises der mit Leistungen und Pflichten des Vollbürgers belasteten und berechtigten Personen. Diese Entwicklung nahm in städtischen und ländlichen Gebieten in der Folgezeit einen unterschiedlichen Fortgang. In den städtischen Gebieten löste sich im Spätmittelalter das Bürgerrecht von der Hausberechtigung auch Mieter, Handwerker, Tagelöhner konnten das Bürgerrecht erwerben („Stadtluft macht frei"). In ländlichen Gemeinden kam es im Mittelalter zu keiner Trennung von Hausbesitz und vollberechtigter Gemeindezugehörigkeit. Hier galt der Grundsatz „Wer nicht gemeindezugehörig ist, der ist hausrechtlich abhängig und umgekehrt" 43 . Bei den hausrechtlich Abhängigen muß je nach der Arbeitsorganisation des Hauses, mittels derer die Mitglieder ihren Lebensunterhalt bestritten, unterschieden werden. b) Die dem Hausrecht unterworfenen

Personen im Bauernhaus

Zu diesem Personenkreis zählen die Hausfrau, die Kinder, das Gesinde, sowie die unterschiedlich stark in die Hausgemeinschaft integrierten Inwohner und Verwandten von Frau und Mann. Das Gesinde und die Kinder haben nahezu die gleiche hausrechtliche Stellung, zumal es sich bei Knechten und Mägden meistens um in den Hausverband aufgenommene Jugendliche handelte. Die Stellung als Knecht oder Magd war ursprünglich an eine bestimmte Altersstufe geknüpft. Man nahm vorwiegend Jugendliche in diese Hausstellung auf. Dies bedingte einen bestimmten Mitgliederwechsel im Landhaushalt, vor allem bei Bauern, die keine eigenen Kinder hatten. Dort wo das Haus ein Familienmitglied zur Erarbeitung des Lebensunterhalts nicht braucht, wird es in ein anderes Haus aufgenommen und in dienender Funktion als Kind behandelt 44 . In der Hausgemeinschaft lebende Verwandte werden in Bezug auf ihre Stellung im Haus wie Gesinde oder Inwohner (Einlieger) behandelt. Im Unterschied zu den Inwohnern ist das 42

M. Mitterauer: Grundtypen alteuropäischer Sozialformen, S. 25 ff. Ebd., S. 27. 44 Ebd., S. 33. Den Alltag der Familie als Produktionsstätte beschreibt Ingeborg Weber-Kellermann: Die deutsche Familie, Frankfurt a.M., 1974, S. 73 ff. 43

9:

132

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Gesinde grundsätzlich unverheiratet. Der Begriff der Inwohner ist aus heutiger Sicht erläuterungsbedürftig. Die Inwohner waren in der Regel verheiratet und zeichneten sich durch eine im Vergleich zum Gesinde gelockerte Abhängigkeit vom Hausherrn aus 45 . Teils handelt es sich hier um ehemaliges Gesinde, teils wohl um agnatische oder kognatische Verwandte. Bisweilen traten die Inleute (Taglöhner) auch an die Stelle von Knechten und Mägden. Zusammenfassend ist festzustellen: Alle Mitglieder des Hauses verband wohl die gemeinsame Arbeit mehr als das Gefühl miteinander. Deshalb liegt auch die Vermutung nahe, daß die einzelnen Untergruppen - das Hausherrenpaar oder die verheirateten Inwohner - keine von den anderen Mitgliedern des Hauses getrennte Einheit bildeten. Ehe- oder Verwandtschaftszusammenhänge waren damit von der gemeinsamen Arbeitsorganisation überlagert und unterschieden sich im Alltagsleben kaum von - modern gesprochen - dienstvertraglich begründeten Personenbeziehungen 46. Ein weiteres Indiz hierfür ist die große personelle Offenheit des Hauses, wenn infolge eines wechselnden Arbeitskräftebedarfs die Aufnahme oder die Entlassung von Arbeitskräften in oder aus dem Haus nötig war. Weder Seelen- noch Blutsverwandtschaft haben anscheinend für das Alltagsleben des Hauses eine große Rolle gespielt - wohl aber für das Unterhalts-, Erb- oder Deliktsrecht. Die Konstante „Verwandtschaft" gibt es für diese historische Ausprägung unseres Familienbildes also nicht 4 7 . c) Die dem Hausrecht unterworfenen

Personen im Handwerk

Die Zahl der Mitarbeiter im „Meisterbetrieb" war durch die Bestimmungen der Zunftordnung begrenzt und damit hausfremd bestimmt. Gewerbliche und feudale „Familienzwänge" sind denn auch die Pfeiler, die die Größe und Mitgliederzahl des mittelalterlichen Hauses begrenzen. Eine weitere Besonderheit des Gewerbes gegenüber dem Hof ist die exakte Regelung des Ausbildungsganges und der Qualifikationsstufen. Die Zugehörigkeit des Lehrlings zum Meisterhaushalt ist damit zeitlich begrenzt. Die hier erworbenen Kenntnisse sollen auch in der Regel einem anderen Meister zugute kommen. d) Die dem Hausrecht unterworfenen

Personen im Handelshaus

Ähnlich wie beim Landhaushalt sollten die erworbenen Kenntnisse im Handelshaus nicht anderen Dienstgebern zugutekommen. Dem wandernden 45

M. Mitterauer: Grundtypen alteuropäischer Sozialformen, S. 71. So jedenfalls H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 67, 115 ff. 47 Für den hier behandelten Zeitraum wurde das mit dem Familienhaupt nicht verwandte Gesinde durchaus als familienangehörig angesehen, M. Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, S. 130. 46

II. Vorindustrielle „Familienformen", das Haus

133

Handwerksgesellen steht der treue Handelsdiener gegenüber. Verwandtschaft und die damit verbundene Unterhalts- und Erbberechtigung erscheint im Verkehr mit Währungsmitteln als die beste Garantie für Verlässlichkeit und vermehrten Einsatz. Auf den ersten Blick erfüllt damit diese Lebensform den Typus der verwandtschaftsorientierten „Großfamilie". Gerade diese Lebensform zeichnet sich später dadurch aus, daß die nächste Generation einen eigenen Haushalt begründet und die Gemeinschaft mit den Eltern nach der eigenen Heirat auflöst. Eine Haushaltsgemeinschaft mehrerer Generationen besteht also auch hier nur vorübergehend 48 .

2. Das Haus als Familienform

Es fehlt für den Betrachtungszeitraum an einschlägigen Untersuchungen heutiger deutscher Gebiete. Die folgende Darstellung der „Familie" des 16. bis 18. Jahrhunderts stützt sich vor allem auf eine Erhebung von Daten über die Stadt Salzburg und ihre ländliche Umgebung. Grundlage dieser Erhebung sind die sog. „Seelenbücher", die von der Kirche recht häufig mit ziemlich eingehenden Personalangaben, die haus-, bzw. haushaltsbezogen waren, angelegt wurden 4 9 . Es gibt markante Unterschiede zwischen Stadt und Land. In ländlichen Gebieten ζ. B. wohnte das „Haus" auch im Haus, während in der Stadt die Lebensordnung nicht verwandter Personen gerade nicht auf das Haus als bauliche Einheit bezogen werden kann. Auch in Bezug auf die Art und Zahl der Mitglieder ergeben sich unterschiedliche Befunde. a) Die Kernfamilie aa) Der Kernfamilienbegriff Aus dem bisher Gesagten wurde deutlich, daß im Betrachtungszeitraum die Kernfamilie als soziale und nicht als genealogische Einheit aufgefaßt werden muß. Sie umfaßt hier Ziehkinder, Stiefkinder und Kinder, die zu keinem der beiden Eltern eine leibliche Verwandtschaftsbindung haben 50 . Legt man diesen Kernfamilienbegriff zugrunde, dann konnte weder für die Stadt noch für ländlichen Gebiete die Kernfamilie als die dominante Familienform festgestellt werden. Von den 148 Familien, die 1569 in der Stadt Salzburg lebten, waren 15,2 % solche Kernfamilieneinheiten, 1647 waren es 22,9% und 1794 8,7 % 5 1 . 48

H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 366. M. Mitterauer: Grundtypen alteuropäischer Sozialformen, S. 40 ff. 50 Eine Kernfamilie als alleiniges Zusammenleben zweier Eltern mit ihren gemeinsamen Kinder ist hier kaum feststellbar. 49

134

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Eine Differenzierung nach Stadtvierteln läßt darauf schließen, daß die Neigung zur Ausbildung von Kernfamilien in den Vorstädten weit stärker gewesen ist, als bei der im Zentrum ansässigen Oberschicht. Die Rolle der Kinder in der Kernfamilie ist hierbei altersmäßig nicht begrenzt 52 . Auch erwachsene Söhne und Töchter des Hausherrn bzw. der Hausfrau sind in die oben genannten Zahlen mit einbezogen. Wenn man zwischen Familien mit Töchtern bzw. mit Söhnen unterscheidet, ergibt sich ein Stadt-Land-Unterschied: In Salzburg haben Familien mit Töchtern gegenüber Familien mit Söhne ein deutliches Übergewicht. (1569: 45,5 % zu 38,9 %, 1794 38,1 % zu 30,6 %). In den ländlichen Untersuchungsgebieten besteht demgegenüber ein leichtes Übergewicht der Familien mit Söhnen. Diese Unterschiede sind nicht in besonderen Gegebenheiten der Natalität, sondern durch eine arbeitsorganisatorisch bedingte, unterschiedliche Altersschichtung im Stadt- und Landhaushalt begründbar. bb) Die Landfamilie Im Bauernhaus war der lebenslange Verbleib von Kindern aus Gründen der Besitzkontinuität und des Arbeitskräftebedarfs erwünscht. Familienformen ohne Kinder waren hier auf die Frühphase des Familienzyklus - oft bis zur Hofübernahme - beschränkt. Die Phase einer nachelterlichen Gefährtenschaft fehlt, da in der Regel nicht alle Kinder aus dem elterlichen Haushalt ausscheiden. In vielen Zweigen des ländlichen Handwerks und bei Kleinhäuslern fehlt ein solches Interesse der Familie an Arbeitskräften. Der Vater, der den Taglohn mit Hausiererhandel oder im Transportwesen verdient, ist nicht auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen. Die bescheidene Landwirtschaft, die von der Mutter betrieben wird, bietet weder Beschäftigung noch den Lebensunterhalt für mehrere Personen. In diesen Familien leben die Kinder nur so lange in der Herkunftsfamilie, bis sie in der Lage sind, sich als Knecht oder Magd zu verdingen oder einer anderen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Ein Zusammenleben mit Kindern in nahezu allen Phasen des Familienzyklus, wie in der bäuerlichen Hausgemeinschaft, ist teilweise bei den Kaufmannsfamilien festzustellen. Hier gab es einen Bedarf an familiären Arbeitskräften und auch Versorgungsmöglichkeiten im Rahmen des Hauses. Auch glaubte man in Geldgeschäften wohl dem eigenen Blut mehr als anderen Personen vertrauen zu können. Diese Familienform war auf die Kauf51 52

Zahlen nach M. Mitterauer: Grundtypen alteuropäischer Sozialformen, S. 42. Siehe zum Folgenden ebd., S. 89 ff.

II. Vorindustrielle „Familienformen", das Haus

135

leute beschränkt und konnte auch nicht von anderen Bevölkerungsschichten übernommen werden. cc) Die Stadtfamilie Im städtischen Handwerk muß bezüglich des Zusammenlebens von Eltern und erwachsenen Kindern zwischen Töchtern und Söhnen unterschieden werden. Die Töchter blieben wohl aus Versorgungsgründen im Haus. Die Söhne verließen bereits mit Beginn der Ausbildung das Haus und kamen oft für lange Zeit nicht mehr ins väterliche Haus zurück. So stammten ζ. B. 1794 90 % der in Handwerksbetrieben untergebrachten Gesellen nicht mehr aus Salzburg selbst. Bei den Handwerkerfamilien wird deshalb kaum Patrilokalität, häufiger Uxorilokalität, zumeist aber wohl Neolokalität gegeben sein. Dies hängt vor allem mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das „handwerkliche Haus" zusammen. Im Unterschied zum bäuerlichen Familienbetrieb konnte im gewerblichen Familienbetrieb der Arbeitskräftebedarf nicht in erster Linie durch den eigenen Nachwuchs gedeckt werden. Die Zunftbestimmungen begrenzten nämlich die Zahl der einzelnen Betriebe und die der dort beschäftigten M i t arbeiter. Eine unmittelbare ökonomisch bedingte Motivation zur Fortpflanzung - die Weitergabe der Verantwortung für den Betrieb - fehlte deshalb. Auch in den sonstigen Stadtfamilien, die keine Produktionsgemeinschaften waren, verliert das heranwachsende Kind die Bedeutung als Arbeitskraft. Es wird vielmehr zum Kostenfaktor, weshalb die Kernfamilie hier zunehmend Verbreitung fand. Die Entstehung solcher Familienformen wurde im Salzburg des Barock durch eine rege Bau- und Verwaltungstätigkeit der Bischöfe gefördert. Mit der Zunahme von Erwerbsmöglichkeiten als Maurer, Zimmerleute, Verwaltungsbeamte und Tagwerker konnten immer mehr selbstverdienende Zöglinge aus dem Familienhaushalt ausziehen und sich wirtschaftlich selbst behaupten. dd) „Single-Haushalte"? Da der Verdienst dieser Männer oft nicht zur Gründimg einer Familie ausreichte, gibt es „Single-Haushalte" oder Mietgemeinschaften alleinstehender Personen. Bei den Töchtern ist diese Entwicklung nicht zu beobachten: hier kam es im allgemeinen nur durch den Tod der Eltern zur Entstehung von Einzelhaushalten. Es handelt sich dann aber um Restfamilien und keine „Single-Haushalte". Normalerweise lebte auch die Tochter, die sich durch Stricken, Nähen usw. etwas hinzuverdiente, weiter im elterlichen Haushalt bis zu ihrer Heirat.

136

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Zusammenfassend kann festgestellt werden: In der Stadt gab es kaum familiale Arbeitsorganisationen - mit Ausnahme der Kaufmannsfamilie die eine erweitere Familienform bzw. eine „Großfamilie" notwendig machten bzw. ernähren konnten. Deshalb finden sich Stamm- und Mehrgenerationen-Familienformen vorwiegend auf dem Land. Allein die Feststellung, daß die vollständige Kernfamilie in ländlichen und städtischen Bevölkerungsaufnahmen höchstens ein Viertel der Lebensgemeinschaften betrifft, läßt nicht auf eine Häufigkeit der Verbreitung des Alternativtypus, nämlich der Mehr-Generationen-Familie, schließen. Hierzu bedarf es weiterer Differenzierung. b) Die Mehr-Generationen-Familie aa) Die Stammfamilie und die Drei-Generationen-Familie Von der Mehr-Generationen-Familie unterscheidet sich die Stammfamilie dadurch, daß die Hausherrnmacht einem Mitglied der ersten Generationen bis zu seinem Tode zusteht. In ländlichen Gebieten spielt für die Frage, ob die Familienangehörigen der mittleren Generation dem Familienältesten unterstanden das Erbrecht eine entscheidende Rolle 53 : Wo das Anerbenrecht üblich w a r 5 4 und ein am Hof lebender Sohn oder eine Tochter noch zu Lebzeiten der Eltern heiraten durften, ohne gleichzeitig den Hof zu übernehmen, dort wird die Entstehung von Stammfamilien begünstigt. Falls die Söhne erst heirateten, wenn sie nach dem Tode des Vaters den Hof übernehmen konnten, dann kam es nicht mehr zur Ausbildung von Stammfamilien. Das (Groß-)Elternpaar, das mit den eigenen Kindern und Kindeskindern zusammenlebt, ist dann eine äußerst seltene Erscheinung. Häufiger ist der Fall, daß ein (Stief-)Elternteil mit im Haushalt lebt oder Kinder durch ein kinderloses Ehepaar aufgezogen werden. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ist die Drei-Generationen-Familie in ländlichen Gebieten der Untersuchung in stetigen Anstieg begriffen (1648 1,2 %, 1671 6,6%, 17729,5 %). Diese Zunahme findet ihre Parallele in der Veränderung der Altersverteilung in der Bevölkerung. Mit dem steigenden Anteil der über 60-jährigen (3,2 % im Jahre 1648, 11,1 % im Jahre 1772) steigt auch die Anzahl der Drei-Generationen-Familien.

53

M. Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, S. 134. Anerbenrecht bedeutet, daß nur ein Kind den Grund und Boden erbt; i n der Regel ist das ein Sohn. Die anderen Kinder werden überwiegend mit mobilem Besitz und Geld abgefunden. 54

II. Vorindustrielle „Familienformen", das Haus

137

Im städtischen Milieu sind sowohl Stammfamilien als auch Formen der trigenerativen Familie sehr selten. Bei der breiten Masse der städtischen Gewerbetreibenden war eine Heirat des im elterlichen Haushalt verbleibenden Sohnes wirtschaftlich kaum möglich, da der Betrieb lediglich eine Familie ernährte. Dazu kam, daß der Sohn Lehr-, Gesellen- und Wanderjahre auf sich nehmen mußte, um den Meistertitel zu erwerben. Der handwerkliche Betrieb ging in der Regel nicht in der Folge vom Vater auf den Sohn über, sondern die Witwe des Vaters heiratete einen Gesellen, der so Meister werden konnte - eine Form der Witwenversorgung durch Wiederverehelichung. Auch wenn im Handwerk Vater und Sohn bisweilen im gleichen Haus wohnten, führten sie mit eigenem Gesinde getrennte Haushalte. Bei den Lohnarbeitern findet man bisweilen Formen der Drei-Generationen-Familie vor; es handelt sich hier aber um die Versorgung von nichtehelichem Nachwuchs bzw. von Waisen durch die Großeltern. Parallelen hierzu finden sich auch in ländlichen Unterschichten. Bei solchen „Familien" fehlt es an der Chance und am Willen zur Vollständigkeit. Sie helfen nur im Notfall ihren Mitgliedern oder Verwandten. bb) Die Mehr-Generationen-Familie Wo die Realteilung, die oft bei der Heirat erfolgte, vorherrschend war, wurde die Drei-Generationen-Familie durch das Institut des Ausgedinges verbreitet. Die Heirat des Sohnes ist hier mit der Übernahme der Hausherrenposition verbunden. Die Eltern werden auf das Altenteil gesetzt und leben oft nicht im Haushalt der mittleren Generation mit. Hinzugefügt werden muß, daß auch bei ca. der Hälfte der untersuchten Ausgedingeverhältnisse die Altenteiler nicht die Eltern des Bauern waren 55 . Die Form des Ausgedinges entzog damit der Stammfamilie zunehmend die Existenzberechtigung 56 . Charakteristisch für die Mehr-Generationen-Familie ist das „Zusammenleben" des Bauern mit beiden Elternteilen, während bei der Stammfamilie, wo der Erbe den Hof erst nach dem Tode des Vaters übernimmt, lediglich die Mutter im Haus versorgt werden muß. Die „Mutter" war auch in der Regel der überlebende Teil, da sich verwitwete Bauern auch im fortgeschrittenen Alter neuerlich verehelichten - in der Regel mit einer bedeutend jüngeren Frau. Insgesamt spricht viel dafür, daß die Drei-Generationen-Familie und/ oder Stammfamilie weniger als die zweigenerationale Familie verbreitet gewesen ist 5 7 . Die Seelenbücher charakterisieren die Angehörigen der Haus55 56

M. Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, S. 137. Ebd., S. 45, s. auch H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 60 ff.

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

gemeinschaft auch nicht nach ihrer verwandtschaftlichen Stellung, sondern nach ihrer Position im Haus. Der im Ausgedinge lebende Vater wird vielfach nur als „Austräger", „Nahrungsmann", „Viertelteiler" bezeichnet, der am Hof dienende Bruder als „Knecht". In städtischen Gebieten ist von 1569 - 1794 eine Abnahme derjenigen Familienformen festzustellen, die Eltern und andere Verwandte beherbergen. Eine Erklärung hierfür ist vielleicht der große Aufschwung, den die Stadt erlebte, zu sehen. Mit ihr waren auch die Möglichkeiten selbständiger Erwerbstätigkeit gestiegen. Es liegt nahe, daß in dieser Zeit der Schutz der Familie durch die Anverwandten weniger in Anspruch genommen werden mußte als vorher. Ausgedingeformen fehlen in der Stadt, da hier keine Abhängigkeit von einem Grundherrn, der an einem Wechsel in der Hausherrnposition interessiert war, bestand 58 . Lediglich die Versorgung der überlebenden Elternteile und bedürftiger Verwandter wurde von den Handwerkerfamilien übernommen. c) Die (Kern-)Familie aa) Die (Kern-)Familie ohne Gesinde Vor dem Anstieg der Lebenserwartung der Menschen war die vollständige Zwei-Generationen-Familie neben der Kernfamilie mit Gesinde wohl die in ländlichen Gebieten am meisten verbreitete Lebensform. Dies ist auch das Ergebnis der zitierten Untersuchung, die feststellt, daß die eigentliche Alternative zur Kernfamilie nicht die Drei-Generationen-Familie, sondern die Kernfamilie mit Gesinde in ihren unterschiedlichsten Differenzierungen im Betrachtungszeitraum ist. bb) Die (Kern-)Familie mit Gesinde Gemeinsam mit der Kernfamilie ist diese Familienkonstellation in allen untersuchten Querschnitten, der ländlichen und der städtischen Gebiete die mit Abstand häufigste in Salzburg (1569 22,6 %; 1647 18,5 %). Der höchste Prozentsatz findet sich im Stadtkern von Salzburg, wo die Oberschicht lebte. Zum Stadtrand hin sank der Anteil 5 9 . Insgesamt machen die Familienformen - also auch Stamm- und Mehr-Generationen-Familien - mit « Ebd., S. 63. 58 Ein junger Hofbauer war kräftiger und sicherte eine bessere Bewirtschaftung des Bodens. 59 M. Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, S. 55.

II. Vorindustrielle „Familienformen", das Haus

139

Gesinde ζ. B. 1569 51,6 % der in Salzburg untersuchten Familien aus 60 . Auch hieraus leitet sich die Absage an verwandtschaftliche Begründungen des Familienzusammenhangs im „Haus" ab. Es ist aber ein starker Rückgang der Familienhaushalte mit Gesinde von 1569 - 1647 zu verzeichnen. Dies hängt mit der Möglichkeit zusammen, eigene Kernfamilienhaushalte zu gründen. Solche Möglichkeiten ergaben sich in Salzburg für fürstliche Lakaien, wie Hofköche, Hofkellner, Reitknechte und Schreibkräfte. Im 16. Jahrhundert waren diese Bedienstete noch in die Haushaltung des Hofes integriert gewesen, während sie im 17. Jahrhundert bereits weitgehend von der großen Hausgemeinschaft emanzipiert und abgeschichtet sind. Sie wohnten in eigenen Stadtvierteln und waren grundsätzlich verheiratet. Es handelte sich um verselbständigtes Gesinde, das selbst in gesindelosen Familienformen, vornehmlich der Kernfamilie, lebte. Auch durch die umfangreichen Bautätigkeiten der Barockbischöfe wurden neue, unselbständige Arbeitsplätze geschaffen. Diese vorindustrielle Lohnarbeit legt den Grundstein zur außerhäuslichen Erwerbstätigkeit der Gatten. Die Familie selbst ist damit nicht mehr Trägerin von Produktionsfunktionen, sondern die einzelnen Mitglieder produzieren getrennt voneinander fremdbestimmte Arbeitsergebnisse. Das Arbeitspersonal der Familie muß deshalb nicht durch die Aufnahme von weiteren Dienstkräften, durch „Adoption" oder „Dienstanstellung" ergänzt werden. Die Möglichkeit eines Lohnerwerbes - und nicht einer Bezahlung in Realleistungen - ermöglicht die Gründung eines eigenen Haushaltes Bevölkerungschichten, die vorher als Inwohner und Einlieger auch in ihrer „Freizeit" im Haushalt ihres Arbeitgebers seiner Aufsicht unterworfen waren. Der Rückgang der Familienformen mit Gesinde, zu denen 1569 in Salzburg noch über die Hälfte der Familien zählen und die 1794 nur noch ein Drittel der Familien umfaßen, kann in den ländlichen Gebieten nicht in gleicher Weise beobachtet werden. Der Differenzierung in Familienformen mit und ohne Gesinde in der Stadt entspricht hier die Schichtung in Bauern und Häuselleute, also in höhere und niedrigere Schichten. Manche Bauern sind offensichtlich mit den eigenen Kindern als Arbeitskräften ausgekommen. Sie mußten kein Gesinde aus Gründen des Arbeitskräftebedarfs anstellen. Auf der anderen Seite fällt auf, daß Taglöhner oft als Inwohner lebten 61 . Der Grundsatz gilt: Die Familienformen mit Gesinde in ländlichen Gebieten sind in Bauernhäusern, die Familienformen ohne Gesinde bei Landhand60

S. 56. 61

Auch in den ländlichen Gebieten ist der Anteil vergleichbar hoch, siehe ebd., Ebd., S. 70.

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

werkern, Hausierern, ländlichen Lohnarbeitern etc. zu finden. Dies erklärt, wieso die Statistik einen zunehmenden Gesindeanteil ausweisen kann und gleichzeitig die Familienkonstellationen mit Gesinde zurückgehen. Grund hierfür ist, daß die Zahl solcher nichtbäuerlicher Familienväter auch auf dem Land zunimmt (Heimarbeit). Im 17. und 18. Jahrhundert ist dies auch durch die vermutete Ansiedlung von Kleinhäuslern 62 geschehen. Mit dem Anstieg der Gesindezahlen und dem Rückgang der Familienformen mit Gesinde ist eine Abnahme der als Inwohner aufgeführten Personengruppen feststellbar. Der Rückgang der Inwohnergruppen spiegelt sich auch im Rückgang der Zahlen bezüglich der verheirateten Inwohner und im Rückgang der in diesen Haushalten geborenen Inwohnerkindern. Für den Aufbau der bäuerlichen Hausgemeinschaft hat dies die Konsequenz, daß vielfach nur noch Kinder des Hausinhabers im Haushalt leben. Die Struktur der bäuerlichen Hausgemeinschaft ändert sich damit entscheidend. Die Inleutepaare als Bezugspunkt neben dem bäuerlichen Ehepaar traten mehr und mehr zurück. Es bilden sich bei Kleinhäuslern und ehemaligem Gesinde Kernfamilienformen. Die Zahl der Familien, die keine familienfremden Mitbewohner haben, steigt deshalb. d) Restfamilienformen Im 17. und 18. Jahrhundert läßt sich ein Anstieg von familialen Gruppierungen um ledige und verwitwete Personen feststellen. Bedeutsam sind vor allem Familien, die aus einem Elternteil mit Kind oder aus einzelnen Männern und Frauen mit Dienstpersonal bestehen. Die Kehrseite dieser Entwicklung besteht im Rückgang von Kernfamilien, aber auch Eltern-KindGesinde-Gruppen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts. Diese Entwicklung in städtischen Gebieten findet keine Entsprechung in ländlichen Gebieten. Bei ersteren nehmen die um ein Ehepaar gruppierten Familienformen von der Mitte des 17. Jahrhunderts von mehr als 3A aller Familien zum ausgehenden 18. Jahrhundert auf die Hälfte ab 6 3 . Dieser markante Unterschied zwischen Stadt und Land erklärt sich aus der unterschiedlichen Familien-Arbeitsorganisation. Der Bauernhof ist eine Betriebsform, die sich bis in die Gegenwart den Charakter des Familienbetriebs bewahrt hat. Die Ergänzung von Mann und Frau, die entsprechende Arbeitsteilung in Männer- und Frauenarbeit, zwingt den verwitweten oder allein gelassenen Teil zur Wiederverheira62 63

Sie lebten neben der Landwirtschaft vom Handwerk. M. Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, S. 82.

II. Vorindustrielle „Familienformen", das Haus

141

tung 6 4 . Auch bei Kleinhäuslern läßt sich eine entfernt vergleichbare Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau feststellen, die in der Regel eine Wiederverehelichung erforderlich machte. Die Sicherung des Lebensunterhalts erfolgte durch außerhäusliche Erwerbstätigkeit des Mannes und die Bewirtschaftung des zum Haus gehörenden Bodens durch die Frau. Beide Komponenten waren für den Unterhalt der Familie lebensnotwendig. Ansätze zur Restfamilienbildung finden sich dagegen vor allem in unterbäuerlichen Schichten. Auch in der Stadt ist die vollständige Familie beherrschende Familienform nur dort, wo das „ganze Haus" die maßgebliche Organisationsform der Arbeit darstellt. Hier gibt es einen faktischen Heiratszwang für ledige Meister, da durch die Zunftordnungen die Anzahl der Meisterbetriebe beschränkt war. Die Heirat mit einer Meisterswitwe stellte deshalb für einen jungen Meister die manchmal einzige Möglichkeit dar, zu einem Betrieb zu kommen 65 . Vielfach waren die Meister zudem rechtlich verpflichtet, zu heiraten. Dies hing mit den Aufgaben der Meistersgattin als „Mutter" gegenüber Lehrlingen und Gesellen zusammen. Im Handel besteht dagegen keine Arbeitsteilung von Mann und Frau, die Frau ist vielmehr in reicheren Handelshäusern durch das vorhandene Dienstpersonal entlastet. Ein Mangel im „persönlichen Inventar" der Familie läßt sich hier durch die Beschäftigung von Dienstkräften leichter überbrücken; Restfamilien sind hier lebensfähig. Die Haushaltsformen lediger und verwitweter Männer bilden zum einen Teil die Hof- und die städtischen Bediensteten, daneben die Taglöhner und die ihnen ähnlich gestellten Bauarbeiter. Einen berufsbebedingten Heiratszwang gab es hier nicht. Die Unterhaltung einer gesamten Familie war zudem aufgrund der kargen Lohnverhältnisse auch nur schwer möglich. Ein Grund für das starke Anwachsen von Haushaltsformen lediger und verwitweter Frauen liegt zum einen in der Zunahme weiblicher Erwerbschancen, wie ζ. B. im Nähen, Spinnen, Stricken usw., zum anderen in der Schaffung von Pensionsansprüchen vor allem von Seiten der Dienstherren (Hof, Stadt). Grundsätzlich können diese Haushaltsformen nur als Abschnitte des Familienzyklus gewertet werden, d. h. sie treten vor- oder nachfamiliär auf. Eine Alternative zur vollständigen Familie sind sie in der Regel nicht.

64

Auch heute klagen Jungbauern darüber, wie schwer es für sie sei, eine Frau zu finden. 65 Auf der anderen Seite gab es Meisterwitwen, die aus eigenen Mitteln oder von anderen Einkünften lebten - anders als bei der Altbäuerin mußte die Meisterswitwe nicht im eigenen Haus betreut werden.

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte 3. Zusammenfassung

Die vorindustrielle Familie, vor allem ihr Prototyp das bäuerliche Haus, ist durch ihr Verhältnis zur Arbeit gekennzeichnet. Grundsätzlich gibt es nicht die Arbeit eines Familienmitglieds zum Erhalt der Familie, sondern die ganze Familie arbeitet in demjenigen Erwerbszweig, in dem die Familie - und nicht der einzelne - tätig wird. Dieser, vor allem bei der Handwerkeroder der bäuerlichen Familie zu beobachtende unmittelbare Zusammenhang von Familie und Arbeit bringt für die vorindustrielle Familie Sachzwänge mit sich. Der Ausfall im „personalen Inventar" der Familie muß durch die Wiederverheiratung bzw. eine Anstellung von Ersatzkräften ausgeglichen werden. Diese Ersatzkräfte stammen nicht durchweg aus dem weiteren, verwandtschaftlichen Umfeld der konkreten Familie. Gesinde konnte man saisonmäßig beschäftigen und bei schlechteren Erwerbslagen zum Verlassen des Haushaltes bewegen. Zu unterscheiden sind hier Kleinbauernbetriebe und größere Güter. Sicher zog man das Verbleiben von Kindern im Bauernhof durch alle Phasen des Familienzyklus einer Gesindeeinstellung vor, soweit dies möglich war 6 6 . Wo aber die Erwerbsaussichten bescheiden waren und man keinesfalls langfristig voraussehen konnte, daß der bewirtschaftete Hof der gesamten Familie Unterhalt garantieren würde, dort wurden die Kinder gezwungen auf fremde Bauernhöfe zu gehen und zu arbeiten. Hier zog man wohl zur Ergänzung des Arbeitskräftebedarfs Gesinde vor. Eng mit der Arbeitsorganisation des bäuerlichen Hauses hängt die Selbstgenügsamkeit dieser Lebensform zusammen. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts besitzt die Bauernwirtschaft die Fähigkeit, sich der Marktverflechtung zumindest teilweise zu entziehen. Diese wirtschaftliche Autonomie- und Autarkiefähigkeit des Hauses ist wohl auch der Grund dafür, daß sich erst der absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts in die Personenbeziehungen des Hauses - von Unterhalts- und deliktsrechtlichen Regelungen abgesehen - einmischt 67 . Neben einer absoluten Gewalt kann es bereits vom Wortsinn her keine unabhängige, ehemännliche oder väterliche Gewalt geben. Einhergehend mit dieser rechtlichen Durchdringung des Hauses und einer Aufspaltung in Personenbeziehungen geht eine wirtschaftliche: Das ursprünglich auf Selbstversorgung eingerichtete Haus spezialisiert sich und wird von familienfremder Nachfrage abhängig. Die Ökonomik mit ihrer Einordnung des Hauses in die Ideen- und Menschenlehre verkümmert damit zur bloßen Wirtschaftswissenschaft 68 . 66

M. Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, S. 89. O. Brunner: Das „Ganze Haus" und die alteuropäische Ökonomik, in Ferdinand Oeter (Hrsg.): Familie undd Gesellschaft, Tübingen, 1966, S. 28, 32. 67

III. Der Übergang

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Vielleicht haben wir uns von dieser Sichtweise nie mehr freimachen können. Gängig wird behauptet, daß es keine Intimität zwischen den Gatten oder der Gatten und ihren eigenen Kinder in großen Teilen der Bevölkerung, wie ζ. B. bei den Bauern- und Handwerkerfamilien, gegeben habe. Die Tischgemeinschaft mit Gesellen, Lehrlingen, mit Knechten und Mägden verbunden mit einem langen Arbeitstag hätten für eine solche Intimität weder Platz noch Raum gelassen. Angesichts der Individualität von Menschen und Familien ist hier aber Skepsis angebracht. Generell läßt sich auch sagen, daß die im städtischen Milieu des 16. bis 18. Jahrhunderts vorgefundenen Familienkonstellationen der heute dominanten, nämlich der Kernfamilie, näher stehen als die ländlichen 69 . Bereits bei der Beschreibung der vorindustriellen Familienformen wurde deutlich, daß es Zusammenhänge zwischen einer Verstädterung, einer Funktionsentlastung der Familie und einer Veränderung in der Familienzusammensetzung gibt. Noch deutlicher w i r d dies bei einem Vergleich mit den Familienformen, die sowohl postindustrielle wie auch vorindustrielle Wurzeln aufweisen. I I I . Der Übergang 1. Die Familie in der Hausindustrie

a) Der Begriff Mit dem Begriff „Hausindustrie" wird eine bestimmte Form der gewerblichen Produktion bezeichnet, die neben dem Handwerk be- und entsteht. Wie im handwerklichen Haus findet die Produktion im Haus oder der Wohnung des Produzenten statt. Bisweilen arbeiten alle Familienangehörigen zusammen. Vom Handwerk unterscheidet sich die Hausindustrie dadurch, daß nicht mehr unmittelbar für den Konsumenten produziert wird, sondern der Vertrieb dem Händler obliegt. Von Hausindustrie im engeren Sinne spricht man, wenn der Händler zum Verleger geworden ist, d. h. den Heimarbeitern Geld für den Kauf der Rohmaterialien vorschießt bzw. diese selbst liefert und so auf den Produktionsprozeß Einfluß nimmt 7 0 . Die Gründe für die Entstehung der Heimarbeitsindustrie sind vielschichtig. Ein Grund ist das rapide Bevölkerungswachstum im 18. Jahrhundert in ländlichen Gebieten. Hier hatte die Realteilung zu einer starken Besitzzersplitterung geführt. Von den immer kleineren und 68 69 70

Ebd., S. 42 ff. M. Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, S. 94 f. H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 191.

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

vor Einführung der Drei-Felder-Wirtschaft ausgelaugten Böden konnten sich immer weniger Familien ernähren. Ein weiterer Grund für die Verbreitung der Heimarbeit war die Chance für Bauern, sich durch einen Nebenerwerb vom Grundherren unabhängiger zu machen. Für die Taglöhner bot Heimarbeit die Möglichkeit, die schwankende Arbeitskraftnachfrage in der Landwirtschaft auszugleichen. Die Ansiedlung von Hausindustrie erfolgte deshalb hauptsächlich in ländlichen Gebieten. Das hatte auch langfristig den Vorteil, daß hier städtische Zunftzwänge und Verbote von Frauen- und Kinderarbeit fehlten. Begünstigt wurde ein Nebeneinander von geringem Landbesitz und häuslicher Erwerbstätigkeit zusätzlich dadurch, daß die Verdienste aus hausindustrieller Tätigkeit normalerweise nicht zehntenpflichtig waren und außerhalb der feudalen Bindungen und Abhängigkeiten blieben 71 . Die Familie in der Hausindustrie wird als Übergangsmodell zwischen der bäuerlichen auf der einen und der bürgerlichen und proletarischen Familie auf der anderen Seite erwähnt, da sie Elemente beider Familien- und Arbeitsformen vereinigt. Die Produktion im Hause, die Mitarbeit aller Familienmitglieder, die Beibehaltung handwerklicher Produktionstechniken, die relativ große Autonomie in der Gestaltung des Arbeitsablaufs und die in vielen Gewerben isoliert voneinander arbeitenden Familien erinnern an den bäuerlichen und kleinhäuslerischen Betrieb. Demgegenüber sind die fortgeschrittene Arbeitszerlegung, die Trennimg von Produzent und Händler und die Abhängigkeit des Produzenten vom Verleger neue Elemente einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die Heimarbeit wurde von den auf Zusatzverdienst angewiesenen Kleinhäuslern und ländlichen Tagelöhnern anfänglich bereitwillig aufgenommen 72 . Dieses für die Heimarbeiter günstige „Nebeneinander" von landwirtschaftlicher und gewerblicher Tätigkeit war bald beendet. Ein Grund hierfür war, daß die Spitzenarbeitszeiten in der Landwirtschaft und in der Heimarbeit (wie bei Spielzeug und Exportweberei) zusammenfielen und der hausindustrielle Produzent sich für die eine oder andere der beiden Erwerbsarten entscheiden mußte. Bei mageren Böden entschied sich der Produzent für die Heimindustrie und verlor mit der Aufgabe der Landwirtschaft die Möglichkeit Nahrungsmittel selbst anzubauen. Auch ging er, seiner Dispositionsmöglichkeit auf konjunkturelle Schwankungen in Landwirtschaft oder Heimindustrie zu reagieren, verlustig. Der Erwerb des Heimarbeiters stieg durch diese Konzentration aber nicht ohne weiteres, da mit der zunehmenden Verbreitung 7

1 Ebd., S. 193. Ebd., S. 196.

72

III. Der Übergang

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der Heimarbeit die Anzahl seiner Konkurrenten wuchs. Der „Fluch der Hausindustrie" ist es, daß sie zuerst in weiten Bereichen die Landwirtschaft verdrängte 73 und dann nach den Regeln von Angebot und Nachfrage den so geschaffenen Überhang an Arbeitsnachfragern ausnutzte. Die Heimarbeiter waren ζ. T. sogar schlechter gestellt als die Fabrikarbeiter, da sie vollkommen vom Verleger abhängig waren. Dieser konnte aber - anders als ein industrieller Kapitalist, in dessen Produktionsbetrieb fixes Kapital investiert worden war - es sich leichter leisten, die Produktion völlig einzustellen, um Kapitalverluste zu vermeiden. Zum „Fluch der Hausindustrie" gehört weiterhin, daß die Menschen, die diese einmal zu ihrem Haupterwerb gemacht hatten, für die Landwirtschaft nicht mehr geeignet waren. Die extrem lange Arbeitszeit bei ungesunden Wohnverhältnissen sowie unzureichender, einseitiger Kost führten sehr schnell zu körperlicher Verkümmerung. An dieser Untauglichkeit zu schwerer körperlicher Arbeit scheiterten denn auch staatliche Versuche, schlesische Spinner und Weber beim Niedergang der Hausindustrie zu Parzellenbauern zu machen 74 und so das Rad der Geschichte zurückzudrehen. b) Familiengröße, Zusammensetzung und Wohnverhältnisse Die wenigen vorliegenden Untersuchungen lassen erkennen, daß im Normalfall der hausindustrielle Haushalt mit der Kernfamilie identisch gewesen ist, also lediglich aus den Eltern und den unverheirateten Kindern bestand. Nur wohlhabendere Hausindustrielle konnten sich „Spulmagd" oder „Bandwebergesellen" - als Gesinde - leisten. Die Mehr-Generationen-Familie war in nicht signifikantem Umfang vorhanden. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Im Gegensatz zur bäuerlichen Familie war das Heiratsverhalten der hausindustriellen Familie nicht „gutsbedingt". Grund für eine Heirat war nicht der Besitz oder Erwerb eines Hofes; allein die Arbeitskraft des Hausindustriellen stellte sein Kapital dar. Dies hat zur Folge, daß der ursprünglich bäuerliche Wirtschaftszusammenhang - ein Hof - ein Haus - eine „Familie" - aufgelöst wurde. Heimarbeiter konnten auch als Inwohner im bäuerlichen Haushalt zur Miete wohnen 75 . Da die Kinder sich relativ früh selbständig und unabhängig machen konnten - in ihrer Jugend war ihre Arbeitskraft am größten - war man auf ein Zusammenleben auf dem später zu erbenden Hof nicht angewiesen. Selbst wo die Heimindustriellen über ein eigenes Haus verfügten, wurden die Großeltern nicht mehr in Haushalt und Arbeit integriert, sondern blieben selbständig. Einzig das Wohnen unter einem Dach ™ Ebd., S. 197 f. 74 Beispiel ebd., S. 200. 75 Ebd., S. 200 f. 10 Schmid

1 4 6 F .

Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

verband die Generationen über gefühlsmäßige Bindungen hinaus 76 . Jede „Familie" war und blieb gleichwohl eine separate soziale und ökonomische Einheit - im Unterschied zum ganzen Haus, wo die Kernfamilie als Subsystem weniger leicht erkennbar ist. Bezüglich der Zahl der Familienmitglieder sind Änderungen gegenüber dem ganzen Haus feststellbar. Generell ist eine höhere Kinderzahl der Heimarbeiter zu vermuten. Ein sinkendes Heiratsalter und die Nichtdurchführung effektiver Geburtenkontrolle führte zu einer höheren Kinderzahl pro Ehe 77 . Im Gegensatz zu den Familien der unterbäuerlichen Bevölkerung mußten die Kinder vielleicht auch nicht so frühzeitig das Elternhaus verlassen, da sich in der Hausindustrie alternative Beschäftigungen zum häuslichen Gesindedienst eröffneten. In einem Heimarbeiterhaushalt lebte normalerweise ein Ehepaar zusammen. Wenn auch bei den Heimarbeitern die berufsinstitutionellen Zwänge, wie Zunftwesen usw., zur Eheschließung fehlten, so spielten doch gewichtige Faktoren, wie Gewohnheit, Sitte, Moral und die Arbeitsorganisation eine wichtige Rolle. Auch landlose Heimarbeiter, die über keine Produktionsmittel, wie ζ. B. über einen Webstuhl, verfügten, heirateten. Verwandtschaftsehen, die bei den Bauern wegen des Zusammenhaltes des Besitzes eine gewisse Bedeutung hatten, spielten keine große Rolle. Generell w i r d durch die Verbreitung der Hausindustrie die Verbindung von Heiratsfähigkeit und Familiengründungsvermögen durchbrochen. Für den Heimarbeiter waren, wie später für den Industriearbeiter, die Jugend und Gesundheit wichtigster Bestandteil seines Arbeits- und Lebenskapitals. Die sonstige Besitzlosigkeit ermöglichte eine individualisierte Partnerwahl ohne Rücksicht auf Familien- und Vermögensinteressen. Arbeitsorganisatorische Zwänge schränkten den Kreis der potentiellen Partner wieder ein. So heiratete ζ. B. ein Weber vielleicht lieber eine Frau, die bereits selbst Kenntnisse in der Weberei hatte. Dennoch waren die Rahmenbedingungen für gefühlsbestimmte Ehen insgesamt gesehen vielleicht günstiger als in der bäuerlichen oder handwerklichen Familie. Diese Gegebenheiten wirkten sich natürlich auch auf die Situation des Kindes in der heimindustriellen Familie aus. c) Die Situation des Kindes Das Kind wuchs in der Gemeinschaft mit den im gleichem Zimmer arbeitenden Eltern auf. Sobald es nur irgendwie arbeitsfähig war, mußte es durch Kinderarbeit zum Familienunterhalt beitragen. Weil die dürftige und ärmliche Existenz der Heimarbeiterfamilie nur durch die Mitarbeit aller ver7

« Ebd., S. 209 f. Ebd., S. 211.

77

III. Der Übergang

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fügbaren Kräfte zu meistern war, wurde der behördlich verordnete oder erzwungene Schulbesuch als Einbuße an Arbeitskräften begriffen. Deshalb versuchten die Familien, sich dem Schulzwang zu entziehen 78 . Für eine Erziehung des Kindes fehlte es sowohl auf Seiten der Eltern als auch auf Seiten des Kindes an Zeit. Die Versorgung jüngerer Geschwister mußte daher oft auch von älteren übernommen werden - meistens von den Schwestern. Auch muß bei der Erwartungshaltung, die Eltern gegenüber ihren Kindern an den Tag legten, zwischen Töchtern und Söhnen unterschieden werden. Wo noch ein kleiner Landbesitz vorhanden war, sind vielleicht eher viele Kinder, vor allem Töchter erwünscht, weil sie in ganz traditioneller Weise ihren hausindustriellen Verdienst in das „Gütchen" der Eltern steckten 79 . Demgegenüber machten sich erwachsene Söhne wohl früher selbständig, waren mobiler als in der bäuerlichen Familie und heirateten. Sie mußten dann eigene Kinder ernähren. Da die Familie die Ernährung der Kinder sichern mußte, solange sie noch nicht voll arbeitsfähig waren, deren Arbeitskraft aber verlor, sobald sie ihre volle Arbeitskraft erreicht hatten, lösten Kinder nicht das ökonomische Problem der Heimarbeiterfamilie. Dazu kommt, daß bei nur begrenzt wirksamer und verbreiteter Geburtenkontrolle die gesamte eheliche Fruchtbarkeitsperiode - die natürlich parallel mit dem Absinken des Heiratsalters größer wurde - ausgenutzt wurde. Die älteren Kinder verließen also schon das Haus, während die jüngsten erst geboren wurden. Infolge dieser Überanstrengung waren beide Eltern vorzeitig verbraucht und ihre Arbeitskapazität sank. Zudem war es keineswegs so, daß die Zahl der Arbeitskräfte, die eine Heimindustrie unterhielt, unbegrenzt war und die erwachsenen Kinder alle im Haus behalten werden konnten. Der zur Verfügung stehende Raum und die Produktionsmittel ζ. B. die Anzahl der Webstühle - begrenzten rein faktisch die Zahl der Personen, die innerhalb der einzelnen Familien mit der Heimarbeit beschäftigt werden konnten. Auch langfristig betrachtet konnten sich deshalb Heimarbeitsfamilien durch die Geburt und das Aufziehen von Kindern nicht aus ihrer existenziellen Abhängigkeit vom Verleger lösen. d) Zusammenfassung In der hausindustriellen Familie findet gegenüber der bäuerlichen Familie die entscheidende Trennung von Boden und Familienerwerb statt. Gemeinsam mit dem ganzen Haus ist die Einheit von Familien-, Lebens- und Arbeitsraum. Gemeinsam mit der proletarischen Familie produziert die Familie in der Heimindustrie fremdbestimmte Arbeitsergebnisse. Diesbe™ Ebd., S. 243. 79 Ebd., S. 238 m.w.N. 10'

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

züglich kann die Heimarbeiterfamilie als direkte Vorläuferin der proletarischen Familie betrachtet werden. Dennoch erscheint es zweckmäßig, eine Analyse der bürgerlichen Familie des endenden 18. und des 19. Jahrhunderts „einzuschieben". Die proletarische Familie wird nämlich nicht unerheblich dadurch gekennzeichnet, daß sie sich von der bürgerlichen Familie unterscheidet bzw. deren Ideale zum einen Teil übernommen, zum anderen nicht übernommen hat. Auch erscheint es wichtig, sowohl die Familie in der Hausindustrie als auch die proletarische Familie jeweils unmittelbar mit der bürgerlichen Familie zu konfrontieren, um den Maßstab heutiger Familienvorstellungen zu lokalisieren. 2. Die Familie des Bürgertums

a) Der Begriff Hier muß auf die Abschnittsüberschrift „Der Übergang" Bezug genommen werden. Der „Durchbruch der industriellen Revolution in Deutschland" kann auf den Beginn der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts datiert werden 80 . Dementsprechend gibt es auch zwei unterschiedliche Personenkreise, aus denen sich das „Bürgertum" vor und nach diesem Zeitpunkt rekrutiert. Es erscheint nicht zweckmäßig beide Arten des Bürgertums vollkommen getrennt nebeneinander zu behandeln. Die Entwicklung von Bildungsbürgertum zum Kapitalbürgertum - der Übergang - würde so durchbrochen. aa) Der Bürger des Allgemeinen Preußischen Landrechts (ALR) Das ALR (1794) unterschied zwischen höherem und niederem Bürgerstand. Zum höheren Bürgerstand gehörten: „. . . alle öffentlichen Beamten, . . . Gelehrte, Künstler, Kaufleute, Unternehmer erheblicher Fabriken und diejenigen, welche gleiche Achtung mit diesen in der bürgerlichen Gesellschaft genießen" (§31 Abs. 2 S. 1 ALR) 8 1 . Demgegenüber zählten zum Kleinbürgertum die mittleren und kleinen Gewerbetreibenden sowie die Handwerker. In diese Definition des ALR fließen zwei Tatbestandsmerkmale des höheren Bürgertums ein: Eine höhere Bildung und/oder der Besitz eines Vermögens. Demgegenüber bleibt der niedrige Bürgerstand ohne Universitätsbildung. Die besondere Bedeutung der Bildung erklärt sich für das Bürgertum aus der Abgrenzungs- und Identitätsfunktion gegenüber dem Adel nach oben und gegenüber dem Kleinbürgertum nach unten 82 . Dieses höhere

so Ebd., S. 314. 81 Ebd., S. 215 f.

III. Der Übergang

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Bürgertum, das sich durch eine neuhumanistische Bildung auf die Verbindung zur Antike berufen und dadurch vom Kleinbürgertum abgrenzen wollte, begann das neue Familienbild des endenden 18. und 19. Jahrhunderts zu entwickeln. bb) Die Bürger ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Wenn für das frühe Bürgertum am Ende des 18. Jahrhunderts die Beamten und Gelehrten typisch waren, so waren es knapp 100 Jahre später - nach der Durchsetzung der industriellen Revolution - die Unternehmer und „Wirtschaf tsbürger" 83 >84. Dieses Bürgertum konnte bereits auf errungene Leistungen, auf den Besitz von Geld stolz sein. Dieses „Großbürgertum", das sich aus Akademikern, Beamten und Unternehmern im weitesten Sinne zusammensetzte, unterschied sich vom Bürgertum des endenden 18. Jahrhunderts durch seine zunehmende Annäherung an den Adel. Dieser Prozeß wird als Aristokratisierung des Bürgertums bezeichnet. Sie äußerte sich darin, daß die originäre bürgerliche Klassenhaltung, der politische Liberalismus, aufgegeben wurde 8 5 . Das Bürgertum wurde zum unmittelbaren Pfeiler monarchistischer Macht, die sich in der gezielten Personalpolitik innerhalb der Beamtenschaft, der Militarisierung des Bürgers durch das Institut des Reserveoffiziers, durch Instrumente politischer Ausrichtung, wie studentische Korps und auch im strafrechtlichen Schutz der Familie niederschlug. So wurde 1845 „. . . mit Gefängnis oder Arbeitshaus bestraft, wer durch Anschläge an öffentlichen Orten, durch Verbreitung vervielfältigter Schriften . . . gegen die Unverletzbarkeit . . . der Familie . . . sich Angriffe erlaubt, welche die denselbigen schuldige Achtung zu untergraben geeignet sind" 8 6 . Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Konkurrenz zwischen den Unternehmern noch schwach ausgeprägt; sowohl Kundenfang als auch Preisunterbietung galten als Ausdruck unsoliden Geschäftsgebarens. Die Intensität der Wirtschaftstätigkeit war relativ gering und das Tempo der Geschäftstätigkeit gemächlich. Mit der massenhaften Beschäftigung haus- und familienfremder Arbeitskräfte durch einen Arbeitgeber wurde der Interessengegensatz zwischen 82 Die Zuerkennung eines höheren Bürgerstandes an die öffentlichen Beamten erklärt sich dabei aus dem hohen Ansehen, das der Verwaltungsdienst eines absolutistischen Staates genoß. 83 Ebd., S. 310. 84 Von dieser Regel gab es eine wesentliche Ausnahme, nämlich die selbständigen Handwerker, die nicht zum Bürgertum, sondern zum Kleinbürgertum gerechnet wurden. 85 H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 321. 86 Nachweis bei D. Schwab: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie, S. 893 (902).

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Arbeitgebern und -nehmern, die auch keine Hausgemeinschaft mehr einte, verschärft. Dieser Prozeß erfaßte auch einen großen Teil der Bevölkerung. Während 1871 noch zwei Drittel des deutschen Volkes in ländlichen Gemeinden wohnten und dort den Lebensunterhalt verdienten, machte am Vorabend des 1. Weltkrieges die städtische Bevölkerung beinahe zwei Drittel aus 87 . Auch auf dieses aristokratisierte Bürgertum stützte sich das Leitbild der bürgerlichen Familie, das vielleicht die „klassische Familie" hervorbrachte. b) Die Entstehung des Leitbilds der bürgerlichen Familie Hier muß differenziert werden zwischen Theorie und Praxis, nämlich zwischen Literatur und tatsächlich gelebtem Familienverhalten. Bereits in der Literatur lassen sich aber große Änderungen nachvollziehen. Die alte Hausväterliteratur hatte noch die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen im Hause 88 behandelt und zugleich Anleitungen für die Erfüllung in Haus und Landwirtschaft gestellter Aufgaben geliefert. Es handelte sich hier um ein für den einzelnen nur schwer auflösbares Gegenseitigkeitsverhältnis von Arbeits- und Familienorganisation. Mit der Entdeckung der Individualität, d. h. der nicht bloßen Sachträgerschaft des einzelnen während seiner Zeit auf Erden, ging auch eine neue Entdeckung menschlicher Beziehungen einher. Traditionellerweise war die Versorgung der Kinder in der Ehe für die Eltern das ausschlaggebende Motiv bei der Partnerwahl für die Kinder. Die Aufklärung brachte eine Entdeckung der politischen und persönlichen Bestimmungsgewalt des Menschen mit sich. Welche dieser beiden Komponenten einer Individualität auf sich oder der anderen beruht, kann dahin gestellt bleiben. Jedenfalls hatte diese politische Entwicklung zum „Bürger" auch die Folge, daß dem Menschen im persönlichen Bereich - der Familie ein Recht auf Gefühl und individuelle Neigung zugestanden wurde. Zwar wurden auch diese Gefühle einer objektiven ratio unterworfen; eine Öffnung des Familienbegriffs für die Individualität ist trotzdem zu bejahen. Die neue Auffassung vom Individuum führte zu einer neuen Liebes- und Eheauffassung. Ihr folgte auch ein zumindest theoretisches Umdenken im Bereich der Kindererziehung. Hierbei waren zwei Punkte zentral: Zum einen wurde die in Adel und Bürgertum verbreitete Praxis, Kinder unbekümmert den Ammen, Kindermädchen und dem Hauspersonal zu überlassen, angegriffen. Zum anderen wandte man sich gegen eine übermäßige Züchtigung der Kinder durch die Eltern. 87

H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 315. Eine konservative Renaissance begründete W. H. Riehl, s. Georg Schwägler: Soziologie der Familie, Tübingen, 1970, S. 33. 88

III. Der Übergang

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Neu war die Betonung einer Verantwortung der Eltern für ihre Kinder, die über die bloße Unterhaltspflicht hinausging. Überraschend ist, wie schnell diese Gedanken vom Gesetzgeber des Preußischen ALR übernommen wurden, der ζ. B. eine Stillpflicht der Mütter vorschreibt. Hier wurde versucht etwas juristisch festzuschreiben, was im Gegensatz zur Praxis weiter Teile der Bevölkerung stand. Dabei darf aber das Ideal einer Kindesverantwortung nicht isoliert betrachtet werden. Die neue K r i t i k an der Dienstbotenerziehung hängt wohl auch mit einer zunehmenden Abgrenzung des Bürgertums vom bäuerlichen oder häuslichen „Gesinde" zusammen. Zum Ende des 18. Jahrhunderts löst sich nämlich auch die Tischgemeinschaft zwischen Hausherrn und Dienstboten auf. Das frühe Bürgertum mußte sich seinen Platz in der Gesellschaft erst erobern. Dies konnte am leichtesten durch eine Abgrenzung „nach unten" erfolgen. Ein weiterer Grund für diese neue Sichtweise der Verantwortung der Eltern für ihre Kinder ist das Gedankengut der Aufklärung. Wenn man sich nämlich Rechte gegen einen absolutistischen Monarchen mit der Begründung erstreitet, nicht bloß Objekt monarchistischer Gewalt zu sein und diesen Anspruch auf eine allgemein geltende ratio gründet, dann ist es wichtig, entsprechende Träger der ratio zu erziehen und so das Weiterleben der Aufklärungsidee zu garantieren. Auch paßt zu einem staatsrechtlichem Vertragsdenken ein Vertragsschließender, der einmal einer unbegrenzten und unverantworteten Vatergewalt unterstanden hat, nicht. Ein weiterer Grund für die Hinwendung zur Familie kann in der sozialen Isolierung des Bildungsbürgertums gesehen werden. Nicht mehr eingebunden in feste Zunftregeln, in greifbare, landwirtschaftliche Besitzverhältnisse und -interessen, fehlte es diesem neuen Stand an der Verwurzelung in der Gesellschaft. Was lag näher, als sich in die realen und ideellen Mauern des eigenen Hauses zurückzuziehen? c) Die Auswirkung des neuen Familienbildes auf das Leben in der Familie aa) Die geänderten Wohnverhältnisse Der Rückzug in das eigene Haus war nur dann möglich, wenn familienfremde Einflüsse bereits an der Türe zurückgewiesen werden konnten. Dies setzte eine Trennung von Familien- und Arbeitsgemeinschaft, eine Trennung von Familienwohnung und Arbeitsraum voraus. Einhergehend mit dieser Trennimg wurden die Rollen innerhalb der Familie „neu" verteilt. Der Frau wurde der häusliche Wirkungskreis erschlossen, dem Mann die außerhäusige Erwerbsarbeit. Die Frau wurde damit zum Garanten einer Entwicklung des „innengeleiteten" Menschen, der sich durch seine Absage an die Traditionen im häuslichen Refugium Selbstbestätigung und Erholung

1 5 2 F .

Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

sichert 89 . Diese Trennung von inner- und außerfamiliärem Leben wird sowohl im Verhältnis zu den Dienstboten als auch in der Kindererziehung deutlich. Wenn jetzt von der Familie gesprochen wird - seit Ende des 18. Jahrhunderts ist der Familienbegriff in Deutschland verbreitet - dann werden die Dienstboten nicht mehr erwähnt und es ist klar, daß sie nicht in die Familien integriert waren 90 . Das „Haus" des 18. Jahrhunderts, das normalerweise Wohn- und Geschäftshaus zugleich gewesen ist, weicht dem Etagenhaus, in dem die Bewohner mit einem Minimum an Kontakt nebeneinander leben können. Die Trennung in Wohn-, Eß- und Schlafzimmer, in Kinder- und Arbeitszimmer sind Folge dieses Prozesses der gewollten Freihaltung der Intimsphäre. bb) Die Erziehungsinstanzen Auch werde die Kinder durch die Familie auf die außerfamiliäre Erwerbssphäre vorbereitet, was zum Teil in ABC-Schulen anstelle von Hauslehrern geschieht 91 . Die Arbeitsmotivation des Bürgertums, das sich selbst erst seinen „Stand" innerhalb der Gesellschaft erobern mußte, hatte auch für die Kindererziehung weitgehende Konsequenzen. Der Vater war durch Rationalisierung und Intensivierung der Arbeit so beschäftigt, daß ihm für die Kindererziehung kaum Zeit blieb. Diese wurde weitgehend der Frau und Mutter überantwortet 92 . Der Mutter wurde der Sohn aber immer mehr entfremdet, da er durch den Besuch des Gymnasiums und der Universität, des Korps und anderer Einrichtungen weitgehend aus der Familiensphäre entfernt wurde. Eine entgegengesetzte Entwicklung ist bei den Bürgertöchtern festzustellen, die, wenn irgendwie möglich, lange Zeit im Haus gehalten wurden, und deren beschränkter Horizont für ihr späteres, auf das Haus begrenztes Leben vielleicht auch erwünscht wurde. cc) Die Anzahl der Mitglieder Da also mit dem beginnenden 19. Jahrhundert die Trennung von Familien- und Erwerbssphäre bereits sehr fortgeschritten war, gewinnen romantische Beschwörungen des ganzen Hauses 93 und das „trotzige" Zusammenlegen von Wohn- und Arbeitssphäre durch einen einzelnen Familienvater ein neues Gesicht. Dies sind nämlich restaurative Tendenzen, die schon damals zurückblickten und keinesfalls das praktizierte Familienleben beschrieben. Es handelt sich hier um eine vielleicht notwendige Differenz 89

H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 281. Ebd., S. 301. 9 * Ebd., S. 297. 92 Ebd., S. 357. 93 W. H. Riehl, s.b. G. Schwägler: Soziologie der Familie, S. 34. 9

III. Der Übergang

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zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Deutlich wird dies ζ. B., wenn man sich die durchschnittliche Kinderzahl pro vollständiger Ehe von 1875 bis 1914 vor Augen stellt. Mit einer ständig abnehmenden Kinderzahl, die durch praktizierte Geburtenkontrolle erklärbar ist, passen Vorstellungen über das ganze Haus mit Gesinde und Inwohnern nicht zusammen. Generell ist zu sagen, daß auch die Bürgerfamilien durch Neolokalität gekennzeichnet sind. Gerade bei reichen Unternehmern konnte der Sohn mit seiner Familie eine abgeschlossene Etage im Elternhaus bewohnen oder einen neuen Wohnsitz gründen. Versorgungsgründe und -zwänge, die zum Zusammenleben verpflichten, gibt es im reichen Unternehmertum nicht. Hinzugefügt werden muß aber, daß die im reichen Bürgertum festzustellende Tendenz zur Separierung der Generationen enge verwandtschaftliche Bindungen nicht ausschließt 94 . Selbst wenn die Großeltern nicht am Ort lebten, waren häufige gegenseitige Besuche und die erst im Bürgertum aufgekommenen Familienfeiern wohl sehr häufig. Der bürgerliche Haushalt des Kaiserreichs bestand also in der Regel nur aus den Eltern mit den unverheirateten Kindern, allenfalls unversorgten Töchtern und verfügte über mindestens ein Dienstmädchen. Dieses war aber familienfremd und wurde in der Regel auch als solches behandelt. d) Zusammenfassung: Die Bedeutung der Familie im Bürgertum als Erziehungsinstanz und Gegenstruktur zur Gesellschaft Die oben geschilderte Entwicklung kann überschrieben werden mit dem Satz: Die Entdeckung der Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft 95 . Durch die Trennung von Arbeits- und Familienstätte wurden die räumlichen Voraussetzungen für eine Isolierung des Individuums in der Gemeinschaft mit den ihm Liebsten von der Gesellschaft geschaffen. Die Tür nach außen, die das ganze Haus noch nicht kannte, war aber lediglich die äußere Manifestation dieser Trennung. Die Wertung dieser Trennung, nämlich Familie als Gegenstruktur zur übrigen Gesellschaft aufzufassen, setzt dann auch eine veränderte innere Einstellung voraus. Diese veränderte innere Einstellung scheint maßgebend für unser heutiges Familienbild zu sein; der Blick schweift immer mehr von der nüchternen Bestandsaufnahme der zu erwartenden Familiengüter und der Unterhaltsgewährleistung ab. Vielleicht ist es deshalb 1987 besonders notwendig, sich die zwingenden ökonomischen Rahmenbedingungen früherer Familienindividualität vor Augen zu führen. In klimatisch kritischen Zonen bedarf der Mensch eines Schutzes im Winter, er ist auf den Bau eines Hauses angewiesen. Solange ein Wirtschafts- und Lebenssystem durch den Besitz von Boden - Selbstversorungs94 95

H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 367. Auszug nach H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 373.

1 5 4 F .

Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Wirtschaft - charakterisierbar ist, solange ist auch das Individuum an die Scholle gekettet. Mit dem Entstehen von Handel, der Einführung der Geldwirtschaft ist auch ein Aufschwung für nicht landbesitzende Bevölkerungsschichten in bestimmten Grenzen möglich. In Gesellschaftssystemen ohne Alters- und Krankheitsvorsorge ist dabei das Bedürfnis nach einer ökonomischen Basis bei der Familiengründung sehr hoch. Der Verdienst des Mannes - existenzerhaltende Tätigkeiten für die Frau waren in den jeweiligen Systemen nicht vorgesehen - mußte für eine Familie ausreichen. Die Mutter und Frau war wegen ihrer häufigen Schwangerschaften und vielleicht auch Abtreibungen an der Mitarbeit zumindest zeitlich verhindert. Die Zunftordnungen der Städte, die gesetzlichen Heiratsverbote und das Erfordernis von Heiratsgenehmigungen der Gemeinden zusammen mit der strikten Ablehnung nichtehelicher Lebensgemeinschaften und Familien durch die K i r chenlehren hatten eine gewisse Polarisierung ehelicher und nichtehelicher Familien zur Folge. Nur diejenigen Familien durften heiraten, für die auch eine ausreichende Nahrungsgrundlage nachgewiesen war 9 6 . Im 19. Jahrhundert, wo angesichts der Anonymität der Städte und vielleicht auch aus dem Bestreben der Anbindung des Proletariats an sittliche Normen diese Ehe und Familiengründungsverbote nicht mehr „greifen", entstehen Familien, die weder eine ländliche Besitzbasis noch ein sonstiges Kapital - außer ihrer gegenüber einem familienfremden Arbeitgeber zu leistenden Arbeitskraft besitzen. Diese Loslösung des Individuums von formalen rechtlichen - wenn auch nicht faktisch ökonomischen - Zwängen läßt Platz für die Gefühlsheirat und ist auch die Rechtfertigung unserer heutigen Familienauffassung. Sie läßt auf den ersten Blick Ehe und Familie als etwas völlig Privates und Intimes der betroffenen Menschen erscheinen. Deshalb w i r d die Ehe- und Familiengründungsfreiheit auch als ein Menschenrecht angesehen; als etwas, das zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts auf keinem Staat der Erde verwehrt werden soll. Der Schein von einer Intimität des einzelnen, die den Staat auszuklammern vermag, wird indes durch einen Blick in heutige staatliche Gesetze beseitigt. In der Verfassung schützt dieser Staat eine Familie. Unter Familie versteht er eine bestimmte Gemeinschaft, die - und hierin gibt es keinen grundsätzlichen Wandel - zumindest eine Gemeinschaft im Leid sein soll. So gestaltet er denn alle Rechte auf Freude mit dem anderen als nicht vollstreckbar aus, die Pflichten nämlich ζ. B. die Unterhaltspflicht und die Erziehungspflicht ist einklagbar, durchsetzbar oder durch Entzug des eigenen Kindes sanktionierbar. Auch würde eine Betrachtung der Familie nur aus dem Blickwinkel der Intimität der Familienbeziehungen davon ablenken, daß diese Intimität und 96 K. Braun: Das Zwangs-Zölibat für Mittellose in Deutschland, in: Viertels jahresschrift für Volkswirtschaft, Kulturgeschichte, 5. Jg., Bd. 20 (1867), S. 1 ff.

III. Der Übergang

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Freiheit der Gefühle das Resultat einer geänderten Auffassung der Rechte des Individuums - und zwar jedes - innerhalb der Gesellschaft und des Staates ist. Das grundsätzliche Abhängigkeitsverhältnis von Familie und Staat ist durch diese Entwicklung m. E. nicht in Frage gestellt. Auch dieser Staat sucht sich die Familie aus, die er benötigt; umgekehrt bildet die Familie diejenigen Bürger aus, die ein neuer oder der alte Staat braucht. Die Richtigkeit dieser These wird auch und vor allem durch die Geschichte des Aufstiegs des Bürgertums und die Entwicklung eines bürgerlichen Familienbildes illustriert. Wenn - wie heute - jeder einzelne Staatsbürger ist und deshalb jeder sich in einem erbarmungslosen Wettkampf unter vermeintlich gleichen rechtlichen Bedingungen seinen Platz im Leben erkämpfen muß 97 , dann bedarf er eines Refugiums. Und dieses Refugium, das auch für den Leistungsbürger nicht erkämpfbar und letztlich auch nicht rechtlich durchsetzbar ist (das Recht auf eheliche Gemeinschaft und Gehorsam der Kinder), das ihm also unter anderen Voraussetzungen und nicht unmittelbar abhängig von seinem Leistungsstandard in der Gesellschaft in die Wiege fällt oder nicht, dieses Refugium bietet ihm eine alte Institution: die Familie. Es ist nicht die gleiche Familie, wie die Lebensgemeinschaft des alten Hauses. Es ist vielleicht zum ersten Mal regelmäßig die Gemeinschaft mit einer Frau und den gemeinsamen Kindern 9 8 . In der rechtlichen Erfassung dieser Gemeinschaft hat sich bereits durch das ALR etwas Grundlegendes geändert. In früheren Zeiten interessierte den Staat vor allem die Unterhaltsgewährung des Erzeugers an seine Kinder. Die neuen Ideale der bürgerlichen Familie, die die Erziehung und das Kind entdeckt, werden jetzt über dieses elementare staatliche Interesse hinaus auch vom Gesetzgeber geregelt. Ihre Fortführung finden die Regelungen des ALR über die Verweigerung der Geschlechtsgemeinschaft während der Stillzeit in modernen Vorschriften, wie § 1618 a und § 1626 BGB. Mit diesen Vorschriften w i r d versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Die Intimität und die Gefühle, die die einzelnen füreinander entwickeln, dürfen nicht staatlicher Regelung zugänglich sein, geschweige denn staatlicher Überprüfung - es sei denn, es handelt sich um Ausschreitungen. Wenn das Recht sich in die Alltagsmodalitäten und die Gefühle der einzelnen Familienmitglieder füreinander einmischt, indem es hier einen Verhaltenscodex aufstellt, der rein tatsächlich kaum überprüfbar ist und nur bruchstückhaft und deshalb unter Verstoß gegen Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit vor dem einzelnen Gericht überprüft werden kann, dann hat sich der Staat dieser Intimität des einzelnen Menschen bemächtigt. 97 Eine Funktion, die in früheren Zeiten die Familie als statuszuweisende Institution übernommen hatte. 98 Vorher starben Frauen und Männer zu früh, als daß regelmäßig vom Zusammenleben von Vater, Mutter und den gemeinsamen Kindern ausgegangen werden konnte.

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Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Ob die Familie dann die für unseren Staat wichtige Funktion des Refugiums des einzelnen in einer nichtstaatlichen Gemeinschaft auf Dauer noch zu erfüllen mag, kann hier nicht beantwortet werden. Auf der anderen Seite muß gefragt werden, wieso sich eine Personengemeinschaft, die durch die Publizität der Eheschließung staatlich bekundete Verantwortung füreinander und für die Kinder übernommen hat, weitgehende Eingriffe in ihr Innenleben gefallen lassen muß. Das Institut der ehelichen Familie verliert an Schutzfunktion für den einzelnen, wenn auch in Zukunft eheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern, nach Art des Zusammenlebens, Art der Sorgerechtsausübung, Pflege der Kinder usw. überprüft werden. Dann jedenfalls geht dem Individuum, das gesetzlich zu erhöhten Einschränkungen seiner Individualität in der Gemeinschaft verpflichtet ist, ohne Inrechnungstellung seiner verantworteten Freiheit ein Intimitätsraum verloren. Hier wurde optimistisch das Wort „verloren" verwendet; es kann aber nicht übersehen werden, daß eine solche Interpretation der ehelichen Familie als Eingriffschranke, als Freiheit vor dem Recht, bisher in der Rechtssprechung und auch in der Literatur nicht ausdrücklich genug betont wurde. Auch Ausführungen, die Art. 6 Abs. 1 GG als Menschenrecht qualifizieren wehren sich nicht gegen staatliche Regelungen des innerfamiliären Raums. Diese sind eben nur dann zulässig und möglich, soweit sie für die Einzelinteressen einzelner Familienmitglieder essentiell sind wie ζ. B. für die Gleichberechtigung der Frau, bei der es sich aber um eine Gleichberechtigung von Menschen handeln müßte. Mit den vorstehenden Ausführungen wurde also das „Gegen" der Familie gegenüber dem Staat erläutert. Deutlich sollte auch werden, daß dieses „Gegen" auch „Für" einen modernen Staat notwendig ist. Die Familie als besonders geschützter Gegner des Staates - „an meinen Feinden sollt Ihr mich erkennen"? Inwieweit die Familie eine Struktur ist, die in einen staatlichen Aufbau eingepaßt ist, wird den Ausführungen zur systemtheoretischen Analyse der Familie überlassen bleiben. Die bürgerliche Familie jedenfalls ist die erste, die sich in ihrer Literatur ausdrücklich zu bestimmten Idealen, die auch für uns heute noch prägend sind, bekennt. Die hier idealisierte Freiheit führt zu einer ideellen und nicht nur materiellen Qualität der Familie. Die Familie w i l l Erziehungs- und nicht nur bloße Versorgungsinstanz sein. Inwieweit Liebe und Fürsorge, Verständnis und Hilfsbereitschaft in eher ökonomisch bedingten Gemeinschaftsformen, wie im ganzen Haus, vorgeherrscht haben, bleibt uns für immer verschlossen. Wer aber die Freiheit eines Individuums theoretisch bejaht, der kann zumindest in Einzelfällen nicht ausschließen, daß auch hier ein Zusammenleben entsprechend einem modernen Familienverständnis verwirklicht wurde. Diese eher optimistischen Äußerungen müssen auch für die nun folgende Erörterung der proletarischen Familie gelten, obwohl hier die Ausgangsbedingungen

IV. Postindustrielle Familienformen

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für die Entwicklung von Gefühlen aus zeitlichen, räumlichen und persönlichen Gründen wohl sehr ungünstig waren. I V . Postindustrielle Familienformen 1. Die „proletarische" Familie

a) Der Begriff Bis 1850 dominierten im Bereich der gewerblichen Produktion noch Handwerk und Hausindustrie". Durch die industrielle Revolution 100 kam es zu Arbeitsformen, die folgende charakteristische Merkmale aufwiesen: Der Arbeiter war grundsätzlich besitzlos und dadurch zum ständigen Verkauf seiner Arbeitskraft gegen Lohn gezwungen. Er war zwar frei und unabhängig von ständischen und feudalen Beschränkungen, unterstand aber durch den Eintritt in den Betrieb den Anweisungsbefugnissen seiner Vorgesetzten. Arbeitsplatz, -art, -intensität, -methode, -zeit und -mittel wurden dem Arbeiter vorgeschrieben. Anfangs trug er ohne Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Krankheit auch das Konjunkturrisiko. b) Die ökonomische Basis und das Familienleben Um 1870 betrug die durchschnittliche Arbeitszeit noch 12 Stunden, um 1900 war bereits der 11-Stunden-Tag verbreitet 101 . Hinzu kommen mit einer verstärkten Urbanisierung der Bevölkerung entsprechende Wegzeiten, die durch die an sich lobenswerten Bestrebungen der Stadtplaner, Industrieland Wohngebiete zu entflechten, noch verlängert wurden. Zeit für die Familie blieb also wenig. Die Lohnverhältnisse müssen, w i l l man heutigen Untersuchungen glauben, für die vom Land in die Stadt strebenden Arbeiter katastrophal gewesen sein. Im 19. Jahrhundert waren die Arbeiter weitgehend sozial ungeschützt, erst gegen Ende des Jahrhunderts wird die Sozialversicherungspflicht eingeführt. Bis dahin konnten die Vertragsverhältnisse sehr leicht wegen Konjunkturschwankungen oder schlechter Wirtschaftslage gelöst werden 1 0 2 . Vor allem der große Anteil ungelernter Arbeiter war zwar auf der einen Seite sehr flexibel, da der Arbeitgeber oft gewechselt werden konnte, auf der anderen Seite boten solche Vertragsverhältnisse geringe 99

H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 383. Dieser Begriff beschreibt eher eine Zukunftsgesellschaft, nicht aber die der Gegenwart. Unsere Gegenwartsgesellschaft müßte als technologisch fundierte Dienstleistungsgesellschaft charakterisiert werden. 101 H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 388 m.w.N., die für 1840 sogar noch eine Wochenarbeitszeit von 90 Stunden annimmt. !02 Ebd., S. 391. 100

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

wirtschaftliche Sicherheit 103 . Ein Familienmitglied allein, in der Regel der Mann, konnte eine Familie nicht ernähren. Die Ehefrau mußte mitarbeiten. Bei niedrigen Frauenlöhnen kam es deshalb auch darauf an, wieviel Kinder in der Familie zu versorgen waren 1 0 4 . Diese materiellen Bedürfnisse finden ihre Entsprechung in der Entwicklung der weiblichen Erwerbstätigkeit. Ihre Zahl stieg zwischen 1895 und 1907 von 140 804 auf 278 387. Die nahezu lOOprozentige Zunahme wird durch einen regional außerordentlich schwankenden Anteil von verheirateten Arbeiterinnen relativiert 1 0 5 . Jedenfalls aber waren 1899 28,7% der Fabrikarbeiterinnen im Deutschen Reich verheiratet. Die Frauen taten dies aus wirtschaftlicher Not. Anders läßt sich auch der Anteil der weiblichen Erwerbstätigen je 1 000 der weiblichen Gesamtbevölkerung in verschiedenen Altersstufen - erfaßt 1882 - nicht erklären 106 . Anteil der weiblichen Erwerbstätigen je 1000 der weiblichen Gesamtbevölkerung in verschiedenen Altersstufen (1882) (ohne Dienstboten) unter 15 J. von 15 - 20 J. von 20 - 30 J. von 30 - 40 J. von 40 - 50 J. von 50 - 60 J. von 60 - 70 J. über 70 J.

17,9 451,9 319,8 185.0 219,7 258.1 227,1 132,6

Diese Situation hatte für das tägliche familiäre Zusammenleben sicher gravierende Folgen. Die Frau war in ihrer Stellung als Mutter, Haushaltshilfe und Arbeiterin vollkommen überlastet. Das Problem der Versorgung der Kinder in der Mittagszeit war sicher groß. Hieraus erklärt sich auch, daß wenn die Frauen aufgrund der vielen zu versorgenden Kinder nicht arbeiten konnten, in bis zu 1/5 der Arbeiterhaushalte Schlafgänger ein Quartier fanden 107 - 1 0 8 . Bei Schlafgängern handelte es sich um solche Personen, die nur zu den Schlafzeiten Zutritt zur Wohnung hatten, und ansonsten auf das Wirtshaus und andere Gemeinschaftseinrichtungen verwiesen waren. Die Bela103

Zu den Verdiensten der Arbeiter siehe ebd., S. 397 ff. Ebd., S. 402. los Ebd., S. 403. 106 Ebd., S. 404 m.w.N. 107 Ebd., S. 435, die für Arbeiterhaushalte noch höhere Anteile annimmt. 108 Beispielsweise hatten 1894 bei den Bergleuten des nördlichen Reviers 30 % Untermieter. 104

IV. Postindustrielle Familienformen

159

stung durch Schlafgänger für das familiäre Leben, für das „Refugium" von der lärmenden Arbeit in der Fabrik, kann erst dann richtig gewürdigt werden, wenn man die Wohnverhältnisse der damaligen Arbeiterfamilien miteinbezieht. Grundsätzlich waren die Wohnungen in den Großstädten und Industrieorten, die für Arbeiter erschwinglich waren, in schlechtem Zustand. Normalerweise bewohnte eine Arbeiterfamilie eine zugleich als Küche dienende Stube und eine kleine unheizbare Kammer, wenn mehr Raum vorhanden war, wurde er in der Regel vermietet 109 . In diesem heizbaren Raum mußte dann gegessen, gekocht, evtl. Schulaufgaben gemacht, Wäsche gewaschen und bei schlechtem Wetter getrocknet werden. Der unbeheizbare Raum diente zum Schlafen. Da die Arbeiterwohnungen im Durchschnitt sehr klein waren, dürften vorwiegend Schlafgänger und nicht Untermieter in der Familie mitgeschlafen haben. Die fehlende Nachtruhe und die sittliche Gefährdung der Kinder aufgrund des engen Zusammenschlafens so vieler Menschen wurde denn auch beklagt 1 1 0 . c) Die Zusammensetzung der Familie Wenn man auch davon ausgehen kann, daß die Arbeiterfamilie in der Regel eine Kernfamilie ist, so haben doch auch erweiterte Familien in dieser Schicht gelebt 111 . Dies war dann der Fall, wenn eine Familie es sich leisten konnte, daß die Mutter zur Versorgung des Haushaltes zu Hause blieb. Grundsätzlich waren aber die hohe Mobilität, die Arbeitern zum Teil abverlangt wurde, die Möglichkeit des Schlafgängertums und der Untermiete auf der einen und die Konflikte aufgrund des engen Zusammenlebens auf der anderen Seite für die erwachsenen Kinder Grund genug, möglichst bald der häuslichen Enge zu entfliehen. Das Heiratsalter sank denn auch, so daß in Chemnitz um 1900 schon 90 % der Arbeiter bis zum 30. Lebensjahr, 50 % bis zum 26. Lebensjahr verheiratet waren 1 1 2 . Interessant ist auch, daß Verwandtschaftsnetze, die statistisch, weil unabhängig von den Haushaltszählungen, sehr schwer erfaßbar sind, bestanden haben müssen. Beispielsweise waren in einem Industrieort 59,6 % der beaufsichtigten Kindern in der Obhut von Großeltern. Diese Aufsicht war notwendig geworden, da die Frau und Mutter für den Familienerwerb mitarbeiten mußte. Da für die proletarische Familie Neolokalität charakteristisch ist, bestimmt sich die Größe der Familie nach der Zahl der Kinder. Seit 1891 war im Deutschen Reich ein Rückgang der ehelichen Fruchtbarkeit zu ver109 H. Rosenbaum: Formen der Familie, S. 419. no Ebd., S. 421. m Ebd., S. 431. 112 Ebd., S. 430.

1 6 0 F .

Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

zeichnen 113 . Aufschlußreich nun, daß sich diese Entwicklung in der Arbeiterschaft verzörgert und ebenso ein Rückgang der hohen Säuglingssterblichkeit in der Arbeiterschaft nur unterproportional e r f o l g t e 1 1 4 1 1 5 . Eine Befragung von 1 000 Berliner Arbeiterfrauen in den Jahren 1905 bis 1907, die mindestens 10 Jahre verheiratet waren, ergab, daß bei mehr als 8 Konzeptionen pro Ehe die Quote der Abtreibungen plus Säuglingssterblichkeit über 50 % lag. Diese Zahlen deuten darauf hin, daß vor dem 1. Weltkrieg in breiten Teilen der großstädtischen Arbeiterschaft die Geburtenkontrolle nicht weit verbreitet war 1 1 6 . Diese Belastung der Frau und Mutter mit Geburten und Abtreibungen, neben der Arbeit in der Fabrik hatte für den materiellen und ideellen Lebensstandard der Familie ausschlaggebende Bedeutung. Es besteht nämlich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Familienarmut und Kinderzahl, und bei der einsetzenden größeren Verbreitung und Kenntnis der Geburtenkontrolle ist es besonders auffällig, daß unter den Arbeitern lediglich diejenigen mit festen Anstellungsverhältnissen und gewissen angelernten Kenntnissen diese auch anwendeten und deshalb mehr als ihre bloßen „proles", also Sprößlinge hatten. Der Zusammenhang zwischen Kinderreichtum und Existenzsorgen einer Familie wird durch eine Untersuchung von Haushalten, die in vier Typen unterteilt werden, deutlich. Typl Beruf

Zahl der geborenen Kinder

Typ I I

Zahl der Geboüberlerene benden Kinder

Typ I I I

Typ IV

Überlebende

Geborene

Überlebende

Geborene

Überlebende

Bergleute

3,25

2,42

6,13

4,35

5,89

4,13

6,62

4,69

Fabrikarbeiter

3,50

2,60

6,32

4,40

6,50

4,70

6,16

4,67

Zum Typ I gehören jene Haushalte, die normalerweise, ohne Luxus, aber auch ohne Entbehrungen leben können. Typ I I ist dadurch charakterisiert, daß nur mit äußerster Kraftanstrengung der Frau, auf Kosten von deren 113

Ebd., S. 433. 114 Ebd., S. 433. 115 Beispielsweise lag die Säuglingssterblichkeit im Berliner Arbeiterviertel Wedding 1890 bei über 30 %, in der wohlhabenderen Friedrichstadt bei weniger als der Hälfte, ebd., S. 433. 116 Ebd., S. 434, 449 ff, ein Artikel der Zeitschrift „Spiegel" (Heft Nr. 7 vom 9.2.1987, S. 44 f) erwähnt die Verbreitung von Kondomen aus Tiergedärm bereits Ende des 17. Jahrhunderts als Schutz vor Infektionen. Erst im 18. Jahrhundert war die Empfängnisverhütung Grund für die Benutzung von Kondomen, die mit der Erfindung des Gummis zur Massenware werden konnten.

IV. Postindustrielle Familienformen

161

Gesundheit, die Wohnung, Kleidung und Nahrung in den Grenzen des Herkömmlichen für die Familie beschafft werden können. Typ I I I bilden diejenigen Haushalte, wo die Frau zwar den festen Willen zur guten Hausfrau gehabt haben mag, deren Kraft aber durch die ungünstigen Lebensverhältnisse erschöpft war. Typ IV sind Haushalte, die der völligen Verwahrlosung anheim gefallen waren 1 1 7 . d) Die Situation des Kindes Man kann sich gut vorstellen, daß ab dem 3. oder 4. Kind, die Geburt eines Stammhalters nicht mehr freudig begrüßt wurde. Welchen Stamm soll das Kind denn eigentlich fortführen, wenn die Familie ökonomisch und ideell schon „unter der Erde" war. In der Gegenwart kann man nicht beurteilen, inwieweit das Zitat eines Arbeiters über seine Frau verallgemeinerungsfähig ist: „Wie oft klagte sie mir dann ihr Leid, das ihr durch den reichen Kindersegen verursacht worden sei. Mir schnitt es jedesmal tief ins Herz, wenn sie im Blatt las, daß der oder jener kinderarmen Familie wieder ein kleines Kind gestorben sei, und sie dann ausrief: „Nee, haben diese Leute Glück, haben die es schön, jetzt ist ihnen das Kind schon wieder gestorben, das wäre nun das Sechste, wenn sie bei denen noch alle lebten; die können alles mitmachen und unsereins ist geplagt, muß alles an die Kinder wenden und kann sich gar nichts bieten" 1 1 8 . Der Verlauf der Kindheit in der proletarischen Familie war denn auch alles andere als erfreulich. Zwar wurde in Deutschland relativ frühzeitig die Kinderarbeit gesetzlich abgeschafft, aber vor allem die Töchter wurden wohl sehr bald zur Haushaltsführung und Kinderbetreuung herangezogen. Nicht anders als in der bürgerlichen Familie wurde auch der Vater in der proletarischen Familie wenig in die Erziehungstätigkeit einbezogen. Dies war bei den langen Arbeits- und Wegzeiten wohl auch nicht anders möglich. Auch spiegelt sich das Dilemma eines Patriarchen, der von einem fremden Arbeitgeber sozial ungesichert abhängig ist, in den Familienverhältnissen vielleicht wieder. Die erwachsenen Söhne waren nämlich, sobald sie verdienten, die ökonomisch potenten Familienmitglieder im Vergleich zu den von Arbeit ausgelaugten Eltern. Die Söhne wandten dann wohl auch die gleichen ökonomischen Druckmittel auf die Eltern an, die auf sie während ihrer Kinderzeit angewandt worden waren. Dies führte wohl in vielen Familien zur Trennung und zum Auszug der erwachsenen Söhne. Wie problematisch die Versorgung der Kinder im Arbeiterhaushalt war, illustriert vielleicht ein Beispiel aus der gleichen Familie, aus der das erschütternde Zitat der Mutter stammt. Der Vater betonte, er teile mit den Kindern jeden Brok117

Ebd., S. 422 ff m.w.N. ne Ebd., S. 453.

11 Schmid

162

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

ken, bei ihnen sei es nicht üblich, daß die Leckerbissen erst gegessen würden, wenn die Kinder im Bett sind 1 1 9 . Gegenüber einer solchen autoritären häuslichen Erziehung bildete auch die Schule kein Gegengewicht, da es bei den schlechten Wohnverhältnissen auch kaum möglich war, irgendwelche Hausaufgaben zu machen. Zudem mußten die Kinder bereits vom 6. bis 8. Lebensjahr ihren Beitrag zum Lebensunterhalt leisten, indem sie ζ. B. Holz in den Wäldern aufsammelten und andere Hilfsdienste übernahmen. e) Zusammenfassung Die Wohnverhältnisse machten es unmöglich, wie in der bürgerlichen Familie eine Trennung von Erwerbsleben und Familie durchzuführen. Schlafgänger und Untermietertum 120 , eine generelle Überbelegung der Wohnungen und die mangelnde Zeit beider Eltern, sich um die Kinder zu kümmern, machten eine verinnerlichte Erziehung der Kinder unmöglich. Lediglich in den aufsteigenden Arbeiterschichten w i r d durch die Verbreitung von Geburtenkontrolle die Kinderzahl gesenkt. Langfristig setzte sich deshalb auch bei der Arbeiterfamilie ein ähnliches Familienideal wie in der Bürgerfamilie durch. Ein zentraler Unterschied zwischen bürgerlicher und proletarischer Familie bleibt aber, daß die bürgerliche Familie zur reinen Privatsphäre erklärt wurde, während die proletarische Familie einen solche Schutz ihres Personals nicht durchzusetzen vermochte. Von den beschriebenen Familienformen gleicht wohl am ehesten die bürgerliche Familie mit ihren Identifikationsvorstellungen der heutigen Familie. Von zentraler Bedeutung ist hier, daß es sich um eine - jenseits von der theoretischen Konstruktion - vergleichsweise junge Familienform handelt, die mit dem ganzen „Haus" oder der römischen familia wenig gemein hat. Auch dieses neue bürgerliche Familienbild ist aber sowohl durch die WRV als auch durch das GG in einem entscheidenden, innerfamiliären Bereich einem Wandel unterworfen: Nämlich in Bezug auf die Stellung der Frau und Mutter. Eine „Maßnahme" der heutigen Familie an der bürgerlichen Familie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts würde zwar entscheidende Wandlungen in der Praxis der Kindererziehung und -pflege zu Tage bringen, eine „Maßnahme" am theoretischen Konstrukt einer bürgerlichen Familie würde indessen für eine weitgehende Kongruenz beider Familien sprechen. Familienideale, wie Verständnis, Autorität und Liebe zwischen den Familienmitgliedern sind immer noch die Zielvorstellungen auch der heutigen Familie. Inwieweit die Familie des beginnenden 20. Jahrhunderts "β Ebd., S. 460 m.w.N. 120 In mehreren Wechselschichten.

IV. Postindustrielle Familienformen

163

auf dem Weg zur Erreichung dieser fortbestehenden Ideale weiter fortgeschritten ist, welche Veränderungen sich seit 1949 ergeben haben, soll im nächsten Abschnitt behandelt werden. 2. Famiiiale Veränderungen seit 1949

a) Die Wohnverhältnisse Zusammengefaßt werden sollen hier die Ergebnisse einer Untersuchung, die sich mit 1950 („1950er"), 1970 („1970er") und 1980 („1980er") geschlossenen Ehen auseinandersetzt. Die ökonomischen und politischen Gegebenheiten sind hier zum Teil sehr unterschiedlich: 1950 beginnt die Phase der Reorganisation des Arbeitsmarktes, die Arbeitslosenquote ist noch hoch, der Wohnungsmangel sehr groß. 1970 vermag die Nachkriegsgeneration bereits auf einem relativen Wohlstand aufzubauen. Allerdings sind die Studentenunruhen in frischer Erinnerung, die Ehe und Familie durch die Praktizierimg neuer Wohnformen (Kommunen) abzulösen versuchten. 1980 haben sich die materiellen Voraussetzungen - sowohl in Bezug auf das Wohnungsangebot als auch die Ausbildungschancen - noch weiter verbessert 121 . Vergleicht man die Wohnverhältnisse nach der Eheschließung von 1950 und 1980 geschlossenen Ehen, dann ergibt sich ein signifikanter Unterschied zwischen den 1950 und 1980 geschlossenen Ehen. Von den 1950ern wohnten noch 47,8 % der befragten Ehepaare im Haushalt der Eltern oder anderer Verwandter mit, bei den 1980ern waren es nur noch 3,3 %. Als Gründe für das Wohnen im Haushalt der Eltern gaben nahezu 90 % der 1950er den allgemeinen Wohnungsmangel an, während bei den 1980ern 60 % der bei den Eltern Lebenden die finanzielle Situation erwähnten 122 . Auch der wohnungsrechtliche Status nach Ehebeginn differiert zwischen 1950 und 1980 sehr: Während 31,8 % der jungen Eheleute 1950 zur Untermiete lebten, sind es 1980 nur 2,2 %. Umgekehrt stieg der Anteil der Hauseigentümer bei der Eheschließung von 8,7 % 1950 auf 11,3 % 1980. Von besonderem Interesse sind die Art der Zimmer, die nach Ehebeginn für das junge Ehepaar zur Verfügung standen. Hier sind bereits bei der Eheschließung 1980 wesentlich günstigere Bedingungen für ein Kind vorhanden. Hatten nur 10 % 1950 ein Kinderzimmer, nur 38 % ein Wohnzimmer 121 Siehe zum folgenden R. Nave-Herz: Familiäre Veränderungen seit 1950 - eine empirische Studie, S. 105 ff und Deutscher Akademischer Austauschdienst: Materialien zur Landeskunde Heft 4,1980, Robert Picht (Hrsg.): Die deutsche Familie: Wandlungsprozesse seit den fünfziger Jahren zwischen Patriarchat und Partnerschaft, S. 15 ff. * 2 2 R. Nave-Herz: ebd., S. 110 ff.

11*

1 6 4 F .

Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

zur Verfügung, so verfügten 1980 100 % der befragten Ehepaare über ein Wohnzimmer und 63 % über ein Kinderzimmer 123 . Die Arbeitsorganisation innerhalb der Familie wurde natürlich durch einen höheren Lebensstandard, der sich in gravierenden Unterschieden der Besitzverhältnisse von Haushaltsgeräten zwischen 1950 und 1980 bei Staubsaugern, Kühlschränken, Waschmaschinen, Bügelmaschinen usw. ausdrückt, sehr beeinflußt. Die neolokal wohnende Kernfamilie verfügt gleich zu Beginn der Ehe 1980 bei 76 % der Befragten über ein Telefon, während dies 1950 nur bei 2 % der Fall war 1 2 4 . Der Kontakt mit den Eltern war bei den 1980ern durch solche Kommunikationsmittel erleichtert. b) Die Eheschließung als Resultat des Kinderwunsches Bei den Eheschließungsjahrgängen von 1950 und 1980 offenbart sich ein unterschiedliches Verhältnis zum Kind. Wenn 1950 das Kind der Grund für die Eheschließung war, neigte man dazu dies zu verschweigen. Umgekehrt wurde 1980 der Kindeswunsch sogar als Rechtfertigung der Eheschließung erwähnt 1 2 5 . Statistisch läßt sich diese veränderte Beziehung beider Partner zum Kind nicht direkt ausmachen: Zwar nannten 42 % der Befragten der 1950er die Schwangerschaft als einen Grund für die Eheschließung, gegenüber nur noch 34,8 % bei den 1980ern. Nahezu ein gleich hoher Prozentsatz, nämlich 18,8 % 1950 und 20,2 % 1980 nennt aber den Kinderwunsch als Grund für die Eheschließung 126 . Befragt man beide Eheschließungsjahrgänge bezüglich ihrer Erwartung zum Kind, so gibt es qualitative Unterschiede - jedenfalls nach dem äußerlich vermittelten Eindruck. Auffallend sind zum einen die unterschiedlichen Erzähllängen über Schwangerschaft und Geburt. Die Hälfte der Interviewten des Eheschließungsjahrgangs 1950 ging fast überhaupt nicht auf die Schwangerschaft oder auf die erste Geburt ein, beziehungsweise erwähnten diesen Tatbestand höchstens mit einem Satz wie: „Das war problemlos" 127 . Demgegenüber machte bei den Eheschließungsjahrgängen 1980 die Erzählfrequenz über Schwangerschaft und Geburt mindestens V2 bis 1V2 Schreibmaschinenseiten aus. Bedeutsam ist auch, daß nahezu alle werdenden Väter des Eheschließungsjahrgangs 1980 ihre Frauen bereits während der Schwangerschaft zu den Vorsorgeuntersuchungen begleiteten und an vorbereitenden Kursen teilnahmen. Zwar kann aus der Beteiligung oder Vorbereitung an der Geburt nicht unmittelbar auf eine entsprechende Gefühlsintensität der Väter geschlos123 124 125 126 127

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

111. 113. 119 ff. 121 ff. 129 ff.

IV. Postindustrielle Familienformen

165

sen werden 128 . Dieser Anteil, den Väter an der Schwangerschaft der Frau und an der Geburt haben, bewirkt aber eine gewisse Veränderung in der inneren Struktur im ersten Familienzyklus. Die Ausbildung eines MutterKind-Subsystems wird verschoben, wenn der Vater nicht mehr nur Beobachter, sondern am Erfahrungsprozeß von Schwangerschaft und Geburt miteinbezogen w i r d 1 2 9 . c) Von der Institution „Familie" zu den Teilbeziehungen zwischen Mann, Frau, Kind und Großeltern Dieser Titel eines Aufsatzes 130 zieht aus der oben geschilderten unterschiedlichen Einstellung beider Ehepartner zu Ehe, Familie und zum Kind das Resümee. Nicht mehr die Solidargemeinschaft der Ehe sei für die heute Eheschließenden interessant, sondern vor allem die Absicherung des Kindes und der Kindeswunsch. Aus dem Blickpunkt der Lebensqualitätsforschung existieren Untersuchungsergebnisse, die als Faktoren für das innereheliche Glück zwei voneinander trennbare Bereiche ausmachen. Zum einen der Partnerbeziehungsfaktor, d. h. Wärme und Zuneigung in der Beziehung der Ehegatten. Davon unabhängig existiert die dem jeweiligen Partner vorbehaltene Freude mit dem K i n d 1 3 1 . Die Rahmenbedingungen für ein so verändertes Vater-Kind-Verhältnis verbesserten sich seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich. Durch die Trennung von Familie und Arbeit und die Schaffung eines Idealbildes der bürgerlichen Familie wurden die ersten Schritte auf diesem Weg begangen. Die zweite entscheidende, und relativ neue Entwicklung, ist der Aufbau des modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaates. Bei immer geringeren Pflichtarbeitszeiten bleibt dem Vater mehr Zeit für die Familie. Ob er sie ausnützt oder ausnützen will, ist sicher eine individuelle Entscheidung und vielleicht auch schichtenmäßig unterschiedlich zu beurteilen. Generell kann aber vielleicht gelten: „ M i t wachsendem Lebensstandard verschieben sich die Ansprüche an Partnerschaft und Familie aus dem ökonomischen in den emotionalen Bereich" 1 3 2 . Dieses emotionale Anspruchsdenken und Erfüllungsverlangen erstreckt sich aber nicht nur auf die erwachsenen Mitglieder der Familie, sondern auch auf die Kinder.

128

Hierzu m.w.N.ebd., S. 132 ff. R. Nave-Herz: Familiale Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950, ZfS 1984, S. 45 (60). 130 W. Schulz: Von der Institution „Familie" zu den Teilbeziehungen zwischen Mann, Frau und Kind, Soziale Welt 1983, S. 401. 131 W. Schulz: ebd., S. 415 f. 132 w . Habermehl/W. Schulz: Ehe und Familie in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland - ein Ländervergleich, KZfSS 1982, S. 732 (744). 129

166

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

aa) Die Situation des erziehungsbedürftigen Kindes Die Situation eines Kindes wird durch seine Eltern und seine Familie bestimmt. Das Kind barg bestimmt schon Jahrtausende die Möglichkeit auch der Selbstverwirklichung für die Eltern in sich (die Postexistenz), das Bewußtsein dieser Verpflichtung und dieser Freude ist aber wahrscheinlich eine neuere Entwicklung. Die Pädagogisierung und Psychologisierung der elterlichen Erziehung ist eine Entwicklung, die im späten 18. Jahrhundert einsetzt. Auffallenderweise genau zu der Zeit, in der der Begriff „Familie" im deutschen Sprachraum beherrschend wird und das „Haus" verdrängt. Die Erscheinungsformen dieser familialen Arbeit 1 3 3 - der Erziehung - läßt sich genausowenig auf eine Form zurückführen, wie die Familie selbst. Ein wechselseitiger Zusammenhang von familialer Arbeit und Familienformen muß angenommen werden. „Die" Arbeit, die Kinder machen, gab es und gibt es nicht. Zu unterschiedlich wird von reichen, armen, ländlichen und städtischen Familien, „die" Arbeit am Kind geleistet. Anhand eines idealtypischen Tagesablaufs lassen sich all jene Dimensionen von Arbeit darstellen und wiederfinden, die Familie leistet: - Die Kinder werden materiell versorgt. - Die Kinder werden auch psychisch versorgt, ζ. B. dadurch, daß die Mutter den Kindern geduldig zuhört, was sich in der Schule ereignet hat oder der Vater mit den Kindern spielt. - Schließlich gibt es auch eine herstellende Dimension der Alltagsarbeit mit Kindern, ζ. B. wenn die Mutter für die Kinder einen Pullover strickt oder die Einrichtung für das Kinderzimmer vom Vater in Eigenarbeit hergestellt w i r d 1 3 4 . - Eine besondere Qualität der Vermittlungsarbeit von altersspezifischen Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes ist die sog. passive Bereitschaft· und Erwartungshaltung. „Jeder weiß, daß es nicht genügt, einem Kleinkind beispielsweise einmal zu erklären, daß es auf der Straße nicht auf die Fahrbahn laufen darf. Die eigentlich vermittelnde Arbeit besteht weniger in der Erklärung, als gerade darin, das K i n d immer im Auge zu behalten und rechtzeitig einzugreifen - oder eben auch n i c h t " 1 3 5 . Diese Art der Erziehungstätigkeit hat singulären Rang: Sie ist nämlich eine Konstitutante - neben der Unterhaltspflicht - des rechtlichen Familienlebens. Ob im römischen oder im germanischen Rechtskreis: Die Vernach133 Definiert als alles das, was Eltern für ihre Kinder tun, bis aus einem Neugeborenen ein selbständiger Jugendlicher wird; siehe zum folgenden: M. S. Rerrich: Veränderte Elternschaft, Soziale Welt 1983, S. 420 (421). 134 Beispiel nach M. Rerrich: ebd., S. 423. «s Ebd., S. 424.

IV. Postindustrielle Familienformen

167

lässigung der Aufsichtspflicht der Eltern wurde durch die Schadensersatzverpflichtung (heute: § 832 BGB) sanktioniert. Diese Koordinaten einer Arbeit mit Kindern sind deshalb bedeutsam, weil bei ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz, gewisse Erwartungshaltungen an die Eltern herangetragen werden. Die stärkere Betonung des Kindes, die Entdeckung des Kindes und seiner Grundrechte, die ihr Spiegelbild in dem Kampf um die Kindesgrundrechte in der Verfassung findet, beeinflußt die Vater-Kind-Beziehung. Mit der Entdeckung des Kindes geht auch eine Entdeckung der Frau als bildungsfähigem Individuum einher. Noch Mitte der 50er Jahre war das Verhältnis von Mädchen mit Volksschulbildung zu Mädchen mit höherer Schulausbildung nicht besser als 10 : 1; inzwischen verlassen mehr Mädchen die Schule mit dem Abschlußzeugnis der Realschule oder des Gymnasiums als mit Hauptschulabschluß 136 . Das gestiegene Bildungsniveau der Frauen und die erhöhten Erziehungsansprüche des Kindes stehen für viele Frauen in untrennbaren Zusammenhang und unvereinbarem Gegensatz. Dieser Gegensatz, nämlich die vorprogrammierte Überlastung der Frau und Mutter birgt eine Chance für den Vater in sich. Er wird als Hausmann vielleicht gebraucht oder er kann den Erziehungsurlaub anstelle seiner Frau nehmen. Der Frau, der neue Tätigkeits- und Verwirklichungsbereiche erschlossen worden sind, ist es möglich, ihren Mann in diese typisch weiblichen Zonen vorzulassen. Familie ist eine Freude, die auch vom Vater erarbeitet werden muß. Nicht nur der Vater und Mann wird jetzt aber bei der Kindererziehung gewünscht oder gebraucht, sondern vielleicht auch Großeltern und andere Verwandte. bb) Die Mehr-Generationen-Familie Wenn schon in der Familiengeschichte des 19. Jahrhunderts drei Generationen unter einem Dach und in einem Haushalt eine keineswegs dominante Lebensform darstellten, so verstärken neuere Untersuchungen diesen Eindruck für das ausklingende 20. Jahrhundert. 1982 setzten sich die Privathaushalte in der Bundesrepublik Deutschland zu 68,7 % aus Mehrpersonenhaushalten und zu 31,3 % aus Einpersonenhaushalten zusammen 137 . Bei den 68,7 % Mehrpersonenhaushalten sind 66 % Generationenhaushalte enthalten und 2,8 % Haushalte, die nicht geradlinig oder nicht miteinander verwandte Personen beherbergen. Von den 66 % der Generationen136 Ebd., S. 440. 1 37 Quelle: Vierter Familienbericht, S. 38.

168

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

haushalte entfallen 43,6 % auf Familien und 22,4 % auf Ehepaare. Von diesen 43,6 % sind 34,5 % Ehepaare mit ledigen Kindern, 6 % der Haushalte Alleinstehende mit ledigen Kindern und insgesamt 3,1 % der Haushalte beherbergen drei und mehr Generationen. 68,7

31,3

Mehrpersonenhaushalte

Einpersonenhaushalte

3,1 % der erfaßten Haushalte entsprechen also nur der Drei- oder MehrGenerationen-Familie bzw. können sich vielleicht zu einer solchen Familienform entwickeln (da hierzu auch Alleinstehende mit Kindern oder nur Ehepaare zählen). Ein Zwischenergebnis müßte also lauten: Stellt man auf die Haushaltsgemeinschaft von drei oder mehr Generationen ab, so sind diejenigen Haushalte, die so viele Generationen beherbergen eine verschwindende Minderheit. Es verblüfft deshalb, wenn Autoren, die unter Berufung auf einen vermeintlichen Wandel von Ehe und Familie die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern in Art. 6 Abs. 1 GG schützen wollen, diesem „Wandel" bezüglich der erweiterten Familienformen vollkommen undifferenziert gegenüberstehen und die „Großfamilie" in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sehen wollen 1 3 8 . Hinter dieser Auffassung könnte aber das richtige Gefühl für tatsächliche Lebenszusammenhänge in der Familie stehen. Zwar ist die heutige Kernfamilie neolokal, d. h. die verheirateten Kinder ziehen ihre Kinder im eigenen Haushalt, und nicht mit den Großeltern auf. Schwer erfaßbar ist aber das Netz, das diese junge Kernfamilie umspannt, beschützt und auf das sie sich 138 Heinhard Steiger: Gutachten zur Staatsrechtslehrertagung 1986, (Manuskript), S. 23, der die erweiterte Familie in Art. 6 Abs. 1 GG sowie die nichteheliche Familie schützen will.

IV. Postindustrielle Familienformen

169

bei Notlagen verlassen kann. Für dieses System der erweiterten Familie gibt es drei Koordinaten: - Die Umweltoffenheit gegenüber Nichtverwandten und Freunden. - Die Anzahl der Kontakte mit Verwandten. - Die Hilfeleistungen, die von Verwandten und vor allem von in der Nähe der Kernfamilie lebenden Großeltern für sie erbracht werden. cc) Die familiale Umweltoffenheit der Kernfamilie Typisch für die bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts war, daß sie zwar Kontakte zu den Verwandten pflegte, umgekehrt aber der „Hausfreund" als einziger in die Intimität der Kernfamilie vorgelassen wurde. Vergleicht man die EheschließungsJahrgänge von 1950 bis 1980 so ergibt sich hier ein signifikanter Unterschied: Während bei den 1950ern eine wöchentliche Kontaktaufnahme mit den Eltern lediglich bei 24,1 % der Befragten stattfand, steigerte sich diese Zahl 1980 auf 50 % der Ehepaare 139 . Die Größe des gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreises bei Ehebeginn ist ein weiteres Indiz für diese Annahme. So kannten 64,7 % derjenigen, die 1950 die Ehe schlossen, weniger als 10 Personen gemeinsam. Bei den Eheschließenden des Jahres 1980 waren es bereits nur noch 28,4 % 1 4 0 , die über einen so kleinen gemeinsamen Bekanntenkreis verfügten. Das Resümee, das aus diesen Zahlen zu ziehen ist, überrascht. Die ideellen Erwartungen, die an Ehe und Familie gestellt werden, stiegen wohl seit 1950. Das Kind wurde zu einem Erlebnis für beide Partner, zumal seit der Einführung der Pille die Entscheidung zum Kind auf technisch einfache Weise eine bewußte sein konnte. Diese Familienzentrierung führt nun nicht etwa zu einer Rückbesinnung auf Verwandtschaftszusammenhänge, sondern sie macht anspruchsvoller. Die Freunde und Bekannten, die selbst ausgesucht und nicht qua natura verordnet werden, bestimmen einen Großteil der ehelichen und familiären Umweltoffenheit. Umsomehr erstaunt es, wenn sich dieses Verhalten nach dem ersten Kind verändert. So geben beispielsweise 21 % des 1950er Eheschließungsjahrgangs an, daß sie einen intensiveren Kontakt zu den Eltern der Frau nach der Geburt des ersten Kindes haben, 25 % geben an, einen intensiveren Kontakt zu den Eltern des Mannes und 54 % bzw. 23 % sprechen von Veränderungen im Tagesrhythmus und einer gestiegenen Mithilfe des Mannes. Für den Eheschließungsjahrgang 1980 geben 33 % einen intensiveren Kontakt zu den Eltern der Frau, 78 % eine Veränderung im Tagesrhythmus und 59 % 139 R. Nave-Herz: Familiäre Veränderungen seit 1950 - eine empirische Studie, S. 136. 140 Ebd., S. 137.

170

F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

eine gestiegende Mithilfe des Mannes an. Auch das „weniger Ausgehen als Paar" erwähnen 57 % der 1950er, aber 83 % der 1980er Jahrgänge 141 - 142 . Die Bedeutung der Verwandten in der großstädtischen Familie und ihr Bezug zur familialen Umweltoffenheit soll hierzu überprüft werden. dd) Die Bedeutung der Verwandten für die Kernfamilie 50 % der Frauen des Eheschließungsjahrgangs 1950 und 51,3 % der Männer sind der Meinung, daß Verwandten- und Bekanntenkreise gleich wichtig seien. Bei den 1980ern glauben demgegenüber bereits 48,3 % der Frauen und 54,2 % der Männer, daß der Freundeskreis für sie wichtiger sei 1 4 3 . Diese Zahlen könnten dahingehend interpretierbar sein, daß umso mehr Erwartungen an die Familie gehegt werden, solche außerfamiliären Kontakte entweder Ventil für familiäre Störungen oder Anzeichen dafür sind, daß die generationale Familie bestimmte Erwartungen ihrer Mitglieder nicht erfüllt 1 4 4 . Eine Untersuchung der Bedeutung von Verwandten für die großstädtische Familie kommt gegenüber dieser These zu differenzierten Ergebnissen. Es zeigte sich nämlich, daß die Drei-Generationen-Familie vielleicht keine Lebens- oder Haushaltgemeinschaft mehr ist, daß aber die Kernfamilien sehr großen Wert darauf legen, daß die Großeltern in „erreichbarer Nähe" wohnen 1 4 5 . Zunächst ist zwischen den Beziehungen zu Verwandten des Ehemannes und der Ehefrau zu unterscheiden. Bei letzteren ist die Verbindung traditionell stärker; vielleicht drückt sich dies auch in der rechtlichen Gestaltung aus, nach der Verwandten der Frau schon immer für nichteheliche Kinder aufkommen mußten. Auch die Anbindung der Frau an das Haus führte zu dem traditionellen Rollenbild: Die Frau lebt vorwiegend in der Verwandt141

Ebd., S. 148. Damit korrespondiert auch eine unterschiedliche Einschätzung der subjektiven Belastung durch die Familie. Lediglich 44,9 % der 1950er gegenüber 69,7 % des 1980er Jahrgangs geben an, daß im Rückblick Familie für sie eine Belastung gewesen sei. Zwar könnte man sagen, daß bei den früheren Eheschließungsjahrgängen die Erinnerung lediglich verklärt ist. Dennoch: Der Unterschied bleibt signifikant. Dies ist vielleicht nicht einmal so erstaunlich. Je mehr wir von der Familie verlangen und erwarten, desto früher wird das Eingeständnis der Belastung erfolgen. Deshalb ist auch fraglich, ob steigende Ehescheidungsziffern nicht vielleicht in Wirklichkeit auf das richtige Verständnis von der Ehe schließen lassen. Wie hoch und verinnerlicht muß ein Ideal der Ehe sein, daß so viele Leute bereit sind, einzugestehen, daß sie dieses nicht erreicht haben. Welcher Prädestinationsglaube muß das Individuum motivieren, um erneut auf die Suche nach dem vom Leben vorbestimmten Partner zu gehen? 143 R. Nave-Herz: Familiäre Veränderungen seit 1950 - eine empirische Studie, S. 167. 144 R. Nave-Herz: Familiäre Veränderungen seit 1950 - eine empirische Studie, S. 174. 145 e pfeil/J. Ganzert: Die Bedeutung der Verwandten für die großstädtische Familie, ZfS 1973, S. 366 (367). 142

IV. Postindustrielle Familienformen

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schaft, der Mann in einer Männergesellschaft mit Bekannten 146 . Eine weitere Untersuchung befaßte sich mit den familiären Kontakten von großstädtischen Kernfamilien. Die Befragten waren Mütter, deren Durchschnittsalter bei 35 Jahren lag 1 4 7 . Durchschnittlich gab es 2,5 Kinder pro Familie, bei denen das älteste 7 Jahre war 1 4 8 . Die Besuchshäufigkeit war dabei abhängig von zwei Variablen. Einmal vom Verwandtschaftsgrad und zum anderen von der Entfernung im Stadtraum und von der Wegdauer. Grundsätzlich galt: Je näher man miteinander verwandt ist, desto häufiger ist die Kommunikation. Je näher man wohnt, desto leichter kommt es zu wechselseitigen Besuchen. Die tragfähigsten verwandtschaftlichen Beziehungen scheinen zwischen den Müttern und ihren in der gleichen Stadt lebenden Müttern zu bestehen. So gaben 68 % derjenigen Befragten, die eine in derselben Stadt lebende Mutter hatten, an, daß sie sie innerhalb der letzten 7 Tage gesehen, 41 % am Tage oder Vortage der Befragung. Weiterhin bezeichnend ist, daß der Einfluß der Bekannten auf das familiäre Leben von der Schichtzugehörigkeit abhängt. Die Frauen der Oberschicht haben durch ihre längere Ausbildung in der Regel mehr Möglichkeiten gehabt Freundschaften zu erwerben. Und diese Freundschaften verdrängen in der Kontakthäufigkeit die Verwandten 149 . Nun kann man K r i t i k daran anmelden, ob die Häufigkeit des Zusammenseins oder des Verwandtschaftskontaktes tatsächlich ein Indiz für den Einfluß von Verwandten auf die Kernfamilie ist. Die Anzahl der Kontakte sagt hier nämlich nichts darüber aus, ob die Verwandten nicht, „wenn es hart auf hart geht", doch diejenigen sind, auf die man sich verläßt. Wenn man die Kontakte qualitativ untersucht, dann stellt sich bezüglich der Ratsuche und Ratgabe bei Erziehungs- und Schulschwierigkeiten heraus, daß die Frauen mehr als doppelt so häufig den Rat verwandter Personen als den Rat von Freunden und Bekannten suchen 150 . Dies mag auch daher rühren, daß die Verwandten einer älteren Generation angehören und man von ihnen deshalb eher Autorität erwartet. An der hohen Kontakthäufigkeit und dem Interesse der Kernfamilie an den Eltern muß die These von der „isolierten Kernfamilie" zerbrechen. Dies zeigt sich ζ. B. auch darin, daß bei 88 % der aufgesuchten Familien die Kinder getauft worden waren und in fast all diesen Fällen die Taufpaten Verwandte - nur in 10 % Familienfremde - waren 1 5 1 . Dieser Eindruck, daß näm146

E. Pfeil/J. Ganzert: ebd., S. 368. Das Durchschnittsalter ihrer Ehemänner lag bei 39 Jahren. Die mittlere Ehedauer betrug 11 Jahre. 148 E. Pfeil/J. Ganzert: Die Bedeutung der Verwandten für die großstädtische Familie, ZfS 1973, S. 367 f. 149 Ebd., S. 375. 150 Ebd., S. 377. 151 Ebd., S. 379. 147

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

lieh die Zugehörigkeit zu einer Verwandtschaft auch die Kernfamilie entlastet - Bekannte müssen gesucht werden und können den einzelnen auch wieder verlassen - verstärkt sich, wenn man das Netz tatsächlicher Hilfeleistungen durch Eltern und Verwandte an die Kernfamilie näher durchleuchtet. ee) Die Hilfeleistungen der Verwandten für die Kernfamilie Ältere Menschen geben Geld oder größere Sachwerte an ihre Kinder oder Enkelkinder. 5 % der Haushaltsvorstände in der Bundesrepublik Deutschland erbringen regelmäßige Unterhaltsleistungen an ihre nicht mehr im Haushalt lebenden Kinder 1 5 2 . Die Hausarbeit wird ζ. T. auch von den Älteren für die Jüngeren übernommen und das Bild vom fußbodenlegenden Großvater, der an der Instandhaltung und Pflege von Wohnung, Haus und Garten beteiligt ist, trifft nach äußerst vagen Untersuchungen jedenfalls für jeden 10. Großvater zu 1 5 3 . Bei einer repräsentativen Umfrage unter verheirateten Frauen zu Beginn der 70er Jahre gab ein beträchtlicher Teil derer, die mit ihren Müttern bzw. Schwiegermüttern im selben Haushalt bzw. in deren Nähe wohnten an, daß diese für sie eine „große Hilfe" seien. In einer 1974 repräsentativ durchgeführten Untersuchung gaben etwa 10 % der befragten, erwerbstätigen Ehefrauen an, von ihrer Mutter oder Schwiegermutter ständig Hilfen im Haushalt zu erhalten. Die unter dem Gesichtspunkt der rechtlichen Erfassung der Familie aber bedeutendste Hilfestellung ist nicht die Tapezier- oder Putzhilfe, sondern die Betreuungs- und Erziehungsfunktion der Großeltern. Eine in BadenWürttemberg durchgeführte Zusatzerhebung zum Mikrozensus 1982 zeigt, daß im Allgemeinen die Großeltern - häufiger noch als die Väter - die wichtigste Betreuungsperson nach den Müttern sind 1 5 4 . Nahezu 5 % der Kinder unter 6 Jahren und rund 4 % der Kinder zwischen 6 bis unter 15 Jahren werden im elterlichen Haushalt überwiegend von den Großeltern betreut. Sind Kinder aus irgendwelchen Gründen außerhalb des elterlichen Haushalts zu betreuen, so wird dies bei den unter 3jährigen in mehr als der Hälfte der Fälle von den Großeltern besorgt. Vor allem bei Familien, in denen die Mütter erwerbstätig sind, ist die Betreuungsleistung der Großeltern besonders ausgeprägt. So werden rund 12 % der unter 6jährigen Kinder mit erwerbstätiger Mutter im elterlichen Haushalt von ihren Großeltern versorgt. Später, bei den Schulkindern im Alter zwischen 6 und unter 15 Jahren sind es wiederum rund 7 %. Die Hilfe für Alleinerziehende - für Rest- und für Halbfamilien - nimmt einen großen Platz im Leben vieler Großeltern ein. 152

Vierter Familienbericht: S. 84. iss Ebd., S. 84. 154 Ebd., S. 85.

IV. Postindustrielle Familienformen

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Auch wenn die Großmütter heute vielleicht nicht mehr miterziehen dürfen, weil selbstbewußte Mütter sie auf die Pflege und Betreuung ihrer Kinder verweisen, so stellt es schon eine begründungsbedürftige These dar, wenn behauptet wird, in Art. 6 Abs. 1 GG sei entweder nur die „Kleinfamilie" geschützt oder umgekehrt: die „Großfamilie". Allein der Familienbericht 155 kennt fünf Arten von Großeltern. Pauschal auch ζ. B. die „distanzierten Großeltern", die sich die Anrede als Großmutter, Oma oder Grandma usw. verbieten, weil sie ihr eigenes Leben nicht durch die Enkelkinder beeinträchtigen lassen wollen, in Art. 6 Abs. 1 GG zu schützen ist m. E. falsch. Wenn man Art. 6 Abs. 1 GG in Kontinuität zur langen Tradition des familiären Unterhaltsrechts sieht, dann spricht viel für die Annahme, daß die „isolierte Kernfamilie" nie dem Vorstellungsbild des Verfassungsgebers entsprochen hat. Da es aber auch viele Großeltern gibt traditionellerweise die väterlichen Großeltern von nichtehelichen Kindern, die sich nicht um die Enkel kümmern - kann auch bemühten Großeltern nicht die Vermutungswirkung der ehelichen Familie von vorneherein zugute kommen. Es ist im Einzelfall immer zu prüfen, inwieweit hier Kindeswohlbelange, entweder nach Art. 6 Abs. 5 GG oder nach Art. 6 Abs. 2 GG gewahrt werden. Die Großeltern, die anstelle eines nicht interessierten Elternteils die Funktionen einer Familie wahrnehmen, könnten im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG auch besonders geschützt werden. Aber eben nicht pauschal allein durch ihre Großelterneigenschaft oder nicht aufgrund eines Publizitätsakts, wie bei der ehelichen Familie, sondern nur so weit und so lange sie tatsächlich dem Kindeswohl dienen bzw. zu dienen bereit sind. d) Zusammenfassung Wenn ein Leitbild der modernen Familie entspricht, neben Singlehaushalten und alternativen Lebensgemeinschaften, die ca. 5 % der Gesamtbevölkerung ausmachen 156 , dann ist dies die modifizierte Familie. Wenn man statistische Zusammensetzung, Haushaltsgröße usw. vergleicht, dann mag diese erweiterte Familienform auch in den Kaufmannsfamilien oder in Handwerkerfamilien im 18. und in den Bürgerfamilien des 19. Jahrhunderts zu finden sein. Erscheint es aber nicht angesichts der beschriebenen, qualitativen Lebens- und Arbeitsverhältnisse gekünstelt von einer Kontinuität der heute intimisierten Familie gerade in Bezug auf das Vorhandensein dieser historischen Familienformen zu sprechen? Wenn man von einer solchen Kontinuität spricht, muß man sich über zweierlei im klaren sein: Zum Zeitpunkt der Schöpfung des Grundgesetzes herrschte ein Wohnraummangel, der nicht bloß die Form der modifizierten erweiterten Familie, iss Ebd., S. 87. iss Ebd., S. 40.

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F. Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

sondern eine regelrecht generationale Familie, die durch eine Haushaltsgemeinschaft gekennzeichnet ist, nahelegt. Selbst ein dezidierter soziologischer Verfechter eines Kernfamilienbegriffes muß zugeben, daß sein systemtheoretischer Ansatz, die Ausdifferenzierung der Kernfamilie, gerade für die Zeit nach Kriegsende nicht maßgebend sein kann 1 5 7 . Allein aufgrund des Wohnungsmangels waren viele Generationen gezwungen miteinander auf engstem Raum zu leben. Zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung war also keineswegs die Kernfamilie in Deutschland die dominante Familienform. Heute stellt sich dies weitgehend anders dar. Schon 18jährige können heute ausziehen und eigenen Wohnraum für sich beanspruchen. Wer dem Wandel Rechnung trägt, der müßte seine Aussage zumindest dahingehend differenzieren, daß lediglich Formen der modifizierten erweiterten Familie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sind und nicht pauschal die „Großfamilie". Es haben aufgrund des vorher Gesagten bedeutende familiale Veränderungen seit 1949 stattgefunden. Auch wenn anfänglich „Eliten" die Durchbrechung von Ehe und Familie durch alternative Wohngemeinschaften - die Kommune I und II, gegründet durch R. Dutschke und F. Teufel - probierten, so sind diesen Experimenten vor allem in Bezug auf die sog. Probeehe viele Menschen gefolgt. Auch neueste Untersuchungen zeigen, daß der Bruch mit solcher Freiheit und die wahre Probe mit dem gemeinsamen Kind kommt. Der Kindeswunsch und nicht das Kind als Hochzeitsgrund der Familie? Moderne juristische Autoren, die die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern pauschal als Familie schützen wollen, finden hierfür wohl keine Erklärung. Warum, wenn die Institution der Ehe das Individuum nur zur „Zahlvaterschaft" verknechtet, machen viele Paare, die ein Kind wollen, diesen Schritt in die Unfreiheit. Und wie groß ist der Idealismus dieser Paare, die sich auch wieder zu scheiden vermögen? Und dies unter Inkaufnahme empfindlichster materieller Nachteile? Alternative Wohngemeinschaften und nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern - und daran besteht aus psychiatrischer und psychologischer Hinsicht wohl wenig Zweifel - bieten große Chancen für die Erziehung eines Kindes und für sein Wohl 1 5 8 . Ein Kind, das in einer Familie aufwächst, in der die erwachsenen Mitglieder unter dem Druck der Institution der Lebenslänglichkeit der Ehe zugrunde gehen, mag größere Schäden davon tragen, als ein Kind in einer geschiedenen Ehe oder ein Kind, das nur mit Vater oder Mutter aufwächst 159 . 157 H. Tyrell: Diskussionsprotokoll zum Vortrag Tyrell in H. Pross: Familie wohin, S. 78 „ I n der Nachkriegszeit seien in der Tat Verwandtschaftsgruppen sehr wichtig gewesen. Auf diesen Zeitraum könne seine Theorie (die Ausdifferenzierung der Kernfamilie) nicht ohne weiteres angewendet werden". iss Wichtigstes Problem: Die personelle Fluktuation in Wohngemeinschaften, sowie die Inkonsistenz der Erziehungsziele. 159 K r i t i k hiergegen bei H. Hattenhauer: Das Recht des Kindes auf Familie, S. 21, R. Lempp: Die Rechtsstellung des Kindes aus geschiedener Ehe aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht, NJW 1972, S. 315.

V. Zusammenfassung: Familie i m sozialen Wandel?

175

Der Verfassungsgeber bzw. -interpret muß hier aber eine Entscheidung treffen, die, wie alle dezisionistischen Maßnahmen ein hohes Prognoserisiko in sich birgt. Weil aber weder bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern noch bei der Halbfamilie - bestehend aus Mutter und Kind ein egalisierendes Moment vorherrscht, weil w i r gerade diese vermeintlich natürlichen und rechtsfrei gewollten Lebensgemeinschaften nicht „über einen Kamm scheren können", deshalb bietet allein die eheliche Familie als Raster eine gewisse Chance für das Kindeswohl. Ein Verfassungsgeber, der sich für alle verantwortlich fühlt und nicht glaubt, daß - folgend der ökonomischen Theorie des Rechts - auf einem Heiratsmarkt die Privatautonomie der Geschlechter dermaßen bestimmt, daß die Frau eine vertraglich vereinbarte Unterhaltspflicht während ihrer Mutterschaft durchsetzen könnte, der muß die eheliche Familie als Raster schützen. Und neueste Untersuchungen scheinen dahingehend interpretierbar zu sein, daß nur Frauen, die über eigenes Einkommen und Bildung verfügen, sehr wohl fähig sind solche Ansprüche durchzusetzen bzw. auf sie zu verzichten 160 . Für alle anderen vielleicht auch in späteren Lebensphasen für die Erstgenannten - erscheint es aber legitim pauschal ein Raster zu schützen. Andere Lebensformen dürfen nur dann geschützt werden, wenn konkret überprüft wird, ob hier eheoder familienähnliche Aufgaben erfüllt werden. Der nichteheliche Vater, der sich um sein Kind (nicht) annimmt, kann nicht die gleichen Steuervorteile wie der eheliche Vater beanspruchen, da er nicht verpflichtet ist, die Mutter des Kindes zu unterhalten und an seinem Vermögenszuwachs - der vielleicht auf das Kind erbweise übergehen soll - und an seinem Leben beteiligen. Dies ist keine Frage eines Konkurrenzschutzes oder einer Ächtung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern, sondern eine Differenzierung anhand der gelebten Verantwortung. V. Zusammenfassung: Familie i m sozialen Wandel?

Bezugnehmend auf die drei Fragen, die am Beginn dieses Kapitels gestellt wurden, ist festzustellen: (1) Der „Familie" in Art. 6 Abs. 1 GG können sowohl Kernfamilien als auch erweiterte Familienformen zugrundeliegen. Die Familie gibt es weder in der Geschichte noch in der Gegenwart. (2) Zwar sind bereits Halbfamilienformen für das 17. und 18. Jahrhundert nachgewiesen; es handelt sich hier aber in der Regel um Einzelfälle oder um Familienorganisationen, die infolge von Notlagen entstanden sind. Die alleinerziehende Mutter oder der alleinerziehende Vater, welche ihr Kind ohne den anderen Elternpart lieben und aufziehen, sind Randerscheinungen in literarischen Kreisen (Mme. de Stael) oder der Oberschicht. 160 Andreas Dieckmann: Haben gebildete Frauen die Ehe nicht „nötig"?, Universität Hannover, „uni intern", 1986 11 (1).

1 7 6 F .

Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

Grundsätzlich existierten solche Halbfamilien jenseits der gesellschaftlichen Akzeptanz. (3) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern ist keine geschichtliche Erscheinungsform der Familie. Von Lebensgemeinschaften, die auf nicht formalisierten Eheschließungen beruhen, unterscheidet sie sich durch die Zuordnung der in dieser Beziehung geborenen Kinder und der Frau zum Partner der nichtehelichen Lebensgemeinschaft und nicht zum Vater der Frau. Weiter wird bei der heutigen nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein Recht des Mannes am Kind aus dem partnerschaftlichen Gedanken gefordert. Dies stellt eine vollkommene Abkehr von der bisherigen Zuordnung des nichtehelichen Kindes zur Mutter dar. Die Durchbrechung dieses Prinzips durch eine allgemeine Gleichberechtigung von Mann und Frau wird demgegenüber nicht dargetan. Wenn dieses Prinzip nur die Folge einer falsch verstandenen Ungleichheit der Frau wäre, dann hätte auch das BVerfG bei der Zuerkennung des Erziehungsrechtes des nichtehelichen Kindes lediglich an die Mutter nicht einen Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers annehmen dürfen. Art. 3 Abs. 2 GG, der eine Gleichberechtigung beider Partner vorschreibt („sind") stünde dem zwingend entgegen. Nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern und Halbfamilien auf der einen, erweiterte Familienformen mit gemeinsamen Haushalten auf der anderen Seite haben in ihrer Verbreitung seit Ende des zweiten Weltkriegs zu- bzw. abgenommen. Einen gewissen Indizwert für die Halbfamilie hat die Entwicklung der nichtehelichen Geburten, die von 20,8 % im Jahr 1940/41 auf 9,1 % im Jahre 1960 sank, und mit der Verbreitung der Pille sich bei 6,5 % 1965 einpendelte. Seitdem stieg bis zum Jahr 1983 die Zahl der nichtehelichen Geburten erneut auf 8,7 % 1 6 1 . Unter den so erfaßten 8,7 % müßten sich all diejenigen nichtehelichen Lebensgemeinschaften befinden, die ein gemeinsames Kind aufziehen. Ein gewisser Anstieg - eine Tendenz nach oben - ist bei diesen Lebensgemeinschaften (und Halbfamilien) ausmachbar. Bei den erweiterten Familienformen ist vielleicht aufgrund des heute vorhandenen, allgemeinen Wohnraumangebots ein Rückgang erkennbar. In der Soziologie spricht man bereits von der Nachbarschaftsfamilie, die durch das Wohnen in benachbarten Wohnungen oder Häusern charakterisiert w i r d 1 6 2 . In der aufsteigenden Tendenz nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern und alleinerziehenden Vätern und Müttern glaubt die juristische Literatur offenbar eine Abwendung von der traditionellen Ehe und Familie 161

Statistisches Jahrbuch 1984 für Bayern: S. 25. R. König in: Handbuch der Empirischen Sozialforschung, S.221, „Dann würden sich also Neolokalität und Zusammenhang der verschiedenen Generationen in nachbarschaftlicher Interaktion nicht ausschließen". 162

V. Zusammenfassung: Familie i m sozialen Wandel?

177

zu erkennen. Ähnlich den sonstigen verfassungsrechtlichen Vorschriften des Familienrechts, die ζ. T. ihrer Zeit weit voraus waren und sind - man denke nur an die Gleichheitsartikel des Art. 119 Abs. 1 S. 2 WRV und Art. 3 Abs. 2 GG - glaubt man in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern und der Halbfamilie die „Familie der Zukunft" schützen zu müssen. Dabei wird vorläufig von einem „Nebeneinander" des Schutzes der ehelichen und der sonstigen Lebensgemeinschaften mit Kindern ausgegangen. Es w i r d aber unterschlagen, daß ein Nebeneinander von ehelicher Familie und nichtehelicher Lebensgemeinschaft mit Kindern mit dem gleichen „besonderen Schutz" langfristig zu Lasten der ehelichen Familie gehen wird. Eine Art der Ersetzung der ehelichen Familie ist es nämlich, die nichteheliche Lebensgemeinschaft steuerlich u.s.w. genauso begünstigen zu wollen wie die eheliche Familie. Die staatlichen Zuwendungen an das Familienressort unterliegen einem Ressourcenprizip, das aufgrund der Begrenztheit der Mittel bei einem gleichmäßigen Nebeneinander zur Beschränkung von Mitteln für die eheliche Familie, die bereits durch erhöhte Unterhaltspflichten belastet ist, führen muß. Auch das Leben des schwächeren erwachsenen Partners der Lebensgemeinschaft wird durch die gleichzeitige Förderung rechtlich nicht abgesicherter Lebensgemeinschaften beeinflußt. Mit der besonderen verfassungsrechtlichen Akzeptanz der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern wird der Druck auf Frauen, die sich einer solchen Gemeinschaft verweigern, immer größer werden. Frauen waren Jahrtausende lang nicht fähig, den Schutz ihrer eigenen Person gegenüber dem Mann durchzusetzen. Ehen wurden anfänglich von den beiden Familiensippen geschlossen, noch früher wurde die Frau geraubt oder verkauft. Das christliche Ehe- und Familienbild erklärte wenigstens die Einwilligung der konkreten Frau für die Eheschließung erforderlich. Eine Herrin ihres Vermögens oder ihrer Kinder wurde die Frau erst im 20. Jahrhunderts durch die Gleichberechtigung auch in Bezug auf die elterliche Gewalt über die Kinder. Mit der Eheschließung wird die Frau vor einem Handel um ihre Rechte (am Kind) bewahrt. Auch die schwangere Frau - so der Mann sie heiratet kann sich vor staatlichen Gerichten auf das Erziehungsrecht über ihr Kind berufen. Allenfalls ein Zehntel der Eheschließungen ziehen güterrechtliche Verträge nach sich. Diejenigen Vertreter der Literatur, die die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG schützen wollen, fordern auch nicht gleichzeitig eine Abschaffung der §§ 1705, 1709 und 1711 BGB. Wäre die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern die Familie der Zukunft, dann wäre es doch unerträglich, dem Vater die Rechte über sein Kind zugunsten der Mutter zu versagen. Gerade die Tatsache, daß § 1705 und § 1711 BGB nicht in die Diskussion miteinbezogen werden, zeigt wie festverwurzelt auch bei den Vertretern der Literatur die oben genannten Interesseneinschätzung - der Schutz der Mutter in der Ehe - noch ist. Dann entfällt aber auch die Rechtfertigung dafür, die 12 Schmid

1 7 8 F .

Die Erscheinungsformen der Familie i n der Geschichte

nichteheliche Lebensgemeinschaft besonders schützen und damit fördern zu wollen. Vater und Mutter, die sich auf eine nichteheliche Lebensgemeinschaft einlassen, können grundsätzlich keinen besonderen Schutz im Sinne der Verfassung verlangen. Zu unterschiedlich ist die Stellung der zentralen Person in beiden Gemeinschaften, nämlich die der kinderbetreuenden Frau und Mutter. Auch gibt es bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern kein gemeinsames Kind. Das Kind zu bekommen und aufgrund der Betreuung und Erziehung, die es verdient, arbeitsunfähig zu sein, geht rechtlich und in vielen Fällen auch gesellschaftlich zu Lasten der Mutter. Wenn in diesem Zusammenhang immer von der Mutter gesprochen wird, dann bedeutet dies keine konservative Ablehnung einer vielleicht de facto anderen Verteilung der Rollen in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Auch wenn der die Kinder betreuende Hausmann in der konkreten nichtehelichen Lebensgemeinschaft schützenswerter als die Frau und Mutter ist, so muß sich diese Arbeit auf den wohl weit häufigeren Fall, nämlich den der kinderbetreuenden Mutter, beschränken. Wenn nichteheliche Lebensgemeinschaften Kinder haben und sich um diese Kinder tatsächlich entsprechend der Kindeswohlbindung des Art. 6 Abs. 2 GG kümmern, dann können sie einen gleichen Schutz wie andere Familien verlangen - aber nur in Bezug auf das Kind. Demjenigen Schutz, der vor allem und allein den erwachsenen Mitgliedern einer Familie zugute kommt, können sie nie in gleicher Weise verlangen wie die in der Ehe verbundenen Partner. Diese Thesen laufen der gegenwärtigen Regierungspolitik zuwider. Eine inzwischen leicht steigende Anzahl der Geburten verhindert ein „Aussterben" der Bevölkerung nicht. Als Mittel hiergegen wird die Verteilung von Erziehungsgeld und Leistungen auch an nicht verheiratete Väter und Mütter angesehen. Speziell beim Erziehungsgeld, das unmittelbar dem Kind zugute kommt, weil die Eltern zur Betreuung zu Hause bleiben können, erheben sich wohl keine verfassungrechtliche Bedenken. Soweit es aber um einen weitergehende, steuerliche Förderung der nichtehelichen Väter und Mütter geht, die dem Kind nicht unmittelbar zugute kommen, stellt sich die Frage, ob Art. 6 Abs. 1 GG einem solchen rein quantitativen Bevölkerungswachstum nicht entgegensteht. Jahrhundertelang hat man in Deutschland zum Teil auch bewußt - versucht, durch Heiratsverbote, Zunftzwänge und güterrechtliche Regelungen Ehen zu fördern, die sich und ihre Kinder unterhalten konnten. Diese vom Staat autonome Familie konnte ein eigenes Identitätsbewußtsein entwickeln. Einem solchem qualitativen Bemühen, das in negativster Weise durch die Heimindustrie durchbrochen wurde, setzt der heutige Sozialstaat die Unterstützung jeder Lebensform - auch der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, wenn sie unter Bedürftigen eingegangen wird - entgegen. Dies ist, wenn Kinder vorhanden sind - aus der ex-postPerspektive - auch sachgerecht.

V. Zusammenfassung: Familie i m sozialen Wandel?

179

Wenn es aber um die ex-ante-Perspektive geht, dann verdient die Lebensordnung, die für den weitaus größten Teil der Bevölkerung zur Lebensbewältigung dient, allein „besonderen Schutz". Auch wenn man glaubt, daß die Individualität bei Eheschließung und Familiengründung den Schutz jeglicher Familienform zufolge haben muß, dann ist die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern in ihrer Funktionsfähigkeit im Vergleich zur ehelichen Familie überschätzt. Allgemein wird die Liberalisierungstendenz, die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern erblickt wird, auch mit einem Funktionsverlust der Familie begründet. Betrachtet man aber die vorhergehenden Ausführungen zur Geschichte der Familie, dann wird deutlich, daß erst seit der Trennung von Arbeit und Familie eine intimisierte, moderne Familie entstehen konnte. Erst mit steigendem Wohlstand, vor allem nach dem zweiten Weltkrieg, war es einer Masse von Familien möglich aus der Herkunftsfamilie auszuziehen und einen eigenen, neuen Haushalt zu begründen. Dies sind neue Gegebenheiten, die mit einer Funktionsverlagerung bzw. richtiger gesagt einem Funktionsgewinn der Familie besser umschrieben werden. Man könnte sogar sagen, daß sich die Familie gerade durch die Anpassung an veränderte individuelle und gesamtgesellschaftliche Belange ohne Verlust ihrer Bedeutung und ihrer Substanz an die Gesamtgesellschaft angepaßt hat. Die Strukturprinzipien, Aufgaben, Funktionen und Einordnungsversuche der Familie in die Gesellschaft sollen im folgenden Kapitel aufgezeigt werden. Es hat die Familie als „System" zum Gegenstand.

12'

G. Der Aufbau eines Systems „Familie" I. Familie als System

Wenn in der Philosophie, in der Rechts- oder in der soziologischen Literatur die Familie abgehandelt wird, dann wird dies stets im Zusammenhang mit bestimmten Fragestellungen getan. Zu ihnen gehört das Verhältnis der Familie zum Staat. Inwieweit ist die Familie in den Staatsaufbau eingegliedert, welche Funktion übernimmt die Familie für den Staat, welche Aufgaben oder welchen Nutzen hat sie für die einzelnen Mitglieder? In der soziologischen Literatur hat sich hierzu ein Denkansatz entwickelt, der sich selbst als „Systemtheorie" begreift. Durch die Aneinanderreihung der beiden Substantive ist schon viel über den Inhalt dieses Versuchs gesagt. Es ist eine „Theorie", die sich wie alle Theorien, die sich mit der Familie beschäftigen, mit der Eigenwilligkeit und Individualität von Menschen, die einander lieben oder hassen, auseinanderzusetzen hat. Das „System" w i r d in zweifacher Hinsicht zum Zentrum dieser Theorie. Zum einen versucht man, die Entwicklung und Entstehung der Familie - also einen prozessualen Vorgang - zu erklären. Zum anderen w i l l man den Aufbau einer Gesellschaft modellhaft beschreiben - also ein Aufbaukonzept entwickeln. Die folgenden Ausführungen werden ihr Schwergewicht auf die zweite Komponente legen1»2. Hierzu existiert ein Konzept der gesellschaftlichen Differenzierung. Es versucht die Entwicklung der Familie aus dem Staat, der Kernfamilie aus der erweiterten, der Kleinfamilie aus der Großfamilie durch einen Vorgang, der mit „Ausdifferenzierung" betitelt wird, zu erklären.

1 Die Überprüfung des Werdegangs der Familie ist - auch angesichts der problematischen Datenlage und Erfassung - sehr schwierig und vielleicht auch nicht ergiebig. Obwohl die Überzeugungskraft eines Strukturmodells der Gesellschaft von ihrer geschichtlichen Rechtfertigung abhängt, so sollen doch die folgenden Ausführungen nicht zu einseitig und abschließend für unsere Gesellschaft erachtet werden. Die folgenden Ausführungen sind lediglich als Denkansatz gedacht, wie man die Familie in den Gesamtzusammenhang von Individuum, Familie und Staat einfügen kann. Im Folgenden soll die Untersuchung auf ein nationalgesellschaftliches Feld beschränkt werden (H. Tyrell: Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierimg, ZfS 1978, S. 187). 2 Dennoch beansprucht auch einen großen Teil dieses strukturellen Konzepts die Frage, wie es zur Ausbildung dieser Strukturen gekommen ist.

I. Familie als System

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Strukturelle Stadien der Familie in systemtheoretischer Betrachtungsweise sind - die Ausdifferenzierung der Verwandtschaft aus einem Gesamtsystem, ζ. B. einer Urhorde oder dem Staat; - die Ausdifferenzierung von Familien aus der Verwandtschaftsgruppe; - die Ausdifferenzierung von Kernfamilien aus erweiterten und Großfamilienformen; - die Ausdifferenzierung der Gattenfamilie aus der Kernfamilie bzw. die Beschreibung spezifischer Rollen und Rollenfunktionen innerhalb der Kernfamilie. Die Funktionsweise des Differenzierungskonzeptes soll anhand von zwei - sicherlich in unterschiedlichen Zeitepochen angesiedelten - Gesellschaftsmodellen dargestellt werden. 1. Ein familial strukturiertes Gesellschaftssystem

a) Graphische Darstellung Die Beziehung der Koordinaten Individuum-Familie-und Gesamtsystem sind in einer familial strukturierten Gesellschaft graphisch darstellbar:

„Familie" darf hier nur als Oberbegriff für eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamem Haushalts- bzw. Lebensort verstanden werden. Der einzelne tritt in Beziehung zum Gesamtsystem nur über den „Transmissionsriemen" Familie. Die Familie erfüllt dabei eine Vielzahl der für den einzelnen unmittelbar lebenswichtigen Funktionen wie ζ. B. die Versorgung mit Wohnraum, Arbeit und Pflege bei Bedürftigkeit.

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G. Der A u f b a u eines Systems „ F a m i l i e "

b) Eigenschaften dieses Gesellschaftsmodells Kennzeichen eines solchen Gesellschaftsmodells sind - die grundsätzliche Gleichartigkeit seiner Einzelsysteme, nämlich hier der einzelnen Familien; - die undifferenzierte Multifunktionalität dieser Einzelsysteme; - und eine minimale Abhängigkeit der Teilsysteme untereinander 3 . Die Gesellschaft besteht aus gleichförmigen Institutionen, nämlich den Familien. I n der Gesellschaft als Familienverbund existieren neben der Familie keine anderen, maßgeblichen Institutionen. Die Familie ist damit sehr bedeutend, ihr steht die Fülle menschlicher Handlungsformen als Individuum und in der Gemeinsamkeit offen. Sie kann auch dem Individuum sehr viel bieten, wie ζ. B. Arbeit und Lohn, Feste und Krankenpflege. Sie hat eine Fülle von Funktionen inne, die später von ihr zum Teil getrennt und anderen, neuen Teilsystemen zugewiesen werden. Für dieses Differenzierungskonzept hat sich die Bezeichnung „segmentäre Differenzierung" eingebürgert 4 , weil die Gesellschaft sich wie ein Kreis aus kleineren oder größeren Segmenten zusammensetzt. c) Prozeßtheoretische

Analyse

Die Entstehung einer familialstrukturierten Gesellschaft wird in Verbindung mit der Arbeitshypothese einer vorstaatlichen Gemeinschaft gebracht. Obwohl hier Theorien zur Staatsentstehung nicht aufgerollt werden können, ist die Familie als Machtsystem wahrscheinlich erheblich älter als die öffentliche Sache (res publica) - der Staat 5 . Wenn w i r in diesem Zusammenhang von Familie sprechen, dann meinen w i r in erster Linie die Verwandtschaftsgruppen bzw. erweiterte Familienformen. Nur sie besaßen eine solche Komplexität, daß sie über die Lebensunterhaltung ihrer eigenen Mitglieder hinaus gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten konnten, also ζ. B. Herrschaftsfamilien über andere Individuen werden konnten. Negatives Abgrenzungsmerkmal einer solchen Familien- und Familienvorstandsmacht ist die fehlende Neutralität der Machtausübung gegenüber jedem einzelnen und jeder Familie 6 . Die Entwicklung einer allen gegenüber „neutralen", allgemein geltenden Macht blieb der differenzierten Staatsentwicklung vorbehalten. In einem 3 H. Tyrell: ZfS, S. 178. H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: Familie in der Gesellschaft, S. 127 ff. 5 R. König: Staat und Familie i n der Sicht des Soziologen, S. 53 (54). 6 Siehe hierzu die Aufgaben der römischen „gentes" und der germanischen „Sippe". 4

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familistischen System entscheidet deshalb die Zugehörigkeit zur Herrschaftsfamilie, bzw. die Nichtzugehörigkeit zu derselben über die Lebensstellung des einzelnen. Individuelle Fähigkeiten finden in einem System, das infolge einer lebenslangen Plazierungsfunktion der Familie nur eine geringe Schichtendurchlässigkeit aufweist, weniger Berücksichtigimg. Der einzelne findet seinen Platz im Leben hier innerhalb der Heimstatt „Familie". Die Entstehung des „Staates" als eigener, theoretisch über den Herrschaftspersönlichkeiten bzw. -familien stehender Rechtspersönlichkeit hat eine Veränderung dieses Gesellschaftsmodells zur Folge. Mit seiner Entstehung beginnt deshalb auch der Konflikt zwischen Staat und Familie. Die Gesamtheit der Menschen wird nicht mehr durch Familien bzw. eine von ihnen repräsentiert, sondern durch ein familienloses Repräsentativ- und Bestimmungsorgan, den Staat. Auch wenn in der absoluten Monarchie die Staatsmacht aufgrund der Verwandtschaft an die Nachkommen des Königs überging, also familialisiert war, muß sich die konstitutionelle Monarchie ihrem zumindest in den Gedanken der Philosophen herrschenden Antipoden, dem Staat, unterwerfen. Der Staat als überindividuelle Organisation muß, um sich etablieren zu können, den Machtanspruch der Herrschaftsfamilie(n) negieren. Selbstverständlich besteht anfänglich oft noch Personalunion zwischen Staat und Herrschaftsfamilie, die zumindest mittelbar über das neue Institut des Staates die Macht faktisch ausübt. Beispiele hierfür sind ζ. B. im Papsttum die Borgias, oder ein modernes Beispiel, die Somozas in Nicaragua. Die einzelne Herrschaftsfamilie ist aber hier bestenfalls „Hintermann" des „Strohmannes" Staat, die Dichotomie beider Teilsysteme bereits festgeschrieben. Mit der Emanzipation des Staates von der Herrschaftsfamilie ist auch das wachsende staatliche Interesse an der Kernfamilie verbunden. Anders als die erweiterte Familie ist sie nicht fähig, konzentriert am politischen Entscheidungsprozeß teilzuhaben und sich in Form einer Oligarchie über ihn hinwegzusetzen7. Die Kernfamilie ist in den Machtapparat des Staates nicht integriert. Im Vergleich zu den erweiterten Familienformen, die sich bis heute im Adel erhalten haben 8 , ist sie deshalb ein neutralisierendes Element zwischen Staat, Königtum und potenzieller Herrschaftsfamilie. Daneben w i r d die Kernfamilie als Ordnungsinstrument des Staates für die Arbeiterklasse interessant. Solange Individuen heimlos sind, gefährden sie die Sicherheit und Ordnung und stellen damit die Existenzberechtigung eines Gewaltmonopols und des Staates in Frage. Auch das Fürsorgekostenrisiko spielt eine Rolle. Solange Mann und Frau des Volkes in ungeordneten 7 Die Gefahr für das Königtum ging lange Zeit vor allem vom Adel mit seinen traditionell erweiterten Familienformen aus. 8 Verwandtschaft und Erbberechtigung von Personen war von sehr großer Bedeutung; der verwandtschaftlich begründete Annexionsanspruch ein guter Grund für die Intervention fremder Länder.

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Verhältnissen leben, haben sie weder Heim noch Herd. Die Fürsorgelast für die nichtehelichen Kinder fällt dem Staat zu. Sobald solche in wilder Ehe lebende Leute erst verheiratet sind, verlassen sie die „verpesteten Löcher, in denen sie zuvor gehaust haben, um sich eine Wohnung einzurichten. Ihre erste Sorge ist, ihre Kinder aus den Heimen zurückzuholen, in die sie sie gesteckt haben. Diese verheirateten Väter und Mütter bilden eine Familie, d. h. ein Zentrum, wo die Kinder genährt, gekleidet und geschützt werden; .. ." 9 . Diese französische Quelle darf aber über deutsche Verhältnisse nicht hinwegtäuschen. Hier herrschten bis 1869 Ehe- und damit Familiengründungsverbote bei Standesungleichheit der Partner und für die Eheschließung bestand das Erfordernis eines obrigkeitlichen Ehekonsenses. In Polizeiverordnungen der Gemeinden wurde die Erteilung des Ehekonsenses von der Fähigkeit der zukünftigen Familie zum Selbstunterhalt abhängig gemacht 10 . Ein weiteres Phänomen des Konflikts von Herrschaftsfamilie-einzelnerStaat war die seit dem frühen Mittelalter zu beobachtende Stadtflucht. Nach dem Motto „Stadtluft macht frei" suchten sich familienmäßig nicht gebundene Individuen vor der Ausbeutung durch gutsherrliche Familien zu schützen 11 . Der Staat - die Stadt - stellte also dem Individuum mit der Familienzuweisung konkurrierende Statusmöglichkeiten zur Verfügung. Endpunkt einer solchen Entwicklung ist ζ. B. das Berufsbeamtentum mit seinem Alimentationsprinzip, das dem Staat die Treue zumindest seiner Beschäftigten gewährleisten soll. 2. Ein Gesellschaftssystem, das Familie nur als eines unter vielen Teilsystemen kennt

a) Graphische Darstellung Die Eigenheiten eines familiar-strukturierten Gesellschaftsmodells können durch den Vergleich mit einem funktional-differenzierten Gesellschaftsmodell verdeutlicht werden. Das hier herrschende Differenzierungsprinzip ist die durch das Teilsystem zu wahrende Funktion 1 2 und nicht die Gliederung der Gesellschaft in gleichorganisierte und mit gleichen Grundeigenschaften versehene Teilbereiche. Alternative und spezialisierte Funktionsträger übernehmen in diesem System verschiedene, bis dahin selbstver9 Resolution der Akademie für moralische und politische Wissenschaften, veröffentlicht in des annales de la charité', 2. Bd., 1847, nach J. Donzelot: Die Ordnung der Familie, Frankfurt a. M., 1980. 10 St. Buchholz in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, S. 1626 (1655). 11 F.-X. Kaufmann: Familiäre Konflikte und gesellschaftliche Spannungsfelder, S. 187, Fn. 13. 12 H. Tyrell: Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, S. 177.

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ständlich von der Familie wahrgenommene Aufgaben. Beispiele hierfür sind ζ. B. der Kindergarten und die Schule, die die Erziehung von Kindern in verschiedenen Altersklassen beeinflußen und damit der Familie zum Teil aus der Hand nehmen. Ein weiteres Beispiel ist die Entstehung eines Arbeitsmarktes, auf dem Familienfremde nach der Arbeitskraft des einzelnen nachfragen. Neu in dieser Entwicklungsstufe ist, daß die Zahl der arbeitnehmerbeschäftigenden Betriebe nicht durch die Bodenverhältnisse bzw. den Ertrag des Bodens festgelegt ist. Die Zahl der Arbeitskraftnachfrager kann sich deshalb sprunghaft erhöhen. Durch die Verteilung auf mehrere Teilsysteme treten auch die Konturen der einzelnen Funktionen, die bisher im Familienverbund zusammengefaßt waren, stärker hervor. Die „soziale Funktion" der Familie, die Erziehimg der Kinder, bleibt als einer der Hauptbereiche der Familie erhalten. Aber auch die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft ändert sich. Jetzt ist er „Schnittmenge" von rivalisierenden gesellschaftlichen Funktionsträgem wie Familie, Recht, Religion, Wirtschaft 13 usw.

Die Gesellschaft besteht aus subkulturellen Teilsystemen zu denen unter anderem auch Kernfamilien zu rechnen sind. Die Mitglieder der Kernfamilie gehören verschiedenen Teilsystemen an.

V = Vater M = Mutter

Τ = Tochter S = Sohn

b) Die Eigenschaften dieses Gesellschaftsmodells Dieses Modell zeichnet sich durch die Verteilung gesellschaftlicher Aufgaben auf verschiedene Funktionsträger aus. Dabei sind diese verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme unterschiedlich strukturiert, und werden 13 Über die Anzahl der verschiedenen Teilsysteme herrscht bisher Unklarheit, siehe Nachweise ebd., S.188.

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miteinander nur durch gemeinsame, persönliche Mitgliedschaften der Individuen verbunden. Auch in einem solchen Modell bleibt es bei einer Außenseiterstellung des Teilsystems Familie: - Anders als die Zugehörigkeit zu anderen Teilsystemen wie „Parteien" oder „Betrieb" ist die Familie jedermann 14 zugänglich. Die Rolle des Familienmitgliedes als (Groß-)Vater, (Groß-)Mutter und Kind kann grundsätzlich von jedem übernommen werden. - Die Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie bemißt sich regelmäßig nach der Geburt, und nicht nach einem Willensakt des Kindes. - Als gesellschaftliches Teilsystem ist die Familie in sich erneut segmentiert, nämlich in eine Vielzahl von erweiterten und vor allem Kernfamilien. - Für die Rolle der Eltern sind die Gatten und grundsätzlich nur sie, vorgesehen. „Rolle" in diesem Sinne bezeichnet das Bündel von Erwartungen, das an den Inhaber einer sozialen Position gerichtet ist 1 5 . c) Prozeßtheoretische

Analyse

Funktionale Differenzierung ist ein Prozeß, in dessen Verlauf ursprünglich miteinander integrierte Funktionen sich aus ihren traditionellen Verquickungen lösen und sich dabei zunehmend spezialisieren und schließlich das Niveau funktionsspezifischer gesellschaftlicher Teilsysteme erreichen 16 . Dieser Prozeß beinhaltet zum einen die Freisetzung und Trennung der in der segmentierten Sozialordnung gebündelten Funktionen, hat also eine Entflechtung zur Folge. Die Familie wird vorrangig zu einer Erziehungsinstanz. Auf der anderen Seite steigert sich die Interdependenz zwischen den einzelnen, jetzt funktionsspezifisch ausgerichteten Teilsystemen 17 . Der Entwicklungsprozeß zwischen beiden Modellen erstreckt sich über mehrere Phasen.

14

Ebd., S. 189, Fn. 30. E. Wallner/M. Pohler-Funke: Soziologie der Familie, S. 87. 16 H. Tyrell: Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, S. 178. 17 Auch wenn die oben gezeigten Systeme nur Modellvorstellungen darstellen, so ist doch eine zeitliche Abfolge des ersten vor dem zweiten Modell wahrscheinlich. Das familiar-strukturierte Modell weist entschieden Ähnlichkeiten mit der Gesellschaft vor oder bei Einführung des ALR auf, während das zweite Modell Ähnlichkeiten mit unserer Gesellschaft aufweist. 15

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aa) Funktionale und strukturelle Trennungsprozesse Die Ausgliederung von Aufgaben wie ζ. B. der Unternehmerfunktion aus der Familie hat die Entstehung neuer Institutionen mit eigenen, auf ihre Aufgaben hin zugeschnittenen Strukturen zur Folge. Solche Trennungsprozesse sind in der Säkularisation verfolgbar, wie die Trennung von politischen und religiösen Ämtern; auch die Trennung von Wirtschaft (Betrieb) und Familie (Familienhaushalt) 18 im Rahmen der industriellen Revolution ist ein solches Beispiel. Neben oder infolge des Funktionenverlustes kann sich auch die Struktur des aufgabenabgebenden Teilsystems ändern. Wenn ζ. B. aufgrund lebenslanger wirtschaftlicher Abhängigkeit der Kinder von den Eltern und vom gemeinsam besessenen, landwirtschaftlichen Hauswesen ein Zusammenleben von Eltern und Kindern die Regel ist, so ist heute nach Erreichung des Volljährigkeitsalters der Kinder die „Gattenfamilie" verbreitet. Änderungen im Familienzyklus können so bei entsprechender Verbreitung zu einer quantitativen und qualitativen Neustrukturierung der Familiengruppe führen. bb) Die Bewertung struktureller und funktioneller Trennungsprozesse als „Funktionsverlust der Familie" Die funktionelle Trennung und Ausgliederung von Funktionen aus der Familiengruppe wird infolge einer wertenden Betrachtungsweise als „Funktionsverlust der Familie" charakterisiert. - Für diese Aussage spricht, daß die Gruppe, die bisher mit dem Namen „Familie" bezeichnet wurde, Aufgaben, die zu ihrem bisherigen Wirkungskreis gehörten, verliert. Dies deutet aber schon an, daß vor der Feststellung eines Funktionsverlustes der Familie eine tatbestandliche Umschreibung derselben erfolgen muß 19 . Welche „Familie" mit welchen Mitgliedern ζ. B. nach der industriellen Revolution, welche Funktionen, die sie vorher wahrgenommen hatte, abgegeben hat. - Zum zweiten könnte es sachgerechter sein, von einer „Funktionsverlagerung" innerhalb des Gesamtsystems zu sprechen. Diese Funktionsverlagerung könnte selbst die Voraussetzung für die Übernahme weiterer, neuer Funktionen, bzw. Funktionsteile durch das Teilsystem Familie sein. Ein Vorgang, den die These vom Funktionsverlust der „Familie" vollkommen außerachtläßt. Ein Beispiel: Die Nichtteilnahme der modernen Familiengruppe am politischen Leben als Herrschaftsfamilie oder als durch 18 Beispiele von H. Tyrell: Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, S. 183. 19 F. Neidhardt: Die Familie in Deutschland, S. 68.

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den Familienvater quasipolizeilich kontrollierte, dezentralisierte Staatseinheit wird als Ausdifferenzierung des Teilsystems Familie aufgefaßt („Desintegration" der Familie). Durch die Ausgliederung von Familienaufgaben, die für einen externen Geschäftsherren, nämlich den Staat oder die Gesellschaft erledigt wurden, kann die Familie Eigenleben erst entwickeln. Nicht länger ist die werdende Familie in ihrer Gründungsfreiheit durch eine staatliche Eheordnung, die Eheverbote an Standesungleichheit oder Fehlen einer Existenzgrundlage knüpfte, abhängig. Auch der Geschlechtsverkehr der Ehepartner ist nicht länger Sünde, wenn er nicht zum Zwecke der Vermehrung der Anhänger des Christentums erfolgt 20 . Ehepartner dürfen einander um ihrer selbst willen lieben. Erst dieses Eigenwertgefühl läßt die Familie zum möglichen Antipoden einer (totalitären) Gesellschaft werden. Dies ist die Familienaussage des Konzepts der gesellschaftlichen Differenzierung. Nicht weil die Familie - biologischer, vor- oder gar überstaatlicher Natur 2 1 ist, wird sie zum Mittel der Resistance gegen den Leviathan Staat, sondern - weil Familie innerhalb einer staats- und gesellschaftsinternen Gewaltenund Aufgabenverteilung die Aufgabe „Privatheit" erhielt, bekämpft sie einen seine Gewalt mißbrauchenden und seine Aufgabe damit nicht erfüllenden Staat 22 . Die Entlassung aus der Verantwortung für andere (Teil-)Systeme befähigt die Familie nach dem Differenzierungskonzept also z.B. dazu, ein Refugium für den in der familienexternen Umwelt erschöpften Arbeitnehmer zu werden. Sie hat mehr Zeit als Freizeitfamilie - und nicht nur Arbeitsfamilie - sich ihren Kindern zu widmen und sie auf die familienexterne Umwelt vorzubereiten. Historische Belege für diesen Prozeß werden z. B. in der Auflösung der alten häuslichen, patriarchalischen Tisch- und Gebetsgemeinschaft mit dem Gesinde im 18. Jahrhundert gesehen23. Insgesamt gesprochen heißt die vom Differenzierungskonzept entwickelte Funktionszuschreibung, die neue Aufgabe der Familie „Privatheit" 2 4 . Diese Privatheit kann die Familie aber nur gewährleisten, wenn sie von polizeistaatlicher Einmischung und gesellschaftlicher Fremdbestimmung in einem Kernbereich freibleibt. Damit wird der Wertung vom Funktionsverlust der Familie widersprochen. Das etwas überspitzt formulierte Fazit dieser Betrachtungsweise lautet: „as the family lost function after function, it found its own 2 5 ." 20

Augustinus nach Β. Häring: Katholisches Soziallexikon, S. 498 f. E. Schef fier: Ehe und Familie, S. 251. 22 Die Geschichte des Familienrechts und der Familie wird auf ihre Beweisfunktion für die eine oder andere Anschauungsweise hin untersucht werden. 23 H. Tyrell: Probleme der Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der privatisierten, modernen Kernfamilie, S. 396. 24 Ebd., S. 396. 21

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cc) Die legitime Indifferenz des gesellschaftlichen Teilsystems Familie gegenüber anderen Teilsystemen Im obigen Beispiel kommt ein Strukturprinzip der gesellschaftlichen Differenzierung zum Ausdruck. Die Entflechtung traditioneller Strukturen, die durch ihre „diffus" - irrationale - Multifunktionalität geprägt sind 26 . Die Familie wird so „legitimerweise indifferent" 2 7 gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, wie ζ. B. der Religion oder dem staatlichen Finanzhaushalt (Fürsorge). Seitenstücke einer legitimen Indifferenz der Teilsysteme sind eine funktionale Spezialisierung ζ. B. bei der Kernfamilie auf eine Form der Intimität, die die übrige Verwandtschaftsgruppe im Verhältnis zueinander nicht kennt 2 8 , und daneben eine „thematische Reinigung" 2 9 , die Ehe und Familie zum Selbstzweck und nicht nur als Teil einer ζ. B. religiösen Schöpfungsordnimg zuläßt. Auf der anderen Seite entspricht diesem Entflechtungsvorgang eine mannigfache Verflechtung mit den jetzt zahlreicheren, anderen Teilsystemen. Die Autonomiefähigkeit des selbstversorgerischen „Hauses", das auf andere Teilsysteme nicht angewiesen war, geht dabei verloren. Die Anzahl der gesellschaftlichen Teilsysteme ist bisher nicht geklärt 3 0 · 3 1 . Auch das Verhältnis der Teilsysteme zueinander bietet eine Menge Fragen. Um hier Maßstäbe anzusetzen, wird der Begriff der „legitimen Indifferenz" 3 2 geprägt. Damit ist ausgesagt, daß ein Teilsystem nicht vorrangig durch ein anderes geprägt wird. Ein Teilsystem wird nicht zum Funktionsträger für ein anderes. Jedes Teilsystem unterscheidet sich damit von einem bloßen Unterstützungsapparat für ein anderes. Die Familie wird so thematisch gereinigt von der Einordnung in den Gesamtzusammenhang von Staat, Kirche usw. Wie weit eine solche Verbindung mit dem Gesamtzusammenhang gerade die Identität des Teilsystems ausmacht, kann mit diesem Kriterium angesprochen werden. Generell wird für das Verhältnis der einzelnen Teilsysteme untereinander die Bezeichnung „relative Autonomie" verwandt. 25

zitiert nach E. Wallner/M. Pohler-Funke: Soziologie der Familie, S. 38. H. Tyrell: Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, ZfS 1978, S. 176. 27 N. Luhmann: Grundrechte als Institution, S. 35. 28 H. Tyrell: Probleme einer Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der privatisierten, modernen Kernfamilie, ZfS 1976, S. 396 f. 29 Ebd., S. 397 f. 30 Auffallend ist jedoch, daß sie zum großen Teil mit den institutionellen und (oder) den Institutsgarantien des GG übereinstimmen, wie ζ. B. die Presse (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG), die Wirtschaft (Art. 14, 15 GG) und die Familie. 31 Anders als in der juristischen Diskussion wird in der Soziologie eine Vorrangstellung eines Teilsystems, (H. Tyrell: Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, S. 191) der Wirtschaft, diskutiert; ein Ansatz der hier nicht weiter ausgeführt werden kann. 32 Ebd., S. 190. 26

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dd) Die relative Autonomie des Teilsystems Familie Relative Autonomie wird als strukturelle Abschirmung des betreffenden gesellschaftlichen Teilbereichs gegen externe soziale Kontrolle definiert 33 . Wichtig hierbei ist, daß einem Teilsystem zugewiesene Funktionen von diesem konkurrenzlos wahrgenommen werden können, da sonst die Effektivität der Aufgabenerfüllung durch Reibungsverluste beeinträchtigt wird. Weiterhin muß aber das Teilsystem bei an der Systemgrenze angesiedelten Berührungspunkten mit anderen Systemen offen für die Rezeption neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie ζ. B. rechtlicher, medizinischer oder wirtschaftlicher Aspekte sein. Das einzelne Teilsystem muß also mit dem Fortschritt der anderen Systeme mithalten können. Im Auge behalten werden muß hierbei, daß Teilsysteme durch die Spezialisierung nicht nur Leistungen gegenüber anderen Teilsystemen schulden, sondern durch die Spezialisierung gerade ihre Eigengesetzlichkeit gefunden haben sollen 34 . Die Frage, wo die Rezeptionspflicht des einzelnen Teilsystems gegenüber den anderen beginnt oder aufhört bzw. worin die Eigengesetzlichkeit eines Teilsystems besteht, bleibt auch in einer systemtheoretischen Analyse inhaltlich zumindest teilweise offen. Dennoch sieht die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung den Schutz des Teilsystems Familie vor dem Staat in der Exklusivität der Familie gewährleistet. Privatheit sei die exklusive Aufgabe der Familie. Kraft dieser Exklusivität sei die Familie relativ autonom, d. h. in ihrem Aufgabenfeld abgegrenzt gegenüber den gesellschaftlichen und staatlichen Funktionsträgern. Obwohl die Familie von der Kapitalisierung der Arbeitskraft des Familienernährers, vom Arbeitsmarkt, vom staatlichen Rechtsschutz und vom Angebotsmarkt abhängig sei, bilde sie doch durch familiare Binnensolidarität und Gefühlsprimat der Familienmitglieder untereinander eine abgegrenzte Größe. ee) K r i t i k an einer relativen Autonomie des Teilsystems Familie Es überzeugt schwerlich, daß die mit dem Markt so unmittelbar verflochtene Kernfamilie in ihrer Aufgabenerfüllung als Hort der Intimität tatsächlich exklusiv ist. Diese Voraussetzung für eine etwaige Autonomie der Familie ist angesichts der fortgeschrittenen Technologien wie z. B. Fernsehen, Spielautomaten und Video auf der einen Seite, wachsendem Wohlstand der Jugend und damit Unabhängigkeit von der Familie auf der anderen Seite, nicht gegeben. Gesamtgesellschaftliche Enttäuschungen schlagen unmittel33 H. Tyrell: Probleme der Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der privatisierten, modernen Kernfamilie, ZfS 1976, S. 396. 34 H. Tyrell: Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, ZfS 1978, S. 190.

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bar auf die elterliche Autorität, auf die einzelnen Familien, zurück. Auch Konflikte in der Umwelt, ζ. B. in peer groups, die durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen verursacht worden sind (Arbeitslosigkeit) müssen von den einzelnen Familien verkraftet werden. Ob dies mit einer relativen Autonomie eines Teilsystems vereinbar ist, ist zu bezweifeln. Gerade die mannigfaltige Verflechtung der Familie mit Arbeits- und Gütermarkt, bzw. ihre wirtschaftliche Abhängigkeit läßt die Behauptung einer relativen Autonomie der Familie als Wunschdenken erscheinen 35 . Das Differenzierungskonzept faßt die Abhängigkeit der Familie vom Wirtschaftsmarkt lediglich als Ausdruck der mit der Entflechtung des Gesamtsystems einhergehenden Verflechtung der Teilsysteme auf. Aufhorchen läßt in diesem Zusammenhang auch die gewählte Definition der „Autonomie". Wenn sie inhaltlich nur den Schutz vor unmittelbaren, externen Eingriffen in die Familie umfaßt, dann vernachläßigt sie Grundprobleme unseres Rechts- und Gesellschaftssystems: - nämlich den staatlichen Zugriff auf Grundrechtspositionen durch die Leistungsverwaltung 36 ; - und zum anderen die Thematik der mittelbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen, ganz zu schweigen von psychologischen Zwängen, wie der Verbreitung (familiärer Verhaltensmuster) durch die Massenmedien. Auch aus einem weiteren Gesichtspunkt läßt sich das Dogma der relativen Autonomie anzweifeln: ff) Die staatliche Entscheidungsintervention zwischen den Funktionsträgern Mit der Entstehung von mit spezifischen Aufgaben betrauten, gesellschaftlichen Teilsystemen, vervielfältigen sich auch die Reibungsflächen zwischen den einzelnen Aufgabenträgern. Für eine effektive Gesamtleistung aller Systeme, ist es deshalb notwendig, daß der Staat in Konfliktbereichen Abwägungen zu Gunsten oder zu Lasten des einen oder anderen Teilsystems trifft. Diese Kompetenz ist eine Problementscheidungskompetenz. Im Sinne der oben kritisierten These von der relativen Autonomie darf der Staat nämlich nur bei Konflikten zwischen den Teilsystemen entscheiden. Eine generelle, diesen Teilsystemen vorgelagerte Entscheidungskompetenz hat er nicht. Es besteht kein Primat des Staates als umfassender Ordnungsmacht das gesellschaftliche Wohl durch Replazierung einzelner Teilsysteme zu diktieren. 35 H. Rosenbaum: Familie als Gegenstruktur der Gesellschaft: K r i t i k grundlegender theoretischer Ansätze der westdeutschen Familiensoziologie, S. 118 ff. 36 Siehe hierzu die Fülle der Entscheidungen des BVerfG, in denen es um finanzielle Leistungen für die Familie geht (BVerfGE 48 346; 55 114; 60 68).

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Die einzelne Familie, die Teil der Institution „Familie" ist, leistet eine sehr individuelle Betreuung ihrer Mitglieder. Wenn sie scheitert, dann bleibt dieser Mißerfolg und seine Auswirkungen oft nicht auf die Familie beschränkt 37 . Wenn die einzelne Familie erfolgreich ist, dann trägt sie zwar durch ihren Erfolg zur Überzeugungskraft der Institution Familie bei. Ihre Erfahrungen und Erfolge können aber Probleme anderer Familien nicht lösen. Das Familienleben betrifft eben nur die Mitglieder. Staatliche Politik und Förderung erreichen demgegenüber fast alle Familien und sind für die einzelne Familie von bestimmender Bedeutung. Relative Autonomie des Teilsystems bedeutet also Subsidiarität staatlichen Eingreifens. Auch Art. 6 GG beinhaltet neben Art. 28 GG den Grundsatz vom Vorrang der kleineren vor der größeren Einheit 3 8 . Im oft beschworenen Bild der Gesetzesflut wird der Gegensatz zu selbst regulierenden Systemen deutlich. Auch diese Zunahme staatlicher Intervention ist differenzierungstheoretisch erklärbar. Da mit der Entstehung von Aufgabenträgern, die nur eine oder wenige Funktionen auf sich vereinigen, die Anzahl der Konflikte gewachsen ist, entfaltet auch eine so verstandene staatliche Entscheidungskompetenz erhebliche Bedeutung für die inneren Angelegenheiten des Teilsystems. Der Interventionsschub ist also Folge der zunehmenden Berührungs- und Konfliktpunkte zwischen vielen, im Vergleich zur segmentierten Sozialordnung zahlreicheren „Spezialisten" (Teilsystemen). Der im modernen Sozialstaat nachzuweisende Machtzuwachs ist erst durch die Aufspaltung des früher einheitlichen Ordnungsstaates in Teilsysteme und damit die Vervielfältigung von Kompetenz und Entscheidungskonflikten verursacht 39 . Der Machtzuwachs ist also nicht ein „mehr" im Sinne einer generellen Ordnungsgewalt Staat im traditionellen Sinne, sondern ein „aliud". Bezüglich der Familiengesetzgebung läßt sich eine solche Sichtweise bekräftigen. Das ALR, hatte genügend Selbstbewußtsein den Eltern vorzuschreiben, wie der Nachwuchs an mütterlicher Brust zu säugen sei, weil es so eine optimale Erziehungsleistung gewährleistet sah. Der heutige Familiengesetzgeber handelt demgegenüber im Interesse des Grundrechtsschutzes (Art. 1 Abs. 1 S. 2, 6 Abs. 2 S. 2 GG) der der Elternsorge unterworfenen Kinder, macht sich aber durch Generalklauseln die Familie in ihrer Gesamtheit zum Regelungsgegenstand.

37 Höhere Kriminalitätsraten, Drogenprobleme usw. bei Kindern aus desorganisierten Familien. 38 BVerfGE 10 59 (83), 56 363 (385). 39 N. Luhmann: Grundrechte als Institution, S. 16.

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3. Kritik am Konzept der Differenzierung: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft Rechtfertigung eines Konzepts

Für das Differenzierungskonzept existiert kein Gegensatz von Staat und Gesellschaft, beid e sind Teilsysteme eines Gesamtsystems. Dieses Gesamtsystem hat sich durch Differenzierungsprozesse, d. h. die Übertragung gesamtgesellschaftlich bedeutsamer Aufgaben an die Teilsysteme wie z.B. Staat, Gesellschaft, Familie, Kirche usw. gebildet. Wessen ratio, ob einer menschlichen oder göttlichen, eine solche Aufgabenteilung entspringt und wann sie tatsächlich erfolgt, darüber kann das Konzept nur Vermutungen anstellen, da es ihm an empirischen, historischen Belegen mangelt. Die Urhorde oder das l'état c'est moi - Prinzip absolutistischer Herrscher können deshalb gleichermaßen Ausgangspunkt für den Erklärungsansatz, warum eine Gesellschaft Gewaltenteilung oder Familie und Verwandtschaft kennt, bzw. wie ihre Entwicklung strukturell darstellbar ist, sein. Primatentum und 17. Jahrhundert müssen bewußt als Ausgangslage des Differenzierungskonzepts zitiert werden - an seiner historischen Schlüssigkeit bzw. über die Zuordnung historischer Daten zu Differenzierungsstadien besteht, solange keine historischen Belege verfügbar sind, erhebliche Unklarheit. So muß H. Tyrell, ein Vertreter der Differenzierung der Kernfamilie zugeben, daß gerade für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg eine Ausdifferenzierung der Kernfamilie aus weiteren Familienzusammenhängen nicht vorlag 40 . Das bei Erlaß der Beratungen zum GG vorherrschende Familienmodell wäre dann das einer erweiterten, wenn auch vielleicht oft unvollständigen Familie. Dennoch hat eine systemtheoretische Betrachtungsweise den Vorteil den Doppelstatus von Familie als privatissimum und Grundlage jeglicher menschlicher und staatlicher Kontinuität darzustellen. Weshalb trotz historischer Vorbehalte das systemtheoretische Konzept zugrunde gelegt wurde, verdeutlichen zwei gegensätzliche Literaturmeinungen, die die „Familie" als nur den privaten Lebensbereich des einzelnen betreffend ansehen. - Eine Meinung sieht die Grundlage der Familie im privaten, und nicht im staatlichen Raum 41 . Deshalb sei die Familie natürlicher Antipode des Staates. Aus diesem Grunde w i r d jeder Kostenbeitrag des Staates zur „Aufzucht" der Kinder als „staatliche Pflegschaft" durch natürliche Eltern abgelehnt 42 . Dabei verdeutlicht der Zusammenhang von Familien40

Diskussionsbeitrag in H. Pross: Familie - Wohin?, S. 78. Mathilde Vaerting: Die Familie - Grundlage der privaten Gesellschaft, in M. Vaerting/Elmerich: Der Einbruch des Staates in die Familie, Darmstadt, 1956, S. 3. 42 Elmerich: Private oder staatliche Kinderaufzucht, ebd., S. 5. 41

1

hmid

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zyklus und Lebensstandard die große Bedeutung finanzieller Unterstützungen für das Familienleben 43 .

Familienzyklus und Lebensstandard für Familien verschiedener Größe (kinderlos mit 1, 2, 3 oder 4 Kindern)

Eine solche Auffassung von Familie w i r d Geschichte und Wirklichkeit nicht gerecht. In den augusteischen Ehegesetzen bis zu den Regelungen des BGB betreffend den Versorgungsausgleich läßt sich eine andere Familie erkennen. Keinesfalls war die Familie als natürlicher Gegner vom Staat weder unberührt noch unabhängig. Die Loslösung des Kindes und des Ehegatten von der Lebens- und Haushaltsgemeinschaft Familie war immer durch staatliche Gesetze festgelegt. Nur dann, wenn das ausscheidende Familienmitglied wirtschaftlich selbständig war und eine zum Eigenunterhalt fähige Familie zurückließ wurde das Ausscheiden aus der Lebensgemeinschaft rechtlich akzeptiert. Zumindest als Ausnahme von der Regel könnte hier das BGB zitiert werden. Wo das ALR eine „gesicherte" wirtschaftliche Existenz zur Voraussetzung für die Geschäftsfähigkeit und die Freiheit von väterlicher Bevormundung machte, entschied sich der BGB-Gesetzgeber zugunsten einer generellen Volljährigkeit der Familienangehörigen mit 21 Jahren 44 . Aber auch diese 43 Skizze übernommen von R. König: Die Familie der Gegenwart, S. 90. Siehe auch zur Datenlage: Materialien des Instituts für Entwicklungsplanung und Strukturforschungforschung: Erziehungsgeld, Bd. 120, 121, Hannover, 1981, Bd. 120, S. 234 ff. 44 H. Dörner: Industrialisierung und Familienrecht, S. 113 ff.

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vermeintliche Entscheidung pro individuo hatte volkswirtschaftliche und damit staatliche Hintergründe: In einer agrarisch strukturierten Gesellschaft ist die Einkommensquelle des Geschäftspartners - der Bauernhof, der Handwerksbetrieb - für den Vertragspartner leicht auszumachen. Das Teilsystem Handel nimmt gegenüber der Bodenbewirtschaftung untergeordneten Rang ein. Anderes gilt in einer durch das zahlenmäßige Überhandnehmen von Massenarbeitgebern geprägten Wirtschaftswelt. Hier erfordern der sichere und schnelle Geschäftsverkehr als größter Anteilshaber an einem hohen Bruttosozialprodukt die Zurücksetzung elterlicher Gewalt und Vermögenssorge. Besonders anzumerken ist, daß trotz früherer Freiheit vom elterlichen, wenn auch nicht vom wirtschaftlichen Joch, die Kinder ihren Eltern lebenslang zur Unterhaltsgewährung verpflichtet sind (§ 1601 BGB) und umgekehrt. Auch das BGB entscheidet sich damit gegen eine natürliche oder selbstbestimmte Loslösung des einzelnen von der Familie bzw. familiär begründeter Unterhaltspflichten. Und wie oft Eltern und Verwandte nach erneut herabgesetzter Volljährigkeit den Konsumentenkrediten ihrer „ K i n der" wieder auf die Beine helfen, steht in keiner Statistik. Dieses Familienrecht hat und hatte die Einsparung öffentlicher Fürsorgekosten zum Ziel. Ob in einer absolutistischen Monarchie, wie die französischen Brotunruhen als zumindest vordergründiger Anlaß einer Revolution gezeigt haben oder in einer repräsentativen Demokratie, die Familie als Träger der wirtschaftlichen und persönlichen Versorgung der Staatseinwohner ist von großer Bedeutung. Diese Bedeutung hat auch zur Folge, daß der Staat an der Hilfeleistung für vorübergehend in Schwierigkeiten (Arbeitslosigkeit, Krankheit) geratene Familien ein keineswegs altruistisches Interesse haben kann. Auch die Förderung von Ehegründungen junger Paare durch die Gewährung von Ehedarlehen ist Zeichen dieses Interesses. Auf der anderen Seite ist nicht einzusehen, wieso die Familie als Belohnung für die Konsumverluste infolge der Realisierung des Kinderwunsches, nicht besonders, auch finanziell gefördert werden soll. Wann aus dem Führen am „goldenen Zügel" ein finanzielles „an die Kandare nehmen" wird, und ob die Familie dies ohne ihre Identität einzubüßen verträgt, ist eine Frage die durch die Feststellung eines Antagonismus von Staat und Familie nicht beantwortet werden kann und bildet daher die Rechtfertigung für eine systemtheoretische Betrachtung. - Eine andere Meinung verlangt für die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern, die vor allem Elternpflichten und nicht -rechte wahrnähme, eine partielle Analogie zum ehelichen Scheidungsrecht 45 . Der sozial schwächere, kindesbetreuende Partner soll in Analogie zu § 1570 BGB einen Unterhaltsanspruch haben. Setzt man diese Meinung in Verbindung 45 Jutta Limbach: Die nichteheliche Lebensgemeinschaft - Eine Bestandsaufnahme - Die Ausgestaltung der rechtlichen Beziehungen der Partner untereinander (Vortrag gehalten am 20.10.1984), S. 16. 1

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zu einer Gerichtsentscheidung, die dem Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, dem ein Kind verabredungswidrig geboren worden war, den Rückgriff bezüglich der Unterhaltsansprüche versagte 46 , dann gilt: Durch den außerehelichen Geschlechtsverkehr geht nach dieser Meinung auch der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft 47 ein hohes finanzielles und persönliches Risiko ein. Solange das Kind erziehungs- und unterhaltsbedürftig ist und evtl. danach 48 wird er in seiner Lebensführung von seiner „Familie" beeinflußt. Angesichts der Tatsache, daß vor allem Frauen - auch in nichtehelichen Lebensgemeinschaften - zu „Familienfrauen" werden und dadurch sozial schwächer gestellt sind als der arbeitende Partner, spricht viel dafür, auch in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern dem schwächeren Teil zu Hilfe zu kommen. Auch und gerade der Schutz der Institution Ehe könnte es vielleicht sogar verlangen, daß derjenige, der nicht gewillt ist, eheliche Verantwortung zu übernehmen, auf der anderen Seite aber gleichgerichtete Treue und Zuwendung vom nichtehelichen Partner durch das gemeinsame Kind erhält, nicht besser zu behandeln ist als die zumindest finanziell verpflichteten Ehegatten 49 . So schwer es fällt, die nichteheliche Mutter, die mit dem Vater zusammenlebt oder gelebt hat, ohne gesetzliche Erbrechte oder Unterhaltsansprüche zu sehen, so schwer muß der Schritt in die andere Richtung sein. Wenn man den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern Ansprüche gegeneinander zugesteht, die allein auf das familienähnliche Zusammenleben gegründet sind, dann ist die „Rechtsfreiheit und damit Rechtlosigkeit" dieser Gemeinschaft beendet. Diese gesetzliche Zwanglosigkeit und gleichzeitig individuelle Verantwortung füreinander sollte die nichteheliche Lebensgemeinschaft zur „höheren" Ehe und Familie befähigen. Auch sind die Unterhaltszahlungen an den kinderbetreuenden Partner und das Kind wohl von einer anderen finanziellen Dimension, als es die bisherige Regelung mit der Unterhaltsverpflichtung nur für das Kind der Fall ist. Dies würde auch bedeuten, daß das Familienrecht einer Entwicklung folgt, die bisher lediglich von der sonstigen zivilistischen Praxis ausgeübt wird. Dort stellt sich nämlich die nichteheliche Lebensgemeinschaft als Vertragspartner für ζ. B. Wohnungen schon in formularmäßigen Verträgen 46

BGH, Urt. v. 17.4.1986, NJW 1986, 2043. Und in Fortführung dieses Gedankens auch der Vater, der keine Lebensgemeinschaft mit der Mutter eingegangen ist. 48 Bei Arbeitslosigkeit des kinderbetreuenden Partners. 49 Beispiele gibt es ζ. B. im Recht der Schwarzarbeit, in der auch bei nichtigen Verträgen den Bestellern Mängelansprüche gegen die Schwarzarbeiter zugestanden werden oder ζ. B. im Steuerrecht, wo man auch den sittenwidrigen Erwerb der Prostituierten aus ähnlichen Argumenten besteuert. 47

I. Familie als System

197

dar 5 0 . Neben diese gesetzliche Unterhaltsverpflichtung könnte vielleicht auch eine privatrechtliche Vereinbarung treten, die eine zumindest „vermögensrechtliche Ehe auf Zeit" konstituiert. Eine solche Lebensgemeinschaft würde sich der Ehe annähern und da sie Kinder verantwortlich aufzieht vielleicht auch besonderen Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG fordern. Stellt man auf die Wahrung der Funktion „Kindeserziehung" ab, so ist keinesfalls auszuschließen, daß die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern diese genauso gut oder schlecht wie die Ehe erledigt. Die mittelbaren Voraussetzungen dieser Kindesbetreuung sind indes unterschiedlich. Die Ehe, die grundsätzlich am Lebenslänglichkeitsprinzip orientiert ist, bietet von vornherein eine andere Perspektive als ein zeitlich befristeter Erziehungs-, Betreuungs- und Unterhaltsvertrag. Sie ist nicht an den Interessen der handelnden Vertragspartner von vornherein und allein orientiert. Lediglich für den Fall ihres Scheiterns ist eine vermögensrechtliche Auseinandersetzung vorgesehen. Mit steigenden Scheidungsziffern gewinnen Zugewinnausgleich und Unterhaltsansprüche immer größere Bedeutung. Ob dies aber soweit gilt, daß der positive Lebenslänglichkeitsgrundsatz der Ehe von dieser negativen Auseinandersetzungsregelung für Eheverträge auf Zeit abspaltbar erscheint, ist die Frage. Auch die Interessen des Kindes in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sprechen nicht dafür den kinderbetreuenden Teil bei der Auflösung wie in der ehelichen Gemeinschaft zu behandeln. Es ist zu fragen, ob so vertraglich geschlossene Familien auf Zeit nicht mit Grundsätzen unseres Ehe- und Familienrechts kollidieren. Die Ehe, ob durch Vertrag geschlossen oder nicht, kann durch einseitige Willenserklärung eines Partners nicht aufgehoben werden. Er bedarf eines zumindest formellen staatlichen Konsenses. Seine Familie kann ein Adoptierter durch öffentlichen Konsensakt verlassen, nie aber selbstbestimmt familienlos sein. So gesehen entfaltet die Einrichtung Familie eine stärkere Bindungswirkung als die Ehe. Ehe und Familie würden indes zu Zwangsverbänden verkümmern, wenn selbst die Personen, die sich außerhalb des Schutzes des Familien und Eherechts stellen unter diesen Schutz- und Beistandsschild gezwungen würden. Der Gesetzgeber müßte dann fragen, ob die beiden Partner zusammengelebt haben, wie lange und ob das Kind auch vom Partner der nichtehelichen Lebensgemeinschaft stammt. Weitergehend wird man sich dann fragen müssen, was der große Unterschied zu der Frau oder dem Mann ist, der außerhalb einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft Kinder zeugt. Auch kurzfristige Beziehungen, die ein Kind zur Folge haben, würden der gesetzlichen oder richterlichen Inquisition in vollem Maße unterliegen. Zwar w i r d auf die Mutter auch heute dahingehend eingewirkt, den Namen des nichtehelichen Vaters zu nennen, bzw. wird ein Pfleger zur Feststellung desselben 50

Siehe Muster des Grund- und Hausbesitzervereins Nürnberg.

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G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e "

bestellt. Hier wären aber drei Personen betroffen und um den einmal beschrittenen Weg der gesetzlichen Gerechtigkeit in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft auch konsequent weiter zu gehen, müßte man zwischen unterschiedlich schutzwürdigen Lebensgemeinschaften differenzieren. So ist sicher die Frau, die gegen den ausdrücklichen Willen des Mannes ihn zum Vater macht, weniger schutzwürdig, als die Frau, die sich über das Selbstbestimmungsrecht des Mannes als Vater nicht hinwegsetzt 51 . Generell wäre absehbar, daß der außereheliche Geschlechtsverkehr für den sozial stärkeren Teil eine erhebliche Einschränkung seiner Dispositions- und Handlungsfähigkeit für sein weiteres Leben bedeutet. Der Kreis derjenigen Personen, die in eine erhöhte gesetzliche Verantwortung für ihre Kinder gezwängt werden, würde sich vergrößern 52 . Auch müßte entschieden werden, ob die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern von vornherein mit den gleichen Ausgangsvoraussetzungen für die Funktionswahrung „Kindererziehung" ausgestattet ist. Wenn dem nämlich nicht so ist, dann müßte der Staat im Einzelfall, vielleicht von Zeit zu Zeit, überprüfen, inwieweit sie ihren Pflichten nachkommt. Eine Prüfung, die der ehelichen Familie - anders als der nichtehelichen Mutter - bisher fremd ist. Auch diese Meinung wirkt sich als Verstaatlichung der Eltern- und/oder der Eltern-KindBeziehung aus. Neben der ehelichen Familie soll auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern am besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG teilhaben und wohl letztendlich auch von den Pflichten der ehelichen Familie eingeholt werden. Inwieweit die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern mit der ehelichen Familie vergleichbar ist, ergibt sich auch aus einer Betrachtung der möglichen „Funktionen" einer Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern. I I . D i e Funktionen der Familie 1. Die Reproduktion

Hierunter sei die Zeugung und „Aufzucht" der Kinder innerhalb der Familie verstanden. Die Familie ist hier Subjekt der Bevölkerungspolitik und damit Träger des Generationenvertrages.

51

Als zweites Argument könnte angeführt werden, daß nämlich das Kindeswohl eine Gleichstellung der Mutter auch im ersten Falle verlangen würde. Dies ist aber ein weiterer Schritt der Gedankenführung, der hier nur angedeutet werden soll. 52 So man nicht annimmt, daß bei einer steigenden Anzahl der Single-Haushalte das Potential für ehe- und eheähnliche Familien gleichbleibt.

II. Die Funktionen der Familie

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2. Die Sozialisation

Die Sozialisationsleistung der Familie besteht zum einen in der soziokulturellen Geburt 53 , der Erziehung, Beeinflussung und sozialen Kontrolle aller Familienmitglieder. Zum anderen muß hierunter aber auch die innerfamiliäre Weitergabe von Kultur, Technik und Wissen, die zur Alltagsbewältigung bzw. -erfassung dienen, gezählt werden. Durch die Rollenstruktur der Familie, die in einer Aufgliederung in Vater, Mutter, Sohn und Tochter besteht, ist die Familie als mehrgenerationaler Verband biologisch determiniert. Diese Tatsache ermöglicht die Vermittlung von Erfahrungen bei der Alltagsbewältigung (Einkauf: Zahlungsmittel; Verkehr: Ampel) - also die Tradierung kultureller oder rationaler Erlebnisse des erfahreneren, älteren Familienpartners.

3. Die Statuszuweisung

Hierunter soll die Zuweisung einer Klassen- bzw. Schichtenposition an das Individuum aufgrund seiner Familienzugehörigkeit verstanden werden 54 . Für die Plazierungsqualitäten einer Familie ist ihr Vermögen bzw. ihre Fähigkeit gesellschaftliche Erfolge zu erringen von ausschlaggebender Bedeutung. Gefördert werden die Plazierungsqualitäten der Familie durch die Schaffung von Rechtsformen (wie ζ. B. den englischen trusts), die eine zumindest stammäßige Konservierung des Familienvermögens über mehrere Generationen ermöglichen. 4. Die Regeneration

Als Regeneration w i r d die Fähigkeit umschrieben, körperliche und geistige Erholung von Zwängen und Belastungen der übrigen Gesellschaft in der Familie anzubieten. 5. Der Spannungsausgleich

Die Familie gleicht innerhalb eines hochdifferenzierten Gesellschaftssystems zwischen den Widersprüchen und Defiziten anderer gesellschaftlicher Systemteile, (wie. ζ. B. Kirche, Presse, Schule) aus.

53

Dieter Ciaessens: Familie und Wertsystem, Berlin, 1972, S. 79 ff. zum Klassen- und Schichtenbegriff: T. B. Bottomore: Die sozialen Klassen in der modernen Gesellschaft, München, 1967, S. 13 ff. 54

200

G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e " 6. Das Gruppenleben

Die lediglich sukzessive Vielmännerei bzw. Vielweiberei kennende Familie wird aufgrund der natürlichen Beschränkungen weiblicher Gebärfähigkeit immer eine überschaubare Gruppe bleiben - eine Eigenschaft, die Voraussetzung für die Entwicklung emotionaler Bindungen und Beziehungen in einem face-to-face Gesichtskreis ist. 7. Die Familie als Schranke ehelicher Sexualität

Jahrhundertelang ist Rechtfertigimg für Geschlechtsverkehr und Ehe die Produktion von Nachwuchs. Die Eltern eines Kindes müssen miteinander verheiratet sein, damit man den Vater zwingen kann seiner Unterhaltspflicht gegenüber der schutzbedürftigen Mutter und den (kleinen) Kindern nachzukommen. Ausdruck eines solchen Gedankens war der alte § 48 Abs. 3 EheG. Dieser Rechtsgedanke ist ferner in § 1568 Absatz 1 BGB in abgeschwächter Form enthalten. Eheleuten sollte es nur dann gestattet sein individuelle Partnerpräferenzen durch eine Scheidung zu realisieren, wenn das Wohl gemeinsamer minderjähriger Kinder gewährleistet war. Der Schutz der Familie zwingt der Institution Ehe ihren monogamen Charakter auf. Um Unfrieden und Konkurrenzen der verschiedenen Frauen oder Männer um den gewünschten Sexualpartner zu vermeiden, und gleichzeitig beide Ehepartner durch das „sich miteinander abfinden müssen" zur Beständigkeit zu zwingen, wird ein Schutz der Kinder und eine Versorgungsfunktion der Ehepartner füreinander im Alter angestrebt. Wenn ein solches Familienmodell, das die Sozialisation des Kindes durch beide Eltern vorsieht und damit eine Gemeinschaft der beiden fordert, nicht dominierte, könnte eine simultane Polyandrie oder Polygynie oder zumindest wechselnde Partner für den außerehelichen Geschlechtsverkehr innerhalb der Institution Ehe toleriert werden. 8. Die Versorgung

Kleinkinder, alte, kranke und gebrechliche Familienmitglieder werden oft von der Familie oder der Verwandtschaft gepflegt, unterstützt und versorgt. 9. Die Konsumption

Als Haushalten (Konsumption) wird die Ermöglichung der Existenz der Familienmitglieder im Hinblick auf Nahrung, Kleidung, Wohnung, Erwerb kultureller Güter, Dienstleistungen usw. begriffen. Verbunden hiermit ist eine gesamtwirtschaftlich bedeutende Stellung der Familie als Verbraucher.

II. Die Funktionen der Familie

201

10. Die Produktion

Die Familie als volkswirtschaftliche Größe hat als Produktionsgemeinschaft an der Erwirtschaftung des Bruttosozialproduktes entscheidenden Anteil. In einer ζ. B. agrarischen Wirtschaftsordnung kann hiermit auch eine geminderte Marktverflechtung und eine größere wirtschaftliche Autonomie der Familie als Selbstversorgungsinstitution verbunden sein. In einer Freizeitgesellschaft (37,5-Stunden Woche) schafft die Familie Vermögenswerte bspw. durch Heimwerkerarbeiten. 11. Zusammenfassung

Wenn man die Familie vor 200 Jahren und die heutige in die oben genannten Funktionsarten einordnen will, so ergibt sich: beide Familien nehmen grundsätzlich die gleichen Funktionen wahr, diese aber in unterschiedlicher Gewichtung. Lag vielleicht bei der älteren Familie der Schwerpunkt auf der Produktionsebene, so kann die Do-it-yourself-Tätigkeit des Familienvaters bei der Erstellung und Verschönerung des Familienheims (Hobbykeller usw.) nicht als Schwerpunkt der Familientätigkeit begriffen werden. Auf der anderen Seite kann nicht behauptet werden, daß die Familie früher keine spannungsausgleichende Wirkung gehabt habe. Gerade das Bürgertum suchte sich seine häusliche Idylle, um von den gesellschaftlichen Standeskämpfen befreit zu sein. Angesichts der großen Bedeutung von außerfamiliären Faktoren, wie ζ. B. einer modernen Unterhaltungs- und Vergnügungsindustrie, stellt sich die Frage, inwieweit die Familie als Wertevermittler tatsächlich noch Spannungen, die zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Institutionen oder Systemen vorhanden sind, abzugleichen vermag. Ein gutes Beispiel dafür, daß die Familie eigene Grundwerte in die Öffentlichkeit nicht mehr zu übermitteln vermag, ist das Exogamieprinzip. In diesem Prinzip sehen viele Soziologen den Grundbaustein für die heutige Kernfamilie. Erst wenn sich ein Bewußtsein - rechtlich oder moralisch dafür gebildet hat, daß Geschlechtsverkehr und Heirat zwischen Verwandten oder Familienangehörigen nicht statthaft ist, wird es der Kernfamilie eröffnet, als abgrenzbare Gruppe im Verwandtschaftszusammenhang zu entstehen. Eine der beiden erfolgreichsten amerikanischen Serien im deutschen Fernsehen, nämlich die Serie „Denver-Clan", lebt geradezu von der Darstellung von Verstößen gegen das Exogamieprinzip. So wenn ζ. B. die Stieftochter mit dem Stiefvater Geschlechtsverkehr hat oder der Bruder die Schwester begehrt (Verstoß gegen § 4 Abs. 1 EheG, § 173 Abs. 1 Satz 2 StGB). Diese Zusammenstellung der Funktionen der Familie kann getrennt für den einzelnen, bzw. für den Staat durchgeführt und beurteilt werden. Aus

202

G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e "

den einfachgesetzlichen Vorschriften des BGB und unseren Grundvorstellungen bezüglich der Familie, blieb jedenfalls das hohe Interesse des Staates an einer familiären Kindererziehung in Art. 6 Abs. 2 - 5 GG erhalten und dokumentiert. Um die Bedeutung der Funktionen der Familie für den einzelnen deutlich zu machen, bietet sich die Bezugnahme auf eine neuere Theorie, nämlich die ökonomische Analyse des Rechts, an. Diese Theorie, die im Folgenden nur beispielhaft dargestellt werden kann, versucht menschliche Handlungsabläufe und Institutionen durch den ökonomischen Nutzen zu begründen. Der Nutzen für den einzelnen begründet die Familie?

I I I . Die Familie und der Nutzen für den einzelnen

Ausgehend von der These, daß zwei Personen einander deshalb heiraten, weil das zu erwartende Nutzniveau nach Verehelichung höher ist als der Nutzen jedes einzelnen bei nicht gemeinsamer Lebensweise 55 schließt diese These auf das Bestehen eines funktionsfähigen Heiratsmarktes. Bei der Wahl des Ehepartners wird der einzelne aus der Menge derjenigen, die er kennt und die gleichzeitig bereit sind, ihn zu heiraten, diejenige Person auswählen, die mit ihm darin übereinstimmt, was die Familie tun soll, wie man sich erholen will, wieviel Kinder man haben möchte und wie sie erzogen werden sollen 56 . Vor dem Hintergrund des Gedankens, daß unsere Lebenszeit beschränkt ist, kann man bei einem solchen Partner erwarten, daß die Kosten, daß man nämlich Freunde und Dinge aufgeben muß, die einem besser entsprechen, minimiert sind 57 . Die Devise „time is money" gilt insbesondere für die Familie. Der Aufbau einer dauerhaften, intimen Verbindung zu einer anderen Person dauert lange und fällt dem einzelnen nicht in den Schoß. Die Zahl solcher Partner ist deshalb im Leben jedes Menschen beschränkt. Die auch gesetzliche Sicherheit, die dem Ehepartner gewährt wird, schlägt gegenüber diesem Nutzen als Ausgabe zu Buche. Nur bei gesteigerten Einkommensverhältnissen wird es dem einzelnen möglich, die einmal falsch getroffene Abwägung zu revidieren und einen neuen Versuch zu wagen. Bei der Familie lautet die Nutzen-Kostenanalyse wie folgt. Als Nutzen wird bezeichnet, daß die Kinder zum Teil eine angenehme Gesellschaft sind, die Freude bereitet und „durchaus jener vergleichbar ist, die man an seinem neuen Auto oder an einem guten Glas Martini hat" 5 8 . Mit Kindern kann man 55 Siehe weitere Nachweise bei Maximilian Fuchs: Die Behandlung von Ehe und Scheidung in der „ökonomischen Analyse des Rechts", FamRZ 1979, S. 553 (554). 56 R. B. McKenzie/G. Tullock: Homo oeconomicus, S. 138 ff. 57 Zur Begründung dieser These werden Erfahrungsberichte über Heiratsstrategien zitiert, R. B. McKenzie: ebd., S. 139 Fn. 6.

I I I . Die Familie u n d der Nutzen für den einzelnen

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reden, Spazierengehen, sie sind Partner beim Tischtennisspielen oder einer Partie Dame. „Es gibt wirklich sehr wenige Eltern, die nicht tief davon berührt wären, wenn abends, wenn sie von der Arbeit heimkommen, ihre kleinen Kinder ihnen entgegen- und in die Arme laufen" 59 . Kinder zu haben gibt dem einzelnen die Hoffnung, im Alter und in der Krankheit nicht allein sein zu müssen. Als Passiva bleiben bzgl. des Kindes: die Kosten der Geburt, für Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Erziehung, Ausbildung, Unterhaltung, Ärzte und Arzneien, Versicherungen, Verkehrsmittel usw. übrig. Weiter schlägt die gefühlsmäßige Anstrengung, der Wert der Zeit der Eltern, die darauf verwandt wird das Kind großzuziehen, negativ zu Buche. Bei Schätzungen der Kindeskosten hat man konsequenterweise nach dem Ausbildungsniveau der Mutter differenziert. Je höher die Ausbildung der Mutter ist, desto größer ist der entgangene Arbeitslohn und desto höher sind die Kosten für das Kind. Die niedrigeren Kinderzahlen bei Akademikern wären so durch ein rationales Verhalten der Mutter erklärbar. Auch die Verbreitung der Ein-KindFamilie kann ökonomisch erklärt werden. Wenn die relativen Preise für andere Güter, die vom einzelnen konsumiert werden, sinken, dann kann dies auch eine Veränderung der Nachfrage nach Kindern zur Folge haben. Wenn ζ. B. Güter, die man als Substitute für Kinder ansehen kann, billiger werden, wie ζ. B. Autos und alle Formen der Unterhaltung 60 , dann hat dies vielleicht eine Veränderung der Nachfrage nach Kindern zur Folge. Diese ökonomische Anschauungsweise, die sicher auch aufgrund ihrer generellen Aussagen für den Einzelfall „Familie" nicht passend ist 6 1 , bietet zumindest einige Erklärungsansätze für die heutige, politische Behandlung der Familie. Wenn diese Familienpolitik nicht grundsätzlich von einem rational-ökonomisch handelnden Individuum ausgehen würde, dann wäre es schwer erklärbar, wieso man den Mut zum Kind durch finanzielle Unterstützungen und Ermutigungen - heute auch Alleinerziehender - zu fördern versucht. Wie unmittelbar der Staat auf eine individuelle Veränderung der einzelnen Ehe und Familie sofort wirtschaftlich reagiert, kann am Steuerrecht abgelesen werden. So versagt § 26 Abs. 1 E St G Ehegatten, die dauernd getrennt leben, die grundsätzlich günstigere Ehegattenveranlagung (§ 26 b EStG). Auch der Kinderfreibetrag kann auf einen Elternteil übertragen werden, wenn der andere Elternteil nicht oder nur zu einem unwesentlichen s» R. B. McKenzie: ebd., S. 143. 59 Ebd., S. 144. 60 Ebd., S. 150. 61 Vor allem zu den Erklärungen der Scheidung und des Scheidungsrechts und den Schwierigkeiten dieser ökonomischen Betrachtungsweise bei M. Fuchs: Die Behandlung von Ehe und Scheidung in der „ökonomischen Analyse des Rechts", S. 555 ff.

204

G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e "

Teil der Unterhaltsverpflichtung für das Kind nachkommt 62 . Umgekehrt wird auch sorgeberechtigten Alleinerziehenden ein Anreiz zur Kindererziehung gegeben, indem sie wie die ehelichen Eltern bei Erziehungsgeld oder Erziehungsurlaub gestellt werden. Die Verbreitung und Sicherheit heutiger Verhütungsmittel macht es also für den Staat notwendig, an die rationale Entscheidung des einzelnen zum Kind zu appellieren und diesen mindestens durch steuerliche und damit ökonomische Anreize zu ermutigen. Aus diesem Interesse und Nutzen für den Staat erklärt sich auch, daß der Staat ein Zusammenleben von Eltern und Kindern grundsätzlich voraussetzt (§§ 1567 Abs. 1, 1353 Abs. 1, 1361 BGB). Nur eine Familie, die den Willen zur gemeinsamen Lebensführung auch bei beruflichen, zeitlich befristeten Trennungen - hat, kann familiäre Funktionen erfüllen und deshalb für den Staat von Nutzen sein. Damit ist deutlich geworden, daß jede Familiendefinition vom Gepräge von Funktionen und Nutzen für den einzelnen und für die Gemeinschaft geprägt ist. Ein solches Prinzip, das der Bestimmung der Familie und damit der „Person" des „Schuldners" und des „Gläubigers" des einzelnen Familienmitglieds und der Gemeinschaft dient, ist die „Verwandtschaft".

IV. Die Familie und die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

Die Befruchtungstechnologien der Gegenwart und der Zukunft bringen neue Probleme für das Verständnis von Familie und Verwandtschaft mit sich. Dieses Verhältnis ist bisher nicht geklärt. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerfG macht diese Problem deutlich. Mit Wegfall des § 1589 Abs. 2 BGB, der eine Verwandtschaft zwischen dem nichtehelichen Kind und seinem Vater ausschloß, vollzog auch das BVerfG eine Wende in seiner Rechtsprechung. Die jetzt anerkannte Verwandtschaft begründete die Existenz einer „Verfassungsfamilie". Bemerkenswert ist, daß § 1589 Abs. 2 BGB nie den biologischen Tatsachen im Sinne einer Blutsverwandtschaft, von der das BGB grundsätzlich ausgeht 63 , entsprach. Wieso mit dem Wegfall dieser einfachgesetzlichen Vorschrift entschieden wird, ob es sich bei nichtehelichen Vater und Kind um eine verfassungsrechtlich geschützte Familie handle, hätte einer Erklärung bedurft 6 4 . Eine Aussage darüber, ob Familie überhaupt Verwandtschaft ihrer Mitglieder voraussetzt, hat das BVerfG bisher nicht getroffen; es hat aber bei der Adoptivfamilie ein rechtliches Verwandtschaftsverhältnis - im Gegen62

§ 32 Abs. 6 S. 4 EStG. J. Gernhuber: Lehrbuch des Familienrechts, S. 29. 64 Auch gerät das Gericht mit dieser Art der Begründung in den Verdacht, den Inhalt eines Grundrechts unmittelbar und automatisch aus dem einfachgesetzlichen Recht erschließen zu wollen. 63

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

205

satz zur Blutsverwandtschaft (§ 1589 BGB) - für eine in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie genügen lassen. Auch bei der Pflegefamilie fehlt regelmäßig eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Pflegekind und Pflegepersonen. § 27 JWG geht jedenfalls von diesem Regelfall aus. Das BVerfG hat auch nicht unterschieden zwischen Pflegeeltern, die im Einzelfall mit dem Kind verwandt sind und anderen. Daraus ist zu entnehmen, daß das BVerfG bei der Pflegefamilie auf jede Art der Verwandtschaft im Sinne einer Blutsverwandtschaft als zwingendes Tatbestandsmerkmal einer Familie verzichtet. Fraglich bleibt, ob dies die Regel oder eine Ausnahme von grundsätzlichem Erfordernis familiärer Verwandtschaft ist. Das BVerfG kennt damit zwei Familien, die in Art. 6 GG geschützt sind. Zum einen die auf Verwandtschaft der Mitglieder miteinander gegründete Familie und zum anderen die sog. „soziale Familie" 6 5 . Diese Anerkennung einer sozialen Familie scheint die Ausnahme zu sein, nämlich dann, wenn die auf Verwandtschaft gegründete Familie versagt hat, bzw. nicht mehr existiert. Für die große Mehrzahl aller Fälle bleibt die verwandtschaftliche Zurechnung für die Entstehung einer Familie maßgebend. Dies soll aber nicht darüber hinweg täuschen, daß in der Behandlung beider Familien unterschiedliche, rechtliche Kriterien anzuwenden sind. Die auf Verwandtschaft der Mitglieder gegründete Familie 6 6 entsteht ohne staatlichen Mitwirkungsakt. Anders ist dies bei der Adoptiv- oder Pflegefamilie. Hier erfolgen Kindeswohlprüfungen durch den Staat bei den konkret vorgesehenen, zukünftigen Pflege- oder Adoptiveltern. Die hohe Bedeutung und die Funktion einer verwandtschaftlichen Zurechnung können mit einem Satz umschrieben werden: Jeder Mensch wird hier durch die Geburt an bestimmte Personengruppen „angeschlossen". Es bedarf keines rationalen Handelns der Personen; das Hineingeborenwerden erfolgt unter Außerachtlassung der persönlichen Merkmale des Menschen, wie ζ. B. Mißbildungen und Krankheiten. 1. Was ist Verwandtschaft und wie funktioniert dieses Zurechnungssystem?

Hierbei sollen die Funktionen einer verwandtschaftlichen Familienzurechnung herausgearbeitet werden. Als Erstes klärungsbedürftig ist der Begriff „Verwandtschaft". Allgemein geht man davon aus, daß „Verwandtschaft" im Sinne von Blutsverwandtschaft zu verstehen ist. Die Wirkungsweise von Verwandtschaft wird deutlich, wenn man von der Hypothese der Existenz einer archaischen, familienlosen Urhorde ausgeht. 65 Bei der auf Adoption gegründeten Familie handelt es sich um eine auf Verwandtschaft gegründete Familie im Sinne der Rechtsprechung. 66 Mit Ausnahme der Scheinvaterschaft.

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G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e "

Diese Vorstellung steht im Widerspruch zu familiensoziologischem „ A l l gemeingut". a) Die These von der familienlosen Urhorde oder die Familie als Erbgut des Menschen Meinungen, die die menschliche Familienbildung als biologisch determiniert ansehen - und zwar entweder durch die Annahme eines Familieninstinkts 6 7 oder aufgrund der Auffassung, „daß der Mensch Familie und Ehe bereits als Erbteil mancher höherer Tierarten übernommen h a t " 6 8 können nicht von einem familienlosen Urzustand ausgehen. Voraussetzung einer solchen biologischen Tradierung ist, daß die Familie die Urhorde oder zumindest identifizierbarer Teil derselben ist. Eine Annahme, die mit der Vorstellung einer unorganisierten Urhorde unvereinbar ist. Gegen die Annahme, daß die Familie mit der Urhorde deckungsgleich sei und für unsere Hypothese sprechen die damaligen Lebensbedingungen. Bei hoher Kindersterblichkeit und geringer Lebenserwartung der Menschen bleibt auch ein erweiterter Familienverband zwangsläufig mitgliederschwach. Ein Zusammenleben von drei Generationen konnte es hier - falls überhaupt - nur für eine vergleichsweise kleine Zeitspanne geben. Zudem erforderten die Lebensbedingungen - ζ. B. bei der Jagd (Mammutjagd) - ein koordiniertes Zusammenwirken mehrerer Erwachsener, die noch über entsprechende Körperkräfte verfügten (also nicht zu alt waren). Ein solches (Arbeits)- Potential konnte selbst einer erweiterte Familie nicht alleine stellen, es bedurfte zumindest mehrerer Familien. Auch die These, daß in der archaischen Urhorde die Familie als erkennbare Substruktur vorhanden gewesen sei, erscheint angreifbar. Es gibt nämlich primitive Gesellschaften, die andere Prinzipien der sozialen Trennung oder Vereinigung, etwa solche der lokalen Nähe, des Geschlechts, des Alters und der persönlichen Präferenzen gefunden haben. Es gibt auch Gesellschaften, in denen Gruppen von Männern oder Frauen zusammenleben. Dies stelle unser Vorstellungsbild von der Familie als „Ureinheit" in Frage. Der Gedanke einer familienlosen Urhorde paßt zum anderen auch nicht zum Dogma der funktionellen Unersetzlichkeit der Familie mit ihrer völkerüberspannenden Verbreitung. Die These, daß die Kernfamilie überall existiere bzw. dort, wo sie in größere Haushaltseinheiten integriert ist, als selbständige Substruktur identifizierbar sei widerspricht der Annahme einer familienlosen Urhorde. Für die Universalität der Kernfamilie spricht, daß sie, wie ein interkultureller Vergleich ergäbe, überall grundsätzlich vergleichbare Funktionen wahrnehme, nämlich die vier „für das soziale Leben 67 68

P. R. Hofstätter: Einführung in die Sozialpsychologie, Stuttgart, 1963, S. 290 ff. R. König: Die Familie der Gegenwart; ein interkultureller Vergleich, S. 9.

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

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fundamentalen Funktionen": Die sexuelle, die wirtschaftliche, die Fortpflanzungs- und die Erziehungsfunktion. Die Kernfamilie ist nicht nur universal nach dieser Meinung, sondern auch unersetzlich 69 . Diese Betrachtungsweise kann im Sinne der These von der Urhorde in ihr Gegenteil verkehrt werden. Nicht der monopolistisch-konzentrierte Haushalts- und Wirtschaftskomplex Familie stehe am Anfang der Familiengeschichte, sondern die Trennimg und Aufteilung dieser Funktionen auf verschiedene Mitglieder der Urhorde. Die Konzentration der sozialen Funktionen innerhalb der Familie sei ein evolutionärer Vorgang, der alternative Arten von Funktionsträgern entwicklungsgeschichtlich nicht ausschließe. Die Familie ist also nach dieser Meinung deshalb nicht unersetzlich, weil die Aufgabe, die sie erfüllt, auch von anderen Gemeinschaften, ζ. B. sogenannten peer groups, übernommen werden kann. Grund für die heutige Verbreitung der Familie sei, daß sie diese Funktionen an sich gezogen habe, nicht aber sie diese ursprünglich gehabt hätte. Die Auseinandersetzung mit diesen gegensätzlichen Familientheorien ist deshalb so ausführlich geschildert worden, um die Denkfigur der familienlosen Urhorde zu rechtfertigen. Innerhalb dieser Urhorde tritt nämlich die Bedeutung von „Familie" und „Verwandtschaft" 70 klar hervor. Stillschweigend geht auch die These von der familienlosen Urhorde davon aus, daß die Horde mit fortschreitender Entwicklung einer Organisation bedarf. Diese besteht vorerst in einer Untergliederung in Primärgruppen. Hierbei gibt es zum einen die Notwendigkeit, daß die Zugehörigkeit zu einer Gruppe für Innen- und Außenstehende eindeutig und offenbar sein muß. Zum Zweiten muß das Zuordnungsprinzip auf jedermann Anwendung finden können; jeden in der Horde einer Primärgruppe zuordnen. Diese Funktion erfüllt das genealogische Rekrutierungsprinzip - das die Geburt als statusbegründend in der Gesellschaft ansieht: „Rekrutiert wird für die verwandtschaftlich familiale Zugehörigkeit einzig nach dem Kriterium des Mutterschoßes, rekrutiert wird aber zugleich eben jedes vom Weibe geborene Gesellschaftsmitglied" 71 . b) Die Mutterschaft

als Zentrum der Verwandtschaftszurechnung

Nennen wir also den Weg über den Mutterschoß verwandtschafts- und damit familienbegründend. Die Schwangerschaft der Mutter und die Säugung des Kindes erfüllen dann eine notwendige Publizität der Zugehörigkeit des Kindes zur Mutter. Wenn „Verwandtschaft" nur durch die Geburt 69

William J. Goode: Soziologie der Familie, München, 1967, S. 18, 32. Zu der Entwicklung von Verwandtschafts verbänden: Uwe Wesel: Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt, 1985, S. 191 ff, 197 ff. 71 H. Tyrell: Die Familie als Urinstitution, KZfSS 1978, S. 612 (634). 70

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G. Der Aufbau eines Systems „Familie

begründet würde, wären Geschwister (Milchgenossen) nicht miteinander verwandt. Mathematisch gesprochen wären ζ. B. die Mutter und der Bruder eine Menge - die Mutter und die Schwester eine zweite; Schnittmenge beider Mengen wäre die Mutter. Ein familistisches Verwandtschaftssystem entscheidet sich demgegenüber für einen anderen Verwandtschaftsbegriff: Durch das Abstellen auf die Blutsverwandtschaft werden Bruder und Schwester Mitglieder einer Gruppe - einer Familie. Geburtsverwondtschof t

Blutsverwandtschoft

Innerhalb der imaginären Urhorde sinkt dann die Zahl der Familien, während die Mitgliederzahl innerhalb der einzelnen Familie steigt. Mit dem Abstellen auf die Blutsverwandtschaft stellt sich aber gleichzeitig das Problem, wie die so definierte verwandtschaftliche Primärgruppe „Familie" überschaubar bleiben kann. Hierbei greift man wieder auf den Mutterschoß zurück und zählt Verwandtschaft in Graden. Der Grad der Verwandtschaft wird bestimmt durch die Anzahl der sie vermittelnden Geburten (so auch § 1589 Abs. 1 S. 3 BGB) 7 2 . Die Abstammung eines Menschen von einer Person kann heute mit einer höheren wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit durch serologische Gutachten ermittelt werde. Die „Automatik, Eindeutigkeit und Objektivität" dieser jedermann betreffenden sozialen Primärgruppenzuordnung ist deshalb in ihrem segmentierenden Effekt kaum überbietbar" 73 . c) Matrilineare

und bilineare „Verwandtschaften

Bisher ist auf die Stellung des Vaters in Verwandtschaft und Familie lediglich am Rande eingegangen worden. Ein Verwandtschaftssystem, das sich auf die Fakten: Geburt - Gebärende - Geborene(r) stützt, vermag den Vater oder Erzeuger nicht einzuordnen. Auch ein auf die Blutsverwandtschaft abstellendes Familienmodell kann den Vater nur in Beziehung zu seinen Nachkommen setzen - nicht jedoch zur Gruppe der Mutter und der gemeinsamen Nachkommen: Mathematisch gesprochen sind die mit Mutter 72 Als Exkurs sei hier angemerkt, daß auch eine Differenzierung nach Verwandtschaftsgraden die Frage nach der Familienzugehörigkeit nicht beantwortet. Hierzu dient vielleicht das zusätzliche Publizitätsmerkmal „Zusammenleben", was aber noch zu überprüfen sein wird. 73 H. Tyrell: Die Familie als Urinstitution, KZfSS, S. 634.

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

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und Vater blutsverwandten Kinder Schnittmengen der Menge des Vaters und der Menge der Mutter. Vater und Mutter sind also nicht Mitglied einer Menge. Bluts- und Geburtsverwandtschaft

= Geburtsverwandtschaff

= Blutsverwandtschaft

Damit also eine Gruppe (Menge), die Vater, Mutter und Kinder umfaßt, entstehen kann, muß eine Verbindung zwischen Mann und Frau hergestellt werden. Damit die Zuordnung zu dieser Gruppe für Innen- und Außenstehende offenkundig ist, w i r d eine Publizität dieser Verbindung zu fordern sein (wie ζ. B. Zusammenleben oder Ehe). Andernfalls würde ein Segmentationsprinzip, das sich durch einfache, weil äußerlich erkennbare Kriterien zur Gruppenabgrenzung auszeichnet (ζ. B. das ererbte, ähnliche äußere Erscheinungsbild der Mitglieder der Gruppe) durch die Nichterkennbarkeit der Verbindung Mann-Frau aufgegeben. Durch die Ehe von Mann und Frau werden wieder mathematisch gesprochen beide Mengen vereinigt. Die so entstandene Gruppe wird durch die Verbindung von Mann und Frau auf der einen und die Blutsverwandtschaft der Nachkommen (Filiation 7 4 ) auf der anderen Seite konstruiert. So kann das Modell einer Familie, die wesensgemäß unterschiedliches Blut innerhalb der Familie voraussetzt, beschrieben werden. Auch das Familienmodell, das den §§4 und 7 des EheG zugrunde liegt, geht von dieser Voraussetzung aus. Die Exogamieregeln bringen damit zum Ausdruck, daß der staatliche Gesetzgeber Heiraten und Familiengründungen innerhalb der Familiengruppe nicht wünscht. 74 H. Tyrell: Zwischen Interaktion und Organisation II: Die Familie als Gruppe, in: F. Neidhardt: Gruppensoziologie, Opladen, Sonderheft 25 der KZfSS 1983, S. 363.

14 Schmid

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G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e "

Es bleibt indes notwendig, die Voraussetzungen, unter denen ein solches Modell Anwendung findet, hervorzuheben. Hierzu sollen zwei, aus einem interkulturellen Vergleich stammende Beispiele herangezogen werden: - Bei den Nayar (einer Hindu-Kaste an der Malabarküste Vorderindiens) wird eine Verwandtschaft der Kinder nur mit der Mutter und mütterlichen Verwandten anerkannt (ein matrilineares Verwandtschaftssystem). Die bei den Nayar übliche Haushaltseinheit stellt eine Blutsverwandtengruppe dar; die Gatten leben nicht zusammen. Auch die Kernfamilie als solche existiert nicht 7 5 . Der Mutterbruder fungiert deshalb als „soziologischer Vater", d. h. er ist Haupternährer und Autoritätsperson für die Kinder der Schwester. Zeugung und Vaterschaft sind in diesem System verwandtschaftlich und institutionell (allein der Mutterverwandte wird als Vater angesehen) getrennt. - Bei den Trobriandern (ansässig am Trobriand-Archipel in Neuguinea) besteht die Kernfamilie als Haushaltseinheit. Die „Ehe" begründet auch eine dauerhafte Gattenbeziehung. Verwandtschaft liegt aber auch hier nur in Bezug auf die durch Geburt bestimmte Mutter und ihre Blutsverwandten vor. Der Mutterbruder ist wieder Ernährer der Familie und der soziologische Vater der Kinder. Der biologische Vater ist indes „nur" ein Freund. Als Ursache für das Entstehen solch matrilinearer Verwandtschaftssysteme wird entweder die Unkenntnis oder die soziale Verleugnung bezüglich des Anteils des Mannes an der Zeugung vermutet 76 . Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß Voraussetzung für die Zuordnung des Kindes zu beiden Elternteilen jedenfalls die Kenntnis des Vaters als Genitor ist (biparentales System) 77 . Die Zuordnung des Kindes zu den Blutsverwandtschaftsgruppen väterlicher- und mütterlicherseits kann eine weitere Konsequenz dieses Bewußtseins, nämlich der Anerkennung der Vaterschaft darstellen (bilineares System) 78 . Mit der Feststellung, daß das Kind im ersten Modell Zuordnung zur Mutter- und zur Vaterverwandtschaft findet und daß die Familie durch die Verwandtschaft und die Verbindung von Mann und Frau konstituiert wird, ist die Fragestellung verbunden:

75 76 77 78

H. Ebel/R. Eickelpasch/E. Kühne: Familie in der Gesellschaft, S. 74 f. Nachweise bei H. Tyrell: Die Familie als Urinstitution, KZfSS 1978, S. 638 f. Biparentales System: Zuordnung des Kindes zu beiden Eltern. Bilineares System: Zuordnung des Kindes zu beiden Blutliniengruppen.

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

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d) Wievielen verwandtschaftlich begründeten Familien kann ein Kind angehören? Jeder Mensch gehört durch die Blutsverwandtschaft mit Vater und Mutter der Zeugungsfamilie seiner Eltern, die auch seine Herkunftsfamilie ist, an. Vater und Mutter gehören jeweils ihren eigenen Herkunftsfamilien an. Die Enkel werden beiden Verwandtschaften zugerechnet (bilineares Verwandtschaftssystem). Bei Zugrundelegen eines Kernfamilienmodells könnte deshalb jedes Individuum zwei Familien angehören 79 . Geht man indes von einer Form der erweiterten Familie aus, dann besteht eine Zugehörigkeit zu drei Familien (3-Generationenhaushalt). Ob ein Mensch deshalb drei Familien angehört - der Zeugungsfamilie mit seinen Eltern als seiner Herkunftsfamilie; - und den Herkunftsfamilien seiner Mutter und seines Vaters wird sich danach richten, wie das Familienverhältnis zeitlich qualifiziert wird. Wenn Kinder ζ. B. durch Gründung einer Familie aus der Herkunftsfamilie ausscheiden, dann gehört jeder Mensch zeit seines Lebens nur jeweils einer Familie an: Der eigenen Zeugungsfamilie oder der Herkunftsfamilie. Geht man dagegen von einer Familie auf Lebenszeit aus (wie das BVerfG es tut), dann gehört jeder Mensch mindestens einer Familie, nämlich seiner Herkunftsfamilie, an. Die Anzahl der Familien, denen ein Mensch angehört, wird weiter beeinflußt von der Entscheidung über die Frage, ob die Ehescheidung eine Familienscheidung 80 ist. Unbestritten ist, daß Vater und Mutter auch nach der Scheidung die Eltern ihrer Kinder bleiben. Fraglich ist jedoch, ob der später wieder heiratende oder Kinder zeugende bzw. gebärende Ehegatte weiterhin der auf die geschiedene Ehe gegründeten Familiengemeinschaft angehört. Bezüglich dieser Frage ist festzustellen, daß das Kriterium „Verwandtschaft" hierfür keine Antwort bereithält. Blutsverwandtschaftsverhältnisse werden durch die Scheidung der Eltern nicht tangiert. Zur quantitativen Eingrenzung der durch Verwandtschaftskategorien bereits einseitig festgelegten Gruppen ist deshalb neben Verwandtschaft und Verbindung von Mann und Frau ein Publizitätsmerkmal zu fordern. Das Zusammenleben oder die Ehe der (erwachsenen) Familienmitglieder. Bevor auf dieses Entscheidungskriterium Bezug genommen wird, sollen die Probleme einer verwandtschaftlichen Zurechnung, die durch moderne Befruchtungstechnologien entstehen, dargestellt werden. Die Einordnung 79 80

1

Der eigenen Zeugungsfamilie, der Herkunftsfamilie mit seinen Eltern. H. Tyrell: Familie als Gruppe, S. 365.

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G. Der A u f b a u eines Systems „ F a m i l i e "

von allen geborenen Menschen in bestimmte, mit ihnen blutsverwandte Familiengruppen muß nämlich aufgrund der Einführung und Verbreitung neuer Befruchtungstechnologien in Frage gestellt werden. Die Durchbrechung der Verwandtschaftszurechnung erfolgt in einer Grobgliederung auf zweifache Weise: - Zum einen ist es heutzutage möglich, eine Befruchtung von Frauen mit dem Samen gestorbener Männer durchzuführen (sog. postmortale Insemination). - Zum anderen ist es unter der Verwendung von Eizellen, die von einer familienfremden Spenderin oder von Samengut, das von einem familienfremden Spender stammt, möglich, in eine Familie familienfremdes - und damit nicht blutsverwandtes - Erbgut einzuführen. e) Ausnahmen vom Prinzip verwandtschaftlicher

Zurechnung

Da es in der Rechtsprechung des BVerfG Familien gibt, die nicht auf der biologischen Verwandtschaft des Kindes zu seinen Eltern beruhen, ist ein Überblick der mit dem Verwandtschaftsgrundsatz konkurrierenden Zurechnungsprinzipien nötig. Folgende Fallgestaltungen existieren: - Der nichteheliche Vater kann ein den biologischen Tatsachen nicht entsprechendes Vaterschaftsanerkenntnis (§ 1600 a BGB) abgeben. Dies hat zur Folge, daß er bis zur Anfechtung dieses Anerkenntnisses als Vater des Kindes gilt. - Der Scheinvater (§ 1591 BGB) kann es unterlassen, die Nichtehelichkeit des von seiner Frau geborenen Kindes geltend zu machen (§ 1593 BGB). Solange seine Vaterschaft nicht angefochten ist, gilt er als mit dem Kind blutsverwandt (§ 1593 BGB). - Das Adoptivkind hat die Stellung eines gemeinschaftlichen, ehelichen Kindes der Ehegatten (§ 1754 BGB). Es besteht ein gesetzliches Verwandtschaf tsverhältnis 81 zwischen dem angenommenen Kind und den Annehmenden und ihren Verwandten. Lediglich in Sondergebieten, wie ζ. B. im Eheschließungsrecht wird auf die ursprüngliche, später durch die Adoption erloschene Verwandtschaft Bezug genommen (§ 4 Abs. 1 S. 2 EheG). Begründet wird das Adoptionsverhältnis durch ein gerichtliches Dekret (§ 1752 Abs. 1 BGB), dem die Einwilligungserklärungen der betroffenen Elternteile und der Antrag der Adoptionswilligen zugrunde liegen. - D a s Pflegeverhältnis wird durch eine jugendamtliche Pflegeerlaubnis (§ 28 JWG) begründet. 81

Palandt/Diederichsen: § 1754 BGB Anm. 1.

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

213

Von einer Elternschaft durch Willensakt bzw. dessen Unterlassung kann also lediglich bezüglich der beiden erstgenannten Fälle gesprochen werden. Sowohl das Pflege- als auch das Adoptionsverhältnis werden durch behördliche Willensakte begründet. Elternschaft kann auch in den ersten beiden Fällen kraft Willensaktes bzw. dessen Unterlassung vom Mann begründet werden und nicht von der Frau. „Mutter" ist in unserem Rechtssystem die Gebärende und nur sie. Damit steht es im Einklang, wenn man die Mutter, die ein mit ihr nicht genetisch verwandtes Kind gebiert, als Mutter des Kindes ansieht und nicht die Wunschmutter, von der die Eizellen stammen und die genetisch mit dem Kind verwandt ist 8 2 . Festzustellen bleibt weiter, daß die ersten drei Fallgruppen an der Verwandtschaft als Segmentationsprizip festhalten. Ein konkurrierendes Zurechnungsprinzip zur Verwandtschaft konnte also nicht gefunden werden. Lediglich die biologischen Tatbestandsvoraussetzungen der Verwandtschaft (§ 1591, 1600a, 1754 BGB) liegen nicht immer vor. Dies ist auch nötig, da wesentliche Pflichten des bürgerlichen Rechts, wie ζ. B. das Unterhaltsrecht in den §§ 1601 BGB ff nicht an die Familienzugehörigkeit anknüpfen, sondern an die verwandtschaftliche Beziehung von Berechtigten und Verpflichteten. Nur bei der Pflegefamilie läßt sich eine vollkommene Abkehrung von dem Grundsatz der familialen Verwandtschaft feststellen. Wenn man beim Adoptivkind von einer gesetzlichen Verwandtschaft spricht, so findet dieser Begriff im Pflegefamilienrecht keine Anwendung. Die Pflegefamilie als soziale Familie wird man aber auch aufgrund ihrer geringen Verbreitung nur als Ausnahme von der Regel, nicht aber zu einem eigenen Familiengründungsprinzip erklären können. Zusammenfassend läßt sich also das Wesen der Verwandtschaft als „Grenzstein" der Familie von der übrigen Urhorde begreifen. Dieser „Grenzstein" verliert durch die Verbreitung moderner Befruchtungstechnologien an Markierungsqualität.

82 So auch D. Coester-Waltjen: Befruchtungs- und Gentechnologie bei Menschen rechtliche Probleme von morgen? FamRZ 1984, S. 230 ff. Anderes soll für den Rechtszustand de lege ferenda gelten, dieselbe: Die Eltern-Kind-Zuordnung bei künstlicher Befruchtung, in: Gentechnologie 9, S. 80 (84 ff), wo sie die Keimzellen als unmittelbaren Anknüpfungspunkt der Eltern-Kind-Zuordnung befürwortet.

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G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e " 2. Die Blutsverwandtschaft und Kryokonservierung, In-vitro-Fertilisation und Embryotransfer

a) Die Kryokonservierung aa) Der Begriff Die Kryokonservierung ist die Konservierung von Spermien durch Tiefkühlung in Dampf von flüssigem Stickstoff 83 . Als Indikationen der Spermakonservierung werden genannt: - Berufe mit erhöhtem Unfallrisiko; - drohende Fertilitätsstörung oder Gefährdung der Fertilität (Berufsbedingter Aufenthalt unter extremen Umweltbedingungen wie ExtremTemperaturen, ionisierende Strahlen u. ä.); - Sterilisationsoperationen (die Vasoresektion ist mit einem definitiven Verlust der Zeugimgsfähigkeit verbunden). Refertilisierungsoperationen führen hier nur zu unbefriedigenden Erfolgsquoten. Die Anlage eines Kryospermadepots wird daher für den unvorhergesehenen, späteren Kindeswunsch in Erwägung gezogen84. bb) Die Problematik Sameneinspritzungen konnten bereits bisher unter geringem technischen Aufwand erfolgen. Die „Verkehrsfähigkeit" von Samenzellen in größerem Umfang setzt aber eine Lagerfähigkeit der Samenzellen voraus. Diese ist durch die Kryokonservierung gewährleistet. Bisherige empirische Untersuchungen, die nur repräsentativ durchgeführt werden konnten, ergaben bei Kryokonservierungen keine erhöhte Rate von Genmutationen und Mißbildungsraten 85 . Dennoch stellen sich Probleme bei der Langzeitlagerung und beim Transport von Kryosperma, die gegenüber der in Art. 6 Abs. 1 GG geregelten Familie nicht indifferent sind. Mit dem Aufbau von Kryospermabanken und eines Humanspermarings wird nämlich das bisher allgemein akzeptierte, aleatorische Element der Familie zumindest theoretisch in Frage gestellt. Was ist mit dem Begriff „aleatorisch" gemeint? Man findet den Gegenpol zu diesem Prinzip in A. Huxley's „Brave New World". Hier gibt es A-, Bund C-Klassen-Menschen. Die einen gehören der intellektuellen und 83

E. Jecht: Kryokonservierung von Humansperma, MMW 1984, S. 545. H.-J. Heite/H. Wokalek: Männerheilkunde, Stuttgart, 1980, S. 143 und E. Bernat (Hrsg.): Lebensbeginn durch Menschenhand, Graz, 1985, S. 26 ff. 85 R. Kaden/A. Donnerhack/Th. Katzorke: Spermadeponierung in zentraler Kryospermabank, Fortschr. Med., 1983, S. 1322 (1326). 84

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

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befehlsgewaltinhabenden Klasse an, die anderen sind Arbeiter. Ein Staat hat in dieser Science Fiction Story die Macht, die Zahl und Qualität der durch die Fließbandproduktion erzeugten Flaschenkinder zu regeln. Ganz verwandt mit dieser Geschichte klingt der folgende Satz, der sicher sachlich berechtigt und aus seinem medizinischen Zusammenhang gerissen wurde: „ I m Unterschied zur Veterinärmedizin, wo ausschließlich Samen von exzellenter Qualität konserviert wird, besteht in der Humanmedizin aus verschiedenen Gründen häufig der Wunsch, Samen verminderter Qualität zu kryokonservieren" 86 . Aus humanitären Gründen errichtet man bei den Universitätskliniken Samenbanken, die bei jungen Männer mit Krebserkrankungen vor Bestrahlungen oder Fortschreiten des Tumorkrebses die Möglichkeit einer blutsverwandten Postexistenz sichern sollen 87 . Durch die Kryokonservierung wird der bisherige Zusammenhang von monogamer Ehe und Gebärfähigkeit der verheirateten Frau durchbrochen. Für eine lange Zeit wurde die Anzahl der Bevölkerung durch die Gebärfähigkeit der Frau, die Kindersterblichkeit und die Zeugungsfähigkeit des mit ihr verheirateten Mannes bestimmt. Sicher gab es eine nicht unerhebliche Zahl nichtehelicher Geburten. Es ist hierbei von einem Anteil von mindestens 10 % der Geburten insgesamt auszugehen. Auch die erhöhte Kindersterblichkeit von nichtehelichen Kindern ist aber bewiesene Tatsache. Dieser Zusammenhang wurde durch Methoden der Empfängnisverhütung und Abtreibung durchbrochen. Es dauerte lange Zeit, bis die grundsätzliche Einsicht in die Technik der Verhütungsmethoden auch tatsächlich verbreitet und angewendet wurde. Es bedurfte eines weiterern Schrittes bis die Empfängnisverhütung effektiv betrieben werden konnte, weil die zur Verfügung stehenden Mittel - seit der Pille und der Spirale - leicht anwendbar und vor allem für jede Bürgerin verfügbar waren. Immer noch blieb die Zweierbeziehung der Ehegatten und die in diesem Rahmen begrenzte Legitimität des Nachwuchses - sowohl rechtlich als auch gesellschaftlich - motivierend für die Anzahl und Qualität der Nachkommenschaft einer Gesellschaft. Auch die nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern, die wohl der Höhepunkt und die Erfüllung der theoretischen Eheprinzipien sein sollen, begrenzen aufgrund der in ihnen herrschenden monogamen Ideale die Anzahl des Nachwuchses in ähnlicher Weise. Erst die Konservierung von Sperma mit anschließender Insemination, das auch ledigen Frauen zur Verfügung gestellt werden kann, bedeutet eine 86

E. Jecht: Kryokonservierung von Humansperma, MMW 1984, S. 545. Durch die Kryokonservierung bzw. die Auftauung sinkt die Motilität und die Qualität der Spermien. So wird z. B. festgestellt, daß die Qualität wieder aufgetauter menschlicher Spermien nur dann für die Befruchtung ausreichend ist, wenn die „Ausgangsqualität" exzellent ist, hierzu E. Jecht: ebd., S. 545. 87

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Ablösung der Bevölkerungspolitik von dem grundsätzlichen Zurechnungszusammenhang eines fortpflanzungsfähigen Mannes - einer gebärfähigen Frau - und beider Kinder. Des weiteren kann auf einem sinnlichen und intimen Vorgang - den Geschlechtsverkehr - verzichtet werden. Eine Begegnung mit dem anderen Geschlecht, zumindest ein Versuch der Liebe zu einem anderen Erwachsenen, ist damit nicht mehr Voraussetzung für das „Erlebnis" Kind. Ob verwerflich oder ethisch akzeptabel, der Geschlechtsverkehr als Kausalakt für die Zeugung eines Menschen wurde bisher in seiner Bedeutimg für die Entstehung der in Art. 6 GG geschützten Familie vernachlässigt. Er wurde in bisherigen Familientheorien - ob bei Nietzsche oder bei Aristoteles - nicht gewürdigt. Ob dies bevölkerungspolitisch bedenklich oder begrüßenswert erscheint ein Problem wird jedenfalls deutlich. Was ist, wenn das Kind, das aufgrund einer Kryokonservierung entsteht, mißgebildet ist? Was passiert, wenn aufgrund einer postmortalen Insemination ein Kind ohne Vater aufwachsen muß? Der letztere Fall hat bereits ein französisches Gericht beschäftigt. Es hatte sich mit dem Herausgabeanspruch einer Witwe bezüglich des kryokonservierten Samens zu befassen. Geht der Schutz von Ehe und Familie so weit, daß eine verheiratete Frau das Recht auf Postexistenz mit dem bereits verstorbenen Manne hat 88 ? Kann ein, vielleicht auch psychosomatisch begründeter Kindeswunsch die Gewähr dafür bieten, daß ein solches Kind in einer blutsverwandtschaftlich begründeten Familiengruppe aufgenommen wird? Dabei soll nicht davon ausgegangen werden, daß solche Blutsverwandtschaften im Einzelfall solidarisch handeln. Grundsätzlich ist aber die Wahrscheinlichkeit, daß man sich vor anderen, vor der Gesellschaft bei einer Vernachlässigung des Kindes zu verantworten hat, nicht zu gering zu erachten. Ähnliche Probleme stellen sich auch bei anderen Methoden der modernen Befruchtungstechnologie: Nämlich die Sorge um ein Kind, das vielleicht weder vom Vater noch von der Mutter abstammt, ihm aber verantwortungsmäßig zugerechnet werden müßte. Anders verlöre das Raster der Familie, das jedem Menschen eine Gemeinschaft ohne eigene Leistung oder Verdienst zuordnet, ihren Sinn. b) Die Insemination aa) Der Begriff Man unterscheidet zwischen homologer und heterologer Insemination. Beide Begriffe beziehen sich auf ein Wunschelternpaar. Bei der homologen 88 Urteil des Tribunal de Grande Instance de Creteil vom 1.8.1984, VersR 1985, S. 700.

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

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Insemination wird das Sperma des Ehemannes der Frau nicht durch Geschlechtsverkehr, sondern durch Einspritzung zugeführt. Bei der heterologen Insemination, die ζ. B. bei einer Zeugungsunfähigkeit des Ehemannes angewandt wird, wird der Frau Sperma eines Samenspenders zugeführt. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit der Kryokonservierung ist heute auch eine postmortale Insemination denkbar. Nach dem Tod eines Samenspenders oder des Ehemannes könnte mittels des so aufbewahrten Spermas ein Kind nach dem Tode des Samenspenders gezeugt und geboren werden. bb) Die rechtliche Beurteilung Im Zentrum der folgenden Ausführungen sollen zwei Gerichtsurteile und die Beschlüsse des 56. Deutschen Juristentages in Berlin 1986 stehen. Das erste Urteil wurde vom BGH gefällt. Es ging um einen Ehegatten, der sich der heterologen Insemination seiner Ehefrau ursprünglich nicht widersetzt hatte, beziehungsweise sein Einverständnis erklärt hatte. Als das Kind zur Welt gekommen war, wollte er dieses Anerkenntnis, nicht mehr gelten lassen und focht die Ehelichkeit des heterolog inseminierten Kindes an (§ 1594 BGB) 89 . Der BGH hat in der vertraglichen Zusicherung des Ehemannes, das nicht von ihm stammende Kind als K i n d anzuerkennen, keinen Verzicht seines Ehelichkeitsanfechtungsrechts bzw. ein Anerkenntnis des Kindes als ehelich entnehmen können. Der Samenspender wird damit, obwohl er nie mit der Mutter in Kontakt gekommen ist, nichtehelicher Vater. Der Scheinvater, der sich im Einvernehmen mit der mit ihm verheirateten Mutter zur Insemination entschlossen hat, w i r d von seinen Unterhaltspflichten und persönlichen Fürsorgepflichten und -rechten freigestellt 90 . Das zweite, sehr wichtige Urteil, wurde von einem französischem Gericht gefällt. Die Witwe eines Mannes, der vor seinem Tode Sperma auf einer Spermabank deponiert hatte, verlangte nach dem Tode des Ehemannes den Samen heraus. Das Gericht beschied die Herausgabeklage der Witwe positiv. Mit dem so herausgeklagten Samengut hätte also ein Kind geboren werden können, das von vornherein nur eine Mutter hat. Bevor auf die rechtliche Bewertung der Befruchtungstechnologien eingegangen wird, soll ein Trend in der Diskussion aufgezeigt werden. Wie freiheitlich für das einzelne Individuum die Gentechnologien zur Verfügung gestellt werden sollen, ergibt sich aus den Beschlüssen des 56. Deutschen Juristentages. Zu unterscheiden ist zwischen homologer und heterologer Insemination.

89 BGH: Urt. v. 17.04.83, NJW 1983, S. 2073. Siehe auch AG Dieburg: Urt. v. 4. 11. 1986, NJW 1987, S. 713. 90 Schadensersatzansprüche oder Rückgriffsansprüche bezüglich der vermögensrechtlichen Folgen der Kindesannahme gegen den vorher einverstandenen Vater bleiben hier unerörtert.

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Bei der homologen Insemination, die nur in einer besonderen Befruchtungstechnik besteht, des weiteren die verwandtschaftliche Zuordnung aber unberührt läßt, werden keine ethischen oder rechtlichen Bedenken erhoben 91 - 92 . Die postmortale, homologe Insemination wird abgelehnt, da sie auch gegen die in Art. 6 Abs. 2 GG statuierte Verantwortung beider Elternteile für das Kind verstößt 93 . Die heterologe künstliche Befruchtung verstößt als solche nicht gegen die Menschenwürde. Ein Verbot könne auch weder auf das Sittengesetz noch auf Art. 6 Abs. 1 GG gestützt werden 94 . Weitergehend soll die künstliche Zeugung eines Kindes außer bei Ehepaaren auch bei einer (stabilen) nichtehelichen Lebensgemeinschaft vertretbar sein 95 . Eine Kindeswohlprüfung evtl. in der Form eines pränatalen Adoptionsverfahrens wird abgelehnt. Art. 6 Abs. 1 und 2 GG rechtfertigt nicht die Einrichtung einer Ethikkommission, die nach eheberaterischen, psychologischen und soziologischen Gesichtspunkten über die Zulässigkeit einer heterologen Befruchtung entscheidet 96 . Eine vormundschaftliche Genehmigung sei deshalb nicht vorzusehen97. Die Diskussion um künstliche Befruchtungstechnologien findet, soweit es sich um die verfassungsrechtliche Beurteilung handelt, in vor allem drei Grundrechten ihre Basis. Zum einen in der Verpflichtung des Staates, die Menschenwürde zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 GG), im Recht auf persönliche Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (Recht auf Postexistenz) und in Art. 6 GG. In Bezug auf die „Maßnahme" an Art. 6 GG wird vor allem folgendes Argument in der Literatur vertreten. Bei der heterologen Insemination liege eine Verletzung der Institution Ehe vor. Nicht die Lebensgemeinschaft der beiden miteinander verheirateten Gatten, sondern die Befruchtung der Frau mit dem Sperma eines Dritten ist hier kausal für die Geburt des Kindes. Die Ehe als Begründungsakt für die Familie werde damit als Institution gefährdet, um die einzelne, weil kinderlose Ehe aufrechtzuerhalten 98 . 91 Erste Abteilung Zivilrecht, Thema: Die künstliche Befruchtung bei Menschen Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen I I 1. 92 Die fehlende Zustimmung eines Ehegatten läßt sie auf der genetischen Verbindung beruhen, die rechtliche Zuordnung des Kindes zu beiden Elternteilen mit allen rechtlichen Folgen bleibt unberührt (ebd., II, 2). 93 Ebd., II, 5. 94 Ebd., III, 1.3. 95 Ebd., III, 2.3. 9 ® Ebd, III, 3. 97 Ebd., III, Nr. 9 c. 98 J. Herzog: Die heterologe Insemination in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 148, 151, 158: „Es besteht eine Konfliktsitutation, die eine Abwägung nötig macht zwi-

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Hiergegen lassen sich hauptsächlich zwei Argumente anführen. Zum einen ist der Zurechnungsmodus der ehelichen Familie durch die Existenz von nichtehelichen Lebensgemeinschaften zumindest theoretisch in Frage gestellt. Zum anderen könnte es gerade der Schutz der Ehe gebieten, homologe und heterologe Inseminationen staatlich zuzulassen bzw. zu fördern. Der gemeinsame Kindeswunsch ist gerade Ausdruck einer intakten Ehe und ein staatliches Verbot der künstlichen Befruchtung würde die Ehefrau nur in den Ehebruch treiben. Wenn künstliche Befruchtungstechnologien an der Familiengewährleistung in Art. 6 Abs. 1 GG gemessen werden, dann gibt es mehrere Argumentationsschienen. Eine besteht darin, daß der Schutzbereich der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG nicht berührt ist, weil durch die ζ. B. heterologe Insemination erst eine Familie, die eines solchen Schutzes fähig ist, entsteht". Diese Ansicht glaubt, daß Art. 6 Abs. 1 GG mit seiner Familiengewährleistung vollkommen indifferent gegenüber den Methoden ist, wie die Familie zustandekommt. Durch die Ehegewährleistung, die mit dem „und" neben die Familie gestellt worden ist, wird die Unrichtigkeit dieser Aussage offenbart. Zumindest die eheliche Familie soll als Familie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt werden. Eine irgendwie geartete Vorstellung, wie Familie begründet wird, ist der Familiengewährleistung in Art. 6 Abs. 1 GG damit nicht abzusprechen. Es ist deshalb auch inkonsequent, wenn der gleiche Autor die postmortale Insemination an Art. 6 Abs. 2 GG, der lex specialis zu Art. 6 Abs. 1 GG scheitern lassen will, weil hier von „Eltern" gesprochen w i r d 1 0 0 . Bereits in Art. 6 Abs. 1 GG wird durch den Schutz der Ehe die Elternschaft von Vater und Mutter in Art. 6 Abs. 2 GG begründet. Andere Familienauffassungen betonen demgegenüber die Gefahr einer Zerstörung des „geistig-biologischen" Ordnungsbildes der Familie 1 0 1 . Durch die rechtliche Billigung der heterologen Insemination würde eine Trennung von sozialen und biologischen Verwandtschaftsbeziehungen akzeptiert 102 . Von einer solchen rechtlichen Billigung beim Ehebruch kann wohl nicht gesprochen werden. Die Struktur der Familie, die auf Blutsbande gegründet sei, werde gefährdet. Die Herkunftsbeziehungen würden verfälscht und durch die Einführung des Samenspenders als nichtehelichen Vater das Vaterbild in unserer Gesellschaft geändert. Auch seien Verändeschen dem Recht auf Familiengründung, auf Postexistenz und den Pflichten, die aus dem Institut der Ehe und seiner zentralen Bedeutung für die Rechtsordnung folgen". 99 So Ch. Starck: Die künstliche Befruchtung bei Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten A für den 56. Deutschen Juristentag, A. 27 f. 100 Ch. Starck: ebd., A 29. Ob man Art. 6 Abs. 2 GG, der vor allem ein Recht der Eltern garantiert als einen Pflichtenstatus des Samenspenders, der das Elternrecht nicht wahrnehmen will, interpretieren kann, erscheint fraglich. 101 M. Balz: Heterologe künstliche Samenübertragung bei Menschen: Rechtliche und politische Überlegungen zu einem Vorhaben des Europarates, S. 5. 102 Ebd., S. 12.

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rungen des Erbguts einer Gesellschaft zu erwarten, wenn das Sperma bestimmter Samenspender mehrfach verwendet werde 1 0 3 . Als weiterer, familiärer Gesichtspunkt wird geprüft, inwieweit nicht der Schutzauftrag des Staates aus Art. 6 Abs. 1 GG dahinginge, Familien vor den Problemen, die mit nichtverwandten Kindern entstehen können, zu schützen. Zum einen ist es keinesfalls sicher, ob der Vater sich psychisch mit dem nichtverwandten und deshalb auch nicht ähnlichen Kind abzufinden vermag. Vielleicht ist auch der Wunsch beider Eltern, auf jeden Fall ein Kind von der Mutter und nicht durch Adoption zu erhalten, selbst krankhaft. Selbst ein energischer Befürworter der heterologen Insemination gibt zu, daß es vom Einzelfall abhänge und nie deutlich vorausgesehen werden könne, ob sich die künstliche, heterologe Besamung für die konkrete Ehe günstig oder ungünstig auswirke 104 . Eine, wie im schwedischen Recht vorgesehene, Ethik- oder Sachverständigenkommission wird aber abgelehnt, da eine solche Kommission öffentliche Gewalt ausübe und deshalb als „Besamungs- oder Zeugungsamt" Probleme des gerichtlichen Rechtsschutzes bei Besamungsverboten oder Amtshaftungsprobleme bei Befürwortung auslösen müßte. Abgesehen davon, daß solche Rechtsschutzprobleme auch bei Ärzten, die dann als „Richter in Weiß" über das Recht auf Postexistenz von anderen Menschen entscheiden und Zukunftsprognosen wagen, auftreten, setzt dieses Argument an der vollkommen falschen Stelle an. Wenn ein Staat die heterologe Insemination zuläßt, weil ζ. B. die einzelne Ehe diesen Schutz verdient, dann ist dieser Staat genauso verpflichtet, dafür zu sorgen, daß auch die Kinder, die aufgrund der von ihm zugelassenen oder geduldeten heterologen Insemination zur Welt kommen, Rahmenbedingungen für ihr Kindeswohl finden. Solche Prognoseentscheidungen sind sicher sehr schwierig, auch wenn sie in Sorgerechtsstreitigkeiten bei geschiedenen Eltern und im Adoptionsverfahren üblich und gesetzlich gefordert sind. Genauso wie diese Kindeswohlprüfungen in unserem einfachgesetzlichem Rechtssystem immer dann eingreifen, wenn ein Kind von seinen Verwandten getrennt wird, genauso muß dies auch für die heterologe Insemination gelten. Das Kind verliert hier nämlich den Samenspender, seinen leiblichen Vater. Es ist hier vollkommen irrelevant, ob das Kind mit 16 Jahren durch Einsicht in das Personenstandsregister den Namen des Samenspenders erfahren kann oder nicht, und inwieweit dieser anonym bleibt oder nicht. Von der gesellschaftlichen und sozialen Rollenbedeutung ist festzustellen: Mutter, Vater, Brüder, und Schwestern des Erzeugers werden sich um ein solches Kind weni-

103 m.w.N. hierzu eine Darstellung der Meinungen bei J. Herzog: Die heterologe Insemination in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 123, 124, 126 und 129. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß ein Vorschlag im Warnock-Report darauf hinaus läuft, lediglich zehn Kinder pro Samenspender zuzulassen. 104 Ch. Starck: Die künstliche Befruchtung bei Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten A für den 56. Deutschen Juristentag, A 28.

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ger annehmen als es bei einem nichtehelichen Vater - und sei es bei einem Ehebruch - der Fall ist. Anhand einer anderen Befruchtungstechnologie soll aufgezeigt werden, daß auch progressive Vertreter eine völlige Ablösung der Verwandtschaft als Zurechnungsprinzip für die Familie aus Gründen des Kindeswohls nicht bejahen. c) Die In-vitro-Fertilisation aa) Der Begriff Unter In-vitro-Fertilisation (IVF), auch als extrakorporale Befruchtung bezeichnet, versteht man die Vereinigung einer Eizelle mit einer Samenzelle außerhalb des Körpers. Die Einführung des Embryos in die Gebärmutterhöhle wird dabei als Embryotransfer (ET) bezeichnet 105 . Des weiteren muß die Unterscheidung von Trage- und Leih- bzw. Ersatzmüttern erklärt werden. Sie ist auch in Zusammenhang mit der homologen Insemination relevant. Bei der IVF kann ζ. B. einer Ehefrau eine von einer familienfremden Frau stammende befruchtete Eizelle eingesetzt werden. Der Grundsatz des römischen Rechts 106 „mater semper certa est" wird hier durchbrochen. Leih- und Ersatzmütter sind mit dem Kind, das sie austragen, genetisch verwandt, Tragemütter im Gegensatz hierzu nicht 1 0 7 . In unserem Zusammenhang ist vor allem die Gruppe der Tragemütter interessant: Und zwar die Tragemutter, der ein durch IVF unter Verwendung fremden Samens (nicht von ihrem Ehemann stammend) und fremder Eizellen gezeugter Embryo in die Gebärmutter eingesetzt wird (heterologe IVF). Das Kind, das die Mutter austrägt und gebärt ist mit ihr genetisch nicht verwandt. Auch mit dem Ehemann der Tragemutter besteht keine genetische Verwandtschaft, genausowenig wie mit der Wunschmutter und dem Wunschvater. Um zu entscheiden, ob in dieser Fallalternative wirklich eine Abkehr vom Verwandtschaftsprinzip vorliegt, muß auf den möglichen Bedeutungsgehalt von Verwandtschaft eingegangen werden.

105 Bekanntmachung der Bundesärztekammer: Richtlinien zur Durchführung von In-Vitro-Fertilisation und Embryotransfer als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität in: Sonderdruck Deutsches Ärzteblatt, Ärztliche Mitteilungen (auch 82. Jahrgang, Heft 22, S. 1649, 1690 - 98), S. 1. 106 siehe zu den Quellen: M. Harder: Wer sind Vater und Mutter - Familienrechtliche Probleme der Fortpflanzungsmedizin, News 1986, S. 505, Fn. 1. 107 D. Giesen: Probleme künstlicher Befruchtungsmethoden beim Menschen, JZ 1985, S. 635.

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bb) Die Verwandtschaft als genetische Verwandtschaft oder als „Mutterschoßprinzip" Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Verwandtschaft gleichbedeutend mit „Blutsverwandtschaft" gebraucht 108 . Im juristischen Fachbereich unterscheidet man zwischen einer „gesetzlichen Verwandtschaft" und einer „natürlichen Verwandtschaft". Wenn die Begriffe „gesetzlich" oder „natürlich" nicht ganz zutreffend sind, denn auch die natürliche Verwandtschaft wird dadurch, daß an sie Rechtspflichten geknüpft werden, zu einer Rechtstatsache, so hat man sich bisher keine Gedanken machen müssen, was ist, wenn ein Kind von einer Mutter geboren wird, dieses Kind aber genetisch nicht mit ihr verwandt ist (Tragemutter). Ist „Blutsverwandtschaft" im Laiensprachgebrauch eine Umschreibung für genetische Verwandtschaft? Das Blut, das in den Adern der Nachkommen fließt, symbolisierte bei dieser Annahme die für Laien nur schwer faßund begreifbaren Gene, die die wirklichen biologischen Träger der Erbguts sind. Oder findet ein Blutaustausch zwischen Tragemutter und Kind im Laufe der Schwangerschaft statt, der eine Blutsverwandtschaft zwischen beiden zu begründen vermag? Wenn man Blutsverwandtschaft nur als genetische Verwandtschaft auslegt, dann besteht keine Verwandtschaft zwischen Tragemutter und Kind. Teilt man diese Auslegung nicht, dann ist vielleicht eine Tragemutter mit dem Kind, das von ihrem Körper genährt wurde, verwandt. Selbst wenn man eine Blutsverwandtschaft zwischen Tragemutter und Kind ablehnt, so könnte doch eine verwandtschaftliche Beziehung von Tragemutter und Kind durch die Geburt begründet worden sein. Wie oben dargestellt, teilt sich unser Verwandtschaftssystem in zwei Schienen: - das „Jedermann"-Prinzip, d. h. daß jedem Individuum durch den Mutterschoß eine Familie zugewiesen wird (die Verwandtschaft durch Geburt 1 0 9 ); - die familiale Blutsverwandtschaft, die das Entstehen größerer Familienverbände zur Folge hat und die es auch erlaubt, den Vater mit seinen Kindern in eine Familienbeziehung treten zu lassen. Für unseren Fall wäre dementsprechend die Tragemutter mit dem Kind (Zuweisung durch Geburt) verwandt 1 1 0 , und nicht die Eizellenspenderin. Das Begreifen von Verwandtschaft als ein um die Mutterschaft und die 108 Siehe hierzu auch Palandt/Diederichsen: Anm. 2 vor § 1589 BGB und Der Neue Brockhaus, Wiesbaden, 1971, S. 401 wo die juristische Verwandtschaftsauffassung übernommen wird. 109 So auch D. Coester-Waltjen: Rechtliche Probleme der für andere übernommenen Mutterschaft, NJW 1982, S.2528 (2529) (zur Meinung de lege ferenda bereits vorher).

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

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Gebärende zentrierter Begriff kann sich auch auf rechtshistorische Traditionen stützen. Der Satz „mater semper certa est" deutet eine Grundregel des Rechtslebens an. Durch den Publizitätsakt der Geburt konnte die Zuordnung zur Mutter leichter erfolgen, als es der im Verborgenen vollzogene Geschlechtsverkehr zur Vaterfamilie ermöglichte. Man könnte also hier die verwandtschaftliche Zurechnung des Kindes zu so einer Tragemutter gut begründen. Dennoch wird von der gleichen Meinung, die heterologe und homologe Inseminationen sogar bei ledigen Frauen und nichtehelichen Verbindungen bejaht, bei der Trage- und Ersatzmutterschaft die Toleranz beendet. Hier wird typischerweise das Dilemma prognostiziert, daß entweder die Ersatz- oder Tragemutter eine Bindung an das Kind eingeht und es deshalb später nicht herausgibt oder sie an dem Kind kein Interesse nimmt. Im letzteren Falle sei Nikotin- oder Alkoholgenuß, der das Kind nachweisbar während der Schwangerschaft schädige, zu befürchten und auch die sonstige Rücksicht der Ersatz- oder Tragemutter gegen sich selbst nicht gewährleistet 111 . Neben diesen Prognosen ist aber das Verhältnis von Tragemutter und Kind durch eine weitere, verwandtschaftliche Unklarheit belastet. Weiterhin unsicher sind die Beziehungen des Kindes zu den Verwandten der Tragemutter, wenn man in diesem Verhältnis eine Blutsverwandtschaft verlangt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG umfaßt Art. 6 Abs. 1 GG nur die Kernfamilie. Selbst wenn also dem einzelnen Kind aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG ein Anspruch auf die Zugehörigkeit zu einer Familie zustände, wäre dieses Recht des Kindes durch die Zuordnung zu seiner Tragemutter jedenfalls nach einer solchen Rechtsprechung erfüllt. Dennoch bliebe ein solches Kind im Fall eines Unfalls der Mutter im rechtlichen Sinne verwandtschaftslos zurück.

d) Eigene Stellungnahme: Das Recht auf Postexistenz Wenn man künstliche Befruchtungstechnologien diskutiert, dann sind hierbei drei Aspekte zu berücksichtigen. - Gibt es für jeden Menschen ein evtl. verfassungsrechtlich abgesichertes Recht auf eigene, gengerechte Postexistenz?

110 D. Coester-Waltjen: Befruchtungs- und Gentechnologie bei Menschen - rechtliche Probleme von morgen? FamRZ 1984, S. 230 (232) kommt zum gleichen Ergebnis, allerdings mit der Begründung, daß für das Wohl des Kindes eine derartige Ungewißheit in der rechtlichen Zuordnung, die in der Regel mit der persönlichen Betreuung gekoppelt ist, unzuträglich ist. 111 Ch. Starck: Die künstliche Befruchtung bei Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, Gutachten A für den 56. Deutschen Juristentag, A 41.

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G. Der A u f b a u eines Systems „ F a m i l i e "

- Falls man dies bejaht oder aus humanitären Aspekten eine solche Lebensgestaltung zulassen will, dann stellt sich die Frage des Kindeswohls. Hat das Retortenbaby oder das durch künstliche Samenübertragung erzeugte Kind vergleichbare oder vielleicht bessere Grundlagen und Eltern als das eheliche oder das nichteheliche Kind? - Falls man hier eine Vergleichbarkeit oder mehr bejahen würde, dann stellt sich die Frage, ob der besondere Schutz von Ehe und Familie durch künstliche Befruchtungsarten in Frage gestellt wird oder mit welchen Maßgaben und Differenzierungen bei diesen unterschiedlichen Fallgestaltungen im Rahmen des Art. 6 GG zu arbeiten ist. Als Ausgangspunkte für ein Recht auf Postexistenz bieten sich Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 6 Abs. 1, 5 GG an. Hierbei sind vier Fallgestaltungen zu unterscheiden und zwar je nach den betroffenen Personenkreisen. Als Wunscheltern für ein Kind kommen in Betracht: Ehepaare, Paare in nichtehelicher Lebensgemeinschaft, ledige Väter und Mütter. In Art. 6 Abs. 1 GG ist für Ehepaare eine Ehe- und Familiengründungsfreiheit gewährleistet. Dieser subjektive Anspruch ist grundsätzlich ein Abwehranspruch, das bedeutet er richtet sich negativ gegen Eingriffe des Staates. Wenn man nun, und dies ist nicht nur der Beschluß des Deutschen Juristentages 112 , die Verstaatlichung von Samenbanken fordert, dann wandelt sich dieser Abwehranspruch in einen Verschaffungsanspruch auf heterologe Samen um. Es kann angesichts der hohen Schutzwürdigkeit von Sperma und Eizellen nicht Privaten überlassen bleiben, inwieweit hier das Erbgut einzelner Menschen bei gesteigerter Verbreitung dieser Befruchtungstechnologien in der Erbmasse einer Nation oder generell unter den Menschen auf Erden vertreten ist. In öffentlichrechtlichen, beamteten Händen sind die Voraussetzungen für die Verhütung von Mißbrauch wesentlich besser als in der Privatwirtschaft. Geht ein Recht auf Familiengründung so weit, daß der Staat oder Private dem einzelnen erst zur Schaffung der Familie verhelfen müssen? Ist damit der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG und auch der des Art. 2 Abs. 1 GG nicht „überspannt"? Art. 6 Abs. 1 GG ist lex specialis für die Familiengründung innerhalb einer ehelichen Familie im Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG. Ob aber über die konkrete Ehe und Familie hinausgehende „ Verschaffungsrechte" durch Art. 6 Abs. 1 GG gedeckt sind, erscheint zweifelhaft. Wenn man dies verneinen würde und behauptete, daß die Familiengründungsfreiheit nur solche Personen zu schützen vermag, die auch familienfähig sind, dann wäre der Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht eröffnet. Inwieweit es aber überhaupt zur Handlungsfreiheit eines Individuums gehört, ohne geschlechtliche Gemeinsamkeit mit einem anderen Kinder zu zeugen, muß in Frage gestellt werden. Hier kann natürlich immer argumen112

Ebd., III, 4.

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

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tiert werden, daß die Freiheit zum Ehebruch beim fortpflanzungsfähigen Ehepartner sehr wohl eine heute staatlich nicht zu verbietende Freiheit darstellt. Dies würde aber bedeuten, daß man von den Auswüchsen auf den Grundsatz schließt. Und grundsätzlich sollten und werden Kinder bei uns nicht in Beziehungen geboren, die den Teil einer Nacht ausmachen. Dies würde bedeuten, daß in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG lediglich der Geschlechtsverkehr, nicht aber eine Ehe oder Familie geschützt ist. - Bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern stellt sich nach der hier vertretenden Meinung das Problem des Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Wenn schon große Vorbehalte gegenüber einer verwandtschaftlich nicht begründeten Familie geltend gemacht werden müssen 113 , so ist die Überprüfung der „Stabilität" einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft durch einen Arzt unzumutbar. Hier wird egoistischer Manipulation Tür und Tor geöffnet. Lediglich nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG könnte der Wunsch nach gengerechter Postexistenz beider Partner geschützt sein. Es fehlt hier an der Verantwortung des Mannes für die Mutter des Kindes und das Kind wird von vornherein in eine Beziehung künstlich eingebracht, die den Vater vom Sorgerecht ausschließt und durch eine Mitwirkung des Staates in Form der Pflegschaft oder Amtsvormundschaft gekennzeichnet ist (§§ 1706, 1709, 1791 c BGB). Inwieweit bieten solche Gemeinschaften vergleichbare Rahmenbedingungen wie die eheliche Familie für das Kindeswohl? Der Idealismus, den man angesichts der Sozialisationserfolge der ehelichen Familie an den Tag legen kann, muß sicher beschränkt sein. Totschlag und Mord innerhalb der Familie hat es immer gegeben, Haß und Liebe auch. Auch hat sich vor allem unsere familiäre Erziehung in den letzten zwei Jahrhunderten entscheidend geändert, so daß von der alleinigen Überzeugungskraft des Grundrasters der ehelichen Familie nicht ausgegangen werden kann. Auf der anderen Seite hat nicht die eheliche, auf Verwandtschaft gegründeten Familie die historisch bestimmt verläßlichsten Daten im Vergleich zu neuen Lebensgemeinschaften, wie den durch künstliche Befruchtung erzeugten, für sich? - In der bisherigen Diskussion ist die Frage des ledigen Mannes - soweit ersichtlich - nicht aufgetaucht. Im Sinne der individualisierten Gleichberechtigung, die wohl der tragende Grund für die Argumentation der bejahenden Literatur ist, fragt sich, wieso der Mann kein Recht auf gengerechte Postexistenz haben soll, bzw. diese nicht verwirklichen kann. Warum kann ein reicher Mann sich nicht eine Frau engagieren, die ein Kind für ihn zur Welt bringt und dann dem Vater überläßt? Die Meinungen, die der ledigen Frau ein Recht auf künstliche Samenübertragung einräumen, sollten den besonderen Unterschied beim männlichen Ge113

1

Was geschieht mit mißgebildeten Kindern?

Schmid

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schlecht, das grundsätzlich an der Zeugung genauso beteiligt ist wie die Frau, erklären. - Bei der ledigen Frau wird von einem Teil der Literatur ebenfalls aus ihrem Recht auf persönliche Handlungsfreiheit und Menschenwürde der Anspruch auf Samenübertragung bzw. die Duldung des Staates verlangt. In einer Welt, in der die fortschreitende Vereinsamung des Individuums mit all ihren negativen Folgen, wie einer hohen Selbstmord- und Krankheitsrate, beklagt wird, wird nun auch das Erlebnis „ K i n d " dem „Single" eröffnet. Es ist bei einer solchen Sichtweise gleichgültig, ob man die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern, die Halbfamilie oder nur die eheliche Familie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sehen will. Dies sind alles Formen der Gemeinschaft von Mutter, Erzeuger und Kind, die auf eine zwischenmenschliche Beziehung schließen lassen. Diese Gemeinschaftsformen werden nicht nur deshalb positiv bewertet, weil sie Kinder und (gute) Ehen zur Folge haben, sondern weil auch der einzelne seinen Egoismus in der Gruppe überwinden muß. Ein egoistischer und egozentrischer Mensch kann weder dem Bild des Grundgesetzes noch dem eines Staates entsprechen („besonderer Schutz"). Das grundsätzliche Problem, das sich hier stellt, ist, daß Menschen, die sich normalerweise nicht mehr fortpflanzen könnten, dies durch neuere Technologien jetzt können. Ein Beispiel: Der 75jährige Unternehmer U, dem sämtliche Söhne in Weltkriegen und Autounfällen weggestorben sind, heiratet das Starlet S, das 20 Jahre ist. Wäre es nun zum Ehebruch gezwungen, um U in ihrer Gemeinschaft noch einen Sohn zu gebären, dann würde das vielleicht an der Männlichkeit des U rühren. Wenn aber der klinische Weg über die Kryokonservierung und die künstliche Samenübertragung eröffnet wird, die entpersonalisiert ist, dann wird das auch für U ein gangbarer Weg sein. Einen Arzt, der die Samenübertragung vornimmt, wird der finanzkräftige U vielleicht auch finden. Ein zweites Beispiel: Die egozentrische, leitende Angestellte A merkt nach 35 Lebensjahren, daß ihr beruflicher Erfolg in Gefahr ist. Diese Erfahrung bewegt sie - wenn auch vielleicht unterbewußt dazu - einen neuen Lebenssinn zu suchen, der in einem Kind besteht. Sie selbst hat nicht die Fähigkeit zur Gemeinschaft mit einem anderen Menschen; der klinisch hygienische und entpersonalisierte Weg der Samenübertragung bietet sich hierfür an. Diese hier geschilderten Extremfälle repräsentieren sicher nicht die Wirklichkeit, nämlich nicht den krebskranken jungen Mann M, dessen Sperma bei einer Universitätsklinik aufbewahrt wird, da er sich Bestrahlungen unterziehen muß. Die beiden o. g. Beispiele zeigen aber auf, daß es einer Kindeswohlprüfung zumindest bei der heterologen Insemination bedarf. Diese sollte durch die Vormundschaftsgerichte, bei denen auch sonst die

IV. Die Familie u n d die Verwandtschaft ihrer Mitglieder

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Verteilung der elterlichen Sorge und die Prüfung der Voraussetzungen einer Adoption angesiedelt sind, erfolgen. Auch unter einem anderen Aspekt muß die Ansicht, daß bei künstlichen Befruchtungstechnologien keine Sachverständigenkommission oder eine vormundschaftliche Genehmigung erforderlich ist, kritisiert werden. Mit diesem individualistischen Prinzip der Bejahung der Fortpflanzungsmöglichkeit aller Individuen stimmt es nämlich nicht überein, wenn man gleichzeitig eine schlechte Sozialisationsfähigkeit der einzelnen Familie in Kauf nimmt. Es gibt einen Autoführerschein, es soll einen Hunde- und Tierführerschein geben, einen „Menschenführerschein" gibt es nicht. Einen Nachweis über die Befähigung zur Kindererziehung lehnt man nicht nur deswegen ab, weil man Angst vor einer staatlichen Prägung bestimmter Erziehungsziele hat, sondern weil unsere Gesellschaft auch davon lebt, daß bestimmte Familien große Erfolge bei der Erziehung ihres Nachwuchses erzielen und andere nicht. Dies ist das Prinzip der Schichtendurchlässigkeit und gleichzeitig der Verlust der Statuszuweisungsfunktion der Familie. Wo der Professorensohn zum ewigen Studenten und Fließbandarbeiter wird, dort kann der Arbeitersohn zum erfolgreichen Unternehmer werden. Unproblematisch ist diese Ausgangslage nicht. Eine egalisierende Bildungspolitik versuchte dies seit 1970 zu ändern, indem durch Gesamtschulkonzepte und Förderkurse auch Kindern aus schlechten Sozialisationsfamilien Aufstiegs- und Lebenschancen eröffnet werden sollten. Dieser Freiraum vor dem Recht, diese Duldung unseres Staates von sozialen „Mißständen", einer schlechten Sozialisationsfähigkeit bestimmter Familien, von der wir, die wir studiert haben, andere Lebensinhalte oder Erfolg gefunden haben, auch leben, ist unter dem Gesichtspunkt des Menschenrechts der Familie und der Gleichheit der Menschen schwer tolerierbar. Wieso soll man dann die Fortpflanzungsfähigkeit von Menschen, die nach Darwinschen Gesetzen und menschlichen, wenn auch mit einem hohen Risiko behafteten, Prognoseentscheidungen unfähig sind, Kinder zu haben, fördern? Vom bloßen Abwehranspruch, der die Intimität des einzelnen Menschen mit einem anderen garantiert, wird hier das Familiengrundrecht zu einem Verschaffungsanspruch abgewandelt. Die Parallele in der Umweltpolitik zeigt uns, daß die Möglichkeiten der Technik noch nicht deren Beherrschbarkeit und eine größere Zufriedenheit für die Menschen garantieren. Eine vormundschaftsgerichtlich garantierte Kindeswohlprognose ist deshalb bei künstlichen Befruchtungstechnologien angebracht, auch wenn man der hier vertretenen Meinung nicht folgt. Etwas anderes mag lediglich für die homologe Insemination gelten. Hier ähnelt das Kind nämlich noch dem Vater, hier müssen sich auch die Großeltern für das Kind verantwortlich fühlen. 15'

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G. Der A u f b a u eines Systems „ F a m i l i e "

- Die Gefährdung der Institution der Familie Art. 6 Abs. 1 GG enthält grundsätzlich kein Verbot anderer, nichtehelicher Lebensgemeinschaften oder sonstiger Lebensformen. Lediglich durch das Wort „besonderer" wird eine Prioritätenliste, keinesfalls aber eine Verbotsliste aufgestellt. Aus der Systematik der Art. 6 Abs. 1 bis Art. 6 Abs. 5 GG ergibt sich, daß nicht Zeugungsformen geschützt sind, die mit der Gemeinsamkeit zweier Personen nichts gemein haben. Eine solche wäre die Befruchtung einer ledigen Frau. Art. 6 Abs. 5 GG, der von einem „unehelichen" Kind spricht, meint einen solchen Fall nicht. Bei Art. 6 Abs. 5 GG geht es nicht um eine Anerkennung des Kindeswunsches der ledigen Mutter, sondern um die Behebung der Folgen dieses Wunsches für das Kind. Es stimmt grundsätzlich mit den Idealen einer Ehe und Familie nicht überein, daß ein Mann den Geschlechtsverkehr mit der Frau ohne tiefere Gefühlsbewegung, die auf Dauer gewagt und den Mut zu einem Publizitätsakt hat, vollzieht. Die Erfahrungen mit der weiblichen Sexualität sind jedoch inzwischen so weit fortgeschritten, daß man nicht davon ausgehen kann, daß ζ. B. Frauen durch häufig wechselnde Geschlechtspartner persönliche Erfüllung finden. Sicher mag das für bestimmte Frauen zutreffen, die Mehrzahl gerade emanzipierter Frauen, die sich hierzu auch bekennen, beklagen die Verfügbarkeit der Frau für den Mann durch die Pille. Dies sind Probleme, die in einer patriarchalischen Ehe und in einer Ehe, die nach den Gesetzen des BGB geschlossen wird, nicht beseitigt sind. Genausowenig werden diese Probleme, nämlich die Gleichheit der Frau durch vermeintlich freie Begegnungen der beiden Geschlechter gelöst. Anders, als in der Beziehung, in der eine vermeintliche Gleichheit herrscht, muß der Ehemann für die Ehefrau zahlen. Die Mutter der Kinder, die sich ihrer auch annimmt, kann auf gesetzlichen Schutz hoffen. Die Zahl der Unterhaltspflichtverletzungen soll hierbei nicht verschwiegen werden. Aber: Zivil- und strafrechtlicher Schutz sind mehr, als es die ledige Mutter mit dem Kind des Samenspenders zu erwarten hat. Und dabei ist es auch gleichgültig, ob der Name des Samenspenders offenbart werden muß oder nicht. Ein Mann, der die Frau, die sein Kind zur Welt bringt, nie gesehen hat, wird zu diesem Kind nur im Ausnahmefall Bindungen entwickeln können. Eltern lieben doch nicht das biologische Produkt ihres Körpers in dem Kind, sondern auch den Teil, den der Partner, den man liebt, dazu beigetragen hat. Wenn eine Universitätsklinik sich heute dazu entscheiden würde, einer ledigen Frau den Samen eines fremden Mannes zuzuführen, dann wäre dies nicht gesetzwidrig. Ein Gesetz, das einen solchen Vorgang verbietet, gibt es nicht. Aus Humanitätsgesichtspunkten für das Kind, würde man auch einer solchen Frau und ihrem Kind Sozialhilfe, Erziehungsurlaub usw. gewähren. Aus dieser Ausnahme aber die Regel zu machen, indem man einen solchen Zeugungsvorgang für akzeptabel erklärt, ist m. E. nicht begründbar. Der freie Mensch, der ohne einen ihm

V. Die Familie u n d i h r Zusammenleben

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gewachsenen, erwachsenen Partner auskommt und lediglich sein eigenes Abbild im eigenen Kind liebt, ist nicht schutzwürdig. Es muß deshalb grundsätzlich beim Raster der ehelichen Familie bleiben, bei der eine Kindeswohlprüfung nicht stattfindet. Anderes kann für nichteheliche Lebensgemeinschaften, ledige Mütter und Väter und Familien, die aufgrund künstlicher Befruchtungstechnologien entstehen, gelten. Falls man der hier vertretenen Meinung nicht folgt, die insoweit eine heterologe Insemination und In-vitro-Fertilisation für unzulässig hält, dann müßte zumindest im Einzelfall eine Kindeswohlprüfung in Bezug auf die konkrete Lebensgemeinschaft erfolgen. Eine Übertragung dieser Überprüfung auf die eheliche Familie erscheint demgegenüber als Unterhöhlung des Art. 6 Abs. 1 GG. Ehe und Familie verdienen gerade deshalb besonderen Schutz, weil hier Publizitätsakte vorliegen, die eine Überprüfung entbehrlich machen. Lediglich bei Anzeichen, die einen Mißbrauch der Ehe- und Familienverantwortung indizieren, ist staatliches Tätigwerden angebracht. V. Die Familie und ihr Zusammenleben 1. Das Zusammenleben der Familienmitglieder und die Familienaufgabe der Erziehung unmündiger Kinder

Die Rechtsprechung des BVerfG gibt keinen Aufschluß darüber, welche gemeinsamen Lebensinhalte die Familiengemeinschaft begründen. Das Innehaben des gleichen Wohnsitzes hat für die Zuordnungsfunktion jedes einzelnen in einer Familie besondere Bedeutung. Innen- und Außenstehende können die Person, die mit ihnen zusammenlebt, ihrer Familie zuordnen. Durch das Zusammenleben der Familienmitglieder ist es auch möglich, sie von anderen Verwandtschaftsmitgliedern abzugrenzen. Als gemeinsame Lebensinhalte der Mitglieder kommen eine gemeinsame erwerbsmäßige Betätigung, ein gemeinsamer Wohnort und eine Haushaltsführung, bei der nicht abgerechnet wird, sondern der einzelne nach seinen Kräften beiträgt und nach seinen Bedürfnissen genießt, in Betracht 1 1 4 . Bei der Überlegung, ob ein gemeinsamer Wohnort für die Mitglieder einer Familiengemeinschaft zu fordern ist, muß die Wechselwirkung zwischen Funktionszuschreibungen an die Familie und definitorischem Tatbestand „Familie" beachtet werden: Wenn man ζ. B. der Familie Pflege- und Erziehungsfunktionen zuschreibt, muß sie einen gemeinsamen Lebensraum, d. h. dieselbe Wohnung, haben. Wie anders soll sonst diese Familienaufgabe tatsächlich wahrgenommen werden? Die Pflege von ζ. B. Kranken und Klein114 H. Tyrell: Probleme einer Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der privatisierten modernen Kernfamilie, ZfS 1976, S. 393 (409).

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G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e "

kindern setzt naturgemäß ein räumliches Verhältnis „rund um die Uhr" voraus, wenn die Eltern und nicht nur beschäftigte Ammen oder Krankenschwestern diese Primärfunktionen wahrnehmen sollen. Der Zusammenhang von Aufgabe und Tatbestandsmerkmalen der Familie wird hier deutlich. Das Erfordernis eines gemeinsamen Lebensraumes mag demgegenüber anders zu beurteilen sein, wenn die Kinder ζ. B. zur Berufsausbildung auswärtig leben und nur die Semesterferien bei den Eltern verbringen. Man könnte also unterscheiden zwischen einer Gruppe von Eltern und deren unmündigen und noch nicht im eigenen Ehe- und Familienstand lebenden Kindern, bei denen ein Zusammenleben zu fordern ist, sowie einer Gruppe von Eltern und mündigen Kindern, bei denen ein gemeinsamer Haushalt keine Voraussetzung für die Funktion und den Tatbestand „Familie" darstellt. So lautet auch die Schlußfolgerung aus der Rechtsprechung des BVerfG, das einmal von der „ i n der Hausgemeinschaft geeinten engeren Familie" spricht, auf der anderen Seite aber auch eine „lebenslange Familie" in Art. 6 Abs. 1 GG schützen w i l l 1 1 5 . Der Zusammenhang zwischen den Aufgaben der Familie und dem Kriterium „Hausgemeinschaft" w i r d bei der Kibbuzerziehung deutlich. Bereits im ersten Lebensjahr werden die Kinder im Säuglinghaus von einer Säuglingsschwester, der Metapelet, betreut 1 1 6 . Die Mutter kommt lediglich zum Stillen ins Säuglingshaus, der Vater zum Besuch. Im Krankheitsfall obliegt die Kinderpflege ebenfalls der Säuglingsschwester. Das Kind wächst in den folgenden Jahren in der Gesellschaft von Gleichaltrigen (peer groups) in Kinderhäusern auf und besucht seine Eltern in deren Freizeit. Die Pflege der Kinder obliegt also erst der Metapelet und dann den vom Kibbuz gestellten Erziehern. Ein wesentlicher Teil der Erziehung besteht in der Erfahrung der Zusammenlebens mit Angehörigen der gleichen Altersgruppe - der peer group. 2. Gibt es eine Familie, die keine Erziehungsaufgaben als Vater und Mutter erfüllt?

Die Meinung in der Soziologie, ob die Eltern-Kind-Beziehung im Kibbuz als Familie qualifiziert werden kann, ist geteilt. - Eine Meinung stellt darauf ab, ob die Kinder lediglich einem Elternpaar zugeordnet werden, bzw. sich als Kinder ihrer leiblichen Eltern fühlen. Entscheidend sei also, ob Eltern und Kinder eine soziale Gruppe im emotionalen und interaktionalen Sinne darstellen, die auch innerhalb des Kibbuz als solche deutlich abgrenzbar ist. Da auch die „Freizeitgruppe" us BVerfGE: 22 100 (105), 57 170 (178). 116 H. Rosenbaum: Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft, S. 166 ff.

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im Kibbuz diese Merkmale hat, sei die Kernfamilie als Substruktur im Kibbuz identifizierbar. Man könne also von einer Kibbuzfamilie, die keinen gemeinsamen Arbeits-, Eß-, und Schlafraum hat, sprechen. - Die andere Ansicht stellt auf die bereits erwähnten vier Funktionen der Familie ab und konstatiert bei den Kibbuzeltern ein Defizit an Sozialisationsleistungen 117 für ihre Kinder. In den „Kinderstunden" zeigten die Eltern beträchtliches emotionales Engagement - da die materiellen Lebensbedingungen für die Kinder aber durch den Kibbuz geschaffen würden (wie ζ. B. Pflege, Wohnraum, Essensausgabe usw.), hätten die Eltern nur die Autorität von Freunden. Die Eltern-Kind-Beziehung sei ferner von Konfliktfeldern, die das tägliche Zusammenleben von Menschen mit sich brächte, weitgehend entlastet. Zusammengefaßt bedeutet diese Ansicht: „Wenn man die entscheidende Funktion der Familie in der Sozialisation der Kinder sieht, . . . dann kann . . . eine Organisation der Eltern-Kind-Beziehung, in der die Eltern weder die ökonomische noch die erzieherische Hauptlast für ihre Kinder tragen, nicht mehr als Familie bezeichnet werden" 1 1 8 . 3. Die Bedeutung des gemeinsamen Lebensmittelpunkts zur Feststellung des Vorherrschens von Kern- oder erweiterten Familienformen

Neben der „Kibbuzfamilie" ist das Erfordernis eines gemeinsamen Wohnortes für die Mehrgenerationengruppe - die erweiterte Familie - von Bedeutung. Auch hier gibt es wieder ein Zusammenspiel von Familienfunktionen und Lebensordnung. Wenn die Familie lebenslang besteht und Fürsorgeaufgaben für die ältere Generation übernehmen soll, dann wird mit fortschreitendem Alter eine Pflegebedürftigkeit der alten Mitglieder zumindest benachbarte Wohnungen der einzelnen Generationen erfordern. Oft läßt sich zwischen den Eltern und ihren (ζ. B. verheirateten) Kindern und Enkeln eine hohe Kontaktintensität feststellen. Es leben aber nur in 3 % der Haushaltungen Verwandte 119 der Eltern, so daß in der Regel von einer getrennten Haushaltsführung der älteren Generation ausgegangen werden muß. Dennoch besagen internationale Statistiken, daß mindestens 2Δ der bejahrten Eltern (über 65 Jahre alt) - in der Bundesrepublik sogar 75 % täglich zumindest mit einem ihrer Kinder 1 2 0 zusammen sind. Dazu tragen vor allem moderne Kommunikationsmittel bei, wie ζ. B. das Telefon und 117

Ebd., S. 169 ff. Ebd., S. 171. 119 Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Die Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Informationen zur politischen Bildung Nr. 206, Bonn/Berlin, 1985, S. 1. 120 Eva Köckeis: Familienbeziehungen alter Menschen, in: Günther Lüschen/Eugen Lupri (Hrsg.), Soziologie der Familie, Sonderheft 14 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen, 1970, S. 508 (517). 118

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Mobilitätshilfen, wie ζ. B. das Auto. Untersuchungen, die sich mit den „funktionalen Dependenzen und Interdependenzen" im Verwandtschaftsnetz befassen, stellen fest, daß Eltern den verheirateten Kindern oft erhebliche Starthilfen beim Aufbau einer eigenen, statusadäquaten Existenz geben. Auch Hilfen und Dienstleistungen bei Notfällen, wie ζ. B. die Betreuung von Kindern und Kranken, Beratung in allen Lebenslagen, finden in den Beziehungen zwischen Eltern und ihren (ζ. B. verheirateten) Kindern statt. Umstritten sind nun die Schlußfolgerungen, die diese Zahlen zulassen: - Die eine Meinung w i l l den Familienbegriff von der Haushaltsgemeinschaft abtrennen und unter „Familie" ein Interaktionssystem von miteinander verwandten Personen verstehen 121 . Dahinter steht wohl der Gedanke, daß anders die engen Beziehungen zwischen (Ur-)Großeltern und ihren Kindern in ihrem familiären Kontext nicht verstanden werden können. Nicht nur für diese Beziehungen soll ein solcher Familienbegriff gelten, sondern er soll generell als Familienbegriff im Industriezeitalter Geltung beanspruchen 122 . In der Bundesrepublik wäre also der vorherrschende Familientyp die sogenannte modifizierte erweiterte Familie, deren Kennzeichen die Zugehörigkeit von mehr als zwei Generationen und die hohe Kontaktintensität zwischen diesen Personen trotz getrennter Haushaltungen ist. - Die andere Meinung stellt demgegenüber fest, daß der Dienst- und Sachleistungsaustausch jedenfalls in der Mittelschicht in der Regel eine Einbahnstraße darstelle 123 . Die „Jungen" würden für die altgewordenen Eltern gerade nicht im gleichen Maße sorgen, wie sie finanzielle Hilfen der Eltern annähmen. Auch würden die finanziellen Hilfen der Eltern nur zu bestimmten Anlässen (Hausbau, Wohnungsausstattung) und nicht in Form einer regelmäßigen Unterstützung gewährt. Die Kernfamilie wolle sich durch die Annahme dieser Hilfen, die ζ. B. zum Bau eines Eigenheimes verwendet werden, von der erweiterten Familie isolieren und emanzipieren, sich jedoch nicht in sie eingliedern. Auch die Hilfe der Eltern bei Notfällen hätte nur Subsidiär- und Komplementärfunktion 124 ; lasse aber die Autonomie der Kernfamilie grundsätzlich unberührt: „Weder ist die Kernfamilie als normale Wohn- und Haushaltseinheit in Frage gestellt, noch gibt es Belege die gegen die wirtschaftliche Selbständigkeit der (Anm. d. Verf. : Kern-) Familie sprechen, noch ist der unbedingte Primat 121

Ebd., S. 509. * 2 2 Ebd., S. 509. 123 H. Tyrell: Probleme der Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der modernen Kernfamilie, ZfS 1976, S. 408. 124 E. Köckeis: Familienbeziehungen alter Menschen, in: Günther Lüschen/Eugen Lupri (Hrsg.), Soziologie der Familie, Sonderheft 14 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen, 1970,, S. 517.

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der kernfamilialen Binnensolidarität berührt" 1 2 5 . Die Gefühle der Mitglieder innerhalb der Kernfamilie zeichnete sich durch hohe Intimität aus, mit der auch eine Abgeschlossenheit der Kernfamilie gegenüber der weiteren Verwandtschaft einhergehe. Die Kernfamilie sei deswegen relativ unabhängig im Bezug auf die Eltern („structurally unsupported" 126 ) und damit einhergehend auch strukturell isoliert. Die Annahme der vorherrschenden Existenz einer - wenn auch nur modifiziert - erweiterten Familienform zwischen Eltern und Kindern, sei bei einer solchen Exklusivität der Kernfamilie nicht zu rechtfertigen. Dieser Meinungsstreit, inwieweit bei der Familie auf die tatsächliche Lebensgemeinschaft abzustellen ist, sagt nichts darüber aus, welche Direktiven Art. 6 Abs. 1 GG hierzu enthält und inwieweit das Zusammenleben in der Familie rechtlich überhaupt erfaßt werden darf. 4. Die Frage nach dem Zusammenleben der Familie und der Überprüfung des Kindeswohls durch staatliche Gerichte und Behörden

Wenn man das Strukturprinzip „Zusammenleben" betrachtet, dann stellt sich die Frage: Ist für eine nach Art. 6 Abs. 1 GG zu beurteilende Gemeinschaft ein Zusammenleben ihrer Mitglieder zu fordern. a) Die Rechtsprechung des BVerfG aa) Das Zusammenleben der erweiterten und der Kernfamilie In der Definition des Gerichts taucht der Begriff der „Gemeinschaft von Eltern und Kindern" 1 2 7 auf. Lediglich in einer Entscheidung, die es ablehnt durch Art. 6 Abs. 1 GG die Generationengroßfamilie zu schützen 128 , wird auf „die grundsätzlich in der Hausgemeinschaft geeinte engere Familie: die Eltern mit ihren Kindern" Bezug genommen 129 . Das Gericht geht dabei vom Regelfall aus, daß das Kind in einer Familiengemeinschaft mit den verheirateten Eltern lebt; Vater und Mutter pflegen und erziehen das Kind gemeinsam 130 . 125 H. Tyrell: Probleme der Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der modernen Kernfamilie, ZfS 1976, S. 410. 126 T. Parsons: The American Family: It's Relations to Personality and the Social Structure, in: T. Parsons/R.F. Bales, Family Sozialization and Interaction Process, New York/London, 1955, S. 3 (20). 127 BVerfGE: 10 59 (66), 49 286 (300). "β BVerfGE 48 327 (339). 129 Dies ergibt sich aus dem Verweis des BVerfG auf E. Schef fier: Ehe und Familie, S. 252. 130 BVerfGE: 31 194 (205), 61 358 (372).

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G. Der A u f b a u eines Systems „ F a m i l i e "

Generell muß - wie oben gezeigt - nach dem Stadium des Familienzyklus unterschieden werden. Bei verheirateten oder mündigen Kindern w i r d man eine „Gemeinschaft" von Eltern und Kindern genügen lassen müssen. Diese Unterschiede werden auch in der Wortwahl des Gerichts deutlich. Wenn man nämlich die Rechtsprechung bezüglich verheirateter Eltern und Kinder mit der Rechtssprechung zur „Ehe" vergleicht, dann fällt auf, daß bei der Familie immer von der „Gemeinschaft" und nicht - wie bei der Ehe - von einer „Lebensgemeinschaft" gesprochen w i r d 1 3 1 . Diese differenzierte Wortwahl erkennt man auch in der Rechtsprechung zur Halbfamilie. Hier bestätigt sich, daß zwischen „Gemeinschaft" und „Lebensgemeinschaft" für das Gericht ein sachlicher Unterschied besteht. bb) Die Halbfamilie bestehend aus Mutter und K i n d Nach Rechtsprechung des BVerfG sind die nichteheliche Mutter und ihr Kind eine Familie im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG 1 3 2 . Anders als bei verheirateten Eltern wird für dieses Verhältnis nicht ausdrücklich auf ein Zusammenleben bzw. eine Lebensgemeinschaft abgestellt; die „Gemeinschaft" genügt offenbar 133 . cc) Die Halbfamilie bestehend aus Vater und Kind Anderes scheint dagegen im Verhältnis von nichtehelichem Vater und Kind zu gelten. Die Entscheidungen des BVerfG müssen hier in einer gewissen Kontinuität gesehen werden. Ausgangspunkt für diese Rechtsprechung war § 1589 Abs. 2 BGB, der die Verwandtschaft des nichtehelichen Kindes mit seinem Vater ausschloß. Mit dem Wegfall von § 1589 Abs. 2 BGB wurde auch diese personenrechtliche Beziehung zur Familie im Sinne des Verfassungsrechts erklärt 1 3 4 . Später erfuhr diese Feststellung eine nicht unerhebliche Einschränkung: In einer weiteren Entscheidung sollte nämlich nur noch „jedenfalls das Zusammenleben von nichtehelichem Vater und Kind als eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Gemeinschaft anzusehen 135 " sein. Das „jedenfalls" ist umso bedeutsamer, als in dem der ersten Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt die Beschwerdeführer gerade nicht mit ihren Kindern zusammenleben 136 . Die Schlußfolgerung, daß das BVerfG sich bei den nach seiner Rechtsprechung geschützten Gemeinschaften in Art. 6 Abs. 1 GG zu Unterscheidun131

BVerfGE: 10 59 (66). BVerfGE: 18 97 (106). 1 33 BVerfGE: 45 104 (123). 134 BVerfGE: 45 104 (123). «s BVerfGE: 56 363 (382). 136 Bemerkenswert ist auch, daß das BVerfG den neutralen Begriff der „Beziehung" beim nichtehelichen Vater und Kind bevorzugt, BVerfGE: 45 104 (123), 48 327 (339). 132

V. Die Familie u n d i h r Zusammenleben

235

gen im Bezug auf das Erfordernis des Zusammenlebens genötigt sieht, gründet sich ferner auf die diffizile Unterscheidung, die das Gericht bei der Zuerkennung des Erziehungsrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG an einen nichtehelichen Vater trifft 1 3 7 . Für die Halbfamilie bestehend aus Mutter und Kind und die eheliche Familie wird ein Zusammenleben bzw. dessen Nachweis nicht gefordert. Demgegenüber wird bei der Halbfamilie, bestehend aus Vater und Kind, ein Zusammenleben und dessen Überprüfung verlangt. Weiteren Aufschluß über das Tatbestandsmerkmal „Zusammenleben" erhält man in den „Pflegekindentscheidungen" . dd) Die Pflegefamilie als „soziale Familie" Ohne weitere Begründung wird hier festgestellt, es sei allgemein anerkannt, daß zu den Kindern auch die Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder gehören 138 - 1 3 9 . Da zu diesen Pflegekindern auch solche gehören, die sich dauernd bei der Pflegefamilie aufhalten 140 , stellt sich die Frage, ob ein solches Pflegekind dann zwei Familien angehört: Einer sozialen Familie, mit der es zusammenlebt und einer leiblichen Familie, von der es die unmittelbare Trennungsphase bereits überwunden hat. Die Pflegefamilie wird man als größte Ausnahme von der Regel einschätzen müssen. Anders als bei der auf Adoption gegründeten Personenbeziehung ist es hier der Rechtsordnung nicht gelungen, für ungeeignete oder uninteressierte Eltern Ersatzliebe und -fürsorge zu beschaffen. Obwohl das BVerfG keinen Unterschiede macht, wie lange oder wie oft sich das Kind bei den Pflege- oder den eigenen Eltern aufhält, ist zu differenzieren. - Lebt das Pflegekind nur bei den Pflegeeltern (§§ 1630 Abs. 3, 1632 Abs. 4 und 1744 BGB) und sind die eigene Eltern dauernd (nicht nur in Notfällen wie Krankheit, Tod usw. eines Elternteils) an der Fürsorge für das Kind verhindert und uninteressiert, dann wird auch die Pflegefamilie durch das Zusammenleben der Mitglieder umgrenzbar. - Falls das Kind nur stunden- oder tageweise bei den Pflegeeltern lebt, ist eine Familienzugehörigkeit neben oder statt der Herkunftsfamilie nicht begründet. Eine ähnliche Wertung findet sich auch im Steuerrecht. Hier hat sich der einfache Gesetzgeber entschlossen, den Kinderfreibetrag für das Pflegekind den Pflegeeltern anzurechnen, wenn 137 Siehe hierzu die Ausführungen unter E IV 4. 138 BVerfGE: 18 97 (106). 139 Zur Rechtsstellung der Pflegeeltern allgemein R. Gleißl: Zur Rechtsstellung der Pflegeeltern nach neuem Recht, FamRZ 1982, S. 122. HO BVerfGE: 68 176 (187, 189).

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G. Der A u f b a u eines Systems „ F a m i l i e "

zwischen Pflegeeltern und -kind ein familienähnliches Verhältnis und ein auf längere Dauer berechnetes Band besteht, eine Aufnahme des Pflegekindes in den Haushalt der Pflegeeltern vorliegt und eine Beendigung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses mit den leiblichen Eltern vorliegt (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG).

b) Eigener Lösungsvorschlag Wie bereits aus dem Definitionenkalender dieser Arbeit bzw. aus den geschichtlichen Erfahrungen hervorgeht, gibt es „Regelfamilien" und Familien, die aus der Not geboren sind, wie ζ. B. Adoptiv- und Pflegefamilien; es gibt individualistische Lebensformen, wie ζ. B. Konkubinate oder Beziehungen mit Mätressen, es gibt nichteheliche Lebensgemeinschaften und es gibt Beziehungen, die nur eine Nacht andauern. Allen diesen Lebensformen ist etwas gemeinsam, wenn nämlich Kinder in diesen Personenbeziehungen leben. Ausgehend vom Grundsatz, daß Art. 6 Abs. 1 GG ein Menschenrecht enthalte, hat das BVerfG sich immer wieder bemüht zu betonen, daß Art. 6 Abs. 1 GG jede Familie, die arme, die reiche usw. schütze. Man kann aber nicht mehr davon ausgehen, daß Art. 6 Abs. 1 GG dies in gleicher Weise tut. Bei unterschiedlicher Schutzbedürftigkeit bestimmter in Art. 6 Abs. 1 GG geschützter Personengruppen hat das BVerfG in letzter Zeit immer den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu Art. 6 Abs. 1 GG hinzuzitiert. Auch wenn man die Rechtssprechung bezüglich der „Erst"- und „Zweitfamilie" liest, ergibt sich eine unterschiedliche Behandlung zweier Familienformen. Ein Grundsatz der Gleichheit aller Familien, die eine unterschiedliche Behandlung vor dem Recht ausschließt, ist unter Geltung des Art. 6 Abs. 1 GG nicht mehr haltbar. Unterschiedliche Kriterien bei der gerichtlichen Überprüfung eines Tatbestandsmerkmals der Familie, nämlich des Zusammenlebens, sind deshalb angebracht, um nicht den Freiraum, der in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt ist, durch eine staatliche Überprüfung im Einzelfall, auszuhöhlen. Ein Differenzierungsmodell soll im Folgenden vorgestellt werden. aa) Die eheliche Familie Hier muß unterschieden werden zwischen der vollständigen ehelichen Familie und der Restfamilie in Folge von Scheidung oder Tod eines Ehepartners.

V. Die Familie u n d i h r Zusammenleben

237

- Die vollständige Familie Bei der ehelichen Familie genügt die Gemeinschaft von Eltern und Kindern, ohne daß es auf ein Zusammenleben aller Familienmitglieder im Einzelfall ankommt. Zu begründen ist dies mit der Vermutungswirkung, die die durch Publizitätsakt geschlossene Ehe auch für und gegenüber den Kindern entfaltet. Das bürgerliche Eherecht kennt ein Getrenntleben (§ 1567,1672 BGB) der Eltern. Erst mit der Auflösung des gemeinsamen Haushalts und einer Abwendung eines Ehegatten (§ 1567 Abs. 1 Satz 1 BGB knüpft an eine subjektive Komponente an) versagt die Rasterfunktion der ehelichen Familie. Nach § 1671 Abs. 2 BGB wird dann für die Zuordnung des Sorgerechts zum einen oder anderen Elternteil eine individuelle Kindeswohlentscheidung durch ein staatliches Gericht ermöglicht. Bis zu diesem Zeitpunkt sind bei der vollständigen, ehelichen Familie Kinder den Eltern ohne eine solche ex ante erfolgende, individuelle Kindeswohlentscheidung (in den Grenzen des § 1666 BGB) zugeordnet. Sollte ein Elternteil tatsächlich - ζ. B. durch vorübergehende Entfernung - verhindert sein, die elterliche Sorge auszuüben, so wird nach § 1678 Abs. 1 BGB die elterliche Sorge vom anderen Teil ausgeübt. Grundsätzlich besteht bis zur Scheidung für beide Elternteile die Möglichkeit, das Personensorgerecht für ihr Kind zu erlangen. Bis zur Scheidung versucht auch der Gesetzgeber den Ehepartnern „alle Türen offen zu halten" (§ 1567 Abs. 2 BGB). Solange die ehelichen Gemeinschaft besteht ist eine Überprüfung des Zusammenlebens ihrer Mitglieder nicht erforderlich. Hier reicht allein die einmal übernommene Verantwortung für die Kindesmutter oder den Kindesvater bei den erwachsenen Mitgliedern aus. - Die Restfamilie Ob die Restfamilie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt ist, ist umstritten 1 4 1 . Die Autonomiefähigkeit dieser Familie ist begrenzt. Auch die Mittel des modernen (Sozial-) Versicherungsstaates gleichen den Verlust eines Unterhaltspartners nicht immer aus, geschweige denn, daß dieselben Erziehungsleistungen von nur noch einer erwachsenen Person geleistet werden können. Dennoch ist die Restfamilie genauso wie die eheliche Familie, ohne daß es auf ein unmittelbares Zusammenleben ihrer Mitglieder ankommt bzw. dies zu prüfen ist, in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Durch die Eheschließung wird ein gesetzliches Verwandtschaftsverhältnis mit den Mitgliedern der Herkunftsfamilien beider Elternteile herge141 Verneinend: H. Lecheler: Verfassungsgarantie und sozialer Wandel, DVB1 1986, S. 905 (907).

G. Der Aufbau eines Systems „ F a m i l i e "

238 142

stellt . Dieses Verwandtschaftsverhältnis begründet eine moralische Verantwortung, die sich in der hohen Zahl von Adoptionen innerhalb von Familienverbänden dokumentiert 143 . Es handelt sich deshalb bei dem Schutz der Restfamilie nicht um einen nachwirkenden Vertrauensschutz für die ehemals vollständige Familie, sondern um eine Konsequenz aus der eigenständigen Wertigkeit der ehelichen Familie. Es handelt sich hier nicht um eine von vornherein chronisch vom Staat abhängige Familie, sondern um eine schicksalsbedingte Notlage. Diese Annahme paßt auch mit der neueren Auffassung in der Literatur, daß die erweiterte Familie in Art. 6 Abs. 1 GG zu schützen sei, gut zusammen. Denn oft wird die RestKernfamilie innerhalb des erweiterten Verwandtenverbandes aufgefangen. bb) Die sukzessiven Familien Die sukzessiven Familien sind kein neues Problem. Neu ist lediglich ihre Ursache, nämlich die erhöhte Zahl von Scheidungen und eine längere Lebensdauer der Menschen. Hier könnte dem Zusammenleben mit einem Elternteil konstitutive Bedeutung für die Begründung einer Familie zukommen. Stiefkinder werden deshalb in ständiger Rechtsprechung zur Familie des Stiefelternteils gezählt 144 . Dies ist nur in dem Falle vertretbar, in dem der andere Elternteil gestorben ist. Eine weiterbestehende Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie ist im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG dann nicht geschützt. Anders als Art. 6 Abs. 2 GG knüpft Art. 6 Abs. 1 GG nämlich nicht an den Begriff der sozialen Elternschaft an, sondern die eheliche Familie ist auch im Falle ihres Scheiterns immer noch die „Familie" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG. Auch die Partnerschaft von Stiefeiternteil und Vater oder Mutter kann nämlich geschieden werden. Wichtig ist dann, daß das Kind zumindest über eine durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familienbeziehung verfügt. Solange der einfache Gesetzgeber die Stiefelternrechte und -pflichten nicht zur Kenntnis nimmt, kann diese Stiefelternbeziehung nicht zu Lasten (anstatt) der ursprünglichen Familienbeziehung besonders geschützt werden. Man könnte daran denken, den besonderen staatlichen Schutz von der Überprüfung der tatsächlichen Fürsorge, die der Stiefelternteil für das Stiefkind erbringt, abhängig zu machen. In diesem Fall würde aber auch die Verbindung des vom Stiefelternteil verdrängten oder ersetzten Elternteils mitüberprüft werden. Es wäre deshalb vielleicht sachgerechter, die Gemein142 Bei der Halbfamilie ist dies zum Vater nur nach festgestellter Vaterschaft der Fall; und daß dieses Verwandtschafts Verhältnis eine andere Qualität hat, kommt sogar in den Vorschriften über den Erbausgleich der §§ 1934 a ff BGB zum Ausdruck. 143 Statistisches Bundesamt Wiesbaden: Erzieherische Hilfen und Aufwand für die Jugendhilfe, Reihe 6.1, 1983, S. 14, weist einen Prozentsatz von 50 % der Adoptionen aus, die durch Verwandte oder Stiefeltern erfolgen. 144 BVerfGE: 45, 104 (123).

V. Die Familie u n d i h r Zusammenleben

239

schaft von Stiefeiternteil und Stiefkind in Art. 6 Abs. 2 GG zu schützen, da durch den S tief eiternteil, soweit er sich tatsächlich um das Kind annimmt, ein Erziehungsrecht des Personensorgeberechtigten Elternteils besser ausgeübt werden kann. Wenn man Stiefelternteilen Rechte zukommen lassen will, dann sind diese immer kindeswohlbestimmt und im Einzelfall auch auf die tatsächliche Wahrung des Kindeswohls nachprüfbar. Folgt man dem nicht, dann ist die Gemeinschaft von Stiefelternteil und Kind nur dann als Gemeinschaft im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG anzusehen, wenn ein Zusammenleben und eine tatsächliche Fürsorgeübernahme vorliegt. Mindestens einer solchen Prüfung bedarf es - anders als bei der ehelichen Familie. cc) Die Pflegefamilie Bei der Pflegefamilie ist durch öffentlichen Gestattungsakt (§27 JWG) die tatsächliche Sorge (nur in Einzelfällen) die rechtliche Personenfürsorge (§ 1632 Abs. 4 in Verbindung mit § 1630 Abs. 3 BGB) auf neue Träger übergegangen. Vor allem im letzteren Fall stehen sich zwei durch Publizitätsakte gebundene Verantwortungsträger gegenüber: zum einen die Herkunftsfamilie, zum anderen die neue soziale Familie. Hier könnte man deshalb die Zugehörigkeit des Kindes zu beiden Familien bejahen. Da die Pflegeerlaübnis jederzeit widerruf bar ist - was zwar wegen der Kindeswohlbestimmtheit nicht sehr praktisch, im Einzelfall aber dennoch von Ausschlag sein kann auf der anderen Seite die Verantwortung und das Engagement der Pflegefamilie hoch zu bewerten sind, ist die Entscheidung, ob das Kind zwei Familien angehören soll, nicht einfach. Im Interesse einer klaren Zuweisung jedes Kindes zu einer Familie ist der verwandtschaftsbestimmten Familie der Vorrang zu geben, soweit nicht eine dauernde Familienpflege und eine Abkehr der Eltern feststellbar ist. Die Pflegefamilie hat die Besonderheit, daß sie staatlich eingesetzt und damit von vornherein kindeswohlgebunden und überprüfbar bleiben muß. Dies bedeutet weiter, daß ein Zusammenleben und eine tatsächlich familiäre Verbundenheit in der Pflegefamilie gerichtlich überprüfbar und belegbar sein muß. Die Pflegefamilie kann deshalb nur dann als „Ersatzfamilie" in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt werden, wenn sie tatsächlich einen Ersatz darstellt; wenn sie also die Pflegeauf gaben wirklich familienähnlich auf Dauer erfüllt. Die natürlichen Eltern können sich dann nur noch auf ihr pflichtgebundenes Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG berufen.

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G. Der A u f b a u eines Systems „ F a m i l i e "

dd) Die Halbfamilie bestehend aus Mutter und Kind Diese Form der Halbfamilie ist sicher in Art. 6 GG am stärksten geschützt. Art. 6 Abs. 5, 4, 3 1 4 5 , 2 GG nehmen in der einen oder anderen Form auf sie Bezug. Bis zur Einführung der modernen Methoden der In-vitro-Fertilisation galt auch der Satz: mater semper certa est, d. h. die Zuordnung des Kindes zur Mutter ist auch das Zentrum unseres grundsätzlich verwandtschaftlich ableitbaren Familienbegriffs. Dieser Einheit, die über die Ehe mit der Mutter erst die Familienzugehörigkeit des Vaters vermittelt, die Familieneigenschaft zu versagen, ist auf den ersten Blick schwer begründbar. Der Schluß von der größeren auf die kleinere Einheit (argumentum maiore ad minus) scheint zwingend. Die Mutter-Kind-Beziehung ist aber dann kein quantitatives „minus" zur Familie, sondern ein aliud, wenn man einen Autonomiegedanken in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet sieht und das Institutionenraster nur durch die grundsätzlich gleichberechtigte Erziehung von Vater und Mutter gewahrt sieht. Gegen die Familieneigenschaft dieser Personengruppe spricht die staatliche Pflegerbestellung (§ 1709 BGB). Zwar kann der Inhalt einer verfassungsrechtlichen Familie nicht aus einer Zusammenschau des einfachen Rechts erklärt werden, denn der Schluß von einfachen Recht auf Verfassungsrecht ist falsch; dennoch hat das einfache Recht in vielen familienrechtlichen Fragen Indizcharakter. Die Berechtigimg der staatlichen Pflegerbestellung zur Halbfamilie bestehend aus Kind und Mutter muß in Frage gestellt werden. Früher, als das illegitime Kind der Mutter ein Schandpfahl für deren Familie und für sie selbst war, mögen Befürchtungen gerechtfertigt gewesen sein, daß sie zum Kind keine Beziehung aufbauen könne. Im Zeitalter der Pille und anderer Verhütungsmittel sowie der Abtreibungsmöglichkeiten nach § 218 StGB ist die Berechtigung für eine solche staatliche Einmischung nicht mehr gegeben. Wenn man die Halbfamilie in Art. 6 Abs. 1 GG schützen will, dann kann sie keine solche Vermutung der Wahrnahme ihrer Erziehungsfähigkeiten für sich in Anspruch nehmen wie die eheliche Familie. Gerichtlich überprüfbar wäre dann bei dieser Beziehung immer die Kindeswohlgebundenheit und die familiäre Verbundenheit bzw. das Zusammenleben der Mitglieder. Anders als die Rechtsprechung des BVerfG muß die nichteheliche Mutter sich um ihr erziehungsbedürftiges Kind zumindest kümmern - ein Indiz ist das Zusammenleben - um als „Familie" im Sinne des Art. 6 GG anerkannt werden zu können.

145 Wobei E. Scheffler: Ehe und Familie, S. 252, die den Wortlaut des Art. 6 Abs. 3 GG auch auf die Gemeinschaft von nichtehelichem Kind und Mutter bezieht und daraus den Schutz dieser Gemeinschaft i n Art. 6 Abs. 1 GG ableitet.

V. Die Familie u n d i h r Zusammenleben

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ee) Die Halbfamilie bestehend aus Vater und Kind Eine solche Gemeinschaft kann nur im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 GG zu schützen sein. Der Vater kann Rechte an seinem Kind nur durch die Heirat mit der Mutter, oder deren Einwilligung in eine Adoption, oder durch den Tod der Mutter erlangen. Sein „Umgangsrecht", das von der Mutter auch in einigen Grenzen ausgehöhlt werden kann (§ 1711 Abs. 2 BGB), rechtfertigt nicht den besonderen Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 GG kann dann jeweils überprüft werden, ob eine solche Gemeinschaft dem Kindeswohl entspricht, oder nicht. Hier wird auch darauf abzustellen sein, ob der Vater sich tatsächlich um das Kind kümmert. Ein Zusammenleben innerhalb dieser Gemeinschaft w i r d dafür Indizcharakter haben und deshalb zu prüfen sein. ff) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern Die nichteheliche Lebensgemeinschaft ist keine Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG, da sie zur Autonomie nicht fähig ist, und nicht davon ausgegangen werden kann, daß sich beide Elternteile, bzw. auch beide Herkunftsfamilien wie bei der Familie des Art. 6 Abs. 1 GG einander verpflichtet fühlen. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 GG kann eine solche Lebensgemeinschaft zwischen Vater und Mutter Berücksichtigung finden, wenn der Vater mit Mutter und Kind tatsächlich zusammenlebt, d. h. durch die faktische Herstellung der Erziehungsgemeinschaft der gemeinsame Erziehungswille offenkundig gemacht ist 1 4 6 . Andernfalls wird die Wahrung des Kindeswohls im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG in der konkreten Beziehung überprüft und dargelegt werden müssen, um einen besonderen Schutz zu rechtfertigen. gg) Die modifizierte, erweiterte Familie Nach neueren Veröffentlichungen soll diese Familienform in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt werden 147 . Wenn man dies bejaht, dann kommt man zu einer Zugehörigkeit jedes einzelnen zu vielleicht vier Familien, die im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sein sollen: seiner Herkunftsfamilie und seiner eigenen Zeugungsfamilie und zu den Herkunftsfamillien seiner Eltern. Mathematisch gesprochen hätte man folgenden Widerspruch: die Eltern des Vaters sind zwar Mitglieder ihrer Familie und gleichzeitig M i t glied der Familie ihres Kindes, die Eltern der Mutter sind gleichzeitig Mit146 BSG, Urt. vom 12.11.1981, MDR 1982, S. 699. 147 H. Steiger: Veröffentlichung der Vereinigimg der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1987 (45), Berlin, S. 56 (79), wobei die erweiterte Familie geschützt sein soll; also eine Familienform, die lediglich 3 % der Haushalte betrifft. 16 Schmid

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G. Der A u f b a u eines Systems „ F a m i l i e "

glied ihrer eigenen Familie und der Familie ihres Kindes, beide Schwiegereltern gehören aber nicht der Familie der jeweils anderen Eltern an. In der Rechtsprechung des BVerfG scheint die (modifizierte) erweiterte Familie fest verankert zu sein, wenn nämlich das Gericht ausführt, daß die Familie genauso wie die eheliche Lebensgemeinschaft lebenslang sei 148 . In Widerspruch hierzu steht aber die Feststellung des BVerfG, daß lediglich die Klein-(Kern-)Familie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sei 149 . Die Großeltern gehören der Familie ihres Kindes an, der Enkel gehört der Familie seines Vaters an, Großeltern und Enkel sind aber nicht Mitglied einer Familie, der gleiche Widerspruch wie oben. Auf der anderen Seite überzeugt, daß die Familie - abgesehen von der Erziehungsbedürftigkeit des Art. 6 Abs. 2 GG - einen lebenslangen, eigenen Wert darstellt, und deshalb nicht ζ. B. mit der Heirat der Kinder oder deren Volljährigkeit endet. Dennoch hat die (modifizierte) erweiterte Familie nur in seltenen Fällen solche Faßbarkeit und Überschaubarkeit, wie sie die Kernfamilie besitzt, für sich. Deshalb ist ein Mittelweg einzuschlagen: Anders als das BVerfG, daß die Generationengroßfamilie generell vom Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG ausnehmen will, ist die modifizierte, erweiterte Familie dann geschützt, wenn durch sie eine Restfamilie „aufgefangen" w i r d 1 5 0 . In diesen Fällen, in denen beispielsweise die Großmutter die Kinder der geschiedenen Mutter erzieht und sie bei ihr leben, ist einer solchen Familie Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG zu gewähren, der aber ähnlich wie bei der Pflegefamilie an die tatsächliche familiäre Verbundenheit und Fürsorgeübernahme, die nachzuprüfen und zu belegen ist, anknüpft. hh) Alternativfamilien Die Tatsache, daß das Zusammenleben einer Personengruppe allein keinen Familienschutz nach Art. 6 Abs. 1 GG auslösen kann, zeigen auch die Alternativfamilien. Hier handelt es sich um die Durchbrechung des Rasters der Institution der ehelichen Familie oder der durch Gestaltungsakt begründeten Verantwortungsübernahme. Zudem schließt das grundsätzlich geltendes Verwandtschaftsprinzip als Familienbegründungsprinzip eine solche Aufwertung der Lebensgemeinschaft aus.

VI. Zusammenfassung

Es wurde dargestellt, welche Funktionen, welchen Nutzen, welche Formen, welche Tatbestandsmerkmale ein Teilsystem „Familie" haben kann. ι « BVerfGE: 57, 170 (178). 1 49 BVerfGE: 48, 327 (339). 150 Ein Fall mit umgekehrten Vorzeichen: BVerfG, Beschluß vom 10.11.1981, FamRZ 1982, S. 244 ff.

VI. Zusammenfassung

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Es wurde auch bereits versucht, diese Strukturmerkmale in die Rechtssprechung des BVerfG vom Ergebnis her einzuarbeiten. Inwieweit die oben angesprochenen, möglichen Erscheinungsformen und Aufgaben der Familie Gegenstand der Beratungen zum verfassungsrechtlichen Schutz der Familie geworden sind, soll im folgenden Kapitel erörtert werden.

H . Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie I. Die Entstehungsgeschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie in der Weimarer Reichsverfassung - Art. 119 bis 121 der W R V als verfassungsrechtliche Vorbilder des Art. 6 G G D i e Aussagen des heutigen A r t . 6 G G f i n d e n sich i n der W R V auf mehrere V o r s c h r i f t e n v e r t e i l t . So e n t s p r i c h t z. B. A r t . 6 Abs. 5 G G nahezu w ö r t l i c h A r t . 121 W R V , w ä h r e n d A r t . 6 Abs. 2 G G eine Parallele i n A r t . 120 W R V f i n det u n d der Gedanke des A r t . 119 Abs. 3 W R V i n A r t . 6 Abs. 4 G G w i e d e r k e h r t . W i c h t i g ist eine Ü b e r s i c h t über das Zusammenspiel u n d die F o r m e n der unterschiedlichen „ F a m i l i e n n o r m i e r u n g e n " , da sich, anders als b e i den Beratungen z u m G G , h i n t e r diesen systemmatischen E i n o r d n u n g e n u n d T r e n n u n g e n wohlausgehandelte K o m p r o m i s s e zwischen den an der Verfassungsgebung b e t e i l i g t e n Parteien verbergen u n d auch nachweisen lassen.

1. Der Text der FamilienVorschriften der WRV D i e W R V verpflichtete i h r e n Staat m i t folgenden W o r t e n z u r L ö s u n g seiner f a m i l i e n - u n d j u g e n d r e c h t l i c h e n Aufgaben: Art. 119 WRV: Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staats und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats. Art. 120 WRV: Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die Staatliche Gemeinschaft wacht. Art. 121 WRV: Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern 1 .

I. Ehe u n d Familie i n der Weimarer Reichs Verfassung

245

2. Die mit Art. 119 bis 121 WRV befaßten Verfassungsgeber

Die Nationalversammlung, der Verfassungsausschuß (8. Ausschuß) und ein Unterausschuß waren mit den familienrechtlichen Vorschriften befaßt. Die Beratungen des Unterausschusses sind nicht protokolliert worden, bezüglich der Nationalversammlung und des Verfassungsausschusses liegen stenografische Berichte vor 2 . Die Erörterungen in der Nationalversammlung und im Verfassungsausschuß können nur richtig gewürdigt werden, wenn man die sie begleitenden Zeit- und Rechtsumstände kennt. a) Die Nationalversammlung Die Nationalversammlung bestand aus 423 Mitgliedern, die sich hauptsächlich aus folgenden Parteien zusammensetzten: Sozialdemokraten (ca. 39 % S), Zentrum (ca. 22 % Z), Deutsche Demokratische Partei (ca. 18 % DDP), Deutsch Nationale Volkspartei (ca. 10 % DNVP), Deutsche Volkspartei (5 % DVP) und Unabhängige Sozialdemokraten (5 % USPD) 3 . Die Nationalversammlung hatte Doppelfunktion: Zum einen war sie Verfassungsgebungskörperschaft, zum anderen erfüllte sie die Funktionen eines Parlaments. Der erste Verfassungsentwurf stammte von dem Innenminister Hugo Preuß 4. Am 21.02.1919 wurde der Verfassungsentwurf der Nationalversammlung mit Zustimmung des Staatenausschusses zugeleitet. Dieser Entwurf hatte nur drei Paragraphen mit Grundrechtscharakter. Die großen Zeitverluste, die bei der Frankfurter Nationalversammlung wegen der Beratung der Rechte der Deutschen hingenommen werden mußten und die später nicht wieder aufgeholt werden konnten 5 , sollten so vermieden werden. In diesem ersten Verfassungsentwurf fand sich genauso wie in der Frankfurter-Paulskirchen-Verfassung von 1849 keine Erwähnung von Ehe und Familie. Auch das zweite, maßgebliche Entwurfsmaterial für die WRV, 1 Art. 122 WRV: Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung zu schützen. Staat und Gemeinden haben die erforderlichen Einrichtungen zu schaffen. 2 So auch D. Schwab: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie, S. 893 (895). 3 E. Heilfron: Die Deutsche Nationalversammlung, 1. Bd, S. 199. 4 Dieser Verfassungsentwurf konnte der Nationalversammlung nicht unmittelbar vorgelegt werden, da sich die Gliedstaaten gegen eine absolute Souveränität der Nationalversammlung über ein Verfassungswerk ohne Beschränkung durch die Gliedstaaten zu entscheiden, wehrten (F. Pötzsch-Heffter: Handkommentar der Reichsverfassung, S. 14 ff). Mit vor allem von Bayern vorgebrachten staatstheoretischen Bedenken bezüglich des Fortbestandes des Reiches und der Souveränität der Nationalversammlung erreichten die Länder die Einsetzung eines besonderen Staatenausschusses, dem die Aufgabe des Entwurfes eines provisorischen Grundgesetzes übertragen wurde. Dieses provisorische Grundgesetz wurde am 10.02.1919 von der Nationalversammlung verabschiedet und verkündet (F. Pötsch-Heffter: Handkommentar der Reichs Verfassung, S. 17). 5 Willibalt Apelt: Geschichte der Weimar Verfassung, München, 1946, S. 59.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

nämlich die „ Volksverständlichen Grundrechte" nach einem Entwurf von F. Naumann enthielten keine familienrechtlichen Regelungen6. Dieser zweite Entwurf leistete aber die gedankliche Vorarbeit für die spätere Überschrift des zweiten Hauptteils der Verfassung „Grundrechte und Grundpflichten". In diesem Teil wurden auch die „Familienvorschriften" angesiedelt. Die erste Lesung endete mit der Überweisung der Entwürfe an einen 28-köpfigen Ausschuß, den Verfassungsausschuß (8. Ausschuß). b) Der Verfassungsausschuß Er setzte sich aus Mitgliedern der Sozialdemokraten (11), des Zentrums (6), der Deutsch Demokratischen Partei (5), der Deutsch Nationalen Volkspartei (3), der Deutschen Volkspartei (2) und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (1) zusammen. c) Der Unterausschuß Weiter wurde ein Unterausschuß gebildet, der dem Verfassungsausschuß vorschlug, in den Preuß'schen Entwurf einen Art. 32 a aufzunehmen, der einen Ehe- und Familienschutz enthielt 7 . Da die Verhandlungen im Unterausschuß nicht protokolliert wurden, ist über den Grund und über die relativ späte Aufnahme (2. Lesung) des Ehe- und Familienlebens in die verfassungsrechtlichen Schutzbereiche der WRV nichts bekannt. Rückschlüsse lassen sich allenfalls aus den Stellungnahmen einzelner Mitglieder im Verfassungsausschuß und in der Nationalversammlung ziehen. So hat der Berichterstatter auch des Unterausschusses, Dr. Beyerle, vor der Nationalversammlung erwähnt, daß der Entwurf „ursprünglich weitergehende Vorschläge, in denen oberste Grundsätze des bürgerlichen Eherechtes enthalten waren" 8 , kannte. Vielleicht haben auch die Zeitumstände die Aufnahme der familienrechtlichen Artikel begünstigt: „Wir wissen alle, wie verheerend die lange Kriegsdauer auch auf diesem Gebiete in unserem Volke gewirkt hat innerhalb und außerhalb der Familie, und wenn w i r überall helfend und wiederaufbauend wirken müssen, dann gewiß auf diesem unendlich wichtigen Gebiet der Festigung der Ehe" 9 .

6 Vorgelegt am 31.03.1919, in Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, veröffentlicht in der Reihe: Stenografische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages (zitiert: „Verhandlungen"), Band 336 (Anlagen), S. 171 ff. 7 Verhandlungen, Band 336, S. 11 f. 8 Abg. Dr. Beyerle (Z): Verhandlungen, Band 328, S.1598. 9 Abg. Neuhaus (Z): Verhandlungen, Band 328, S. 1602.

I. Ehe u n d Familie i n der Weimarer Reichserfassung

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3. Die Stellungnahmen im Verfassungsausschuß

a) Art. 119 WRV Der Berichterstatter des Unterausschusses, Dr. Beyerle, begründete den Versuch einer verfassungsmäßigen Gewährleistung der Ehe mit dem „volkserzieherischen Wert der Grundrechte", die es notwendig machten, „ . . . auch die Ehe als Grundpfeiler des sozialen Lebens nicht ohne Erwähnung zu lassen" 10 . Noch weitergehend ist die Äußerung des Abg. Koch (Z), der feststellt, daß „alle menschlichen und göttlichen Dinge hier in den Grundrechten erschöpfend zu regeln" 1 1 seien. Deshalb könne man an der Ehe nicht vorübergehen 12 . Die Gegner des Entwurfs wendeten sich nicht gegen die Schutzwürdigkeit der Ehe, sondern machten ein anderes Grundrechts- oder Verfassungsverständnis geltend 13 : „ I n der Verfassung ist nicht der Platz, um derartigen politischen Grundsätzen Ausdruck zu geben" 14 . Diese von mehreren Ausschußmitgliedern geteilte Grundeinsicht unterzog insbesondere zwei Punkte der geplanten Regelung ihrer Kritik. Zum einen kritisierte der Innenminister H. Preuß, daß die Ehe unter dem „besonderen Schutze der Verfassung stehen" solle 15 . Wenn die Ehe unter dem „besonderen" Schutz „stehen" solle, dann vermisse er eine Bestimmung in der Verfassung, die der Ehe diesen besonderen Schutz positiv zuspreche. Eine solche bestünde aber nicht 1 6 . Hiergegen wurde von der Gegenseite eingewandt, daß der „besondere" Schutz Ausdruck der „besonderen Erschwerungen" sei, unter denen die Ehe genauso wie die Verfassung abgeändert werden könne 17 . Diese Erklärung provozierte das nächste Gegenargument: Wenn die ganze Institution der Ehe und alle daraus resultierten Bestimmungen über die Ehe unter dem Schutze der Verfassung stünden und deshalb nur kraft verfassungsändernden Gesetzes abgeändert werden könnten, dann könnte auf dem gewöhnlichen gesetzlichen Wege keine eherechtliche Bestimmung des BGB mehr aufgehoben werden 18 . Bestimmungen des BGB dürften aber nicht unter den Schutz des Erfordernisses eines verfassungsändernden Gesetzes gestellt werden. Deshalb wurde die Streichung des Abs. 1, hilfsweise die Ersetzung des Wortes „Verfassung" durch „Gesetze" verlangt 19 . 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Verhandlungen, Band 336, S. 377. Verhandlungen, Band 336, S. 505. So auch Abg. Ablass (DDP): Verhandlungen, Band 336, S. 378. So auch D. Schwab: Handkommentar der Reichsverfassung, S. 896 ff. Abg. Dr. Sinzheimer (S): Verhandlungen, Band 336, S. 378. Verhandlungen, Band 336: S. 378. So auch Abg. Dr. Heintze: Verhandlungen, Band 336, S. 378. Abg. Dr. Beyerle: Verhandlungen, Band 336, S. 378. Abg. Dr. Sinzheimer: ebd.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Diese deutliche Klarstellung, nämlich, daß das Eherecht auch ohne die Vorschriften der Verfassungsänderung abgeändert werden könne, wurde indessen nicht erreicht 20 . Der spätere Art. 119 Abs. 1 WRV blieb damit in den Worten des Abgeordneten Dr. Sinzheimer: „. . . mit die gefährlichste (Vorschrift) in der ganzen Reichsverfassung" 21 . Deutlich wurde in den Beratungen vom 30.05.1919 die Ausgangsproblematik, die später den Grundstein für die Lehre von Einrichtungsgarantien bildete. Nämlich die Trennung zwischen der allgemeinen Institution der „Ehe" und den einzelnen Bestimmungen des Eherechts 22 . Wegweisend für die spätere Entwicklung, ist auch die Kritik: „Eine solche Teilung halte ich aber für unmöglich, da eine genaue Grenze nicht gezogen werden kann" 2 3 . Auch das Konter argument, das Treffen einer unbegründeten und wertenden Feststellung, ist bekannt: „Die Bedeutung des Art. . . . liegt darin, daß die monogame Ehe, daß die aus dem Sittengesetz geschaffene ethische Einrichtung der Ehe, nicht ohne Verfassungsänderung beseitigt werden kann, während aber selbstverständlich (?) alle (?) eherechtlichen Bestimmungen des bürgerlichen Rechts im Wege des einfachen Reichsgesetzes geändert werden dürfen" 2 4 . Festzuhalten ist weiter, daß sich eine Ausschußmehrheit gegen die Streichung des Adjektivs „deutschen" im Entwurf entschied 25 . Das Argument, daß der Abs. 1 des Entwurfes eine bei allen Völkern des Kulturkreises gemeinsamme Tatsache beschreibe und deshalb der deutschnationale Bezug überflüssig sei, wurde von der Ausschußmehrheit nicht geteilt. Zusammenfassend für die Beratungen im Verfassungsausschuß kann ein deutliches Übergewicht der konservativen Kräfte festgestellt werden. Die Ehe wurde verfassungsrechtlich geschützt, und dies nicht nur als Grundlage, sondern auch als „Urquell" der Erhaltung und Vermehrung der Nation 2 6 . Die Tatsache, daß ebenfalls ein hoher Prozentsatz nichtehelicher Kinder zum Weiterbestand der Bevölkerung beitrug, hinderte den Ausschuß in seiner Gesamtheit an einer alleinigen Festschreibung und Betonung des Eheschutzes nicht. Einigkeit bestand auch darüber, daß die Einehe grundsätzlich „das Erstrebenswerte" 27 sei. Auffallend ist weiter, daß allein der Eheschutz im Feuer des Gefechts stand, und der Familienschutz in Abs. 2 19

Abg. Katzenstein (S): Verhandlungen, Band 336, S. 505. Verhandlungen, Band 336, S. 506, wo in zweiter Lesung der Abs. 1 in der Form der ersten Lesung angenommen wurde. 21 Abg. Dr. Sinzheimer: Verhandlungen, Band 336, S. 505. 22 Abg. Katzenstein: Verhandlungen, Band 336, S. 378. 23 Abg. Katzenstein: ebd. 24 Abg. Dr. Ablaß (DDP): ebd., S. 378 f. 25 Verhandlungen, Band 336, S. 505, 506 gegen einen Antrag des Abg. Katzenstein. 26 Entgegen dem Antrag des Abg. Dr. Quarck (S): Verhandlungen, S. 505 f. 27 Abg. Dr. Quarck: Verhandlungen, Band 336, S. 379. 20

I. Ehe u n d Familie i n der Weimarer Reichserfassung

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des Entwurfs, abgesehen von gründsätzlichen Bedenken 28 immer nur „mitangesprochen" wurde. b)Art. 120 WRV Bei Art. 13 (32 b) des Entwurfes folgte der Ausschuß dem Vorschlag des Unterausschusses, der lautete: „Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht".

Die Einwände 29 , Art. 13 stelle ein biologisches Gesetz dar, und habe mit den Grundsätzen des Volkes nichts zu tun, fanden keine Mehrheit. In der zweiten Beratung wurde beantragt, einen Zusatz „unbeschadet der Schulgesetzgebung" 30 aufzunehmen. Hier deuten sich schon die späteren Niederlagen der Zentrumspartei in ihrem Kampf um die konfessionelle Schule und der Sozialdemokratie in ihrem Widerstand gegen den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an 3 1 . Der Antrag wurde dann auch mit zwei Argumenten abgelehnt: Zum einen wurde entgegengehalten, daß im Schlußsatz „über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht" bereits ein Vorbehalt für die Schulgesetzgebung enthalten sei 32 ; zum anderen, daß eine lückenlose Festschreibung von Regeln und Ausnahmen im Verfassungsrecht ohne weitere Ausuferung nicht möglich sei. Wenn man nämlich als Ausnahme von der elterlichen Erziehungsgewalt die Schulgesetzgebung zitierte, dann müßten auch die übrigen Ausnahmen, wie Wöchnerinnerpflege oder Jugendpflege erwähnt werden. Art. 13 (32 b) blieb also, wie vom Unterausschuß vorgeschlagen, erhalten. c) Art. 121 WRV Ein verfassungsrechtlicher Schutz des nichtehelichen Kindes war im Entwurf des Unterausschusses bzw. in den Diskussionen des Verfassungsausschusses nicht vorgesehen. Lediglich eine Resolution an die Reichsregierung wurde verabschiedet, die auch Maßnahmen des einfachen Gesetzgebers zur Verbesserung der Lage des nichtehelichen Kindes verlangte.

28 29 30 31 32

Abg. Dr. Sinzheimer: ebd., S. 378. Abg. Dr. Quack: ebd., S. 379. Abg. Dr. Sinzheimer: ebd., S. 506. W. Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 117 f. Abg. Dr. Düringer: ebd., S. 506.

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d)Art. 122 WRV Auch gegen Art. 14 (32 c) wurden wieder grundsätzliche Bedenken erhoben. Eine verfassungsrechtliche Festlegung sei mangels eines Dissenses der unterschiedlichen weltanschaulichen Fraktionen bezüglich des Schutzes der Jugend vor Verwahrlosung nicht notwendig 33 . Damit bestünde kein Regelungsbedürfnis. Dennoch lautete Artikel 14: „Die Jugend hat den Anspruch gegen Ausbeutung, sowie gegen sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung geschützt zu werden." Überraschend ist, daß der Ausschuß sich in zweiter Beratung mehrheitlich gegen das Wort „Anspruch" ausspricht, und formuliert: Die Jugend ist gegen Ausbeutung . . . zu schützen" 3 4 . Überraschend deshalb, weil beim Entwurf zu Art. 119 WRV der „Anspruch" der kinderreichen Familien unbeanstandet passierte, obwohl er nach wohl überwiegender Ausschußmeinung kein unmittelbar geltendes Recht, bzw. keinen subjektiven Anspruch verbürgte 35 . Vor allem die Kommentarliteratur, die allen „Familienvorschriften" die unmittelbare Rechtsgeltung absprach, hat dieses Bewußtsein des Verfassungsgebers und die deshalb gebotene Differenzierung zwischen z. B. Art. 119 Abs. 1 S. 1 und Art. 119 Abs. 2 S. 2 WRV nicht erkannt. Insgesamt klafften die Meinungen im Verfassungsausschuß nicht soweit auseinander, wie die Diskussionen in der Nationalversammlung es im Zusammenhang mit dem Schutz des nichtehelichen Kindes und den Schulregelungen später zeigen sollten. 4. Die Stellungnahmen in der Nationalversammlung

In der Diskussion dieses Gremiums wurde zum erstenmal deutlich, wie unmittelbar thematisch ineinander verwoben der „besondere" Schutz der Ehe und die Problematik der nichtehelichen Kinder sind. Anders als der Verfassungsausschuß, der es mit einer Resolution 36 an die Regierung zur Schaffung eines Reichsgesetzes zur Besserstellung des nichtehelichen Kindes bewenden ließ, wurde hier ein Schutz des nichtehelichen Kindes (und seiner Mutter) in der Verfassung verlangt.

33

Abg. Davidsohn (S): ebd., S. 380. Verhandlungen, Band 336, S. 506 auf Anregung des Abgeordneten Dr. Beyerle. 35 Siehe die Äußerung des Abg. Dr. Sinzheimer: ebd., S. 378 und den Alternatiworschlag des Abg. Dr. Düringer (DNVP): a.a.O., S. 378: „insbesondere sollen kinderreiche Familien in Gesetzgebung und Verwaltung besondere Berücksichtigung erfahren". 36 Drucksache 392 Nr. 5, Verhandlungen, Band 337, S. 263: „einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der die rechtliche und soziale Stellung des unehelichen Kindes in gerechter Weise regelt". 34

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Auch das Erziehungsrecht der Eltern wurde in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den verfassungsrechtlichen Schulregelungen der Art. 146 ff WRV gestellt. Die hieraus gewonnen Rückschlüsse für die Frage, inwieweit das Erziehungsrecht natürlichen oder naturrechtlichen Ursprungs sei, verknüpfen wiederum die Gewährleistung des Art. 120 WRV mit der Ehe- und Familiengewährleistung in Art. 119 WRV. Wäre das Bestimmungsrecht der Eltern über ihre Kinder ein natürliches, dann ergäbe sich weiter, daß die Familie im Sinne des Art. 119 Abs. 2 WRV neben der Ehe des Art. 119 Abs. 1 WRV durch die Innehabung der Erziehungsgewalt (120 WRV) zu charakterisieren wäre. Hieraus ergäben sich dann Anhaltspunkte für die Zuordnung des Familienbegriffs zur Kernfamilie oder zum Erfordernis eines Zusammenlebens der verfassungsrechtlich geschützten Familie. Kennzeichnend für die Beratungen zur WRV und zum GG ist, daß die beiden oben zuerst genannten „Brücken" (zwischen Ehe- und Nichtehelichenrecht, zwischen Schul- und Erziehungsrecht) vorausgesetzt, aber nicht unmittelbar erörtert wurden. Die Verbindung von Familie und Erziehungsaufgabe und -recht wurde in den verfügbaren Quellen ausdrücklich nicht erkannt, sondern vielleicht allenfalls stillschweigend beim Verständnis der ehe- und familienrechtlichen Regelungen unterstellt. Die oben erkannten Zusammenhänge führen aber dazu, daß einzelne Artikel der WRV nicht getrennt in den Stellungnahmen der Nationalversammlung nachverfolgbar sind, sondern der Unterschied zwischen Entwurf und verabschiedeter Vorschrift nur in einer zusammenhängenden Betrachtung gewürdigt werden können. Auch die große Bedeutung der systematischen Stellung der Nichtehelichenfrage - von Art. 119 WRV durch Art. 120 WRV getrennt - mit der sich auch eine Reihe von Anträgen befaßten, w i r d nur so deutlich 37 . a) Art. 119 und 121 WRV Der Berichterstatter des Verfassungsauschusses, Dr. Beyerle, 38 betonte die Neuheit des Entwurfs, daß „hier dem natürlichen Unterbau des sozialen Lebens, den Rechtsbeziehungen der Familie, zum erstenmal in Grundrechten einer modernen Staatsverfassung Raum verstattet werden soll". Die Stellung des späteren Art. 119 WRV am Anfang des zweiten Abschnitts (überschrieben mit „Das Gemeinschaftsleben") des zweiten Hauptteils 37 Eine weitere Vorbemerkung ist notwendig: Entgegen dem damals verbreiteten Wortgebrauch der „Unehelichkeit" wird im Folgenden nur von Nichtehelichkeit gesprochen, da eine Rechtfertigung für das abwertende „un" nicht gefunden werden kann. Lediglich im Abschnitt über die Familie im Nationalsozialismus wurde teilweise gängiges Vokabular als besonders aussagekräftig für die Einstellung der Zeit übernommen. 38 Verhandlungen, Band 328, S. 1597.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

(überschrieben mit „Grundrechte und Grundpflichten") war in einem System der Stoffgliederung begründet, das die natürlichen Grundlagen des Staatsaufbaus wie Ehe und Familie den „künstlichen Gemeinschaften" wie Vereinen und Versammlungen und den Rechten ihrer Mitglieder voranstellte. Diese Systematik spiegelt sich auch teilweise in der Gliederung der Grundrechte des GG, die das Individuum, dann Art. 6, und dann die übrigen Gemeinschaftsrechte einander folgen lassen, wieder. Im Unterschied zur WRV sind Art. 28 GG und 33 GG anders als ihre Vorläufer in einem eigenen Staatsorganisationsabschnitt enthalten. Der Nationalversammlung lagen zum Entwurf des Verfassungsausschußes verschiedene Änderungsanträge vor: Absatz 1 des Entwurfs sollte lauten: „Ehe und Mutterschaft stehen unter dem Schutz der Verfassung und haben Anspruch auf die Fürsorge des Staates" 39 .

Im Unterschied zum Entwurf des Verfassungsausschußes sollte hier die Mutterschaft neben der Ehe geschützt werden. Die Ehe sollte nicht mehr unter dem „besonderen" Schutz der Verfassung stehen. Ehe und Mutterschaft sollte ein „Anspruch" auf Fürsorge des Staates eingeräumt werden. Des weiteren war beabsichtigt, dem Abs. 1 einen zweiten Satz hinzuzufügen, der lautete: „Die unehelichen Kinder haben ein Recht auf den Namen des Vaters und stehen den ehelichen Kindern rechtlich gleich" 4 0 . Als Absatz 2 des späteren Art. 119 WRV wurde vorgeschlagen: „Das uneheliche Kind hat das gleiche Recht auf Unterhalt, Erziehung und Erbe an Vater und Mutter wie die ehelichen Kinder" 4 1 .

Nicht ganz so weitgehend wie die Anträge der unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) beantragten die Sozialdemokraten: „Die Ehe steht unter dem Schutz der Verfassung, die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates" 42 . Weiter wurde zu dem späteren Art. 120 folgender Zusatz verlangt: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingimg für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen, wie den ehelichen Kindern". Vergleicht man das Ergebnis der Beratungen, (Art. 119 WRV) mit diesen Anträgen, so fällt folgendes auf: zum einen gelang es nicht, die Ehe neben die Mutterschaft in den 1. Absatz der Vorschrift aufzunehmen. Auch am „besonderen" Schutz der Ehe durch die Verfassung konnte nichts geändert werden. Es gelang nur, die Mutterschaft in Abs. 3 des Art. 119 WRV - deut39

Antrag der Abg. Juchacz (USPD): Verhandlungen, Band 328, S.1600. Ursprünglich war dieser Antrag zu Art. 108 WRV, der den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz enthielt, gestellt worden. 41 Abg. Juchacz: Verhandlungen, Band 328, S. 1600. 42 Antrag Abg. Dr. Luppe (DDP): Verhandlungen, Band 328, S. 1600. 40

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lieh durch die Familiengewährleistung in Abs. 2 von der Ehe getrennt unterzubringen. Nur der Mutterschaft w i r d ein „Anspruch" auf Schutz und Fürsorge zugestanden, während es bei Ehe und Familie (mit Ausnahme der kinderreichen Familie) bei einer eher feststellenden Formulierung („steht", „ist") blieb. Diese, für einen konservativen Erfolg sprechenden Ergebnisse können indes nicht ohne Berücksichtigung des späteren Art. 121 WRV aufrechterhalten werden. Vergleicht man hier die Anträge, die ζ. T. innerhalb des Art. 119, bzw. in einem nachfolgenden Art. 119 a 4 3 WRV enthalten sein sollten, mit dem späteren Wortlaut des Art. 121 WRV, so fällt auf: Ein „Recht" des nichtehelichen Kindes gegenüber dem Staat konnte nicht durchgesetzt werden. Auch die Formulierung (steht. . . gleich 4 4 ") konnte keine Mehrheit finden. Auf der anderen Seite erlitt die „konservative" Seite eine empfindliche „Niederlage". Der Antrag: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung gerechte Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen" 45 , verfiel nämlich ebenfalls der Ablehnung. Das „gerecht" erschien wegen seines Bezugs auf das Gerechtigkeitsgefühl des Normanwenders zu subjektiv, um eine maßgebende Leitlinie für den Gesetzgeber bei der Entwicklung zukünftigen Rechts zu sein. Die weitergehenden „gleichen" Bedingungen wurden zum Verfassungstext. Die Argumente, die die Abge. Neuhaus (Z) wohl am Klarsten zusammenfaßte, lauteten dabei im einzelnen: Sie unterschied bei der Frage des Eheschutzes und dem Los der nichtehelichen Kinder zwei Perspektiven: eine grundsätzliche, d. h. weltanschauliche, und eine praktische 46 . Wo es um die grundsätzliche, weltanschauliche Position geht, so bezeichnete sie die Ehe als „Schutzwall, der im Volksglauben liegt" 4 7 . Eine Gleichstellung der nichtehelichen mit ehelichen Kindern scheide deshalb aus, „weil w i r fürchten, das Volksgewissen dadurch zu verwirren". Hintergrund dieser Meinung ist nicht nur die für die Zentrumspartei traditionelle, enge Verbundenheit zur katholischen Kirche, sondern auch eine beinahe „feministisch" zu nennende Einsicht, daß Frauen und Mütter in der Institution der Ehe geschützt werden: „Gerade w i r Frauen haben alle Ursache am fundamentalen Charakter der Ehe festzuhalten und klarzuhalten. Sie ist der natürliche und feste Schutz für die Frau, für Mutter und K i n d " 4 8 . Neben diesem grundsätzlichen Eheschutz stellt sich für die Abg. 43 44 45 46 47 48

Vorher Art. 118 a, Verhandlungen, Band 328, S. 1599. Antrag der Abg. Zietz (USPD): ebd., S.1600. Antrag der Abg. Neuhaus: Verhandlungen, Band 328, S. 1602. Verhandlungen, Band 328, S. 1601 f. Ebd.. Ebd., S. 1602.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Neuhaus die Frage des nichtehelichen Kindes nicht als eine Rechtsfrage, sondern als ein faktisches Problem, das eine pragmatische Lösung verlangte. Und zwar nur zugunsten des unschuldigen, nichtehelichen Kindes, nicht aber derjenigen, die es zeugten. „Aber unser Volk als Ganzes dürfen wir nicht durch Verfassung und Gesetz von dem sicheren Boden der Ehe, auf welchem er sich gesund entwickeln kann, auf die schiefe Ebene führen, auf der es kein Halten mehr gibt" 4 9 . Ein weiteres Argument sind die praktischen Schwierigkeiten, die eine Verpflichtung zur Schaffung gleicher Bedingungen mit sich brächte. Interessant ist das von ihr zitierte Beispiel: Wonach soll der Unterhaltsanspruch des nichtehelichen Kindes, der zur damaligen Rechtslage nach dem Lebensniveau der Mutter bemessen wurde, bei „gleichen Bedingungen" bemessen werden? „Wollen Sie der Mutter aus dem Volke ihr Kind nehmen, um es mit dem Gelde des Vaters auf ein höheres gesellschaftliches Niveau (als die Mutter; Erg. d. Verf.) zu bringen?" 50 » 51 . Mit der Befürchtung einer Rechtlosstellung und Entfremdung des nichtehelichen Kindes gegenüber seiner Mutter wurden auch alle Vorschläge, dem nichtehelichen Kind ein Recht auf den Namen seines Vaters zu geben, abgewehrt. Ursprünglich sollten solche Anträge den Vater und seine Verwandten dazu veranlassen, sich um das Kind zu kümmern. Damit das Kind seinen Namen Ehre machte, sollte sich der Vater zu Zeiten um die Ausbildungsund Lebenschancen des Kindes sorgen. Nicht mit dem Schutz der Ehefrau oder der ehelichen Familie des Vaters wurde von konservativer Seite gegen einen Schutz des nichtehelichen Kindes argumentiert, sondern vor allem mit der zu erwartenden Entfremdung des nichtehelichen Kindes von der Mutter bei verstärktem Engagement des Vaters für das Kind. Die Gegenargumente, die die Abge. Zietz (USPD) für einen Schutz des nichtehelichen Kindes findet, befassen sich hauptsächlich mit dem tragenden, weltanschaulichen Argument der konservativen Partei, daß nämlich der Eheschutz die Gleichstellung des nichtehelichen Kindes verbiete. Sie ist auch die einzige Rednerin, die konkret angibt, auf dem Boden welchen weltanschaulichen Bildes sie sich bewegt, und es auch begründet. Dies beginnt bereits mit ihrer Ableitung der monogamen Ehe, die sie getreu der Thesen von Marx und Engels mit der Entwicklung des Privateigentums in Verbindung bringt. „ . . . aus dem Bestreben des Mannes entstand, das erworbene Eigentum seinen legitimen Nachkommen zu hinterlassen, da bildete sich jene doppelte Moral, die bis auf den heutigen Tag besteht, die vom Weibe Keuschheit und eheliche Treue verlangt, ohne dem Mann die gleiche Ver49 50 51

Ebd. Ebd.

Diese Problematik ist heute in § 1615 c BGB auch nur schwer begündbar gelöst.

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pflichtung aufzuerlegen 5 2 Verblüffenderweise findet allein in dieser Rede das Ideal auch der christlichen Ehe seinen Platz, indem die schönen Nietsche-Worte „Nicht nur fort sollst Du Dich pflanzen, sondern hinauf. Ehe heiße ich zu zweien, das eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen" zitiert werden. Diesem Ideal wird die „standesamtliche und kirchliche Sanktion der Prostitution" gegenübergestellt, zu der die Ehe als „heiliges Feuer der Gattenliebe" wird, wenn Frauen Männer nur deswegen heiraten, weil sie Amt, Reichtum und Würden ihr Eigentum nennen. Diese Einschätzung der Einrichtung Ehe zumindest in Bezug auf Einzelfälle wurde scheinbar allgemein geteilt. Es wurden gegen die Tatsache der auch staatlich sanktionierten Prostitution keine Widerworte erhoben. Und dies aus gutem Grund. Wer nun einmal der Meinung war - aus religiösen oder aus Nützlichkeitserwägungen - daß die Institution Ehe für die Masse aller Menschen ein wichtiges Verhaltensraster für ihre Zeit auf Erden war, der glaubte eher an die Kraft der Institution und nicht an die einzelner freier Menschen zur Moral und zum Altruismus. Die mit gesetzlicher Verantwortung für mindestens zwei andere Menschen (Kind und Mutter) gepaarte Zeugung unterschied sich für den einzelnen und für die Allgemeinheit erheblich von der „freien Liebe". Dieser status confessionis muß deshalb der „staatlich sanktionierten Prostitution" unmittelbar entgegengesetzt werden. Zum Ausdruck kam dieser Glaube an die Institution Ehe - und nicht an die einzelnen Menschen, die sie verwirklichen - in Zitaten wie: „Die Ehe ist die Säule, auf der die menschliche Gesellschaft ruht, und auf der auch unser Reich ruht und deswegen wollen wir diese Säule vor aller Gefahr schützen" 53 oder „Die Ehe und Familie müssen im Volksbewußtsein ihren besonderen geheiligten Platz behalten" 54 . Diese Äußerungen lassen sich nahtlos einpassen in die auch in der Nationalversammlung vertreten Auffasssung, daß lediglich die Institution der Ehe geschützt sei, nicht aber die Mutterschaft, die (mangels rechtlicher Verfaßtheit ?, Erg. der Verf.) eben keine Institution sei 55 . Der Glauben an diese Kraft der Institution „Ehe" ließ auch eine räumliche Trennung von Mutterschaft, Nichtehelichenrecht und Eheregelung als sachgemäß erscheinen. Auch hier ging die konservative Linie mit leichten Vorteilen aus der Diskussion: Zwar wurde die Mutterschaft in Art. 119 WRV 5 6 52

Verhandlungen, Band 328, S. 1606. Abg. Burlage (Z): Verhandlungen, Band 328, S. 1609. Es ging um die Gewährung eines Erbrechts des nichtehelichen Kindes nach dem Vater, die das Erbrecht der Ehefrau und ihrer Kinder beschneiden würde. 54 Abge. v.Gierke: Verhandlungen, Band 328, S. 1605. 55 Abg. Brönner (DDP): Verhandlungen, Band 328, S.1604. 56 Abweichend von einem Antrag des Zentrums, die Mutterschaft nicht in Art. 119, sondern in einem Folgeartikel unterzubringen (118 a). 53

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

geschützt; sie wurde aber weder unmittelbar neben die Ehe gestellt noch fanden die Belange des nichtehelichen Kindes in Art. 119 WRV Platz. b) Art. 120 WRV Der spätere Art. 120 WRV lag bereits als Ergebnis der Verhandlungen im Verfassungsausschuß vor. Nicht klar ausgesprochen wurde in der Nationalversammlung, ob das Elternrecht des Art. 120 WRV auch der nichtehelichen Mutter zustehen sollte. Dies wurde jedenfalls von der Abg. Zietz (USPD) gefordert 57 . Hiergegen erhob sich vor allen in der dritten Lesung, in der die konservative Seite erneut versuchte, den bereits in zweiter Lesung angenommenen, späteren Art. 121 WRV zu Fall zu bringen, Widerspruch. Wenn nämlich den nichtehelichen Kindern die gleichen Bedingungen zu schaffen seien, wie den ehelichen, so sei auch die elterliche Gewalt auf den nichtehelichen Vater mit- oder allein zu übertragen 58 . Durch eine solche schematische Gleichstellung gepaart mit einer Teilung der Erziehungsverantwortung würde aber das Recht und die Macht der nichtehelichen Mutter über ihr Kind zugunsten des Vaters beschränkt 59 . Gegen die Zuweisimg von Erziehungsrechten und Pflichten auch an den nichtehelichen Vater und die Mutter sprach auf konservativer Seite das Argument der Ehe, die als Publizitätsakt allein mit einem „Verantwortlichkeitsgefühl bei der Eheschließung und bei der Erzeugung von Kindern 6 0 „ rechnen ließ. Mit einem solchen Verantwortlichkeitsgefühl sei bei nichtehelichen Kindern eines Sprößlings der Familie - gemeint waren die Großeltern - nicht zu rechnen. Folgendes Beispiel wurde erwähnt: „Ein junger Mann, . . ., von 19 Jahren darf unbeschränkt keine Ehe eingehen, denn dazu gehört bis zur Volljährigkeit die Zustimmung des Vaters . . . Dadurch haben die Eltern das Recht, sich dagegen zu wehren, daß von dem 19-jährigen Sohn durch Umgang mit einer Frau ihrer Familie Sprößlinge zugeführt werden, die sie nicht wollen. Das aber fällt weg, wenn jemand aus irgendeiner Leidenschaft heraus, die gar keine dauernde Leidenschaft zu sein braucht, die im Trunk, im Augenblick der Erregung beim Tanz gegeben ist, nun plötzlich in der Lage ist, der Familie Sprößlinge zuzuführen, ohne daß die Familie jemals gehört zu werden braucht, oder gehört werden kann" 6 1 . Dieses damals schon große Heiterkeit erntende Beispiel illustriert den alleinigen Rang der Ehe als Begründung der Verantwortung auch der Großeltern für die Abkömmlinge und korrespondierend die Einräumung von Erziehungsrechten nur an die ehelich verbundenen Eltern in Art. 120 WRV 62 > 63 . 57 58 59 60 61

Verhandlungen, Band 328, S.1607. Abg. Zweigert: Verhandlungen, Band 328, S. 2128. Abg. Dr.Bäumer: Verhandlungen, Band 328, S. 2131. Abg. Dr. Ablaß: Verhandlungen, Band 328, S. 2131. Abg. Dr. Ablaß: ebd.

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Eine weitere Einschränkung erfuhr das Elternrecht in seinem Verhältnis zur staatlichen Schulhoheit. Hier ist während der Beratungen eine interessante Entwicklung zu beobachten, die nur kurz umrissen werden kann. Es wird jedoch klar, daß das „natürlich" in Art. 120 WRV keinesfalls als überstaatlich oder natürlich im biologischen Sinne ausgelegt werden kann. Sonst hätte dem Wahlrecht der Eltern - entsprechend den ursprünglich weitergehenden Vorschlägen - mehr Raum eingeräumt werden müssen, als dies schließlich in Art. 149 Abs. 2 WRV mit den Worten: „Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen der Willenserklärung desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat"

geschehen ist. Hintergrund dieser Regelung war ein relativ neues Verständnis des Verhältnisses von Schule, Kirche und Staat. Eine ältere Auffassung ging dahin, die Schule nicht als rein staatliche oder weltliche Angelegenheit, sondern grundsätzlich als kirchliche Angelegenheit anzusehen. Auf diesem Boden fußten sowohl die Argumente für eine Simultan- als auch die Konfessionsschule 64 . Ihr steht die Ansicht gegenüber, daß die Schule eine rein staatliche Einrichtung mit weltlichen Erziehungsaufgaben sei. Der Religionsunterricht in der Schule sei mit dieser Erziehungsaufgabe organisch nicht verbunden. Die Konsequenzen der unterschiedlichen Auffassungen sind für die Bedeutung der Familie als statuszuweisende oder -vorbereitende „Macht" innerhalb einer Gesellschaft sehr erheblich. Die schulische Erziehung kann als egalisierendes Moment im Verhältnis zur individuellen Elternerziehung gewertet werden. Schulische Erziehung bedeutet die Setzung gemeinsamer Lehr- und Ausbildungsstandards bzw. -möglichkeiten für eine Vielzahl von Trägern der zukünftigen Staats- und Verfassungsidee. Demgegenüber bedeutet und kann elterliche Erziehungsverantwortung bedeuten, daß individuelle Lebenshaltungen und -ideen weiterleben. Je mehr also der Erziehungsverantwortung der Eltern im Rahmen der Schulerziehung Bedeutung beigemessen wird, desto unterschiedlicher werden die Einflüsse, die auf die einzelnen Kinder treffen, sein. In diesem Zusammenhang ist auch das Wahlrecht für die Eltern von hohem Interesse, um ihr Kind entsprechend ihren eigenen weltanschaulichen und religiösen Vorstellungen erziehen zu lassen 65 . 62 Ein Prinzip, das nach dem obigen Beispiel nur für die Familie des Mannes, nicht aber der nichtehelichen Mutter galt. 63 Nach § 1707 S.l BGB hatte die Mutter nicht die elterliche Gewalt über das nichteheliche Kind. 64 Abg. Dr. David in E. Heilfron: Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919, Band 6, S.4080. 65 Abg. Gröber (Z) : ebd., S. 4097, der diese Wahlfreiheit als Unterfall der Religionsfreiheit der Eltern sieht.

17 Schmid

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Im Kampf um die Konfessions-, die Simultan- und die weltanschaulich neutrale Schule wurde der Elternwille anfangs als Hebelargument vor allem von der konservativen Seite eingeführt, um die Konfessionsschule beizubehalten. Aufschlußreich ist nun, daß man dieses Bestimmungsrecht der Familie auch von konservativer Seite letzendlich nicht wollte. Die Begründung: Der Grundsatz der Familieneinheit (modern gesprochen) verbiete es durch die Gewährung eines Bestimmungsrechts der Eltern die Möglichkeit von Differenzen in die Familie hineinzutragen 66 . Der pragmatische Hintergrund war vielleicht, daß man sich auf keiner Seite über die Entscheidung der Eltern sicher war. Dies läßt sich m. E. aufgrund verschiedener Äußerungen vermuten. Z.B. sagte der Abg. Dr. Philipp (DVP) einen Elternstreik voraus. Auch wurde verschiedentlich beklagt, daß die Eltern „ . . . in der Schulfrage vielfach zum Teil bisher mit einer gewissen Gleichgültigkeit zur Seite gestanden sind . . . " 6 7 oder befürchtet, daß „ . . . zu achtzig Prozent nicht von sachlichen Gesichtspunkten aus bestimmt werden, sondern kleinliche Motive und persönliche Verärgerungen den größten Ausschlag in der Entscheidung geben . . ." 6 8 . Die Einsicht in wankelmütige Eltern, die „von der einen Seite weltlich, von der anderen Seite geistlich oder kirchlich beeinflußt" 6 9 werden könnten, führte dann zu einem weitgehenden Ausschluß des Bestimmungsrechts der Eltern in der Schulfrage. Lediglich die Bestimmung über die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern wurde im weiteren Verlauf den „Erziehungsberechtigten" überlassen 70 . 5. Bewahrender Schutz und/oder Öffnung gegenüber dem Wandel?

D. Schwab 71 faßt das Ergebnis der Beratungen zur WRV mit dem Satz zusammen: „Ehe und Familie wurden als soziale Einheiten dem bewahrenden Schutz der Verfassung anheimgegeben, zugleich aber der Veränderung in zweierlei Hinsicht expressis verbis geöffnet: zum einen in Hinblick auf die innere Struktur (Gleichberechtigung), zum anderen in Hinblick auf ihren Vorrang gegenüber anders gearteten Geschlechtsverbindungen und Eltern-Kind-Verhältnissen („Mutterschaft", uneheliche Kinder)." Er sieht den anfänglich ausschließlich konservativen Charakter der verfassungs66

Abg. Dr. Luppe (DDP): ebd., S. 4151, aufschlußreich auch die Äußerung des Abg. Weiß (DDP): ebd., S. 4170 f, der in den wechselnden Mehrheiten des Elternwillens eine existentielle Gefahr für die Schulorganisation sah. 67 Abg. Gröber (Z): ebd., S. 4098. 68 Abg. Traub (DVP): ebd., S. 4112 f. 69 Abg. Dr. Senfert (DDP): ebd., S. 4109. 70 Und im weiteren Verlauf in einer noch unverbindlicheren Formulierung (s. o.) mündete. 71 D. Schwab: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie, S. 906.

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rechtlichen Verbürgung durch die Aufnahme des Art. 121 WRV durchbrochen. M.E. ist auch eine andere Interpretation angängig. Sowohl die Beratungen zum Schutz des nichtehelichen Kindes als auch die Frage des Weimarer Schulkompromisses nahmen weiten und lediglich mit dem Problem des Föderalismus und des Reichsfortbestandes vergleichbaren Raum in den Beratungen ein. Es handelte sich hier auf allen Seiten um ein credo, um Weltanschauungen, die nahezu siebzig Jahre später unverändert fortbestehen. Glaubt man an die eheliche Familie, an das Hineingeborenwerden in den Verantwortlichkeitsbereich zweier Menschen (Vater, Mutter) und zweier Familien als Prüfstein für die Entschlossenheit des einzelnen und gleichzeitig als Chancen-Nutzen-Raster für die Allgemeinheit und den Staat, dann kann man auch 1987 die eheliche Familie verteidigen. Wer qualitatives vor quantitatives Wachstum setzt, der bewahrt so eine autonomiefähige Einheit innerhalb des Staates, eine Gruppe von Personen, die an Gemeinsamkeit gewohnt ist und nicht gleichzeitig chronisch von Lebensbeihilfen des Staates, allenfalls Unterstützungen, abhängig ist. Wer an die Selbstverantwortlichkeit des Individuums glaubt, und die durch die Pille freigewordene Frau mit der Verantwortung für ihr Kind und für sich auf den Staat verweisen will, der kann eine Gleichstellung der Mutterschaft mit der Ehe und der ehelichen Familie bejahen. In Bezug auf die innere Struktur der ehelichen Familie hat der Verfassungsgeber die Familie geöffnet. Entgegen den damaligen BGB-Vorschriften über Güter- und Erziehungsrecht, stellte er fest: Sie (die Ehe) beruht auf der Gleichberechtigung der Geschlechter. Nur in der Personengemeinschaft „Ehe" sicherte er den Status der verheirateten, nicht aber der unverheirateten Frau in ihrem Verhältnis zum Kindesvater 72 . Juristisch bedeutsam ist in der Folgezeit, wie die Kommentarliteratur zu den familienrechtlichen Vorschriften der WRV mit einem im Vergleich zum einfachen Recht protagonistischen Verfassungsverständnis des Ehe- und Familienrechts in ihrer herkömmlichen Dogmatik umging.

6. Die Bindungswirkung, Rechtsnatur und der Inhalt der familienrechtlichen Vorschriften der WRV

Vorab sei angemerkt, daß nirgends vertreten wird, daß die WRV in ihrem familienrechtlichen Teil Grundrechte zugunsten des einzelnen Bürgers begründet. Die Überschrift des zweiten Hauptteils der Verfassung: „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" begründete nach verbreiteter 72 Art. 109 Abs. 2 WRV sprach von grundsätzlich denselben staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten, gerade aber nicht - wie in Art. 3 GG - von einer allgemeinen Gleichberechtigung.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Meinung 73 keinen solchen Status der unter dem Titel „Gemeinschaftsleben" stehenden „Familienvorschriften". Alle Normen wurden trotz ihres teilweise verbalen Anspruchscharakters als Programmsätze definiert 74 . Da es an der gerichtlicher Erzwingbarkeit mangelte, wurde ihnen zum Teil der Charakter subjektiver Rechte abgesprochen 75. Abgesehen von der Frage der Gewährleistung eines Grundrechts müssen die einzelnen Sätze der Art. 119 ff WRV in ihrer Rechtsnatur unterschiedlich beurteilt werden. a) Art. 119 WRV In Art. 119 WRV Abs. 1 S. 1 wird die Einrichtung „Ehe" garantiert 7 6 ' 7 7 . Art. 119 WRV wurde, abgesehen vom Schutz der Einrichtungsgarantie, nur als Zukunfts- und nicht als Gegenwartsrecht qualifiziert. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen bedürften der Konkretisierung und Mittlung durch den einfachen Gesetzgeber, um eine rechtliche Bindung der anderen Staatsgewalten und der Bürger zu erzeugen 78. In Zweifelsfragen des einfachen Rechts könnte - insbesondere Art. 119 Abs. 1 S. 2 WRV - bereits vor dieser Konkretisierung als Auslegungsregel Anwendung finden. Weder in der Literatur, die sich mit den dogmatischen Grundlagen der Lehre von den Einrichtungsgarantien befaßte, noch in der familienrechtlichen Kommentarliteratur findet sich eine eindeutige Bestimmung auch der „Familie" in Art. 119 Abs. 2 WRV als Einrichtungsgarantie. Dies erklärt sich aus der Systemmatik und Teleologie der Vorschrift. In Art. 119 Abs. 2 WRV sollte nur die eheliche Familie geschützt werden. Mit dem Schutz der in Abs. 1 gewährleisteten Ehe und der gesamtgesellschaftlichen Erfolglosigkeit und Gefährlichkeit von Verhütungs- und Abtreibungsmethoden war auch die Existenz der Familie durch Art. 119 Abs. 1 WRV abgesichert. Darauf aufbauend konnte Art. 119 Abs. 2 S. 2 WRV sich darauf beschränken, lediglich den „kinderreichen" Familien einen - wenn auch nur verbalen „Anspruch" auf ausgleichende Fürsorge (einer im Vergleich zur „Aufgabe" des Staates bei anderen Familien des Art. 119 Abs. 2 S. 1 WRV ungleich stärkeren Formulierung) zu geben. Die Wortwahl des Verfassungsgebers („Anspruch") wurde von der maßgeblichen Kommentarliteratur ignoriert. Obwohl offen eingestanden wurde, daß für jeden Satz des Art. 119 WRV der 73 A. Wieruszowski: Ehe, Familie und Mutterschaft, S.73 und G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 493. 74 Siehe hierzu die Kontroverse auch am Beispiel des Art. 119 Abs. 1 S. 2 WRV: H. Kröger: Die Rechtstellung der Ehefrau nach der Reichsverfassung, DJZ 1922, S. 601 und Kipp, DJZ 1922, S. 682. 75 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 Band 4, Die Weimarer Reichs Verfassung, Stuttgart, S. 107 f. 76 In der ursprünglichen Terminologie Carl Schmitts. 77 A. Wieruszowski: Ehe, Familie und Mutterschaft, S. 76 78 G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 454 und S. 493 ff.

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dogmatische Schutzgehalt getrennt zu beurteilen sei 79 , wurde keinem Satz des Art. 119 WRV die Eigenschaft eines subjektiven Rechts zugebilligt. Nicht einmal als unmittelbar geltendes Recht wurden Art. 119 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 WRV qualifiziert, sondern auch ihnen nur allenfalls mittelbare Geltung als Auslegungsmaßstab für bestehendes und künftiges Recht zugestanden, bis eine einfachgesetzliche Konkretisierung ihrer Aussagegehalte erfolgte 80 . Inhaltlich ist festzustellen, daß das Verhältnis von Ehe und Familie in Art. 119 WRV aufgrund des Wortlauts eindeutig auslegbar ist. Die Vorschrift geht von einer Dreiteilung in Ehe, Familie und Mutterschaft aus, die auch der Gliederung ihrer Absätze entspricht 81 . Gemäß Absatz 2 Satz 2 dieser Vorschrift war also die Ehe Voraussetzung für die verfassungsrechtlich geschützte Familie. Der besondere Schutz der Ehe als Grundlage der Familie verbot auch eine Gleichbehandlung der Gruppe nichteheliche Mutter-Kind mit der Familie 82 . Anderenfalls wäre für die Ehe und die mit ihr gegebene Familie der Grundsatz rechtlicher Sanktion aufgegeben worden. Noch weiter ging eine in der Literatur vertretene Meinung, die eine rechtliche Gleichbehandlung von nichtehelichen und ehelichen Kindern als unzulässig ansah. Nicht nur die Gleichbehandlung der Gruppen der auf Ehe gegründeten Familie einerseits und der Gruppe bestehend aus Mutter und nichtehelichem Kind andererseits sei unzulässig, sondern auch - und zwar entgegen dem Wortlaut des Art. 121 WRV 8 3 - die Begünstigung nichtehelich geborener Kinder mit dem Ziel der Gleichstellung mit ehelichen Kindern 8 4 . Zum sachlichen Schutzbereich von Art. 119 Abs. 1 Satz 1 ist anzumerken, daß er deutsche Ehen, deutsche Familien und deutsche Mutterschaften verfassungsrechtlich schützen sollte 85 . b) Art. 120 WRV Wie Art. 119 Abs. 1 S. 1 WRV die Ehe als Grundlage der Erhaltung und Vermehrung der Nation instrumentalisiert, so finden sich bei Art. 119 Abs. 2 S. 2 WRV die besondere Hervorhebung der bevölkerungspolitisch interessanten kinderreichen Familie und in Art. 120 WRV die Festschreibung des Pflichten- und Rechtsstatus, den eine elterliche Erziehung zur „leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit" zu beanspruchen vermag. 79

A. Wieruszowski: Ehe, Familie und Mutterschaft, S. 74. 8° Ebd., S. 73, 92 ff. 81 Wobei Abs. 3 sowohl die eheliche als auch die nichteheliche Mutter schützt. 82 G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 493 83 Entspricht von seinem Wortlaut nahezu Art. 6 Abs. 5 GG. 84 Ebd. 85 A. Wieruszowski: Ehe, Familie und Mutterschaft, S. 74.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

aa) „Erziehung" Zum einen ist und war Erziehung in der Familie zweifach erfaßbar: - als beabsichtigte Formung der Kinder durch Erziehungsmittel, wie Bestätigung und Zärtlichkeitsentzug; - als Vermittlung einer Form von Lebensgefühl, die das Hineingeborenwerden in die konkrete Familie mit sich bringt; - als gegenseitiger Ergänzung von individuellem und schulisch egalisierten Wir-gefühl. Vor allem um diesen letzten Bereich wurde bei den Beratungen zur WRV und zum GG am meisten gefochten. Zur Diskussion standen die weltanschaulich neutralen, die Simultan- und die Konfessionsschulen. Wenn ein „natürliches" Elternrecht auch gegenüber der staatlichen Schulhoheit wirkte, dann mußte den Eltern ein Wahlrecht bezüglich der Schule, die ihr Kind besucht, eingeräumt werden. Deshalb kann Art. 120 WRV nicht ohne den Zusammenhang mit den Weimarer Schulrechtsartikeln gesehen werden; hierauf beruhen auch die Meinungsunterschiede über den Bedeutungsgehalt des Wortes „natürlich" in Art. 120 WRV. bb) Das „natürliche" Recht Die Vertreter der Konfessionsschule wollten es als Hinweis auf den naturrechtlichen und damit überstaatlichen Ursprung des Elternrechts verstanden wissen und deshalb allenfalls einen kirchenrechtlichen, nicht aber einen staatlichen Erziehungsprimat bejahen. Verbreitet war die Meinung, daß das Elternrecht vielleicht einen naturrechtlichen Ursprung habe, der Garantieinhalt in Art. 120 WRV nur einen qualitativ umschriebenen Teil dieses Rechts umfasse. Nur die Erziehung zur Tüchtigkeit ließ ein Recht der Eltern gegenüber dem Staat ihrer Pflicht vorangehen. Jeder andere Bereich ihrer Erziehungstätigkeit sei dem Wächteramt des Staates und den Sanktionen des Art. 122 WRV („sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung") unterworfen 86 . cc) Die „Eltern" Das Elternrecht des Art. 120 WRV wurde nur ehelichen Eltern zugestanden 87 . Grund hierfür war die Spezialregelung in Art. 121 WRV, im Verlauf deren Entstehungsgeschichte die Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder mehrheitlich abgelehnt wurde 8 8 . 86 87 88

Chr. J. Klumker: Elternrecht, Art. 120 WRV, S. 99. Ebd., S. 100. Ebd., S. 100.

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Ein weiteres Argument für die Versagung des Elternrechts wurde in der spezifischen Erziehungsleistung der Familie gesehen. Nicht die bewußte und gewollte Erziehung des Kindes, sondern schlichtweg sein Aufwachsen in der Familiengemeinschaft sei entscheidende Leistung der Familie. Die nichteheliche Mutter, die nicht mit dem Vater zusammenlebe, könne eine solche Erziehungsleistung wesensgemäß nicht erbringen 89 . c) Art. 121 WRV aa) Die Bindungswirkung Art. 121 WRV umfaßte das „Innenverhältnis" von Mutter und Kind, während Art. 119 Abs. 3 WRV als Regelung des „Außenverhältnisses" zwischen Mutter und Staat angesehen wurde. Art. 121 WRV wurde unmittelbare Rechtsgeltung abgesprochen, da sonst weite Teile des BGBs nichtig gewesen wären. Auch Art. 121 WRV wurde deshalb lediglich programmatische Bedeutung beigemessen90. bb) Die gleichen Bedingungen Diese Formulierung war ein Kompromiß zwischen der „radikalen" Ansicht, die eine rechtliche Gleichstellung von nichtehelichen und ehelichen Kindern forderte und der konservativen Position, die den Vorrang der Familie und des ehelichen Geschlechtsverkehrs vor dem Schutz des nichtehlichen Kindes b e t o n t e 9 1 9 2 . Der Zusatz „durch die Gesetzgebung" ist bei den Formulierungsberatungen nicht näher behandelt worden. Hierin kann aber wieder ein Indiz für den Kompromißcharakter der Bestimmung gesehen werden. Auf der einen Seite wird ein Eintreten für das nichteheliche Kind vom Gesetzgeber und nicht nur der (Fürsorge-)Verwaltung gefordert, auf der anderen Seite wird nur die Gesetzgebung beauftragt - und nicht die Gesellschaft 93 . Die Positionen, die bei Erlaß der WRV vertreten wurde, waren - wie sich bei den Beratungen zum GG zeigt - zeitlos vertretbar.

89

Chr.J. Klumker: Stellung der nichtehelichen Kinder, Art. 121 WRV, S. 113. ° Ebd., S. 107 ff. 91 Ebd., S. 108. 92 Den „gleichen Bedingungen" ging die Formulierung „gerechte Bedingungen" voran. Die „gleichen Bedingungen" vermittelten zwischen den „gerechten Bedingungen", die den Vorrang der Ehe wahren wollten und einem Vorschlag, der die Gewährung „gleicher Rechte beinhaltete (Chr. J. Klumker: ebd., S. 112). 93 Ebd., S. 124. 9

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie I I . D i e Entstehungsgeschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie i m Grundgesetz 1. Die mit Art. 6 GG befaßten Verfassungsgeber

Art. 6 GG in seiner heutigen Form stand beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (10. - 23.8.1948) noch nicht zur Diskussion. Wegen des provisorischen Charakters des Grundgesetzes wollte man Regelungen, die das soziale Leben betrafen, aussparen und einer späteren, gemeinsamen Verfassimg des deutschen Volkes vorbehalten 94 . Neben dem Entwurf eines Grundgesetzes war auch der Entwurf eines Wahlgesetzes für die Mitglieder des Parlamentarischen Rates ausgearbeitet worden. Es wurde von den Landtagen Ende August 1948 beschlossen und die 65 Mitglieder in den Parlamentarischen Rat gewählt. a) Der Parlamentarische Rat Er trat vom 1.9.1948 bis Mai 1949 in Bonn zusammen. Am 8.5.1949 nahm der Parlamentarische Rat das GG an, das am 24.8.1949 in Kraft trat. Der Haupt-, der Grundsatz- und der Redaktionsausschuß waren die Ausschüsse des Parlamentarischen Rates, die sich mit Art. 6 GG befaßten. b) Die Ausschüsse Der 21 Mitglieder umfassende Hauptausschuß stimmte in vier Lesungen über die Entwürfe der Fachausschüsse ab. Ein solcher Fachausschuß war der Grundsatzausschuß, der sich mit den Grundlagen des Staates und dem Grundrechtskomplex befaßte. Zudem beschloß man die Konstituierung eines Redaktionsausschusses, dessen Aufgabe in der politischen Harmonisierung der in den Fachausschüssen beschlossenen Entwürfe bestand 95 . Die Beratungen dieses Dreierausschusses wurden nicht protokolliert 9 6 . Lediglich Anmerkungen zu den vom Ausschuß vorgeschlagenen Änderungen geben begrenzten Aufschluß über den Hintergrund und die Motive der Beratungen. Aus dem Dreierausschuß wurde später ein interfraktioneller Fünferausschuß, der der politischen Kompromißfindung bezüglich kultureller Fragen 94 Dies klingt auch i n der Stellungnahme des Abg. Dr. Menzel (SPD): Stenographischer Bericht, Verhandlungen des Parlamentarischen Rats, Ausschuß für Grundsatzfragen („Stenoprot."), 29. Sitzung (Sitz.), S. 3 ff an. Mit dieser Auffassung habe man auch die Forderung der Gewerkschaften nach verfassungsrechtlichem Schutz abgelehnt. 95 Siehe zum Folgenden auch W. Matz: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JÖR 1 (1951), S. 8 ff. 96 Ebd., S. 10.

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dienen sollte. Auch er befaßte sich mit den damaligen Art. 7a und 7b GG 9 7 , sah jedoch bewußt von jeglicher Begründung oder Kommentierung seiner Änderungsvorschläge ab 9 8 . 2. Die Stellungnahmen des Grundsatzausschusses bezüglich Art. 6 Abs. 1 GG

a) Das „Ob" einer Ehe und Familie schützenden Verfassungsnorm Der Vorsitzende Dr. von Mangoldt (CDU) verlangte eine rechtlich verbindliche Bestimmung über den Schutz von Ehe und Familie im GG, die über eine Deklamation 99 hinausgehen sollte. - Ein Argument für den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie im GG war für die CDU-Fraktion dabei der Wortlaut des Artikel 14 der UN-Deklaration über die Menschenrechte 100 , der lautete: „1. Der Mann oder die Frau im heiratsfähigen Alter haben das Recht sich zu vermählen und eine Familie zu gründen. Sie genießen in eherechtlicher Beziehung die gleichen Rechte. 2. Die Ehe kann nur mit der vollen Einwilligung der beiden Gatten geschlossen werden. 3. Die Familie ist das natürliche und fundamentale Element der Gesellschaft und hat Recht auf Schutz."

Auch in der starken Berührung Deutschlands „mit dem Osten" wurde ein Argument für die Notwendigkeit eines verfassungsrechtlichen Familienschutzes gesehen. Offen blieb in seiner Stellungnahme, ob er die Ehe und Familie betreffenden Regelungen als Grundrechte ausgestaltet sehen wollte. - Der Antrag wurde vom DP-Mitglied Heile 1 0 1 unterstützt. Er verwies auf die jüngste Vergangenheit, die gezeigt habe, daß der Zerrüttung der Familie durch den Staat Einhalt geboten werden müsse. - Der Vorschlag der CDU-Fraktion lautete: „Die Ehe als die rechtmäßige Form der dauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau und die aus ihr wachsende Familie sowie die aus der Ehe und der Zugehörigkeit zur Familie fließenden Rechte und Plichten stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung 102 ." 97 Die heute in Art. 6 GG enthaltenen Bestimmungen durchliefen die Beratungen als Art. 7a und 7b GG. 98 W. Matz: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, S. 11. 99 Stenoprot. 24. Sitz., S. 33 f und 29. Sitz., S.4. 100 Zitiert nach W. Matz: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, S. 93 Fn. 2. 101 Stenoprot: 24. Sitz., S. 36. 102 Stenoprot: 24. Sitz., S. 39.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Die aus der SPD und FDP stammenden Gegner einer Familienbestimmung in der Verfassung brachten in der Hauptsache drei Argumente vor: - M a n 1 0 3 verwies auf den provisorischem Charakter eines „Grund"-Gesetzes, das notwendigerweise in den das soziale Leben betreffenden Regelungen fragmentarisch bleiben müsse. Auch nähme der Staat hier in Bezug auf die Moral seiner Bürger Stellung, wenn er sich zu einem traditionell-biologischen oder moralischen Sachkomplex äußere. Dies sei nicht nur für eine Notgesetzgebung unangemessen. - Der CDU-Entwurf enthalte keine unmittelbaren Rechtsfolgen und füge sich deshalb in den übrigen Grundrechtskatalog nicht ein 1 0 4 . - Wenn in Anlehnung an die Menschenrechte der UN-Deklaration, Ehe und Familie im GG geschützt würden, dann sei eine Regelung der Stellung des nichtehelichen Kindes unerläßlich. Der Abg. Dr. Heuß schlug deshalb eine Ergänzung zum Vorschlag der CDU vor: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Uneheliche Kinder stehen in ihren Rechten den unehelichen Kindern gleich" 1 0 5 .

Dieser Antrag wurde wie folgt begründet: - Ein hoher Frauenüberschuß als Folge des Krieges verpflichte den Staat, den Kindeswunsch der nichtehelichen Mutter zu respektieren 106 . Aller Wahrscheinlichkeit nach führte dieser Frauenüberschuß zu einer erhöhten Zahl von nichtehelichen Kindern. Eine am Wohl dieser Kinder orientierte, verfassungsrechtliche Schutzbestimmung sei deshalb ebenfalls notwendig. - Vor allem das erste Argument provozierte den Widerspruch der konservativen Abgeordneten 107 . Wenn sie zwar grundsätzlich einem verfassungsrechtlichem Schutzauftrag zu Gunsten des nichtehelichen Kindes zustimmten, so ist die staatliche Tolerierung des Kindeswunsches einer nicht verheirateten Frau für sie undenkbar. Die konservative Abge. Dr. Weber (CDU) spricht es aus: „Aber diese unverheirateten Frauen haben kein Recht auf ein uneheliches K i n d " 1 0 8 und damit auf gar kein Kind. Die Aufnahme eines Familien- und Kindschutzes in die Verfassung war mit dieser Begründimg bereits „beschlossene Sache". Die Diskussion konnte sich deshalb auf Einzelfragen konzentrieren.

103 104 105 106 107 108

Abg. Dr. Menzel (SPD): Stenoprot, 29. Sitz., S. 3. Abg. Dr. Heuß (FDP): Stenoprot, 29 Sitz., S. 7 f und 24. Sitz., S. 36. Abg. Dr. Heuß: Stenoprot, 29. Sitz., S. 8. Abg. Dr. Heuß: ebd. Abge. Dr. Weber, Dr. Süsterhenn: Stenoprot, 29. Sitz., S. 12 - 14. Abge. Dr. Weber: Stenoprot, 29. Sitz., S. 12.

II. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 6 G G

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b) Setzt die Familie des Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe der Eltern voraus? aa) Ist die Ehe Familie? Anhand der Formulierung im CDU-Vorschlag: „die aus ihr wachsende Familie" wurde die Frage nach dem Verhältnis von Ehe und Familie gestellt: - Der Abg. Dr. Heuß (FDP) wollte die „Ehe und die mit ihr gegebene Familie" schützen 109 . Die kinderlose sollte im Vergleich zur Ehe mit Kindern keine Ehe minderen Rechts sein. - Aus dem gleichen Gedanken wollte der Abg. Dr. von Mangoldt (CDU) sowohl die Gemeinschaft der Eheleute als auch die Gemeinschaft der Eheleute mit Kindern als Familie bezeichnen 110 . - Der Abg. Dr. Greve (SPD) 111 wollte die „mit ihr gegebene Familie" der Formulierung „aus ihr wachsend" im Hinblick auf die Adoption vorziehen. In diesem Fall erwachse eine Familie (Adoptiveltern und Kind) nicht aus der Ehe. In diesen Vorschlägen w i r d ein Bewußtsein dafür deutlich, daß die Ehe mehr als eine „unvollendete Familie" ist. Die Ehe sollte nicht als bloße Vorstufe zur Familie, sondern als Institution mit eigener Wertigkeit für die beiden Mitglieder (Lebens- und Arbeitsgemeinschaft) vor und durch den Staat geschützt werden. Anhaltspunkte hierfür ergeben sich auch aus der Unterlassung eines besonderen Schutzes von kinderreichen Familien (vgl. Art. 119 Abs. 2 S. 2 WRV). bb) Die vollständige Familie als Regelungsgegenstand Von der konservativen Seite wurde als Kennzeichen der Familie die Familiengemeinschaft betont, d. h. das Aufwachsen des Kindes in der Gemeinschaft mit beiden Eltern. Diese Gemeinschaft sei das Unterscheidungskriterium zwischen ehelichem und nichtehelichem Kind. Eine solche Familiengemeinschaft kenne das nichteheliche Kind regelmäßig nicht, da entweder der Vater nicht bekannt sei oder mit der Mutter nicht zusammenlebe. Das Fehlen der Gemeinschaft mit Vater und Mutter beim nichtehelichen Kind verbiete eine Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder im Sinne des Vorschlages des Abg. Dr. Heuss („in ihren Rechten gleich"). Dagegen wandten sich die Kritiker, wenn sie dem Idealbild der MutterVater-Kind-Familie die Realität der Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind- „Fami109 110 111

Abg. Dr. Heuß (FDP): Stenoprot, 29. Sitz., S. 45. Abg. Dr. v. Mangoldt: Stenoprot, 29. Sitz., S. 45. Abg. Dr. Greve: Stenoprot, 29. Sitz., S. 46.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

lie" als Folge einer Scheidung gegenüberstellten. Dr. Bergsträsser (SPD) 112 verglich die Situation des Kindes einer geschiedenen Ehe mit der des nichtehelichen Kindes und stellte hierbei in Bezug auf das Fehlen einer Familiengemeinschaft keinen Unterschied fest. In heutiger Terminologie ausgedrückt: Halb- und Restfamilie seien eben durch den gleichen Ausfall im personellen Inventar gekennzeichnet und daher beide wesensgemäß unterschiedlich im Vergleich zum „Normalfall" - der vollständigen Familie. Ob der CDU-Vorschlag auch die Restfamilie umfassen sollte, wurde nicht ausdrücklich festgestellt. Da Dr. Bergsträsser seine Argumentation für die Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder verwendete, muß davon ausgegangen werden, daß er auch die Restfamilie als Familie im Sinne des CDU-Vorschlag ansah 113 . Auch die Entgegnung des CDU-Abgeordneten Dr. Süsterhenn ist hierfür Indiz. Gegenüber dem Hinweis auf die geschiedene Familie verwies er auf die Restfamilien in Folge des Vorversterbens des Vaters. „Der Familienschutz umfasse auch die Familie nach dem Tode des Vaters" 1 1 4 . Hinter dieser Argumentation der CDU steckt wohl der Gedanke des Kindeswohls: Genauso wie man das nichteheliche Kind als dem Unschuldigen an seiner außerehelichen Geburt nicht „strafen" will, w i l l man auch keine Benachteiligung des Kindes geschiedener Eltern. Genausowenig oder -viel wie die Voll- oder Halbwaise konnten das nichteheliche und das Kind geschiedener Eltern ihr Schicksal in dieser Hinsicht beeinflussen 115 . Dieser Vergleich veranlaßt nur dann zu einem Schutz auch der Restfamilie, wenn Art. 6 Abs. 1 GG zentral kindeswohlbestimmt ist. Haben andere Faktoren, wie der Aufbau des Staates und das staatliche Interesse an autonomen, leistungsfähigen Personengemeinschaften maßgebende Bedeutimg für den „besonderen Schutz", dann kann das individuelle Kindeswohl des nichtehelichen Kindes für Art. 6 Abs. 1 GG, anders als bei Art. 6 Abs. 5 GG, nicht maßgeblich sein.

112 Abg. Dr. Bergsträsser (SPD): Stenoprot, 24. Sitz., S. 37. 113 Weiter muß aus seiner Argumentation gefolgert werden, daß er beim Schutz der Familie vorrangig die Kernfamilie und allenfalls in zweiter Linie die erweiterte Familie im Auge hatte. 114 Abg. Dr. Süsterhenn (CDU): Stenoprot, 29. Sitz., S. 52. 115 Im Hauptausschuß wurde dieses Thema lediglich im Antrag des Abg. Dr. Seebohm (DP): „Die Fürsorge für elternlose Kinder ist durch Bundesgesetz besonders zu regeln" (Abg. Dr. Seebohm (DP) HA-Steno, S. 547, 552) angesprochen. Er wurde mit der Begründung abgelehnt, daß der Gesetzgeber angesichts der Nachkriegsnot selbst handeln werde. Hieraus könnte entnommen werden, daß die Kernfamilie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt werden sollte. Andernfalls wäre die Gemeinschaft verwaister Enkel und ihrer Großeltern bereits in Art. 6 Abs. 1 GG als Familie geschützt gewesen. Da „elternlose" Kinder evtl. auch als großelternlose Kinder auszulegen wäre und eine weitere Beratung nicht stattgefunden hat, sind die Anhaltspunkte für eine solche Auslegung zu dürftig.

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cc) Die Gemeinschaft von nichtehelicher Mutter und Kind als „Familie" Hinter den heutigen Absätzen 1, 4 und 5 des Art. 6 GG stehen folgende Positionen: - Die eine, die lediglich am Wohl des nichtehelichen Kindes orientiert ist. Das Kind soll nicht für die „Sünden" seiner Eltern büßen. Deshalb wird der Staat und mit ihm der Gesetzgeber zum Schutze dieses Kindes aufgerufen. - Die andere Ansicht verschließt sich nicht den statistischen Realitäten des damaligen Alltagslebens. Da der Krieg den zu Hause gebliebenen Frauen (potentielle) Partner entzogen habe, sei der Wunsch dieser Frauen nach einem nichtehelichen Kind quasi als Ausfluß der persönlichen Handlungsfreiheit und der Menschenwürde (Recht auf Postexistenz) zu respektieren. - Die dritte Ansicht macht das Verhalten Erwachsener, nämlich von Vätern und Müttern zum Maßstab der verfassungsrechtlichen Regelung. Wer nämlich glaubt, daß die Institution der Ehe für alle - Männer, Frauen und Kinder - die beste Basis für das Leben ist, der w i l l sich an die „Verantwortlichen" wenden. Der Frau und dem Mann sollen in ihrer Entscheidung Geschlechtsverkehr mit oder ohne Aussicht auf eine Eheschließung 1 1 6 zu vollziehen, durch den besonderen Schutz der Ehe in Verfassung und Gesetz „Entscheidungshilfen" gegeben werden. Eine zusätzliche Motivation kann hier durchaus in einer vereinzelten Schlechterstellung des nichtehelichen Kindes bzw. der Stellung als Vater oder Mutter sein. Deshalb ist es weder möglich, sich rechtsgeschäftlich in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft vor ungewollter Nachkommenschaft zu schützen 117 , noch sich rechtsgeschäftlich oder gesetzlich besondere Erziehungsrechte als Vater am nichtehelichen Kind zu verschaffen. Gegen die Regelung des § 1711 BGB und gegen eine Zuerkennung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG an den nichtehelichen Vater spricht deshalb immer der Motivationsdruck zugunsten der Ehe mit der Mutter. Diese Ansicht nimmt in Kauf, daß im Einzelfall die Interessen des Kindes einem Motivationsdruck zugunsten einer Eheschließung mit der Mutter untergeordnet werden. So, wenn die Mutter dem zuwendungsbereiten Vater weitgehende Beschränkungen im persönlichen Umgang mit dem Kind auferlegt (§ 1711 Abs. 1, 2 BGB). Dem nichtehelichen Kind wird durch die eine Bezugsperson der Kontakt zu einer zweiten erschwert. Dieses Recht der Mutter w i r d auch vom BVerfG als Ausdruck gesetzlicher Gestaltungsbefugnis verfassungsrechtlich akzeptiert. 116 §§ 1298, 1300, 1301, 847 Abs. 2 BGB schützen gewisse Erwartungshaltungen und im Vertrauen darauf getroffene Vermögensdispositionen. 7 11 BGHZ: NJW 1986, S. 2043 (2053).

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Diese gegensätzlichen Positionen setzten sich bei der Formulierung des späteren Art. 6 Abs. 5 GG fort: - Die erste Ansicht wird eine Gleichstellung der Gruppe nichtehelicher Mutter-Kind mit der Familie bejahen. Wenn das nichteheliche Kind ohne Vater aufwachsen muß, dann soll wenigstens diese Beziehung - als Ausgleich (?) - besonders geschützt werden (Art. 6 Abs. 1 und 5 GG). - Auch die zweite Ansicht kommt zum gleichen Ergebnis. Sie kann aus einem Freiheitsgedanken heraus auch den Wunsch einer alleinstehenden Mutter nach einem Kind respektieren und eine Gleichstellung der Gruppe nichtehelicher Mutter-Kind mit der Familie fordern. Schwierigkeiten bereitet hier ein gerechter Ausgleich der Interessen von Vater und Mutter am nichtehelichen Kind. Beide nehmen hier nämlich Freiheiten in Anspruch, die sich auf das gleiche Bezugsobjekt richten: das Kind. Ohne weitere Begründung wird dann, wie in § 1711 BGB, meistens der Mutter der Vorrang eingeräumt und ihre Herkunftsfamilie zur Zeit der Beratungen des GG mit Unterhaltspflichten oder Erbrechten berechtigt oder belastet. - Nur die dritte Meinung vertritt, daß die Gruppe von durch Ehe verbundenen Gatten und Kind eine andere Qualität als die Mutterschaft besitzt. Diese Ansicht wurde bei Erlaß des GG noch durch § 1589 Abs. 2 BGB bestärkt, der eine Verwandtschaft des nichtehelichen Kindes mit seinem Vater und väterlichen Verwandten ausschloß. Eine Gemeinschaft von Vater oder Mutter mit dem nichtehelichen Kind war deshalb de lege lata und de lege ferenda für diese Verfassungsväter und -mütter nicht denkbar, geschweige denn als Familie in Art. 6 Abs. 1 GG schützbar. - Eine bereits bei den Beratungen zur WRV vernachlässigte Meinung 1 1 8 glaubte die Entscheidung, ob eine totale Gleichstellung von nichtehelichen und ehelichen Kindern durch Schutz der Mutter-Kind-Familie möglich sei, dem einfachen Gesetzgeber überlassen zu können bzw. zu müssen. Alle diese Meinungen flössen in den folgenden Text ein, den der Grundsatzausschuß mehrheitlich beschloß: „Die Ehe ist die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Sie bildet die Grundlage der Familie. Ehe und Familie und die damit verbundenen Rechte und Pflichten stehen unter dem Schutze der Verfassung."

Im Grundsatzausschuß konnten sich - wie im Verfassungsausschuß der WRV - die Konservativen, die die Ehe von (Adoptiv-)Vater und -Mutter als einzige Grundlage der Familie begriffen, behaupten. Lediglich im Vergleich zum ersten CDU-Vorschlag mußten sie bei der Lebensgemeinschaft auf die Festschreibung der „dauernden" Lebensgemeinschaft von Mann und Frau verzichten 119 . 118

Abg Dr. Greve (SPD): Stenoprot, 29. Sitz., S. 51.

II. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 6 G G

271

c) Art. 6 Abs. 1 G G als Gruppengrundrecht Mit der Frage, wo Art. 6 GG systematisch in den Grundrechtskatalog einzureihen sei, wurde auch die Frage nach der Natur des Familienschutzes als Schutz einer Gruppe von Menschen diskutiert. Der Schutz von Ehe und Familie wurde als „kleines Gruppenrecht" 120 bezeichnet. Dies war auch die Begründung, wieso Art. 6 GG nach den Individualrechten und vor den „großen Gruppenrechten", wie den Vereinen, Gesellschaften und Versammlungen eingeordnet wurde. Man sprach von der großen „Individualität der Familie" 1 2 1 . Der problematische Gegensatz zwischen dem Gruppenrecht der Familie als „natürlichem Verein" 1 2 2 und der Individualität des einzelnen innerhalb dieses Verbandes ist nicht angesprochen worden. Lediglich die Auseinandersetzungen um Art. 6 Abs. 5 GG belegen eine individualistische K r i t i k gegenüber dem „Zwangsverband" Familie als Grundlage des Staates. d) Art. 6 Abs. 1 GG als Einrichtungsgarantie Im Verlauf der Beratungen kam die Frage auf, ob der Ehebruch - dessen Strafbarkeit Antragsdelikt war - nunmehr aufgrund der Formulierung der CDU mit Zuchthaus bestraft werden könne, bzw. müsse 123 . Dem begegnete der CDU-Abg. Dr. Süsterhenn 124 mit dem Hinweis, daß die Ehe als „Institution im Prinzip" zu schützen sei. Die Institutionen sollten so erhalten bleiben, wie sie nach den überlieferten Grundzügen vorhanden waren. Als ein solcher Grundzug sei die Frage des Ehebruchs im Strafgesetzbuch geregelt 1 2 5 . Nach dieser Auffassung ist die Strafbarkeit des Ehebruchs entsprechend der einfachgesetzlichen Regelung Ausdruck eines Strukturmerkmals der Institution Ehe (jedenfalls zum Zeitpunkt dieser Äußerungen: 1949). Ein Vergleich mit den Beratungen zur WRV zeigt: Das dogmatische Problem des Schutzes einer Institution in ihren Grundzügen war durch die Lehre von den Einrichtungsgarantien gelöst. Man konnte sich inhaltlichen Detailproblemen wenigstens in beschränktem Umfang widmen.

119

Abg. Abg. 121 Abg. Abs. 3 GG. 122 Abg. 123 Abg. 124 Abg. 125 Abg. 120

Dr. Süsterhenn (CDU): Stenoprot, 32. Sitz., S. 50. Dr. Heuß: Stenoprot, 29. Sitz., S. 55. Dr. Heuß: Stenoprot, 29. Sitz., S. 56, Äusserungen ζ. T. in Bezug auf Art. 6 Dr. Dr. Dr. Dr.

Süsterhenn: Stenoprot, 29. Sitz., S. 56. Eberhard (SPD): Stenoprot, 29. Sitz., S. 42. Süsterhenn: Stenoprot, 29. Sitz., S. 42; so auch Abg. Maier (SPD). von Mangoldt (CDU): Stenoprot, 29. Sitz., S. 42.

272

H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie 3. Die Erörterungen im Parlamentarischen Hauptausschuß: Die Ordnung Ehe - Familie - Staat

Anders als im Grundsatzausschuß beherrschte ein Thema die Diskussion im Hauptausschuß, nämlich das thematische Verhältnis der späteren Art. 6 Abs. 1 und 5 GG. a) In 1. Lesung Am 7. 12. 1948 lag dem Hauptausschuß der oben zitierte Entwurf des Grundsatzausschusses vor. Die CDU-Abge. Dr. Weber betonte, daß „eine Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder unmöglich sei" 1 2 6 . Zur Begründung führte die Abge. Wessel (Z) an, daß Ehe und Familie Träger des Staates seien. Das nichteheliche Kind falle aus dem Ordnungsgefüge von Ehe, Familie und Staat heraus. Eine Gleichstellung des nichtehelichen mit dem in diese Familienordnung eingebundenen Kind scheide deshalb aus 127 . Entscheidend ist für diese Ansicht die Eigenschaft der Familie als „Unterbau" des Staates. Die Bedeutimg des Schutzes der Intimität des Individuums in der Familie erscheint nachgeordnet. Der Abg. Schmid (SPD) 128 wandte sich gegen das konservative Argument der „Ordnungslosigkeit" des nichtehelichen Kindes, indem er die „Ordnung" selbst in Frage stellte. Die Rechte und Pflichten der Familie entsprängen nicht der Blutsverwandschaft qua natura, sondern würden von einer sich im Laufe der Zeit wandelnden Rechtsordnung an die Blutsverwandschaft geknüpft. Demzufolge sei die Stellung des nichtehelichen Kindes eine Frage des Rechts und damit im Verlauf der Geschichte eine Frage des Wandels des Rechts. Wenn von einer Ordnung Ehe - Familie - Staat gesprochen werde, dann sei dies keineswegs eine natürliche bzw. naturrechtliche „Ordnung", sondern eine von Menschen festgesetzte. Diese Festsetzungen (wie z. B. religiöse) könnten sich im Lauf der Zeit ändern bzw. in einer Verfassung geändert werden. Eine vermittelnde Meinung vertrat der Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) 1 2 9 , der grundsätzlich eine Wandelbarkeit des begrifflichen Inhalts der Familie akzeptierte. Genauso kategorisch sprach er dem Verfassungsgeber die Fähigkeit ab, eine natürliche Rechtsordnung selbst zu bestimmen. Auch dem Verfassungsgeber sei die aus der Natur erwachsene Ordnung zwingend vorgeben - er könne sie nicht selbst aufstellen, sondern lediglich näher ausgestalten: „Es ist zwar richtig, daß in der gesamten Menschheitsgeschichte in diesem oder jenem Kulturkreis gewisse Differenzierungen des Familien126 Parlamentarischer Rat: Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn, 1948, 1949; („HA-Steno"), 21. Sitz., S. 239. 127 Abg. Wessel (Z): HA-Steno, S. 548. 128 Abg. Schmid (SPD): HA-Steno, S. 242. 129 Abg. Dr. Süsterhenn: HA-Steno, S. 243.

II. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 6 GG

273

begriffs feststellbar sind. Aber w i r leben doch nur - und darauf legen wir doch immer entscheidenden Wert - innerhalb des Rahmens der christlichabendländischen oder westlichen Kulturordnung, und in dieser Ordnung ist die Familie ständig als eine in sich geschlossene Einheit aufgefaßt worden. Wir wünschen daher auch, daß sie entsprechend dieser westeuropäischen Tradition in dieser geschlossenen Einheit bewahrt bleibt" 1 3 0 . Es bricht hier der Gegensatz zwischen einem vom christlichen und kulturellen Vorverständnis geprägten Familienbegriff und einem ad-hoc-festlegbaren Familienverständnis auf. Wer Familie als rechtlich bestimmbar - und nicht nur interpretierbar - begreift, kann ihren Inhalt definieren und (beliebig ?) redefinieren. Wer demgegenüber in die Verfassung ein naturrechtliches oder kulturstaatliches Vorverständnis hineinprojeziert, kann eine solche Freiheit des Verfassungsgebers nicht anerkennen. Des weiteren neigt eine solche Betrachtungsweise zu konservativen Auslegungsergebnissen. Ein bestehendes Vorverständnis bindet an dieses und verhindert eine Umkehrung der Begrifflichkeiten. Nicht nur so grundsätzliche, sondern auch diffizile Unterscheidungen kennzeichnen die gegnerischen Parteien. Selbst wenn man ein Ordnungsgefüge von Familie und Staat akzeptierte, so führten die „Realisten" an, müsse angesichts eines Frauenüberschusses von 7 Millionen mit der „Entwicklung neuer Lebensformen, der Mutter-Kind-Familie, gerechnet werden. Auch die Abge. Dr. Seibert (SPD) erachtete die Aussparung der Mutter-Kind-Familie als nicht realistisch, da „die Grundsätze von Ehe und Familie vom Leben bereits durchbrochen" seien. Der Vorschlag der SPD-Fraktion lautete deshalb: „Ehe, Familie und Kind genießen den besonderen Schutz der Verfassung" 131 .

Auffallend an diesem Entwurf ist die Beiordnung des Kindes neben Ehe und Familie. Die Gemeinschaft von Mutter und nichtehelichen Kind, geschweige die von Vater und Kind und die nichteheliche Lebensgemeinschaft sind in diesem Vorschlag keine Familie; andernfalls ergäbe eine solche Beiordnung wenig Sinn. Dies erfaßte und kritisierte auch der Abg. Renner (KPD) als er verlangte, daß nicht nur für das Kind, sondern auch für die Mutter die außereheliche Geburt nicht nachteilig sein dürfe 1 3 2 . Wenn sein Vorschlag angenommen worden wäre, dann könnte man als Ergebnis der Beratungen „Familie" sowohl durch die Gattenfamilie mit Kind als auch die Halbfamilie zwischen Mutter und K i n d definieren. Dieser Entwurf wurde indes nicht angenommen. 130 Abg. Dr. Süsterhenn: ebd. Abg. Dr. Bergsträsser: HA-Steno, S. 241. 132 Abg. Renner: HA-Steno, S. 241 f.

131

18 Schmid

274

H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Auch die Beiordnung des Kindes zu Ehe und Familie - und nicht wie in den Entwürfen zur WRV der „Mutterschaft" - ist bedeutsam. Man kann dies als Ausdruck der Orientierung am Kindes- und nicht am Elternwohl des Art. 6 Abs. 1 GG sehen. Weiterhin wird eine neue Sichtweise von Art. 6 Abs. 1 und 5 GG eröffnet. Der Ehe- und Familienschutz als Ermutigung zum Entschluß für das K i n d und der Schutz des geborenen Kindes ex post (und nicht der Halbfamilie ex ante), falls die ersten beiden Kindeswohlgewährleistungen aufgrund des Verhaltens oder des Todes der Eltern keine Wirkung entfalten können. Auch dieser Entwurf wurde aber in erster Lesung nicht angenommen 133 . Mit einer 11 zu 10 Stimmen Mehrheit verabschiedete der Hauptausschuß in erster Lesung den konservativen Entwurf des Grundsatzausschusses. b) In 2. Lesung Hier befaßte sich der Hauptausschuß mit dem redaktionell etwas geänderten Entwurf des Grundsatzausschusses, der jetzt lautete: Die Ehe ist die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Sie bildet die Grundlage der Familie. Ehe und Familie und die damit verbundenen Rechte und Pflichten stehen unter dem Schutze der Verfassung".

Auch in diesem Vorschlag war die Ehe noch als Grundlage der Familie geschützt. Der KPD-Abg. Renner wandte sich gegen den Schutz der Ehe in der Verfassung und wollte nur „die Familie als Grundlage des staatlichen Gemeinschaftslebens unter den Schutz der Verfassung stellen" 1 3 4 . Sein Antrag wurde abgelehnt. Der Abg. Dr. Greve (SPD) 135 brachte den Vorschlag des Redaktionsausschusses (Dreier-Ausschuß) in die Beratungen ein, der lautete: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderem Schutze der staatlichen Ordnung". Den zweiten Satz des bisherigen Entwurfes - „Sie b i l d e t . . . " - lehnte er mit der Begründung ab, er sei bloße Deklamation und gewähre keine subjektiven Rechte. Der mit dem Redaktionsausschuß übereinstimmende Entwurf wurde in der nahezu unmittelbar folgenden Abstimmung mit 12 gegen 9 Stimmen angenommen.

133 auch im Grundsatzausschuß, so finden sich auch im Hauptausschuß Vertreter der Meinung, daß die Entscheidung, ob nichteheliches und eheliches Kind gleichzustellen seien, dem einfachen Gesetzgeber zu überlassen sei (Abg. Dr. Seebohm (DP): HA-Steno, S. 244). 134 Abg. Renner: HA-Steno, S. 554. 135 Abg. Dr. Greve: HA-Steno, S. 554.

II. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 6 G G

275

4. Der Entwurf des Redaktionsausschusses

a) Der Entwurf und seine Begründung Der Dreierausschuß begründete seinen Entwurf: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" mit folgender Anmerkung. „Wenn Ehe und Familie unter dem Schutz der staatlichen Ordnung gestellt werden, so sind damit zugleich die aus ihnen fließenden Rechte unter deren Schutz gestellt. Im übrigen bedarf es keines Hinweises auf die rechtmäßige Form der fortdauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, wenn die Ehe als solche unter den besonderen Schutz des Staates gestellt w i r d " 1 3 6 . b) Die Auslegung des Entwurfs

im Schrifttum

Der Redaktionsausschuß bezeichnet die Ehe nicht mehr als „rechtmäßige Form der fortdauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau". Aus dieser Tatsache schließt ein Teil der Literatur, daß die CDU-Fraktion mit ihrem Versuch gescheitert sei, die Ehe als Grundlage des Familienlebens in der Verfassimg zu schützen 137 und leitet hieraus auch den Schutz von Halbfamilien und nichtehelichen Lebensgemeinschaften als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG ab. - Zum einen wird darauf abgestellt, daß die Ehe nicht mehr als rechtmäßige Lebensgemeinschaft bezeichnet wird. Das „rechtmäßige" wäre als „einzige", rechtmäßige Form des Zusammenlebens von Mann und Frau zu interpretieren gewesen. Die Formulierung „Ehe und Familie" hätte diesen Aussagegehalt nicht 1 3 8 und könnte auch nicht so interpretiert werden. - Zum anderen hätte bereits die SPD-Fraktion „Ehe, Familie und Kind" schützen wollen. Dieser Vorschlag wird als Indiz dafür gewertet, daß der Redaktionsausschuß nicht nur die eheliche Familie schützen wollte 1 3 9 . Hiergegen läßt sich einwenden, daß der SPD-Entwurf bereits in der ersten Lesung abgelehnt wurde und in der diesbezüglich entscheidenden 2. Lesung keine unmittelbare Diskussionsgrundlage im Hauptausschuß 140 136 Parlamentarischer Rat: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Entwürfe), Formulierungen der Fachausschüsse, des allgemeinen Redaktionsausschusses, des Hauptausschusses und des Plenums, Bonn, 1948/49, S. 87. 137 F. Klein: Das Bonner Grundgesetz, Art. 6 GG, Anm. III/2, S. 266, vgl. auch J. Herzog: Die heterologe Insemination in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 151, und I. v. Münch: Verfassungsrecht und nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 144 f. 138 Ebd., S. 144 ff. 139 Ebd., S. 144 ff. 140 Der dem Redaktionsausschuß folgte. 1

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

mehr bildete. Demgegenüber passierte der CDU-Vorschlag des Schutzes der ehelichen Familie immerhin sowohl die 1. Lesung im Hauptausschuß als auch im Grundsatzausschuß. Diese Kontinuität ließe sich auch als Anhaltspunkt für den größeren Einfluß des CDU-Vorschlags auf die Beratungen in Anspruch zu nehmen. - Ein weiteres Argument für einen Schutz der Halbfamilie und nichtehelicher Lebensgemeinschaften ist der vergleichsweise enge Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 GG im Vergleich zu Art. 119 Abs. 1 WRV 1 4 1 . Hier w i r d übersehen, daß die Formulierung „die Ehe . . . als Grundlage der Erhaltung und Vermehrung der Nation" angesichts der jüngsten Vergangenheit vielleicht gefühlsmäßig abgelehnt wurde. Institutionen wie Mutterkreuz und Lebensborn auf der einen, Hitlerjugend und Konzentrationslager, in denen Juden vergast wurden um die Nation genetisch rein zu halten, auf der anderen Seite gaben diesen Worten einen unerträglichen Beigeschmack. - Zusammengefaßt glaubt ein Teil der Literatur eine „Scheu" des Verfassungsgebers vor entschiedener Ablehnung anderer Formen der Gemeinschaft von Mann und Frau als der Ehe (wie ζ. B. Onkelehen, Rentenkonkubinate) in den Beratungen erkennen zu können 1 4 2 . Ein zusätzliches Argument für diese Auffassung ist der vom CDU-Abg. Dr. v. Mangoldt erstellte Bericht über die Beratungen anläßlich des Entwurfs des Grundgesetzes143. Er stellte fest: „Andererseits lassen die Verhandlungen im Hauptausschuß es aber offen, ob der Fassung des Redaktionsausschusses nicht die Absicht zugrundeliegt, die in der Fassung des Grundsatzausschusses liegende Anerkennung der Ehe als der rechtmäßigen Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau und als solcher der Grundlage der Familie zu umgehen". Dr. v. Mangoldt hatte sich während der Beratungen im Haupt- und Grundsatzausschuß für den Vorschlag seiner Fraktion eingesetzt. Wenn er Zweifel am Ergebnis der Beratungen im Hauptausschuß hegt, dann müssen sie besonders ernst genommen werden. Dies auch, wenn nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG 1 4 4 den Meinungen einzelner, am Normgebungsverfahren beteiligter Personen für die Auslegung eines Grundrechts keine maßgebliche Bedeutung zukommen. Anzu141

F. Klein in: V. Mangold t/Klein: Das Bonner Grundgesetz, Art. 6 Anm. III/2 j. Ebd. 143 H. v. Mangoldt: Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1948/1949, S. 9 f. 144 Maßgebend für die Auslegung einer Verfasssungsnorm ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Normgebers, so wie er sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang ergibt; der Entstehungsgeschichte der Norm kommt nur subsidiäre Bedeutung zu, nämlich nur insofern, „als sie die Richtigkeit der nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt, oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können" (BVerfGE 1, 299 ff.(312). nach I. v. Münch: Grundgesetz-Kommentar, Vorb. 50 zu Art. 1 - 1 9 GG). 142

II. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 6 GG

277

merken ist, daß Dr. v. Mangoldt im Gegensatz zur oben zitierten Literatur auf die Beratungen im Hauptausschuß und nicht auf den geänderten Entwurf des Redaktionsausschusses abstellt. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der FormulierungsVorschlag „die staatliche Ordnung". In Art. 119 WRV hieß es: „unter dem besonderen Schutze der Verfassung". In den Beratungen vor dem Hauptausschuß spielte die Diskussion über das Ordnungsdenken eine große Rolle. Wenn die Familie nicht unter dem Schutz des Staates oder der Verfassung steht, sondern unter dem Schutz der staatlichen Ordnung, dann bedeutet dies eine gewisse Neutralität und Abschottung gegenüber rein rechtlichen bzw. rein gesellschaftlichen Bestimmungsversuchen der Familie. Familie bleibt also als Element staatlicher Ordnung erhalten 145 . Die Beratungen in den Ausschüssen lassen Ansichten erkennen, die für alle Positionen bezüglich der Frage der in Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Kern- und/oder erweiterten Familie, der Halbfamilien und/oder der nichtehelichen Lebensgemeinschaft verwendet werden können. c) Die Auslegung der Begründung des Entwurfs Die vom Redaktionsausschuß angefügte Anmerkung spricht gegen die Auffassung der Literatur, daß Familie im Sinne der Verfassung auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern oder die Halbfamilie sei. d) Zusammenfassung Zur Beantwortung der Frage, ob eine die Halbfamilie und die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als Familie schützende Auffassung sich auf die Motive des Grundgesetzes berufen kann, muß auf zweierlei abgestellt werden: Auf die Stellung und Entscheidungskompetenz von Redaktions - und Hauptausschuß und auf die Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 5 GG. aa) Die Stellung von Haupt - und Redaktionsausschuß Mit dieser Vorgehensweise kann die dem Art. 6 Abs. 1 GG zugrundeliegende Entwurfsfassung des Redaktionsausschusses entsprechend ihrem Gewicht eingeordnet werden. Der Hauptausschuß war das beschließende Gremium des parlamentarischen Rates. Hier wurden die Lesungen durchgeführt und die endgültigen Formulierungen beschlossen. Demgegenüber war der Redaktionsausschuß ein primär politischer Ausschuß. 145 Auf der anderen Seite heißt es „staatliche Ordnung", d. h. die von der konservativen Fraktion befürwortete Übernahme naturrechtlicher bzw. natürlicher Ordnungen von Familie und Staat ist hierunter nicht ohne weiteres zu verstehen.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Vor diesem Hintergrund erscheint es als nicht fernliegend, daß die CDUFraktion den ausdrücklichen Schutz der ehelichen Familie gegen andere (weltanschauliche) Positionen eingetauscht hat; dies gilt auch oder gerade wenn die Anmerkung zum Entwurf des Redaktionsausschusses etwas anderes andeutet. bb) Die Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 5 GG als Auslegungskriterium für Art. 6 Abs. 1 GG Die Auseinandersetzung mit Art. 6 Abs. 5 GG erscheint nicht nur für die Aussagen der Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 1 GG notwendig. Es gilt daneben das Verhältnis zum Zeitpunkt der Beratungen von Art. 6 Abs. 1 und 5 zu klären. Die Fragen, die in diesem Verhältnis auftreten, können an dieser Stelle nur kurz umrissen werden. Verhindert der „besondere Schutz" in Art. 6 Abs. 1 GG eine Gleichstellung von nichtehelichen und ehelichen Kindern in Bezug auf die Lebensgemeinschaften, in denen sie leben 1 4 6 ? Wenn die Halbfamilie bestehend aus Mutter und Kind nicht in Art. 6 Abs. 5 GG geschützt ist, ist sie dann „Familie" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG? Oder muß sie einer Familie gleichgestellt werden, weil der Verfassungsauftrag in Art. 6 Abs. 5 GG bereits aktualisiert ist? Noch weitergehend: Wurde diese Gleichstellung bereits 1949 durch Art. 6 Abs. 5 GG gefordert? Und sind in Bezug auf nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern diese Fragen anders zu beantworten? Die Verbindung von Art. 6 Abs. 1 GG mit Art. 6 Abs. 5 GG wurde schon bei den Beratungen im Grundsatzausschuß offenbar. Eine Regelung bzgl. Art. 6 Abs. 1 GG wurde in Zusammenhang mit einer der inhaltlichen Regelung des Art. 6 Abs. 5 GG vergleichbaren gewünscht 147 . Aus diesem Grunde muß bei der Auslegung der normativen Tatbestandselemente des Art. 6 Abs. 1 GG immer auf Art. 6 Abs. 5 GG geachtet werden: Je weiter der Schutzumfang des Art. 6 Abs. 5 GG gezogen wird, desto weniger „besonderer Schutz" bleibt für die Ehe und Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG übrig.

146 Art. 6 Abs. 5 GG schützt - anders als Art. 6 Abs. 1 GG - das Kind bereits vom Wortlaut her. Dieser Kinderschutz ist in Art. 6 Abs. 1 GG allenfalls mittelbar zu entnehmen. 147 Abg. Dr. Heuss: Stenoprot, 29. Sitz., S. 7 ff (8).

II. Die Entstehungsgeschichte des Art. 6 GG

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5. Die Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 5 GG

a) Die Stellungnahmen im Grundsatzausschuß aa) Die Stellung des Art. 6 Abs. 5 GG im Grundrechtskatalog Gegenüber der Forderung nach einem verfassungsrechtlichen Schutz des nichtehelichen Kindes 1 4 8 stellte der Abg. Dr. Eberhard (SPD) die Frage, ob nicht die Gleichberechtigung des nichtehelichen Kindes bereits im Gleichheitsartikel enthalten sei 149 . Dr. v. Mangoldt (CDU) wollte dies nicht ohne weiteres annehmen, da durch den Gleichheitsartikel dem nichtehelichen Kind lediglich ein „minimum standard of free society" 1 5 0 zugesichert sei, nicht aber eine familienrechtliche Gleichstellung. Aus diesem Grunde wurde eine eigene, das nichteheliche Kind betreffende Regelung als notwendig angesehen. Der innere Zusammenhang war Grund für die Regelung der Materie im Familienkomplex 151 . bb) Die Gleichberechtigung ehelicher und nichtehelicher Kinder Gegen eine Gleichheit im Recht wandten sich die Anhänger der konservativen Parteien mit dem Argument des „wesensgemäßen Unterschiedes zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern". Demgegenüber kritisierte der Abg. Dr. Bergsträsser (SPD), daß dieser wesensgemäße Unterschied auch zwischen dem ehelichen Kind und dem Kind einer geschiedenen Ehe bestehe 152 . In beiden Fällen fehle die vollständige Familiengemeinschaft. Diese grundsätzlich unterschiedlichen Ansatzpunkte wurden auch in der Formulierungsdiskussion sichtbar. Dr. Süsterhenn (CDU) machte den Vorschlag: „Uneheliche Kinder haben den gleichen Anspruch auf gesellschaftliche Förderung wie die ehelichen" 1 5 3 . Umstritten waren die Formulierungen „haben" und „gesellschaftliche Förderung". Dr. Greve (SPD) wandte gegen die Verwendung des Wortes „haben" ein, daß es eine Übergangsbestimmung notwendig mache. Nach geltender bürgerlicher Rechtslage sei das nichteheliche Kind weder mit seinem Vater verwandt noch erbberechtigt. Deshalb wäre eine - dem späteren Art. 117 Abs. 1 GG vergleichbare - Übergangsbestimmung notwendig 1 5 4 . Falls man keine 148 149 150 151 152 153 154

Abg. Abg. Abg. Abg. Abg. Abg. Abg.

Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr.

Heuss: Stenoprot, 24. Sitz., S. 36. Eberhard: Stenoprot, 24. Sitz., S. 36, S. 38. v. Mangoldt: Stenoprot, 24. Sitz., S. 36. Süsterhenn: Stenoprot, 24. Sitz., S. 36. Bergsträsser: Stenoprot, 24. Sitz., S. 37. Süsterhenn: Stenoprot, 29. Sitz., S. 47. Greve: Stenoprot, 29. Sitz., S. 47.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

Übergangsbestimmung schaffe, dann sei Konsequenz des CDU-Vorschlages die Nichtigkeit weiter Teile des bürgerlichen Familienrechts mit Inkrafttreten des Grundgesetzes. Die Formulierung : „Gesellschaftliche Förderung" war eine Abschwächung gegenüber dem Antrag des Abg. Dr. Heuß (FDP): „Uneheliche Kinder stehen in ihren Rechten den ehelichen gleich" 1 5 5 . Dr. v. Mangoldt (CDU) 1 5 6 wandte sich gegen diese „rechtliche" Gleichstellung des nichtehlichen Kindes. Für ein gemeinsames Sorgerecht sei ein Zusammenleben von Mann und Frau notwendig. Der Verfassungsgeber könne ein Zusammenleben der nicht verheirateten Eltern nicht anordnen und sie auf diese Weise zur Ausübung ihres Sorgerechts befähigen. Eine Gleichstellung des nichtehelichen Kindes in Bezug auf das Sorgerecht mit ehelichen Kindern sei deshalb unmöglich. Die bloß „gesellschaftliche" Förderung erschien den Ausschußmitgliedern als minus zur „rechtlichen" Förderung und damit als unzureichend 157 . Die Formel „Förderung" wurde zudem als nur auf ζ. B. die Vergabe von Stipendien, und damit auf die Leistungsverwaltung beschränkt, kritisiert 1 5 8 . Auch der Vorschlag von Dr. Heuß (FDP): „Nichteheliche Kinder stehen den ehelichen gleich"

wurde abgelehnt 159 . Dasselbe galt, weil keinen Anspruch des nichtehelichen Kindes begründend, in gleicher Weise für den Vorschlag, die Regelung der badischen Verfassung zu übernehmen. Sie lautete: „Im beruflichen und gesellschaftlichen Leben stehen eheliche und uneheliche Kinder gleich" 1 6 0 .

Dr. Süsterhenn (CDU) kritisierte sie mit den Worten: „Damit nehmen wir die Möglichkeit der Verbesserung der Rechtsposition, die in der Weimarer Reichsverfassung enthalten i s t " 1 6 1 . Deshalb brachte er den Wortlaut des Art. 121 WRV in die Diskussion ein 1 6 2 : „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern".

Dieser Rückgriff auf Art. 121 WRV 1 6 3 erfuhr Ablehnung, da sein Wortlaut als zu „bombastisch" empfunden wurde 1 6 4 . Zudem war er für die SPD als 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164

Abg. Abg. Abg. Abg. Abg. Abg. Abg. Abg. Abg. Abg.

Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr.

Heuss: Stenoprot, 29. Sitz., S. 46. v. Mangoldt: Stenoprot, 29. Sitz., S. 47. Süsterhenn: Stenoprot, 29. Sitz., S. 50. Heuß: Stenoprot, 29. Sitz., S. 50. Greve: Stenoprot, 29. Sitz., S. 50. Fecht (CDU): 29. Sitz., S. 52. Süsterhenn: Stenoprot, 29. Sitz., S. 52. Süsterhenn: Stenoprot, 29. Sitz., S. 47. v. Mangoldt: Stenoprot, 29. Sitz., S. 53. Heuss: Ha-Steno, 21. Sitz., S. 241.

II. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 6 GG

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reine Deklamation nicht annehmbar 165 . Der Ausschuß einigt sich schließlich auf die Kompromißformel: „Nichteheliche Kinder haben das gleiche Recht auf Förderung durch die Gemeinschaft wie eheliche Kinder" 1 6 6 . b) Die Diskussionen im Hauptausschuß aa) Die rechtliche Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern Den Vorschlag des Grundsatzausschusses kritisierte die Abge. Nadig (SPD) als bloße Deklamation und damit als unbefriedigend 167 . Voraussetzung für eine Gleichstellung von ehelichem und nichtehelichem Kind sei die Festlegung der Verwandtschaft des nichtehelichen Vaters mit seinem Kind (entgegen § 1589 Abs. 2 BGB). Ihr Entwurf lautete deshalb: „Das uneheliche Kind steht dem ehelichen Kind gleich. Es gilt als mit seinem natürlichen Vater verwandt. Das Recht der gesetzlichen Vertretung ist bei der Mutter".

Da dieser Vorschlag im Widerspruch mit bestehenden Normen des bürgerlichen Rechts stünde, müßte dem Gesetzgeber eine Frist zur Änderung dieser Bestimmungen gegeben werden 1 6 8 . Dr. Süsterhenn (CDU) sah in dem Vorschlag des Grundsatzausschusses eine durchweg ausreichende Anspruchsgewährung des nichtehelichen Kindes auf gleiche Förderung wie das eheliche 169 . Der SPD-Vorschlag enthalte zudem eine Sprengung der familienrechtlichen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches. Die Neuordnung dieser Materie müsse dem einfachen Gesetzgeber überlassen bleiben und könne nicht durch eine Übergangsbestimmung qua Verfassung vorgenommen werden 170 . bb) Die rechtliche Gleichstellung der Halbfamilie bestehend aus Mutter und nichtehelichem Kind mit der Familie des Art. 6 Abs. 1 GG Als einziger wollte der Abg. Renner (KPD) in den Beratungen ausdrücklich nichteheliches Kind und Mutter vor rechtlicher und gesellschaftlicher Stigmatisierung schützen. Sein Vorschlag lautet deshalb: 165 Abg. Dr. Bergsträsser: Stenoprot, 29. Sitz., S. 48. 166 Abg. Dr. Bergsträsser: Stenoprot, 29. Sitz., S. 54 und W. Matz: Entstehungsgeschichte, S. 96 Fn. 34. 1 67 Abg. Nadig (SPD): Ha-Steno, 21. Sitz., S. 240. 168 Abg. Dr. Greve: Ha-Steno, 21. Sitz., S. 242. 169 Abg. Dr. Süsterhenn: Ha-Steno, 21. Sitz., S. 240. 170 Bezüglich weiterer konservativer Argumente gegen eine Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder sei auf die Darstellung der Argumente anläßlich der Fassung des Art. 6 Abs. 1 GG in den Ausschüssen verwiesen.

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

„Außereheliche Geburt darf weder der Mutter noch dem Kind zum Nachteil gereichen. Alle Gesetze und Bestimmungen, die bei außerehelicher Geburt die Mutter und das Kind benachteiligen, sind aufzuheben" 1 7 1 - 1 7 2 .

Bei der ersten Lesung setzte sich keiner der Vorschläge durch, die eine sofortige Änderung des Nichtehelichenrechts forderten, beziehungsweise dem Gesetzgeber hierfür eine dem Art. 117 GG vergleichbare Frist setzen wollten. Angenommen wurde dagegen mehrheitlich der Vorschlag von Dr. Seebohm (DP), der dem Art 121 WRV wörtlich entsprach 173 . Vor der zweiten Lesung hatte der Grundsatzausschuß auf Anregung des deutschen Sprachvereins Art. 121 WRV um die Worte „und ihren gesellschaftlichen Aufstieg" ergänzt 174 . Der „gesellschaftliche Aufstieg", der die dynamische Komponente des Art. 6 Abs. 5 betonen sollte, wurde im Hauptausschuß durch die Worte „und ihre Stellung in der Gesellschaft" ersetzt 175 . c) Die Anmerkung des Redaktionsausschusses Der Dreierausschuß hat keine Veränderungen bezüglich des damaligen Art. 7 a Abs. 3 GG vorgeschlagen. Er kommentierte ihn jedoch mit den Worten: „Art. 7 a Abs. 3 (Art. 6 Abs. 5) GG hat nur programmatische Bedeutung. Er stellt grundsätzlich nur Richtlinien für den Gesetzgeber auf und hat darüber hinaus nur den Charakter einer Auslegungsvorschrift für die rechtsanwendenden Instanzen. Damit wird der Grundsatz durchbrochen, in den Grundrechtsteil nur unmittelbar geltendes Recht aufzunehmen" 176 . 6. Ehe als Grundlage der Familie in den Beratungen zum Grundgesetz?

a) Beurteilung der Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 5 GG aa) Der Schutz des nichtehelichen Kindes und des ehelichen Kindes Das „sind zu schaffen" in Art. 6 Abs. 5 GG bedeutet eine Niederlage der Bestrebungen, die eine sofortige Gleichstellung des nichtehelichen Kindes verlangen. Auch der Verzicht, eine Fristsetzung wie ζ. B. in Art. 117 Abs. 1 GG, aufzunehmen, ist Indiz für ein Übergewicht konservativer Einstellun171

Abg. Renner: Ha-Steno, 21. Sitz., S. 242. Dieser Vorschlag hätte eine Übergangsbestimmung verlangt. 173 Abg. Dr. Seebohm (DP): Ha-Steno, 21. Sitz., S. 244 f. 174 Grundsatzausschuß: Stenoprot, 32. Sitz., S. 32, 50. 17 & Ha-Steno, 43. Sitz., S. 555. 176 Parlamentarischer Rat: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Formulierungen der Fachausschüsse, des allgemeinen Redaktionsausschusses, des Hauptausschusses und des Plenums, Bonn 1948/49, S. 87. 172

II. Die Entstehungsgeschichte des A r t . 6 GG

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gen. Deshalb blieb es dem BVerfG überlassen, Art. 6 Abs. 5 GG schon vor der Aktualisierung durch den einfachen Gesetzgeber unmittelbare Rechtswirkung beizumessen. Den Auftrag an den einfachen Gesetzgeber konnte das BVerfG jedoch erst nach fünf Legislaturperioden aktualisieren 177 . Das eheliche Kind ist dagegen im GG unmittelbar nicht geschützt. Sein Wohl w i r d im Rahmen der Ehe und Familie des Art. 6 Abs. 1 GG vermutet. bb) Der Schutz der nichtehelichen Mutter Die nichteheliche Mutter ist als Grundrechtsinhaberin in keinem der Absätze des Art. 6 GG ausdrücklich erwähnt. Lediglich Art. 6 Abs. 4 GG gewährt jeder Mutter - also auch der nicht verheirateten - für die Zeit ihrer Mutterschaft Anspruch auf staatliche Fürsorge. Motiv dieser Verfassungsbestimmung war die erhöhte Schutzbedürftigkeit einer schwangeren Frau. Ob Art. 6 Abs. 4 GG darüber hinaus auch einen verfassungsrechtlichen Schutz jeder Frau, die einmal Mutter geworden ist, bedeutet, hat das BVerfG bisher offen gelassen 178 . Bei den Beratungen ist die zeitliche Begrenzung (Schwangerschaft) der Anspruchsgewährung aus Art. 6 Abs. 4 GG jedenfalls nicht zur Sprache gekommen. Und dies wohl deshalb nicht, weil eine Beschränkung auf die Zeit der Schwangerschaft als selbstverständlich angesehen wurde. cc) Der Schutz der Halbfamilie bestehend aus Mutter und nichtehelichem Kind Eine dem Art 6 Abs. 5 GG vergleichbare Regelung für die nichteheliche Mutter gibt es nicht - ein dahingehender Vorschlag des Abg. Renner wurde vielmehr abgelehnt. Angesichts der mangelnden Verbindlichkeit des Auftrags in Art. 6 Abs. 5 GG, der ohne eine Art. 117 Abs. 1 GG entsprechende Übergangsbestimmung erlassen wurde, überzeugen die in der Literatur verwendeten historischen, subjektiven oder objektiven Auslegungsargumente bezüglich des Wegfalls der CDU-Formulierung „die Ehe als rechtmäßige Lebensgemeinschaft" nicht. Wieso bei lediglich programmatischer Bedeutung des Art. 6 Abs. 5 GG (lt. Anmerkung des Redaktionsausschusses) dieses Programm in Art. 6 Abs. 1 GG durch Subsumtion der Mutter-Kind-Familie unter „Familie" bereits erfüllt war, bedürfte der Erläuterung. Selbst wenn man den Auftrag des Art. 6 Abs. 5 GG als Verpflichtung zur Neuregelung des Nichtehelichenrechts begreift - welchen Sinn hat diese Verpflichtung, wenn sie bereits bei Erlaß 177

BVerfGE: 25 167 (180); 8 210 (217). 178 BVerfGE: 32, 273 (277).

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des GG durch den Schutz der Mutter-Kind-Halbfamilie als „Familie" erfüllt war 1 7 9 ? Einen Ansatz hierfür böte das Argument, daß eine Gleichstellung der Halbfamilie mit der vollständigen Familie nur ein Schritt bei der Erfüllung des Schutzauftrags des Art. 6 Abs. 5 GG ist, Art. 6 Abs. 5 GG also einen weitergehenden Auftrag enthalte. Der Grund hierfür könnte in der besonderen Schutzbedürftigkeit der Mutter-Kind-Familie im Vergleich zu ehelichen Familien bestehen. Hier ist dann von Bedeutung, ob verfassungsrechtlich auch die Restfamilie geschützt ist. - Falls dies zu bejahen ist und des weiteren Rest- und Halbfamilie wesensgemäß (Ausfall im Elterninventar) in vergleichbarer Weise schutzbedürftig sind, dann ist die Annahme mehrerer Familienformen in Art. 6 Abs. 1 GG begründet. Rest- und Halbfamilie auf der einen, die vollständige Familie auf der anderen Seite. Falls die Mutter-Kind-Familie mehr Schutz als ζ. B. die Mutter-Restfamilie infolge Scheidung verlangt - der nichteheliche Vater ist zum Unterhalt der Mutter nicht verpflichtet, während die geschiedene kinderbetreuende Mutter sowohl in der Gegenwart (Unterhalt) als auch im Alter (Versorgungsausgleich) „gesichert" 1 8 0 ist dann unterscheidet sich die Mutter-Kind-Familie in ihrer Schutzbedürftigkeit auch von der Restfamilie. Eine solch unterschiedliche Förderungsbedürftigkeit dreier angeblich in Art. 6 Abs. 1 GG geschützter Familienformen widerspricht den Beratungsergebnissen: - Zum hierbehandelten Problem der unterschiedlichen Förderungsbedürftigkeit und damit angesichts der Endlichkeit von Haushaltsmitteln verbundenen Minderförderung bestimmter Familienformen (der vollständigen Familie) wurde keine Stellung bezogen 181 . - Zum anderen ist generell das Bemühen zu erkennen bei Art 6 Abs. 1 GG nicht zwischen der reichen oder der armen, nicht zwischen der verheirateten und der ledigen Mutter zu unterscheiden. Auch bei Art 6 Abs. 1 GG wollte man (in Abkehr von Art. 119 Abs. 2 S. 2 WRV) nicht zwischen der kinderlosen und der Familie mit Kindern zu unterscheiden. Zudem wollten auch die Protagonisten der Mutter-Kind-Familie die Gleichstellung 179 Von der Halbfamilie bestehend aus Vater und Kind hatten die Verfassungsväter und -mütter allenfalls eine utopische Vorstellung. 180 Jedenfalls vom elterlichen Standpunkt unter Außerbetrachtlassung der Unterhaltspflichtverletzungen. 181 Es handelt sich hierbei um kein Scheinproblem : Mit der Einführung des Erziehungsgeldes, das auf Sozialleistungen nicht angerechnet wird, kommt ζ. B. eine alleinstehende Mutter auf monatlich 1600,00 D M netto im 1. Jahr nach der Geburt des Kindes (384,00 D M Regelsatz nach dem Bundessozialhilfegesetz für die Mutter, 173,00 D M für das Kind, 77,00 D M Zuschlag, Übernahme von Mietkosten in Höhe 400,00 D M und 600,00 D M Erziehungsgeld). Welche eheliche Familie über ein dieser Grundlage proportional angepaßtes Budget verfügt, ohne daß beide Ehepartner arbeiten und auf die eigene Betreuung des Kindes verzichten müssen, bleibt zu ermitteln.

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der Mutter-Kind-Familie und nicht die Besserstellung bzw. Andersbehandlung gegenüber der ehelichen Familie. Das „stehen in ihren Rechten gleich" war das Programm dieser Ansicht. Deshalb muß davon ausgegangen werden, daß mit Einordnung der Mutter-Kind-Beziehung in Art. 6 Abs. 5 GG sein Programm jedenfalls im Kontext der Beratungen erfüllt war. Eine historische Auslegung, die sich auf den Zeitpunkt der Beratungen bezieht 182 , kann deshalb als „Familie" in Art. 6 Abs. 1 GG weder aufgrund der subjektiven Äusserungen der an der Verfassungsgebung Beteiligten noch aus dem objektivierten Willen 1 8 3 des Verfassungsgebers die Mutter-Kind-Familie schützen. Überzeugen kann deshalb nur das Argument des Wandels der Norm: innerhalb der Grenze des Wortsinns müßte die Halbfamilie gesetzlich oder gesellschaftlich (dazu später) der ehelichen Familie gleichzustellen sein bzw. gleichgestellt werden. Dies vernachlässigen aber Auffassungen, die allein aufgrund eines angeblich fehlenden „absoluten Konkurrenzschutzes" der Institution Ehe gegenüber anderen Lebensformen die Halbfamilie oder die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als „Familie" definieren wollen 1 8 4 . Ein „besonderer" Schutz der Mutter-Kind-Familie könnte deshalb nur unter Zugrundelegung von Art. 6 Abs. 5 GG zu bejahen sein; wenn er nämlich den Auftrag an den einfachen Gesetzgeber enthält, die MutterKind-Familie genauso wie die eheliche Familie in Art. 6 Abs. 1 GG zu schützen. Wenn der Gesetzgeber die Mutter-Kind-Familie wie die eheliche Familie behandeln würde und deshalb auch die Mutter-Kind-Familie definitionsgemäß „Familie" im Sinne von Abs. 1 sein könnte, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht festzustellen. Es gibt zwei Arten von Familien im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG, und zwar die eheliche Familie, die auf einer in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit beruht und auf der anderen Seite die Mutter-Kind-Familie, die sich auf den kindeswohlbezogenen Art. 6 Abs. 5 GG gründet. Der Wunsch der nichtverheirateten Mutter nach einem Kind und nach Postexistenz wird also nur im Rahmen ihrer Menschenwürde und ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG) geschützt. Nur zugunsten des Kindes sieht Art. 6 Abs. 5 GG eine andere, wenn auch vielleicht weitergehnde Förderung des nichtehelichen Kindes in Art. 6 Abs. 1 GG vor. Eine Gleichstellung der Halbfamilie mit der ehelichen Familie aufgrund von Art. 3 Abs. 1 GG scheidet aufgrund der leges speciales Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 5 GG aus. 182 Reinhold Zippelius: Einführung in die juristische Methodenlehre, München, 1980, S. 22 ff. 183 Ebd., S. 18 ff. 184 I. v. Münch: Verfassungsrecht und nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 142 und S. 148; widersprüchlich insbesondere, S. 141: „. . . nichteheliche Lebensgemeinschaften sind nicht ein Tatbestand, der erst nach Verkündung des Grundgesetzes aufgetaucht i s t . . . " und S. 141 „nichteheliche Lebensgemeinschaft als neue Erfindung." Siehe auch: Ε. M. v. Münch: Art. 6 Rdn. 4 a.

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Anzumerken ist, daß bisher nur der Versuch der Legitimation der Halbfamilie bestehend aus Mutter und Kind in Art. 6 Abs. 1 GG auf dem Weg der historischen Auslegung behandelt wurde. dd) Der Schutz der Halbfamilie bestehend aus Vater und nichtehelichem Kind Diese Halbfamilie kann nicht aufgrund einer historischen Auslegung als „Familie" qualifiziert werden. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beratungen war der Vater mit seinem Kind nicht verwandt; dafür daß eine solche Familie nicht auf Verwandtschaft gegründet sein mußte, spricht in den Beratungen nichts. Die SPD forderte vehement eine verfassungsrechtliche Regelung dieser Verwandtschaft und verzichtete also nicht konkludent auf dieses grundsätzliche „Tatbestandsmerkmal" der Familie. ee) Der Schutz der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern Wer die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern in Art. 6 Abs. 1 GG als Familie geschützt sehen will, kann sich hierzu wohl nicht auf die Beratungen berufen. Denn abgesehen von Einzeläußerungen war dem damaligen Verfassungsgeber das Bild der heutigen nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern nicht vertraut. Der nichteheliche Vater als w i l l i ger oder unwilliger Zahlvater war wohl das Bild, das die Verfassungsgeber bei der WRV und beim GG vor Augen hatten. Hinzu kommt noch, daß man den Sinn einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft - auch mit Kindern sehr streng in der gewollten Rechtsfreiheit der Beziehung zweier mündiger Partner zueinander sah. Eine „Verrechtlichung" auch durch das Verfassungsrecht wurde im negativen wie im positiven Sinne als unmöglich bzw. unzulässig angesehen. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft wurde eben als der Freiraum vor dem Recht und damit auch vor dem Verfassungsrecht im Leben einer oder mehrerer Personen gesehen. Gegen einen Schutz der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern in Art. 6 Abs. 1 GG spricht ferner ein Argument, das bereits bei den Beratungen zur WRV zur Sprache kam. Die dann geforderte Unterscheidung zwischen der Mutter- und der VaterKind-Beziehung. Wenn hier grundsätzlich zwei Familien i m Sinne des Verfassungsrechts vorliegen sollen bzw. zwei Eltern-Kind-Beziehungen, dann begegnet die Zuteilung des Sorgerechts für das gemeinsame Kind allein an die Mutter in §§ 1705, 1711 BGB größten verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn auch nach der Rechtsprechung des BVerfG knüpft Art. 6 Abs. 1 GG an eine Ehe oder eine Familie an. Unterschiede zwischen begüterten, weniger begüterten, kinderarmen, kinderreichen Familien sind im Rahmen des Art.

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6 Abs. 1 GG nicht auffindbar. Dies entspricht auch dem im Rahmen dieser Arbeit entwickeltem Grundsatz der Familieneinheit. Wenn aber ζ. B. eine unterschiedliche Schutzbedürftigkeit einzelner Familienformen festzustellen ist, dann weicht das Gericht auf Art. 3 Abs. 1 GG aus. Art. 3 Abs. 2 GG (als lex specialis zu Art. 3 Abs. 1 GG) i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG müßte dazu führen, daß die Halbfamilie bestehend aus Vater und Kind genauso wie die Halbfamilie aus Mutter und Kind behandelt wird. An diesem Ergebnis ändert sich auch nichts, wenn man das mütterliche Übergewicht an Erziehungsverantwortimg und Erziehungsrecht im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 GG diskutiert (dazu unten). Mit dieser Frage wird das Problem aufgeworfen, inwieweit aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Einschätzung von „Rabenmutter" und „Rabenvater" in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein Übergewicht an Rechten der Mutter aufgrund ihrer erhöhten Schutzbedürftigkeit im Vergleich zum Vater zu bejahen ist. Schon bei den Beratungen zur WRV fürchtete vor allem die konservative Seite, daß die Zubilligung von erhöhten Pflichten an den Vater auch zu erhöhten Rechten am Kind führen würde. Diese Rechte und Pflichten greifen in den bisherigen Bereich der Mutterverantwortung und des Mutterrechts ein. Hier eine sachgerechte Lösung zu finden ist m. E. Vorbedingung für einen Schutz der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG. Das Problem ist in den bisherigen Stellungnahmen der Befürworter eines solchen Schutzes weder angesprochen, noch gelöst 185 . Ein Weg zu einer solchen Lösung ist die Klärung des Verhältnisses von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG. Steht nur der ehelichen Familie in ihrer Gesamtheit, oder auch der nichtehelichen Mutter bzw. dem nichtehelichen Vater ein nach Art. 6 Abs. 2 GG geschütztes Erziehungsrecht über das K i n d zu? Bejahendenfalls, inwieweit unterscheidet sich das Erziehungsrecht der ehelichen Eltern von dem des nicht verheirateten Vaters oder der Mutter? b) Das Elternrecht als natürliches Recht der ehelichen Familie? Fraglich ist, ob die Familie im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG durch das Innehaben von Erziehungsrechten nach Art. 6 Abs. 2 GG charakterisiert werden kann.

185 so stellt A. v. Campenhausen, der die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als eine Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG schützen will, lapidar fest, daß der nichteheliche Vater nicht die Stellung eines ehelichen habe und keine Elternrechte genieße: Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, S.22.

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aa) Die Stellungnahmen im Grundsatzausschuß: Die Simultan- oder die Konfessionsschule Der CDU-Vorschlag bezüglich des Erziehungsrechts lautete: „Pflege und Erziehung der eigenen Kinder ist das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Dieses Recht ist auch bei der Bestimmung des religiös-weltanschaulichen Charakters der Schule und durch Sicherung der Unterrichtsfreiheit zu wahren. Die Herausnahme von Kindern aus der Familiengemeinschaft gegen den Willen der Erziehungsberechtigten ist nur auf gesetzlicher Grundlage möglich, wenn durch ein Versagen der Erziehungsberechtigten die Gefahr der Verwahrlosung der Kinder gegeben i s t " 1 8 6 .

Kennzeichnend für die Beratungen über das Elternrecht war die Kontroverse über die Konfessions- bzw. die Simultanschule, und nur hieran entzündeten sich die Auseinandersetzungen über das Elternrecht. Die konservative Position wollte den Elternwillen bei der Wahl der Schule in der Verfassung verankern 187 . Der Staat dürfe nicht über das Recht der Eltern hinweg bestimmen, wie sie ihre Kinder erzögen bzw. erziehen ließen 188 . Das Elternrecht selbst wurde als eine Selbstverständlichkeit angesehen189. Aufschlußreich ist, daß das Elternrecht nur so lange als natürliches Recht angesehen wurde, als es sich nicht auf die Schulerziehung erstreckte 190 . Ein natürliches Recht der Eltern in Bezug auf die Schulerziehung gäbe es nicht. Begründet wird dies mit der Entstehung der staatlichen Schule im ausgehenden 18. Jahrhundert. Erst hier sei die traditionell kirchliche Aufgabe der Bildung durch die allgemeine Schulpflicht endgültig auf den Staat übergegangen. Bei dieser Bildung handle es sich traditionell um eine vom bloßen Erziehungsrecht der Eltern getrennte Bildungsaufgabe - ein Bestimmungsrecht der Eltern diesbezüglich sei deshalb gerade nicht natürlich. Eine vermittelnde Meinung 1 9 1 wollte das natürliche Elternrecht nur in Bezug auf die weltanschauliche Ausgestaltung der Schule gelten lassen, nicht aber bezüglich allgemeiner Schulfragen. Der spätere Art. 7 Abs. 2 GG liegt etwa auf der Linie dieses Vorschlages. Dennoch konnte Satz 2 des CDU-Vorschlages den Grundsatzausschuß nicht passieren. Konservativliberale und sozialdemokratische Kräfte einigten sich auf die Streichung. Der letzte Entwurf des Grundsatzausschusses lautete: „Pflege und Erziehung der Kinder ist das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. . , " 1 9 2 . Auffallend an diesen Diskussionen sind die 186 187 188 189 190 191

Abg. Dr. Süsterhenn: Stenoprot, 24. Sitz., S. 39 ff. Ebd. Abg. Heile (DP): Stenoprot, 29. Sitz., S. 25. Abg. Dr Heuß: Stenoprot, 29. Sitz., S. 9. Abg. Dr. Heuß: Stenoprot, 29. Sitz., S. 22. Abg. Dr. Weber: Stenoprot, 29. Sitz., S.36 f.

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Parallelen zur Beratung der WRV: 30 Jahre scheinen in den Fragen des Eltern- und Familienverfassungsrechts nicht lang genug, um nur irgendeine der damals vertretenen Positionen als überholt erscheinen zu lassen.

bb) Die Diskussionen im Hauptausschuß Der Hauptausschuß erörterte den Entwurf der CDU-Fraktion. Aufgrund des nationalsozialistischen Hintergrundes der jüngsten Vergangenheit wurde eine Regelung des Elternrechts für notwendig erachtet. Der Staat sollte sich der Kinder nicht mehr über die Köpfe der Eltern hinweg mit der Rechtfertigung des „Staatswohls" bemächtigen können. Das grundsätzlich überparteiliche Bekenntnis zum Elternrecht erfuhr auch in dieser Debatte in der Bekenntnis- oder Simultanschule seine Prüfung. Aufgrund des Satzes 2 des Entwurfes forderte die CDU-Fraktion ein Bestimmungsrecht der Eltern über den weltanschaulich-religiösen Charakter der Schule. Dies hätte zu Abstimmungen geführt, in denen die jeweilige Elternmajorität die Konfessions- oder Simultanschule durchgesetzt hätte. Da die staatlichen Mittel begrenzt waren, und ein Nebeneinander von Konfessions- und Simultanschulen nicht unbegrenzt finanzierbar war, hätte die Majorität der Eltern der Minorität der Eltern die weltanschauliche Erziehung ihrer Kinder vorgeschrieben. Dies ironisierte die SPD als Vergewaltigung eines vermeintlichen Naturrechts der Minderheitseltern durch die Mehrheit der Eltern 1 9 3 . cc) Die Stellungnahme des BVerfG Ausgangspunkt ist die Frage, wie „natürlich" das Elternrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 2 GG ist. Hängt es lediglich mit der Verwandtschaft zusammen, mit der Folge, daß sowohl der nichtehelichen Mutter als auch dem Vater, bzw. den ehelichen Eltern ein Erziehungsrecht über das gemeinsame Kind zugestanden wird, oder knüpft es an rechtliche Prämissen an. Hieran schließt sich die zweite Frage an: Kann die „Familie" des Art. 6 Abs. 1 GG durch die Übernahme von Erziehungsverantwortung charakterisiert werden oder ist diese der Eltern-Kind-Beziehung vorbehalten? Obwohl das BVerfG der nichtehelichen Mutter ein Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG zugesteht 194 führt es in einem Fall, in dem der Erziehungsberechtigten ein § 1666 BGB entsprechendes Verhalten vorzuwerfen war, 192 w . Matz: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JÖR, 1951 (1), S. 106 Fn. 11. 193 Abg. Dr. Menzel: HA-Steno, S. 561. m BVerfGE: 24 119 (135). 19 Schmid

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aus: „Eltern, die im Sinne des Grundgesetzes diesen Namen verdienen, weil sie bereit sind, die mit dem Elternrecht unmittelbar verbunden Pflichten auf sich zu nehmen, erhält das Kind erst durch die Adoption" 1 9 5 . Folgerichtig weist es auch die Frage, ob die Einwilligung der Eltern zur Adoption vom Vormundschaftgericht ersetzt werden kann als lex specialis nicht Art. 6 Abs. 1, sondern Art. 6 Abs. 2 GG 1 9 6 zu. Die Begründung führt aus, daß die Ersetzung der elterlichen Einwilligung zur Adoption den familienrechtlichen Status des Kindes nicht ändert 1 9 7 . Die familienrechtlichen Wirkungen der Adoption träten erst mit der späteren Bestätigung des Adoptionsantrages ein 1 9 8 . Unverständlich bleibt dann, wieso das Gericht, nachdem es Art. 6 Abs. 2 GG im vorliegenden Fall als lex specialis erklärt hat, in seiner Entscheidung auch die lex generalis des Art. 6 Abs. 1 GG als Verfassungsmaßstab verwendet 199 . Der Eindruck dieser „Unsicherheit" wird in einer zweiten Entscheidung bestärkt, in der es um die widerstreitenden Elterninteressen von geschiedenen Ehegatten ging. Das Kind lebte bei Stiefvater und Mutter, der auch das Sorgerecht zugesprochen worden war. Die Mutter tat alles, um das Umgangsrechts des geschiedenen Ehegatten mit dem Kind zu vereiteln. Entsprechend einer gefestigten Rechtsprechung, die auch die Familie bestehend aus Stiefvater, Mutter und Kind als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG begreift, war hier die unterschiedliche Einschlägigkeit der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG zu prüfen. In die Rechte des Stiefvaters und der Mutter aus Art. 6 Abs. 1 GG war nach Ansicht des BverfG durch die Umgangsberechtigung des Vaters nicht rechtlich, sondern lediglich faktisch eingegriffen worden. Die Umgangsberechtigung sei die Nachwirkung der durch die Scheidung aufgelösten Familiengemeinschaft, nämlich der fortbestehenden Zugehörigkeit des Kindes zu beiden Eltern 2 0 0 . Sobald diese Zugehörigkeit des Kindes zu seinen Eltern in Frage steht, sei Art. 6 Abs. 2 GG die Spezialbestimmung gegenüber der Generalnorm des Art. 6 Abs. 1 GG 2 0 1 . In diesem Fall wird also neben eine Familienbeziehung eine personenunterschiedliche Eltern-Kindbeziehung gestellt. Diese Eltern-Kindbeziehung ist von der Innehabung des Sorgerechts unabhängig 202 . Läßt man im oben angesprochenen Fall zwei Jahrzehnte passieren und beurteilt die verfassungsrechtliche Beziehung des Kindes zu Stiefvater, 195 BVerfGE: 24 119 (150). 196 BVerfGE: 24 119 (136). 197 Zum Zeitpunkt der Entscheidung galt noch nicht der Grundsatz der Volladoption des § 1755 BGB. 198 BVerfGE: 24 119 (136). 199 BVerfGE: 24 119 (149 f). 200 BVerfGE: 31 194 (204). 20! Ebd. 202 BVerfGE: 31 194 (207), wo ein Recht aus Art. 6 Abs. 2 GG auch für die Eltern, denen das Sorgerecht entzogen worden ist, unter Hinweis auf BVerfGE 24 119 (144, 150 ff) zugesprochen wird und BVerfGE 61 358 (374) zur gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts von geschiedenen Eltern.

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Mutter und Vater, so ist festzustellen: Wenn, wie das BVerfG dies ausgesprochen hat, die Familiengemeinschaft mit dem Vater durch die Scheidung der Eltern beendet ist 2 0 3 , dann stehen die Beziehungen zwischen Vater und „ K i n d " weder unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG, noch - mangels Erziehungsbedürftigkeit - unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 2 GG. Dennoch ist der Sohn evtl. seinem Vater nach § 1601 BGB Unterhalt schuldig. Neben diesen einfachgesetzlichen Rechtsbeziehungen steht allein die Beziehung zwischen Stiefvater und Stiefsohn unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG. Der Stiefvater war dem Kind nicht zum Unterhalt verpflichtet, er ist ihm gegenüber auch zur Stellung von Unterhaltsansprüchen nicht berechtigt. Das Kind ist seinem Stiefvater auch nicht zu Beistand und Rücksicht im Alter verpflichtet, denn § 1618 a BGB knüpft an die Eltern-Kindbeziehung an. Die Familie zwischen Stiefvater und Kind kann also als atypisch bezeichnet werden, da ihr ein gesetzlich formalisiertes Solidaritätsprinzip nicht zugrunde liegt, wie dies ζ. B. in wechselseitigen Unterhaltsverpflichtungen zum Ausdruck kommt. Umgekehrt ist die Beziehung, in der dieses Solidaritätsprinzip zumindest einfachgesetzlich zum Ausdruck kommt, nicht als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Dieses Beispiel zeigt m. E., daß eine losgelöste Betrachtung von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht vorgesehen und auch nicht praktikabel ist. Festzustellen ist vielmehr, daß, wenn man Art. 6 Abs. 2 GG als Spezialbestimmung im Verhältnis zu Art. 6 Abs. 1 GG ansehen will, man allein vom „Normalfall" ausgehen kann. Dieser liegt vor, wenn zwei miteinander verheiratete Elternteile ihr gemeinsames Kind gemeinsam betreuen und erziehen 204 . In diesem Fall ist es überzeugend, wenn man das allgemeine Solidaritäts- und Gemeinschaftsprinzip der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sieht. Dort, wo es um die Erziehungsverantwortung geht, räumt Art. 6 Abs. 2 GG den Eltern ein besonderes Recht, umgekehrt aber auch dem Staat eine besondere Pflichtenstellung im Vergleich zu Art. 6 Abs. 1 GG ein. Art. 6 Abs. 1 GG kennt ein Wächteramt des Staates gerade nicht. Dieses Verhältnis w i r d auch der grundsätzlich gleichrangigen Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG als Grundrechte und Institutsgarantie gerecht. Nicht überzeugend erscheint der Umkehrschluß: Weil in Art. 6 Abs. 2 GG die Erziehungsverantwortung zweier (auch geschiedener) Ehegatten und Eltern geregelt ist, deshalb sei die Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG nicht durch ein Mindestmaß an solcher Erziehungsverantwortung gekennzeichnet ist. Die Spezialität im Verhältnis von Art. 6 Abs. 2 zu Art. 6 Abs. 1 GG ist allein im besonderen Rechte- und Pflichtenstatus von Eltern und Staat zu sehen. Gemeinsam gehen die Generalnorm Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 GG davon aus, daß Erziehungstätigkeit durch die Eltern in der Fami203 BVerfGE: 31 194 (204). 204 so auch BVerfGE: 24 119 (135), 61 358 (372). 19·

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H. Die Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie

lie geleistet wird. Dementsprechend sind auch die Beratungen zu Art. 6 Abs. 2 GG zu interpretieren. c) Fazit Bei den Beratungen machte man sich weder Gedanken darüber, ob erweiterte Familienformen geschützt sein, noch zu welcher Familie ein Kind gehört, dessen Eltern geschieden sind und bei dem evtl. beide Eltern neue Ehepartner gefunden haben 205 . Man ging wie selbstverständlich davon aus, daß „Familie" auch Erziehung von Kindern bedeutet und daß dem Einflußbereich des Staates lediglich dieser Bereich wegen der Gefahr für das Kindeswohl eröffnet sei. Das übrige Ehe- und Familienleben steht staatlicher Intervention nur soweit offen (durch Gesetzgebungs- oder Rechtsprechungsakte), als es die Grundzüge der Institution selbst fordern oder bestimmen. Eine Offenheit des Familienbegriffs gegenüber der Halbfamilie bestehend aus Mutter und Kind kann nur bei einzelnen Beratungsteilnehmern festgestellt werden. Eine Offenheit des Familienbegriffs gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern, bzw. der Vaterfamilie kann überhaupt nicht festgestellt werden. Obwohl dies versucht wurde, ließ es sich weder in dieser Arbeit noch bei den Beratungen zur WRV oder zum GG vermeiden, bisweilen auf den Begriff der Institution „Familie" Bezug zu nehmen. Der Grund liegt wahrscheinlich darin, daß wir alle bestimmte Vorstellungen von der Familie haben, die man unwillkürlich unter dem Oberbegriff der Institution „Familie" zusammenfaßt. Auch bei der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG, der eine mehrfache Schutzrichtung hat, spielt der Begriff der Institution eine Rolle. Art. 6 Abs. 1 GG enthält nämlich auch eine Garantie des Instituts oder der Institution „Familie". Diese Instituts- oder institutionelle Garantie soll Thema des folgenden Abschnitts sein.

205 Dies würde das o.a. Beispiel noch komplizieren, da das Kind auch zur Familie vom umgangsberechtigten Vater und Stiefmutter gerechnet werden könnte. Eine dementsprechende. Differenzierung, ob nämlich der Stiefelternteil mit einem sorgeberechtigten Eltern teil zusammenlebt oder nicht, hat das BVerfG bisher nicht getroffen.

I. Die Garantie der Institution Familie Nach allgemeiner Meinung enthält Art. 6 Abs. 1 GG eine Instituts- oder institutionelle Garantie der Familie. Dieser Begriff zerfällt in zwei Bestandteile, nämlich in die „Garantie" und in das „Institut" oder in die „Institution Familie". Die Feststellung, daß ein Verfassungsartikel eine Institution schützt, ist das Ergebnis einer Rechtstheorie, die in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts zur WRV entwickelt wurde. Heute faßt man diese Theorie unter dem Namen der „Lehre von den Einrichtungsgarantien" zusammen. Zu welchem Zweck sie entwickelt wurde, wo sie begrifflich verankert ist, ob sie unter Geltung des GG noch Bedeutung hat und ob sie vielleicht die Brücke zum oben dargestellten System der Familie schlägt, wird der Gegenstand des folgenden Abschnittes sein. Hierzu bedarf es der Feststellung des Begriffs, der Wirkungsweise und der Berechtigung der Lehre von den Einrichtungsgarantien unter Geltung des Grundgesetzes. I. Die Begriffsgeschichte der Instituts-, institutionellen und Einrichtungsgarantien 1. Die Anfänge

Soweit ersichtlich, wurde der Begriff „Institutsgarantie" in der deutschen Rechtswissenschaft erstmals von M. Wolff 1 in Verbindimg mit Art. 153 Abs. 1 WRV verwendet. In der 1923 erschienen Festgabe für W. Kahl sprach er von der „. . . Garantie des Eigentums als Rechtsinstitut. . ." 2 . Weitere Hinweise bezüglich der Rechtsnatur bzw. auf die (Rechts-)Quelle dieses Instituts gab M. Wolff indes nicht. Dieser Erwähnung der Institutsgarantie folgte eine weitgehende Begriffsverwirrung in der juristischen Literatur. C. Schmitt, von manchen als „Erfinder" der institutionellen Garantien gerühmt 3 , schrieb ursprünglich 4 nur von „institutionellen Garantien" wie ζ. B. der „Ehe als Grundlage des 1 Martin Wolff: Reichs Verfassung und Eigentum, Beitrag IV in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl, Tübingen, 1923, S. 3 (6) und Carl Schmitt: „Verfassungsrechtliche Aufsätze", S. 160. 2 Ebd., S. 6. 3 D. Schwab: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie, S. 89, Fn. 12 verweist auf G. Anschütz. 4 C. Schmitt: Verfassungslehre, S. 171.

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Familienlebens in Art. 119 WRV" 5 und verwandte den Begriff der „institutionellen" Garantie synonym mit der „Institutsgarantie" im Sinne M. Wolffs. 2. Die Unterscheidung privater und öffentlich-rechtlicher Einrichtungen

Erst in einem 1931 erschienen Beitrag unterscheidet C. Schmitt zwischen „ö//entZzc/i-rechtlichen Gewährleistungen institutioneller Art (ζ. B. das Berufsbeamtentum) und priva t-rechtlichen Institutsgarantien" 6 . Diese Unterscheidung wurde von F. Klein, der sich als erster monographisch mit der Auffassung C.Schmitts befaßte, durch den Vorschlag der Einführung eines Oberbegriffs für beide Garantien 7 - der „Einrichtungsgarantie" - bekräftigt. Die Begriffsverwirrung hielt bis heute an. 3. Die weitere Entwicklung

Die sachliche Berechtigung der Einrichtungsgarantien und der Unterscheidung beider Garantiearten ist von Anfang an in Frage gestellt worden. Dies geschieht aus mehreren Gesichtspunkten heraus: - Das Berufsbeamtentum und die gemeindliche Selbstverwaltung einer Gebietskörperschaft einerseits, des Eigentum und der Familie andererseits wurden nahezu allgemein als Gegenstände der Einrichtungsgarantien vereinnahmt. Die Institute von Ehe und Familie wurden dabei dem Privatrecht zugeordnet. Eine solche Verschiedenheit der einzelnen Institutionen spräche aber gegen eine Zusammenfassung unter einem gemeinsamen Oberbegriff der Einrichtungsgarantie. - Eindeutig ist die materiell privatrechtliche Zuordnung des Familienrechts dabei selbst innerhalb des BGB nicht. Sowohl die prozessuale als auch die materielle Regelung des Ehe- und Familienrechts birgt eine Fülle von Besonderheiten im Verhältnis zu den von der Privatautonomie geprägten sonstigen Rechtsvorschriften des BGB und der ZPO in sich. Der Dispositionsgrundsatz gilt in Familiensachen nicht; so gibt es z. B. beim Ehelichkeitsprozeß ein sonst im BGB nicht auffindbares Statusverfahren (§ 1600 a BGB). Die Abgrenzungskriterien von privatem zu öffentlichem Recht sind im einzelnen strittig. Nimmt man jedoch Argumente aus der Interessentheo5

Ebd., S. 171. C. Schmitt: Freiheitsrechte und institutionelle Garantie der Reichs Verfassung, S. 140 (143). 7 Siehe zur Terminologie: F. Klein: Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 93 ff (107). 6

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rie, der Subordinations- bzw. Sonderrechtstheorie zu Hilfe, so läßt sich auch eine partielle Zuordnung des Familienrechts zum öffentlichen Recht begründen. Jedenfalls in Bezug auf diejenigen Vorschriften des Familienrechts, die Beginn, Ende und Fehlverhalten innerhalb der Familie zum Gegenstand haben, könnte man das öffentliche Interesse, die Innehabung von Herrschaftsgewalt (z. B. Entscheidungen des Vormundschaftsgerichts nach § 1666 BGB) und den Bezug auf den Staat für die Annahme der materiell öffentlich-rechtlichen Natur des Familienrechts sprechen lassen8. Formal steht eine Vielzahl dieser Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch. - Als überzeugendes Unterscheidungsargument zwischen privatrechtlicher Institutsgarantie und öffentlichrechtlicher, institutioneller Garantie stellt man deshalb auf die Art der Verbindung der Einrichtungsgarantie mit dem Grundrecht ab 9 . Besteht die Einrichtungsgarantie zum Schutz eines subjektiven Rechtes - also eines Grundrechts des einzelnen aus Art. 6 Abs. 1 GG - dann handelt es sich um eine Institutsgarantie. Ist das Verhältnis Einrichtungsgarantie - Grundrecht umgekehrt zu bestimmen, d. h. das subjektiv-öffentliche Recht wird nur deshalb gewährt, um der Einrichtungsgarantie einen „Kläger" zu verschaffen, dann handelt es sich um eine institutionelle Garantie. Hinter dieser Einordnung steht die Erfahrung, daß eine lediglich objektiv-rechtliche Garantie weniger Aussicht auf tatsächliche Durchsetzbarkeit hat. Erst wenn der einzelne ein einklagbares Recht erhält, kann er durch seine Aktivität auch die Einhaltung objektiv-rechtlicher Regelungsgehalte fördern bzw. erzwingen. Bei Art. 6 Abs. 1 GG, in dem das BVerfG im Gegensatz zu seiner Vorläuferregelung in Art. 119 WRV die Gewährung auch eines Einzelgrundrechts sieht, ist dieses Verhältnis des Grundrechts zur gleichzeitig gewährleisteten Einrichtungsgarantie nicht geklärt. Als Gesichtspunkt für eine Auslegung des Art. 6 GG wird die Zuordnung der Garantie entweder zum Freiheitsbereich des einzelnen („Intimbereich") 1 0 und damit zur Institutsgarantie- oder/auch zum Staatsaufbau („Keimzelle") und damit zu den institutionellen Garantien 11 bisher aus8 Es ist auch nicht verwunderlich, daß für die Ehegewährleistung der WRV ob dieser festgestellten gesetzlichen Rahmenordnung eine Qualifizierung als institutionelle Garantie gefordert wurde. E.-R. Huber: Bedeutungswandel der Grundrechte, AÖR Bd 23 (1933), S. 1 (50). 9 Th. Maunz in Maunz-Dürig: Art. 1 GG Rdn. 97 ff. 10 Als Ausdruck des Individualrechts des einzelnen wird der Wunsch einer Eheschließung unter Verwandten zitiert, O. Katholnigg: Der Einfluß des Art. 6 Abs. 1 GG auf die Eheverbote wegen Schwägerschaft, Geschlechtsgemeinschaft und Ehebruchs, FamRZ 1964, S. 123.

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drücklich nicht verwendet. In jüngerer Zeit findet man die Unterscheidung beider Garantiearten allenfalls als Unterton in der Diskussion. Es ist wohl kein Zufall, daß eine Meinung, die das Subsidiaritätsprinzip bzw. einen Funktionsvorbehalt der Familie im Verhältnis zum Staat betont 12 , von der „institutionellen Garantie" des Art. 6 GG spricht 13 . Eine Subsidiarität staatlichen Handelns gibt es im Verfassungsrecht des GG eigentlich nur gegenüber öffentlichrechtlichen Institutionen, wie ζ. B. der gemeindlichen Selbstverwaltung. - Die Unterscheidung privatrechtlicher und öffentlichrechtlicher Einrichtungen wird angesichts der öffentlichrechtlichen Verbürgung beider in der Verfassung als nicht überzeugend angesehen. Durch die bewußte Entscheidung des Verfassungsgebers, auch das Privatrechtsinstitut in die Grundlagen seines öffentlichrechtlich konstruierten Staats- und Wertesystems aufzunehmen 14 , macht er es zur öffentlichrechtlichen Einrichtung. An dieser Argumentation ist bedenklich, daß die Verbindung von Grundrecht und Einrichtungsgarantie nicht mehr geprüft werden kann. Die zwei unterschiedlichen Zuordnungsmodi, also das Grundrecht und die zugehörige Einrichtungsgarantie oder die Einrichtungsgarantie und das zugehörige Grundrecht können hier nicht mehr in einer, dem Freiheitscharakter des Grundrechts Rechnung tragenden Auslegung, unterschieden werden. Auch ist dieses Argument, das zur Unterscheidimg von öffentlichem und privatem Recht parallel bei der sog. Interessentheorie herangezogen wird unserem Staatverständnis nicht mehr angemessen. In einem Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) zeigen nicht nur finanzielle Leistungen staatliches Interesse am einzelnen, sondern auch die Gewährung subjektiver Rechte. Zwar haben sich die Individuen Freiheiten vom Staat erkämpft; daß der Staat diese Freiheiten gewährt, liegt aber in seinem unmittelbaren Kontinuitätsinteresse. Würde der Staat diese Rechte nicht respektieren, dann wäre ein solches Verfassungssystem ständig von revolutionärem und stillem Verfassungswandel bedroht. So gesehen würde jede staatliche Handlung, die ein entsprechendes staatliches Interesse bekundet, den Sachbereich auf den sie sich bezieht, zu öffentlichem Recht machen. Dies würde auch für die gesamten Rege11 Siehe hierzu das institutionelle Konzept von W. Siebel (Hrsg.): Herrschaft und Liebe, S. 23: „Institutionen können danach als gesellschaftliche Einrichtungen mit Öffentlichkeitscharakter verstanden werden, die über zentrale koordinierende und stabilisierende Normenkomplexe verfügen, im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Herrschaft Legitimität verleihen und zugleich aus der Tradition gegründet die Moralität steuern und Sinnvermittlung zu leisten vermögen." K r i t i k bei H. Tyrell: Herrschaft und Liebe, FamRZ 1985, S. 884. 12 D. Pirson: Bonner Kommentar, Art. 6 GG Anm. 85 - 88. 13 D. Pirson in: „Essener Gespräche", S. 45. 14 W. Leisner: Grundrechte und Privatrecht, München, 1960, S. 93, Fn 110.

I. Die Begriffsgeschichte

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lungen des BGB gelten, da hier der Staat sein Interesse an einem funktionierenden, privaten Wirtschaftsverkehr durch die Aufstellung einer gesetzlichen Rahmenordnung, wie ζ. B. im allgemeinen und besonderen Schuldrecht geschehen, nachweist. Mit dieser „Veröffentlichrechtlichung" unseres Rechtsdenken wird in letzter Konsequenz der Bürger nur noch fremdbestimmter Träger der Staatsidee, individuelle Freiheit nicht mehr Ursprung, sondern Mittel eines Staates. Eine solche Funktionalisierung des einzelnen zugunsten objektiver Sachund Rechtszwänge sollte aber dem vergangenen „Tausendjährigen Reich" vorbehalten bleiben. 4. Der Grund für die Entwicklung der Lehre von den Einrichtungsgarantien

Die Eigentumsgarantie war wohl nicht nur zufälliger Anlaß für die Entwicklung der Lehre von den Einrichtungsgarantien 15 . Art. 153 Abs 1 S. 2 WRV bestimmte: „Sein (des Eigentums) Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus dem Gesetz."

Der einfache Gesetzgeber konnte also bei wortgetreuer Auslegung beliebig über den Inhalt des verfassungsrechtlichen Eigentums disponieren und so die Existenz einer Freiheitsgarantie pervertieren. Bei solcher Rechtslage ist eine verfassungsrechtliche „Garantie" nur noch ein Sammelbegriff für eine Summe einfachgesetzlicher Vorschriften - und damit wirkungslos und entbehrlich: Wenn man dem Gesetzgeber die Bestimmungsgewalt bezüglich des Inhalts einer verfassungsrechtlichen Garantie schrankenlos überläßt, dann ist eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des einfachen Gesetzes anhand der betreffenden Garantie ein Zirkelschluß. Die verfassungsrechtliche „Maßnahme" am eigenen Spiegelbild funktioniert nicht 1 6 . Um die verfassungsrechtliche Garantie vor einer solchen inhaltlichen Aushölung zu bewahren, wurde der Begriff der „Rechtsinstitutsgarantie" geprägt. Das, was das Institut „Eigentum" ausmacht, sollte also die inhaltliche Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers begrenzen. Das „Garantiedenken" setzt damit die Kenntnis von inhaltlichen Merkmalen des „Instituts" voraus. Bei der Verwendung der Bezeichnung „Institut" ging die juristische Literatur auch von der Existenz gewisser Institutionen aus 1 7 · 1 8 . 15 Die Eigentumswertgewährleistung als Schranke des ius egregius des Landesherrn findet ihre Tradition bereits in §§ 74, 75 Einl. ALR. 16 F. Baur: Die „Naßauskiesung" - oder wohin treibt der Eigentumsschutz, NJW 1982, S. 3734 ff. 17 Nachweise bei F. Klein: Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 106, Fn25. 18 Ob dies im Einzelfall, wie ζ. B. beim Eigentum nur ein Kunstgriff war, um eine dogmatische Barriere gegenüber dem omnipotenten Gesetzgeber zu errichten, oder ob

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Auch unter Geltung des Grundgesetzes bestand diese Problematik, die Suche nach dem Rechtsinstitut „Eigentum" weiter 1 9 . Im sog. Naßauskiesungsfall hat das BVerfG eine Lösung entworfen. Es ging um die Frage, wieweit der einfache Gesetzgeber den Inhalt des verfassungsrechtlichen Eigentums in zulässiger Weise bestimmen kann (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG). Gehört die Grundwassernutzung zum verfassungsrechtlich geschützten (Boden-)Eigentum. Der einfachgesetzliche Hintergrund bestand aus den §§ 7, 8 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5, 6 Abs. 2 WHG, die für die Grundwassernutzung einen Gestattungsakt, auf dessen Gewährung kein Anspruch besteht, verlangen. Dieser Gestattungsakt war im konkreten Fall den Antragstellern versagt worden. Das BVerfG lehnte anläßlich der Frage, ob der einfache Gesetzgeber seine inhaltliche Regelungsbefugnis (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) überschritten habe, eine „Bündeltheorie" 20 , die das verfassungsrechtliche Eigentum als Summe einfachgesetzlicher Normen begreift, ab: „Die dem Gesetzgeber bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung gezogenen Grenzen ergeben sich unmittelbar aus der Instituts- und Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Werden diese Grenzen eingehalten, kann kein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 GG vorliegen" 21. Hierin wird die Funktion einer Institutsgarantie auch unter Geltung des GG deutlich. Sie legt eine inhaltliche und nicht nur formale Eingriffsgrenze für den einfachen Gesetzgeber fest. Dies ist vor allem für Grundrechte wie Art. 6 Abs. 1 GG von entscheidender Bedeutung 22 . Die Einrichtungsgarantie begründet nämlich erst das Verfassungsrechtsgut „Familie". Diese Feststellung trifft sowohl unter Geltung des Grundgesetzes als auch der Weimarer Verfassung zu 2 3 . Der Zusammeneine Anknüpfung an bestehende Lebens- und Rechtsformen möglich war, wird Gegenstand des folgenden Abschnitts sein. 19 BVerfG: NJW 1982, S. 745 ff. 20 H. Rittstieg: Grundgesetz und Eigentum, NJW 1982, S. 721 (723). 21 BVerfG: NJW 1982, S. 745 (752); so auch W. Leisner: Eigentumswende?, DVB1 1983, S. 61 (64). 22 Der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG gilt nämlich nur für Grundrechte, die unter einem Gesetzesvorbehalt oder einer Inhalts- bzw. Schrankenbestimmung durch den Gesetzgeber unterliegen. Die lediglich „wesensimmanent" begrenzten Grundrechte auf Ehe und Familie schützt Art. 19 Abs. 2 GG nicht, diese Funktion muß deshalb von der Einrichtungsgarantie wahrgenommen werden. Zur weiteren Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien auch nach Einführung des GG: E. Schmidt-Jortzig: Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, S. 59 ff. 23 Unter Geltung der WRV bewirkte die Einordnung als Einrichtungsgarantie, daß Art. 119 WRV, dem einhellig die Grundrechtsqualität abgesprochen wurde, objektive Bindungskraft für staatliches Handeln zuerkannt wurde - im Gegensatz zur Deklaration als Zukunftsrecht, das heißt der Qualifizierung als Programmsatz. Auch bei Art. 6 Abs. 1 GG war anfangs die unmittelbare Rechtsgeltung vor allem in Bezug auf die Formulierung „stehen unter dem besonderen Schutz „ umstritten. An der Bindung staatlichen Rechts an die Einrichtung Familie wurde indes nicht gezweifelt.

I. Die Begriffsgeschichte

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hang von vielleicht auch außerrechtlicher Einrichtung und verfassungsrechtlicher Verbürgung hat zur Folge, daß die Ergebnisse der Lehre von den Einrichtungsgarantien in zwei Gliederungspunkte, nämlich die „Institution" und die „Garantie" unterteilt werden können. Je mehr Erkenntnisse über die Institution von Ehe und Familie vorliegen, desto detaillierter und faßbarer ist der Wirkungsbereich der Garantie. Je weniger inhaltliche Maßgaben der Begriff der Institution enthält, desto vielschichtiger sind die in Art. 6 GG geschützten Lebensformen und desto weniger Schutz vermag auf die einzelne Lebensform zu entfallen. Deshalb gilt: Stellt man sich auf den Standpunkt, wenig über die geschützte Einrichtung zu wissen, dann eröffnet dies mehrere Alternativen. - Man weitet den sachlichen Schutzbereich der Einrichtung aus, indem eine Fülle von Lebensformen unter die geschützte Einrichtungsgarantie fallen. Man nimmt hierbei in Kauf, daß durch die Quantität der geschützten Lebensformen vielleicht eine Minderung der Qualität des Schutzes einhergeht. Man könnte aus dem vielschichtigen Familienbild, das sich aus der etymologischen und der historischen Auslegung, sowie der Geschichte der Familie als Sozialbild ergibt, schließen, daß Familie jedenfalls eine Gemeinschaft von Personen, die die soziale Elternrolle wahrnehmen und Kindern ist. Einschließlich der Alternativfamilie wären dann alle am Anfang dieser Arbeit angesprochenen Lebensformen in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. - Man macht die mangelhafte Erkenntnis des Wesens der Einrichtung zum Prinzip, indem man auch einem Verfassungsgeber lediglich das Aufgreifen und die Bezugnahme auf weitgehend außerrechtliche Sachverhalte zugesteht. Das gelebte Alltagsverhalten und die unmittelbare oder mittelbare Akzeptanz einer Einrichtung durch Bürger oder andere Personen hat dann weitgehenden Einfluß auf die Gestalt der Einrichtung, die in der Verfassung geschützt wird. Eine hieran anschließende Frage ist, inwieweit der Verfassungsgeber ein solches, zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung bestehendes Einrichtungsbild, festschreiben wollte oder inwieweit er sich rechtlicher Gestaltung des Lebensbildes enthalten wollte. Dieser Weg hätte eine große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Verfassungsguts Familie an gelebtes Alltagsverhalten zum Ziel. - Eine weitere Alternative besteht darin, vermeintlich feststehende Ordnungsvorstellungen in die Verfassung hinein zu projizieren, um sie dann im Wege der Verfassungsauslegung als vermeintlich gesicherte Auslegungsergebnisse der Verfassung wieder zu entnehmen. Bereits an dieser Stelle kann gesagt werden, daß dieser „Weg" bei der Ehe und Familie bereits beschritten wurde. Der Grund hierfür liegt im Zweck der Lehre von den Einrichtungsgarantien, nämlich eine Barriere zwischen Gesetzgeber, öffentlicher Gewalt, der einzelnen Lebensform und dem einzelnen

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

zu schaffen. Bei der Ermittlung des inhaltlichen Gehalts der „Einrichtung" mußte auch diese Lehre auf grundlegende Probleme treffen, wie die facettenreiche Geschichte des Familienbegriffs und der Familie es zeigen. II. Der inhaltliche Gehalt der „Einrichtung" Der Aufbau einer Barriere gegenüber dem einfachen Gesetzgeber durch den dogmatischen Begriff der Einrichtungsgarantie wäre mißglückt, wenn diese Barriere keine inhaltlichen Maßgaben, keinen Gehalt, aufweisen könnte. Diesen versuchte man nach den Regeln der Auslegung, insbesondere aus dem Wortlaut der selbst geschaffenen Kunstbegriffe der institutionellen-, Instituts- und Einrichtungsgarantie zu ermitteln. 1. Institut, institutio bzw. Institution und Einrichtung

Etymologische Untersuchungen führten bei der Unterscheidung von Institut, institutio, bzw. Institution, bzw. der Einrichtung als Oberbegriff zu keinem Ergebnis. Es konnte lediglich festgestellt werden, daß sowohl „Institut" als auch „Institution" in der Bedeutung „Einrichtung" vorkommen. Hierbei wird das Wort „Institut" vorwiegend konkret (Anstaltsgebäude), der Ausdruck „Institution" hingegen vorwiegend abstrakt (ζ. B. Staatseinrichtung) gebraucht 2 4 . Etymologisch läßt sich jedenfalls sowohl begründen, daß durch Einrichtungsgarantien konkrete materielle Basiseinrichtungen, wie ζ. B. Universitätsgebäude oder Wohnungen (Art. 13 GG) garantiert werden sollen, wie auch „abstrakte" Ideengebäude, wie ζ. B. die Kunst in Art. 5 Abs. 3 GG 2 5 . Der Begriff der Einrichtungs-, institutionellen und Institutsgarantien gibt also keinen Aufschluß darüber, welche gemeinsamen Tatbestandsmerkmale diesen Einrichtungen zugrunde liegen; welche Tatbestandsmerkmale erfüllt sein müssen, damit man vom Vorliegen des Schutzbereiches einer Einrichtungsgarantie sprechen kann. Da der Wortlaut also nicht unmittelbar weiterhalf, bedurfte es eines wertenden Unterscheidungskriteriums. 2. Die Unterscheidung von Einrichtungen öffentlich- und privatrechtlichen Charakters

Ein Unterscheidungskriterium, das zu einer erhöhten Konkretisierung des Aussagegehaltes der Lehre von Einrichtungsgarantien führen könnte, wäre 24

F. Klein: Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 96 f, Fn 16. 25 Ebd., S. 141 ff.

II. Der inhaltliche Gehalt der „ E i n r i c h t u n g "

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eine Unterscheidung und Zuordnung der Einrichtungen zum öffentlichen oder privaten Recht. Würde man diese Zuordnung technisch vornehmen, dann ergäben sich die oben bereits angesprochenen Probleme, ob nicht aufgrund der Interessentheorie der Staat auch durch den Schutz privater Einrichtungen diese zu öffentlichen Instituten macht. Auf der anderen Seite kann man wohl nicht bestreiten, daß Beamtentum und gemeindliche Selbstverwaltung Lebensbereiche des Individuums von anderer Qualität darstellen, als Ehe und Familie 2 6 . Dieser gedankliche Schritt, nämlich die Zuordnung einer Einrichtung zum öffentlichen oder privaten Recht wurde vom damals profilierten Vertreter der Lehre von den Einrichtungsgarantien, C. Schmitt, vorausgesetzt und weiter konkretisiert. Charakters a) Die Einrichtung öffentlichrechtlichen und der privatrechtliche Normenkomplex C. Schmitt definierte die institutionelle Garantie als éine „formierte und organisierte und daher umgrenzbare und unterscheidbare Einrichtung öffentlich-rechtlichen Charakters " 2 7 . Institutsgarantien sind demgegenüber verfassungsrechtliche Gewährleistungen von „Rechtsinstituten im Sinne von typischen, traditionell feststehenden Normenkomplexen und Rechtsbeziehungen 28 ". Beide unterscheiden sich also in zweierlei Hinsicht voneinander: - Die Institutsgarantie ist ein Normenkomplex 29 bzw. hat Rechtsbeziehungen zum Inhalt. Die institutionelle Garantie setzt eine Einrichtung voraus, die Teil der „öffentlichen Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten" ist. - Allein die Institutsgarantie kann privatrechtliche Rechtsinstitute schützen. Aus dieser Definition geht nach dem ersten Anschein hervor, daß die Institutsgarantie durch eine ungleich größere Anbindung an das Recht, nämlich als „privatrechtliches" „Rechtsinstitut" gekennzeichnet ist. Umgekehrt knüpft die institutionelle Garantie an bestehende Einrichtungen, und damit auch an vorverfassungsrechtliche Sac/i-verhalte an. 26

Zu den Folgen dieser Unterscheidung siehe später. C. Schmitt: Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, S. 140 (149). 28 C. Schmitt: Handbuch des deutschen Staatsrechts, S. 596. 29 Sehr strikt G. Abel: Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien für die Auslegung des Bonner Grundgesetzes, S. 71: „Das Institut ist Teil der Rechtsordnung und nichts als das". 27

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Eine weitere Auseinandersetzung zum Verhältnis von Recht, Einrichtung, Normenkomplex und verfassungsrechtlicher Normierung erfolgte zunächst nicht. Vom Aussagegehalt her machte die Lehre von den Einrichtungsgarantien vorläufig bei der Feststellung einer verfassungsrechtlichen Maßgabe finden einfachen Gesetzgeber halt. Allein diese zuerst einmal dogmatische und formale Aussage war schon so politisch, daß sie in der Zeit des Nationalsozialismus vehemente K r i t i k erfuhr. Der Führerstaat ertrug das Bestehen einer irgendwie gearteten verfassungsrechtlichen Garantie, die vor seiner einfachen Gesetzgebung Bestand haben sollte, nicht 3 0 . Materiell hinderte dies seine Rechtsprechung aber nicht, den zweiten Teil der Lehre (neben der Garantie), das Institutionenargument, zu benützen, um den Weg für die nationalsozialistische Uminterpretation geltenden Rechts zu ebnen 31 . Hier wurde die große Schwäche der Lehre von den Einrichtungsgarantien deutlich. Durch die Bezugnahme auf die nicht rechtlich allein determinierbaren und faßbaren „Institutionen" öffnete sich das Verfassungsrecht illegitimen, wenn auch vielleicht nicht illegalen Machtinteressen32. Nicht nur bei der Rechtsquelle der Einrichtungen wurde differenziert, sondern auch nach der zeitlichen Geltung der jeweiligen Garantieart. b) Die status-quo- Garantie der institutionellen

Garantie

Vorausgesetzt wird die Unterscheidung von Instituts- und institutioneller Garantie. So man dieser Unterscheidung folgt, betrifft die institutionelle Garantie nichts „Zukünftiges, noch zu Bildendes und zu Umgrenzendes, zu Formierendes und zu Organisierendes, sondern gewährleistet Gegenwärtiges, schon Vorhandenes, bereits Bestehendes, Existentielles; sie garantiert Formiertes und Organisiertes, „Institutionelles" 3 3 . Mit jeder institutionellen Garantie ist damit die Gewährleistung eines bestimmten status-quo verbunden. Eine solche begriffsnotwendige Verbindung des Zustandes einer Einrichtung zu einem bestimmten Zeitpunkt wird als „unselbständige status-quo-Garantie" qualifiziert. Bei der Rechtsinstitutsgarantie ergibt sich demgegenüber die konservierende Komponente bereits durch die Anknüpfung an das Recht und damit das Gesetz. 30

E. Menzel: Das Ende der institutionellen Garantien, AÖR, Bd 28 (1937), S. 32 ff. Siehe am Beispiel des „Wesens der Ehe": M. Gordon: Das „Wesen" der Ehe. 32 Siehe hierzu im einzelnen B. Rüthers: Institutionelles Rechtsdenken im Wandel der Verfassungsepochen, S. 18 ff (64, Nr. 9). 33 F. Klein: Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 190 f; G. Abel: Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien für die Auslegung des Bonner Grundgesetzes, S. 31, 32. 31

II. Der inhaltliche Gehalt der „ E i n r i c h t u n g "

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Die unselbständige status-quo-Garantie unterscheidet sich von „isolierten status-quo-Garantien" wie ζ. B. in Art. 146 GG, wo in Hinblick auf einen bestimmten Stichtag 34 ein bereits vorhandener rechtlicher Zustand 35 aufrecht erhalten wird. Solche isolierten status-quo-Garantien finden sich aber nur in Übergangs- und Schlußbestimmungen von Gesetzen. Mit dieser Garantieart hat Art. 6 Abs. 1 GG nichts gemein. Zuerst festzustellen ist, daß eine unselbständige status-quo-Garantie sich nicht auf die Anzahl der konkreten Familien, sondern auf die Form, die die Institution Familie zu einem bestimmten Stichtag angenommen hat, bezieht. Bei einer institutionellen Garantie wäre das nach den Ergebnissen der Lehre von den Einrichtungsgarantien etwas Selbstverständliches. Eine seit Jahrtausenden bestehende Einrichtung ist eben etwas Bestehendes, und von den Menschen, die sie benutzen, bzw. darstellen, und ihrem Tod unabhängig. Auf die Familie bezogen bedeutet dies, daß sie eine institutionelle Garantie sein müßte. Nur eine Meinung sah Art. 119 Abs. 1 WRV als institutionelle Garantie im Sinne der so getroffenen Unterscheidung 36 . Wichtig wird die Unterscheidung und das Verhältnis von institutioneller Garantie zur status-quo-Garantie in der heutigen Diskussion über die Familie als „offenen Begriff". Ohne daß dies ausdrücklich gesagt wird, legt eine Meinung, die auch sonst von der „institutionellen Garantie Familie" spricht, eine zurückhaltende Stellung gegenüber einer Offenheit des Familienbegriffs 37 an den Tag. Demgegenüber ist eine starke Bewegung in der Literatur festzustellen, die offensichtlich ohne grundsätzliche Probleme von einer mehr oder weniger großen Offenheit des Familienbegriffs ausgeht. Dabei wird oft übersehen, daß der Begriff „Offenheit" in Bezug auf zwei Gesichtspunkte interpretierbar ist: - Zum einen in Bezug auf eine zeitliche Veränderung, d. h. eine Familie der Jahre 1500 und 1949 ist von der Familie des Jahres 1987 in ihrer Lebensweise und auch in ihrer rechtlichen Gestaltung - man denke an die Betonung der Kindesrechte und an die Gleichberechtigung der Frau - leicht zu unterscheiden. - Zum anderen kann die Offenheit des Begriffs auf eine Rahmenordnung, die Art. 6 Abs. 1 GG lediglich festlegt, bezogen werden. Dies wäre eine sachliche Öffnung des Schutzes für ζ. B. jede Gemeinschaft von Eltern und Kindern. 34 Nämlich dem Tage des Inkrafttretens einer Verfassung, die vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. 35 Nämlich die Geltung des GG. 36 E.-R. Huber: Bedeutungswandel der Grundrechte, AÖR 23 (1933), S. 1 (50). 37 D. Pirson in: Essener Gespräche, S. 45.

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

- Im Laufe der Arbeit wird also entschieden werden müssen, ob es sich bei der Familie um eine Instituts- oder eine institutionelle Garantie handelt. Wenn es sich um eine institutionelle Garantie, d. h. eine öffentlichrechtliche Einrichtung handeln sollte, dann w i r d unter dem Bestandteil „Einrichtung" oder „Institution" die Gestalt bzw. ein Wandel der Gestalt dieser Institution abzuhandeln sein. Sollte es sich um eine Institutsgarantie handeln, dann wird zu prüfen sein, inwieweit auch die Institutsgarantie als privatrechtlicher Normenkomplex wesensgemäß „rückwärts blickt", d. h. mittelbar durch die einzelnen Kodifizierungen auf vorgefundene Lebensformen Bezug nimmt. Daran wird sich die Frage anschließen, ob die in Art. 6 Abs. 1 GG garantierte „Institution" aus ihrem Wesen selbst einer zeitlichen Veränderung jederzeit zugänglich ist, oder ob allein aufgrund des sachlichen Inhalts der Garantie - Beschränkung auf die wesentlichen Strukturelemente - eine Umformung innerhalb dieser weit gezogenen Grenzen aus dem Tatbestandsmerkmal „Garantie" zulässig ist. Diese „wesentlichen Strukturelemente" sind eine weitere Erkenntnis, die der Lehre von den Einrichtungsgarantien zu verdanken ist. c) Die Begrenzung rechtlicher Gestaltung der Institution auf das „ Minimum " Damit die Garantie einer Einrichtung Wirkung entfaltet, bedarf es auch rechtlich klarer Aussagen über ihren Inhalt. Auf der anderen Seite wurde das Problem einer verfassungsrechtlichen Garantie von Ehe und Familie „en detail" bereits bei den Beratungen zur WRV deutlich. Die Gegner eines Eheschutzes fürchteten eine verfassungsrechtliche Festschreibung des gesamten damals geltenden Eherechts: „Auf dem gewöhnlichen gesetzlichen Wege könnte dann auch keine eherechtliche Bestimmung des BGB aufgehoben werden" 3 8 , denn sie habe an der verfassungsrechtlichen Festschreibung Anteil. Die Befürworter konterten, daß „nur" die allgemeine Institution Ehe und nicht einzelne eherechtliche Bestimmungen in Art. 119 WRV geschützt seien. Dieses Dilemma - Effektivität einer Garantie durch „lückenlose Festschreibung" auf der einen und Ausschluß der Gestaltungs- und damit Anpassungsarbeit des Gesetzgebers auf der anderen Seite - löst das BVerfG mit dem Begriff der „Strukturprinzipien". Lediglich die Strukturprinzipien der Institution seien in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt 39 . 38 Äußerung des Abg. Sinzheimer, zitiert nach D. Schwab: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie, S. 893 (896).

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Anders liest sich die „Lösung" des Problems in den Anfängen des Einrichtungsgarantiedenkens: „lediglich ein Minimum dessen, was ihr Wesen (der Institution) ausmache", sei in der Verfassung festgeschrieben 40. „Strukturprinzipien" und „Minimum" müssen nicht deckungsgleich sein. Das Minimum einer verfassungsrechtlichen Durchdringung kann nämlich bedeuten, daß nicht alle Strukturprinzipien der Institution vorausgesetzt, bzw. rechtlich geschützt sind. Dieses Verhältnis von „Minimum" verfassungsrechtlicher Durchdringung der Instititution und „Strukturprinzipien" muß für jede Institution getrennt beurteilt werden. Das Gefühl für diese wertungsmäßige Erfassung der „Strukturprinzipien" ist verloren gegangen, was sich auch bei den Beratungen zum Erlaß des GG zeigte. Ein Strukturprinzip der Institution „Ehe", nämlich die Strafbarkeit des Ehebruchs stand hier ernsthaft in Frage. Ein vermeintliches Strukturprinzip der verfassungsrechtlich geschützten Institution Ehe, auf das man später ohne durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken sang- und klanglos verzichtete. Die Qualifizierung als Strukturelement wird damit selbst nicht ad absurdum geführt, wohl aber der rechtliche Minimalgehalt einer Einrichtungsgarantie „Ehe". Ob in der Rechtsprechung des BVerfG „Strukturprinzipien" und „Minimum" bei Art. 6 Abs. 1 GG materiell letztendlich auf das Gleiche hinauslaufen, kann nicht eindeutig geklärt werden, da das Gericht hierzu bisher keine Stellung genommen hat. Bemerkenswert im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 GG ist, daß sowohl die Auffassung Savignys als auch die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus für eine weitgehende rechtliche Abstinenz gegenüber der Institution „Familie" sprechen. Wo dem einfachen Gesetzgeber die Regelungsbefugnis abgesprochen wird, dort kann er auch nicht staatlich uniformierend wirken. Wenn man diese These vom rechtsfreien Raum „Familie" in Beziehung zu einem „Minimalprinzip" rechtlicher Durchdringung der Familie sieht, so stellt sich die Frage, ob dieses „Minimalprinzip" auch für das Verfassungsrecht gilt. Dies würde bedeuten, daß man zuerst die Strukturprinzipien der Einrichtungsgarantie entwerfen und dann prüfen müßte, inwieweit jedes Strukturprinzip tatsächlich einer rechtlichen Festlegung und des Schutzes bedarf. Zum Beispiel ist es grundsätzlich ein Strukturprinzip der Institution Familie, daß die Mitglieder miteinander verwandt sind. Wenn man darauf abstellt, daß nur ein Minimum dessen, was das Wesen der Familie ausmache, in der Verfassung festgeschrieben sei, dann könnte man auch vertreten, daß lediglich die „soziale Funktion" einer Lebensgemeinschaft von Erwachse39

Jedenfalls in Bezug auf die Institutsgarantie. Nachweise bei F. Klein: Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 296. 40

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nen und Kindern der Einrichtungsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG zugrundeläge. Für einen weiten Schutzbereich des Art. 6 Abs. GG spricht der einhellig anerkannte Kompromißcharakter der Vorschrift. Eine verfassungsrechtliche Minimalaussage über den rechtlich festlegbaren Gehalt der Familiengewährleistung, d. h. auf Beginn und/oder Ende und/oder Funktion und Machtmißbrauch innerhalb der Familie 4 1 hat heute zur Konsequenz, daß die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als „Familie" geschützt werden soll. Auch die Lebensgemeinschaft eines Mannes mit zwei Ehefrauen, von denen die zweite Ehefrau ein Kind mit dem Mann hat, soll den Schutz der Familiengewährleistung beanspruchen können. Als Begründung lassen sich folgende Argumente anführen. „Familie" sei ein „offenerer" Begriff als „Ehe" in Art. 6 Abs. 1 GG 4 2 und diesbezüglich für die rein biologische oder funktionale Zuordnung der M i t glieder offen. Der Begründungstatbestand der Familie sei also anders als bei der Ehegewährleistung, die an einen formalisierten A k t anknüpfe, offen. Die Aussage der Verfassung über die Begründung der Familienzugehörigkeit stelle geringere, „minimalere" Anforderungen als die Ehegewährleistung. Die biologische Verwandtschaft oder die schlichte Übernahme der Rolle von Vater, Mutter und Kind reiche aus, um eine verfassungsrechtlich geschützte Familie zu begründen, weil die zentrale und minimale Aussage der Verfassung dahingehend interpretiert werden könnte, daß Lebensgemeinschaften, die Erziehungsaufgaben erfüllen, als Familie geschützt sind. Auch die Lebensgemeinschaften von geschiedenen Vätern oder Müttern, die mit dem neuen Lebenspartner Kinder versorgen, könnten deshalb unter dem Schutz der Einrichtungsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG stehen. Gegen eine solche Sichtweise der Minimalaussage der Familiengewährleistung spricht: Auch die Familie kennt ein hergebrachtes Prinzip, das der „Verantwortung". Unter einer männlichen Herrschaftsordnung war es vielleicht im Einzelfall möglich, daß der nichteheliche Vater sich sein K i n d „nahm" ohne gleichzeitig die Mutter unterhalten zu müssen. Diese Tatsache hat aber unter Geltung des GG, das eine Gleichberechtigung von Mutter und Vater „feststellt", als Argument ihr Gewicht verloren. Tatsache bleibt, daß in den hier untersuchten Epochen der Rechtsgeschichte nur der Vater zu einem Erziehungsrecht über seine Kinder kam, der auch Verantwortung für die 41 Korrespondierend hiermit eine inhaltliche Aussage für das Abwehrrecht „Familie" : Freiheit vor dem Recht, wenn sich Eingriffe außerhalb dieser Rahmenordnung in die Familie ereignen. 42 Κ . H. Friauf: Verfassungsgarantie und sozialer Wandel - das Beispiel von Ehe und Familie, NJW 1986, S. 2595 (2601 f).

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Mutter vor der Gemeinschaft durch einen irgendwie gearteten Publizitätsakt (Zusammenleben usw.) zu übernehmen bereit war. Eine Lebensgemeinschaft ohne ein solches gesetzliches Abgesichertsein der Mutter aufgrund einer Offenheit des Familienbegriffs einer Familie des Art. 6 Abs.l GG gleichzustellen, überzeugt ohne weitere Begründung nicht 4 3 . Man kann hier nicht ohne weitere Begründungen minimalisieren und eine Lebensgemeinschaft bei der nur eines der Mitglieder das Erziehungsrecht und damit die Hauptverantwortung 44 für das die Familie erst konstituierende K i n d hat, als „Familie" schützen. Auch die weiteren Regelungen des BGB bezüglich der Ehelichkeitsvermutung und damit der Scheinvaterschaft und der Möglichkeit der Adoption des nichtehelichen Kindes durch die Mutter lassen als Strukturprinzip eher einen Gegenschluß auf den Ausschluß der biologisch begründeten Familienzugehörigkeit ohne Eheschließung zu. Der nichteheliche Vater allein kann die Übertragung der Elternverantwortung bzw. die Feststellung seiner Vaterschaft in den beiden oben genannten Fällen nicht erreichen - es besteht ein Vorrang der gesetzlichen Verantwortungselternschaft. Ohne weiteres die Unterschiede zwischen Lebensgemeinschaften mit Vätern, die gesetzliche Verantwortung für Mutter und Kind tragen, und solchen die es nicht tun in Art. 6 GG „wegzuminimalisieren" ist weder überzeugend noch statthaft. Festgehalten werden kann an dieser Stelle, daß die Garantie der Einrichtung „Familie" nur eine Rahmenordnung ist, die entweder auf Strukturelemente oder auf ein Minimum verfassungsrechtlicher Regelung Bezug nimmt. Auch die Erkenntnis, daß nur wesentliche Strukturmerkmale der Institution zur Grundlage des rechtlich geschützten Familienbegriffs zu machen sind, entbindet nicht von der Feststellung jedenfalls dieser Strukturprinzipien. Der nächste Schritt ist also, sich von der „Garantie" zur „Institution" zu wenden. 3. Die „Institution" nach der Lehre von den Einrichtungsgarantien

a) Vorbemerkung Der Institutionenbegriff ist je nach dem Autor, der ihn verwendet, unterschiedlich. Weder die Anzahl der Institutionen, die unser Leben bestimmen, 43 So bleibt auch der nichteheliche Vater in verfassungskonformer Weise von den Vergünstigungen des Mutterschutz- und des Erziehungsgeldgesetzes ausgeschlossen, wenn ihm nicht das Sorgerecht übertragen worden ist, siehe BVerfG, Beschl. vom 5.8.1986, NJW 1987, S. 179 f. 44 Etwas anderes gilt für eine eheliche Lebensgemeinschaft, bei der einem oder beiden Partnern das elterliche Sorgerecht (zeitweilig) entzogen wurde. Hier bestand nicht von vornherein die Notwendigkeit einer staatlichen Pflegerbestellung (zu den Ausnahmen später), die neben das Privatrechtssubjekt „Mutter" in die Erziehungsverantwortung (Überwachungsfunktion) tritt.

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noch ihre Tatbestandsmerkmale und die Anforderungen an sie, sind eindeutig beschrieben oder herausgearbeitet worden. So ist es ζ. B. in soziologischen Arbeiten üblich, die Institutionenbegriffe verschiedener Autoren getrennt voneinander darzustellen und zu erörtern 45 . Woher diese Unterschiedlichkeit des Institutionenbegriffs stammt - ob vielleicht der Mensch überhaupt nur fähig ist, Institutionen deskriptiv zu erfassen und nicht sich zu ihrem Schöpfer und Herren zu erklären - kann für diese Arbeit, die sich mit der Familie befaßt, dahingestellt bleiben. Denn die Ausführungen aller Autoren und Meinungen können jedenfalls für die Institution „Familie" beansprucht werden. In allen durchgesehenen Arbeiten wurde die Institution der „Familie" erwähnt bzw. Schloß keine Arbeit die Eigenschaft der Familie als „Institution" unseres Lebens aus. Der Wert einer Institutionentheorie für die vorliegende Arbeit besteht darin, daß sie die „Familie" in Bezug zu drei, für sie wesentliche Koordinaten setzt. Nämlich zu den einzelnen Menschen, dem Recht bzw. Rechtssystem und der Zeit, also zu dem Wandel, den Generationen von Menschen schaffen und erleben. Für die vorliegende Arbeit kann grob zwischen einer soziologischen und einer juristischen Aufarbeitung des Institutionenbegriffes unterschieden werden. Während ein soziologischer Institutionenbegriff sich vor allem mit dem oben beschriebenen Verhältnis von Institution, Zeit und einzelnem auseinandersetzt, befassen sich juristische Autoren vorrangig mit dem Verhältnis der einzelnen Institution zum Recht. aa) Die Institution in soziologischer Betrachtung „Institutionen als zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen bilden die Struktur sozialer Systeme" 46 . Mit diesem Obersatz sind drei Probleme bei der Inhaltsermittlung einer Institution angesprochen: - das zeitliche, ob also der Inhalt einer Institution ζ. B. in einem Gesetz immer begrifflich offen bleibt gegenüber Wandlungen im Akzeptanzverhalten; - das sachliche, „sachlich generalisiert" bedeutet, daß die Bestimmung des Inhalts einer Institution nur grundsätzlich und nicht en detail erfolgen kann. Diese Annahme verträgt sich überzeugend mit der zeitlich bedingten Änderung im Akzeptanzverhalten gegenüber der Institution; 45 H. Rosenbaum: Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft, S. 7 ff. Auf die interessante Überschneidung mit dem soziologischen Gruppenbegriff konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden, siehe hierzu Nachweise bei H. Rosenbaum: a.a.O., S. 63 (80). 46 N. Luhmann: Grundrechte als Institution, S. 12 f.

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- das soziale, „sozial generalisiert" stellt fest, daß es bei der Feststellung des Wesens der Institution um die soziale und nicht die rechtliche Akzeptanz der Familie geht. In der Soziologie ist Institution nicht ein „Normenkomplex, sondern ein Komplex faktischer Verhaltenserwartungen, die im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf Konsens rechnen können" 4 7 . Betont wird hier der soziale und nicht etwa der rechtliche, repräsentativ-demokratisch geäußerte Konsens der Gesetzgebungskörperschaften. bb) Die Institution in juristischer Betrachtung Durch die zunehmende Anerkennung, die die Lehre von den institutionellen und Rechtsinstitutsgarantien unter der Geltung der WRV erfuhr, sah sich auch die Jurisprudenz mit der „Institution" bei der Anwendung von Verfassungsrecht konfrontiert. In wörtlicher Auslegung - wie oben gezeigt - versuchte man nicht nur den inhaltlichen Gehalt der institutionellen und Rechtsinstitutsgarantien, sondern auch die Unterscheidung beider Garantiearten zu begründen. Die Feststellung, daß „Institut" eher eine konkrete Einrichtung oder Anstalt, die „Institution" dagegen das Ergebnis einer Abstraktion dieser Einrichtung beschreibe, war hierfür aber zuwenig aussagekräftig. Behauptet wurde dann die Sinnhaftigkeit und die Notwendigkeit dieser Unterscheidung in Bezug auf die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Rechtssphären. Die (Rechts-)Institutsgarantie sollte sich auf die fünf Säulen der Privatrechtsordnung stützen, die man in der Familie, der Ehe, der Vertragsfreiheit, des Eigentums und des Erbrechts erblickte 48 . Zu den institutionellen Garantien wurden öffentlich-rechtliche Gewährleistungen gezählt, wie ζ. B. die gemeindliche Selbstverwaltung oder das Berufsbeamtentum. Der für beide Arten von Garantien vorgeschlagene Oberbegriff der Einrichtungsgarantie „krankt" denn auch an einem schwachen Aussagegehalt. Die Vorstellung einer Einrichtung in Verbindung mit der Lebensgemeinschaft Familie erscheint schon künstlich. Wer hat hier was, wen und zu welchem Zweck bzw. mit welchem Ziel eingerichtet? Der Begriff Einrichtung hat sich deshalb in der juristischen Diskussion allenfalls deshalb durchsetzen können, weil er eine gewisse Neutralität gegenüber der Unterscheidung von institutioneller und Institutsgarantie bedeutet. In der Literatur wird in der Regel von der „Institution" Familie, und nicht von der „Einrichtung" 47

Ebd., S. 12 f. Siehe auch zum Folgenden F. Klein: Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 107 ff m.w.N. 48

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Familie gesprochen 49. Die Verwendung des Begriffes der Institution erlaubt dabei einen fächerübergreifenden Austausch über die Erkenntnisse und das Wesen der Familie 5 0 . Deshalb soll im Folgendem auch von der Institution „Familie" gesprochen werden. Die vorliegende Arbeit nähert sich der juristischen Interpretation und Auslegung von Art. 6 Abs. 1 GG mittels der Einrichtungsgarantie, weil die „Familie" aus dem Blickwinkel des Freiheitsrechts des einzelnen Familienmitglieds nicht erfaßt werden kann. Weder der eigenverantwortlich handelnde 16jährige, der als Lehrling einer Gewerkschaft gegen den Willen der Eltern beitritt, noch der Ehemann und Vater, der sich von der Kindesmutter scheiden läßt, repräsentiert das rechtliche Bild der Familie. Nicht das Recht des einzelnen, sondern die Verantwortung und Solidarität füreinander, die Freude miteinander, sind für unser Familienbild maßgebend. Die Beziehung einer Person zu einer Sache und die hierauf gegründeten Beziehungen zur öffentlichen Gewalt sind mit der Gruppenbezogenheit der Familiengewährleistung nicht vergleichbar. Mit der Erkenntnis der Familie als Institution soll nicht behauptet werden, daß ihr grundsätzlich ein anderer Rang im Vergleich zu anderen Rechtsgütern in der Verfassung eingeräumt werden muß. Anders als beim Privateigentum, dessen Eigenschaft als Institution viel mehr Begründungsaufwand erfordert, als dies bei der Familie der Fall ist 5 1 , steht die Familie unter dem „besonderen Schutz" der Verfassung und w i r d nicht durch eine dem Art. 15 GG vergleichbare Vorschrift zur Disposition einer Gesellschaft gestellt. Bevor auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale und Definitionsansätze zur Institution „Familie" eingegangen wird, soll die grundsätzliche Einordnung des Institutionendenkens in die Rechtstheorie kurz dargestellt werden. Hierzu soll vor allem auf eine Arbeit von C. Schmitt Bezug genommen werden: b) „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen

Denkens"

C. Schmitt unterscheidet das Regeln- und Gesetzes-, das Entscheidungsund das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken 52 . Je nachdem ob man das Recht als „Regel", als „Entscheidung" oder als „Ordnung" auffaßt, w i r d der Ausgangspunkt der Auslegung unterschiedlich gewählt. 49 Bei C. Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 7 ff, findet sich der Begriff des konkreten Ordnungsdenkens. 50 H. Schelsky stellte die erstaunliche Verwandtschaft vom soziologischen und juristischen Institutionenbegriff schon früh fest: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, S. 28 f. 51 Siehe hierzu Rolf Peter Calliess: Eigentum als Institution, München, 1962, S. 140. 52 C. Schmitt: Über die drei Arten des rechts wissenschaftlichen Denkens, S. 8.

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aa) Das Regeln- oder Gesetzesdenken (Normativismus) Mit dem Sprichwort von der „lex" als dem einzigen „ r e x " 5 3 beschreibt C. Schmitt die Essenz des Normativismus. Nicht einer oder alle Menschen herrschen über andere, sondern das Gesetz zügelt und beherrscht die Menschen. Es w i r d zur Richtschnur für alle, die ihm unterworfen sind. Das Wort vom „König Gesetz" hat aber nur theoretische Berechtigung. Gesetze müssen nämlich vollzogen, Recht muß gesprochen werden. Dies geschieht durch eine sachlich und persönlich unabhängige Rechtsprechung, also von konkreten Ordnungen und nicht durch Normen 54 . Ein zweiter Punkt der K r i t i k am Normativismus besteht darin, daß die Norm sich nur auf das Normale, nicht aber auf untypische Einzelfallgestaltungen des Alltags zu erstrecken vermag. Auch können Normen eine Institution wie die Familie nicht selbständig erfassen und abbilden. Institutionen bergen außerrechtliche Sachverhalte in sich, die eine restlose Normierung dieser Institutionen verhindern. Als Beispiel hierfür führt C. Schmitt den „guten Familienvater", der als Begriff in der Rechtssprechung ein „geflügeltes Wort" darstellte 55 , an. Sicher könne in einen solchen Begriff jegliche Mystik hineininterpretiert werden. Auf der anderen Seite würde die Auflösung solcher Ordnungsfiguren in eine Summe oder in ein System von Normen unwirklich und gespenstisch erscheinen 56 . bb) Das Entscheidungsdenken (Dezisionismus) Wenn nicht Normen die alleinigen Quellen des Rechts darstellen, dann könnte das Recht vielleicht auf der Entscheidung einer oder einzelner Personen beruhen 57 . Der „ratio" bei der Norm entspricht die „voluntas" der Person, die entscheidet. Das Recht wird subjektiv, es beruht auf der Souveränität derjenigen, die entscheiden. Diese Entscheidung begründet damit erst Normen oder Ordnungen. Zum Verhältnis von Entscheidungsdenken und Ordnungsdenken zitiert C. Schmitt den Satz von Hobbes: „Recht ist Gesetz und Gesetz ist der Streit um den das Recht entscheidenden Befehl: autoritas non Veritas facit legem." Der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts wird als eine Verbindung von Entscheidungs- und Gesetzesdenken bezeichnet. Nur das, was geschrie53 Ebd., S. 14. 54 Ebd., S. 16. 55 Ebd., S. 20 f; an vielen Stellen der Bibel ist dieser Begriff nachweisbar. 56 Auf die Kommentierung des Palandt/Diederichsen zu § 1618 a BGB sei hier hingewiesen, die sogar die familäre Pflicht zur gemeinsamen Urlaubsreise festschreiben will. 57 C. Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 24 ff.

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ben ist und von einem Souverän oder seinem Parlament verabschiedet wurde, ist rechtens. Ein Bedürfnis nach dieser ordnenden Tätigkeit des Entscheidenden besteht deshalb, weil sowohl das Gesetzes- als auch das Entscheidungsdenken eine „Unordnung" voraussetzt. Andernfalls wären die souveränen Entscheidungen in Form der Normen nicht nötig 5 8 . Das Besondere am Rechtspositivismus ist, daß er, da nur das Geschriebene rechtens sein kann, alle anderen Sachverhalte aus der Rechtsbindung ausscheiden lassen muß. Er kann sich also grundsätzlich nicht auf einen Einklang mit Naturgesetzen stützen, da diese vorher nicht rechtlich normiert sind. Der Rechtspositivismus braucht deshalb als Ergänzung das Entscheidungsdenken, um den Geltungsgrund der von ihm geschaffenen Normen nicht auf meta juristische Sachverhalte zurückführen zu müssen 59 . cc) Das Ordnungsdenken Von der Annahme, das vor Tätigwerden des Normgebers eine „Unordnung" bestanden hat, weichen vorwiegend naturrechtlich bestimmte, konkrete Ordnungsvorstellungen ab. Es gilt hier nur dem Menschen die Wirklichkeit beschreibend durch Normen zu verdeutlichen. Institutionen werden also nicht vom Normgeber oder vom entscheidenen Souverän geschaffen, sondern Normen sind der Ausfluß der von diesen Institutionen geschaffenen Vorstellungsbilder. Luther wird von C. Schmitt zitiert mit seinem Wort: „Bist du eine Mutter, so tue, was Mutterrecht ist, das dir befohlen ist und Christus nicht genommen, sondern vielmehr bestätigt hat" 6 0 . Eine andere Formulierung dieses Gedankens lautet: Nur so lange die konkrete Ordnung Ordnung bleibt und nicht vom Recht bestimmt wird, gibt es ein vorgegebenes Nebeneinander der Institutionen. Die stärkste, die „konkrete Ordnung der Ordnungen, die Institution der Institutionen" 6 1 ist dann der Staat. Solange die anderen Ordnungen nicht durch den Vertragsgedanken dem staatlichen Recht preisgegeben werden, wird der Staat nicht zum „Leviathan", der alle übrigen Institutionen verschlingt. dd) Stellungnahme Die oben zitierte Schrift C. Schmitts versucht den Führerstaat, den „Hüter der Verfassung" als besonderes Ordnungselement in der Rechtstheo58 Ebd., S. 29. 59 Ebd., S. 38. 60 Ebd., S. 43. 61 Ebd., S. 47.

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rie und Rechtsgeschichte zu verankern und zu rechtfertigen. Die Gefährlichkeit des konkreten Ordnungsdenkens wird damit offenbar. Die Gedanken C. Schmitt's spiegeln aber in ihrer Grundsätzlichkeit auch den heutigen Meinungsstand wieder 62 . Bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 GG ist eine sachgemäße Balance zwischen positivistischen, dezisionistischen und institutionellen Elementen zu wagen. - Allein aus den Regelungen des BGB kann man den Inhalt des Art. 6 GG nicht erschließen. Hiergegen wendet sich nicht nur die K r i t i k 6 3 , sondern das BVerfG hat sich im sogenannten „Naßauskiesungsfall" erneut dagegen entschieden, den Inhalt einer verfassungsmäßigen Gewährleistung einer Summe einfachgesetzlicher Vorschriften („Bündeltheorie") zu entnehmen. - Bei der Entscheidung, ob erweiterte oder Kernfamilienformen in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sind, hat das BVerfG bereits eine Entscheidung getroffen. Nur die „Kleinfamilie" soll aufgrund seiner Dezision in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt werden. Wenn man eine solche Entscheidung trifft, dann sollte man sie begründen und nicht in vermeintlich geschichtlichen Entwicklungen, die lediglich unvollständig dargestellt werden, Zuflucht suchen. - Auch das institutionelle Element kann für Art. 6 Abs. 1 GG erhebliche Bedeutung entfalten. Wie sich bei den staatlichen Anforderungen an die Scheidung der Eheleute zeigt, ist die Ehe auch der Verfügungsgewalt der Kontrahenten, nämlich der Eheleute, und des Staates entzogen 64 . Es besteht damit auch keine eigentliche Geschichte von Ehe und Familie, allenfalls eine Geschichte der Auseinandersetzung mit diesen Lebensformen 65 . W. Müller-Freienfels stellt deshalb fest: „Weder eine Historisierung der Ehe, die in einer Repetition von Vergangenem besteht, noch eine Apologie der bestehenden Rechtszustände oder ein Ausweichen vor wertender 62 W. Böckenförde: Die Methoden der Verfassungsinterpretation - Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, S. 2089 und Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 (1532). 63 Friedrich Müller: Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin, 1968, S. 21 f, der bei der Ehe eine Anknüpfung an die „Natur der Sache" als eine Inbezugnahme auf den „weitgehend rechtserzeugten Normbereich" qualifiziert. Walter Leisner: Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964, S. 48 ff, der gegenüber einem institutionellen Ansatz die Durchdringung von Verfassungsrechtsgütern mit niederrangigen Recht (sprinzipien) einwendet. Otto Majewski: Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht, Berlin, 1971, S. 112 f, der sich für eine „wirklichkeitsnahe" Interpretation anstelle einer normorientierten Interpretation bei Ehe und Familie ausspricht. 64 Gedankengang mit Nachweisen bei W. Müller-Freienfels: Ehe und Recht, S. 77. 65 Ebd., S. 77.

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Entscheidung hilft weiter" 6 6 . Hiermit ist der Kreis zwischen institutionalistischem und dezisionistischem Auslegungsansatz geschlossen. Wieweit man dieser Entscheidung „aus dem Weg gehen wollte", um zu vermeintlich bequemeren Ergebnissen über das Institutionsargument zu gelangen, soll der nächste Abschnitt zeigen. c) Die konkreten Ergebnisse bei der Ermittlung des Schutzbereichs durch die Lehre von den Einrichtungsgarantien „Das Leben der Gesellschaft stellte sich als ein Gewebe von Institutionen dar, deren legitimen Ursprung man über Sitte und Brauch hinausgehend in der menschlichen Natur selbst zu suchen hat" 6 7 . „Die Institutionen haben an der vorgegebenen Seinsordnung Gottes, deren Ausdruck sie sind, teil; die ihnen innewohnende, autoritative Verpflichtungskraft beruht daher auf dem Willen Gottes und der von ihm gesetzten Ordnung" 6 8 . Über eine solche, gemeinsam angenommene Quelle der Institute des Rechts verfügten die Verfassungsgeber weder bei der WRV, noch beim GG. Gerade bei Art. 119 WRV und Art. 6 GG war es erbittert umstritten, inwieweit eine in der christlichen Schöpfungsordnung verankerte, eheliche Familie Grundlage der Verfassungsgewährleistung war. Der Katalog der Instituts- und institutionellen Garantien im Grundgesetz, wie ζ. B. Presse, Religion, Familie, Eigentum, Berufsbeamtentum und gemeindliche Selbstverwaltung ist zu bruchstückhaft und unsystematisch, um aus dem Zusammenhang der geschützten Institutionen auf ein einheitliches Weltbild und damit eine vorgegebene, autoritative Ordnung zu schließen. In einer christlichen Schöpfungsordnung, die Sakramente und Institutionen als gottgewollt aufeinander bezieht oder in einer aristotelischen Hauslehre gibt es ein geschlossenes Gesellschaftsmodell, das die Berücksichtigung des Ineinandergreifens einzelner - Gemeinschaft erlaubt. Hier ist eine systematische, ein Weltbild erschöpfende und gleichzeitig rechtfertigende Argumentation möglich. Ganz anders in einem juristisch geprägten Einrichtungsgarantiendenken 6 9 , dem ein solches umfassendes Weltbild fehlt und das nur schwer fähig ist, mehr als willkürliche Einzelaussagen über den Inhalt des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes zu machen. Die Beschränkung auf juristisch 66 67 68 69

Ebd, S. 71. R. P. Calliess: Eigentum als Institution, S. 28. Nachweise der Gedankengänge von G. Renard bei R. P. Calliess: ebd., S. 34 (36). Das wohl dem konkreten Ordnungsdenken von C. Schmitt nahesteht.

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„erkannte" Strukturprinzipien eröffnete einen weiten Spielraum - der immer einseitig genutzt wurde - ζ. B. für die Bezugnahme vor allem auf die christliche Ehe- und Familienlehre als Ersatz für die Begründung von Auslegungsergebnissen innerhalb der Jurisprudenz 70 . Der Grund hierfür wird in der politischen Natur des Verfassungsrechts zu sehen sein, die eben nur einen Minimalkompromiß der verschiedenen Parteien zuließ. Dies gilt vor allem für Bestimmungen, die das gesellschaftliche und damit das Leben eines Jeden unmittelbar prägen, wie die Ehe- und Familiengewährleistungen. Eine demokratisch entstandene Verfassung muß durch die Absage an die Übernahme eines weltanschaulichen Gesamtbildes charakterisiert sein. Es läßt sich ζ. B. für die Beratungen zum GG nicht redlicherweise vertreten, daß Ehe und Familie ausschließlich im Sinne einer christlichen Gesamtanschauung geschützt werden. So stark die „konservativen Parteien" an den Beratungen beteiligt waren, so läßt sich an der eigenständigen Familiengewährleistung, dem „und" in Art. 6 Abs. 1 GG nicht zweifeln; und damit an der Möglichkeit einer Auslegung von Ehe und Familie als aliud innerhalb der Grenzen des Wortlauts der Norm. Die Vergeblichkeit einer Bezugnahme auf vermeintlich gesicherte Ergebnisse ζ. B. der Theologie über die Familie, soll weiter ausgeführt werden. aa) Die Zuhilfenahme von Argumenten aus der Theologie am Beispiel der Monogamie der in Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ehe In der Absage an eine Staatskirche in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV ist ein solcher Ausschluß der kritiklosen Übernahme religiöser Erkenntnisse für die Auslegung des Art. 6 GG zu sehen. Dies wurde vor allem in Verbindung mit der Diskussion über die verfassungsrechtliche Wirksamkeit der Regelung des § 67 PStG deutlich. § 67 PStG erklärt die Vornahme der kirchlichen Trauung ohne zeitlich vorhergehende, standesamtliche Heirat grundsätzlich zu einer Ordnungswidrigkeit. Kritisiert wurde die Vorschrift wegen ihrer Verfassungswidrigkeit im Verhältnis zu Art. 4 Abs. 2 GG. Im einzelnen war zwar strittig, ob nur die Eheleute oder auch der Priester 71 sich auf die Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG berufen 70 Ein Beispiel für eine ethische Begründung: Die Institution Ehe wurde als „die monogame Ehe, . . . die aus dem Sittengesetz geschaffene, ethische Einrichtung der Ehe" (Abg. Ablass: zitiert nach D. Schwab: Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie) inhaltlich umrissen. Dem Minimalprinzip der Einrichtungsgarantien wurden zur Auffüllung partiell weltanschauliche Erkenntnisse unterlegt.

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können. Wenn man aber den personalen und sachlichen Schutzbereich des Art. 4 Abs. 2 GG als eröffnet ansieht, dann müßte das bewehrte Gebot der standesamtlichen Voraustrauung, so man es als Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit betrachtet, seine Rechtfertigung in den sog. immanenten Verfassungsschranken finden. Eine solche Schranke könnte Art. 6 Abs. 1 GG sein, falls hier lediglich die Zivilehe geschützt und diese Schutzgarantie den Vorrang der standesamtlichen Trauung verlangte. § 67 PStG müßte dann eine gebotene und geeignete „Waffe" gegen Onkelehen darstellen, die wegen der Möglichkeit kirchenrechtlicher Wirksamkeit eingegangen werden. Bei solchen Verbindungen würden die staatsrechtlichen Folgen für Partner und Kinder (Nichtehelichkeit) gerade wegen des „kirchlichen Segens" in Kauf genommen werden" 7 2 . Folgerichtig kann sich niemand auf seine religiöse Eheschließungsfreiheit im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 GG berufen, wenn diese Vorschrift nur die obligatorische Zivilehe schützt 73 . Art. 6 Abs. 1 GG würden dann eine verfassungsimmanente Schranke der Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG bedeuten. Dies ist auch nach Rechtsprechung des BVerfG der Fall, die ausdrücklich dem Staat bzw. der staatlichen Gesetzgebung die Bestimmung des „Sachverhaltes" Ehe überläßt 74 und damit ein staatliches Bekenntnis zur Zivilehe 75 in Art. 6 GG feststellt. Und das aus gutem Grunde: Gerade die unterschiedliche Konfessionszugehörigkeit seiner Bürger verpflichtet den Staat aus Art. 4 und 140 GG zu einer weltanschaulichen Neutralität, d. h. gegen die Aufnahme einer wie auch immer gearteten WeZt-anschauung oder Religion. Es können immer nur Teile dieser umfassenden Weltanschauungen rezipiert werden und für die Ehe und Familie des Art. 6 Abs. 1 GG läßt sich ein solcher Nachweis trotz der kirchenrechtlichen Tradition unserer Eheauffassung gerade nicht erbringen 76 . Aus der katholischen Ehelehre, die in ihrer wechselvollen 71 Nur die „Eheleute": E. Küchenhoff: Besonderer staatlicher Schutz von Ehe und Familie und zeitlicher Vorrang der standesamtlichen Eheschließung, ZStW 113 (1957), S. 324 (348); a. A. G. Dürig: Die Verfassungswidrigkeit des § 67 des PStG, FamRZ 1955, S.337 (341). 72 E. Küchenhoff: Besonderer staatlicher Schutz von Ehe und Familie und zeitlicher Vorrang der standesamtlichen Eheschließung, ZStW 113 (1957), S. 327. 73 Verneinend G. Dürig: Die Verfassungswidrigkeit des § 67 des PStG, S. 341. 74 BVerfGE 6 55 (82). 75 E. Küchenhoff: Besonderer staatlicher Schutz von Ehe und Familie und zeitlicher Vorrang der standesamtlichen Eheschließung, ZStW 113 (1957), S. 333, Th. Maunz in Maunz-Dürig: Art. 6 GG Anm. 15 c. 76 Siehe hierzu die Beratungen zum Erlaß des GG. Es ist zu bedenken, daß die Wissenschaften, die sich heute mit der Familie befassen, wie die Familiensoziologie, damals noch nicht von der allgemeinen philosophischen Diskussion abgetrennt waren und daß deshalb Ehe und Familie zwangsläufig von Autoren, die sich mit kirchenrechtlichen Welterfassungsversuchen (als den einzig damals vorhandenen) befaßten,

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Geschichte auch in ihren Grundzügen von der protestantischen Kirchenlehre übernommen wurde, lassen sich also unmittelbare Schlüsse für die Auslegung der Ehe- und Familiengewährleistung nicht ziehen, ebensowenig wie aus dem Verhältnis der Eheschließungsfreiheit des Art. 6 Abs. 1 GG zur Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG. Die Monogamie der Ehe und damit der erwachsenen Mitglieder der Familie kann also nicht allein kraft christlicher Weltanschauung für Art. 6 Abs. 1 GG gelten. Auch muß man bedenken, daß der Schutz der monogamen Ehe selbst Auslegungsergebnis der Bibel und anderer theologischer Erkenntnisquellen ist. Schon das alte Testament kennt auch die „Vielehe" und man würde Auslegungsprobleme der Theologie nur in die juristische Interpretation des Art. 6 Abs. 1 GG verlagern, wenn man deren Auslegungsergebnisse „kommentarlos" übernähme. Wie wichtig eine begründete Entscheidung und nicht der Bezug auf vermeintliche, ζ. B. im Naturrecht verankerte, konkrete Ordnungen ist, zeigen bereits die Diskussionen in der Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts. Sie haben, wie anschließend an einem modernen Beispiel in der Rechtssprechung gezeigt werden wird, nichts von ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Erfassung von Ehe und Familie verloren. bb) Die „innere Organisation" von Ehe und Familie in der Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts und in einer Entscheidung des BVerwG Verdienstvoll ist hier vor allem, daß im Gegensatz zur heutigen Rechtsprechung und Literatur zu Art. 6 Abs. 1 GG versucht wurde, Probleme in ihrer grundsätzlichen Bedeutung für Ehe und Familie zu erkennen und zu lösen. Dies deutet sich bereits im Zusammenhang der Erörterungen an. Es wurde nach Definitionen, Wesen und Zweck, nach dem Ursprung und der Notwendigkeit der Ehe, nach ihrer Rechtsnatur und nach ihrer mono- oder polygamen Organisationsform gefragt; es wurde das Konkubinat behandelt, und auch weitere, außereheliche geschlechtliche Verbindungen 77 . Das Ergebnis dieser Disputationen zeigt, daß im Bereich von Ehe und Familie, und vor allem in Bezug auf ihre Organisationsform, nahezu keine Aussage oder Erkenntnis unbestritten ist. Dies soll anhand von Stellungnahmen zur polygamen Begründung der Ehe demonstriert werden.

behandelt wurden. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit H. Dombois: Das Problem der Institutionen und der Ehe, S. 55 ff. 77 Siehe zum Folgenden M. Erle: Die Ehe im Naturrecht des 17. Jahrhunderts, S. 252 ff.

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

- Die Polygamie in den Meinungen der Naturrechtslehre Aufschlußreich vor allem wenn man die leicht dahingesprochenen Worte des BVerfG zur in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Einehe als Begründungstatbestand der Familie liest, ist die Unterscheidung zwischen Polygamie der Frauen (Polygynie) und der Polygamie der Männer (Polyandrie). Als Gründe für die Ablehnung der weiblichen Polygamie werden angeführt: Es fehle eine göttliche Erlaubnis solcher Verbindungen. Es herrsche Ungewißheit über die Vaterschaft bei Kindern, die aus solchen Verbindungen entspringen. Nach der Empfängnis diene der Geschlechtsverkehr nur der Lustbefriedigung. Die verwandtschaftlichen Beziehungen würden verwirrt, was zur Aufgabe der daraus erwachsenden Verpflichtungen führt (Unterhaltsrecht). Der Verzicht auf die eheliche Treue der Frau hebe den Hauptunterschied zur tierischen Paarung auf. Sie sei unvereinbar mit der ehelichen, gegenseitigen Hilfe und der Befehlsgewalt des Gatten. Solche Frauen könnten nur schwer von Huren unterschieden werden 7 8 . So einheitlich die moralische Verwerfung der weiblichen Polygamie im Großen und Ganzen erfolgte, so kontrovers wurde die Berechtigung der Männer zur Polygamie diskutiert. Zur Verteidigung des Rechts des Mannes auf geschlechtliche Verbindungen mit mehreren Frauen wurde angeführt: Der Ehezweck lasse sich auch in der männlichen Polygamie verwirklichen. Die Unterordnung mehrerer Frauen unter einen Mann sei angesichts der Schwachheit der Frau keine Schande. Eifersuchtsszenen seien kein „Vorrecht" der polygamen Ehe. Die männliche Polygamie verletzte nicht den Grundsatz der natürlichen Gleichheit der Menschen, da dieser und die Gleichheit der gegenseitigen Leistungen zweierlei sind. Der Verkehr des Mannes mit einer anderen Frau bedeute nur dann einen Ehebruch, wenn die andere Frau verheiratet ist. Die männliche Polygamie stimme mit der Vernunft überein. 78

Ebd., S. 260 f.

II. Der inhaltliche Gehalt der „ E i n r i c h t u n g "

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Die männliche Polygamie würde zur Vervielfältigung des Menschengeschlechts beitragen 79 . Viele Völker, einschließlich des auserwählten Volkes Gottes, lebten polygam. Frauen seien öfter steril. Das Wohl des Staates werde durch die männliche Polygamie nicht beeinträchtigt 80 . Mit dem Naturrecht konnten andere Meinungen die Polygamie der Männer gerade nicht vereinbaren. Als Gegenargumente wurden angeführt: Der Gleichheitsgrundsatz - gleiches Recht für Jedermann. Die Unmöglichkeit, für einen Mann mehreren Frauen so eng seelisch verbunden zu sein, wie es die Ehe erfordere. Das Unvermögen des Mannes, bei einer Vielzahl von Frauen der Kindererzeugung und nicht der Lustbefriedigung zu entsprechen. Das Unvermögen des Mannes, eine Vielzahl von Kindern zu ernähren und zu erziehen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die Argumente weder überholt, noch ist eindeutig über sie entschieden. - Die Behandlung der polygamen Familie in der Rechtsprechung des BVerwG In einem Fall, der kürzlich das BVerwG beschäftigte, wurde ihre Existenz und die ihnen zugrundeliegende Problematik vollkommen verkannt. In dem der Entscheidung zugrundeliegendem Sachverhalt handelte es sich um eine Jordanierin, die die zweite Ehefrau ihres Mannes war und für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG beanspruchte. Sie lebte mit der kinderlosen Erstehefrau und dem Vater des Kindes zusammen. Das BVerwG war der Meinung die Frage, ob die Ehe der Klägerin als polygame Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt sei, dahinstehen lassen zu können 81 . Die in Art. 6 Abs. 1 GG ebenfalls geschützte Familienposition der Antragsstellerin als Mutter verstärke jedenfalls ihre Rechtsposition im Verfahren um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Diese Rechtsprechung ist die Konsequenz der Auffassung des BVerfG, die als Begründungstatbestand der Familie auch die Gemeinschaft von Mutter 79 80 81

Ähnliche Argumente finden sich im Nationalsozialismus. M. Erle: Die Ehe im Naturrecht des 17. Jahrhunderts, S. 261 ff. BVerwG 71 228 (231).

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

und Kind ausreichen läßt. Diese Rechtsprechung hindert nicht nur ein Zusammenleben von nicht verheiratetem Vater, Mutter und Kind unter den verfassungsrechtlichen Familienbegriff zu zwängen 82 . Sie hat auch das BVerwG ermutigt, in der vorliegenden Entscheidung jeglicher Systematik des Art. 6 GG zu widersprechen. Bisher waren nur folgende Begründungsprinzipien der Familie denkbar: Die Mutter lebt mit ihrem Kind zusammen, eine auf jeden Fall durch Art. 6 Abs. 5 GG mittelbar geschützte Gemeinschaft. Der Vater lebt mit dem nichtehelichen Kind zusammen; eine aus dem Schutzgedanken des Art. 6 Abs.5 GG vielleicht ebenfalls geschützte Gemeinschaft. Ehepartner leben mit dem Kind; eine bereits vom Wortlaut i n Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Gemeinschaft. Beide Partner leben mit ihrem Kind zusammen; eine oder vielleicht zwei nach Art. 6 Abs. 1 oder Abs. 5 GG als „Familie" geschützte Gemeinschaften. Die neue Familienkategorie im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG - jedenfalls nach der Rechtsprechung des BVerwG - w i r d aufgrund der angesprochenen Entscheidung lauten. Die Familiengewährleistung des Art. 6 Abs. 1 GG soll ein Zusammenleben von zwei Ehefrauen mit einem Mann und einem gemeinsamen Kind schützen. Ein vollkommener Bruch nicht nur in der kulturellen, sondern auch in der gesetzlichen Systematik sowohl des Art. 6 Abs. 1 GG als auch unseres Ehegesetzes (§20 EheG). Selbstverständlich findet nach den Regeln des internationalen Privatrechts das Ehegesetz auf die hier zu beurteilende Ehe keine Anwendung. Das Bigamieverbot steht aber im untrennbaren Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 GG, das eine Gleichberechtigung der Mitglieder innerhalb einer Familie vorschreibt. Eine Familienform, die lediglich einem Mitglied, nämlich dem Mann, die Polygamie gestattet, kann deshalb nie dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfallen. Hier ist eine Familienform in der Rechtsprechung eines höchsten Bundesgerichts verfassungsrechtlich geschützt worden, die in Widerspruch zu Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 6 GG besteht. Auch vermißt man in der angesprochenen Entscheidung eine Auseinandersetzung mit dem Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG. Eine Familie, die aus einer Mutter, einem Vater und einem Kind besteht ist etwas qualitativ anderes als die Lebensgemeinschaft von zwei Ehefrauen und einem Vater. 82 Siehe hierzu Th. Maunz in Maunz-Dürig: Art. 6 GG Anm. 16 a, der hier das Vorhandensein zweier Familien annimmt.

II. Der inhaltliche Gehalt der „ E i n r i c h t u n g "

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Die Ehefrau, die nicht Mutter ist, kann auf das Kind eifersüchtig sein, vielleicht muß sie auch gegen die Zweitehefrau und Mutter intrigieren, um selbst in der Wertschätzung des Mannes, der Zentrum eines solchen Familienbegriffs sein muß und nicht das Kind, zu steigen oder ihren Rang zu bewahren. Es geht hier nicht an, einfach aus dem Schluß von der kleineren auf die größere Einheit eine Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG zu bejahen. Auch wenn das BVerfG die Mutter-Kind-Einheit als Familie geschützt hat, dann stellt sich eine Lebensgemeinschaft, in der Mutter und Kind nicht mit einem Vater, sondern zusätzlich noch mit einer zweiten Ehefrau zusammenleben, nicht als eine nur bloß quantitativ größere Einheit dar. Die in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Kernfamilie basiert auf der Intimität, die zwischen den Mitgliedern herrscht. Weder ist die kinderlose Erstehefrau mit Vater, Mutter und K i n d verwandt, noch kann von vornherein davon ausgegangen werden, daß sie für das Kind Betreuungsfunktionen erfüllt. Diese Familienform ist deshalb von vornherein - jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils im konkreten Fall - mit einer gefühlsmäßigen Konkurrenzsituation belastet. Eine Meinung, die unter Hinweis auf eine weite Eheschließungsfreiheit in Art. 6 Abs. 1 GG, auch solche, wie die oben geschilderten Lebensformen als Familie in Art. 6 Abs. 1 GG schützen will, vernachlässigt die Bedeutung des Modells der ehelichen Familie und auch einer „ungestörten" Einheit von Mutter und K i n d 8 3 - 8 4 . - Eigener Lösungsvorschlag Zuerst muß eine Behandlung der Rechtspositionen der Zweitehefrau und ihres Kindes bzw. ihrer Kinder unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 Abs. 5 GG erfolgen. Wenn die Mutter in einer Gemeinschaft lebt, die weder eine Ehe, noch eine Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG darstellt, dann ist die Gemeinschaft von Mutter und Kind mittelbar durch Art. 6 Abs. 5 GG geschützt. Denn es gehört zu den gleichen Bedingungen für die leibliche und seelische Entwicklung, daß die Gemeinschaft mit fürsorgebereiten Elternteilen erhalten bleibt. Art. 6 Abs. 5 GG hat aber in der Handhabung durch die Gerichte augenscheinliche Nachteile. Zum einen richtet er sich vom Wortlaut her nur an den Gesetzgeber. Zum anderen ist seine heutige Geltung als objektive Grundsatznorm zwar unumstritten, war aber lange Zeit im Hinblick auf die Programmsatznatur der Regelung heftig attackiert worden. Zum dritten ist 83 84

2

H. Lecheler: Verfassungsgarantie und sozialer Wandel, DVB1 1986, S. 906. Ebd., S. 906, Fn 7. Schmid

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

es zumindest vom Wortlaut her fraglich, ob Art. 6 Abs. 5 GG ein subjektivöffentliches Recht des nichtehelichen Kindes - vergleichbar mit Art. 6 Abs. 1 GG - begründet 85 . Zudem schützt Art. 6 Abs. 5 GG das Zusammenleben von Elternteil und Kind nur mittelbar, nämlich über die Schaffung „gleicher Bedingungen" für das Kind. Art. 6 Abs. 4 GG, der zwar als Grundrecht ausgestaltet ist, schützt auch nur mittelbar das Zusammenleben der Mutter mit dem Kind (Fürsorge). Aufgrund der Systematik des Art. 6 GG kann man nicht davon ausgehen, daß ein Zusammenleben von Eltern mit ihren Kindern schon unter den Elternbegriff fällt (arg. e Art. 6 Abs. 3 GG). Zudem würde Art. 6 Abs. 4 GG nur die Mutter, und nicht den Vater, der mit seinem Kinde alleine zusammenlebt, schützen. Art. 6 Abs. 3 GG würde im vorliegenden Fall ebenfalls nicht helfen, da er vom umgekehrten Fall, nämlich der Trennung der Kinder von der Familie und nicht vom Fall der Trennung 86 eines Erziehungsberechtigten von der Familie ausgeht. Übrig bliebe Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Er schützt das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehimg ihrer Kinder. Dieses Recht ist zeitlich - die Pflegeund Erziehungsbedürftigkeit der Kinder - und sachlich - die Plege- und Erziehungstätigkeit - umgrenzt. Dies bedeutet für den konkreten Fall, daß sich die jordanische Mutter nur insoweit auf eine Rechtsposition innerhalb des Art. 6 Abs. 2 GG berufen kann, als ein Zusammenleben mit ihrem Kind zu dessen Pflege und Erziehung und für die Ausübung ihres Erziehungsrechts nötig ist. Dies ist eine entscheidende Minderung ihrer Rechtsposition im Vergleich zur Zuerkennung der Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 GG. Der Schutz ihres Zusammenlebens mit dem Kind wird nämlich, da außerhalb von Art. 6 Abs. 1 GG stehend, der Ausübung einer Funktion bzw. eines Rechts und einer Pflicht unmittelbar beigeordnet. Angesichts unserer Erfahrungen im Nationalsozialismus und unserer veränderten Einstellung zum Verhältnis von Individuum und Staat, ist einer solchen funktionale Betrachtungsweise einer Grundrechtsausübung mit Vorsicht zu begegnen. Hierin besteht der entscheidende Unterschied zwischen Art. 6 Abs. 1 und 2 GG. Während bei Art. 6 Abs. 1 GG der besondere Schutz einer bestimmten Gemeinschaft zukommen soll und diese Gemeinschaft aufgrund bestimmter Rasterdaten, wie bei der ehelichen Familie, klar identifizier- und abgrenzbar ist, kann dies für die „Eltern" i m Sinne von Art. 6 Abs. 2 GG nicht uneingeschränkt gelten. Bei der ehelichen Familie des Art. 6 Abs. 1 GG spricht eine bestimmte Vermutung für die Kindeswohlwahrung allein auf85 Art. 6 Abs. 5 GG soll wegen der einfachgesetzlichen Aktualisierung nun ein subjektives Recht beinhalten, E. M. v. Münch: Art. 6 GG, Rdn. 40. 86 Bei erfolgter Ausweisung und Abschiebung.

II. Der inhaltliche Gehalt der „Einrichtung"

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grund der Eheschließung der Eltern und ihrer damit nach außen bekundeten Verantwortung füreinander. Eine solche Vermutung kann die Gemeinschaft von Eltern und Kindern, denen Art. 6 Abs. 1 GG nicht zugutekommt, nicht angenommen werden. Hierfür eröffnet bereits die wörtliche Auslegung bei Art. 6 Abs. 2 GG entscheidende Argumente. Zum einen w i r d i n Satz 1 von der Pflicht der Eltern gesprochen - eine i m Grundrechtsteil sonst - abgesehen von Art. 14 Abs. 2 GG - vollkommen unübliche Betrachtungsweise; zum anderen w i r d diese Pflicht und deren Funktionscharakter durch die Einsetzung des Staates als Wächter i n Satz 2 nochmals betont. Die Aufgabe der Erziehung und Pflege von Kindern w i r d damit zum Strukturprinzip der Familie. Anders als bei sonstigen Grundrechten, bei denen eine solche funktionale Auslegung mit dem Freiheitscharakter des Grundrechts kollidiert, verliert die Familie ihre Identität ohne diese Sorgebefugnis. Einen Egoismus nebeneinander schützt die Verfassung i n Art. 6 Abs. 1 GG nicht „besonders". Damit die Funktion der Familie als solche geschützt ist und nicht voll vom Staat überprüfbar ist, gewährt Art. 6 Abs. 1 GG besonderen Schutz. Ehe und Familie erhalten hier besonderen Schutz, ohne daß es auf die Wahrnehmung der Erziehungsaufgabe i m Einzelnen besonders ankäme. Dies bedeutet, daß soweit eine Lebensgemeinschaft direkt unter Art. 6 Abs. 1 GG fällt, sie vom Staat auch besonders zu schützen ist, ohne daß im Einzelfall ohne weitere Anhaltspunkte überprüft werden darf, inwieweit sie i m konkreten Fall Erziehungs- oder sonstige Aufgaben wahrnimmt. Diese Argumentation löst sich von außerrechtlichen Lebensordnungen, wie ζ. B. dem Naturrecht ab und kann sich auf der anderen Seite nicht auf Belegstellen i m einfachen Recht berufen. Dies sind aber die beiden Auslegungsansätze zur Institution des Art. 6 Abs. 1 GG, die innerhalb der Lehre von den Einrichtungsgarantien zu Art. 6 Abs. 1 GG vertreten werden. - Ein Ansatz w i l l i n Abkehr von der außerrechtlichen Ordnung das s,Wesen" der Familie „. . . aus dem vorhandenen Normenbestand das Wesen des Regelungsgegenstandes durch eine induktive Interpretation" 8 7 ermitteln. - Der andere w i l l die jahrhundertealte Beschäftigung der „Philosophie" für das juristische Begreifen der Institution Familie nutzbar machen, indem der Verfassungsgewährleistung der (besondere) Bezug zu einem kulturstaatlichen Gesamtsystem zugesprochen wird. Überschrieben werden kann eine solche Auffassung mit dem Begriff „Familie als kulturelle Leistung eines Staates und/oder einer Gesellschaft" 88 . 87

H. Lecheler: Der Schutz der Familie, FamRZ 1979, S. 3. P. Häberle: Verfassungsschutz der Familie - Familienpolitik im Verfassungsstaat, S. 1 ff (26: „ . . . ist der Begriff Familie „i.S. des GG" durch eine Vielfalt von Erscheinungsformen der Familie als kultureller Gestalt gekennzeichnet"). 88

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Wenn die beiden oben geschilderten Ansätze bei Art. 6 Abs. 1 GG zu nicht überzeugenden Ergebnissen führen, dann muß man sich erneut mit dem dritten Ansatz, nämlich einer „Entscheidung" innerhalb der Institution Familie näher befassen. d) Die induktive Methode Der „induktive" Ansatz kann vor allem die Eindeutigkeit seiner Verfahrensweise für sich sprechen lassen. Das Aussuchen und die Zusammenfassimg der gesetzlichen Vorschriften, die Familie zum Regelungsgegenstand haben, erscheint auf den ersten Blick einfach. aa) Die Bestandsaufnahme Die Suche w i r d erst einmal bei den Vorschriften beginnen, die die „Familie" nennen und dann mit einer kurzen Bestandsaufnahme enden. Abgesehen von unserer Verfassung, scheint die normgeberische Verwendung des Begriffs „Familie" ein „Verschreiben" zu sein. Lediglich in neueren und sehr verstreuten Vorschriften w i r d die „Familie" im bürgerlichen Recht und öffentlichen Recht überhaupt genannt. Ein Beispiel mit Seltenheitswert: § 1356 Abs. 2 S. 2 BGB ordnet bei der Aufnahme von Erwerbstätigkeit durch die Ehegatten die Berücksichtigung der Belange der Familie an. § 35 Abs. 5 Nr. 1 BBauG gewährt einen verstärkten Bestandsschutz bei Außenbereichsvorhaben, wenn ein Wohngebäude für den „Eigenbedarf des bisherigen Eigentümers oder seiner Familie" genutzt werden wird. Gegenbeispiel: Bei der Zuweisung von Aufenthaltsorten an Ausländer, die einer Asylantrag gestellt haben, soll nicht die „Familie" sondern die „Haushaltsgemeinschaft von Ehegatten und ihren Kindern unter 18 Jahren" berücksichtigt werden (§ 22 Abs. 6 AsylVfG). Woraus ergibt sich der Inhalt der Einrichtung „Familie"? Die Summe der familienrechtlichen Regelungen des BGB, wie ζ. B. der Bestimmungen über - das Unterhaltsrecht; - das Recht der elterlichen Sorge; - das Namensrecht; - das Verwandtschaftsrecht, usw. vermag nach dem oben Gesagten den Inhalt der Verfassungsfamilie nicht a priori festzuschreiben. Daraus folgt weiter, daß der bloße Verweis auf einfachgesetzliche Regelungen als Auslegungsargument für eine Einrichtungsgarantie nicht genügt 89 . 89

BVerfGE 53 224 (245), 10 59 (66).

II. Der inhaltliche Gehalt der „ E i n r i c h t u n g "

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Allein mit einer induktorischen Gesamtschau bestehender gesetzlicher Regelungen kommt man also bei der Inhaltsermittlung der Institution Familie nicht zu Rande. Deshalb bedarf auch ein Vorschlag, der die Auslegung des Art. 6 GG an den vorhandenen Normenbestand knüpft, eines weiteren Begründungsarguments. Und zwar sollen „Strukturelemente" in diesem Normenbestand gefunden werden und der Nachweis ihrer Rechtstradition jedenfalls über die Zeit der Weimarer Republik hinaus maßgeblich für die Institution Familie sein 90 . Dieses Argument verträgt sich nicht mit der in der Literatur heute vertretenen Meinung, daß das einzig Kontinuierliche in der Geschichte der Familie der Wandel sei 91 . bb) Steht der Wandel der Familie einem induktiven Ansatz entgegen? Wenn der Wandel das einzige Kontinuum der Familie wäre, dann bliebe für die Herausarbeitung sonstiger Strukturprinzipien wenig Raum. Auch hier zeigt sich wieder, wie notwendig es ist, bei der Familie zwischen der Rechtsgeschichte und der Sozialgeschichte der Institution zu differenzieren. Innerhalb dieser beiden Geschichtsbetrachtungen muß zwischen dem Verhältnis von Familie und Staat, dem Verhältnis der einzelnen Familienmitglieder zueinander und des einzelnen Familienmitglieds zum Staat unterschieden werden. Faßte man die aus dem Vergleich der Rechts- und der Sozialgeschichte oben gewonnen Ergebnisse zusammen, so ließen sich folgende Thesen zum Wandel der Familie formulieren: - Die Rechtsgeschichte der Familie ist durch drei Stadien gekennzeichnet: Zum einen der staatlichen Nichtregelung spezieller familiärer Belange, da diese der Regelungsmacht des in den Staatsaufbau eingebundenen Patriarchen zugestanden wurden. Ein Beispiel: der römische paterfamilias und seine potestas. Die zwar theoretisch interessanten, in ihrer Durchsetzung aber nicht wirksamen augusteischen Ehegesetze beeinflußten den Begründungstatbestand der Familie. Zu einer Regelung der Familienbeendigung bzw. des Machtmißbrauchs des Patriarchen gelangte ein solches Rechtssystem nicht. Der Tod des Patriarchen beendete die Familienzugehörigkeit der Mitglieder zu seiner Familie; allenfalls die öffentliche Meinung hinderte den Patriarchen an der Ausübung seines ius vitae ab necis. 90

H. Lecheler: Der Schutz der Familie, FamRZ 1979, S. 3. H. Lecheler: Verfassungsgarantie und sozialer Wandel, DVB1 1986, S: 905 der behauptet, davon könne man „fast" sprechen. 91

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Die zweite Phase w i r d gekennzeichnet durch die punktuelle, gesetzliche Erfassung einzelner Familienangelegenheiten. Ein Beispiel hierfür ist das Recht der stillenden Ehefrau, den Beischlaf zu verweigern (ALR). Die dritte Phase ist durch das Generalklauselprinzip des BGB eingeleitet worden. Nicht einzelnen Angelegenheiten werden zum Inhalt der familiengesetzlichen Regelung gemacht, sondern die Bezugnahme auf Generalklauseln (§§ 1353, 1618 a BGB) hindert den Gesetzgeber an der Einzelgesetzgebung, eröffnet aber der staatlichen Rechtssprechung weitgehende, einzelaktgemäße Zugriffsrechte. Interessant ist hierbei, daß gerade beim BGB, das von Anfang an über die Generalklausel des ehelichen Zusammenlebens verfügte, im Familienbereich ursprüngliche eine dem ALR vergleichbare Regelung gewählt wurde. Zum Beispiel wurde das Erziehungsrecht der Eltern über die Kinder als ein Bestandteil des Familienlebens rechtlicher Regelung zugeführt, während andere Bereiche, wie die Pflicht zu Gehorsam nicht aufgenommen wurden. Erst in neuerer Zeit, nämlich durch die Einführung des § 1618 a BGB, w i r d das Familienrecht durch die Einführung von Generalklauseln mit dem Eherecht „parallelisiert". - Im Verhältnis der einzelnen Familienmitglieder zum Staat bahnte sich ebenfalls eine tiefgreifende Wende an. Von den Anfängen der Erkämpfung von Rechten des Individuums gegenüber dem Staat - mit der Abschaffung der Identität von Regierenden und Regierten - billigte man in der Folgezeit auch den unter elterlicher Gewalt stehenden Menschen ein unmittelbares Rechtsverhältnis zur staatlichen Gewalt zu 9 2 , wenn auch keine Grundrechte, die ζ. B. auf die Schaffung einer Familie gerichtet waren. Wenn unter Geltung des GG ein Wandel der Familie im Laufe der Rechtsund Sozialgeschichte festgestellt wird, dann wird diese Feststellung in ihrem Aussagegehalt aufgehoben, wenn gleichzeitig ein Wandel der Staatsideen festzustellen ist, und maßgebendes Strukturprizip der Familie gerade die unmittelbare Verbindung mit dem Staat ist. Dies trifft unter allen Grundrechtgewährleistungen allein für Art. 6 GG zu. Hier wird das 92 Den Höhepunkt hat diese Entwicklung wohl in der Diskussion um die der Grundrechtsmündigkeit von Kindern gefunden. Dabei geht es um die Frage, ob „ K i n der" auch gegen den Willen ihrer Erziehungsberechtigten grundrechtlich gewährte Freiheiten ausüben können. Beispiel: Die Entscheidung Minderjähriger über ihre Gewerkschaftszugehörigkeit. Dies ist aber eine Entwicklung, die nur die Fortsetzung der Erkämpfung allgemeiner staatsbürgerlicher Rechte ist - und deshalb i n ihrem Einhergehen mit unserer sonstigen, gesellschaftlichen Entwicklung, keineswegs als „Wandel" qualifiziert werden muß. Hier w i r d ein Ende elterlicher Bestimmung über die Ausübung bestimmter Grundrechte durch die Kinder festgelegt. Bereits im schützenden Rahmen der Familie wird die Verwirklichung einzelner Freiheiten „probiert". Das grundsätzliche Verhältnis von Familie und Autorität - die Familie bringt den Nachwuchs für einen bestimmten Staat hervor und umgekehrt - wird durch diese Anpassung an die allgemeinen Verhältnisse gerade nicht berührt.

II. Der inhaltliche Gehalt der „ E i n r i c h t u n g "

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Verhältnis des Staates zu den zukünftigen Trägern, Verfechtern und Verweigerern seiner Staatsidee geregelt. Es wird festgelegt, wie sie geboren, aufwachsen und erzogen werden. Ein Wandel wäre nur dann festzustellen, wenn den Kindern eigene, subjektive Rechte aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG auf Schaffung von Familien und Erziehung durch den Staat zugestanden würde. Ein solches subjektives, die Familie „überragendes" Grundrecht des Kindes ist aber gerade nicht anerkannt. Ein Wandel in der Qualität des Verhältnisses von Familie und Staat ist damit nicht festzustellen. Es bleibt bei einer unmittelbaren Verknüpfung von Regierungsund Familienform, wobei die Wechselseitigkeit dieses Verhältnisses eine Entscheidung darüber, welche Regierungsform welche Familienform oder umgekehrt hervorbringt, nicht getroffen werden kann. - Gewandelt hat sich das Innenverhältnis innerhalb der Familie, d. h. das Verhältnis der beiden Gatten zueinander, und auch der Kinder zu ihren Eltern. Hier ist das Verfassungsrecht in sonst untypischer Weise Träger des Wandels selbst geworden; mit einer Wirkung, die nur noch Programmsätzen wie z. B. Art. 6 Abs. 5 GG vergleichbar ist. Der einfache Gesetzgeber mußte sich deshalb in Ehe- und Familienrechtsreformen, von der Schlüsselgewalt und Vermögensherrschaft des Mannes und der Nichtverwandtschaft des nichtehelichen Kindes mit seinem Vater, wenn auch widerstrebend, lösen. Anhaltspunkt für den Widerstand in den demokratisch repräsentativ gewählten Gesetzgebungskörperschaften ist vor allem die Zeit, die es dauerte, bis diese verfassungsrechtlich angeordneten Reformen Wirklichkeit wurden 9 3 . In Bezug auf das Verhältnis der einzelnen Familienmitglieder zueinander, auf das Innenverhältnis der Familie, läßt sich eine Neuordnung durch das GG feststellen. Falls man aber hier von einen Wandel sprechen will, betrifft er - lediglich mit Ausnahme von Art. 3 Abs. 2 GG - das verfassungsrechtlich nicht geregelte Innenverhältnis. - Im Verhältnis von Familie und Staat - also im Außenverhältnis - hat sich in den letzten 2000 Jahre nichts geändert. Genauso wie sich die augusteischen Ehegesetze in ihrer Intention in der nationalsozialistischen Familien- und Ehegesetzgebung wiederfinden, besteht auch heute ein unmittelbares Interesse des Staates an der Wahrnehmung von Erziehungs- und Fürsorgeaufgaben durch die Familie. Hinzugekommen ist lediglich ein dialektisches Verständnis beider Institutionen zueinander. Die Familie läßt sich nicht mehr in das Schema einzelner-Familie-Staat als Unterbau 93 Zum einem war anfangs die sofortige Geltung von Art. 3 GG umstritten (BVerfGE 3 255, BGHZ: 10, 266); zum anderen wurden·die §§ 1628 und 1629 Abs. 1 BGB in der Fassung des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18.06.1957 (BGBl. 1959,1, 633) für nichtig erklärt, weil sie mit Art. 3 GG i n Widerspruch standen. Auch die Reform des Nichtehelichen Rechts ließ bis zum 01.07.1970 (Gesetz über die Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.08.1969) auf sich warten.

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

des Staates einbauen. Die Familie ist nicht mehr kleiner Staat, sondern „Nicht-Staat". Dies ist wohl die Konsequenz, die w i r aus unserer nationalsozialistischen Vergangenheit zu ziehen haben, die gezeigt hat, daß das Aufwachsen in einem privaten und intimen Umfeld wichtig ist, um die Aufzucht von Menschen, die in ihren Meinungen staatlich gesteuert und determiniert werden, zu verhindern. Die Familie ist als „Nicht-Staat" für eine demokratische Ordnung genauso bedeutend, wie es die patriarchalisch geordnete Familie im ALR war. Sie w i r d zur Institution demokratischer Resistance gegen totalitäres Machtstreben und schützt damit ein bestehendes, demokratische Staatsgefüge. Dieses „Zurückstehen" staatlicher Ordnungsvorstellungen gegenüber dem inneren Familienbereich läßt sich als Strukturprinzip aus den einfachgesetzlichen Regelungen des Zeugnisverweigerungsrechts in § 383 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 - 3 ZPO und § 52 Abs. 1 StPO entnehmen. Hier wird nämlich die materielle Gerechtigkeit, die in einem Rechtsstaat (Art. 20, 28 GG) hohe Priorität besitzt, gefährdet, indem gegenüber diesem familiären Personenkreis auf die sonst möglichen Mittel der Verpflichtung zur Zeugenaussage (Ordnungsgeld und Ordnungshaft) verzichtet wird 9 4 . Diese Beispiele machen deutlich, daß mit dem Begriff der „Keimzelle" nicht ausgesagt ist, daß die Familie der Keim des Staates ist. Diese Aussage mag - soweit man verschiedenen Theorien über die Entstehimg des Staates folgt - bei der Herrschaftsfamilie, also einem familiaren Staatssystem, zugetroffen haben. Die heutige Familie bringt lediglich die Staatsbürger hervor, ist also nicht mehr immittelbarer Träger staatlicher Macht. Die Gewährleistung der Familie hat damit eine Vorschaltfunktion zur Ausübung der sonstigen grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten in unserem Rechtssystem. Im Regelfall prägt nicht ein mit öffentlichen Aufgaben Betrauter (Art. 33 Abs. 4, 5 GG) den künftigen Wähler, sondern Rechtssubjekte des Privatrechts, nämlich seine Eltern. Dieses individuelle Eingehen auf das einzelne Kind - im Gegensatz zur Anstaltsordnung von Jugendheimen - soll das „ K i n d " an moralische Freiheit und Verantwortung - und nicht vorrangig an gesetzliche - gewöhnen und zur Übernahme derselben fähig machen. Art. 6 Abs. 1 GG w i l l damit den künftigen „Staatsbürger" in einem Entwicklungsstadium schützen, in dem er weder gerichtlich noch verstandesmäßig die Wahrung seiner Rechte durchsetzen kann. Dies ist wohl auch das „Revolutionäre" an den Familiengewährleistungen der WRV und des GG. Art. 6 GG ist aber hier wiederum in der Kontinuität zu der Anerkennung der Grund94 Ein weiteres Beispiel besteht in der Straflosigkeit beleidigender Äußerungen im Familienkreis. „Der Grund der Straflosigkeit kann deshalb nur darin liegen, daß hier dem Bedürfnis Rechnimg getragen wird, einen Freiraum zu haben, i n dem sich der Mensch aussprechen und dabei auch aufgestauten Emotionen Luft verschaffen kann, ohne deswegen seine Bestrafung befürchten zu müssen...; Th. Lenckner in: Schönke/ Schröder: Strafgesetzbuch, München, 1982, Vorbem. 9 vor § 185 ff.

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rechte - und zwar positiver Grundrechte, und nicht nur negativer Entschädigungsrechte wie unter Geltung des ALR - zu sehen. Auch Freiheit bedarf einer gewissen Erziehung, und diese hat das GG der Familie überantwortet. Diese neue Aufgabe stellt aber keinen grundsätzlichen Wandel im Verhältnis von Familie und Staat dar. Genauso wie nämlich früher der blind autoritätshörige Staatsbürger für eine Monarchie oder eine Diktatur notwendig war, so ist es heute der autonom bestimmte Mensch, der zwischen Entscheidungsalternativen zu wählen vermag. Die Form der Familie hat sich hier also in Harmonie der Form des Staates angepaßt. Es hängt von der Definition des Wandels ab, ob man in diesem nahezu unverändert bestehenden Abhängigkeitsverhältnis einen solchen sehen will. - Auch in der Sozialgeschichte läßt sich - wie oben gezeigt - ein Wandel lediglich in zweierlei Hinsicht feststellen: Zum einen in Bezug auf die Halbfamilie, bestehend aus Mutter und Kind und auf die Zweitfamilie. Die Mutter und ihr Kind waren früher nicht existenzfähig. Erst die Möglichkeit einer Berufstätigkeit der Frau und der Sozialstaat schuf die Möglichkeit eines Zusammenlebens von Mutter und K i n d als eigene „Familie", und nicht nur im Hause des Vaters der Mutter. Des weiteren ist die Form der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern ein relativ neues Phänomen. Aber nur ein verschwindend geringer Bruchteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften hat tatsächlich gemeinsame Kinder (siehe unten), die weit überwiegende Anzahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften besteht aus Restfamilien in Folge von Scheidung oder Tod eines Ehepartners und den danach dazugekommenen neuen Lebenspartnern (Zweitfamilien). Die meisten nichtehelichen Lebensgemeinschaften gelangen demgegenüber über das Stadium der vorehelichen Lebensgemeinschaft nicht hinaus. Sie sind Gemeinschaften auf Probe, die vorbereitend auf die Ehe eingegangen werden. Auch in Bezug auf die erweiterte Familie, die dem Schutz des Art. 6, Abs. 1 GG unterstellt werden soll, ergibt sich genaugenommen kein Wandel, der für Juristen exakt nachweisbar wäre. Die historische Familienforschung spricht hier von zwei Doktrinen, nämlich dem „Mythos von der Großfamilie" auf der einen, und dem „Mythos vom Funktionsverlust der Familie" auf der anderen. Feststellbar ist jedenfalls, daß sowohl Kernfamilienformen als auch Formen der erweiterten Familie in bestimmten Klassen und Schichten auch in den vergangenen Jahrhunderten verbreitet waren. Wer heute von einem Wandel diesbezüglich sprechen, bzw. die erweiterte Familie in Art. 6 GG geschützt sehen will, muß den Standort seines Familienbildes in Schicht und Zeit angeben.

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Die Konsequenz dieser Thesen ist, daß sich eine induktive Methode trotz des Einwandes eines Wandels der Familie bzw. der Familienformen argumentativ sehr wohl vertreten ließe. Ein Haupteinwand, der in dieser Form bisher nicht erhoben wird, bleibt aber bestehen. cc) Die Freiheit vor dem Recht als notwendiger Schutz einer staatsfremden, freiheitlichen Familie Eine der größten kodifikatorischen Glanzleistungen des 20. Jahrhunderts, nämlich das BGB, das sonst sehr wohl zu Legaldefinitionen fähig war, hat sich nicht nur zufällig einer Legaldefinition der Familie, bzw. der Verwendung des Familienbegriffs entzogen. Vielmehr spaltete das BGB die Familie in Eltern-Kind-Beziehungen, in Verwandtschafts-Beziehungen und in Unterhalts-Beziehungen auf. Und genauso wie diese unterschiedliche Behandlung unterschiedlicher Sachverhalte sachgemäß schien, genauso groß ist ihre Schwäche in der Aufzeigung einer grundsätzlichen Familienstruktur. Nur deshalb war es möglich, quasi von einem Tag auf den anderen, die Verwandtschaft des nichtehelichen Vaters mit seinem Kind anzuerkennen und diese Gemeinschaft zur verfassungsrechtlichen Familie zu stilisieren. Das Wesen der Familie ist aber vielleicht, so man der hier vertretenen Auffassung folgt, durch eine Freiheit vom Recht im Familieninternum geprägt. Folglich ist eine Ermittlung des Wesens der Familie aus einem Normenbestand heraus immöglich, da die Freiheit von der Norm lediglich Gegenstand der Verfassungsnormen sein kann, nicht aber in einfachgesetzlichen Normen enthalten sein kann. Dem gleichen Problem nähert sich auch die Arbeit von F. Klein 9 5 , der hinsichtlich des Garantieinhalts vier Unterscheidungen traf: (1) Selbständige Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte; (2) Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindung mit Garantien von (Rechts)Einrichtungen; (3) Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindimg mit Grundrechten und (4) Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindung mit Rechtseinrichtungen und Grundrechten. Zu 1: (Selbständige) Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte fänden sich seiner Ansicht nach im GG nicht. Für den Bereich von Ehe und Familie entspricht dies wohl auch der Rechtssprechung des BVerfGE, das bei der Aus95 F. Klein in v. Mangoldt/Klein: Kommentar zum Grundgesetz, Vorbemerkungen A V I 3 c.

II. Der inhaltliche Gehalt der „ E i n r i c h t u n g "

331

legung von Art. 6 GG neben den „überkommenen Lebensformen" und den „herrschenden Anschauungen" auf die „konsequent beibehaltene gesetzliche Regelung" abstellt 96 . Für die Familie erscheint es angesichts ihrer Rechtsgeschichte wohl auch gekünstelt, sie als gesellschaftlichen Sachverhalt in der Verfassung geschützt zu sehen. Kennzeichnend für die Familienrechtsgeschichte war die punktuelle gesetzliche Erfassung einzelner Familienrechte und -pflichten bis zum Erlaß des BGB. An die Stelle dieses „Wesentlichkeitsprinzips" der Gesetzgebung trat mit dem BGB das Prinzip der Generalklausel. Dies hatte zum einen den Vorteil, daß nur noch die Mißbrauchsgrenze, oder der Rahmen familiärer Verantwortung einzelgesetzlich gezogen wurde, der Innenraum also rechtsfreier wurde. Auf der anderen Seite konnten Einzelfallentscheidungen vor allem der Rechtsprechung unter Geltung der Generalklausel auf den gesamten familiären Raum zugreifen. Im Hinblick auf beide Prinzipien erscheint es unwahrscheinlich, daß sich der Verfassungsgeber einen rechtsfreien Familienraum vorgestellt hat, als er lediglich den gesellschaftlichen Sachverhalt Familie schützen wollte. Mit dieser Feststellung w i r d aber all denjenigen Daten der Boden entzogen, die allein auf ein faktischen gelebtes Familienverhalten bei der Auslegung von Art 6 Abs. 1 GG Bezug nehmen. Zu 2: Hier w i r d ein gesellschaftlicher Sachverhalt durch die rechtliche Normierung auch von rechtswegen anerkannt 97 . Zu 3: Für die dritte Kategorie wird als Beispiel Art. 13 GG zitiert. Hier werde zum einen das subjektiv öffentliche Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung gewährleistet, und andererseits der gesellschaftliche Sachverhalt Wohnung garantiert. Zu 4: Ehe und Familie müßten wohl unter die letzte Kategorie eingeordnet werden, da es sich hier um Garantien gesellschaftlicher Sachverhalte in Verbindung mit einer Rechtseinrichtung und einem Grundrecht handelt. Diese Kategorisierung ist eine Absage an die eindimensionale, rechtliche Begründung der Institution der Familie, genauso wie an eine jede weitere Begründung ersetzende, gesellschaftliche, biologische oder naturrechtliche Argumentation. Sie ermöglicht es außerdem das Gegen- und Miteinander von objektiv-institutioneller und subjektiv-intentionaler Ebene 98 bei der Familie mit den Rechtsbegriffen „Einrichtungsgarantie" und „Grundrecht" zu erfassen. Die Einteilung F. Kleins ist wohl auch ein Argument, das uns einen Rückgriff auf außerrechtliche Sachverhalte bei der Ermittlung des Inhalts der Institution Familie erlaubt. 96 BVerfGE 6 55 (82). 97 Nach F. Klein sei Anwendungsbereich dieser Garantie Ehe und Familie. Dies ist konsequent, da bei Art. 6 GG vertreten wurde, daß er keine Individualgarantie enthalte. 98 Thesen des Mitberichterstatters H. Steiger zur Staatsrechtslehrertagung 1986, I I I Nr. 4, S. 89.

332

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

e) Der Rückgriff

auf außerrechtliche

Lebensordnungen

- Gegen einen Rückgriff auf außerrechtliche Ordnungen spricht vor allem, daß die Auslegungstheorie sich damit juristisch logischer Ausgangs- und Anhaltspunkte beraubt. - Auf der anderen Seite ist der Schritt zum Außerrechtlichen, wie oben gezeigt, unvermeidbar. Wichtig sind nun die Konsequenzen, die man aus dieser Grundaussage zieht. Bleibt man bei ihr stehen, und glaubt man aus einer Summe theologischer, politischer, philosophischer, literarischer und juristischer Betrachtungsweisen das Wesen der Familie des Art. 6 GG erschließen zu können", so ist dies sicher kein tauglicher Auslegungsansatz. So vielschichtig die einzelnen Aspekte der Familie in unserem Leben sind, so wenig darf von diesen Aspekten auf die verfassungsrechtliche Familie unmittelbar zurückgeschlossen werden. Dies wäre ein Schluß von der Rechtsfolge auf den Tatbestand, der in unserem Recht nicht zulässig ist. Zum anderen hat die oben wiedergespiegelte Diskussion der Polygamie gezeigt, daß sich aus theoretisch konstituierten Ordnungsvorstellungen lediglich begründete Aussagen, nicht aber juristische Gewißheiten gewinnen lassen. Die Entscheidung sollte deshalb nicht in diesen Vorstellungsbildern, sondern innerhalb der juristischen Auslegungsmethodik gefällt werden. Das zwingt zu folgenden Konsequenzen: Wenn man für die Auslegung von Art 6 Abs. 1 GG Ergebnisse aus anderen Wissenschaftsgebieten, die sich mit der Erforschung des Lebenssachverhalts Familie befassen, heranzieht, dann müssen diese genannt und die grundsätzliche Prämissen dieser Forschungen offengelegt werden. Es ist beispielsweise unzulässig, in der juristischen Diskussion vom Plausibilitätsverlusten der ehelichen Familie zu sprechen, ohne dies durch Fakten oder Zahlen belegen zu wollen. Zwar können Zahlen in gleichem Maße manipuliert werden wie Meinungen. Ein positiver Wert solcher Pauschalaussagen w i r d angesichts der differenzierten Diskussionen in der Soziologie um die Gültigkeit und Erhebungsart empirischer Aussagen und Daten nicht festgestellt werden können. Um zu vermeiden, daß sich Einzelargumente, die verschiedenen Wissenschaftsgebieten entlehnt sind, im Kontext des Art. 6 Abs. 1 GG widersprechen, muß man innerhalb dieses Artikels zu einer Struktur gelangen, die die juristischen („Garantie") und die durch andere Erkenntnisfelder erfaßbaren Tatbestandsmerkmale der Norm („Einrichtung") zumindest gliederungsmäßig trennt. 99 So P. Häberle: Verfassungsschutz der Familie - Familienpolitik im Verfassungsschutz, Besprechung von M. Zuleeg: NJW 1986, S. 2484.

II. Der inhaltliche Gehalt der „ E i n r i c h t u n g "

333

Aus der Unfähigkeit, das Phänomen Familie auch nur abbildend zu beschreiben, muß die Beschränkung der Auslegung der verfassungsrechtlichen Maßgaben auf Grundzüge folgen. Der Grat, auf dem man sich hierbei bewegt ist, denkbar schmal. „Als kulturelle Strukturnorm der Verfassung und als Grundlagen-Artikel für Staat und Gesellschaft ist „Familie" heute durch eine grundrechtliche Fundierung und Strukturierung gekennzeichnet. Juristische und pädagogische Verfassungsinterpretation bewährt sich in ihr in besonderem Maße. Die Verfassung erhofft sich von der Familie nicht zuletzt die Erfüllung pädagogischer Aufgaben" 1 0 0 . Der Richter, der bei der Anwendung von Familienrecht eine Richtervorlage (Art 100 GG) erwägt, findet hier keine Begründungshilfe. Sowohl erweiterte als auch Kern-Familienformen entsprechen einer Kultur; sowohl der Schutz von ausländischen Familien als auch der Schutz nur nationaler, deutscher Familien entspricht einem Kulturund/oder Nationalstaat. Ein solcher Auslegungsansatz grenzt deshalb an Sinnlosigkeit. Die fast willkürliche Begrenzung des Schutzbereichs auf die Kernfamilie durch das BVerfG ist in der damals vorgenommenen Form zwar sinnvoll, aber eher Ausdruck eines verschleierten Dezisionismus als einer Verfassungsinterpretierenden Arbeitsweise. Eine systematische Argumentation, wie oben gezeigt, ist nur in begrenzten Fällen aussagekräftig. Man wird deshalb die Frage stellen müssen, ob Art. 6 Abs. 1 GG lediglich eine Definition dessen enthält, was „Familie" nicht ist und im übrigen dem Gesetzgeber und Verfassungsinterpreten bezüglich der Begründung und der Beendigung der Familie 1 0 1 einen weiteren Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum eingeräumt hat. Vielleicht ergibt sich dieser weite Spielraum bereits aus der Bezugnahme in Art. 6 Abs. 1 GG auf eine „Institution Familie". Deshalb muß die Wirkungsweise einer Institution und ihr Verhältnis zum einzelnen, zur Zeit und zu anderen Institutionen untersucht werden.

100

Ebd., S. 25. Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich die Fragen nach dem Schutz der erweiterten oder der Kernfamilie oder nach dem Schutz der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern beantworten. 101

334

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie I I I . D i e „Institution" Familie 1. Vorbemerkung: Die Bestandteile einer Institution

Ob man ältere oder neuere Äußerungen in der juristischen Literatur liest, stets taucht ein Begriff auf: die Auffassung von der „Vorstaatlichkeit" bzw. der „Überstaatlichkeit" der Familie, von einem Ordnungskern, der für das allgemeine Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein unantastbar ist 1 0 2 . Unter „Vorstaatlichkeit" wird vielleicht auf das gedachte - da keinesfalls bewiesene - zeitliche Verhältnis von Familie und Staatsentstehung Bezug genommen. Selbst, wenn man dem folgte, bliebe weiterhin erklärungsbedürftig inwieweit die Lebensform, die w i r heute als Familie bezeichnen, mit dieser vorstaatlichen Lebensform in ihren Strukturmerkmalen übereinstimmt. Selbst im Falle einer solchen Übereinstimmung fragt sich, welchen Einfluß die rechtliche Kodifizierung der Familie in Art. 6 GG auf die Vorstaatlichkeit derselben hat. Der Begriff der „Überstaatlichkeit" kann verschieden ausgelegt werden: Entweder handelt es sich hier um über dem jeweiligen nationalen Recht stehendes, völkerrechtliches „Gedankengut" oder es w i r d auf die Naturrechtlichkeit der Familie abgestellt. Diese Ansätze würden sich erübrigen, wenn bereits aus der „Natur" des Menschen die Institution Familie erklärbar wäre. Bei der Verwendung des Institutionenbegriffs stellt sich die Frage nach - den ihr angehörigen Personen; - dem Ursprung; - der Aufgabe und/oder - der Idee der Institution. Zentrales Element der Institution ist die Aufgabe, die sie für den einzelnen und/oder die Gemeinschaft und/oder andere Institutionen erfüllt. „ I n der Konsequenz dieser Aufgabenwahrnehmung bilden sich um alle bedürfnisbedingten Funktionen oder Aktivitäten Institutionen als organisierte Gruppenunterstützung" 103 . Diese bestehen in Gruppen von Menschen, die durch -

eine Verfassung geeint sind, Verhaltensregeln befolgen, zusammen einen gestalteten Teil der Umgebung bearbeiten und für die Befriedigung festgelegter Bedürfnisse tätig sind" 1 0 4 .

102 BVerfGE: 10 59 (66). H. Schelsky: Zur soziologischen Theorie der Institution, S. 215 (220). 104 B. Malinowski zitert nach H. Rosenbaum: Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft, S. 8. 103

I I I . Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

335

„Bauelemente" dieser Institutionen sind damit der materielle Apparat, bei der Familie ζ. B. die Wohnung und die Gegenstände für das gemeinsamen Leben 1 0 5 , das Normsystem, bei der Familie z. B. §§ 1618 a und 1626 BGB, und das „Personal", d. h. die Personen, die „Familie" verwirklichen. Über diese einsehbaren Strukturelemente hinaus charakterisiert die Institution der Ideenzusammenhang, innerhalb dessen sie angesiedelt ist. So ist ζ. B. die eheliche Familie in der katholischen Soziallehre Teil praktizierter Nächstenliebe und des Christentums; die Bürgerliche Familie aus der Sicht des Marxismus Ausdruck der monogamen Eigentums» und Herrschaftsmacht des Kapitalisten; die Familie im Marxismus Organ für die Pflege und Erziehung der Kinder im Sinne desselben. Aufhorchen läßt die Tatsache, daß die Erforschung der Institutionen fächerübergreifend zu der Auffindung einer „Leitidee" kommt. Der Begriff „Leitidee" ist eine umschreibende Zusammenfassung für den amerikanischen Ausdruck „charter" oder die französische „idee directrice". Der eine, von B. Malinowski, einem Sozialanthropologen, stammende Ausdruck umschreibt die Erkenntnis, daß neben materiellen Elementen auch ideelle Elemente bei der Institution von Bedeutung sind. Es kann deshalb keine „point-to-point-relationship" von biologischem Bedürfnis und tatsächlich feststellbarer Erfüllungsübernahme durch die Institution begründet werden. Nicht eine Institution ist monokausal durch eine Bedürfnisart erklärbar, sondern sie ist mehr als bloße Bedürfnisbefriedigung. Auch bei M. Hauriou w i r d mit dem Gedanken der „idee directrice" deutlich, daß das Bedürfnis und die bloße Funktion die Existenz der Institution nicht allein zu erklären vermag. Mittels der „idee directrice" findet er zudem die Stellung der Institutionen innerhalb des Rechtssystems auf. Weiter ausgeführt werden die Ideen M. Haurious, weil er als Rechtswissenschaftler die Stellung der Institutionen im Gefüge von „Subjektivismus" und „Objektivismus", und von Vergangenheit und Zukunft untersucht hat. 2. Die idee directrice oder die Institution als Mittler von Individuum und Norm

Ausgangsfrage ist das Verhältnis von Institution und Rechtsnorm: nämlich, ob die Rechtsnormen die Institutionen geschaffen haben oder die Institutionen die Rechtsnormen 106 ; ob die Familie durch Normen geschaffen oder sie selbst „mittelbar" Schöpfer der Normen des Art. 6 Abs. 1 GG ist. Die 105 Bei der ehelichen Familie vor Veräußerung durch einen der Erwachsenen durch § 1369 BGB geschützt. 106 M. Hauriou: Die Theorie der Institution, S. 32.

336

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Beantwortung dieser Frage hängt entscheidend davon ab, welcher Maßstab bei der Normgebimg angelegt wird: ein objektiver oder ein subjektiver. Hierfür ist zunächst das Verhältnis von subjektivem und objektivem Recht aus der Sicht Haurious zu klären. a) Subjektives und objektives Recht - Subjektives Recht ist alles im Recht, das sich auf den bewußten Willen bestimmter Einzelpersonen stützt, also ζ. B. der Inhalt von Verträgen. - Objektives Recht ist Recht, das ohne den Einsatz des bewußten Willens bestimmter Einzelpersonen Bestand erhält 1 0 7 . Das subjektive Recht wird dem handelnden Individuum, das objektive Recht dem Unterbewußtsein (dem Passiven) zugeschrieben 108 . Die objektiven Rechtsverhältnisse sollen ursprünglich auf Ideen zurückgehen, die im Unterbewußtsein einer unbestimmten Zahl von Einzelpersonen vorhanden sind 1 0 9 . Das Verhältnis von objektivem und subjektivem Recht kann anhand einer zugegebenermaßen sehr vereinfachten Gegenüberstellung erläutert werden: - Ein „subjektivistisches System" 1 1 0 gesteht vom Begriff der Rechtsfähigkeit ausgehend neben der natürlichen auch der juristischen Person - ζ. B. dem Staat - die Fähigkeit der Willensbildung und Willensbetätigung zu. Die Rechtsnormen sind Ausdruck einer volonte generale, die den Willen der Person „Staat" bezeichnet. Sämtliche Rechtshandlungen innerhalb einer Gesellschaft werden also auf das Individuum (evtl. innerhalb der juristischen Person), das „soziale Milieu", zurückgeführt. Das Individuum wird allein oder in einer Verbindung mit anderen zum Schöpfer des Rechts. Auch für Ehe und Familie findet sich eine Parallele hierzu in einer fränkischen Landesgesetzgebung, die anordnet: „Beyde Ehegatten vereinigen dadurch ihre ganze übertragbare Rechtsgesamtheiten und werden miteinander das Subjekt, oder die Person derselben, oder es entsteht eine Einheit der Person und des übertragbaren Vermögens" 111 . „Selbst die Kinder gehören mit zu der juristischen Person 112 ." 107

Ebd., S. 28. Eine Auffassung, die sich ähnlich bei A. Gehlen findet. 109 Ebd., S. 28. 110 Zum Voluntarismus siehe auch P. Häberle: Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG 111 Zitiert nach F. Ebel: Die Ehe als juristische Person, FamRZ 1978, 637 (638). 112 Ebd., S. 638. 108

I I I . Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

337

- Diese These kann mit einer „objektiven" Sichtweise konfrontiert werden. Man kann die Schöpfung und Geltung der Rechtsnormen auch auf sie selbst zurückführen. Die Handlungen des einzelnen sind dann nur insoweit für das Recht relevant, als sie in Übereinstimmung mit den geltenden Rechtsnormen erfolgen. Freiheit nach Maßgabe der Gesetze und nicht Gesetze nach Maßgabe individueller Freiheit, könnte eine Zusammenfassung dieser Anschauung lauten. Für die Auslegung des Grundgesetzes hätte die Zugrundelegung dieser beiden Ansichten folgende Konsequenz: - Geht man vom „Subjektivismus" aus, dann ist die Freiheit vorverfassungsrechtlich, und die Anerkennung, ζ. B. der Familie oder des Privateigentums (Art. 6, 14 GG) nur eine Absicherung dieser nicht geregelten Freiheit. Es existiert damit, wenn auch vielleicht nur theoretisch, neben den in den Grundrechten erwähnten Freiheitsbereichen, eine nicht rechtlich verliehene oder zurückgegebene eigene Freiheit 1 1 3 . Unter Geltung des Grundgesetzes ist jede Äußerung dieser persönlichen Handlungsfreiheit vor Zugriffen des Staates zumindest insoweit geschützt, als eine Klage vor dem BVerfG zulässig erhoben werden kann. Dies ergibt sich aus der in Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretenen Meinung, daß Art. 2 Abs. 1 GG weit auszulegen sei und sich nicht auf den Schutz eines Mindestmaßes von Handlungsfreiheit 114 beschränke. Art. 2 Abs. 1 GG erfüllt damit die Funktion eines „Auffanggrundrechts", das einen lückenlosen Rechtsschutz für die Freiheit einer Person sichern soll 1 1 5 . Für eine Freiheit jenseits der Spezialgrundrechte und des Auffanggrundrechts des Art. 2 Abs. 1 GG bleibt damit kein Raum mehr. Dies spricht gegen einen subjektivistischen Rechtscharakter des Grundgesetzes. - Geht man vom „Objektivismus" aus, dann sind die Grundrechte verliehene Freiheiten. Die Grundrechte als Rechtsnormen gewährten erst Freiheit 1 1 6 ; die Norm des Art. 6 Abs. 1 GG brächte die Institution Familie hervor und das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG würde nur noch nach Maßgabe der Institution bestehen 117 .

113 Dies kommt auch in den Ausführungen des Redaktionsausschusses zu Art. 2 Abs. 1 GG zum Ausdruck, die lauten: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist ein Vorgang, der sich im Wesentlichen außerhalb der staatlichen Ordnung vollzieht. Fundstelle BVerfGE: 6 32 (39) m.w.N.. 114 Nachweise bei W. R. Schenke: Das Grundrecht des Art. 2 I GG, JuS 1987, L 65. 115 So auch die Ausführungen in BVerfGE: 6 32 (41). 116 Hieraus läßt sich unmittelbar folgern, daß die Einrichtungs- und die Individualgarantie in Art. 6 Abs. 1 GG nur die Strukturprinzipien in ihrem Schutzbereich erfassen. 117 Th. Maunz in Maunz/Dürig: Art 6 GG Anm. 1.

22 Schmid

I. Die Garantie der Institution Familie

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b) Kritik

beider Ansätze

- Die objektive Theorie bietet keine Erklärung für die Tatsache des gesellschaftlichen Wandels. „Alle Neugründungen, die rein der gesellschaftlichen Wirklichkeit entstammen, müßten auf unabsehbare Zeit außerhalb des Rechts verbleiben, weil sie weder mit überkommenem noch mit neuem Recht übereinstimmen 118 ." Der für eine Demokratie lebensnotwendige Konsens könnte letztendlich nur in der Ablehnung des Staates und seiner Gesetze münden. - Die subjektive Theorie scheitert an der mangelnden Verfaßtheit individueller Handlungen. Das subjektive Element als rechtsschöpfende Kraft ist ständig in Bewegung und daher zu einem Rechtsnormentschluß bzw. -konsens nicht unmittelbar fähig. Grund hierfür ist die Notwendigkeit der Feststellung eines tragfähigen Konsenses, also der Übereinstimmung der Mehrheit, und einer „ Abklärung" von Partialinteressen durch Verfahren. Demnach sind beide Systeme zu verwerfen: „Das eine hat die bewegende Kraft als Dauer aufgefaßt, das andere hat die Dauer als bewegende Kraft aufgefaßt 119 ." - Herausgearbeitet ist damit die Stellung der Institutionen. Sie vermitteln zwischen subjektiver Rechtsschöpfung und dauergewährender Norm. Sie sind Nahtstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Aus diesem Ergebnis wird folgende Definition abgeleitet: „Eine Institution ist eine Idee vom Werk oder vom Unternehmen, die in einem sozialen Milieu Verwirklichimg und Rechtsbestand findet 1 2 0 ." Neben der „Idee" finden in dieser Definition zwei neue Aspekte der Institution Anerkennung: Das „soziale Milieu" und der „Rechtsbestand" 121 . aa) Das soziale Milieu Das soziale Milieu ist gerade für das Verständnis der Institution Familie entscheidend. Anders als andere vorstellbare Institutionen verfügt die 118

M. Hauriou: Die Theorie der Institution, S. 33. Ebd. 120 Ebd., S. 34. Eine Abschwächung des objektiven Elements innerhalb der Institution würde folgender Ansatz bieten: „Organisationen, die auf Ideen gegründet sind und durch den menschlichen Willen dienen, der diesen Ideen unterworfen ist". Nachweise bei G. Davy: Das objektive Recht der Institution, S. 21. 121 Das „soziale Milieu" ist ein Ausdruck, den M. Hauriou selbst verwendet. Er wurde hier beibehalten, da er durch die Begriffe „Gesellschaft" oder „öffentliche Meinung" nur ungenügend abgedeckt werden kann. Gemeint sind wohl die Angehörigen eines Staates in ihrer Gesamtheit, deren unterschiedliche Überzeugungen durch das Erfordernis des Konsenses auf das Rechtssystem des Staates wirken. 119

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Familie über einen Bezug zu jedem Menschen. Das einen Tag alte Baby und der 80-jährige, der Reiche und der Arme sind von ihr grundsätzlich in vergleichbarer Weise betroffen. Die Familie ist deshalb - wenn man das in Art. 3 Abs. 2 GG gewährte Strukturprinzip der Gleichheit zumindest der erwachsenen Mitglieder miteinbezieht - durch das soziale Milieu all ihrer Mitglieder in besonderem Maße geprägt. Die Familie nimmt deshalb eine Sonderstellung im Gefüge der übrigen Institutionen ein. bb) Der „Rechtsbestand" der Institution Das Tatbestandsmerkmal „Rechtsbestand" verdeutlicht, daß die Institution aufgrund rechtlicher Auflösungs- und Aufhebungsverfügungen beendbar 1 2 2 . In solcher Eindeutigkeit ist diese Aussage indes nicht haltbar: Die Garantie des Art. 6 Abs. 1 GG würde nicht mehr bestehen, wenn eine Grundgesetzänderung nach Art. 79 GG dies anordnen würde 1 2 3 . Würde auch die Existenz der Familie aufhören? Im Bereich des Ehe- und Familienrechts verfügen w i r über einschlägige Erfahrungen für das Verhältnis von Institution und Recht. Zum einen das Beispiel der Strafbarkeit des Ehebruchs 124 , zum anderen die Rechtsprechung zu den sog. Geliebtentestamente haben gezeigt, wie wenig das Individuum in diesem intimsten Bereich rechtlich bestimmbar ist. Ein Tod der Institution Familie - so steht es jedenfalls aufgrund der oben genannten Beispiele zu vermuten an - ist mit rechtlichen Aufhebungsakten unmittelbar nicht verbunden. Dies erklärt auch das nahezu ausschließliche Interesse der Literatur an der Förderung der Familie durch steuerliche Begünstigungen 125 , da materielle Benachteiligungen bisher mehr Gefährdungen erwarten ließen als rechtliche Eingriffsakte in den Intimbereich der Lebensgemeinschaft. Dies ist wohl das Besondere an Art. 6 Abs. 1 GG im Vergleich zu sonstigen grundrechtlichen Gewährleistungen. Nicht der direkte Zugriff auf die Familie wird als besonders familiengefährdend erkannt. Das Untergraben der Existenzberechtigung der Familie durch eine Überfrachtung mit Aufgaben ohne entsprechende finanzielle Hilfestellung und der gleichzeitige „Marktgewinn" von Konkurrenzeinrichtungen werden offenbar von den betroffenen Grundrechtsträgern eher als Verletzung der Familiengarantie empfunden. 122

M. Hauriou: Die Theorie der Institution, S. 35. Nach allgemeiner Meinung werden in Art. 79 Abs. 3 GG nur die Grundsätze des Art. 1 und 20 GG unantastbar erklärt. 124 Während der Beratungen des Grundgesetzes wurde unwidersprochen die Strafbarkeit des Ehebruchs zu einem Strukturmerkmal der Institution Ehe erklärt. 125 E. Assmann: Formen und rechtliche Komponenten der Familienpolitik, S.46, der die Aufgabe des Staates in der Sicherung der Funktions- und Aufgabenerfüllung der Familie sieht. 123

22*

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Vielleicht hat dies der historische Verfassungsgeber gemeint, als er der Familiengewährleistung „Schutz" vor mittelbaren rechtlichen oder politischen Aushöhlungen versprach 126 . Die Verfasser des GG hatten eine rechtlich begründ- und beendbare „Familie" in Abkehr vom Nationalsozialismus - Stichwort: Nürnberger Gesetze - wohl auch nicht vor Augen. cc) Die Idee Mit der „Idee" innerhalb der Institution vermag Hauriou auch das Verhältnis von „Subjektivismus" und „Objektivismus" zu deuten. Die Idee des Unternehmens ist das objektive Element innerhalb der Institution. Dieses „Objekt" wird zum gleichzeitig subjektiven Element, indem der einzelne die Idee in seine Vorstellungswelt aufnimmt und akzeptiert. Das ist gerade bei der Familie zu beobachten, bei der - wie selbstverständlich - ganz bestimmte Vorstellungen in Bezug auf einen Vater, eine Mutter und ein K i n d herrschend sind. c) Die Vereinnahmung der Institution

durch das Individuum

Für das durch die Idee vermittelte Verhältnis von Individuum und objektivem Gehalt der Institution sind für Hauriou bereits zwei Alternativen denkbar: - Die Akzeptanz einer Idee wird einem Kollektivbewußtsein zugeschrieben. Maßgeblich ist dann die Durchschnittsmeinung innerhalb der Gesellschaft 127 , und damit die Masse der Meinungsträger. - Wenn die Aufnahme der Idee durch den einzelnen erfolgen muß, dann kann die Idee als objektiver Gehalt der Idee evtl. nur von Eliten „subjektiviert" werden. Gegenüber allen anderen bleibt es beim bloß objektiven Gehalt und innerhalb der Anforderungen der Institution beim nur heteronom auferlegten Zwang. - Der Unterschied beider Auffassungen wird auch in der Zurechnung an diejenigen, die für den sozialen Wandel verantwortlich sind, deutlich. Wird der kulturelle Fortschritt durch Eliten - also einzelne - oder durch das soziale Milieu, und damit der „Masse" bewirkt? d) Die Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Das von Hauriou nur skizzenhaft angedeutete Problem, muß im Folgenden in nahezu unzulässiger Weise vereinfacht dargestellt werden. 126 127

Ähnlich ist die Situation bei der Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. M. Hauriou: Die Theorie der Institution, S. 44.

III. Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

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Die geschichtliche Epoche der Aufklärung zeigt, daß die Menschen immer weniger mit unbegründeten, theologischen und moralischen Universalwahrheiten in ihrer Suche nach der Selbstverwirklichung abzuspeisen waren. Diese Verunsicherung hatte verschiedene Konsequenzen 128 . - Ausgehend von dem Kantschen Gedanken, daß niemand den begründeten Anspruch erheben könne, „er sei in Besitz der absolut richtigen Lösung ethischer Fragen", muß die Gewissensüberzeugung eines jeden Menschen grundsätzlich gleich viel gelten. Da Meinungen auch in den existentiellen Fragen einer Gemeinschaft differieren können, bedarf es eines Entscheidungsträgers. Diese Erkenntnis des Dezisionismus wird mit dem Obersatz „autoritas, non Veritas facit legem" umschrieben. Für die Begründung dieser Autorität benutzte man in der Aufklärung den Vertragsgedanken. Die Individuen übertragen nur so viele Rechte an den Staat, wie sie für die rechtmäßige Wahrnehmung seiner Befriedungsfunktion für notwendig erachten. Das Vertragskonzept hatte augenfällige Mängel. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Familie. Nach dem allgemeinen Grundsatz des Vertragsdenkens, daß Gewalt über einen anderen nur durch einen Vertrag legitimiert werden kann, mußte man die Staatsgewalt durch Vertrag der Familienväter untereinander und die Gewalt der Eltern über die Kinder durch einen Vertrag miteinander legitimieren. Sowohl bezüglich des Abschlusses als auch des Inhalts des Unterwerfungsvertrages mußte mit Fiktionen gearbeitet werden. Niemand konnte den genauen Zeitpunkt des Abschlusses eines Unterwerfungsvertrages angeben, geschweige denn seinen Inhalt ohne Fiktion der Einsichtsfähigkeit der Kinder erklären. Gerade in dem Alter, in dem Grenzen elterlicher Gewalt aufgezeigt werden sollten, fehlte den Kindern die Fähigkeit, das für sie „Beste" einzusehen. Diese ungelösten Probleme stehen der Vertragskonzeption entgegen. Daneben erscheint es auch gekünstelt, einen Vertragsschluß eines jeden mit dem anderen Bürger oder Familienvater vorauszusetzen. - Man stellte deshalb später nicht mehr auf Verträge, sondern auf den Konsens der Menschen, die in einem Staat leben, ab. Hierbei läßt sich ein „extensives" und ein „modifiziertes" Konsensverständnis unterscheiden. Einen einstimmigen Konsens zu verlangen, wird wohl, genauso wie bei der Vertragskonstruktion, den Tatsachen nie gerecht werden. Eine Übereinstimmung über Grundwerte unseres Gemeinschaftslebens aller Beteiligten wird sich nie herbeiführen lassen. 128 Siehe zum Folgenden R. Zippelius: Legitimation des modernen Staates, in Norbert Achterberg/Werner Krawietz (Hrsg): Vorträge der Tagung der Deutschen Sektion der internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 8 . - 11.10.1980, S. 86 ff.

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Um der „totalen" Schlußfolgerung zu entgehen, daß nämlich Demokratie eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit unter Inkaufnahme der so formalisierten Ablehnung „richtiger" Sichtweisen (der Minderheit) bedeute, entwickelte man den Gedanken der Richtigkeitsvermutung zugunsten der Mehrheitsmeinung. Dieser Gedanke war wohl schon nicht richtig als man noch vom theoretischen Bild einer Identität von Regierten und Regierenden ausging. Die Mehrheit der Personen, die sich für eine Sachalternative aussprechen, sagt als quantitatives Kriterium nichts über die Qualität einer so getroffenen Entscheidung aus. Allenfalls die Chancen für die Vollstreckbarkeit der Entscheidung werden durch einen Mehrheitskonsens innerhalb einer Demokratie qualitativ beeinflußt. Das Bild einer repräsentativen Demokratie verträgt sich mit dem Ideal einer Richtigkeit der Mehrheitsentscheidung noch weniger. Die repräsentativen Demokratien der WRV und des GG bringen es nämlich mit sich, daß sich dem Wähler lediglich Personal, und eben keine Sachalternativen eröffnen 129 . Nur den vom Wähler beauftragten Sachwaltern steht die Sachentscheidung unmittelbar zu. Eine Mehrheitsentscheidung durch Wahl bezieht sich unmittelbar auf Sachwalter, nicht auf Sachentscheidungen. Die so getroffenen FaZi-Entscheidungen können damit sehr vom unmittelbaren Willen des Wählers und damit der Mehrheit abweichen 130 . Dies beiseite gelassen muß es auch Zweifel erwecken, ob es eine „objektive Vernunft" überhaupt gibt. Vernunft im Sinne eines Wissens im Inneren jedes Menschen, das grundsätzlich auch von allen geteilt wird, von dem was im „Existentiellsten" richtig ist. Sogar das Christentum glaubt, in den zehn Geboten, die wohl das Wesentliche auch innerhalb der Werteordnung des Grundgesetzes darstellen, die Pflicht, Vater und Mutter zu ehren, seinen Anhängern mittels des Imperativ deutlich machen zu müssen („Du sollst . . .") und geht deshalb auch nicht von einer von allen geteilten Meinung aus. Aus dem allen folgt, daß ein „modifiziertes", mehrheitliches Konsenserfordernis genügen muß. Dies ist natürlich nur ein formales Ergebnis in Bezug auf den anzuwendenden Maßstab. Offen bleibt aber der Personenkreis der Verfassungsinterpreten und der sachliche Maßstab, d. h. auf welchen Gegenstand der Konsens sich beziehen soll. Bezüglich des Gegenstandes lassen sich folgende Alternativen unterscheiden: Vorstellbar ist, daß die Mehrheit den Werten des Grundgesetzes insgesamt zustimmt. Bei der ehelichen Familie können dann im Einzelfall „Abstriche" gemacht und damit eine Einzelregelung, die der Mehrheit 129

Hierzu Ch. Gusy: Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, S. 62 ff. Obwohl dieses Verfahren einer Abschottung gegenüber Partialinteressen und damit einem Legitimitätszweck dienen kann, handelt es sich um keine Mehrheitsentscheidung in der Sache. 130

I I I . Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

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nicht genehm ist, in „Kauf genommen" werden, ohne daß dies die grundsätzliche Akzeptanz der Verfassung beeinflußt. Auf diesen weiten Konsens, dessen Fehlen wohl auch nur nach einer Staatsumwälzung abschließend feststellbar ist, kann im weiteren nicht abgestellt werden 13 !. Vorstellbar ist weiterhin, daß w i r eine Mehrheit derjenigen Personen verlangen, die konkret die Regelung der ehelichen Familie in Art. 6 GG bejaht. Auch in Bezug auf den Personenkreis, der zur Verfassungsinterpretation berufen ist, lassen sich unterschiedliche Meinungen vertreten. Wahlberechtigt ist jeder, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat (Art. 38 Abs. 2 GG), wobei das Nähere durch das Bundeswahlgesetz bestimmt wird (Art. 38 Abs. 3 GG). Die Sachwalter, die von diesem Personenkreis gewählt werden, entscheiden durch ihr Handeln in drei Gewalten über die Auslegung dieses Grundgesetzes, wobei die letztendliche Entscheidungsbefugnis beim BVerfG angesiedelt ist 1 3 2 . Eine unmittelbare Verfassungsinterpretation erfolgt durch diesen wählenden Personenkreis grundsätzlich nicht. Es bedarf eines „Zwischenträgers" - wie des BVerfG - das ζ. B. einen Bedeutungswandel der Norm aufgrund eines geänderten Verhaltens oder einer geänderten Meinung der Allgemeinheit innerhalb der Grenzen des Wortsinns der Norm feststellt. Dies ist ein gängiger Auslegungsansatz. Stärker könnte die Position der Staatsbürger als Verfassungsinterpreten bei solchen Normen sein, die sich durch einen besonderen Bezug zu einem außerrechtlichen Sachverhalt formell oder materiell kennzeichnen lassen. Die formale Kategorie könnte die Einrichtungsgarantie, als Garantie einer Institution; die materielle Besonderheit bei der Familie in dem ihr zugrundeliegenden Prinzip der Intimität und damit der Freiheit vor dem Recht im Innenraum (in den Grenzen der Art. 3 Abs. 2 und 6 Abs. 2 GG) gesehen werden. Im Folgenden soll die Sichtweise des BVerfG zum Verhältnis von faktischen Lebensformen und rechtlicher Normierung bei der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG dargestellt und ihr einige Daten bezüglich der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern gegenübergestellt werden.

131 Denkbar ist, daß jemand, der das GG insgesamt für konsensfähig hält, mit der Familienregelung als bloßem Schutz der ehelichen Familie nicht einverstanden ist. Denkbar ist weiterhin der umgekehrte Fall. 132 Zum Kreis der Verfassungsinterpreten siehe P. Häberle: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297.

344

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie 3. Die „Institutsgarantie Familie" in der Rechtsprechung des BVerfG

Art. 6 Abs. 1 GG garantiert das „Institut" oder die „Institution" Familie. In Art. 6 Abs. 1 GG ist „jede Ehe und Familie, die den heute in der Bundesrepublik gesetzlich normierten bürgerlich-rechtlichen Instituten Ehe und Familie entspricht" 1 3 3 , geschützt 134 . „Gesetzlich normiert" ist im BGB nicht, ob die Großeltern zur Familie gehören, ob die nichteheliche Mutter und ihr Kind eine Familie bilden. Diese Frage müßte also originär dem Verfassungsrecht zu entnehmen sein. Das bürgerlichrechtliche Familieninstitut bietet diesezüglich keine Auslegungshilfe für Art. 6 Abs. 1 GG.

Vorgefundene

überkommene

Lebensformen

in Verbindung mit dem

Freiheitscharakter

des

verbürgten

Grundrechts

Strukturprinzipien

Heute herrschende

Anschauungen

i\ Gesetzlich normiertes

Institut

Die Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

Selbst wenn man „Familie" verfassungsrechtlich als eine „Gemeinschaft von Personen, die miteinander durch Verwandtschaft verbunden sind" definiert, so stellt sich ein weiteres Problem. Wenn nämlich die Familie im Sinne 133 134

BVerfGE: 6 55 (82), 9 237 (242). Siehe umseitige Skizze.

III. Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

345

des Verfassungsrechts und das einfach gesetzlich normierte Institut „Familie" inhaltlich deckungsgleich wären, schiede eine Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einfachgesetzlichen Familienrechts anhand von Art. 6 Abs. 1 GG aus. Ein einfaches Gesetz wäre selbst Bestandteil des gesetzlich normierten bürgerlich-rechtlichen Instituts Ehe und Familie, und könnte daher nur noch an sich selbst gemessen werden. Ob es sich um eine zulässige inhaltliche Ausgestaltung der Familie durch den Gesetzgeber handelt, oder nicht, kann nur dann beurteilt werden, wenn die Grenzen der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit vorher durch Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG festgelegt werden. Andernfalls läge ein Zirkelschluß vor 1 3 5 . Dieses Problem hat das BVerfG gesehen und in Bezug auf die in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte „Ehe" zu lösen versucht. Das Gericht stellt fest, daß Ehe im Sinne des Verfassungsrechts ein „maius" zum bürgerlich-rechtlichen Institut Ehe ist 1 3 6 . Das „mehr" sind die „heute herrschenden Anschauungen". In einer Gesamtdefinition lautet dies: „. . . die Institution der Ehe ist nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung gewährleistet, die unseren heute herrschenden Anschauungen entspricht, wie sie in der konsequent beibehaltenen gesetzlichen Regelung maßgeblich Ausdruck gefunden haben". Bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung der Ehe im Verfassungsrecht lassen sich hierfür folgende Schlußfolgerungen ziehen: - Anschauungen, die heute herrschen, sind Grundlage für die Beurteilung dessen, was „Ehe" ist - und nicht der Stand der bürgerlichen Gesetzgebung, ζ. B. Ende des letzten Jahrhunderts. - Offen bleibt aber, wann „heute" - nämlich der Zeitpunkt für die Entscheidung, welche Anschauungen herrschen - ist. - Auch ab wann Anschauungen herrschen, ζ. B. ab welchem Prozentsatz der Verbreitung gewisser Lebensformen von einem „Herrschen der Anschauungen" zu sprechen ist, bleibt damit offen. Nicht zuletzt deshalb sind auch Vertreter in der Literatur, die dem „heute" und dem „herrschen" zustimmen 137 , zurückhaltend in der Einordnung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern als „Familie" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG 1 3 8 . 135 F. Baur: Die „Naßauskiesung" oder wohin treibt der Eigentumsschutz?, NJW 1982, 1734, f bezüglich der Institutsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. 136 BVerfGE: 15 328 (323). 137 R. Zippelius: Verfassungsgarantie und sozialer Wandel - das Beispiel von Ehe und Familie, DÖV 1986, S. 806 f. 138 R. Zippelius: DÖV 1986, 808.

346

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

- Zu fragen ist, ob nach der Rechtsprechung des BVerfG durch die „heute herrschenden Anschauungen" jeder, der in und mit dem von Art. 6 Abs. 1 geregelten „Gegenstand" lebt, nämlich der Familie, mittelbar oder unmittelbar als Norminterpret angesehen wei den müßte 139 . Norminterpret in diesem Sinne wäre dann jeder Mensch, der in einer Familie lebt oder nicht lebt. Das BVerfG stellt ein weiteres, qualitatives Kriterium auf, das die „herrschenden Anschauungen" näher konkretisiert: „Maßgebend auch für die heutigen Anschauungen bezüglich der Ehe bleiben aber die in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Strukturprinzipien" 140. W i l l man den Auslegungsansatz des BVerfG schrittweise nachvollziehen, dann muß gelten. Nachdem man „Anschauungen" von „heute" festgestellt hat, ist zu prüfen, ob diese in den Strukturprinzipien des Instituts „Ehe" verwurzelt sind. Hierzu muß man wissen, woraus sich die Strukturprinzipien des Instituts ergeben. Nach Aussage des BVerfG stimmen sie „weitgehend mit dem bürgerlichen Recht überein. Umgekehrt kann der Inhalt der Institutsgarantie nach dem allgemeinen Grundsatz, daß Verfassungsrecht aus sich selbst und nicht einfachgesetzlich auszulegen ist, nicht überhaupt erst aus dem einfachen Recht erschlossen werden 1 4 1 . Als letztes Zugriffsobjekt bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 GG knüpft das BVerfG deshalb an „vorgefundene, überkommene Lebensformen in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderer Verfassungsnormen zurück 1 4 2 . a) Die Anwendung dieses Auslegungsansatzes auf die in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte „Ehe" Die Auslegung der Institutsgarantie Ehe muß aufgrund des vorher Gesagten sinngemäß zwei Komponenten berücksichtigen: - eine statische, nämlich die Strukturprinzipien, die auf die vorgefundenen, überkommenen Lebensformen Bezug nehmen; und - die dynamische, die in den „heute herrschenden Anschauungen" deutlich wird. Bei der Auslegung der Institutsgarantie Ehe mag sich eine solche Harmonisierung vielleicht noch erreichen lassen. Allgemein verbreitet ist die 139 140 141 142

P. Häberle: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297. BVerfGE: 53 224 (245), BVerfGE 10 59 (66). BVerfGE: 31 58 (69). BVerfGE: 31 58 (69).

I I I . Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

347

Ansicht, daß in der wörtlichen Auslegung der Begriff „Ehe" nicht durch die nichteheliche Lebensgemeinschaft ersetzt werden kann 1 4 3 . Das Wort „Ehe" soll nämlich von „eh", also von „ewig" ableitbar sein 144 . Dennoch kennt die Geschichte der Institution Ehe vom römischen Recht die Kohabitationsehe, im germanischen Recht die Formen der Friedel- und Kebsehe und bis zur Einführung des BGBs auch Formen der morganatischen Ehe. Hieraus w i r d für manche die kurze Tradition der zwingenden, staats- oder kirchenrechtlich sanktionierten Eheschließungsform, die es in kanonischen Recht erst seit dem Konzil von Trient gab, deutlich. Trotzdem ist einhellig Zurückhaltung erkennbar, die nichteheliche Lebensgemeinschaft als „Ehe" in Art. 6 Abs. 1 GG zu schützen. Die weitere Konsequenz dieser wortgetreuen Auslegung der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG ist, daß allenfalls die nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern unter Art. 6 Abs. 1 GG subsumiert werden können. b) Die Anwendung dieses Auslegung s ans atzes auf die „Familie" Die Ehe knüpft an einen formalisierten Akt des Staates an. Weil es bei der Familie an einem solchen staatlich bekundeten Konsensakt fehlt, subsumiert ein Teil der Literatur die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern unter den Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG. Der Zeugimgsakt des Kindes erfolgt im Allgemeinen nicht vor den Augen des Staates. Auf diesen unmittelbaren, kausalen Entstehungsakt der Familie müssen sich diejenigen Meinungen in der Literatur berufen, die die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern und die Gemeinschaft von Vater oder Mutter mit dem Kind als „Familie" schützen wollen. Es hat zwar in früheren Zeiten Ehen gegeben, denen dieser formalisierte Eheschließungsakt fehlte, die aber dennoch gewisse Rechtsbindungen erzeugten. Diese Ehen begründeten lediglich „Familien" minderen Rechts, da der genetische Vater keine Vaterrechte über seine Kinder besaß und diese ihm auch nicht familienmäßig zugeordnet waren. Eine solche Lebensgemeinschaft bestehend aus Vater-Mutter-Großvater-Kind entspricht nicht unserer heutigen Familienvorstellung. Ferner kann ganz allgemein festgestellt werden, daß bezüglich des Instituts der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG das BVerfG bisher noch keinen Anlaß sah, eine ähnlich Prüfungsfolge (überkommene Lebensform - Strukturprinzip des Instituts - Vergleich mit dem bürgerlichen Recht) für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns zu entwickeln, bzw. die 143 144

I. von Münch: Verfassungsrecht und nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 140. H. Hattenhauer: Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, S. 140.

348

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Anwendung dieser für die Ehe geltenden Ausführungen auch für die Familie klarzustellen 145 . Diese Prüfungsreihenfolge auf die Familie übertragen, würde lauten: aa) Das gesetzlich normierte Institut der Familie Gesetzlich normiert ist die Begründung einer Eltern-Kind-Beziehung zum einen durch die Blutsverwandtschaft, und zum anderen durch gesetzliche Vaterschaftsvermutungen oder behördliche Gestattungsakte. Das Verhältnis der Begründungsarten zueinander ist im einfachen Recht zugunsten einer gesetzlichen Elternschaftsbegründung geregelt. Beispielsweise kann der mit seinem Kind verwandte nichteheliche Vater, wenn die Mutter mit einem Mann verheiratet ist, seine Vaterschaftsfeststellung nicht gegen den Willen der Mutter, des Kindes, und des Scheinvaters durchsetzten. Umgekehrt gilt, daß bei der durch staatlichen Gestattungsakt erfolgten Begründung der Adoptionselternschaft, die Fiktion einer Blutsverwandtschaft lediglich als Ergänzung zur Verantwortungselternschaft hinzu tritt. Die Fiktion einer Blutsverwandtschaft mit den übrigen Verwandten der Adoptiveltern scheint nur dazu zu dienen, das Kind innerhalb der Verantwortungselternschaft nicht isoliert, sondern möglichst integriert innerhalb des übrigen Familienzusammenhangs, aufwachsen zu lassen. Die Fiktion einer Blutsverwandtschaft tritt also lediglich ergänzend und unterstützend zu einer Verantwortungselternschaft hinzu 1 4 6 . Dieser Vorrang der Verantwortungselternschaft läßt sich auch in der Rechtsgeschichte durch Beispiele belegen. Familie ist immer Verantwortung für ein allein nicht lebensfähiges Etwas, nämlich das Kind, das zur Welt kommt. Deshalb bestand hier schon immer das Bedürfnis die Verantwortung für dieses schutzbedürftige Wesen in der Gesellschaft rollenmäßig zuzuweisen. Wo das Eherecht die Voraussetzungen für die Erfüllung von zwei Menschen im „Wir" schaffen sollte, diente Familienrecht der Zuteilung von Verantwortung. Und Verantwortung für das Kind wurde in der Regel nur den Männern überlassen: - war der Vater mit der Mutter verheiratet, war er also schon bereit, für diese die Verantwortung zu tragen, dann erhielt er auch das Recht am Kind;

145 Lediglich der Rückgriff auf außerrechtliche Lebensordnungen ist bezüglich beider Institute, also auch der Familie verbürgt (BVerfGE: 10, 59 (66)). 146 Hierzu paßt auch, daß das adoptierte Kind Erbrechte im weiteren Verwandtschaftskreise erhält und umgekehrt.

I I I . Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

349

- war der Vater mit der Mutter nicht verheiratet; dann folgte das Recht am Kind dem Recht an der Mutter; war diese auf die Unterhaltsgewährung von Verwandten angewiesen, dann übten diese auch väterliche Rechte aus. Ohne Verantwortung und Inpflichtnahme gegenüber der Mutter der Kinder durch einen Publizitätsakt gab es kein Recht für den Vater am und über das Kind. Auch angesichts der sozialen Erscheinung der Hausmänner ist die Mutter während der Zeit der Schwangerschaft und nach der Empfängnis auf Hilfe angewiesen. Zumindest die ersten drei Jahre im Leben eines Kindes erfordern einen hohen Betreuungsaufwand. Hier muß in der Regel die Mutter unterhalten werden, da eine den Selbstunterhalt von Mutter und K i n d sichernde Vollbeschäftigung selten möglich ist. Nur wer Mutter und Kind erhalten konnte, durfte früher heiraten 147 . Der Vater mußte also die Mutter seines Kindes heiraten, um Rechte an dem Kind zu erlangen. Eine Begründung hierfür findet Th. Hobbes 148 , wenn er feststellt, daß man im Naturzustande nur durch die Mutter wissen könne, wer der Vater des Kindes sei. Deshalb gehöre das Kind aufgrund dieser überlegenen Kenntnis der Mutter. Das Erzeugte folge der Erzeugerin. Von der Mutter könne indes das Eigentum am Kinde in vierfacher Weise übergehen: sie könne ihr Recht aufgeben durch Aussetzung; wenn die Mutter selbst gefangen genommen worden sei, dann gehöre ihrem Eigentümer auch das Eigentum am Kinde; wenn die Mutter Bürgerin irgendeines Staates sei, so sei auch das Kind dem Staat unterworfen und wenn die Mutter sich einem Manne zum gemeinsamen Leben unter der Bedingung überlassen habe, daß er die Herrschaft haben solle, dann übertrage sie damit auch dem Vater die Herrschaft über das Kind. Die Mutter als Eigentümerin ihres Kindes kann sich also durch Vertrag ihrer alleinigen Herrschaftsmacht entäußern. Die Ehe wäre dann ein solcher Vertrag über zukünftige Kinder. Eine Vertragsnatur der Ehe soll hier nicht behauptet werden; eindeutig ist aber die Zuweisungsfunktion der Ehe mit der Mutter für die Familienzugehörigkeit der Kinder und des Mannes. Die eheliche Familie ist damit eine überkommene Lebensform, deren Strukturprinzipien auch im bürgerlichen Recht enthalten sind. 147 Eine in Deutschland vom Ergebnis her gegensätzliche Entwicklung als in Frankreich, wo man durch die Familienanbindung der unteren Schichten eine Moralisierung und Beruhigung zu erreichen suchte; demgegenüber regierten im Deutschland des 19. Jahrhunderts ζ. B. bei den preußischen Offizieren Heirats verböte und bei den Gemeinden, auf die eventuell Sozialleistungen zukamen,Unterhaltsfähigkeitsprüfungen, die Heiratsfreudigkeit der Untertanen. 148 Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie, 2. Bd., Lehre zum Bürger, Leipzig, 1949, S. 168 ff. Einen allgemeinen Überblick zu philosophischen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Familie bietet A. Köpcke-Duttler: Philosophische und theologische Gedanken zur Familie, S. 1 (10).

350

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Demgegenüber ist die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als „Familie" in Art. 6 Abs. 1 GG erst seit der Familienrechtsänderung vom 19.8.1969 prinzipiell denkbar geworden. Denn erst mit diesem Zeitpunkt galten der Vater und seine Verwandten mit dem Kinde als verwandt. Wenn auch der Begriff „Verwandtschaft" nicht mit der „Familie" verwechselt werden darf, so w i r d man doch in den damaligen Anschauungen, in denen die biologische Verwandtschaft im Wege der Fiktion geleugnet wurde, ein starkes Negieren auch einer Familienzugehörigkeit zur Vaterfamilie sehen müssen. Als Zwischenergebnis läßt sich deshalb festhalten, daß nach heutiger Gesetzeslage durch das Sorgerecht der nichtehelichen Mutter (§ 1705 BGB) und das bloße Umgangsrecht des nichtehelichen Vaters (§ 1711 BGB), zusammen mit der Möglichkeit der Mutter, ihr eigenes K i n d zu adoptieren und damit sowohl dem Vater als auch seiner Familie ohne deren Einwilligung das Kind zu entziehen (§ 1741 Abs. 3 S. 2 BGB i.V.m. § 1706 Abs. 1 Nr. 1 BGB mittels Pflegerbestellung 149 ), von einer Verankerung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern als Familie im einfachen Recht noch nicht gesprochen werden kann. Ein „gesetzlich normiertes Institut" Familie bezüglich solcher Lebensgemeinschaften existiert damit nicht. Ein weiterer Auslegungsgesichtspunkt sind die „heute herrschenden Anschauungen". bb) Die „heute herrschenden Anschauungen" - Die Anschauungen Durch die Bezugnahme auch auf Anschauungen und nicht nur auf das gesetzlich normierte Institut „Familie" bezieht das BVerfG neben dem repräsentativ demokratisch geäußerten Willen der Staatsbürger durch die Parlamente auch faktische Anschauungen in seine Auslegung mit ein. - Die herrschenden Anschauungen Neben die „Anschauungen" tritt das Gerund „herrschenden". In einem anderen als unserem demokratisch repräsentativ verfaßten Regierungssystem könnte man das „herrschend" vielleicht einer Elite, wie ζ. B. den Adeligen oder den Monarchen zuschreiben. Unter Geltung des Grundgesetzes muß man eher auf die „Masse der Bevölkerung" Bezug nehmen. Hier muß erneut differenziert werden. Kommt es auf die Anzahl der Menschen an, die 149

Palandt/Diederichsen: § 1746 BGB Anm. 2.

III. Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

351

die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern selbst verwirklichen oder ist es entscheidend, ob eine Lebensform in der Bevölkerung generell akzeptiert wird? Richtet man sich nach den „lebenden Tatsachen", so ist in Bezug auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern und die Halbfamilie festzustellen: Rein statistisch - (auf den Durchschnitt abgestellt) - ist die Zahl der nichtehelichen Kinder von 1950 und 1984 gleich hoch. 1950 betrug die Zahl der nichtehelichen Geburten im Verhältnis zu den ehelichen 9,73 %; 1984 ca. 9,07 %. Der „Pillenknick" wirkte sich vor allem in den Jahren 1964 bis 1975 aus, als die Zahl nichtehelicher Geburten teilweise unter die 5 %Grenze sank 1 5 0 . Die Zahl der nichtehelichen Geburten ist selbstverständlich nur Indiz für die Anzahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern oder Halbfamilien. Neben den nichtehelichen Geburten können auch geschiedene oder verwitwete Personen mit ihren Partnern und Kindern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften zusammenleben. Wer nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern in Art. 6 Abs. 1 GG schützen will, müßte hier eigentlich differenzieren zwischen nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit eigenen Kindern und nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit „Stiefelternfunktion". Bei letzteren ist die Anbindung des Stiefelternteils an das Kind rechtlich überhaupt nicht gegeben. Hier würde, so Eltern-Kind-Beziehungen in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt würden, ein lediglich gesellschaftlicher Sachverhalt geschützt werden. Selbst wenn man aber einen Blick auf den Anteil geschiedener oder verwitweter Personen an der Gesamtbevölkerung wirft, stellt man fest, daß sie nicht einmal ein Viertel ausmachen 151 . Dies bestätigen auch die Zahlen für Bayern. Hier betrug der Anteil von alleinstehenden Familienvorständen, die geschieden, getrennt oder allein mit ihren Kindern lebten 1982 15,73 % 1 5 2 . Im Bundesgebiet gab esl982927000 Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren im Vergleich zu 7 240 000 vollständigen Familien 1 5 3 . 1 329 000 Kinder lebten bei Vater oder Mutter gegenüber 12 181 000 Kindern, die in vollständigen Familien lebten. Neben diesen Zahlen kann bei einer Schätzung die Zahl derjenigen verheirateten Personen, die nicht getrennt und dennoch mit einem Partner zusammenleben, vernachlässigt werden. Grob geschätzt ist festzustellen, 150 Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Hrsg.): Bevölkerimg und Erwerbstätigkeit, Reihe 1, Gebiet und Bevölkerung, 1985, S. 9. 151 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 1985, S. 47. 152 Statistische Mitteilungen des bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung: Grunddaten zur Familie in Bayern 1972 - 1982, Nr. 6/83, S. 285. 153 Anlage F 7/0881-3/4/85: Tab.9: Alleinerziehende und vollständige Familien mit Kindern unter 18 Jahren, 1970, 1980, 1982.

352

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

daß höchstens ein Fünftel der Bevölkerung in der Form der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern lebt. Diese Schätzung findet in vielen Einzelergebnissen ihre Rechtfertigung. Eine Repräsentativerhebung 154 ergibt, daß nur 5 % der befragten Lebensgemeinschaften ein gemeinsames Kind haben. Bei 20 % der Lebensgemeinschaften hat mindestens einer der Partner ein Kind aus einer früheren Beziehung 155 . Nur ein Drittel dieser Kinder lebt aber innerhalb der befragten Lebensgemeinschaften. Des weiteren ergab eine Mikrozensus Sonderauszählung, für den Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften an der Gesamtbevölkerung folgende Zahlen 1 5 6 : Zahl der in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebenden Männer und Frauen nach Alter im Vergleich der Jahre 1972 und 1982 Alter

18-35 36-55 56 und älter

1972 Anzahl

m w m w m w

1982 Anteil an der Ge- Anzahl Anteil an der Gesamtbevölkerung samtbevölkerung in % in% 40700 40800 30900 42300 64900 53400

0.5 0.5 0.4 0.6 1.1 0.6

324400 348800 115400 91400 75700 75300

3.8 4,4 1.4 1.1 1.4 0.8

Rechnet man den Gesamtanteil der Lebensgemeinschaften an der Bevölkerung zusammen, so kommt man auf ca. 12 %. Zu bedenken ist, daß aufgrund statistischer Ungenauigkeiten 157 diese Zahlen eher zu niedrig als zu hoch gegriffen sind. Von den Männern und Frauen leben 14 % mit Kindern zusammen. Dies ergibt in Relation zur Gesamtbevölkerung einen Anteil von 1,68 % 1 5 8 . 154 Das Sample bestand aus 2000 Personen i n nichtehelichen Lebensgemeinschaften und 1000 Ehepaaren, siehe zu den folgenden Daten ausführlich: Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hrsg.): Nichteheliche Lebensgemeinschaften i n der Bundesrepublik Deutschland, S. 1 ff. 155 Ebd., S. 148. 156 Ebd., S. 79. 157 Ebd., S. 143 f. So basieren statistische Erhebungen i n der Regel auf Haushaltsstatistiken, die aber lediglich eine Übersicht über nichteheliche Lebensgemeinschaften im Zeitpunkt der Erhebung, nicht aber im Zeitpunkt der Veröffentlichung geben können. Auch sind Wohn, Miet- und Haushaltsgemeinschaften bei statistischen Erhebungen oft nur im Wege von Vermutungen (ζ. B. bei zwei verschieden geschlechtlichen Partnern) identifizierbar. Siehe hierzu auch S. Rupp/K. Schwarz/M. Wingen: Eheschließung und Familienbildung heute (als statistisch-methodisches Problem), S. 150.

I I I . Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

353

Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern Jahr

Anzahl

1972

25100

100

1978

50500

+ 101%

1982

70900

+ 182%

Prozentuale Veränderung auf der Basis von 1972

In den Jahren von 1972 bis 1982 kann auch nachverfolgt werden, daß sich das „Personal" der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern stark verjüngt hat. Die Kriegswitwen, die Onkelehen eingingen, fallen statistisch immer weniger ins Gewicht. Männer und Frauen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern, prozentuale Veränderung der Altersgruppen 1972 - 1982 Jahr

18-35

36-55

m

w

m

56 u. älter m w

w

1972

100

100

100

100

100

100

1978

+ 167%

+208%

+ 144%

+ 65%

-30%

(+ 10%)

1982

+ 254%

+324%

+ 274%

+150%

-18%

(+12%)

Dieser aus Lebensalterdaten gewonnene Befund wird durch eine Aufgliederung des Familienstandes der erwachsenen Mitglieder der Lebensgemeinschaften bestätigt 159 . Männer und Frauen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern, prozentuale Veränderung der Familienstandsgruppen Jahr

Ledig m

w

geschieden bzw. verheiratetgetrennt-lebend W m

verwitwet m

w

1972

100

100

100

100

100

100

1978

+ 148%

+ 108%

+ 93%

+ 199%

/

+ 18%

1982

+246%

+ 159%

+ 174%

+313%

/

+41%

Bei weitem am meisten hat sich der Anteil der Witwen und ledigen Männer an dieser Lebensform erhöht. 158 159

2

Ebd., S. 164. Ebd., S. 167.

Schmid

354

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Aufgrund der Zahlen kann angenommen werden, daß die nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit gemeinsamen Kindern die große Ausnahme bleiben. Hierfür spricht vor allem der niedrige Prozentsatz nichtehelicher Geburten 1 6 0 . Auch der vergleichsweise niedrige Prozentsatz lediger Frauen 1 6 1 spricht gegen eine Dominanz der aus Mutter und K i n d bestehenden Halbfamilie. In nichtehelichen Lebensgemeinschaften wachsen deshalb zum großen Teil ehelich geborene Kinder auf. In dieses Bild paßt auch, daß der größte Prozentsatz ihrer Mitglieder von Männern und Frauen in der Altersgruppe von 36 bis 55 Jahren liegt 1 6 2 . Männer und Frauen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern nach Altersgruppen und Jahr in % Altersgruppen

1972

1978 m w

1982 m w

m

w

1. 18-25 Jahre

/

/

13

15

9

13

2. 26-35 Jahre

/

/

31

34

32

35

33

32

44

49

41

48

3. 36-55 Jahre

38

51

46

42

50

46

4. 56 Jahre u. älter

29

(17)

10

/

9

/

1. + 2.

Die nichteheliche Lebensgemeinschaft stellt sich deshalb vor allem für Frauen - denen das Sorgerecht überwiegend zugesprochen wird - als nacheheliche Gemeinschaftsform dar. Trotz des hohen Anstiegs des Anteils lediger Männer, die mit Partnerin und Kindern zusammenziehen, wird aufgrund der niedrigen Nichtehelichenrate auch für sie die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht zu einer Alternative zur eigenen, ehelichen Familie. Es fehlt hierfür an gemeinsamen Kindern mit der Partnerin. Wenn man also ein gelebtes Verhalten für die Schöpfung neuen Rechts, die Begründimg eines Verfassungwandels oder die „herrschenden Anschauungen" verlangt, dann haben nur Randgruppen und keinesfalls die große Masse die eheliche Familie durch die Halbfamilie oder die nichteheliche Lebensgemeinschaft in ihrem Leben ersetzt. Ein weiteres Problem ist aufgrund der o. g. Zahlen deutlich geworden. Anders als die eheliche Familie, die grundsätzlich lebenslang ist, leben sol160 h . Tyrell in: Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hrsg.): Nichteheliche Lebensgemeinschaften i n der Bundesrepublik Deutschland, S. 107. 161 Ebd., S. 167. 162 Ebd., S. 165.

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che nichtehelichen Lebensgemeinschaften, soweit sie nacheheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern sind, im Widerstreit zu den biologisch begründeten Vater- oder Mutterinteressen und -rechten (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Denn das Kind, das in einer Lebensgemeinschaft mit dem sorgeberechtigten Elternteil und einem Dritten lebt, kann starke Bindungen zum nichtehelichen Partner entwickeln, die eine Öffnung für den eigenen, nicht sorgeberechtigten Vater oder die Mutter verhindern 1 6 3 . Im Gegensatz zu einer späteren Eheschließung bekennt sich bei der nachehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern der „Stiefeiternteil" nicht vor dem Staat zur Mutter oder dem Vater der Kinder und damit rechtlich und gesellschaftlich zu seiner Verantwortung für die Kinder. Gerade das Vorurteil von der bösen Stiefmutter oder vom bösen Stiefvater veranlaßt heute manchen ehelichen Stiefelternteil, mehr als für die eigenen Kinder zu tun. „Die Chance liegt für die rekonstituierte Familie gerade darin, daß sie bewußte Anstrengungen unternehmen muß, um zu einer Gruppe mit gemeinsamen Normen, Werten und Zielen zusammen zu wachsen und nicht, wie oft in der Normalfamilie beobachtet, standardisierte Verhaltensschemata und Rollenmuster unreflektiert übernimmt 1 6 4 ." Bei einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, wo der Wille der Partner nicht auf eine lebenslange Bindung und auf ein ebenso langes Einstehen füreinander gerichtet ist, steht zu vermuten an, daß ein solcher Versuch weniger oft gemacht wird und das K i n d emotional zwischen dem Partner und dem nicht sorgeberechtigten Elternteil aufgerieben wird. Probleme, die unmittelbar im Zusammenhang mit einer vermeintlich „herrschenden Anschauung" der auch nichtehelichen Lebensgemeinschaft als Familie diskutiert werden müssen. Wenn man auf die Anzahl der Personen abstellt, die in solchen Lebensgemeinschaften leben, dann ergab sich keine Dominanz. Auch erscheint es falsch, im Zusammenhang mit der nichtehelichen Lebensgemeinschaft auf den hypothetischen, vernünftigen Zeitgenossen abzustellen, wie das ζ. B. bei der Beurteilung der „guten Sitten" im bürgerlichen Recht der Fall ist. Diese werden als das Verhalten ermittelt, das gegen das Anstandsgefühl aller „billig und gerecht Denkenden" verstößt. Diese „billig und gerecht Denkenden" sind sicher weder ein Durchschnittsmaßstab, noch ist es sicher ob solche Zeitgenossen in der unterstellten Weise überhaupt urteilen würden. In diesem Zusammenhang muß es deshalb aufhorchen lassen, daß für die Beurteilung familiären Verhaltens lange Zeit auf die ebenso fiktive Figur des „bonus paterfamilias" abgestellt wurde. Gegen eine solche gleichstellende 163

Zu einem Fall der Einbenennung des Stiefkindes gegen den Willen des leiblichen Vaters, BVerwGE: 67 52 (58). 164 A. Sandhop: Stiefeltern: Eine soziologische Analyse der „rekonstituierten" Familie, S. 147. 2

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Wertung von nichtehelicher Lebensgemeinschaft mit ehelicher Familie spricht die Verantwortung zweier Menschen für das Kind, das aufgrund ihrer beider Liebe entsteht und das nicht in zwei Verwandtschaftsgruppen 165 und auch nicht in eine Zweierbeziehung, die sich zueinander bekennen vermag, geboren wird. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern ist nicht nur nichtehelich, sondern grundsätzlich auch außerehelich und damit außerrechtlich. An einer Vergleichbarkeit der individuellen Lebensgemeinschaften, wie dies ζ. B. bei der ehelichen Familie durch Vorschriften über die Pflicht zur gemeinsamen Lebensführung, die Gleichberechtigung beider Partner usw. entsteht, bestehen hier nicht. Auch wenn man überprüft, wie die Bevölkerung eine nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern beurteilt, w i r d dieses Ergebnis bestätigt. Stellt man auf die soziale Akzeptanz der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern generell innerhalb der Gesellschaft ab, so stehen folgende Zahlen zur Verfügimg. Eine Repräsentativbefragung 166 ergab, daß eine nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern nur 29 % der Bundesbürger billigen. 27 % der befragten Frauen und 30 % der Männer billigen solche Gemeinschaften. Einleuchtend, daß bezeichnende Unterschiede zwischen der obersten Bildungsgruppe (48 % billigen ein Zusammenleben mit Kindern) und der untersten Bildungsgruppe (nur 23 %) bestehen. Einleuchtend deshalb, weil für die Friseuse, die Kellnerin, die Verkäuferin und die Fließbandarbeiterin die Jugend einen großen Teil ihres Arbeitskapitals ausmacht. Acht Stunden am Band oder im Laden zu stehen erfordert ein hohes Maß an körperlicher und nervlicher Ausdauer. Von konjunkturellen Schwierigkeiten abgesehen, fällt nach der Erziehung der Kinder und damit im fortgeschrittenen Alter die Rückkehr in den Beruf auch aus gesundheitlichen Gründen schwer. Eine durch das Eherecht auch im Alter gewährte Versorgung ist deshalb für diese Frauen notwendig und wird daher auch angestrebt. Die oben beschriebenen Notwendigkeiten führen dazu, daß es sich vor allem Frauen mit guter Schulbildung oder aus der Oberschicht leisten können, auf die verpflichtende Institution der Ehe zu verzichten und trotzdem Kinder zu bekommen. Andere Frauen, die ihre Erfüllung auch und gerade in der Erziehung ihrer Kinder finden, sind demgegenüber auf die finanzielle Verpflichtung des Vaters der Kinder, auf ihren gesicherten Anteil am Familienvermögen angewiesen und der hohe gesellschaftliche Wert der Stellung als Ehefrau ist nur der Reflex dieser Verantworungsübernahme durch den Mann. Wer deshalb die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern neben der 165 Indiz hierfür ist § 1934 a BGB, der von einem belasteten Verhältnis zur väterlichen Verwandtschaftgruppe ausgeht. 166 Ein Sample von 1013 Bundesbürgern, a.a.O., S. 82.

III. Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

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ehelichen Familie dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterstellen will, muß sich überlegen, wie er diese Schutzfunktion der ehelichen Familie zugunsten der Hausfrau und Mutter bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern in vergleichbarer Weise gewährleisten will. Es drängt sich hier sogar der Verdacht auf, daß, genauso wie bei der in Art. 6 Abs. 1 GG lediglich geschützten Kernfamilie auch bei der Frage der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern wieder nur vom Standpunkt der Mittelschicht aus geurteilt wird. Das größere Bedürfnis nach materieller Versorgung und Regelung von Versorgungsfragen bei Personen mit niedrigeren Bildungsgraden spiegelt sich auch in der Pyramide von 13 %, 8 %, 7 % und 3 % wieder, in der Angehörige von nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Volks- oder Hauptschulabschluß, Real- bzw. Mittelschulabschluß, Abitur und Studium schriftliche oder notarielle Trennungsvereinbarungen treffen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß auf die Meinung der Gesamtbevölkerung abgestellt, eine herrschende Anschauung von der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern als „die Familie" nicht feststellbar ist. Nur wenn man für die Ermittlung der „herrschenden Anschauungen" auf Eliten Bezug nimmt, dann kann gerade diese Lebensform für die Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG maßgeblich sein. Denn vor allem Frauen mit gesichertem Einkommen oder überdurchschnittlicher Ausbildung können es sich leisten, auf die gesetzliche Teilhabe (Zugewinnausgleich) am Vermögen des Kindesvaters und auf den gesetzlichen Unterhaltsanspruch gegen ihn zu verzichten. Und daß diese Teilhabe bei einer sinkenden Durchschnittsehedauer immer interessanter wird, daran ist wohl nicht zu zweifeln. Als Mutter in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft muß man in einem Mindestmaße über finanzielle Reserven verfügen. Während der ersten Jahre des Kindes ist die Mutter weitgehend an das Haus gebunden. Pflegemütter und Kindermädchen sind teuer. Bei der heutigen Arbeitsmarktsituation wird die Rückkehr der Mutter in den Beruf, wenn das Kind das Kindergartenalter erreicht hat, zudem immer schwerer. Die Leistungen des neuen Erziehungsgeldgesetzes enden nach einem Jahr übergangslos. Danach bleibt Mutter und Kind nur noch die Sozialhilfe 167 . Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern bietet aber, genauso wie die nichteheliche Lebensgemeinschaft ohne Kinder, die Chance für die Verwirklichung neuer partnerschaftlicher Werte und Erfahrungen. Zwar zeigte sich in der Repräsentativbefragung 168 eine weitgehende Übereinstim167 Von nahezu 1800,00 D M netto sinkt bei Mutter und Kind der Anspruch vielleicht auf die Hälfte. 168 D e r Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, S. 56.

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

mung von verheirateten und nicht verheirateten Partnern in Bezug auf die Fähigkeit zur offenen Austragung von Konflikten, zur sexuellen Treue der Partner und zur Gemeinsamkeit von Hobbys und Interessen. Erhebliche Unterschiede ergeben sich aber bei dem jeweils eigenen Freundeskreis der Frau (31 % der Verheirateten finden dies wichtig gegenüber 57 % der Personen in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft) und des Mannes (29 % gegenüber 51 %), der Möglichkeit der Selbstverwirklichung (54 % gegenüber 71 %) und dem Bezug auf die Berufstätigkeit der Frau (32 % gegenüber 51 %). Auch spricht die Statistik von großen Alltagsproblemen der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die genauso wie die Ehe am Lebenslänglichkeitsideal, an dem Ideal der vermeintlich grenzenlosen Liebe und dem Verständnis scheitern kann. Beispielhaft sei hier der Widerspruch genannt, wenn die Befragten auf der einen Seite die Selbstverwirklichung des einzelnen und auf der anderen Seite die Gemeinsamkeit der Ausübung von Hobbys mit dem Partner rühmen 1 6 9 . Jedenfalls „herrschen", so man mehrheitliche Maßstäbe hierfür anwendet, heute keine Anschauungen, die die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern zur „Familie" des Verfassungsrechts machen. cc) „Vorgefundene, überkommene Lebensformen" Auch der Rückgriff auf überkommene Lebensformen bringt für die relativ neue Frage der Halbfamilie bzw. der nichtehelichen Familie kein anderes Ergebnis mit sich. Neben dem Rückgriff auf überkommenene Lebensformen zur Ermittlung der Strukturprinzipien des Verfassungsinstituts griff das BVerfGE auf zwei weitere Topoi zurück: nämlich den Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und auf anderere Verfassungsnormen 170 . Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet auch ein Freiheitsrecht des einzelnen. Eine andere Verfassungsnorm, die bei der Auslegung zu beachten sein könnte, ist ζ. B. das Sozialstaatsprinzip. Das Verhältnis von Art. 6 Abs. 1 GG zu diesen Normen oder Gewährleistungsarten wird später zu beurteilen sein. Jedenfalls ermöglichen die bisherigen Ergebnisse eine Stellungnahme zu der Frage, inwieweit Art. 6 Abs. 1 GG ein „offener" Begriff für die Verfassungsinterpreten und damit für einen zeitlichen Bedeutungswandel ist.

169

Ebd., S. 52. BVerfGE: 31, 58 (69). Auch muß geprüft werden, welche Regelungen im bürgerlichen Recht konsequent beibehalten wurden. 170

I I I . Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

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dd) Der „offene Begriff" Familie? Neben den statistischen Problemen, mit denen sich die empirische Soziologie verdienstvollerweise befaßt, bleibt das in der Familie wohl charakteristische Problem erhalten. Wie kann man Einstellungen zum Mitmenschen, zum Familienmenschen, durch theoretische Fragen erforschen? Und die Frage schließt sich an: Ist diesen Meinungen nicht ein Riegel durch die Verfassung vorgeschoben? Gibt es eine Idee der Verfassung, die den Menschen zwingt, über seine Augenblicksbedürfnisse hinweg, sich einer Institution zu unterordnen. Ein Argument, das in der Rechtsprechung des BVerfG ausdrücklich nicht angesprochen wird. Und dies gerade bei der Familie. Familie hat immer bedeutet, vor der Gesellschaft in seiner Schwäche aufgrund von Alter oder Bedürftigkeit geschützt zu sein. Familie war immer ein Synonym für Verantwortung. Das Entstehen und das Enden dieser Verantwortung ist deshalb - von den Römern und Germanen abgesehen - rechtlich geregelt. Die Scheidung von Vater und Mutter war immer schwieriger für die Beteiligten, als die Scheidung von Ehefrau und Ehemann. Der freie Willen von Menschen wurde unter dieses Ideal der Verantwortung für einen anderen Menschen gepreßt - gesellschaftlich, kirchlich, moralisch und letztendlich staatlich, wie die Regelungen auch des § 48 Abs. 3 EheG und der Härteklausel des § 1568 BGB eindrucksvoll belegen. Wenn die Gewährleistung des Art. 6 Abs. 1 GG in der Kontinuität dieser Betrachtungsweise steht, dann ist das Ideal „Familie" nicht für den einzelnen beliebig verfügbar. Es ist ein Wert, der die Erziehung der Menschen beabsichtigt und glaubt, durch seine bloße Existenz, einen „impact" auszuüben. Es läßt sich aus der Jahrtausende alten Geschichte der Familie, der Begründung ihrer Zuordnung durch Verwandtschaft und der Begründung der Verantwortung des Patriarchen für die Mitglieder der Familie, nicht anderes herleiten. Familie ist heute für den Staat ein kostengünstiges Plus, für die Mitglieder aber ein Ideal des Lebens füreinander. Vielleicht meint das BVerfG sogar dieses Ideal, wenn es vom „Institut von Ehe und Familie" spricht. Indiz hierfür könnte sein, daß vom Institut der Ehe oder der Familie getrennt voneinander fast nie die Rede ist. Wenn wir auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG ansehen wollten, würde das letztendlich zu einer Negierung der Freiheit des einzelnen auch vor dem Recht führen. Eine Fortführung dieses Gedankens macht dies deutlich: Hauptargument für das Verständnis der nichtehelichen Lebensgemeinschaft auch als Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG ist in der Literatur wohl Art. 6 Abs. 5 GG. Die gleichen Chancen würden dem nichtehelichen

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Kind nur dann eingeräumt, wenn es in einer auch rechtlich anerkannten Familie leben könne. Um aber eine eheliche mit der nichtehelichen Familie gleichbehandeln zu können, muß auch eine Ähnlichkeit dieser Lebensformen miteinander bestehen. Dies ist de lege lata weder der Fall noch de lege ferenda ohne Zerstörung des Sinns der nichtehelichen Lebensgemeinschaft möglich: Grundsätzlich ist es das Ideal der nichtehelichen Lebensgemeinschaft in Freiheit von gesellschaftlicher und rechtlicher Beeinflußung zur bindungslosen und deshalb um so schwerer erreichbaren Liebe mit dem Partner zu gelangen. Ein K i n d ist der Teilnahme an dieser freien und deshalb vermeintlich tieferen Liebe nicht auszusetzen. Das Ringen um das Verständnis miteinander setzt nämlich eine persönliche Autonomiefähigkeit voraus. Diese Fähigkeit zum Leben auch ohne den (die) anderen ermöglicht es im Falle des Scheiterns am Ideal der Lebensgemeinschaft auseinanderzugehen und nicht in der bequemen, äußerlichen „Konsenskruste" zu verharren. Eine Verrechtlichung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft - ζ. B. ein Zugewinnausgleichsanspruch der Mutter bei der Trennung - würde die Freiheit anders als ehelich zusammen zu leben, beenden und gleichzeitig an der Wurzel einer nichtehelichen Gemeinschaft rühren. Dem Individuum ginge so ein Freiheitsraum verloren, der auch innerhalb einer negativen Eheschließungsfreiheit in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt ist. Mit Blick auf die zahlenmäßige Erfassung von Familienmeinungen und -lebensverhältnissen ist zu fragen, welche Relevanz solche Zahlen für die Auslegung des Art. 6 GG gewinnen können. Hierüber ist man vor allem im Hinblick auf das zeitliche Moment geteilter Meinung. Scheinbar beide Extreme werden hierzu vertreten: - Eine Meinung w i l l den Familienbegriff des Grundgesetzes durch „interpretatorische Ermittlung des Wesens der Familie aus der Regelung im Familienrecht des BGB auf dem Stand von 1949 (Inkrafttreten des GG) und den Nachweis der Rechtstradition dieser Strukturelemente jedenfalls über die Zeit der Weimarer Republik hinaus" 1 7 1 ermitteln. „Stichtag" also 1949. - Etwas anderes scheint für all diejenigen Meinungen zu gelten, die die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern aufgrund ihrer zahlenmäßigen Verbreitung bzw. der Übernahme von Erziehungsaufgaben durch sie, als Familie im Sinne des Art. 6 GG geschützt sehen wollen. Stichpunkt ist hier der gesellschaftliche Wandel, dem ein Rechtsbegriff unterliegt. Grundsätzlich ist jeder Rechtsbegriff für einen Wandel in diesem Sinne offen. Dies ist als allgemeiner Auslegungsgrundsatz eine Selbstverständ171

H. Lecheler: Der Schutz der Familie, FamRZ 1979, S. 1 (3).

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lichkeit. Auf den ersten Begriff verblüfft es deshalb, wenn sich gerade im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG die Wendung „offener Begriff" einbürgert. Den „offenen Begriff" kennt die Methodenlehre bisher nicht. Welches Problem umschreibt er also? Dies erhellt sich vielleicht, wenn man auf den Gegensatz des „offenen Begriffs" eingeht, der, wenn auch selten und unpräzise mit dem Begriff „verfassungsrechtliches Idealbild" angedeutet w i r d 1 7 2 . Dieser Gegensatz, nämlich das verfassungsrechtliche Ideal, hat anscheinend wenig Überzeugungskraft. Mehrere Gründe, tatsächliche wie rechtliche, mögen hierzu beigetragen haben. Familien als Lebensgemeinschaften von Menschen sind genauso instabil oder stabil wie die Menschen, die sie bilden. Familien, die Mitglieder aus mindestens zwei Generationen umfassen, bergen den Autoritätsanspruch von Personen über andere in sich. Die Tatsache, daß Menschen nur sehr schwer fähig sind, Verantwortung für andere zu tragen und umgekehrt, diese Verantwortung für sich selbst zu akzeptierten, ist nichts Neues. Die Skepsis gegenüber einer so geprägten Lebensgemeinschaft Familie hat denn auch zu ihrer Todeserklärung geführt. Auch rechtlich paßt der Gedanke eines verfassungsrechtlichen Idealbildes schlecht zu unserer Vorstellung des freien, mit Menschenwürde und Handlungsfreiheit ausgestatteten Individuums. Eine Zweiklassengesellschaft, die in familienlose und Familienindividuen unterteilt, wird - auch unter Geltung des Gleichheitssatzes (Art. 3 GG) - nicht gewünscht. Dies hängt mit der Einschätzung und dem Respekt vor der ehelichen Familie zusammen. Nicht jeder, der keinen Partner im Leben findet, kann etwas dafür. Der Wunsch, ein Kind nicht zu bekommen, eine Ehefrau nicht zu nehmen, muß grundsätzlich in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft genauso geachtet werden, wie die Verantwortung für ein solches Verhalten. Zwar genießen Ehe und Familie besonderen Schutz, einen ausschließlichen Schutz, der in einer Teilung in familienlose und andere Mensche bestehen würde, ist aber nicht sachgerecht. Ehe und Familie würden sonst aus der Staatsperspektive nur Gütergemeinschaften und nicht Personengemeinschaften sein. Die Verantwortungslosigkeit einzelner Individuen, die ohne dazu befähigt zu sein, Kinder zeugen, trägt zu der K r i minalitätsrate und dem Anteil von Kriminellen in der Gesamtbevölkerung bei. Dennoch bietet die eheliche Familie ein Raster, das den einzelnen befähigt und ihm hoffentlich auch hilft, den eigenen Egoismus für andere aufzugeben. Ausgegangen werden muß von der ehelichen Familie, die eine Gesamtheit von Vater, Mutter und Kind impliziert und aus einer gesetzlichen Versorgungsgemeinschaft von Vater und Mutter und des Kindes gegenüber beiden Eltern besteht. Damit ist bereits der Personenkreis, auf den sich die Institution Familie bezieht, umschrieben worden. 172 Diskussion in den Essener Gesprächen, 14. Bd (1980), Gesprächsbeitrag von Scheuner: S. 38 f.

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I. Die Garantie der Institution Familie 4. Eine Gesamtheit von Personen

Das was eine Institution ausmacht, kann in sachliche und personale Elemente unterteilt werden. Sowohl der Begriff der Ehe als auch der der Familie knüpft grundsätzlich an eine bestehende Personengesamtheit an 1 7 3 . Als erstes muß festgestellt werden, daß Art. 6 GG in all seinen fünf Absätzen 1 7 4 an eine Mehrheit von Personen anknüpft 1 7 5 . Art. 6 GG umschreibt eine generationenmäßig aufgeschlüsselte - mindestens zwei - und bei den erwachsenen Mitgliedern geschlechtsverschiedene Zusammensetzung einer Personengruppe. Wenn man die Gemeinschaften von Ehefrau und Ehemann und von VaterMutter und Kind in Art. 6 GG geschützt ansieht, dann erst stellt sich die Frage, ob der „werdenden" und der „gewesenen" Familie gleicher Schutz zukommen soll. Bei der „werdenden" Familie muß entschieden werden, ob zu ihr die Ehe oder die eheliche Restfamilie zu zählen ist. Des weiteren muß die Frage beantwortet werden, ob „werdende" Familie auch der einzelne ist, der nicht in Verbundenheit mit einem Partner sein Kind erzieht. Kommt es hier auf den Willen des einzelnen oder der Restfamilie zur Vervollständigung an? Gibt es eine Familiengründungsfreiheit dergestalt, daß auch der Wunsch eines einzelnen mit seinem Kind zusammenzuleben von der staatlichen Ordnung genauso zu respektieren ist wie in der Gemeinschaft mit einem Partner? Die Frage, ob ein solcher familieninterner Freiraum vom Recht zu respektieren ist, hängt von der Aufgabenzuweisung an die Institution „Familie" ab. Als Aufgabe der Institution werden im Rahmen dieser Arbeit zwei unterschiedliche Ansatzpunkte dargestellt: zum einen eine an den Bedürfnissen des Menschen orientierte Aufgabenzuweisung an die Institution, zum ande173 Unstrittig wird unter beiden Begriffen eine Mehrheit von Personen verstanden. Aus dem Gedanken einer effektiven Grundrechtsgarantie wird die Eheschließungsfreiheit auch für den einzelnen, noch nicht i n der Ehe Verbundenen aus Art. 6 GG hergeleitet. Dies wird in dieser Form nicht mehr bestritten. Umgekehrt wird aus dem Gesichtspunkt des „Vertrauensschutzes" eine nachwirkende Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG zugunsten der Restfamilie hergeleitet (Kritik m.w.N. bei W. MüllerFreienfels: „Witwen "rente nach Nicht-Ehe aufgrund der Verfassung? JZ 1983,S.229 (533). Inwieweit aufgrund des Gedankens einer Effektivierung des Grundrechtsschutzes die „werdende" oder „gewesene" Personengemeinschaft in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG aufzunehmen ist, ist erst der dritte Schritt. 174 „Mutter" in Art. 6 Abs. 4 GG und „ K i n d " in Art. 6 Abs. 5 GG sind Begriffe, die auf eine Ergänzung durch die jeweils andere Bezeichnung Bezug nehmen. 175 Das Problem des Schutzes der „werdenden" (nicht-)ehelichen Familie, ist nach der hier vertretenen Sichtweise eine Frage der Effektivität des Familienrechtsschutzes und widerlegt die oben getroffene Feststellung, daß „Familie" an eine Personengesamtheit anknüpft, grundsätzlich nicht.

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ren ein ideelles Institutionenverständnis 176 , das die Institution als Mittel zur Erhöhung des Menschen begreift. Letzteres kann als Gegenpol zu einem „offenen Familienbegriff" gelten. Als Hauptaufgabe der Institution Familie könnte bei einer bedürfnisorientierten Betrachtungsweise der Institution die Formung von „Rohmaterial" des neuen Organismus zu einem vollwertigen Stammes- oder Staatsbürger angesehen177 werden. 5. Die Aufgabe der Institution Familie als Instrument zur Befriedigung von im Menschen angelegter Bedürfnisse

a) Der Grund für die Entstehung von Institutionen

wie der Familie

aa) Die verschiedenen Bedürfnisarten Der Ansatzpunkt für die Entwicklung der Institution sei die Anthropologie. „Der Mensch ist eine Tiergattung. Er ist elementaren Bedingungen unterstellt, die erfüllt sein müssen, damit das Individuum am Leben, die Rassen erhalten und der Organismus in jeder Hinsicht im funktionstüchtigen Zustand bleibt 1 7 8 . Zur Befriedigung dieser biologischen Bedürfnisse (vital needs) entwickelt der Mensch kulturelle Formen". In der Folgezeit wird aber nicht nur die Befriedigung der biologischen Bedürfnisse, sondern auch die Einhaltung dieser kulturellen Formen zu einem Antrieb für den Menschen. Es entstehen sog. abgeleitete Bedürfnisse (derivated needs), ζ. Β. die Suche nach Intimität innerhalb der Familie. Das biologische Bedürfnis ist damit der Grund für die Entstehung der Institutionen, seine Befriedigung ihre Aufgabe: Weil der junge Mensch als „Nesthocker" einer irgendwie gearteten Obhut zum Überleben bedarf, entsteht die Familie, deren Aufgabe die Übernahme dieser Obhut ist. Dieses Beispiel macht bereits deutlich, daß die Trennung von Aufgabe und Grund für die Entstehung von Institutionen bei einer rein biologisch- und bedürfnisbestimmten Betrachtungsweise kaum durchführbar ist. bb) K r i t i k Die These, daß kulturelle Formen auf individuelle Bedürfnisse des einzelnen zurückführbar seien, wird mit dem Argument angegriffen, daß hier der 176 Peter Häberle: Die Wesensgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, Karlsruhe, 1962, S. 101. 177 B. Malinowski: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, Zürich, 1949, S. 143. 178 Ebd., S. 75.

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

Entstehungsgrund und der Inhalt einer Institution in unzulässiger Weise gleichgesetzt würden. Zwar sei die Befriedigung zentraler Bedürfnisse ein glaubwürdiges Motiv für die Entwicklung bzw. das Entstehen kultureller und damit instrumentaler Handlungsformen 179 . Eine solche Auffassung der Institutionen habe aber zur Folge, daß ihr Aussagegehalt ob dieses Zirkelschlusses gering sei. Die Frage nach dem Inhalt der Institution w i r d dann durch die Frage nach den Bedürfnissen des Menschen ersetzt, ohne erstere zu beantworten. Und versucht man die Frage nach den Bedürfnissen eines oder der Menschen zu beantworten, dann wird deutlich, daß diese Antwort nur im Vordergrund eines bestehenden Wertungssystems beantwortet werden kann. Was sind denn die Bedürfnisse eines Menschen, die die Institution Familie befriedigen soll. Ohne Erklärung bleibe bei dieser Sichtweise weiter, warum es zur Ausprägung gerade der von uns heute vorgefundenen Handlungs- und Organisationsformen gekommen ist, und nicht zu vorstellbaren und möglichen Alternativen. Als Beispiel kann die mehrheitlich verwirklichte Familienerziehung anstelle der Kibbuzerziehung zitiert werden. Ein weiterer Punkt der K r i t i k ist das Problem des Wandels kultureller Formen. Ein Beispiel ist die zahlenmäßige Verbreitung der unvollständigen Familie im Verlauf dieses Jahrhunderts. Ein, im Vergleich zu anderen Epochen, liberales Scheidungsrecht und auch die materielle Möglichkeit der nicht (mehr) verheirateten Mutter, in eigener Wohnung mit dem Kind ohne Vater zusammenzuleben, hat die Zahl „der unvollständigen Familien" in die Höhe schießen lassen. Ein solcher Wandel kultureller Formen - die Halboder Restfamilie war früher ökonomisch oft nicht existenzfähig - ist für eine Ansicht, die die Institutionen aus Bedürfnissen ableitet, nur als Reflex auf den Wandel biologischer oder kultureller Bedürfnisse erklärbar. Warum sich aber die Bedürfnisse geändert haben, dafür bleibt eine solche Ableitung der Institutionen aus den Bedürfnissen die Erklärung schuldig. Die K r i t i k lautet also in einem Satz zusammengefaßt: Die Gleichstellung des Grundes für die Entstehung der Institution mit Aufgaben, die eine Institution übernimmt oder bewältigt, nehmen einer solchen Institutionentheorie viel am Erkenntnisgehalt. Die Berechtigung der K r i t i k gegenüber einem Ansatz, der die Funktion der Institution Familie in der Befriedigung der oben genannten, zwei Arten von Bedürfnissen sieht, deutet sich bereits bei der Frage nach dem Personenkreis der in Art. 6 GG geschützten Familie an.

179

H. Rosenbaum: Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft, S. 7 ff (10).

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cc) Das Beispiel der in Art. 6 Abs.l GG geschützten Kernfamilie Nur die Kernfamilie w i r d im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG geschützt, nicht jedoch erweiterte Familienformen. In der Kernfamilie w i r d in der Regel die „Formung des Rohmaterials" erledigt 1 8 0 . Nicht einsichtig ist aber, daß, wenn ζ. B. die Großeltern sich faktisch an Elternstelle um ihre Enkel kümmern, diese Gemeinschaft, die ebenfalls Kinder versorgt, nicht vom Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfaßt sein soll 1 8 1 - 1 8 2 . Demgegenüber ist das Verhältnis von Stiefelternteil und Kind durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt 183 . Hier müßten seitens des BVerfG qualitative Begründungsversuche unternommen werden. Entweder setzt „Familie" - eine Identität von Zeugungs- und Formungsgemeinschaft voraus, und deshalb kann die erweiterte Familie, die im Einzelfall unmittelbar die Formung der Enkel übernimmt, keine „Familie" sein; oder - die Formung gerade durch Vater und Mutter als Gewähr für die beste Formung des Nachwuchses ist qualitatives aliud zur Sozialisationsleistung der Großeltern. Selbst wenn man an die Funktionsausübung der Familie hier qualitative Erfordernisse (Erziehung durch Vater und Mutter) knüpft, hat ein biologischer Determinismus mit einem weiteren Problem zu kämpfen. Es läßt sich nämlich nicht ein Bedürfnis einer erfüllenden Institution zuordnen 1 8 4 , sondern Institutionen sind das Ergebnis von Bedürfnis und Funktionssynthesen und lassen sich gerade nicht monokausal biologisch, psychologisch oder politisch herleiten. Hervorragendstes Beispiel für die Wahrheit dieser These scheint die Familie. Das biologisch begründete Kausalglied zwischen Mutter, Erzeuger und „Ergebnis" (Kind) war bis zur Einführung moderner Fortpflanzungstechnologien zwingend. Erzeuger und Mutter mußten miteinander in Kontakt kommen. Das ist aber die einzig klare, biologische Aussage, die man vor der gedanklichen Vorstellung von Samenbanken gewinnen konnte und deshalb in § 1591 Abs. 2 S. 1 BGB vermutet wurde. Wie soll die Biologie die Erziehungsbedürftigkeit des Kindes und die Dauer der Familienzugehörigkeit bestimmen? Angesichts von Schulpflicht und erhöhten Anforderungen an die Alltagsintelligenz (Straßenverkehr, 180 Auf die „Produzenten" kommt es bei einer so gewählten Funktionszuschreibung nicht an. 181 Falls keine Pflegeerlaubnis nach dem JWG besteht. 182 In diesem Zusammenhang ist es inkonsequent auf der einen Seite nur die Kernfamilie in Art. 6 GG schützen zu wollen und auf der anderen Seite den Großeltern als sozialen Eltern die wirtschaftlichen Hilfen nach dem JWG zu versagen, BVerfG, Beschl. v. 10.11.1981, FamRZ 1982, S. 244, f. iss BVerfGE: 18 97 (105 f). 184 H. Schelsky: Zur soziologischen Theorie der Institution, S. 224.

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Schulbrotkauf) auch bei Geschäftsunfähigen und Heranwachsenden sind biologische Säugebedürfnisse von keiner maßgeblichen Bedeutung mehr. Dies ist wohl der kritische Punkt für alle am Biologismus verhafteten Ansichten: Ihr Aussagegehalt ist aufgrund der sachlich zwingenden Universalität nur grundsätzlich - der Wandel in der hinter dem „Ob" der Institution liegenden Entscheidungsalternativen ist für sie nicht erfaßbar. Hier zeigen sich Stärke und Schwäche einer solchen Ableitung in einem: Die „Stärke", die Eigengesetzlichkeit einer erkannten Natur ersetzt die Suche nach weiterer Begründung. Der Hinweis auf den vermeintlich natürlichen Ursprung (= Funktion) der Institution ist die Rechtfertigung für die gewählte Alternative und gleichzeitige Unterdrückung real existierender Entscheidungsalternativen. Der Kampf gegen eine solche Sichtweise setzt schon in der Spätscholastik ein, und vor allem später in der Aufklärung. Die Spätscholastik entwickelt, indem sie Gegenpositionen aufstellt, und im Widerstreit mit diesen, eine eigene Begründung ζ. B. des Wesens der Ehe versucht, eine Durchbrechung dieser vermeintlichen Stringenz der Gedankenführung 185 . Der Aussagegehalt einer so universellen Anschauungsweise, ist wegen der Gleichsetzimg von Ursprung und Funktion einer Institution für weitere Konkretisierungen untauglich. Die weitere Schwäche einer solchen Sichtweise besteht darin, daß das, was „Familie" ist, aus der reinen, beinahe funktionalistischen Sichtweise der Familie als Institution zur Erfüllung von Erziehung- und Pflegebedürfnissen nicht gewonnen werden kann. Dies ergibt sich schon aus der Geschichte der Familie selbst. Im Laufe der Jahrhunderte ist die Erziehung unterschiedlich folgt - man denke nur an das Ammenwesen, und das Hauslehrerwesen, die Innenverfassung der Familie mit einer „schwachen" Mutter und einem „starken" Vater - so daß sich bei der von Art. 3 Abs. 2 GG geprägten Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG nicht von einer sicheren Kontinuität, die dem biologischen oder kulturellen Bedürfnis folgt, argumentieren läßt. Gerade in der Familiengeschichte Europas begegnet uns ein Familienmodell, das der Kernfamilie und der durch sie erfolgten „Formung des Rohmaterials" neue und andere Akzente gibt: das Ammenwesen und die Beziehung der Kinder zu Kindermädchen und Hauslehrern. Bei der Staatsbevölkerung im 18. Jahrhundert herrschte die Gewohnheit, Ammen auf dem Lande zu beschäftigen 186 . Grund hierfür war die starke Beanspruchung der Mutter durch Arbeit oder die Entlastung der reichen Frau von den befürchteten Mühen und Folgen (frühzeitiges Altern) des Stillens. Diese körperliche Entfremdung zwischen leiblicher Mutter und ihrem 185 186

D. Schwab: Ehe und Familie nach den Lehren der Spätscholastik, S. 73 (80 ff). J. Donzelot: Die Ordnung der Familie, S. 25 ff.

III. Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

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Kind setzte sich bei den Armen in der Kinderarbeit, bei den Reichen im Kontakt mit dem Kindermädchen und dem Hauslehrer fort. „Formung des Rohmaterials" in der Familie? Ob Mutter und Vater zusammenleben, ob Kinder mit Frauen (und), Männern (und) oder Gleichaltrigen aufwachsen, ist - kein biologisch - monokausales Postulat eines Erziehungsbedürfnisses des Kindes, sondern das Ergebnis einer wertenden Chancen- und Risikoabwägung. Eine Mutter, der ein Mann gesetzlich verpflichtet ist, und von der er nur unter Zahlung seiner „Hypotheken" 1 8 7 zu einer zweiten Ehefrau überwechseln kann, hat bessere Chancen sich um ihr Kind zu kümmern. Eine Gemeinschaft, in der das gegenseitige Tragen der Lasten zur Pflicht wird (§§ 1356,1359,1360 a BGB), ist vielleicht stärker als eine, die lediglich ein faktisches Synallagma der Unterhaltsleistungen für die Zeit des Zusammenseins kennt. Sie ist im Normalfall zu einer finanziellen und persönlichen Unabhängigkeit vom Staat eher fähig (vor allem in Bezug auf das Scheidungsfolgenrecht) als die faktische „Familie". Die eheliche Familie bietet damit ein Raster für den Staat und das Individuum. Dem Staat ist bei der ehelichen Familie aufgrund ihrer alle Familien egalisierenden, von ihm geschaffenen gesetzlichen Rahmenordnung ein Nachprüfen der konkreten Wahrnehmung familiärer Funktionen nur bei Mißbrauchsfällen gestattet. Auf der anderen Seite sind Kernfamilien leicht von anderen Gruppen abgrenzbar. Der einzelne muß seine Liebe zum anderen vermögensmäßig nicht durch Schutz- und Trutzverträge aufwiegen. Ehe und Familie sind damit Personen· und nicht nur Gütergemeinschaften. Wenn man die biologischen Bedürfnisse als Grundlage der Familie nicht akzeptiert, dann muß man bei einer Familienbestimmung durch sonstige Bedürfnisse Stellung nehmen, wessen Bedürfnisse erfüllt werden. Entweder die des Staates, die der Frau, die des Mannes oder die der Kinder? Es kann beispielsweise ein Bedürfnis für die Frau und den Mann sein, sich von dem ungeliebten Ehepartner zu trennen. Den Ausgleich, den unser Recht zwischen den anfänglich gleichrangigen Bedürfnissen aller Individuen trifft, ist aufgrund der Bedürfnissynthese eines Individuums nicht erklärbar. Durch die Bedürfnisse eines Menschen oder einer Kultur ist auch nicht erklärbar, wieso Frauen, die vor der Unterdrückung des Ehemannes fliehen wollten, wegen des Kindes gefühlsmäßig in der Ehe verharrten. Diese Beispiele machen zweierlei deutlich: - Das „natürlich" kann in Art. 6 Abs. 2 GG lediglich als Ausdruck einer juristischen Wertung und nicht als biologisch bedingte, zeitunabhängige Familienkonstante aufgefaßt werden. 187

BVerfGE: 66 84 (93,99), 68 (256).

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I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

- Bei der Institution „Familie" handelt es sich keinesfalls um das Ergebnis einer aus individuellen Primärbedürfnissen unmittelbar resultierenden Bedürfnissituation. Das monogame, lebenslange Zusammenleben mit dem Vater/Mutter der gemeinsamen Kinder ist weder für die immittelbare biologische Ernährungsbedürftigkeit der Kinder noch der Gatten erforderlich. Es bietet aber eine Chance für die Autonomie der Familie vom Staat. Es handelt sich bei der heute gelebten Familie um eine multifunktionale Institution, die nicht nur ein biologisches Grundbedürfnis, sondern mehrere Interessen des Menschen zu befriedigen sucht. Bereits diese Ergebnis rechtfertigt einen bedürfnisbedingten Ansatz der Institutionenlehre. Die Schwäche einer allein bedürfnisbedingten Ableitung der Institutionen wurde oben bereits dargelegt. Beachtlich sind die Erkenntnisse, die ein solcher Ansatz bezüglich der gegenseitigen Beeinflussung von Bedürfnisarten einerseits und der Ausprägung der Institutionen andererseits aufzeigt. Hintergrund dieser Fragestellung muß sein, ob w i r in unserem Gesellschafts- und Rechtssystem eine Ersetzung der Institution der ehelichen Familie mit Kindern feststellen können. b) Veränderte

Bedürfnisse,

veränderte Institutionen

Vorangestellt werden müssen diesem Modell folgende Überlegungen: - Zum einen ist mit dem Wortgebrauch von „Institution" noch nichts Abschließendes über den Aussagegehalt dieses Fremdwortes gesagt. Die „bedenkenlose" Verwendung des Institutionenbegriffs für die Familie gründet sich auf der nirgends angezweifelten Qualifizierung der Familie als Institution. Ob man seinen Institutionenbegriff weit oder eng faßt, die Familie als Institution per se wird nirgends in Frage gestellt. Zwei Arten von Grundbeziehungen zwischen Bedürfnissen und Institutionen sollen unterschieden werden 1 8 8 : Jede Institution befriedigt zugleich mehrere Bedürfnisarten. Das ist wohl auch das Bild, das der Verfassungsgeber bei der Familie vor Augen hat, in Art. 6 Abs. 2 GG ist dann von Pflege und Erziehung des Kindes die Rede. Auch wenn man sich darüber einig ist, daß Art. 6 Abs. 2 GG ein einheitliches Erziehungsgrundrecht gewährleistet, dann steht hinter dieser Formulierung die Verpflichtung der Eltern auch in der Familie des Art, 6 Abs. 1 GG mehrere Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Zu nennen wäre etwa das Bedürfnis nach materieller Versorgung ζ. B. durch Kleidung, Essen und Fürsorge im Krankheitsfall, aber auch das Bedürfnis nach ideeller Versorgung, nach Erziehung als Versorgung ζ. B. mit Geschichten, Erfahrungen, Liebe und Tadel. 188

H.Schelsky: Zur soziologischen Theorie der Institution, S. 224 ff.

I I I . Die „ I n s t i t u t i o n " Familie

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Jede Bedürfnisart findet ihre Befriedigung in mehreren Institutionen. Ein zutreffendes Beispiel zur Illustration dieser These scheint der geschichtlich nachweisbare Auszug des erwerbstätigen Mannes aus der Arbeitsfamilie zu sein. Wie man auch am Beispiel einer familial-strukturierten Gesellschaft sehen kann, füllte ein Familiemitglied in früherer Zeit die „Arbeitgeberposition" gegenüber den übrigen Familienmitgliedern aus. Vor allem in der Industrialisierungsphase nimmt die Verbreitung des von einem Nichtfamilienmitglied lohn- und arbeitsabhängigen Familienvaters zu. Das Bedürfnis, seinen und den Unterhalt der Familie zu decken, kann nicht (mehr) innerhalb der Institution Familie gedeckt werden. Es w i r d in mehreren Institutionen - vom Arbeitgeber und der Familie - gedeckt 189 . Vom verfassungsrechtlichen Standpunkt wäre es eine unzulässige Vorwegnahme des Ergebnisses, wenn man diese Relation von Bedürfnis und Institution durch das Nebeneinander von familiärer und schulischer Erziehung beweisen wollte. Hier könnte es sich nämlich um die Befriedigung zweier unterschiedlicher Bedürfnisse in zwei unterschiedlichen Institutionen handeln. Die Tatsache, daß die i.d.R. staatliche Schule ab dem siebtem Lebensjahr mit verfassungsrechtlicher Billigung die Erziehung der Kinder beeinflußt, darf nicht zur Begründung der These: Das Kind befriedigt Erziehungsbedürfnisse durch die Institution Schule und die Institution Familie, herangezogen werden. Zum einen ist das Erziehungsbedürfnis, das in der Schule befriedigt wird, ganz anderer Natur sein als dasjenige, das durch die Eltern befriedigt wird, ζ. B. lernt man Mathematik in der Schule, gesellschaftliche Umgangsformen hingegen, die genauso zur Erziehung gehören, im Elternhaus. Es würde sich damit um zwei Bedürfnisarten handeln, die jeweils in einer Institution befriedigt werden. Zum anderen würde man eine große Kontroverse - den Balanceakt zwischen staatlicher und familiärer Erziehung als maßgebend für den Grad der sozialen Mobilität innerhalb unserer Gesellschaft - in ihrer Bedeutung verkennen. Der Streit geht gerade darum, welches Maß an elterlicher Erziehung nach dem Grundgesetz „natürlich" ist. Je größer familiärer Einfluß auf die Erziehung und Ausbildung des einzelnen ist, desto leichter können sich Familienerbstände bilden. Reiche Eltern können in einem solchem System durch eine gute Ausbildung ihrer Kinder ihren Reichtum gesicherter weitergeben als in einem Leistungssystem unter hohem Anteil des Staates an den Bildungsträgern (Gymnasien, Berufsschulen). 189 Auch die Rolle der Frau ändert sich bedürfnisbedingt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts: die Frau macht seit Ende des 19. Jahrhunderts eine dem Mann entgegengesetzte Entwicklung durch. Sie kann sich aus dem Familienerwerbsleben zurückziehen und wird zur Familienwärme schaffenden Hausfrau am Herd. Der Teil des Unterhalts, der in Dienstleistungen und im Krankheitsfall auch in Sachzuwendung besteht, wird dem Mann durch die Familie gewährleistet.

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Schmid

I. Die Garantie der I n s t i t u t i o n Familie

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- Zu den beiden „Größen" Bedürfnis und Institution läßt sich eine dritte in Beziehung setzen: die Zeit. H. Schelsky hat für das Verhältnis dieser drei Größen zueinander ein auch graphisch darstellbares Modell entwickelt 1 9 0 . Unter Berücksichtigimg einer zeitlichen Entwicklung besagt das Modell, daß „vitale, biologisch bedingte Grundbedürfnisse sich in Primärinstitutionen erfüllen, die aus sich heraus aber neuartige Folgebedürfnisse, sozusagen abgeleitete Bedürfnisse ersten Grades entwickeln, die wiederum in neuen Institutionen „zweiten Grades" erfüllt werden, die ihrerseits neue Bedürfnisse aus sich hervorbringen usw. Damit entsteht eine prinzipielle Hierarchie von Bedürfnissen und damit auch von Institutionen auf Grund der notwendigen Entwicklung abgeleiteter Bedürfnisse und ihrer institutionellen Erfüllung 1 9 1 . usw.

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