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German Pages 260 Year 2014
Lars Alberth Die Fabrikation europäischer Kultur
Kultur und soziale Praxis
Lars Alberth (Dr. rer. soc.) ist Soziologe an der Universität Umeå, Schweden. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kindheits-, Kultur- und Körpersoziologie in einer macht- und herrschaftsanalytischen Perspektive.
Lars Alberth
Die Fabrikation europäischer Kultur Zur diskursiven Sichtbarkeit von Herrschaft in Europa
Diese Studie wurde unter dem Titel »Die Fabrikation europäischer Kultur« im Jahr 2013 am Fachbereich G – Bildungs- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal als Dissertationschrift angenommen.
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Inhalt
Danksagung | 9 Siglenverzeichnis der Sprecher | 11
1 EUROPA UND DIE F ABRIKATION VON KULTUR | 13 1.1 Die Fragestellung: Wie wird Kultur fabriziert? | 14 1.2 Der Untersuchungsgegenstand: Die diskursive Fabrikation europäischer Kultur | 19 1.3 Zur Anlage der Studie | 20
2 DIE KULTURELLE F ORMATION: V ON W ALTER BENJAMINS GESCHICHTSKRITIK ZU DEN REGELN DER K ULTURFABRIKATION | 25 2.1 Geschichte und Kultur als Ausdruck von Herrschaft | 25 2.2 Die diskursiven Regeln der Kulturfabrikation – die kulturelle Formation | 30
3 KULTUR IM DISKURS DER S OZIOLOGIE | 35 3.1 Positionen der Kultursoziologie | 37
3.1.1 Georg Simmel: Kultur als galvanisches Tauchbad | 38 3.1.2 Kultur als Gesellschaftsvergleich | 40 3.1.3 Kultur als anthropologische Konstante | 47 3.1.4 Kultur als praktische Ordnung | 53 3.2 Strategien der Fabrikation von Kultur | 58 3.2.1 Erinnern | 62 3.2.2 Erfinden | 69 3.2.3 Gestalten | 77
4 WIE DIE DISKURSIVE F ABRIKATION VON KULTUR UNTERSUCHEN? | 87 4.1 Konturen diskursanalytischer Verfahren | 88 4.1.1 Historischer Nominalismus | 89 4.1.2 Macht | 92 4.1.3 Diskurs als Arena | 96 4.2 Das Archiv: Politische Reden und ihre Funktion | 98 4.3 Operationalisierung und Auswertung | 107
5 FABRIKATIONEN DER KULTUR – DREI NARRATIVE | 113 5.1 Europa als Fortschrittsprojekt – ein impliziter Kulturbegriff | 115
5.1.1 Eine politische Geschichte alter Männer | 115 5.1.2 Kulturelle Allianzen, politische Antagonismen und Außenräume | 124 5.1.3 Verfassungsvertrag, politische Klasse und Zivilgesellschaft: Governing the Bottom-Up I | 138 5.2 Kultur als Fundament | 147
5.2.1 Die Grenze als Fundament: das Christlich-Jüdische und der Islamismus | 151 5.2.2 Werteregister und Bildungskanon | 156 5.2.3 Lange Zeit und Globalisierung | 162 5.3 Kultur als Instrument und Humankapital | 171
5.3.1 Kultur als Wirtschaftssektor und Humankapital: Governing the Bottom-Up II | 173 5.3.2 In die Zukunft investieren | 178 5.3.3 Der ineffiziente Balkan | 181 5.4 Zusammenfassung | 186
6 KULTURFABRIKATION, ARENAPROZESSE UND HERRSCHAFTSKONSTELLATIONEN | 191 6.1 Die Berliner Konferenz als Arena | 193 6.1.1 Die Diskurskoalition | 194 6.1.2 Diskurskomplizen | 200 6.1.3 Marginalisierte Sprecher | 210
6.1.4 Die Arena »Berliner Konferenz« – Zusammenfassung | 220 6.2 Herrschaft durch Kultur – Die kulturelle Formation und die Beherrschten Europas | 225 6.2.1 Europas Vergessene | 227 6.2.2 Europas Stumme | 229 6.2.3 Europas Gefolge | 230 6.2.4 Europa im Kontext von Kultur als Herrschaft | 231
7 SCHLUSSFOLGERUNGEN: K ULTUR ALS PARTIKULARES FABRIKAT | 235 Tabellenverzeichnis | 243 Literaturverzeichnis | 245
Danksagung
Ohne die Großzügigkeit von Doris Bühler-Niederberger und das hartnäckige Interesse von Annette Schnabel wäre »Kultur« noch immer eine unproblematische Kategorie für mich. Beiden sei ganz herzlich dafür gedankt, mir die Zeit und die Unterstützung gewährt zu haben. Die Arbeit wäre ohne folgende Personen nicht fertig gestellt worden: • in Wuppertal und Köln: Alexandra König, Steffen Eisentraut, Jessica Schwittek, Oliver Berli, Miriam Böttner, Aytüre Türkyilmaz, Florian Grötsch, Matthias Bandtel, Dima Zito, Stephan Wiesmann, Felicia Brus, Peter Imbusch und Heinz Sünker • in Trier: Martin Endreß, Stefan Nicolae und Andrea Pabst. • in Witzenhausen: Ulrike und Daniel Kofahl. • in Hannover: Gabriele Wagner und Matthias Hahn. • in Augsburg, München und Berlin: meine Familie, Franziska und Gernot Hofmiller, Steffi Niederzoll, Sabina Schutter und Oliver Dimbath. Vilma Symanczyk-Joppe und Steffen Eisentraut sei für das Lektorat gedankt. .
Siglenverzeichnis der Sprecher
AG BB BF-W BN CS-S DSM ElB EnB ErB GB GS H-GP JD JF JL JMB KS NG NL ERV RvW VH VŠ WS WW
Andreas Georgi Bazon Brock Benita Ferrero-Waldner Bernd Neumann Christian Schwartz-Schilling Danilo Santos de Miranda Elmar Brok Endre Bojtar Erhard Busek Georg Boomgarden Georges Soros Hans-Gert Pöttering JíĜi Dienstbier Ján Figel' Jo Leinen José Manuel Barroso Klaus Staeck Nilüfer Göle Norbert Lammert Emílio Rui Vilar Richard von Weizsäcker Volker Hassemer Vladimir Špidla Wolfgang Schäuble Wim Wenders
1 Europa und die Fabrikation von Kultur
»Europa hat in einem Jahrhunderte währenden zivilisatorischen Prozess, in friedlicher Entwicklung und kriegerischer Zerstörung, seinen Kanon moderner humaner und kultureller Ideale erstritten und akkumuliert. Die inhaltlichen Quellen dieses Kanons basieren vor allem auf der griechischen Antike, dem christlichen Glauben mit seinen jüdischen Wurzeln, dem römischen Staats- und Rechtsverständnis sowie der Renaissance und dem Geist der Aufklärung. Europa hat aber auch in den zwei Weltkriegen und der Shoa die Außerkraftsetzung des humanistischen Wertekanons erfahren. Dies sind die beiden existenziellen kulturellen Bedingungen für den Beginn und Verlauf der europäischen Integration. Sie ermöglichten und veranlassten die Gründung des Europarates sowie der Montanunion und nachfolgend der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft/Europäischen Gemeinschaft/ Europäischen Union.« (Deutscher Bundestag 2007)
So hält es der Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« für die 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages fest. Die Kultur Europas wird dabei auf religiöse, juristische und damit normative Grundlagen zurückgeführt; sie sei in der Vergangenheit durch antimoderne politische und kriegerische Erfahrungen des Kontinents bedroht gewesen – kollektive Erfahrungen, die als Katalysatoren liberaler, humanistischer und aufgeklärter Ideale fungierten und dem Kontinent letztlich eine glückliche ökonomische Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritt bescherten. In dem eingangs zitierten Absatz finden sich einige grundlegende Motive wieder, die in den Reden der kulturpolitischen Veranstaltung »Berliner Konferenz« ziemlich genau ein Jahr zuvor, im November 2006, vorgetragen wurden, die sich der Bestimmung der kulturellen Dimension Europas widmete. Die in den dort gehaltenen Reden wie auch im obigen Zitat implizierte These, dass die politischen Institutionen der EU als Folgeleistungen und legitime Repräsentanten europäischer Kultur verstanden werden
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müssen, ist aber nicht selbstverständlich.1 Das Ziel der hier unterbreiteten Arbeit ist es daher, diskursanalytisch herauszuarbeiten, wie in der öffentlichen Arena »Berliner Konferenz« europäische Kultur fabriziert wird. Dafür muss zunächst der Begriff der Kultur selbst ›dekonstruiert‹ werden, d.h. seiner soziologischen Selbstverständlichkeit beraubt werden: Bevor die Analyse der Fabrikation von Kultur in der sozialen Wirklichkeit vorgenommen werden kann, muss der Begriff auch in seiner soziologischen Verwendbarkeit eingeschränkt und präzisiert werden.
1.1 D IE F RAGESTELLUNG : W IE WIRD K ULTUR FABRIZIERT ? Die hier unterbreitete These einer Fabrikation von Kultur nimmt das Verständnis von Kultur als sozial produzierte Einheit ernst, insofern sie die Herausbildung einer eigenständigen gesellschaftlichen Sphäre ›Kultur‹ dokumentiert und als spezifische Selbstbeschreibung der Gesellschaft an soziale Prozesse zurückbindet: ausgestattet mit entsprechenden Geld- und Fördertöpfen, ausgebildetem Personal (Kuratoren, Archivare, Wissenschaftler), Organisationen (Stiftungen, Museen, Bibliotheken, Theater- und Opernhäuser) und entsprechenden Politiken (Bildungs- und Kulturministerien) usw. wird Kultur als Realitätsfeld erzeugt. Ich schlage vor, nicht von einer Vorgängigkeit von Kultur auszugehen, sondern stattdessen Vollzug und die Fabrikation ihrer sonderbaren Existenz zu untersuchen. Kultur mag als zweckfrei und als gesellschaftlich notwendige Grundlage erscheinen – dazu muss sie aber erst einmal hergestellt werden. Sie ist eingebunden in soziale Relationen, denen sie erst als interessensgebundene Selbstbeschreibung der Gesellschaft entstammt. Kultur wird somit als eigenständige Metapher der Gesellschaft sichtbar – als eine Selbstverständigung über die Ge-
1
Würde die EU ein adäquates Abbild Europas darstellen, so wären die Diskussionen über die Erweiterungen müßig. Bereits die geographische Konvention, Europa bis an den Ural reichen zu lassen, schließt Territorien ein, die mit den mentalen Karten, was zu Europa gehöre, nicht übereinstimmen mögen. Der Balkan erscheint als Grenzgebiet und Staaten wie Aserbaidschan oder Kasachstan dürften wohl von vielen als Teil Asiens aufgefasst werden, während für das EU-Land Zypern, das von der Geographie Asien zugerechnet wird, genau die umgekehrte Zuschreibung gelten dürfte. Freilich betrifft dieses Problem eher die süd- und osteuropäischen Grenzbereiche als zentraloder westeuropäische Staaten.
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genwart mit ihren Grundlagen, Geschichten und Grenzen, mit ihren Strukturen, Prozessen und Substanzen. Der Begriff der Fabrikation ist vor allem von der Wissenschaftssoziologin Karin Knorr-Cetina eingeführt worden, deren Analysen die Konstruktion von naturwissenschaftlichen Fakten im Forschungslabor behandelten (Knorr-Cetina 1984). Dabei sah sie die Fabrikation naturwissenschaftlicher Fakten in unterschiedliche Rationalitäten begründet, die sich auf die Produktion von Wissen im Labor, die Präsentation in Forschungsberichten, Vermittlung in der Forschungsgemeinde und schließlich die Dateninterpretationen beziehen. Durch teilnehmende Beobachtung an Labortätigkeiten dokumentierte Knorr-Cetina die Herstellungsweisen von Wissen und nicht allein seine inhaltliche Struktur. In den Blick gerieten damit nicht allein die getätigten Aussagen, sondern darüber hinaus die sozialen Kontextbedingungen dieses Wissens. Aber wenn Natur in den Labors, in den Forschungsberichten und auf Tagungen hergestellt wird, was sind dann die Kontextbedingungen der Fabrikation von kulturellen Realitäten? Sicherlich gehören alle Orte dazu, an denen Kulturgüter produziert werden, d.h. die Werkstätten, die privaten Schreibstuben und die Büros der Bildungseinrichtungen, die Ateliers und Museen, aber auch die Massenmedien: Zeitungen, private und öffentliche Sendeanstalten sowie das Internet. Ausstellungsobjekte und Kataloge, Erstdrucke und Kommentare, Posterreproduktionen und Postkarten bekannter Gemälde, audiovisuelle Konsumartikel: Sie fungieren als symbolische Referenzen eines Realitätsfeldes ›Kultur‹, die in typischen Inszenierungsformen sichtbar werden sollen: in Lesungen, Opernaufführungen, Punkkonzerten, Sportveranstaltungen und anderen Ereignissen des öffentlichen Lebens; schließlich gründet Kultur auch in jenen Tätigkeiten der Dokumentation und Inskription, die von den Ethnologen, Historikern und Anthropologen, von den Reportern und Fotografen angefertigt werden.2 Praxeologische Ansätze innerhalb der Kultursoziologie haben dieses ›doing culture‹ (Alexander 2004; Hörning/Reuter 2004b; Reckwitz 2008) hervorgehoben. Zu Recht pochen diese auf die Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen ›Kultur‹ produziert wird. Damit geht eine Profanisierung der Kultur als körperliche, vorreflexive und stumme Hervorbringung von sozialen Differenzen einher. Doch die Hinwendung zu den alltäglichen Praktiken als Lokus von Kultur verstellt zugleich den Blick darauf, wie es gerade dann gelingt, aus der Viel2
Nach längerer Abwägung und Diskussion mit mehreren Kolleginnen habe ich mich dazu entschieden, durchgängig das generische Maskulinum zu verwenden. Damit sind selbstverständlich auch Frauen als Vertreterinnen der bezeichneten Gruppen oder Kategorien gemeint. Wenn einzelne Gruppen mehrheitlich oder exklusiv durch Frauen gebildet werden, werden diese mit dem generischen Femininum gebildet.
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zahl an Praktiken einen Bereich herauszulösen, der als legitimer Ausdruck von Kultur gilt, und diesen sowohl gegen die Vorstellung einer Natur als auch gegen andere Kulturen abzugrenzen. Die Fabrikation von ›Kultur‹ geht daher stets mit partikularen Interessen einher und ihre Analyse muss dementsprechend auch die Macht- und Herrschaftsbeziehungen berücksichtigen, in die diese Fabrikation eingebettet ist. Eine solche Vorstellung verlangt eine praxeologisch informierte Rückkehr auf die Ebene des Symbolischen und Sprachlichen. Die Begrenzung der Untersuchung auf die diskursive Artikulation von ›Kultur‹ soll die soziale Logik der Fabrikation von Kultur sichtbar machen. Eine Ausweitung dieses Ansatzes auf die praktische, stumme und körperliche Etablierung und Aufrechterhaltung von ›Kultur‹ als distinktes soziales Fabrikat ist durchaus denkbar. Doch ein solches Unterfangen wird hier nicht weiter verfolgt. Wenn Kultur in soziologischen Erklärungszusammenhängen keine unabhängige Determinante, sondern einen abhängigen Effekt darstellt, hat das Konsequenzen für die Kultursoziologie. Sie kann nicht länger Kultur ohne Weiteres mit dem Reich des Symbolischen oder des Sinnhaften identifizieren. Nicht jede Sinnzuschreibung oder Interpretationsleistung ist Kultur, auch dann nicht, wenn sie als ein »offener und instabiler Prozess des Aushandelns von Bedeutungen« (Wimmer 2010: 415) verstanden wird. Die Kultursoziologie ist aufgefordert, die eigenen Bedingungen soziologischer Reflexion mit Blick auf die Reichweite der von ihr identifizierten kulturellen Tatsachen zu klären. Eine solche Präzisierung erlaubt es, Kultur als eine spezifische soziale Tatsache zu bestimmen, der Seltenheitswert zukommt. Nicht jede Gesellschaft verfügt über Kultur im Sinne einer spezifischen Selbstthematisierung. Kultur ist dabei nicht mit Begriffen des kollektiven Gedächtnisses, Mentalität oder Geschichte gleichzusetzen – auch wenn Kultur als praktisch organisierte Selbstbeschreibung darauf angewiesen ist, der Gegenwart eine ›longue durée‹ entgegenzustellen. Damit unterscheidet sich der hier vorgeschlagene Ansatz grundsätzlich von systemtheoretischen Arbeiten in diese Richtung, die wie Niklas Luhmann etwa von einer evolutionär entwickelten Notwendigkeit eines sozialen Gedächtnisses ausgehen (Luhmann 1999). Stattdessen richtet sich der Blick hier auf die politische Inanspruchnahme von solchen Kategorien wie ›Kultur‹, ›kollektives Gedächtnis‹ oder ›Mentalität‹. Mit der Systemtheorie teilt diese Arbeit den konzeptionellen Zuschnitt »den Kulturbegriff nicht als Grundbegriff zu führen, sondern als empirischen und historischen Begriff.« (Nassehi 2011: 308) Dieser Seltenheitswert, d.h. dass nicht alles Kultur sei oder alle Kultur hervorbringen, scheint sich zunächst gegen das von den Anthropologen identifizierte Prinzip der kulturellen Universalität zu richten. Tatsächlich stellt es aber dessen Radikalisierung dar: Alle Gesellschaften lassen sich zwar unter der Perspektive beschreiben, dass sie kulturelle Qualitäten besit-
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zen, sich also durch spezifische, nicht-natürliche Merkmale unterscheiden, aber: nicht jede Gesellschaft ist in der Lage, sich dieser spezifischen Merkmale im Vergleich mit anderen zu versichern. Dann stellt sich aber die Frage, wie es sozial gelingt, Kultur als distinktive Selbstbeschreibung zu behaupten und zu legitimieren. Genau dazu dient die vorgeschlagene Analyse der kulturellen Formation. Sie soll sichtbar machen, welche Form eine historisch und sozial bestimmbare Definition und Beschreibung von Kultur annimmt: Welche Ein- und Ausschlüsse werden vorgenommen, welche Geschichte und welche Narrative werden erzählt, welche Werte werden als zentrale Integrationsprinzipien in Stellung gebracht etc.? Indem man nicht nach der Kultur einer sozialen Einheit X fragt, sondern die soziale Einheit X dahingehend befragt, wovon sie spricht, wenn sie ›Kultur‹ sagt, entgeht man dem Problem, von vornherein festlegen zu müssen, was denn nun wirklich Kultur sei. Die hier vorgeschlagene Perspektive würde eben solche Diskurse selbst als Versuche verstehen, Stabilität in einer sozialen Arena herzustellen und deren Ereignisablauf zu regulieren. Für das hier skizzierte Verständnis von Kultur gilt, dass die diskursive Fabrikation von Kultur mit der Legitimation von Institutionen oder der Plausibilisierung von Veränderungen einhergehen kann: Die diskursive Fabrikation von Kultur ist gemäß der gängigen Konzeptionen von Diskurs (Bublitz 2003; Fairclough 1995; Foucault 1991; Keller 2005, Wodak/KrzyĪanowski 2008) in Machtbeziehungen eingebunden. Egal ob mit Tradition oder mit Fortschritt argumentiert wird oder ob spezifische Bedürfnisse nach Kultur als Grundlage eines institutionellen Arrangements angeführt werden: Die Adressierung von Kultur kann und soll der Entwicklung und der Persistenz politischer, ökonomischer und professioneller Projekte zugutekommen. Die Absicherung einer Einheit von Territorium, Geschichte und sozialer Homogenität ist nicht umsonst ein Problem politischer Herrschaft, zentrales Element der Artikulation von politischer Identität und damit auch von Strategien der Inklusion und Exklusion gesellschaftlicher Akteure. Kultur gewinnt dann eine eigene Form von Existenz, sie bildet eine eigene neue Realitätsebene, die sich auf eigene Institutionen stützt, als Austragungsort und Pfand für strategische Kämpfe um Macht und Herrschaft dient und zum diskursiven Legitimationsmuster gerinnt. Der diskursiven Herstellung eines solchen Realitätsfeldes soll sich diese Arbeit widmen. Die Bestimmung dieses Zusammenhangs nimmt ihren Ausgangspunkt in der Einsicht Walter Benjamins in die Herrschaftsgebundenheit jeglichen Ausdrucks von Kultur. Seine These und die daraus resultierenden Begründungen für die Analyse der Formationsregeln des Kulturdiskurses sollen in Kapitel 2 rekonstruiert werden. Dabei dienen Benjamins Thesen weder als methodologische Anleitung noch als geschichtsphilosophisches Theorieprogramm. Wie kein anderer
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Autor machte Benjamin aber darauf aufmerksam, dass die Rede von Geschichte und Kultur nicht unabhängig von den gegenwärtigen sozialen Konstellationen ihrer Artikulation zu verstehen ist, worin sich sein Ansatz mit poststrukturalistischen, insbesondere diskursanalytischen Ansätzen einig weiß. An seiner These, dass jedes Dokument der Kultur auch eines der Barbarei sei, wird im Gegensatz zu anderen Theorien zum Zusammenhang von Kultur und Herrschaft deutlich, dass die gesellschaftliche Berechtigung dieser sonderbaren Existenz ›Kultur‹ in der Legitimation von Herrschaft liegt. Damit unterscheidet sich Benjamins Ansatz von solchen ideologiekritischen Perspektiven, denen zufolge Kultur entgegen ihrer Intention ideologisch vereinnahmt (so letztlich die Vorstellung der ›Kulturindustrie‹ bei Horkheimer/Adorno 1987), durch eigenständige Gruppen partikularen Herrschaftsinteressen angepasst und zur ›kulturellen Hegemonie‹ (Gramsci 1991 ff.) würde, oder von unterschiedlichen Gruppen affirmativ oder widerständig gelesen werden könne (Hall 2004c). Demgegenüber betont Benjamin die Realität von Kultur als genuinem Ausdruck von Macht- und Herrschaftsbeziehungen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Forschungsfrage dieser Arbeit folgendermaßen formulieren: Wenn Kultur soziologisch nicht als unabhängige, dem sozialen Geschehen vorgängige Kategorie begriffen werden kann, sondern als Outcome und Effekt – als Fabrikat – sozialen Geschehens konzipiert werden muss, 1.
2.
3.
wie konstituiert sich dann Kultur als erkennbare Einheit prozessualen Ordnens? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Kultur für seine Repräsentanten und für andere visibel wird? Wie gestalten sich die sozialen Prozesse selbst, d.h. welche Akteursgruppen sind an der Fabrikation von Kultur beteiligt und an welche partikularen Interessen sind die Strategien der Fabrikation von Kultur gebunden? Mit welchen Herrschaftsstrategien und Ungleichheiten gehen diese Fabrikationsprozesse von Kultur einher? Wer wird als Teil des Fabrikats Kultur ein- und ausgeschlossen, das heißt überhaupt als legitime Mitglieder einer Kultur adressiert – aber auch: wer wird an der Fabrikation von Kultur selbst beteiligt und wer nicht?
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1.2 D ER U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND : D IE F ABRIKATION EUROPÄISCHER K ULTUR
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DISKURSIVE
Die Europäische Union als Integrationsprojekt einer suprastaatlichen Politik bildet für die diskursive Fabrikation von Kultur einen interessanten Sonderfall. Die bis heute unklare Perspektive, wo die finalen Grenzen des territorialen Zusammenschlusses liegen sollen – Verhandlungen werden derzeit mit Kroatien, Island und der Türkei geführt; Mazedonien, Serbien und Montenegro warten auf die Aufnahme der Verhandlungen; auf der Warteliste stehen Bosnien-Herzegowina und der Kosovo und gegenüber den osteuropäischen Staaten Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, der Ukraine und Weißrussland werden politische Reformen abverlangt, um überhaupt in den Kreis möglicher Beitrittskandidaten zu gelangen – verlangt nach der Bestimmung der kulturellen Grenzen Europas. Da dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, kann daran das Wechselspiel der Legitimation eines »bürokratischen Herrschaftsverbands« (Bach 2008) und der Fabrikation einer Kultur beobachtet werden. Um dieses Problem zu durchdringen, greife ich auf ein Archiv an Dokumenten zurück, das einer spezifischen sozialen Arena entstammt, in der die Thematisierung von Kultur als möglich und für einige ihrer Akteure als notwendig erschien: die bereits erwähnten Reden der so genannten »Berliner Konferenz«. Diese Veranstaltung wurde von einer Gruppe von Politkern, Stiftungsmitgliedern und weiteren Personen des öffentlichen Lebens aus der Wissenschaft, Kunst und Justiz gegründet und benannte sich nach einem Ausdruck des ehemaligen EUKommissionspräsidenten Jacques Delors: »A Soul for Europe/Europa eine Seele geben«. Nach eigenen Aussagen setzt sich diese Initiative das Ziel, das kulturelle Potential Europas zu aktivieren. Dabei sind die seit 2004 im zweijährigen Turnus stattfindenden »Berliner Konferenzen« nur eine Aktivität dieses Think Tanks. Dazu kommen internationale Workshops, semi-öffentliche Diskussionen mit Vertretern der Kunst und der Kulturberufe und auch thematische Clubnächte für Jugendliche in den Metropolen Europas. In den auf der Berliner Konferenz gehaltenen Reden formulieren die Akteure unterschiedliche Entwürfe europäischer Kultur, die hier nachgezeichnet werden sollen. Die Dokumente sind dabei als geronnene Korrelate eines Prozesses der Institutionalisierung der Europäischen Union zu begreifen, der in eine spezifische Krise geriet: Das Scheitern des Verfassungsvertrags durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden, eröffnete den politischen Akteuren die Möglichkeit, sich über den Stand der Europäischen Union auszutauschen. Dass sie in dieser Situation an Definitionen europäischer Kultur arbeiteten, erlaubt es, den Artikulationszusammenhang von politischen Interessen und diskursiver Fabrikation von Kultur zu untersuchen.
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Die Dokumentation dieser Reden macht sie zugleich sozial wirksam: Als Dokumente einer europäischen Öffentlichkeit kann an sie angeschlossen werden. Die Entwürfe von Kultur wurden zudem aufgegriffen. So wurden z.B. seitens der EU Ressourcen bereitgestellt, die vor allem der Entwicklung europabezogener Kulturaktivitäten auf regionaler Ebene dienen sollten. Zugleich ermöglichten sie damit an den Nationalstaaten vorbei auf einer substaatlichen Ebene eine Legitimation suprastaatlicher europäischer Politik. Europasoziologisch ist die vorliegende Arbeit zunächst als ein Beitrag zur Selbstdeutung zentraler Akteure der europäischen Politik zu verstehen: Worin sehen die Politiker die Grundlagen ihrer eigenen Institutionen und Forderungen? Zwar entsagt die Arbeit damit zwar einer eindeutigen normativen Position gegenüber politischen, ökonomischen und demokratietheoretischen Problemen der EU – es geht weder darum, ob die Europäische Integration gut oder schlecht, politisch stabil ist oder sich in einer Krise befindet. Stattdessen schlägt sie vor, den Konnex zwischen einerseits Europa als geographischer, politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Einheit und andererseits dem Institutionengefüge des politischen Apparats aufzulösen. Sie macht hingegen hoffentlich sichtbar, inwieweit bestimmte Artikulationen das politische Institutionengefüge inklusive seiner daran angelagerten Identitätskonstruktionen als vorpolitische Einheit etablieren. An den Daten wird daher den folgenden Fragen nachzugehen sein: 1.
2.
3.
Welche diskursiven Fabrikate europäischer Kultur werden überhaupt sichtbar? Was für Begriffe kommen zum Einsatz und welche kulturellen Qualitäten, Zeithorizonte und Grenzen werden definiert? Wie sind diese Fabrikate mit politischen oder ökonomischen Partikularinteressen verbunden und in welche prozessualen Ordnungsversuche sind diese eingebettet? Wer wird schließlich an der Fabrikation einer europäischen Kultur beteiligt und wer wird davon ausgeschlossen? Wer gilt als legitimer Repräsentant und wer wird als Gegenfigur einer europäischen Kultur sichtbar gemacht?
1.3 Z UR ANLAGE
DER
S TUDIE
Das folgende Kapitel 2 dient der theoretischen Begründung der kulturellen Formation als Interpretationsrahmen für die Fabrikation von Kultur. Dies geschieht auf der Basis einer Auseinandersetzung mit der These Walter Benjamins, dass Kultur stets auch Barbarei sei. Anhand Benjamins Überlegungen lässt sich zeigen, dass eine Untersuchung von Kultur als diskursives Fabrikat drei Regeln der
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Formierung zu berücksichtigen hat, denen die kulturelle Formation als Interpretationsrahmen Rechnung tragen muss: 1. 2. 3.
dass Kultur eine übersituative Qualität zugeschrieben wird, dass zwischen einem Innen und einem Außen differenziert wird und dass Kultur sich in symbolischen Referenzen materialisieren muss.
Entsprechend wird Kultur als ein epistemologischer Gegenstand konzipiert, der im Sinne von Michel Foucault Effekt einer Einsetzung ist, die, bestimmten Formationsregeln folgend, ein Objekt im Diskurs erst hervorbringt (Foucault 1981). So wird nicht mehr danach gefragt, worin sich Kulturen wirklich voneinander unterscheiden, sondern nach den Kontroversen, in denen solche Unterscheidungen ausgearbeitet werden. Der Überblick über die Kulturtheorien, wie er in Kapitel 3.1 dargelegt wird, ist daher weder vollständig noch orientiert er sich an den Klassikern der Kultursoziologie. Es werden aber einige grundlegende Argumentationen skizziert, mit denen die Kultursoziologie als Spezialdiskurs der Kultur operiert. Allen vorgestellten kultursoziologischen Positionen ist zu eigen, dass sie Kultur als eine eigenständige Sinndimension sozialen Lebens betrachten, sei es nun als eine dem individuellen Leben gegenübergestellte objektivierte Wirklichkeitsordnung, als eine im Gesellschaftsvergleich fundierte ethnologische Praxis, als eine auf die Dimension des Symbolischen konzentrierte Ausdrucksform der menschlichen Natur oder als etwas praktisch, routiniert und vorreflexiv Mitvollzogenes. Kapitel 3.2 präsentiert dann theoretische und empirische Beiträge aus der Soziologie, aus der Geschichte und den Kulturwissenschaften, die in Ansätzen die Fabrikation von Kultur untersuchen. Diskutiert werden Konzepte des kollektiven Erinnerns und Vergessens (Kapitel 3.2.1), das Erfinden von Traditionen und Kulturräumen (Kapitel 3.2.2) und Studien über die Gestaltbarkeit von Kulturgütern (3.2.3). Alle drei Bereiche liefern Befunde und Erklärungen für einzelne Phänomene dessen, was ich als Fabrikation von Kultur begreife, ohne sie umfassend in ein solches Programm zu integrieren. Das für die Untersuchung durchgeführte diskursanalytische Verfahren wird in Kapitel 4 vorgestellt. Grundlagen dafür bilden die Diskurstheorie von Ernesto Laclau (Laclau 1996a; Laclau/Mouffe 2000), im weiteren Sinne aber auch die Critical Discourse Analysis in der Variante von Ruth Wodak (Wodak/ KrzyĪanowski 2008). Im Zentrum der Analyse steht daher zunächst die Formierung von Zeichenketten, d.h. die gezielte Herstellung eines Zusammenhangs von einzelnen Aussagen, die mittels Innen-Außen-Differenzierungen, zeitlichen Peri-
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odisierungen und symbolischen Referenzierungen verschiedenste Inhalte unter dem Referenten (Signifikant) ›Kultur‹ subsumieren. Da sich diese Analyse vorwiegend auf die Aussageinhalte bezieht, werden auch die vorgenommenen Verfahren zur Analyse sozialer Arenen (Strauss 1993) und der Kulturfabrikation eigenen Herrschaftsphänomene dargelegt. Kapitel 5 konzentriert sich dann auf die Interpretation der kulturellen Formation Europas. Als Ergebnisse konnten drei verschiedene narrative Strukturen europäischer Kultur identifiziert werden, die sich einerseits auf einen politischen Wertehorizont der offenen Gesellschaft und des gesellschaftlichen Fortschritts (dazu Kapitel 5.2), andererseits auf eine kulturelle Substanz (Kapitel 5.3) und schließlich auf Kultur als Objekt gesellschaftlicher und ökonomischer Investitionen (Kapitel 5.4) beziehen. Da die Narrative auf Äußerungen innerhalb einer diskursiven Arena basieren, werden jeweils auch explizite Gegenpositionen und zwischen den Narrativen verbindende Positionen dargestellt. Im daran anschließenden Kapitel 6 werden die Materialanalysen vor dem Hintergrund der Theorie sozialer Arenen sowie herrschaftstheoretischer Fragen reflektiert. Die Arena »Berliner Konferenz« lässt sich als Forum beschreiben, in dem die Narrative von Diskurskoalitionären ausgearbeitet und von Diskurskomplizen mitgetragen werden. Beide Gruppen rekrutieren sich vorwiegend aus der Politik, den zivilgesellschaftlichen Organisationen und aus der Finanzwelt. Eine dritte Gruppe von Sprechern richtet sich argumentativ gegen die Narrative, bleibt daher aber auch marginalisiert. Deren sozialen Welten sind die der Kunst und der Wissenschaft. Ausgehend von der These, dass die Fabrikation von Kultur ein genuiner Ausdruck von Herrschaftskonstellationen darstellt, wird aufgezeigt, wie Gruppen, die an der Fabrikation selbst beteiligt sind, von dieser repräsentiert oder als Publikum resp. Konsumenten adressiert werden, aus der kulturellen Repräsentation ausgeschlossen oder in ein hierarchisiertes Verhältnis gestellt werden. Das Schlusskapitel (Kapitel 7) fasst die Ergebnisse der Studie zusammen und verortet ihren Beitrag zu kultur- und herrschaftssoziologischen Fragestellungen.
Das Ziel dieser Untersuchung besteht in einer Entfundamentalisierung des soziologischen Kulturbegriffs, d.h. Kultur soll als Effekt und Produkt von diskursiven Praktiken der Selbstbeschreibung verstanden werden und gerade nicht als eine Determinante sozialer Prozesse oder als partikulare Lösung universaler Probleme jeder Gesellschaft. Anhand einer Diskursanalyse und einer Analyse sozialer Arenen soll dem Zusammenhang einer solchen repräsentativen Fabrikation von Kultur und Herrschaft nachgegangen werden. Das
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Datenmaterial bilden europapolitische Reden, die auf der »Berliner Konferenz« im November 2006 gehalten wurden. An ihnen soll die diskursive Fabrikation einer ›europäischen Kultur‹ nachgezeichnet werden.
2 Die kulturelle Formation: Von Walter Benjamins Geschichtskritik zu den Regeln der Kulturfabrikation
2.1 G ESCHICHTE UND K ULTUR H ERRSCHAFT
ALS
AUSDRUCK VON
Walter Benjamin gilt gemeinhin als Kultur- und Geschichtsphilosoph in der Tradition der Kritischen Theorie. Im seinem fragmentarisch gebliebenen Passagen-Werk, einer Jahrzehnte später herausgegebenen über 1300 Seiten umfassenden Sammlung an Entwürfen, Zitaten und Notizen zum 19. Jahrhundert, setzte sich Benjamin zum Ziel, durch eine umfassende Montage ein Bild der Vergangenheit zu erzeugen, das die Hochzeit der Industrialisierung in den Formen ihrer Kultur sichtbar machen sollte. Kultur bildete für Benjamin den Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse und nicht ihr Abbild. Der Herausgeber des Passagen-Werkes hält die Differenz folgendermaßen fest: »Benjamin verfuhr im Passagenwerk nicht ideologiekritisch, er hing der Idee einer materialistischen Physiognomik nach, die er wohl als Ergänzung oder Erweiterung der marxistischen Theorie sich vorstellte. Physiognomik schließt vom Äußeren aufs Innere, sie entziffert das Ganze aus dem Detail, stellt im Besonderen das Allgemeine dar. Nominalistisch geht sie vom leibhaftigen Diesda aus, induktiv setzt sie in der Sphäre des Anschaulichen ein.« (Tiedemann 1983: 29)
Daraus folgt für Benjamin, dass die Geschichtsschreibung als Aspekt von Kultur zuallererst Auskunft über die Beschaffenheit ihrer eigenen gegenwärtigen Bedingungen gibt. Durchdekliniert wird der Zusammenhang von den gegenwärtigen Bedingungen der Gesellschaft und der Form der Geschichtsschreibung jedoch nicht im Passagen-Werk, sondern in den sogenannten Geschichtsphiloso-
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phischen Thesen, die von Benjamin mit dem Titel Über den Begriff der Geschichte versehen wurden. In den verschiedenen Versionen, die erhalten blieben – die gegenüber den gesammelten Schriften aktuellere kritische Gesamtausgabe von 2010 führt sechs Versionen auf –, unterscheidet sich der Gesamttext an vielen Stellen stark. Fast unverändert findet sich jedoch die siebte These, die diesen Zusammenhang von Gegenwart und Geschichte nun nicht mehr bloß auf die ökonomischen Verhältnisse bezieht, sondern den Fokus auf politische Herrschaft verlagert. Diese These sei nun vollständig zitiert: »Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom späteren Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der historische Materialismus gebrochen hat. Es ist ein Verfahren der Einfühlung. Sein Ursprung ist die Trägheit des Herzens, die acedia, welche daran verzagt, des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt. Sie galt bei den Theologen des Mittelalters als der Urgrund der Traurigkeit. Flaubert, der Bekanntschaft mit ihr gemacht hatte, schreibt: ›Peu de gens devineront combien il a fallu être triste pour ressusciter Carthage.‹ Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich: in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davon trug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzuge mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der grossen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Ueberlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Massgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.« (Benjamin 2010: 33 f.)
Es gehe um die Aufgabenstellung eines »historischen Materialismus«, wie Walter Benjamin sein Projekt einer herrschaftskritischen Geschichtsschreibung nennt.1 Mit dem Versuch, eine von den Katastrophen der Menschheit ausgehen1
Vergleiche dazu das »Konvolut N [Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts]« im Passagen-Werk selbst (Benjamin 1983: 570-611).
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de Geschichte zu konzipieren, richtete sich Walter Benjamin vor allem gegen die Tradition des Historismus, wie ihn exemplarisch Leopold von Ranke verkörperte.2 Ziel der Kritik war zuallererst die Vorstellung, dass es eine kontinuierliche Zeit gebe, die dank historischer Gesetzmäßigkeiten einen umfassenden Fortschritt verwirkliche. Demgegenüber betonte Benjamin die Konstruktionsarbeit des Universalhistorikers, der über zwei zentrale Verfahren der historischen Zeit ihre Wirklichkeit verleihe: Neben dem aus dem obigen Zitat hervorgehenden (1) Verfahren der Einfühlung, das mittels einer nur bedingt möglichen Perspektivübernahme versucht, die tatsächlich realisierten Handlungen in der Vergangenheit aus den vorhandenen Dokumenten heraus zu plausibilisieren, ist dies vor allem die (2) Vorstellung einer konstant dahin fließenden kontinuierlichen Zeit: »Ihr [die Universalgeschichte, L.A.] Verfahren ist additiv: sie bietet die Masse der Fakten auf, um die leere und homogene Zeit auszufüllen.« (Benjamin 2010: 41) Sie konstruiert den Geschichtsverlauf durch das Auffüllen eines Zeitstrahls mit Daten. Der Historiker bildet anhand dieser Daten Abfolgen von diskreten Ereignissen, Zeiträumen und parallelen Entwicklungen. Benjamin dreht diese historische Kausalität um, wenn er gerade nicht danach fragt, wie es denn zu einzelnen historischen Ereignissen kommen konnte. Für Benjamin ist jeder Versuch einer Geschichtsschreibung viel stärker von der Situation des Historikers geprägt als von dem Zustand dessen, was einmal gewesen sein soll. Die Determination der Geschichtsschreibung durch die Bedingungen der Gegenwart formulierte Benjamin in den Notizen des Passagen-Werks auch so: »Die Gegenwart bestimmt an dem Gegenstand der Vergangenheit, wo seine Vor- und Nachgeschichte in ihm auseinandertreten, um seinen Kern einzufassen.« (Benjamin 1983: 596) Dabei rückt Benjamin gerade das historische Einzelereignis in das Zentrum, das induktiv zu entschlüsseln sei: »Der Ertrag seines Verfahrens [des historischen Materialisten, L. A.] besteht darin, dass im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben.« (Benjamin 2010: 42) Einer Verkettung von Ereignissen stellt er die Deutung eines Ereignisses als Konstellation von Kräften entgegen, die diesem seine Form geben. Adorno beschrieb diese Haltung Benjamins folgendermaßen: »Unbeirrt stand er zu seinem Grundsatz, die kleinste Zelle angeschauter Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen Welt auf. Ihm hieß, Phänomene materialistisch interpretieren, 2
Die Kritik richtet sich vor allem an die an Hegel geschulte Universalgeschichte, wie sie z.B. auch von Hermann Lotze vertreten wurde (siehe dazu schon früh: Adorno 2006, aktueller: Raulet 2004).
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weniger sie aus dem gesellschaftlichen Ganzen erklären, als sie unmittelbar, in ihrer Vereinzelung, auf materielle Tendenzen und soziale Kämpfe beziehen.« (Adorno 2003: 247)3
Diese produktive Funktion von sozialen Auseinandersetzungen steht der Vorstellung einer Untrennbarkeit von Wissen und Macht bei Michel Foucault sehr nahe, wie dieser es im Vorwort zu Überwachen und Strafen formulierte: »Man muß wohl einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. Vielleicht muß man dem Glauben entsagen, daß die Macht wahnsinnig macht und daß man nur unter Verzicht auf Macht ein Wissender werden kann. Eher ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert. Diese Macht/WissenBeziehungen sind darum nicht von einem Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenüber dem Machtsystem frei oder unfrei ist.« (Foucault 1977: 39)
Die historischen Ereignisse werden überhaupt erst vor den Fragestellungen der Gegenwart lesbar und entfalten so ihre Erklärungskraft. Und obwohl Benjamin das nicht explizit ausführt, heißt das: Geschichte wird eben immer auch für ein bestimmtes Fachpublikum geschrieben, vor dem Hintergrund einer begrenzten Archivlage, als legitim geltenden Forschungsinteressen und Finanzierungsmöglichkeiten, wissenschaftlichen Erkenntnismodellen und durchaus auch im Hinblick auf spezifische Verwertungsinteressen. Die Einfühlung in die historische Situation ist aber auch deswegen problematisch, weil sie eine historische Situation konstruiert, die als Folge der Taten großer Männer verstanden wurde. Sie reduziert das tatsächliche Geschehen auf die Entscheidungen und Handlungen einzelner weniger, ohne diejenigen zu berücksichtigten, welche die Schlachten auskämpfen, die Lager in Schuss halten, die Waren produzieren und transportieren mussten; jene Menschen, die zwar für die Ereignisse notwendig waren, jedoch nie genannt wurden. Die eigentlichen Akteure der Geschichte werden vernachlässigt: Daher der Verweis auf die »na3
Benjamin selbst verfolgte mit seinem Passagenwerk jedoch das Ziel, »überall Erscheinungen, ›correspondances‹ zu entdecken, die sich gegenseitig erhellten und illuminierten, wenn man sie nur richtig einander zuordnete, so dass sie schließlich keines deutend-erklärenden Kommentars mehr bedurften.« (Ahrend 2006: 57)
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menlose Fron der Zeitgenossen«. Benjamin formuliert also, was die feministische Kritik später die »Geschichte alter weißer Männer« (Beauvoir 1968) nennen sollte. Sie ist deshalb problematisch, weil neben die historische Situation selbst, in der die Einzelnen zu ihnen fremden Zwecken herangezogen wurden, eine Geschichtsschreibung tritt, die sie ein zweites Mal vergisst und unterwirft, indem sich die Historiker in die wenigen Sieger einfühlen. Jeder Modus der Kontinuierung, sei es orale oder niedergeschriebene Geschichte, gelebte Tradition oder gezielte Traditionalisierung, ist für Benjamin zunächst ein Herrschaftsunternehmen, das andere Varianten historischer Wahrheit zugunsten gegenwärtiger Herrschaftsinteressen diskursiv ausschließt. Die Überlieferung von Kultur und Tradition ist also ebenfalls nicht unproblematisch, schließt sie doch mittels einer selektiven Erinnerungstechnik aus, was parallel zur Tradition gegolten hatte und gelebt wurde. Das betrifft für Benjamin aber nicht nur das Schreiben und Tradieren von Geschichte, sondern die Vorstellung von Kultur insgesamt. Für ihn gilt, dass wer Kultur sagt, auch Barbarei, also Gewalt und Unzivilisiertheit, sagt. Zusätzlich zum Modus einer auf Kontinuität ausgerichteten Geschichtsschreibung, also dem Versuch, die Gegenwart aus einer Masse an selektierten Ereignissen der Vergangenheit heraus zu verstehen, führt Benjamin m. E. zwei weitere Marker an, auf denen jeder Diskurs von Kultur aufbaut. Sie entstammen beide dem Bild des Triumphzuges, in dem die siegreichen Truppen ihren eigenen Leuten die erbeuteten Schätze zeigen. Die Rede von den Kulturgütern zeigt zunächst einmal an, dass es spezifische Objekte, Gegenstände oder Quellen geben muss, anhand derer man Kultur anzeigen kann. Sie besitzen dabei als Güter einen spezifischen Wert, der sie von anderen Objekten trennt. Kulturgüter bedürfen daher einer Selektion und sie müssen einen repräsentativen Charakter besitzen, also auf mehr als bloß sich selbst verweisen. Indem ein Objekt als Kulturgut klassifiziert wird, wird zwar sein Produktionsmodus erinnert, nicht jedoch der Modus seiner Kontinuierung. Wie die Geschichtsschreibung eine Kontinuität in der Abfolge von Ereignissen erst einführt, indem sie Datenreihen konstruiert und mögliche andere Kontinuitäten auslässt, so werden die Bedingungen des Überdauerns von Kulturgütern ignoriert, d.h. jene Bedingungen, auf deren Grundlage die Selektionskriterien für die Zuschreibung als Kultur gesetzt werden: »Die Barbarei steckt im Begriff der Kultur selbst: als dem von einem Schatze von Werten, der unabhängig zwar nicht von dem Produktionsprozeß, in welchem sie entstanden, aber unabhängig von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet wird. Sie dienen auf diese
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Weise der Apotheose des letztern, wie barbarisch der immer sein mag.« (Benjamin 1983: 584)
Für Benjamin sind die Kulturgüter sodann die Folge einer herrschaftlichen Aneignung von Objekten, die hinterher vergessen gemacht wird. Auch die im Krieg erbeuteten Schätze entstammen jenen, gegen die sich die siegreiche Gewalt durchsetzte. In die Kulturgüter ist somit für Benjamin ein Antagonismus eingeschrieben, der die Besitzer der Kulturgüter von ihren früheren Eigentümern trennt, genauer von den im Prozess der Kulturfabrikation Unterworfenen und Besiegten. Durch die Inszenierung des Triumphzuges mit seiner Zurschaustellung der erbeuteten Güter wird die Grenze zwischen den Siegern und Besiegten demonstrativ bekräftigt.
2.2 D IE DISKURSIVEN R EGELN DER K ULTURFABRIKATION – DIE KULTURELLE F ORMATION Konzipiert man Kultur als abhängiges Phänomen von Herrschaftsbeziehungen, so stellt sich die Frage, wie sich die diskursive Fabrikation von ›Kultur‹ erfassen lässt. Wie lässt sich diese Einsicht von Walter Benjamin in den Zusammenhang von Kultur und Herrschaft für eine Diskursanalyse des epistemologischen Objekts ›Kultur‹ fruchtbar machen? Michel Foucaults Überlegungen zur Diskursanalyse stimmen mit der grundlegenden These von Benjamin überein, dass die Rede von Geschichte und Kultur in dem Sinne problematisch ist, dass sie nicht eine dem Diskurs äußere historische Wahrheit abbildeten, sondern sich historische und folglich auch kulturelle Wahrheit viel eher als eine Funktion im Diskurs begreifen lässt, durch die sich die gegenwärtige Situation der Sprechenden identifizieren lässt. In der Einleitung zur Archäologie des Wissens skizziert Foucault eine Haltung, die sich auf historische Diskontinuitäten und Ereignisserien stützt und sich deshalb schon aus methodologischen Gründen gegen die Vorannahme ›kultureller Totalitäten‹ und damit auch gegen eine ›allgemeine Geschichte‹ wendet: »Das Vorhaben einer globalen Geschichte ist das, was die Gesamtform einer Kultur, das materielle oder geistige Prinzip einer Gesellschaft, die allen Phänomenen einer Periode gemeinsame Bedeutung, das Gesetz, das über ihre Kohäsion Rechenschaft ablegt, das, was man metaphorisch das ›Gesicht‹ einer Epoche nennt, wiederherzustellen versucht.« (Foucault 1981: 19)
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In Abgrenzung zu einer solchen »globalen Geschichte« formuliert Lars Gertenbach die »Konturen eines poststrukturalistischen Geschichtsdenkens« folgendermaßen: »Denn die Betonung einer grundlegenden Historizität und das Insistieren auf einer konstitutiven Rolle von Macht- und Kräfteverhältnissen verweisen auf ein Moment historischer Kontingenz, das folglich auch Vorstellungen von sozialem Wandel affiziert. Für eine poststrukturalistische Perspektive auf Historizität und sozialen Wandel lassen sich vor allem drei Prämissen festhalten: Erstens ist damit eine Abkehr von einer Annahme eines überhistorischen Sinns oder einer wie auch immer gearteten Bestimmung der Geschichte als solche verbunden. Zweitens fokussiert dies den sozialwissenschaftlichen Blick auf Momente der Diskontinuität und der Heterogenität, die von einem allzu starren Konzept von Geschichte und einem allzu linearen Modell der Zeit unterschlagen werden. Und drittens folgt hieraus eine Betonung der Ereignishaftigkeit, die, vermittelt über das Moment der Diskontinuität und des ›Noch-zu-Kommenden‹ bestrebt ist, einen Möglichkeitsspielraum zu eröffnen und eine Alterität im Sinne einer grundsätzlichen und auch fundamentalen Veränderbarkeit von Gesellschaften zu denken.« (Gertenbach 2008: 217)
Die Ablehnung eines überhistorischen Sinns von Geschichte entspricht Benjamins Kritik einer Universalgeschichte, in der sich ein abstrakter Fortschritt verwirkliche, die Betonung von Diskontinuität trifft sich mit Benjamins Kritik an einer Konstruktion von Zeit als leer und homogen und die bei Gertenbach angeführte Aufmerksamkeit für einzelne Ereignisse findet ihre Entsprechung in Benjamins Methode einer induktiven Erschließung einzelner historischer Monaden, in denen sich die Geschichte auskristallisiere. Doch während Benjamin in den einzelnen Ereignissen und Kulturgütern nach den sozialen und letztlich auch ökonomischen Spannungen sucht, deren Ausdruck sie darstellen, zielen Diskursanalysen grundsätzlich auf die Identifikation von Regelmäßigkeiten des sprachlichen Ausdrucks im Hinblick auf ihre wirklichkeitskonstituierende Macht (Keller 2007; Lorey 1999). Damit ist gemeint, dass die diskursive Hervorbringung eines epistemischen Objekts an die Befolgung spezifischer Regeln gekoppelt ist, denen die Produktion sprachlicher Aussagen untergeordnet ist. Für die Diskursanalyse der Fabrikation von Kultur wird daher ein Interpretationsschema herangezogen, das im Folgenden als kulturelle Formation bezeichnet wird und das im Sinne von Michel Foucault die Formationsregeln jenes Diskurses umfasst, dessen epistemologisches Zentrum ›Kultur‹ darstellt. So können aus der Diskussion der Argumente Benjamins drei konstitutive Regeln bestimmt werden, nach denen Kultur diskursiv fabriziert wird:
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Kulturdiskurse verlangen eine zeitliche Bestimmung. Egal, ob nun ein literarischer Kanon, die Identifikation von Musikepochen oder die Kultur eines Landes bestimmt werden sollen – immer wird eine zeitliche Periodisierung eingeführt, eine Vergangenheit der Gegenwart gegenübergestellt, aus der erklärt wird, was dieses Buch, diese Sonate oder diesen Brauch so einzigartig macht. Wenn keine historische Kontinuität oder der Bruch mit einer solchen behauptet wird, so machte der Verweis auf Kultur keinen Sinn, der die Dinge in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang einzuordnen sucht, dem eine über die einzelnen Individuen hinausgehende zeitliche Stabilität zugesprochen wird. Kulturen sind mehr als deren gegenwärtige Verkörperungen. Das heißt nicht, dass Kulturen immer als überzeitlich verstanden werden, aber eine zeitliche Periodisierung, d.h. Vorstellungen von einer (wenn auch begrenzten) Dauer, muss mitgeliefert werden. Es muss erkennbar werden, dass es sich im betreffenden Fall um Kultur und nicht um eine zufällige Ad-hoc-Lösung handelt. Unterscheidet Benjamin zwischen den Siegern und den Besiegten, so impliziert er, dass die Rede von der Kultur die Bestimmung der Zugehörigen verlangt. Aussagen zur Kultur differenzieren zwischen einem Innen und Außen. Die anderen, häufig geographischen, ethnisch oder religiös abgegrenzten Räume oder Akteure müssen dabei aber keineswegs bloß als Gegner adressiert werden, wie dies von Benjamin nahe gelegt wird: Auch Allianzen beinhalten ja noch eine Differenzierung zwischen den Parteien, die durch die Allianz zwar überbrückt, aber auch anerkannt wird. So werden zugleich die sie tragenden Referenzgruppen indiziert, zwischen denen unterschieden werden soll. Damit dient Kultur auch stets als eine Vergleichskategorie für soziale Einheiten, d.h. Aussagen zur Kultur beziehen sich stets auf mindestens zwei soziale Einheiten, z.B. Gruppen, Organisationen, Clans, Gesellschaften usw. Dies gilt auch dann, wenn die zweite Einheit nicht thematisiert wird: So erfolgt die Bestimmung einer kulturellen Eigenheit etwa eines ozeanischen Stammes vor dem Hintergrund einer als selbstverständlich gesetzten kulturellen Normalität des Ethnologen. Aus dieser Regel folgt, dass Aussagen zur Innen-Außen-Differenzierung von Kultur erwartet werden können, in denen bestimmt wird, wer oder was zur in Frage stehenden Kultur gehört und wer oder was nicht. Die Kulturgüter in den Händen der Sieger fungieren schließlich als symbolische Referenzen (Titel, Zeichen, Objekte usw.) für die Kultur. An ihnen lassen sich auch die zeitlichen Indizes und Innen-Außen-Differenzierungen beobachten. Diese Referenzen können die Form typischer Objekte annehmen oder als gemeinsam geteilte Werte, Wissensbestände oder Erfahrungen adressiert werden und als solche dann das Benannte selbst transzendieren: Die Namen, Titel, Objekte, Werte usw. sind nicht nur mehr sie selbst, sondern zugleich Vertreter ihrer
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Kultur, die sich als eine eigene getrennte Sphäre erweist. Kulturdiskurse müssen also auf Objekte, Namen oder Werte verweisen, die als Ausweis von Homogenität und Spezifik dienen und vor deren Hintergrund sich gegenwärtige Ereignisse, Verhalten oder weitere Objekte einordnen lassen. Anhand dieser symbolischen Referenzierungen wird Kultur als gemeinsames Prinzip einer sozialen Einheit sichtbar und deren Eigenqualität markiert. Benjamins Kritik des Historismus und seine Konzeption der Kulturgüter als Ausdruck von Herrschaft lässt sich in der dieser Arbeit zugrunde gelegten kulturellen Formation wiederfinden: Neben die Legitimation von Herrschaft durch Geschichte (zeitliche Periodisierung) treten Grenzziehungsprozesse (Innen-Außen-Differenzierung), die er allgemeiner als gewaltsame Ausschließung von der Verfügung über die Kulturgüter begreift, und die Etablierung eines Repräsentationszusammenhanges (symbolische Referenzierung), der durch die Schaffung einer Sammlung dieser besonderen Kulturgüter auf eine dahinter stehende Gemeinschaft der Sieger verweist, die ein Anrecht auf diese Referenzobjekte postulieren können. Das Interpretationsschema der kulturellen Formation (zeitliche Periodisierung, Innen-Außen-Differenzierung, symbolische Referenzierung) dient dazu, in den untersuchten Reden solche Aussagen zu bestimmen, die diskursiv Kultur als ›epistemisches Objekt‹ hervorbringen. Die drei Formationsregeln werden somit für diese Untersuchung als distinkte, nicht substituierbare aber gleichermaßen notwendige Minimalbedingungen eines Kulturdiskurses behandelt. Kultur wird folglich nur dann fabriziert, wenn ein Aussagezusammenhang alle drei Regeln befolgt. Streng genommen müssten sich auch Kulturtheorien im Hinblick auf die Formationsregeln untersuchen lassen. Inwieweit die kulturelle Formation auch die nichtdiskursive Fabrikation von Kultur strukturiert, muss hier offen bleiben. In der vorliegenden Arbeit handelt es sich bei der kulturellen Formation mit ihren drei Regeln zu allererst um ein durch die Theorie Walter Benjamins informiertes und dem Material angemessenes Instrument zur Interpretation und Strukturierung von Daten und nicht um eine allgemeine kultursoziologische Rekonzeptionalisierung. Für die Erfassung der diskursiven Fabrikation von ›Kultur‹ lässt sich dann folgende Metaregel formulieren: Werden in sprachlichen Aussagen soziale Einheiten einander gegenübergestellt, diese Differenzierung dabei zeitlich periodisiert und an symbolische Referenzen gebunden, so wird ›Kultur‹ adressiert und performativ hervorgebracht.4 4
Für die Analyse heißt das, dass nicht jede Aussage für sich allein allen drei Regeln gerecht werden muss, dies aber durchaus kann. Wird eine dieser Regeln nicht befolgt, so wird auch keine Kultur fabriziert. Es mag dann ein anderes sozial fabriziertes Objekt hervortreten, z.B. eine politische Gegnerschaft, eine Biographie oder eine Identität. Zur Operationalisierung siehe Kapitel 4.3.
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Auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit Walter Benjamins geschichtsphilosophischer These, dass Kulturgüter der Ausdruck von Herrschaft seien, wird vorgeschlagen, die diskursive Fabrikation von Kultur anhand von drei Formationsregeln zu untersuchen, die als »kulturelle Formation« die Grundlage von Diskursen über Kultur bilden. Eine solche Analyse muss sich die Fragen stellen, welchen Zeitraum eine ›europäische Kultur‹ umfasst (zeitliche Periodisierung), welchen anderen sozialen Einheiten ein solche ›europäische Kultur‹ gegenübergestellt wird (Innen-Außen-Differenzierung), und wodurch diese ›europäische Kultur‹ sichtbar gemacht wird (symbolische Referenzierung).
3 Kultur im Diskurs der Soziologie
Der vorliegende Literaturbericht dient keiner Darstellung grundlegender kultursoziologischer Positionierungen. Der soziologischen Kulturfabrikation in Form von Theorietraditionen und Kanonisierung werde ich nicht mit einer historischen Rekonstruktion des kultursoziologischen Diskurses begegnen. Es ist zunächst nicht einmal klar, welche Disziplin für die Untersuchung von Kultur zuständig sei. Versuchten sich die Cultural Studies als eine eigenständige Perspektive neben der Ethnologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und den Sprach- und Literaturwissenschaften zu etablieren, so stehen ihnen die Kulturwissenschaften als übergreifende Containerkategorie entgegen, sowohl Teile der Sozial- wie auch der Geisteswissenschaften umfassend. Sucht man jedoch nach der Kultur in den einzelnen Disziplinen, so lassen sich selbst wieder Subdisziplinen identifizieren: eine Kultursoziologie, eine Kulturphilosophie, eine Cultural Anthropology etc. Man wird zwar auf ›Klassiker‹ der Kultursoziologie stoßen, aber mancher mag hier Max und Alfred Weber, Oswald Spengler oder Claude Lévi-Strauss, Clifford Geertz oder Kritische Theoretiker als eigenständige Positionen vermissen. In diesem Kapitel wird die Theoriediskussion stattdessen auf die Annahmen einer kulturellen Fundamentalität zentraler kultursoziologischer Zugänge fokussiert.1 Es gilt darzustellen, inwiefern Kultur als ein allgemeiner Begriff der Soziologie verwendet wird. Ablesbar ist ein solches Verständnis von Kultur als soziologischem Grundbegriff etwa am 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der im Jahr 2004 unter dem Titel ›Soziale Ungleichheit, Kulturelle Unterschiede‹ (Rehberg 2006) in Kassel stattfand. Schließlich
1
Aus diesem Grunde wird auch kein Versuch unternommen, systematischen Veränderungen oder Inkonsistenzen in kultursoziologischen Ansätzen nachzuspüren. Auch wenn sich diese Arbeit vor allem als durch diskursanalytische und praxistheoretische Zugänge informiert begreift, soll die Vorstellung von Kulturtheorie als Sozialtheorie deutlich zurückgewiesen werden.
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liegen eine Reihe systematischer und rekonstruktiver Arbeiten zur Kultursoziologie vor – sie reichen von der Wissenssoziologie (Mannheim 1980) über systemtheoretische Versuche (Luhmann 1999; Baecker 2000) bis hin zu kritischen (Hauck 2006) und praxistheoretischen (Reckwitz 2008) Positionen. Im Folgenden sollen daher vier unterschiedliche soziologische Konzeptionen zum Phänomen ›Kultur‹ vorgestellt werden, die m. E. als Differenzierungsprinzipien des soziologischen Kulturdiskurses fungieren (Abschnitt 3.1), insofern er Kultur in einer fundamentalisierenden Weise gebraucht. Die Darstellung dient zur Abgrenzung und zum vertieften Verständnis einer Fabrikation von Kultur im Sinne eines spezifischen, partikularen Ausdrucks herrschaftlich organisierter Selbstbeschreibung von Gesellschaft. Als theoretische Kontrast- oder Negativfolien dienen 1.
2.
3.
4.
Georg Simmels Vorstellung von Kultur, die als formale Theorie eher von historischem Interesse ist, aber die Grundstruktur kulturbezogener Theoriebildung auf den Punkt bringt. Sie versteht Kultur als eine eigenständige abstrakte und objektive Dimension der Gesellschaft, die sich den Individuen in Form von objektivierten Geistesinhalten präsentiert. der in der Tradition der Ethnologie verankerte anthropologisch-universalistische Kulturrelativismus, der Natur und Kultur gegenüberstellt, um dann komparative Analysen von Gesellschaften vorzunehmen. die von der philosophischen Anthropologie ausgearbeitete Idee des Menschen als Kulturwesen, das in seiner Existenzweise natürlicherweise zur Verwendung von Sprache und zum Aufbau von Institutionen gezwungen ist. Kultur erscheint darin als notwendiges Element des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das dann in seinen symbolischen Ausformungen beschrieben werden kann. die in neueren praxistheoretischen Kultursoziologien vertretene Vorstellung von Kultur als materiale und körperliche und damit über das Symbolische hinausgehende Ordnung, die sich in mehr oder weniger bewusst prozessierten Handlungsvollzügen realisiert.
Im Folgenden (Abschnitt 3.2) werden dann Positionen vorgestellt, die letztlich eine Radikalisierung des Kulturrelativismus darstellen, die Kultur als Ausdruck von Strategien der Repräsentation oder Fabrikation konzipieren und daher reflexiv anlegt sind. Theorien, die Kultur als historisch besonderen Modus der Selbstthematisierung von Gesellschaft begreifen, widmen sich vor allem der Analyse kollektiver Erinnerungspraktiken (Kapitel 3.2.1), der Erfindung von kulturgeo-
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graphischen Räumen (Kapitel 3.2.2) und der Gestaltbarkeit einer kulturellen Spezifik (Kapitel 3.2.3).
3.1 P OSITIONEN
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Liest man die soziologische Fachliteratur zum Phänomen Kultur, so findet sich immer wieder der Verweis auf die Unübersichtlichkeit des Feldes oder die Überoder Unterkomplexität der relevanten soziologischen Theorie (Baecker 2000). Die daran anschließenden Versuche der Systematisierung dienen dabei in der Regel entweder der historischen Rekonstruktion (z.B. Eagleton 2001; Hofmann/Korta/Niekisch 2004) oder der kritischen Synthese zugunsten einer allgemeinen Kultursoziologie (z.B. Alexander 2003; Reckwitz 2008; Wieviorka 2003). Beide Unternehmungen gehen dabei von der impliziten Annahme aus, dass ›Kultur‹ als Begriff soziologischer Analyse legitim und seine grundsätzliche Verwendung nicht weiter begründungsbedürftig sei. Gerade die Fundierung der gegenwärtigen Soziologie in konstruktivistischen, interpretativen und relationalen Epistemologien, die sich also gegenüber essentialistischen Erklärungen von Gesellschaft abgrenzen, lässt die Verwendung von Kultur als einem von Menschen geschaffenen sozial bedingten Gebilde plausibel erscheinen. Häufig fungiert dann Kultur auch als sozial bedingt angelegter Gegenbegriff zur unbedingten Natur.2 In dieser Vorstellung ist Kultur einerseits eine universale Kategorie, weil jede Gesellschaft, Klasse, Schicht oder soziale Gruppe über eine Kultur verfügt, aber ihre konkrete Form ist andererseits spezifisch: Ausdruck eben des identifizierten sozialen Gebildes, das im Fokus der Analyse steht. Kultur ist somit ein ambivalenter Begriff für die Soziologie, vor allem wenn sie sich selbst als eine historische Wissenschaft versteht. Unter einer solchen Betrachtung ist die Soziologie selbst ein kultureller Ausdruck der Moderne, die durch eine Arbeitsteilung der Wissenschaft gekennzeichnet ist. Die Soziologie hat es mit wenigen Ausnahmen versäumt, den Begriff der Kultur als Produkt eines historisch spezifi-
2
Dabei muss Kultur nicht bloß als absoluter Gegenbegriff zur Natur konzipiert werden; das Verhältnis kann auch unterschiedlich relationiert werden, etwa als Zivilisation (als Affektkontrolle bei Elias 1997 oder als Beherrschung innerer und äußerer Natur bei Horkheimer/Adorno 1987) oder als spezifische soziale Form universaler natürlicher Grundlagen, etwa wenn Marcel Mauss von Techniken des Körpers (1989b) schreibt, die er als verschiedene wirksame und traditionale Weisen betrachtet, sich des eigenen Körpers zu bedienen.
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schen Prozesses der sozial- und geisteswissenschaftlichen Selbstthematisierung der Gesellschaft zu betrachten.3 Dies ist umso erstaunlicher, als der Konstruktivismus selbst in seiner radikalen Form zwar immer wieder Kritik an den gesellschaftlichen Formen der Naturalisierung, Ontologisierung und Normalisierung, an Sexismus, Rassismus und Ethnozentrismus anmeldete, jedoch dies gerade unter Rückgriff auf Kultur tat. Dahinter steckt die Annahme, dass sich alle Gesellschaften im Grunde genommen vor dieselben Probleme gestellt sähen: ökonomische und sexuelle Produktion und Reproduktion, die Entwicklung integrativ wirkender normativer Muster, die Sozialisation der zukünftigen Mitglieder, kurz: die Aufrechterhaltung einer guten gesellschaftlichen Ordnung. Damit verbunden ist aber auch eine zweite Annahme, dass nämlich jede Gesellschaft diese existentiellen Probleme auf je unterschiedliche Weise löse. In den spezifischen Lösungen – ob dieses oder jenes Tier gegessen, diese Frau oder dieser Mann geheiratet, die Ehe als Institution als bekannt oder unbekannt gilt, diese oder jene Norm eingehalten wird, an diese Götter oder an jene Ahnen geglaubt wird, bestehen dann die Qualifikationen von Kultur. 3.1.1 Georg Simmel: Kultur als galvanisches Tauchbad Diese Gegenüberstellung von Natur und Kultur ist jedoch schon die spezifische Konzeption einer Kulturtheorie, deren abstrakteste Form Georg Simmel in seiner Vorstellung von Kultur als einer Vermittlung des Objektiven und Subjektiven zum Ausdruck gebracht hat. Simmel geht dabei von ähnlichen sozialtheoretischen Grundüberlegungen aus wie Emile Durkheim. Denkt jener Gesellschaft als objektive soziale Tatsache, die gegenüber dem Einzelnen eine zwingende Gewalt innehat, positioniert Simmel das Subjekt gegenüber dem objektiven Geist einer »natürlich gegebenen Welt« (Simmel 1998: 195). Während er das Subjekt als spannungsgeladene Innerlichkeit und als frei fließendes Seelenleben begreift, drängen sich die Formen des objektiven Geistes dem Einzelnen als eine Art zweite Natur auf; jedoch stehen Einzelner und Gesellschaft in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis gegenseitiger Manipulation. Dennoch ist dieses Verhältnis strukturiert: Der objektive Geist hat gegenüber dem Subjekt ein Eigenleben, in ihm existieren Formen wie Religion, Kunst, Wissenschaft oder Moral, die sich gegenüber ihren einzelnen Erzeugern verselbstständigt haben und mit denen sich das Subjekt konfrontiert sieht: »[E]s ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der 3
Norbert Elias (1997) war einer der wenigen, der für die deutsche Soziologie die historische Genese der unterschiedlichen Semantiken von ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ rekonstruierte.
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der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt.« (Ebd. 195) Simmel qualifiziert dabei das subjektive Erleben als zeitgebunden, partikularistisch und in dauernder Bewegung begriffen, während die objektiven Formen universal, zeitlos und ewig erscheinen. In der Dynamik, die sich zwischen zeitgebundenen Subjekt und zeitlosem objektiven Geist entfaltet, platziert Simmel dann die Kultur. Sie ist eine Art elektrolytisches Tauchbad, in das Subjekt und Objekt gleichermaßen versenkt werden, um sich gegenseitig qualitativ zu verändern: Das Subjekt, indem es sich den objektiven Formen ausgesetzt sieht, objektiviert sich, während die objektiven Gebilde zur subjektiven Entwicklung beitragen, d.h. zu Kulturwerten werden: »Indem diese Wertungen des subjektiven und objektiven Geistes einander gegenüberstehen, führt nun die Kultur ihre Einheit durch beide hindurch: denn sie bedeutet diejenige Art der individuellen Vollendung, die sich nur durch Aufnahme oder Benutzung eines überpersönlichen, in irgendeinem Sinne außerhalb des Subjekts gelegenen Gebildes vollziehen kann.« (Ebd. 203)
Während der subjektive Geist objektivistisch veredelt wird, materialisiert sich der Geist in identifizierbaren und wirksamen Formen. Andreas Reckwitz spricht daher von einem normativen Kulturbegriff (Reckwitz 2008: 69), da das Subjekt nur in der Konfrontation mit den universalen Formen zu sich selbst als Mensch gelangt; Kultur als galvanisches Tauchbad gedacht, setzt das Subjekt einer spannungsgeladenen Substanz (den objektiven Formen) aus, das sich anschließend von dieser wie von einer Goldschicht umschlossen findet: »Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit« (Simmel 1998: 197). Kultur wird daher zunächst verstanden als ein Prozess, in der das Individuum sich mit den objektiven Formen auseinandersetzt und sich dadurch verändert. Dazu kommt aber ein zweites Moment: Kultur wird schließlich zur Tragödie, weil sich in ihr der objektive Geist durch die einzelnen Akte des Subjekts hindurch reproduziert: als Produkte, »zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt« (ebd. 213), die als objektivierte sich den vom Subjekt gesetzten Zielen und Zwecken entfremden. Eine Tragödie für den Einzelnen, da die eigene Selbstentfaltung immer stärker auch zu einer Verselbstständigung des Objektiven führt und die Selbstentfaltung der anderen strukturiert. Was einmal die objektive Form und damit Gesellschaft begründete, wird nicht mehr ersichtlich und Kultur somit zur Vermittlung leerer aber verpflichtender Objekte.
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Bei Simmel findet sich eine kulturgenetische Argumentation, nach der sich Kultur als Objektives letztlich nicht gestalten lasse, viel eher als Form nicht intendierter Handlungsfolgen zum abstrakten sedimentierten Strukturierungsprinzip wird. Damit formuliert er eine in der Soziologie grundlegende Vorstellung, dass Kultur über ein Eigenleben verfügt, das die Objekthaftigkeit der Gesellschaft den Individuen gegenüber zu vermitteln sucht: Stumme Götzen, die Anerkennung verlangen und ihnen zugleich die grundlegenden Mittel der Vergesellschaftung als symbolische Formen an die Hand geben, die aber nie ihre eigenen sind. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu den Kulturtheorien, die entweder auf das ›Tradiertsein‹ von Formen und Werten abstellen resp. die Formen der Tradierung problematisieren (Durkheim 1983; Merton 1995; Parsons 1964), Kultur als anthropologische Konstante (siehe Kapitel 3.1.3) oder als stets mitlaufenden Index sämtlicher Interaktionen, Praktiken und Strukturen verstehen, der das Gesellschaftliche auszeichnet (Lévi-Strauss 1976; Geertz 1987, Hörning/Reuter 2004b, siehe Kapitel 3.1.4).
3.1.2 Kultur als Gesellschaftsvergleich Einen ersten konkreten Zugriff auf den Kulturbegriff stellt die ethnologische Anthropologieϰ dar. Gemeint sind damit jene Arbeiten, die seit dem 19. Jahrhundert systematisch andere Gesellschaften erforschten, um damit die Grundlagen von menschlichen Beziehungen oder gar der Menschheit überhaupt zu identifizieren. Diese Erklärungsweise machte die ethnologische Anthropologie letztlich auch für Durkheim und seine Schüler interessant. Durkheims Religionssoziologie (1994) etwa greift fast ausschließlich auf ethnologisches Material zurück:
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Die Formulierung ›ethnologische Anthropologie‹ sucht der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die englisch- und französischsprachige Forschung zu anderen nichtwestlichen Gesellschaften unter den verschiedenen Etiketten der ›Ethnologie‹, der ›Anthropologie‹ oder auch ›Cultural Anthropology‹ firmiert. Es kommt jedoch nicht darauf an, ob z.B. die Arbeiten eines Claude Lévi-Strauss als anthropologisch oder ethnologisch zu charakterisieren seien. Die Beschäftigung mit fremden Gesellschaften dient der Anthropologie als ein Mittel unter anderen (andere wären z.B. die Anthropometrie, Linguistik oder Genetik), die menschliche Natur zu ergründen. Der Terminus wurde auch gewählt, um diese Ansätze von der eher deutschen Tradition der philosophischen Anthropologie zu unterscheiden: Diese eint, dass sie sich auf eine dem Forscher fremde soziale Einheit beziehen und auf empirischen Beobachtungen ›im Feld‹ beruhen.
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Die Unterscheidung von heilig und profan sowie die negativen und positiven Rituale bildeten für Durkheim basale Bausteine einer jeden Religion und damit der moralischen Ordnung, als die sich letztlich Gesellschaft erweist. Und auch Marcel Mauss gründet seine Theorie des Gabentauschs (1989a), in der er die Grundform sozialen Austausches überhaupt sieht, auf ethnologischem Material. Für Durkheim waren diese Verfahren nicht zuletzt auch deshalb plausibel, weil er mit den zeitgenössischen ethnologischen Anthropologen die These teilte, dass sich Gesellschaften von einfachen zu komplexen Gesellschaften entwickelten, und dass sich in diesen einfachen Gesellschaften die Grundlagen einer jeden Gesellschaft identifizieren lassen müssten. Jede weitere Entwicklung sei dann als Differenzierung eines Grundbestandes zu verstehen (vgl. dazu Durkheim 1984, 1992). In den Umständen, wie die ethnologischen Anthropologen zu ihrem Wissen kamen, zeigte sich jedoch, dass die zumeist europäischen oder amerikanischen Männer sich auf solche Gesellschaften oder Gruppen konzentrierten, die leicht erreichbar und politisch oder ökonomisch interessant waren: Der Anteil an nordund südamerikanischen, afrikanischen, südostasiatischen, pazifischen und australischen Quellen sind in der Literatur dominant, während Reiseberichte zu osteuropäischen und zentralasiatischen Volksgruppen eher unterrepräsentiert sind. Die Ethnologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren eben doch auch Vertreter der Kolonialmächte, die sich diese Gelegenheiten des Zugangs zu anderen Gesellschaften nicht entgehen ließen. Diese Bindung an den Kolonialismus wirkte sich bis in den ›ethnologischen Alltag‹ hinein aus.ϱ Demgegenüber versteht sich die Ethnologie bis heute als eine Wissenschaft, in der eine prinzipielle Gleichheit von Ethnologen und Stammesmitgliedern herrsche. Lange Zeit galt Malinowski als Verkörperung dieser Haltung, bekannt für die einfühlsame Schilderung seiner ›Argonauten des Westpazifik‹: Ethnographie solle sich ohne Vorurteile der Beschreibung der Kulturen widmen, deren letztes Ziel von Bronislaw Malinowski folgendermaßen formuliert wurde: »This goal is briefly, to grasp the native's point of view, his relation to life, to realise his vision of his world. We have to study man, and we must study what concerns him most 5
Auch in der Gegenwart ist die Beziehung zwischen Anthropologie und Politik Anlass für Diskussionen: Seit 2004 ermöglicht das US-Militär Anthropologen, im Irak und in Afghanistan zu forschen und im Gegenzug dafür das erworbene Wissen in Form von Lehreinheiten an die Truppen weiterzugeben. Dies führte zur Kritik, die Anthropologen würden sich als kulturelle Waffe missbrauchen lassen. Siehe dazu auch der Bericht der American Anthropological Association (CEAUSSIC 2007) sowie Whitehead (2009).
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intimately, that is, the hold which life has on him. In each culture, the values are slightly different; people aspire after different aims, follow different impulses, yearn after a different form of happiness. In each culture, we find different institutions in which man pursues his life-interest, different costums by which he satisfies his aspirations, different codes of law and morality which reward his virtues or punish his defections.« (Malinowski 2010: 25)6
Gleich auf der ersten Seite ihrer Untersuchung zu den ›Patterns of Culture‹ bekennt sich auch Ruth Benedict zu diesem methodologischen Kulturrelativismus: »Für den Anthropologen sind unsere Sitten und Gebräuche und die irgendeines Stammes in Neuguinea zwei mögliche Gesellschaftssysteme, die sich mit der Lösung ein und derselben Aufgabe befassen. Wenn er Anthropologe sein will, darf er keinesfalls das eine System gegen das andere abwägen. Er ist an menschlichen Verhaltensweisen schlechthin interessiert und beschäftigt sich nicht nur mit dem durch eine einzige – nämlich unsere – Tradition bestimmten, sondern mit dem Verhalten, das von irgendeiner Tradition geprägt wurde, und mit der Fülle von Brauchtum, wie es in den verschiedensten Kulturen auftritt. Er will erkennen, wie sich Kulturen ändern und voneinander differenzieren, durch welche Formen sie sich ausdrücken und welchen Einfluß die Bräuche eines Volkes auf das Leben des einzelnen haben.« (Benedict 1955: 7)
Benedict betont gerade die Äquivalenz der spezifischen Lösungsformen, die die unterschiedlichen Gruppen für die Probleme finden, die sich allen Gesellschaften stellen. Gelangen diese zu einer eigenständigen, identifizierbaren Lösung, die sich von anderen unterscheiden lässt, so lassen sie sich als Kultur beschreiben. Dezidiert richtet sich dieser Relativismus gegen jede Form von Rassismus und Kolonialismus. Benedict argumentiert, dass eine Einsicht der Ethnologie darin bestehe, dass sich jede Gesellschaft als menschliche Gruppe per se definiere, während sie im Gegenzug anderen Gruppen genau diese Eigenschaft abspräche: »Der primitive Mensch hat niemals die Welt als Ganzes und die Menschheit als zusammengehörig angesehen, niemals sich mit seinesgleichen als einer Spezies angehörig verbunden gefühlt. Von Anfang an war er Partikularist inmitten unübersteigbarer Grenzwälle.« (Ebd. 11) Im Prinzip verhalte sich das kolonialistische Christentum damit nicht anders als die Stammesgesellschaften, wenn sie eine kulturelle Hierarchie behaupteten und diese mit Erbanlagen oder Rassenreinheit begründeten, denn hier läge eine »Verwechslung von örtlichem Brauch mit menschlicher Natur« (ebd. 10) vor. 6
Soweit nicht anders vermerkt, entstammen die Hervorhebungen in Zitaten dem Originaltext.
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Um die kulturelle Varianz zu dokumentieren, richtet sich der Fokus des ethnologischen Wissens auf zwei unterschiedliche Quellen: diskursiv gewonnene Informationen und beobachtete Handlungsvollzüge.7 Die erste Quelle bilden Informationen, die der ethnologische Anthropologe in Gesprächen mit den ›Eingeborenen‹ gewinnt. Aus diesen Informationen werden dann die Genealogien, Lineage, Inventare, sozialen Karten und Diagramme extrahiert. Kultur wird hier anhand von Wissensbeständen, Erzählungen und sozialen Normen rekonstruiertϴ. Folgt man Malinowski, reichen diese Informationen jedoch nicht aus, will man die beobachtete Kultur verstehen: »In working out the rules and regularities of native costum, and in obtaining a precise formula for them from the collection of data and native statements, we find that this very precision is foreign to real life, which never adheres rigidly to any rules. It must be supplemented by the observation of the manner in which a given costum is carried out, of the behaviour of the natives in obeying the rules so exactly formulated by the ethnographer, of the very exceptions which in sociological phenomena almost always occur.« (Malinowski 2010: 17)
Die zweite Quelle bilden die Riten und Praktiken, die mittels ›teilnehmender Beobachtung‹ dokumentiert werden.9 Der Ethnologe rekonstruiert dabei Kultur, indem er beobachtet, wie sich die andere Gesellschaft in Bezug auf ein bestimmtes Problem verhält. Ruth Benedict beschreibt etwa an den Zuñi, einem PuebloVolk in New Mexico, deren Lösung des Problems der Paarbildung: »Keinerlei Lebensäußerung kann in Zuñi ernsthaft mit Tanz und Ritus konkurrieren. Für häusliche Angelegenheiten, wie Heirat oder Scheidung, gibt es keine besonderen Bestimmungen, sie bleiben also individueller Regelung überlassen. Die Zuñikultur ist eine streng vergesellschaftete Kultur und kümmert sich nicht viel um Sachen, die Privatangelegenheiten des einzelnen darstellen. Der Ehe geht nur selten Liebschaft voraus. Ursprünglich hatten die Mädchen keine Gelegenheit, mit einem Burschen zu sprechen; höchstens abends, wenn die Mädchen mit den Wasserkrügen auf dem Kopfe zur Quelle gingen, konnte ein Bursche eines davon abpassen und um einen Krug bitten. Bekam er ihn, dann wußte er sich gern gesehen. Er konnte die Erwählte auch bitten, ihm einen Wurfstock für die Kaninchenjagd zu machen, und ihr dann die Jagdbeute bringen. Man setze von den 7
Siehe dazu Kluckhohn (1953).
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Für ein Inventar der ethnologischen Dokumentationsmethoden, siehe Fischer (2003).
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Das heißt nicht, dass er die Glaubenssysteme und Wissensformen vernachlässigt. Als Scharnier fungiert dann der ›Gewährsmann‹, ein Mitglied der erforschten Gruppe, der dem Forscher dann das Beobachtete erklären, d.h. mit Sinn versehen soll.
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jungen Leuten voraus, daß sie keine anderen Zusammenkünfte hätten; auch heutzutage dürfte es sicher noch Zuñifrauen geben, welche keinerlei Erfahrung in sexuellen Dingen in die Ehe mitbringen.« (Benedict 1955: 60)
Für die zeitgenössischen USA würden wir hier eine Beschreibung des Flirts oder des Datings als Kontaktaufnahme erwarten, die umgekehrt nicht direkt auf eine dauerhafte, gar lebenslange Ehe zuführt (Illouz 2003). Und Benedict betont auch die ›für uns‹ typische Situation, dass die ersten sexuellen Erfahrungen vor der Ehe gemacht werden, d.h. dass einer Ehe eine Serie von Paarbildungen vorausgeht. Die Riten der Paarbildung erscheinen damit als Teil eines umfassenderen Problems jeder Gesellschaft, nämlich wie Allianzen und Familien gebildet werden. Aber auch die ethnologischen Anthropologen sind Kinder ihrer Zeit.10 Gänzlich können auch sie sich nicht von einer hierarchischen Perspektive lösen. Benedicts Argument, dass gerade die kolonialisierten Völker durch den Kontakt mit den Kolonisatoren kulturelle Fremdheit erführen und sich auch an deren Lebensweisen anpassten, während die westlichen Gesellschaften ihre kulturellen Muster über die Welt ausbreiteten (und für sie eine kulturelle Konfrontation mit der Fremde gerade nicht stattfinde), erzeugt das Problem, wie überhaupt die originären kulturellen Eigenheiten der ›primitiven Völker‹ zu identifizieren seien. Letztlich wird das andere eben doch vor dem Hintergrund der eigenen Institutionen sichtbar und somit zu einer Differenzkonstruktion zweiter Ordnung (Luhmann 1999). Als Kultur erscheint dann, was von dem eigenen abweicht, aber als etwas, was dem anderen als Originalität zugesprochen wird. In diesem Zusammenhang dann von ›patterns of culture‹, oder gar von ›Urformen der Kultur‹ – so die Übersetzung ins Deutsche – zu sprechen, evoziert letztlich eine Perspektive, in der sich anhand von primitiven Kulturen noch unverfälscht die reinen Kulturmuster identifizieren ließen, von denen sich der Westen mit der Zeit entfernt hätte. Die Absage an das Konzept einer ›Rassenreinheit‹ wird hier durch die Konstruktion einer ›kulturellen Reinheit‹ ersetzt. Die Fixierung auf Brauchtum und Tradition11, die das Volk paradoxerweise als geschichtslos er10 Für eine reflexive Haltung gegenüber den ethnologischen Kulturkonstruktionen in der gegenwärtigen Gesellschaft, siehe die Studie von Sabine Eggmann, die »›Kultur‹ als Instrument gesellschaftlicher Selbstimagination« (Eggmann 2009: 265 ff.) begreift – eine These, die der hier vertretenen Perspektive sehr nahe kommt. 11 Das Paradox liegt darin, dass mit Brauchtum und Tradition auf ein aus der Vergangenheit übernommenes Kulturmuster verwiesen wird, dem eine bruchlose Dauer unterstellt wird und das somit ohne geschichtliche Dynamik erscheint. Zum Teil dürfte diese Perspektive aber auch ein Artefakt der Ethnologie selbst darstellen, weil sie es
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scheinen lässt, setzt es erst durch den Kontakt mit dem Westen einer Veränderung aus – eine Veränderung, die von den Ethnologen dann gerne auch als Verlustgeschichte geschrieben wird (z.B. Lévi-Strauss 1982). Für die ethnologische Konstruktion von Kultur wird damit deutlich, dass sie den untersuchten Populationen eine andere Entwicklungsstufe zuschreiben, die z.B. für Malinowski in der Absenz einer objektivierten Form des Erinnerns bestand: »The difference is that, in our society, every institution has its intelligent members, its historians, and its archives and documents, whereas in a native society, there are none of these.« (Malinowski 2010: 12) Stattdessen bilden die lebendigen Körper der Eingeborenen den Erinnerungsspeicher, auf den sich die Aufmerksamkeit der Ethnologie richten muss: »In Ethnography, the writer is his own chronicler and the historian at the same time, while his sources are no doubt easily accessible, but also supremely elusive and complex; they are not embodied in fixed, material documents, but in the behaviour and in the memory of living men.« (Ebd. 3) Insgesamt wird die ethnologische Anthropologie von einer universalistischen Theorie der Kultur untermauert, die Malinowski folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Sie [die Kultur, L.A.] ist offensichtlich jenes umfassende Ganze, das sich zusammensetzt aus Gebrauchs- und Verbrauchsgütern, den konstitutionellen Rechten und Pflichten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus menschlichen Ideen und Fertigkeiten, aus Glaubenssätzen und Bräuchen. Ob wir uns mit einer ganz einfachen, primitiven Kultur oder aber mit einer außerordentlich komplizierten und entwickelten befassen, immer treffen wir auf einen großen, teils materiellen, teils personellen und teils geistigen Apparat, der es dem Menschen ermöglicht, mit den besonderen, konkreten Problemen, denen er sich gegenübergestellt sieht, fertig zu werden. Diese Probleme entstammen der Tatsache, daß der Mensch einen Körper hat, der den verschiedensten organischen Bedürfnissen unterworfen ist, und daß er in einer Umwelt lebt, die sein bester Freund ist, der ihm das Rohmaterial für seiner Hände Arbeit liefert, und zugleich sein gefährlichster Gegner, denn sie birgt viele feindliche Kräfte.« (Malinowski 1975: 74 f.)
häufig mit schriftlosen Gesellschaften zu tun hat. In der mündlichen Berichterstattung mag sich dann die erlebte biographische Geschichte mit der Geschichte der Gruppe decken. Die jüngsten Veränderungen erfahren dadurch möglicherweise eine Überbetonung. Zu zeigen, dass andere Gesellschaften trotz universaler Strukturen über eine Form von Geschichtsbewusstsein verfügen, war dann auch das zentrale Anliegen von Claude Lévi-Strauss (1992).
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Die fremden Kulturen mögen nun nicht mehr als wild und unzivilisiert erscheinen, ihre Regeln, Institutionen und Organisationen modernen Gesellschaften gegenüber ebenso komplex und rational sein – aber gerade das Fehlen einer objektivierten Form der Selbstbeschreibung als Kultur macht den Ethnologen als Übersetzer und intimen Kenner notwendig. Freilich können diese Vergleiche auch temporalisiert werden, d.h. eine historische Gesellschaft A mit einer aktuellen Gesellschaft A’ verglichen werden. In einem solchen Falle hat man es für gewöhnlich mit dem soziologischen Topos des Kulturwandels und insbesondere mit dem Spezialfall ›Modernisierungstheorie‹ zu tun. Die Diskussionen, ob wir nun in einer spätmodernen (Giddens 1991), postmodernen (Baudrillard 2011), flüchtig-modernen (Baumann 2003), risikomodernen (Beck 1986), informationellen (Castells 2001), postfordistischen (Gorz 2000) oder postindustriellen (Bell 1975) Gesellschaft leben, operieren nach diesem theoretischen Muster. Ihre Differenzen liegen in der Regel in den zugrunde gelegten Prämissen der Vergesellschaftung, die sich nun veränderten. Je nachdem, ob ökonomische, politische, technologische oder familiale Faktoren als Vektoren der Veränderung ausgemacht werden, müssen andere Schlüsse auf die Kultur gezogen werden. Gerade in solchen Zeitdiagnosen liegt jedoch ein Problem: Die Einschätzung sozialen Wandels operiert mit dem Argument einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Solche Vergleiche (etwa die potentielle Erosion des Familienlebens, die zunehmende Enthemmung oder Dezivilisierung des Einzelnen und seines Verhaltens, die potentielle Bedrohung durch Parallelgesellschaften etc.) beschreiben eine soziale Veränderung vor dem Hintergrund eines als konstant gesetzten Integrationsmusters: Die Gültigkeit der Verfassung und der darin zugrunde gelegten demokratischen Werte aber auch die Erwartungen, Orientierungen und Lebensentwürfe der Einzelnen geraten in Konflikt mit den Neuerungen; gesellschaftliche Ansprüche der Individualisierung und Flexibilisierung aber auch Re-Traditionalisierung von ganzen Bevölkerungsgruppen oder ein wachsender Sektor struktureller Exklusion lassen unterschiedliche soziale Logiken aufeinanderprallen und führen daher zur Kulturkrise. Indem der ethnologische komparative Kulturblick auf die Gesellschaft mit dem Blick der funktionalen Kulturkonzeption verbunden wird – in solchen Zeitdiagnosen wird dann häufig konstatiert, dass gewisse common moral values an Gültigkeit verlören oder von gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen in Frage gestellt würden (z.B. Sennett 2000) –, lässt sich ein Kulturdiskurs bedienen, der die alte Unterscheidung von Kultiviertem und Unkultiviertem, von Kultur und Natur, von zivilisiert und wild etc. in einer relationalen Logik wiederaufleben lässt. Zwar ist der negative Pol nun nicht mehr kulturlos, dafür verfügen die ihm zugerechneten
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Gruppen nun über die falsche oder unangemessene Kultur, sind z.B. nicht aufgeklärt oder modern genug, um an dieser Gesellschaft Teilhabe zu erlangen (für die so genannten Parallelgesellschaften in Deutschland: di Fabio 2005). Der ethnologische Blick, sofern er als historisierender Blick auf die eigene Gesellschaft gerichtet wird, verhindert nun also gerade nicht mehr, dass er zu einem kolonialen Blick wird. An die Schlüsse, die aus dem Kulturvergleich gezogen werden, können nun herrschaftlich-erzieherische Praktiken, zumindest aber kulturpolitische Strategien geknüpft werden.
Konzeptionen von Kultur, wie sie vor allem im Anschluss an die Ethnologie und Anthropologie entwickelt wurden, haben zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es kein ›Außen‹ der Kultur gibt. Die problematische Vorstellung, es gäbe einen der Kultur vorgängigen Zustand, aus dem jede Einzelne vermittels Sozialisation oder Erziehung herausgeführt werden müsse, damit sie ein für die Gesellschaft nützliches Individuum oder genereller: adressierbares Selbst würde, fallen noch hinter das Primat Durkheims zurück, Soziales durch Soziales zu erklären. Indem Kultur als Eigenqualität des Sozialen im Vergleich mit anderen Gesellschaften konzeptualisiert wird, können unterschiedliche Zustände der Gesellschaft beschrieben werden, ohne dass gleich Desorganisation, Anomie oder andere problematische Rückbildungen gesellschaftlicher Strukturen diagnostiziert werden müssen. Ein grundsätzliches Problem der Ethnologie besteht jedoch darin, dass sie durch ihre eigene Arbeit (Beobachtung, Inskriptionen, Übersetzungen usw.) ein Produkt fabriziert, welches sie aber als der beobachteten Gruppe oder Gesellschaft zugrunde liegende Kultur präsentiert. Ein durch die ethnologische Praxis aus den Beobachtungen erzeugter Effekt wird als Ursache dem Beobachteten zugrunde gelegt. Darüber hinaus verlangt der methodologische Kulturrelativismus notwendigerweise eine Übersetzungsleistung, durch die zugleich wieder eine konstitutive Distanz zwischen den Kulturen hergestellt wird.
3.1.3 Kultur als anthropologische Konstante Die Unterscheidung von Kultur und Natur ist auch für die philosophische Anthropologie im Anschluss an Ernst Cassirer, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner ein zentraler Ausgangspunkt. Diese Autoren betonen nicht nur, dass jede Gesellschaft über eine Kultur verfüge (Tenbruck 1989), sondern der Mensch selbst wird zum Kulturwesen erklärt. Durch seine Charakterisierung als evolutionsbedingtes Mängelwesen (Gehlen 1964) ebenso wie durch seine »exzentrische
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Positionalität« (Plessner 1965) sei der Mensch dazu gezwungen, sich nicht nur wie das Tier in einer Umwelt zu verhalten, sondern sich zudem noch zu der Umwelt und zu sich selbst als eigene Umwelt verhalten zu müssen: Der Mensch »lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben« (ebd. 292); diese innere Distanz wird vom Menschen durch so genannte kulturelle Leistungen überbrückt: »Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muß er ›etwas werden‹ und sich das Gleichgewicht – schaffen. Und er schafft es nur mithilfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen.« (Ebd. 310)
Diese kulturellen Leistungen haben zunächst Werkzeugcharakter und dienen also der Umwelt- und Selbstkontrolle, die in einer »organischen Unterprivilegierung« (Honneth/Joas 1980: 53) des Menschen gründet, und nehmen expressive Formen an, die mit anderen geteilt werden können. »Exzentrische Lebensform und Ergänzungsbedürftigkeit bilden ein und denselben Tatbestand. Bedürftigkeit darf hier nicht in einem subjektiven Sinne und psychologisch aufgefasst werden. Sie ist allen Bedürfnissen, jedem Drang, jedem Trieb, jeder Tendenz, jedem Willen des Menschen vorgegeben. In dieser Bedürftigkeit oder Nacktheit liegt das Movens für alle spezifisch menschliche, d.h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur.« (Plessner 1965: 311)
Zunächst gebärdenhaft resp. gestisch, können die expressiven Formen aber auf lange Sicht von dieser körperlichen Bindung abstrahiert und losgelöst werden: »Kultur ist der Prozeß, in dem beständig neue Ausdrucksformen realisiert werden, die an bereits bestehende Formen anschließen und ihrerseits die Anschlußmöglichkeiten für die nächsten Formen bereitstellen. Die Ausdruckformen schließen sich zu einem eigenen Verweisungszusammenhang und erzeugen eine neue Realität: die öffentlichen symbolischen Formen der Kultur.« (Meuter 2006: 97)
Auch Ernst Cassirer teilte diese Vorstellung, dass der Mensch seine eigenen biologischen Schranken natürlicherweise transzendieren müsse – ein Prozess, der zugleich an seine Symbolisierung geknüpft sei:
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»Für diesen Prozeß bilden die einzelnen ›symbolischen Formen‹: der Mythos, die Sprachen, die Kunst, die Erkenntnis, die unentbehrlichen Vorbedingungen. Sie sind die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung umso fester mit ihr zu verbinden. Dieser Zug der Vermittlung charakterisiert alles menschliche Erkennen, wie er auch für alles menschliche Wirken bezeichnend und typisch ist.« (Cassirer 1971: 25)
Karl-Siegbert Rehberg formuliert die soziologischen Konsequenzen einer solchen Perspektive auf das Verhältnis von Natur und Kultur: »Wenn Kultur als die der Natur abgerungene, umgearbeitete ›Welt‹ des Menschen erscheint, sind anthropologisch und kulturtheoretisch alle Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, des Öffentlichen und Intimen, des Ästhetischen und des Technischen grundsätzlich als Kulturtatsachen zu verstehen, ist ›das Soziale‹ durch und durch kulturell codiert.« (Rehberg 2010: 25)
Der Mensch lebt also nicht nur immer in Kulturen, sondern seine Existenzweise ist von Natur aus künstlich. Alles, was dann die Soziologie unter ›Institutionen‹ analysiert, sind daher Verfestigungen dieser symbolischen Formen und als solche notwendig.12 Der Begriff der Institution steht auch im Zentrum der Theorie von Arnold Gehlen. Den Institutionen kommen vor allem stabilisierende und handlungsentlastende Funktionen zu, sie besitzen aber auch Verpflichtungscharakter gegenüber dem Einzelnen und fungieren als unhinterfragbare, dauerhafte und kontinuierliche Leitwerte: »Die Institutionen einer Gesellschaft sind es also, welche das Handeln nach außen und das Verhalten gegeneinander auf Dauer stellen; auch die höchsten geistigen Synthesen. Die ›idées directrices‹ dauern nur so lange, wie die Institutionen, in denen sie gelebt werden. Die Stabilisierung besteht darin, daß die Menschen sich je zu ganz bestimmten, vereinseitigten, perspektivischen Inhalten der Außenwelt, ihrer eigenen menschlichen Natur und ihrer Denkbarkeiten entscheiden, und daß sie diese Entscheidungen eben durch ihre Institutionen festhalten.« (Gehlen 1964: 89)
12 Gehlen geht darüber hinaus sogar soweit, zu behaupten, dass soziale Ordnung, weil aus Institutionen gebildet, aufgrund ihrer anthropologischen Notwendigkeit auch jeglicher Kritik entzogen werden müsse. Das wäre dann auch der Unterschied zwischen dem ethnologischen Standpunkt, der zwar durchaus auf der Notwendigkeit von Institutionen beharrt, aber ihre konkrete Form freier betrachtet.
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Institutionen vereinfachen daher für Gehlen notwendigerweise die Realität, um sie auf Dauer zu stellen. Dabei reagieren sie auf die innere Natur des Menschen und ersetzen die biologisch fehlenden Automatismen. Die unterschiedlichen Konfigurationen von Institutionen können dann als Kultur verstanden werden, wenn sie gegenüber dem Verhalten der Einzelnen einen unhinterfragbaren Charakter gewinnen, sich also nicht mehr ohne Weiteres auf die zugrunde liegenden Bedürfnisse zurückführen lassen. Besonders betrifft dies dann auch jene Institutionen, die Gehlen als darstellenden Ritus benennt: Verhaltensweisen, denen eine Symbolhaftigkeit zukommt, d.h. sich nicht in der Funktion einer Zweckerfüllung bescheiden, sondern zu einem Selbstzweck an sich werden und vom Einzelnen ein Befolgen des Verhaltens um des Rituals willen verlangen und die den Vollziehenden einen sozialen Status zuschreiben. Die darstellenden Riten gewinnen dabei einen fiktiven Charakter, weil sie nicht mehr erfüllen müssen, wozu sie erschaffen wurden: »Die fiktiven Statusdarstellungen haben keine geringe theoretisch-anthropologische Bedeutung. Die obligatorisch gewordene Fiktion ist eine Realität eigenen Rechtes. Und dies gilt vor allem nun im Bereiche des Bewußtseins. Wenn sich daher ›Vorstellungen‹ finden, die ohne Augenschein oder im Gegensatz zu diesem für Realitäten gelten, so hat man nach den Kernbeständen zu suchen, von denen her sie abgeleitet sind, und man wird auf Institutionen treffen.« (Ebd. 210)
Dennoch können die kulturellen Ausdrucksformen nicht einfach aufgegeben werden: Sind sie einmal Institution geworden, werden sie nur dann aufgegeben, wenn Ihnen der Verpflichtungscharakter verloren geht – ein Zustand, den Gehlen im aufkommenden Individualismus des 20. Jahrhunderts gegeben sah. Für die Soziologie schwer anschlussfähig blieben jedoch die tatsächlichen Kulturanalysen. Es bedurfte schon der Arbeit von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969), um das Vokabular der philosophischen Anthropologie für die Analyse gegenwärtiger Gesellschaften aufzuarbeiten. Der statischen Dokumentation gegebener Institutionen stellen sie dann auch einen ›Prozess der Institutionalisierung‹ gegenüber. Hans-Georg Soeffner fasst die Reichweite und Probleme der Kulturtheorie von Gehlen folgendermaßen zusammen: »Wie auch immer die Deutung der Gehlen'schen Aussagen ausfällt, eines wird in jedem Fall deutlich: Kultur stellt sich für Gehlen dar als (1) ein Prozeß (2) der Selektion (3) des Außergewöhnlichen, Unwahrscheinlichen, Exklusiven und damit letztlich einen (4) überlebenswerten Gestaltungszusammenhanges: survival of the most precious! […] Kultur zeigt sich hier als symbolisch ausgedeuteter Zusammenhang, als historisch gewachsene,
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sich fortentwickelnde Welt, die wir nicht gemacht, sondern die wir von unseren Vorfahren und diese wiederum von ihren Vorgängern übernommen haben. Sie wird von uns erfahren als etwas, in das wir hineinwachsen müssen. Unsere Eltern beschreiben diese Welt als ›unsere‹. Dennoch steht sie uns – oft fremd – gegenüber. Ihre prinzipielle Gegenständlichkeit und Objekthaftigkeit verliert sie auch dann nicht ganz, wenn wir uns wohnlich in ihr einrichten, uns ihr und sie uns anpassen: So sehr wir uns auch in sie einarbeiten und sie mitgestalten, sie behält in dieser Hinsicht trotz aller Veränderbarkeit die Qualität versteinerter Sozialität, mag der Marmor noch so sorgsam behauen und seine Form noch so fein ausgestaltet sein.« (Soeffner 2003: 182 f.)
Soeffner verbindet damit in seiner Interpretation die philosophische Anthropologie mit der bereits ausgeführten Perspektive Georg Simmels, dem die Tragödie der Kultur ja gerade darin bestand, dass die von den Menschen geschaffenen Formen sich mit der Zeit von ihnen entfernen und dennoch einen nicht mehr subjektiv zu erklärenden Respekt verlangen. Die Soziologie konnte sich jedoch auch anders auf die philosophische Anthropologie beziehen. Vor allem Friedrich H. Tenbruck schloss an die These des Menschen als prinzipiellem Kulturwesen mit einer historischen Gesellschaftstheorie an, die im Auftauchen der Begriffe ›Kultur‹ und ›Gesellschaft‹ als Selbstbeschreibung der Gesellschaft seit 1800 eine spezifische Eigenschaft der Moderne sah: »Der plötzliche Aufstieg dieser alten Wörter [›cultura‹ und ›societas‹, L.A.] zu neuen Schlüsselbegriffen im allgemeinen Gebrauch ist nicht irgendein sprachgeschichtlicher Vorgang. Er markiert vielmehr einen entscheidenden Vorgang der modernen Gesellschaftsgeschichte. Ihre plötzliche Verbreitung in den Volkssprachen zeigt an, daß ältere Vorstellungen von Mensch, Gesellschaft und Geschichte außer Kurs gekommen waren. In diesem Sinne standen ›Kultur‹ und ›Gesellschaft‹ für radikal neue Umorientierungen, die allerdings eher auf Probleme verwiesen als auf Lösungen.« (Tenbruck 1996: 100)
Diese Probleme lassen sich mit dem Verlust der Deutungshoheit religiöser Welterklärungen und mit dem Bedarf nach neuen politischen Legitimationsprinzipien klarer umreißen. Kultur fungierte dann vor allem als repräsentativer Begriff: »Aber der Grundgedanke, der dem modernen Kulturbegriff zugrunde lag, zielte von Anfang an auf die Ermittlung derjenigen Ideen, Bedeutungen und Werte, die als charakteristische Hauptmuster den Erscheinungen einer Gesellschaft zugrunde lagen, weil sie von den Angehörigen dieser Gesellschaft geteilt wurden. Dem modernen Kulturbegriff lag von vornherein die Vorstellung einer ›repräsentativen Kultur‹ so selbstverständlich zugrunde,
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daß man sich das Adjektiv sparen konnte. Um die Kultur in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung wieder zu verstehen, müssen wir uns heute des Adjektivs bedienen.« (Ebd. 106)
Dass Kultur als Repräsentationsdimension der Gesellschaft fungiert, erklärt Tenbruck mit der Fähigkeit einer solchen repräsentativen Kultur, immer größere Anteile der Gesellschaft in diesen Repräsentationszusammenhang einzufügen – die bürgerliche Kultur war ihrem Selbstverständnis nach auch eine universale Kultur, die allerdings langfristig ihre Versprechen nicht halten konnte und zu einer Pluralisierung führte (Tenbruck 1989). Dennoch bleibt für den einzelnen Menschen in der Gesellschaft ›seine‹ Kultur unantastbar. Hier zeigt sich dann auch am stärksten, warum Tenbruck als Vertreter eines Kulturbegriffs der philosophischen Anthropologie zu lesen ist. Die kulturellen Tatsachen, mögen sie auch nur für begrenzte Gruppen gelten, bleiben jeweils unhinterfragbar: »Denn die Kultur ist eine gesellschaftliche Tatsache, insofern sie repräsentative Kultur ist, also Ideen, Bedeutungen und Werte erzeugt, die kraft faktischer Anerkennung wirksam werden. Sie umfaßt dann jene Überzeugungen, Verständnisse, Weltbilder, Ideen und Ideologien, die das soziale Handeln beeinflussen, weil sie entweder aktiv geteilt oder passiv respektiert werden.« (Tenbruck 1996: 107)
Tenbruck spricht damit den kulturellen Tatsachen den Status Durkheim'scher sozialer Tatsachen mit Zwangscharakter zu. Damit bleibt nicht erklärt, welche der sozialen Tatsachen dann zu kulturellen Tatsachen werden und wie der Prozess ihrer Transformation zu erklären sei. Die Herausbildung der Moderne mit ihren Umwälzungen der Sozialstrukturen macht zwar die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Begriffes von repräsentativer Kultur deutlich, aber nicht, warum konkrete Werte in den Kulturhimmel gehoben wurden.
Kultur, verstanden im Sinne der philosophischen Anthropologie, hat mit grundsätzlich zwei Problemen zu kämpfen: Die mit der ethnologischen Anthropologie geteilte These, dass jede Gesellschaft über Kultur verfüge, wird vor allem bei Gehlen in eine Theorie der Institutionen als künstlicher Natur gewendet, deren Argumentation darauf zielt, die Notwendigkeit gegebener Institutionen zu begründen. Kultur wird daher erst dann problematisch, wenn sie ihres institutionellen Charakters beraubt wird, d.h. ihre Gültigkeit verliert und legitimiert werden muss. Dass möglicherweise die Durchsetzung eines Verhaltens als Institution ebenso umkämpft sein könnte, gerät somit weitest-
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gehend aus dem Blick der philosophischen Anthropologie. Damit favorisiert sie eine eigentümlich unhistorische Vorstellung von Kultur. Obwohl Tenbruck dieses Defizit überwindet, bleibt ihm dennoch die Gleichstellung von Kulturtatsachen und sozialen Tatsachen unhintergehbar. Kultur, einmal institutionalisiert, bleibt statisch erhalten, bis sie von einer anderen Kultur abgelöst wird. Die Frage danach, wie einzelne Kulturwerte für andere gültig gemacht werden, d.h. die andauernden Konflikte um ihre Aufrechterhaltung und Legitimation, bleibt weitgehend unthematisiert.
3.1.4 Kultur als praktische Ordnung Was die formale Konzeption von Simmel mit der ethnologischen und der philosophischen Anthropologie verbindet, ist die Vorstellung, dass es eine wie auch immer geartete Einheit von ›Kultur‹ gäbe, durch die sich Gruppen oder Gesellschaften mit ihren Mitgliedern auszeichnen. Demgegenüber betonten die Cultural Studies, dass Menschen »nicht so sehr in einzelnen Kulturen [leben]. Sie leben kulturell« (Hörning 1999: 84). Was die ethnologische Anthropologie in ihrem Kulturrelativismus begründete und die philosophische Anthropologie als Existenzbedingung ankündigte, wird nun für die Cultural Studies zu einem tatsächlichen Vermögen einer alltäglich vollzogenen Praxis. Sie wählt allerdings ganz andere theoretische Ausgangspunkte, an denen sie ihr Programm einer profanen Kulturanalyse entwickelte: marxistische und strukturalistische Theorien einerseits, die Chicago School und den Poststrukturalismus von Michel Foucault und Jacques Derrida andererseits. In ihren Studien zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse (Thompson 1963), der Kultur der proletarischen ›lads‹ (Willis 1977) und zu jugendlichen, migrantischen Subkulturen (Hall/Jefferson 1993) betonen sie zwar noch die Klassengebundenheit von kulturellen Praktiken, etwa der Mode, des Drogenkonsums oder des Verhaltens in der Öffentlichkeit. Mit einer zunehmenden Ausrichtung auf die Analyse der Aneignung von kulturellen Produkten und Medien (Hall 2004c; Fiske 2000) tritt jedoch der praktische Vollzug von Differenzen im Umgang mit Kultur in den Vordergrund: Aus den gruppenspezifischen Varianten der Lösung universaler Probleme wird nun eine Analyse von Möglichkeitsspielräumen im Rahmen von als veränderbar aufgefassten politischen und ökonomischen Kräfteverhältnissen mit dem Ziel, einer Fetischisierung kultureller Artefakte in kapitalistischen Produktions- und Rezeptionskomplexen vorzubeugen. Kulturtheoretisch lässt sich gerade die Unterscheidung von Hoch- und Populärkultur dann nicht mehr aufrechterhalten. Die Opernkonsumentin vertritt dann nicht mehr ein besonders differenziertes »rechte[s] Hö-
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ren« (Adorno 1956: 13), sondern kann genauso gut ein ›Fan‹ sein, deren musikalische Vorlieben sich eben nicht auf die Beatles beziehen, sondern auf Puccini oder Verdi (Benzecry 2009). In diesem Sinne bilden die Cultural Studies ein eigenes Feld an Positionen innerhalb eines Spektrums an Ansätzen, die sich letztlich als praxeologische Kulturtheorien zusammenfassen lassen. Andreas Reckwitz (2003) fasst darunter all jene Ansätze, die mittels der Analyse von praktischem Wissen die soziologische Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft zu überwinden suchen, indem sie die Herausbildung von Identitäten und sozialen Arrangements als material durch Körper und Artefakte vollzogen begreifen. Theodore Schatzki versteht deshalb solche Praktiken als »organized nexuses of actions« (2002: 77). Neben den Cultural Studies führt Reckwitz die Theorien von Pierre Bourdieu (1979, 1993) und Anthony Giddens (1988), die Ethnomethodologie Harold Garfinkels (1967), die poststrukturalistischen Theorien (Deleuze/Guattari 1992; Foucault 1989, 2006a13), die Artefakt-Theorien der Wissenschafts- und Techniksoziologie (Latour 2008; Mol 2002), Theorien des Performativen (Alexander 2004; Butler 1991) sowie die neuere pragmatische Soziologie der Kritik (Boltanski/Thévenot 2007) an. Kultur wird hier vor allem verstanden als ein ›doing culture‹, durch das Kultur in ihren Objektivationen erst kollektiv hergestellt werden muss und gerade nicht als ein vorgängiges Symbol- und Sinnsystem begriffen wird: »Die soziale Welt bezieht ihre Gleichförmigkeiten aber nicht allein aus einem kulturellen Reservoir symbolisch-sinnhafter Regeln und Deutungen. Sie besteht gleichermaßen aus aktiven Handlungs- und Gebrauchszusammenhängen, in denen die Akteure gemeinsam Formen ›angemessener‹, ›passender‹ Praxis herauszufinden suchen. Erst in einem solchen Netzwerk sozial eingeschliffener Praktiken werden kulturelle Wissensordnungen zu einem Repertoire, das sich an das praktische Handlungswissen der Akteure einspielt und dabei auch unterschiedliche Formen von Reflexion hervortreibt.« (Hörning 2004: 28)
Im Gegensatz zu den anthropologischen Erklärungsansätzen, aber durchaus mit ethnographischen Verfahren ist die Einteilung in Kultur und Natur eine durch die Praktiken selbst hergestellte Ordnung von Wirklichkeit: »Interessant sind aus dieser Sicht weniger die Fragen nach der Unterscheidung von Menschen und Dingen, Technik und Gesellschaft oder Natur und Kultur, auch nicht solche nach der Autonomie und Qualität der symbolischen Sinn- und Zeichenmuster. Interessant 13 Gemeint sind die Arbeiten zu den Technologien des Selbst in Abgrenzungen zu den diskursanalytischen Arbeiten von Foucault, die als ›Textualismus‹ kritisiert werden.
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sind Fragen nach den Einsatz- und Rückwirkungsprozessen von ›Kultur‹ im Zuge ihrer lebenspraktischen intersubjektiven wie interobjektiven Vereinnahmung. Aber auch die historische Genese von kulturellen Sinnmustern und Wissensordnungen sowie ihre Habitualisierung und Materialisierung stehen dann im Vordergrund.« (Hörning/Reuter 2004a: 12)
Als herausragender Autor praxeologischer Theoriebildung gilt Pierre Bourdieu, der seit seinen ethnologischen Feldforschungen zur Kabylei an einem Begriff der Praktiken resp. an einer Theorie der Praxis (1979, 1993, 2001b) arbeitete. Dabei zielten seine Studien auf solche Strategien und Praktiken innerhalb des sozialen Raumes, die auf die Produktion, den Erhalt und die Beherrschung eigener kultureller Felder mit ihren relevanten Gruppen an Intellektuellen zielte: das Feld der Kunst mit seinen Künstlern, Kuratoren und Konsumenten (Bourdieu 2001a, Bourdieu/Darbel 2006, Bourdieu et al. 1981), das Feld der Wissenschaft mit den Studierenden und den Lehrkörpern an den Universitäten (Bourdieu 1988, 2001c; Bourdieu/Passeron 2007), das Feld des Journalismus und des Fernsehens (Bourdieu 1998b) usw. Bourdieu konzentriert sich dabei vor allem auf die Strategien der Objektivation, durch die legitime kulturelle Werke erst erzeugt werden. In Bezug auf den Kalender als ein solches kulturelles Werk führt er aus: »Wie die Genealogie, die einen Raum linearer, homogener, ein für allemal gebildeter Beziehungen an die Stelle eines räumlich und zeitlich diskontinuierlichen Gefüges von Verwandtschaftsinseln setzt, die je nach augenblicklichem Bedarf hierarchisiert und organisiert sind und die je nach Gelegenheit wirksam werden, oder auch wie der Plan, der den unstetigen und lückenhaften Raum der praktischen Verläufe und Wegstrecken durch den homogenen und stetigen Raum der Geometrie ersetzt, so ersetzt der Kalender die praktische Zeit, die aus unvergleichbaren und einen jeweils eigenen Rhythmus aufweisenden Einheiten der Dauer gebildet ist – eine Zeit die drückend sein kann oder auf der Stelle zu stehen scheint, je nachdem, was man in ihr macht, d.h. je nach den Funktionen, die ihr die Handlung, die sich in ihr vollzieht, zuweist –, durch eine lineare, homogene und stete Zeit.« (Bourdieu 1979: 241)
Zugleich folgt die Produktion eines solchen Kalenders den Strukturierungsprinzipien des Habitus, d.h. er muss auch für die Akteure und ihre bewusst oder unbewusst verfolgten Interessen annehmbar und brauchbar sein, um sich als kulturelles Artefakte zu bewähren; er muss praktisch angeeignet werden können. Auch Howard S. Becker betont die analytische Konsequenz einer pragmatischen Konzeption kultureller Artefakte: »It makes more sense to see these artifacts as
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the frozen remains of collective action, brought to life whenever someone uses them, as people making and reading charts or prose, making and seeing films. To speak of a film is shorthand for ›making a film‹ or ›seeing a film‹.« (Becker 2007: 15) Erstere formiert sich nach Pierre Bourdieu sowohl in objektiven Gegebenheiten, kulturellen Werken etc. als auch als Habitus der Gesellschaftsmitglieder, die bestimmte Zugänge zu diesen Werken, d.h. spezifische Lesarten dieser Werke erlaubt: »Die Beziehung zwischen Positionen und Positionierungen ist alles andere als mechanisch. Zwischen sie schiebt sich gewissermaßen der Raum des Möglichen, das heißt der Raum vollzogener Positionierungen, wie ihn die Wahrnehmungskategorien eines bestimmten Habitus erfassen, nämlich als Raum, der von Positionierungen strukturiert ist, die sich hier als objektive Möglichkeiten, als ›machbar‹ abzeichnen: ›Bewegungen‹, die man ins Leben ruft, Zeitschriften, die man gründen, Gegner, die man bekämpfen, Positionierungen, die man ›hinter sich lassen‹ kann usw.« (Bourdieu 2001a: 371)
Exemplarisch hat Bruno Latour die praktische Hervorbringung von Natur und Kultur als ›frozen remains of collective action‹ untersucht. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem ›black boxing‹. Vor dem Hintergrund einer Kritik der gängigen Sozialtheorien (Latour 2010) setzt seine Wissenschaftsforschung an den Praktiken technischer Vermittlung an, mit denen es Netzwerken von menschlichen und nicht-menschlichen Handlungsträgern gelingt, die eigenen Praktiken der Erzeugung eines Artefakts derart unsichtbar zu machen, dass andere es als eine eigene Einheit verstehen. Latour verwendet zur Illustration einen Overhead-Projektor, der, so lange er funktioniert, den Status einer black box innehat. Erst wenn er nicht mehr funktioniert, und geöffnet werden muss, sieht man, dass er aus einer Reihe an weiteren Elementen (weiteren black boxes) besteht, die zur Reparatur das Eingreifen weiterer Handlungsträger (z.B. Techniker, Kundendienst, Händler für Ersatzteile, Produzent von elektrischen Widerständen usw.) verlangt (Latour 2000: 222 ff.). Was zunächst als ein technisches Artefakt erschien, löst sich auf in eine Assoziation von Handlungsträgern. Um aus der Vielzahl an black boxes ein Objekt (oder eine ›Kultur‹) herzustellen, müssen die verschiedenen Elemente in einem neuen Medium zusammengeführt werden: Aus der praktischen Tätigkeit des Ethnologen, seinen auf Tonbandgeräten aufgezeichneten Gesprächen, in Notizbüchern festgehaltenen Zeichnungen, analog oder digital fixierten Fotografien, verkörperten Erinnerungen, Besehen und Begreifen von Objekten usw. wird schließlich ein wissenschaftlicher, auf
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Papier gedruckter Text, der all diese ganz heterogenen Elemente derart kombiniert, dass der Leser schließlich einer einheitlichen Kultur gegenüber steht.14 Dennoch sind Praxistheorien vor allem als Sozialtheorien angelegt. Dies wird dann zum Problem, wenn man etwa mit Reckwitz darauf setzt, Kulturtheorien als Sozialtheorien zu verstehen, die er unter dem Label eines ›cultural turn‹ der Sozialwissenschaften zusammenfasst (Reckwitz 2008). Dabei fällt auf, dass sich diese Ansätze zwar von einem kulturellen Universalismus insofern lösen, als sie ›Kultur‹ sehr wohl als etwas praktisch Hervorgebrachtes begreifen. Doch dieser theoretische Vorteil wird sofort wieder zunichte gemacht, indem Soziales mit Kulturellem gleichgesetzt wird. Statt großer kultureller Einheiten werden nun überall kleine kulturelle Artefakte und Praktiken identifiziert. Obwohl es dieser Theorietradition möglich wäre, die Herausbildung eines gesonderten Körper-Artefakt-Arrangements ›Kultur‹ als Gesellschaftliche Universalie zu untersuchen, aber eine solche Perspektive zugleich zurückweist oder nicht weiter berücksichtigt, zeigt abschließend die folgende Sequenz: »Die kulturtheoretische Perspektive arbeitet die historisch und lokal spezifische, in diesem Sinne notwendig partikulare kulturelle Konstitution der scheinbaren ›Universalien‹ der Moderne heraus – von den Praktiken und Diskursen der kapitalistischen Ökonomie über die Naturwissenschaft bis zu den Geschlechterverhältnissen. Generell wird aus dieser Perspektive ›Rationalität‹ nicht als modernes Faktum vorausgesetzt, sondern nach historisch wandelbaren Praktiken und Diskursen der Produktion des kulturell als rational Definierten gefragt. Die Moderne erweist sich dann als durch kulturelle Universalisierungsstrategien gekennzeichnet, die selber zum Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Analyse werden.« (Reckwitz 2008: 723)
Hier überrascht, dass zwar die Moderne mit ihren Universalisierungsstrategien kritisch hinterfragt wird, die geschilderten Konsequenzen, die sich aus einer Umstellung auf Praxistheorien ergeben, jedoch nicht für den modernen Begriff der ›Kultur‹ selbst gezogen werden.
14 Latour arbeitet diese Logik des ›black boxing‹ aufgrund seiner eigenen Spezialisierung als Technik- und Wissenschaftsforscher viel deutlicher in der kollektiven Fabrikation von Natur aus (Latour 2000, 2008). Er erhebt den Anspruch zwar auch für die Kultur, doch die Ausführungen dazu bleiben stark konzeptuell (Latour 2008: 137 ff.).
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Trotz z. T. erheblicher epistemologischer Differenzen eint die Praxistheorien zur Kultur ein methodologischer Standpunkt, der sie als Outcome von Praktiken begreift. Aus den Differenzen zwischen Gruppen und Symbolsystemen wurden Differenzen des körperlichen Vollzugs. Jedes Handeln erzeugt performativ über die kulturellen Differenzen hinaus sich selbst als kulturelle Strategie. Reckwitz summiert diese Position sehr deutlich, wenn er festhält: »Die Praxistheorien sind Kulturtheorien, aber nicht alle Kulturtheorien sind Praxistheorien.« (2003: 288) Da aber die vorliegende Arbeit nicht auf eine allgemeine Sozialtheorie der Kultur zielt, sind Praxistheorien nur dann brauchbar, wenn sie sich auf die Praktiken beziehen, die ›Kultur‹ als einen eigenen Realitätsmodus sui generis, d.h. als eine black box fabrizieren.
3.2 S TRATEGIEN
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Bourdieu hatte in seinen bildungs- und kultursoziologischen Arbeiten darauf aufmerksam gemacht, dass sich tatsächlich gesellschaftliche Konflikte um die symbolische Ordnung der Gesellschaft analysieren lassen (Bourdieu 1987) – neben dem akademischen Milieu und den Lehrern sind dies vor allem die Künstler, die Journalisten und die Wissenschaftler, die über ein gleichermaßen hohes kulturelles und symbolisches Kapital verfügen, um ein sozial wirksames, d.h. verständliches und reproduzierbares Bild der Gesellschaft zu entwerfen. Folgerichtig müssen die entworfenen und tatsächlich durchgesetzten Selbstbilder der Gesellschaft berücksichtigt werden. Und diese Selbstbilder oder Repräsentationen sind nicht willkürlich, sondern Ausdruck eines Aufeinandertreffens einer objektiven Geschichte mit den subjektiven Geschichten der Akteure. Kultur als Fabrikation stellt sich also dem Handeln als Repräsentation entgegen – aber nicht als Monument, sondern als ein Spiegel, vor dem man entziffert, wie zu handeln sei. Gleichzeitig verfügen die Akteure aber auch über ein Wissen und Erwartungen, anhand deren sie die Spiegelungen interpretieren.15 Dabei wird keineswegs impliziert, dass die Akteure in eine feste Struktur von einzelnen Normen, Werten und Regeln gefügt sind, diese ihnen gar introjiziert und gegen eine innere Natur des Menschen behauptet werden müssten. Eine herrschaftssoziologische Perspektive auf Kultur will zuerst einmal darauf aufmerksam machen, dass man in der Auseinandersetzung mit anderen niemals ganz Herr der
15 Dieser Gedanke ist die Grundlage der Figur des ›looking glass self‹ von Charles H. Cooley (1902).
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Lage ist, sondern sich in einem bereits von (vorgängigen) Anderen strukturiertem Feld bewegt. Genau das aber identifizierte Marx als Kernproblem der politischen Repräsentation, als er davon sprach, dass sich selbst noch die Revolutionen in die Kostüme der Geschichte hüllten, um »mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.« (Marx 2004: 115) Gerade da, wo gesellschaftlicher Wandel sich vollzieht, muss man darauf aufmerksam machen, wer hier mit welchen Mitteln diesen Wandel sichtbar macht und Kultur fabriziert. Immanuel Wallerstein (1990) spricht in diesem Zusammenhang von der Kultur als ›ideological battleground‹: »However, as soon as I raise the question of who or what has a culture, it becomes immediately obvious how slippery is the terrain. What is the evidence that any given group has a ›culture‹? The answer is surely not that all presumed ›members‹ of any of these groups act similarly to each other and different from all others.« (Ebd. 33)
Genau diese Fragen greift Spivak (2008) auf, wenn sie auf die zweifache Bedeutung von Repräsentation als abbildende Darstellung und politische Vertretung verweist. Wer spricht für wen und wem werden solche Aussagen verunmöglicht? Wie formiert sich die kollektive Fauna, die das Terrain der Kultur bewohnen soll, und wie differenzieren sich ihre einzelnen Mitglieder in ihrem Verhältnis zu sich selbst (und zu anderen) als Teil einer kulturellen Gemeinschaft? Repräsentation in ihren beiden Formen ist daher stets ein machtvoller Prozess. Repräsentation von Gesellschaft (als einer zeitlosen Form, einer Schicksalsgemeinschaft, als Verkörperung von bestimmten Traditionen und Werten usw.) ist besonders dann stabil, wenn es gelingt, beides zusammenzubringen: Abbildung und Vertretung. Wenn es also gelingt, ein kohärentes Bild der Kultur zu zeichnen und für diese Darstellung eine legitime Sprecherposition im Diskurs zu reklamieren, die eine soziale Zuordnung des Bildes gewährleistet. Dabei zeigt sich jedoch, dass eine Repräsentation mehr darstellt als tatsächlich abbildet: Für Stuart Hall (2004a) ist es idealtypisch der rassistische Fetischismus als Repräsentationsregime, der in den Bildern schwarzer Männer allzu oft etwas hinzu fantasiert, was gar nicht dargestellt wird: den Phallus.16 Das Andere konstituiert sich als Objekt eines machtvollen sexualisierten Blickes, von dem Susan Bordo (1999) sagt, dass ihm zwar Reverenz abverlangt wird, der zugleich aber auch die Unmöglichkeit seiner körperlichen Erreichbarkeit festschreibt. Die Macht der Repräsentation entzieht sich sofort wieder. Auch für Michel Foucault (1974) ist die Souveränität, die die Abbildung begründet, im 16 Zum rassistischen Fetischismus: Mercer (1994); zur Fetischisierung des weißen Körpers: Dyer (1997).
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Bild selbst abwesend. In seiner Analyse des Gemäldes ›Die Hoffräulein‹ von Velasquez macht Foucault darauf aufmerksam, dass die Repräsentation das Repräsentierte eigentlich immer auslässt: »Vielleicht verbürgen sich in diesem Bild wie in jeder Repräsentation (deren manifeste Essenz es sozusagen ist) wechselseitig die tiefe Unsichtbarkeit dessen, was man sieht, und die Unsichtbarkeit dessen, der schaut.« (Ebd. 45) Dass Kultur als ökonomisch organisierter und staatlich verwalteter Sektor (›die‹ Kulturindustrie) der Repräsentation gegenüber der Bildungsanspruch erhoben wird, das Individuum zu veredeln und mit einer neuen Qualität auszustatten, gilt dementsprechend nicht für alle Teile der Gesellschaft. Eine qualitative Veränderung des Verhältnisses zur Gesellschaft galt historisch nämlich nur für das auf Wissen und Bildung angewiesene Bürgertum, das sich auf der permanenten Innovation von Technologie und Wissen konstituierte. Die Künste, die Wissenschaft, die Bildung und das Reisen erzeugten eine geistige Welt, die sich von der materiellen Sphäre abgrenzte. Herbert Marcuse sprach dabei vom ›affirmativen Charakter der Kultur‹, der im Moment, da das Bürgertum zur zentralen Akteursgruppe wurde, dieses Kulturverständnis als Maßstab an die anderen Klassen ansetzte und seine integrierende Wirkung entfalten sollte: »Die Kultur meint nicht so sehr eine bessere oder edlere Welt: eine Welt, die nicht durch einen Umsturz der materiellen Lebensordnung, sondern durch ein Geschehen in der Seele des Individuums herbeigeführt werden soll. Humanität wird zu einem inneren Zustand; Freiheit, Güte, Schönheit werden zu seelischen Qualitäten: Verständnis für alles Menschliche, Wissen um das Große aller Zeiten, Würdigung alles Schweren und Erhabenen, Respekt vor der Geschichte, in der alles geworden ist. Aus solchem Zustand soll ein Handeln fließen, das nicht gegen die gesetzte Ordnung anrennt. Kultur hat nicht, wer die Wahrheiten der Humanität als Kampfruf versteht, sondern als Haltung. Diese Haltung führt zu einem Sich-benehmen-können: bis in die alltäglichen Verrichtungen hinein, Harmonie und Abgewogenheit zeigen. Die Kultur soll das Gegebene veredelnd durchdringen, nicht ein Neues an seine Stelle setzen.« (Marcuse 1968: 71)
Für Marcuse bestand der Herrschaftscharakter von Kultur in der Idealisierung von Tätigkeiten, die, zum Orientierungsmuster erhoben, die körperliche Arbeit abwertet, aber zugleich notwendig darauf angewiesen ist, dass diese Arbeit von anderen ausgeführt wird, denen damit die Zeit fehlt, sich ebendiesen kulturellen Tätigkeiten zu widmen.17 Dem Repräsentationszusammenhang einer jeder profa17 Die materiellen Grundlagen der Erzeugung einer Kulturideologie sind letztlich auch das Hauptproblem der kulturmarxistischen Theorien von Antonio Gramsci (1991 ff.) und der älteren Kritischen Theorie (Horkheimer/Adorno 1987; Löwenthal 1990).
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nen Notwendigkeit enthobenen Kultur steht dann als Akteur das kultivierte, freie und gebildete Individuum gegenüber. In jeder Darstellung von Kultur werden folglich spezifische Elemente herausgehoben, die typisch sein sollen (dieses Getränk, diese Tracht, dieser Stil etc.), während anderes nicht in den Blick gerät, weil es entweder die Repräsentation stört, als kulturell gering eingeschätzt wird oder keinen weiteren Informationswert zu enthalten scheint. Repräsentationen sind daher immer reduktionistisch, indem sie aussparen, was sie zu zeigen vorgeben, oder indem sie das Repräsentierte auf möglichst einfache und ›runde‹ Weise präsentieren. Auf welchen grundlegenden Strategien beruht nun die Repräsentation? Und wer sind ihre jeweiligen Akteure? Antworten darauf liefern vor allem historische und gegenwartsanalytische Arbeiten zur kollektiven Erinnerung und zum kulturellen Gedächtnis (3.2.1), zur Erfindung von Traditionen und kulturgeographischen Räumen (3.2.2) sowie Studien, die die politische und ökonomische Gestaltbarkeit von Kultur als symbolischem Kapital oder Referenz thematisieren (3.2.3). Die Studien zum kulturellen Gedächtnis haben den Vorteil, dass sie über den Umweg des Nationalstaats einen exemplarischen Gegenstand analysieren können (ein territoriales Staatsgebilde), der von sich behauptet, sich allein auf kollektive Gemeinsamkeiten – Sprache, Geschichte, Erinnerung, Mentalität – zu gründen und zu legitimieren. Umgekehrt ermöglichen es die Analysen zur Erfindung von Kulturräumen, die Teleologie offen zu legen, mit denen diese Erfindungen und Repräsentationen von Kultur verbunden sind. Die gegenwartsbezogenen Analysen zur Gestaltbarkeit von Kultur zeigen die unterschiedlichen Strategien, mit denen Kultur gezielt neu definiert, kapitalisiert und für den Kulturkonsumenten aufbereitet wird. Erinnern – Erfinden – Gestalten. Diese Serie korrespondiert mit den Formationsregeln des Kulturdiskurses, denn auch die Kultursoziologie ist ein Kulturdiskurs. Doch es wäre zu einfach, Analysen des Erinnerns nur als Aussagen zur zeitlichen Periodisierung zu lesen, während sich das Erfinden von Nationen nur auf die Etablierung territorialer Innen-Außen-Differenzierungen beziehen solle und mit dem Begriff des Gestaltens allein symbolische Referenzierungen adressiert würden. Weil unter diesen Begriffen verschiedene kulturtheoretische Ansätze subsumiert werden, sollte selbstverständlich sein, dass immer allen drei Formationsregeln gefolgt wird – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: So messen die Analysen zu kollektiven Gedächtnissen zwar der zeitlichen Periodisierung eine herausragende Stellung bei, aber zugleich treffen sie Aussagen dazu, wer sich überhaupt erinnert (Innen-Außen-Differenzierung) und welche Formen die Erinnerung annehmen kann (symbolische Referenzierung).
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3.2.1 Erinnern Kultur als Selbstbeschreibung trägt immer einen Vergangenheitsindex. Zwar kann man durchaus auch in der Gegenwart verschiedene Kulturen unterscheiden, aber deren Existenz wird mit einer eigenen Vergangenheit begründet. Maurice Halbwachs gilt dabei als der zentrale Referenzautor für einen soziologischen Gedächtnisbegriff. Für ihn kann der Vergangenheitsbezug auf zwei grundsätzlich verschiedene Arten gestaltet sein: In der Geschichtsschreibung und im kollektiven Gedächtnis. Die Geschichtsschreibung besteht im Wesentlichen aus einer universalistischen Konstruktion von Ereignisabfolgen und schematischen Sequenzen in der Gegenwart, die er der gelebten Tradition des kollektiven Gedächtnisses gegenüberstellt: »Die Geschichte ist zweifellos das Verzeichnis der Geschehnisse, die den größten Raum im Gedächtnis der Menschen eingenommen haben. In Büchern gelesen, in den Schulen gelernt, sind die vergangenen Ereignisse jedoch Notwendigkeiten und Regeln zufolge ausgewählt, nebeneinander gestellt und eingeordnet, die nicht für jene Gruppen von Menschen zwingend waren, die sie lange Zeit als lebendiges Gut aufbewahrt haben. Das bedeutet, daß die Geschichte im allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört – in einem Augenblick, in dem das soziale Gedächtnis erlischt und sie zersetzt.« (Halbwachs 1985b: 66)
Demgegenüber betont Halbwachs das kollektive Gedächtnis als gelebte Erinnerungen von sozialen Gruppen. Erinnerungen bedürfen einer zeitlichen und räumlichen Lokalisierung, um einen konkreten Ereignisbezug herstellen zu können. Dabei dient die soziale Gruppe als Träger eines kollektiven Gedächtnisses, d.h. einer Reihe an Referenzerinnerungen, mit der das Erlebte dann zeitlich und räumlich fixiert werden kann, indem »wir uns den Gesichtspunkt der Gruppe zu eigen machen, daß wir ihre Interessen annehmen, daß wir die Richtung ihrer Überlegungen verfolgen.« (Halbwachs 1985a: 199) Das kollektive, d.h. sozial bedingte Gruppengedächtnis ist daher nicht nur von den Mitgliedern der Gruppe getragen, sondern bildet einen eigenen Rahmen, in dem die Erinnerungen der Einzelnen zusammenfließen: »Um dieses Erinnerungsganze zu gewinnen, genügt es auch hier, daß wir die den Gruppenmitgliedern gemeinsame Haltung einnehmen, daß unsere Aufmerksamkeit sich auf diejenigen Erinnerungen richtet, die immer im Vordergrund ihres Denkens stehen und von denen ausgehend diese Gruppe gewohnt ist, mittels einer ihr eigentümlichen Logik alle ihre Erinnerungen wiederzufinden oder zu rekonstruieren.« (Halbwachs 1985a: 199)
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Damit ist auch klar, dass Halbwachs mit seinem Gedächtnis nicht auf eine echte Vergangenheit zielt, sondern auf die gegenwärtigen Rekonstruktionen von erlebten Ereignissen, wie sie durch die Gruppe reproduziert werden. Exemplarisch arbeitet er diese Gedächtnistheorie in seiner empirischen Studie zu den Stätten der Verkündigung im Heiligen Land (Halbwachs 2003) aus. Auf der Grundlage eines Reiseberichtes eines ›Pilgers von Bordeaux‹ aus dem 4. Jh. n. Ch. versucht Halbwachs am historischen Ursprung der Pilgerfahrten das damals herrschende kollektive Gedächtnis zu rekonstruieren: »Uns geht es nicht darum, ob jene Überlieferungen im Hinblick auf die heiligen Stätten wirklichkeitsgetreu sind, ob sie mit früheren Begebenheiten übereinstimmen. Wir nehmen sie als solche, als geformte Erinnerungen, untersuchen sie von der Zeit an, in der sie zuerst auftauchen und durch den Lauf der Jahrhunderte, die darauf folgen.« (Ebd. 20)
Im Abgleich der im Reisebericht erwähnten Orte mit Textstellen aus den Evangelien, mit späteren Reiseberichten und anhand von Kartenmaterial gelingt es Halbwachs zu zeigen, dass die Orte zentraler Episoden aus den Evangelien über die Jahrhunderte hinweg unterschiedlich geographisch lokalisiert werden und dass sie sich häufig mit alten jüdischen Kultstätten und damit bereits existierenden heiligen Orten decken. Resümierend hält Halbwachs fest: »Und so werden für eine neue religiöse Gemeinschaft die Überlieferungen älterer Gruppen zu fast natürlichen Trägern ihrer eigenen Erinnerungen, geben ihnen wie Strebepfeiler Festigkeit und Halt. Durch jene gewinnt sie immer mehr Ansehen, wird sie wie eingesegnet. Doch gleichzeitig und auf lange Sicht reißt sie die eigenen Überlieferungen im Strom der Erinnerungen fort, löst sie von einer immer dunkler werdenden Vergangenheit, jener Nacht der Zeit, in der sie sich zu verlieren scheinen, und verwandelt sie, indem sie diese Überlieferungen zu den ihren macht. Dabei werden sie von ihr entstellt, wird ihr Ort in der Zeit, im Raum verändert.« (Ebd. 189)
Erinnerungen ändern sich mit den Trägergruppen des kollektiven Gedächtnisses, das für Halbwachs somit einen Prozess permanenter Rekonstruktion darstellt, »deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der Gegenwart her ergibt. Vergangenheit steht nicht natürwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung.« (Assmann 1997: 48) Wodak et al. (1998) betonen in ihren Analysen zur österreichischen Nationalidentität unter Verweis auf den Historiker Peter Burke jedoch, dass die Gegenüberstellung von historischem und kollektivem Gedächtnis nicht ohne Weiteres haltbar ist. Gerade wenn man das Gedächtnis einer Nation und mit ihr die Komplexe an Symbolen, Narrativen,
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Ritualen usw. in den Blick nimmt, muss man von einer Pluralisierung von nationalen Gedächtnissen ausgehen: »Von unterschiedlichen Gruppen können Elemente des nationalen Bewußtseins so in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext verschieden, in gruppen- beziehungsweise kontext-spezifischen Varianten tradiert werden.« (Ebd. 34) Zwar könne man dann zu ganz unterschiedlichen nationalen Geschichten kommen, je nachdem, welche historischen Bezugspunkte von den Gruppen aktualisiert werden (können). Insgesamt »käme es darauf an, eine ›Sozialgeschichte des Erinnerns‹ zu schreiben, und in jeweils konkreten, räumlichen, zeitlichen und sozialen Kontexten die Auswahlprinzipien und die Funktion dessen, was erinnert wird, sowie die Formen der Weitergabe dieser öffentlichen Erinnerungen zu analysieren; also mündliche Traditionen und symbolische Erzählungen, konventionelle historische Dokumente, Bilder, Denkmäler und Monumente, kollektive Gedenkrituale und Räume als Medien der Gedächtnisvermittlung.« (Ebd. 37)
In Frankreich bemühte sich der Historiker Pierre Nora um die Analyse solcher ›Lieux de memoire‹: In Abgrenzung zu solchen historischen Ansätzen, die nach einer wahren Geschichte suchen, setzt seine Analyse der französischen Nation im Symbolischen an: »Doch von der Minute an, da man sich weigert, das Symbolische einem ganz bestimmten Gebiet zuzuweisen, und statt dessen Frankreich als eine Realität definiert, die selbst symbolisch ist – das heißt also faktisch, diesem Frankreich jede mögliche Definition verweigert, die es auf zuweisbare Realitäten reduzieren würde –, steht der Weg zu einer ganz anderen Geschichtsbetrachtung offen. Diese untersucht nicht mehr die Determinanten, sondern deren Auswirkungen; nicht mehr die Aktionen, die in Erinnerungen bleiben oder deren sogar gedacht wird, sondern die Spuren dieser Aktionen und die Spielregeln dieser Form des Gedenkens; nicht mehr die Ereignisse an sich, sondern deren Konstruktion in der Zeit, das Verschwinden und Wiederaufleben ihrer Bedeutungen; nicht die Vergangenheit, so wie sie eigentlich gewesen ist, sondern ihre ständige Wiederverwendung, ihr Gebrauch und Mißbrauch sowie ihr Bedeutungsgehalt für die aufeinanderfolgenden Gegenwarten; nicht die Tradition, sondern die Art und Weise, wie sie geschaffen und weitergegeben wird.« (Nora 2005c: 16)
In der mehrbändigen französischen Originalausgabe versammelte Nora ganz unterschiedliche Erinnerungsorte, die durchaus geographischer Art sein können: etwa den Eiffelturm oder Verdun. Häufiger sind dies aber auch nationale Konzepte wie die Tour de France, die Marseillaise und der Code civil, oder sogar
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historische Persönlichkeiten: Jeanne d'Arc, Réne Descartes, Marcel Proust. Der Ansatz nimmt also dabei das Anliegen von Halbwachs ernst, die spezifischen Gruppen mit ihren je eigenen Strategien der Erinnerungen und des kollektiven Gedenkens als gegenwartsbezogene Konstruktion sichtbar zu machen: So wandelt sich die Bedeutung von Verdun als Inbegriff des Krieges – wie es von den beteiligten Soldaten begriffen wurde – hin zu einer »informierten Geschichtsschreibung« (Prost 2005: 276), die vor allem einen didaktischen Wert hat und die nicht mehr auf der Erinnerungsarbeit der Zeitgenossen des ersten Weltkriegs beruht. Die Geschichtswissenschaft hat eine Fülle solcher Erinnerungsorte vor allem nationaler Art bestimmt (für Deutschland: Françios/Schulze 2001; Münkler 2009; Sabrow 2009; für Österreich: Brix/Bruckmüller/Stekl 2004), sich aber auch antiken Erinnerungsorten zugewandt (Stein-Hölkeskamp/Hölkeskamp 2006, 2010). Letztere sind aufgrund ihrer nicht-nationalen Zuordnung und der großen zeitlichen Distanz besonders geeignet, die Aneignung durch moderne oder gar gegenwärtige Gruppen aufzuzeigen, d.h. den konstruktiven Charakter der kulturellen Bezüge zur Antike hervorzuheben – die weitläufige Präsentation der griechischen Skulpturen in der Münchener Glyptothek etwa sagt weit mehr über gegenwärtige Museumskonzepte aus als über die antiken Bezugspunkte: »Man kann sich unter die Menge mischen, kann Kaisern und Bürgern ins Gesicht schauen, mit ihnen ein Zwiegespräch suchen. Antike – lebendig und nah! Aber es ist eine unhistorische Nähe – in der Antike nämlich waren die Portraits nie so aufgestellt.« (Wünsche 2010: 578) Die Versuche, die historischen Wandlungen der Erinnerungen und damit der kollektiven Gedächtnisse zu rekonstruieren, stehen jedoch vor dem Problem, die Auswahl der relevanten Gruppen mit ihren Erinnerungen zu begründen. Die Darstellung der Abfolge von an die Orte anknüpfende Praktiken des Gedenkens sagt noch nichts über die Wirkmächtigkeit des jeweiligen Gedächtnisses. Welche soziale Gruppe ist gesellschaftlich dazu legitimiert, Aussagen über die Vergangenheit so zu tätigen, dass diese auch für andere Gruppen gelten können? Sind es die Historiker oder die Theologen? Die Kuratoren oder die Herausgeber von populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Fernsehsendungen? Welcher Gruppe gelingt es letztlich, in der Gegenwart eine hegemoniale Deutung der Vergangenheit herzustellen? Der Ägyptologe Jan Assmann sowie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schlagen vor, zwei »modi memorandi« (Assmann 1997) zu unterscheiden. Während ein kommunikatives Gedächtnis im Modus der biographischen Erinnerung auf die ›recent past‹ des Alltags verweist und von den gegenwärtig lebenden Generationen getragen wird (Jan Assmann setzt hier eine Zeitspanne
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von 80–100 Jahren als Zeithorizont von drei oder vier Generationen an, die diffus an den Erinnerungen partizipieren), ist immer auch ein fundierendes kulturelles Gedächtnis am Werk. Dieses ist hochgradig symbolisch vermittelt, in Festen, Riten und Zeremonien objektiviert, operiert mit einer absoluten Vergangenheit, einer mythischen Urzeit als Zeithorizont und wird von spezialisierten Traditionsträgern ausgearbeitet (ebd. 53 ff.). Daher kommt dem kulturellen Gedächtnis auch eine herrschaftslegitimierende Funktion zu. Indem es starke Narrative zu den historischen Ursprüngen der Gemeinschaft liefert, kann es mittels der Selektion von Erinnerungen die Machthaber der Gegenwart bestätigen – auch indem die Erinnerungen anderer (unterdrückter, oppositioneller oder randständiger) Gruppen der Vergessenheit anheim gegeben werden. Schließlich können die Machthaber der Gegenwart aber auch versuchen, über die zukünftigen Erinnerungen Kontrolle auszuüben: »Die Herrscher usurpieren nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft, sie wollen erinnert werden, setzen sich in ihren Taten Denkmäler, sorgen, daß diese Taten erzählt, besungen, in Monumenten verewigt oder zumindest archivarisch dokumentiert werden.« (Ebd. 71) Zu den zentralen Strategien der Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses gehören daher auch Versuche der Kanonisierung, die dem kulturellen Wissen Kohärenz und Ordnung verleihen: die Texte werden systematisiert, Auslegungen unterschieden und als legitim zugelassen oder als illegitim ausgeschlossen. So entstehen Hierarchien von Texten, Normen und Maßstäben. Im Zentrum der Analyse des kulturellen Gedächtnisses stehen also erneut die Medien der Erinnerungen. Aleida Assmann (2003) unterscheidet daher Schriftzeugnisse, Bilder, Körper und Orte, in denen sich das Herrschaft legitimierende Funktionsgedächtnis ausbildet. Diesem stellt sie ein Reservoir an alternativen, potentiell aktualisierbaren Ressourcen kulturellen Wissens gegenüber, das sie als ›Speichergedächtnis‹ bezeichnet. Während auch dieses Gedächtnis aktiv hergestellt, institutionell gestützt und konserviert werden muss, lassen sich jenseits dieser beiden Gedächtnisformen innerhalb des kulturellen Gedächtnisses auch noch die »Spuren, Reste, Relikte, Sedimente einer vergangenen Zeit« (ebd. 409) unterscheiden, die als latente Sinnressourcen präsent aber vom gegenwärtigen kulturellen Gedächtnis als wertlos begriffen werden. Mit dem starken Verweis auf die Medien des Erinnerns lösen die Kulturwissenschaftler das Problem der Legitimität des kulturellen Gedächtnisses durch eine evolutionäre Perspektive, die Herrschaft mit Selektionsfähigkeit gleichsetzt. Zugleich werden kulturelle Kontexte als stabil gesetzt: Die Analysen zur politischen Identität in frühen Hochkulturen (Assmann 1997) setzen eine Einheit der altägyptischen, hethitischen und homerischen Kulturkontexte als gegeben voraus. Und in der theoretischen Konstrukti-
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on des kulturellen Gedächtnisses werden ›heiße‹ und ›kalte‹ Kulturen als Selektoren gesetzt. Kulturen übernehmen daher eher die Funktion einer Randbedingung für die Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses denn als Produkt der Gedächtnisoperationen (ebd. 66ff.). Freilich thematisieren Jan und Aleida Assmann, dass auch die Erinnerungen Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen sind, dass sie auch immer anders vollzogen werden können, indem sie die historischen Varianten auch tatsächlich rekonstruieren. Offen bleiben vor allem aber die tatsächlichen Strategien, mit denen alternative Erinnerungen delegitimiert und vergessen gemacht werden.18 Claus Leggewie (2011) identifizierte mit dem Holocaust ein Zentrum solcher erinnerungspolitischen Strategien im europäischen Kontext. Das wichtigste Datum des Gedenkens stellt dabei der 27. Januar 1945, der Tag der Befreiung von Auschwitz dar. Ausgehend von diesem »negativen Gründungsmythos Europas« (ebd. 15) beschreibt er sechs weitere »Kreise europäischer Erinnerung«: 1. den sowjetischen Gulag, 2. ethnische Säuberungen und Vertreibungen, 3. Kriegs- und Krisenerinnerungen, 4. die europäischen Kolonialverbrechen, 5. Migrationsbewegungen nach Europa und schließlich 6. die Wachstums- und Integrationsgeschichte der EU nach 1945.
Während die Auseinandersetzung mit dem Holocaust sowie die Geschichte der EU als zentrale Rahmen der europäischen Erinnerung dienen – Leggewie spricht davon, dass sie »relativ gut erforscht und im öffentlichen Bewusstsein breit verankert sind« (ebd. 13) – erweisen sich die anderen fünf Themenkomplexe als hochgradig strittig und asymmetrisch verteilt: Die Erinnerung an den Holocaust erscheint gegenüber dem Gulag auch deswegen als gewichtiger, weil es nach 1945 gelang, für die Thematisierung der Vernichtung der Juden eine medial vermittelbare Form zu finden: »[E]ine vergleichbare Ikonisierung und Medialisierung haben die Verfolgungen kommunistischer Regime, denen von 1917 an
18 Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses steht damit in enger Nähe zu der Gedächtnistheorie von Niklas Luhmann, der Kultur insgesamt als reflexives Gedächtnis des Gesellschaftssystems begreift. Zu dieser Einsicht kommt er jedoch nur über eine vermittelte Rezeption der Arbeiten von Halbwachs, insbesondere über eine Auseinandersetzung mit Jan und Aleida Assmann sowie Jacques Derrida. Seiner eigenen Theoriekonzeption folgend orientiert er sich stärker an der Kybernetik von Heinz von Foerster und an den Naturwissenschaften (Luhmann 1999).
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bis in die chinesische und nordkoreanische Gegenwart Hunderte von Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, offenbar nicht erreicht.« (Ebd. 26) Leggewie argumentiert, dass ein europäisches Geschichtsbewusstsein sich gerade auch dieser kollektiven Traumata und Gewalterfahrungen annehmen muss, wenn Europa eine gemeinsame Erinnerungskultur entwickeln will (von deren politischer Notwendigkeit Leggewie überzeugt ist). Wie konfliktiv diese Erinnerungsarbeit ist, versucht er deshalb an sieben verschiedenen Erinnerungsorten europäischer Peripherie zu verdeutlichen: Anhand einzelner Orte oder kultureller Artefakte (u.a. der Bronze-Statue ›Aljoscha‹ auf dem Militärfriedhof in Tallinn, dem Zündapp-Moped für den millionsten Gastarbeiter in Deutschland oder den Dokumenten zu den Genoziden an den Armeniern und in Zentralafrika) werden die unterschiedlichen geographischen Konfliktlinien (Ost-West, Christentum-Islam, Europa-Afrika, Nordeuropa-Südeuropa), die involvierten intranationalen Gruppen, inter- und supernationalen Konfliktparteien und auch die Akteure der Diaspora nachgezeichnet. Die Erinnerungsarbeit erweist sich also als auch bei Leggewie als normativ geforderte Form der Herausbildung einer kollektiven politischen Identität. Dieser Forderung steht aber schon eine ganze Erinnerungsindustrie gegenüber: »Daran wird fleißig gearbeitet. Werbekampagnen versuchen, Europa ein modernes outfit zu geben, Europa trendy zu machen, europäische Symbole zu popularisieren«, schreibt Helmut König (2008b: 21). Er sieht die Suche nach den kollektiven europäischen Erinnerungsorten kritisch, weil sie in einem additiven Verfahren die nationalen Erinnerungsorte zusammentrage, ohne die spezifische europäische Qualität kenntlich zu machen: »Europa legt die Erinnerungsorte seiner Einzelstaaten zusammen, und die Einzelstaaten laden die anderen Mitgliedsländer ein, die eigenen Erinnerungsorte gemeinsam zu würdigen. In diesem Sinne verstand z.B. der französische Präsident Nicolas Sarkozy offenbar die Feiern zum Jahrestag der Französischen Revolution im Juli 2007 als Fest Europas. Zum französischen Nationalfeiertag der Erinnerung an den Sturm auf die Bastille lud Sarkozy die 26 EU-Partnerstaaten Frankreichs zu einer gemeinsamen Feier ein. An der Militärparade nahmen Besucher und Abgeordnete aus allen Partnerstaaten teil.« (König 2008a: 643)
Schließlich zeige auch das Scheitern des Verfassungsvertrages, dass sich eine gelebte Erinnerung an gemeinsame europäische Erfahrungen nicht als Gründungsmythos eines politischen Staatswesens analog zu den Nationalstaaten durchzusetzen vermochte.
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Pierre Nora, der mit seinem Konzept der Erinnerungsorte gegen ein nationalessentialistisches Geschichtsverständnis argumentierte, musste sich letztlich doch selbst eingestehen, dass es »vom Sog der gegenwärtigen Gedenkorgien mitgerissen worden [sei]. Und kaum war der Ausdruck ›Erinnerungsort‹ geprägt, ist mit ihm ein Werkzeug, das zur Schaffung von kritischer Distanz geschmiedet worden war, zum Instrument des Gedenkens par excellence geworden.« (Nora 2005a: 543) Aus alldem lässt sich für das vorliegende Projekt der Schluss ziehen, dass das Erinnern als eine Strategie der Repräsentation von Vergangenheit verstanden werden muss, die keineswegs authentische Tradition, weil in der gelebten Erfahrung von distinkten sozialen Gruppen verankert, ist. Zumindest für den europäischen Kontext muss man konzedieren, dass Gedenkfeiern und Erinnerungsorte als ein Moment der gezielten Herstellung von exklusiven politischen Identitäten fungieren und eine selektive Vergangenheitskonstruktion als gemeinsam geteilte Kulturerfahrung vorstellen.
Die Beiträge zur Soziologie des kollektiven Gedächtnisses begreifen das Erinnern (und damit auch das Vergessen) als eigenständige soziale Prozesse des Umgangs mit Vergangenheit, die sich von der Geschichtsschreibung unterscheiden. Während jedoch die Arbeiten im Anschluss an Maurice Halbwachs in einem an Durkheim orientierten sozialen Funktionalismus verbleiben, versuchte der Ansatz von Pierre Nora eine Kritik zur herrschaftlichen Vermittlung von Vergangenheit. Das Konzept der Erinnerungsorte zeigt jedoch entgegen seiner ursprünglichen Intention, dass gerade auch das, woran sich Gruppen erinnern, Ausdruck einer gezielten Fabrikation von Ereignissen ist, an die sich diese Gruppen erinnern sollen.
3.2.2 Erfinden Was die Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis meist nicht thematisieren, ist die Konstruktion der sozialen Gruppen selbst, die sich nun erinnern sollen. Es ist zunächst einmal gar nicht klar, worin ihre Einheit als Träger von Kultur besteht. Die Nationalstaats- und Nationalismusforschung betont demgegenüber die Erfundenheit von Nationen. Der bereits zitierte Benedict Anderson formuliert: »Sie [die Nation, L.A.] ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.« (Anderson 1996: 15) Vorgestellt sei sie, weil die Anzahl ihrer Mitglieder den Kreis der den Einzelpersonen bekannten Mitmenschen wesentlich übersteigt; ihre Begrenzung finden Nationen in einem Anspruch auf
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eine territoriale Einheit, die sie von anderen Nationen trennt; ebenso gestaltet sich der Anspruch auf Souveränität, d.h. auf eine kollektive Selbstbestimmung, die in der autonomen staatlichen Herrschaftsgewalt ihren Ausdruck findet; der Gemeinschaftscharakter ergibt sich aus der Vorstellung, die Mitglieder einer Nation seien Gleiche (ebd. 15 ff.). Diese erfundenen, weil imaginierten Einheiten sind dabei das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen, die sich weltweit vor allem im 19. Jahrhundert herausbildeten und nicht als rein westliche oder säkulare Phänomene charakterisiert werden können. Gerade in den Kämpfen gegen die europäischen Kolonialmächte erwies sich die Forderung nach einer eigenen Nation als politisches Instrument der Befreiungsbewegungen. Dabei, so kann man die Arbeit von Anderson zusammenfassen, müssen unterschiedliche Homogenisierungsstrategien verfolgt werden, will man die Nation als Grundlage der politischen Gemeinschaft etablieren: 1.
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Es muss ein gemeinsames Territorium hergestellt werden, d.h. ein homogener Raum, der über feste Grenzen verfügt, die als geographische Inklusionsund Exklusionsmechanismen verstanden werden können: Nur wer diesseits der Grenze lebt, oder seine Existenz auf frühere Bewohner dieses Territoriums zurückführen kann, gehört zu der Gemeinschaft.19 Gesichert werden diese Grenzen einerseits sehr direkt über Exekutivstrukturen der Grenzkontrolle, andererseits aber vor allem durch das Anfertigen von Karten und Atlanten, die den legitimen Anspruch der Nation auf einen Boden markieren. Homogenisiert wird auch die Zeit. Von Walter Benjamin übernimmt Anderson das Konstrukt einer ›homogenen und leeren Zeit‹ (Anderson 1996: 23), in der parallel und unabhängig voneinander verschiedene Ereignisabläufe prozessiert, im Hinblick auf ein gemeinsames zeitliches Raster aber in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Repräsentiert werden diese Parallelgeschichten in einem absoluten Kalender mit wiederkehrenden Festzeiten, in Romanerzählungen, in den Museen mit ihren Geschichtskonstruktionen und Ursprungsmythen, sowie in den fortlaufenden Tageszeitungen. Letztere funktionieren ja als synthetisches Produkt der Berichterstattung über die voneinander unabhängigen Ereignisse der letzten 24 Stunden, die in dem immer wiederkehrenden datierten Design mit seinen Sparten (Politik, Feuilleton, Sport, Verschiedenes etc.) präsentiert werden. Nicht unabhängig davon erfinden Nationen auch materiale Objekte, in denen sie sich selbst repräsentieren: Dazu gehören personalisierte Allegorien der Nation (die ›Marianne‹ für Frankreich), Symbole (Flaggen, Hymnen
19 Poulantzas (2002) spricht von einer territorialen Matrix der Nation, die dank des modernen Kapitalismus den ehemals offenen Raum differenziert und begrenzt.
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und Münzen), gebaute Monumente und Ehrenmäler wie die leeren Grabmäler für den unbekannten Soldaten, Repräsentationsbauten für den Staatsapparat und seine Organe (das Schloss Bellevue, der Reichstag, das Bundeskanzleramt mit seiner Kunstsammlung etc.). Genau hier zeigt sich Anderson für die Strategien des Erinnerns und Vergessens anschlussfähig, weil die Artefakte nationaler Repräsentation im eigentlichen Sinne ›leer‹ sind und mit Erinnerungen aufgefüllt werden müssen. Der Historiker Philipp Sarasin (2003a) verweist darauf, dass sie als objektivierte ›leere Signifikanten‹ fungieren, d.h. durch ihre Polysemie ganz unterschiedliche Erinnerungen und Identitäten verbinden können. Eine weitere Homogenisierung wird durch die Etablierung einer gemeinsamen Sprache hergestellt: Auch dies ist eine Konstruktion, durch die den Kindern an den Schulen in der Regel eine Kunstsprache beigebracht wird, die sich mit den regionalen und lokalen oralen Sprachvarianten nur bedingt deckt, aber als distinktives Ausschlusskriterium für Inklusion und Exklusion dient. Die Erfindung des Buchdrucks und die Etablierung und Ausbreitung von Druckerzeugnissen bildet für Anderson einen zentralen Ursprung für das sprachbasierte Nationalbewusstsein. Schließlich betont Anderson auch eine affektive Dimension, die als »gefühlsmäßige Verbundenheit« (Anderson 1996: 142) die Form des Patriotismus oder Nationalismus annimmt. Ihren Niederschlag findet sie im Liedgut, der Dichtkunst und auch in den Beschreibungen, Beschimpfungen und Geschichten, die sich auf die Mitglieder von Nachbarnationen beziehen.
Die Nation entsteht so als kulturell homogener, geographisch markierter Raum mit einer eigenen Symbolik, Geschichtsschreibung und Mentalität. Peter Haslinger spricht in diesem Fall vom imagined territory: »Das imagined territory repräsentiert daher einen materialisierten Anspruch auf eine zeitlose Verankerung einer postulierten nationalen Gemeinschaft in einem Territorium, das in der Regel als unveränderlich gedacht wird. In Auseinandersetzungen zwischen Interessensgruppen, die sich unterschiedlichen nationalen Bewegungen zuordnen lassen, dient daher das imagined territory oft als Referenzpunkt, wenn es gilt, Besitz-, Verfügungs- und Gestaltungsansprüche der eigenen Gruppe innerhalb eines bestimmten Gebiets geltend zu machen. Bezieht sich das imagined territory dabei auf ein bereits bestehendes staatliches Territorium, wird im nationalen Diskurs eine organische Kongruenz zwischen nationaler Gruppe und Territorium behauptet. Die Bedrohung selbst von peripheren Teilen dieses imagined territory wird daher unabhängig von dessen Bevölkerungsstruktur als Angriff auf die nationale Gesamtgruppe begriffen. In diesem Fall verdrängt das Territori-
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um in der Hierarchie des nationalen Diskurses das Kollektiv. In anderen – etwa imperialen oder multinational föderalen – Kontexten bewirkt die politische Konkurrenz um Ressourcen und Institutionen in Regionen mit mehrsprachiger Bevölkerung fast zwangsläufig eine Territorialisierung des nationalen Paradigmas: Hierbei ändert sich nicht nur der diskursive Stellenwert von Territorium und nationalem Kollektiv, sondern im nationalen Wettbewerb werden die gemeinsame Territorialeinheit und das eigennationale Kollektiv argumentativ miteinander verknüpft und stehen für den Anspruch auf politische Emanzipation oder gar auf Dominanz.« (Haslinger 2010: 31)
Im Sinne einer solchen Kontingenz der Artikulation von Territorium und Gruppe argumentieren Eric Hobsbawm und Terrence Ranger in ihrem Sammelband zu erfundenen Traditionen (1983): Was als ursprüngliche ethnische oder regionale Traditionen präsentiert wird, ist zumeist eine Bricolage moderner Bemühungen um kollektive Vereinheitlichung. Dabei stellen nationenbezogene Traditionen zwar einen gewichtigen Sonderfall dar, erfundene Traditionen lassen sich jedoch nicht darauf reduzieren: »›Invented tradition‹ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past.« (Hobsbawm 1983a: 1)
So erweist sich das Bild des traditionellen Schottenrocks mit clanspezifischen Tartan-Mustern als Ergebnis einer Geschichte, die die Bemühungen eines englischen Industriellen um effektive Arbeitskleidung, die Stationierung von Schotten des Highland Regiments in Indien und Amerika, die Phantasien zweier nationalistisch gesonnener Brüder und einen handfesten Wissenschaftsbetrug zusammenführt (Trevor-Roper 1983).20 Die gezielte Erfindung von Traditionen muss dabei aber auch nicht immer erfolgreich verlaufen, wie die Geschichte der in vielen deutschen Städten stehenden Bismarcktürmen zeigt: Ausgehend von einem durch die Deutsche Studentenschaft ausgerichteten nationalen Wettbewerb, aus dem das Modell ›Götterdämmerung‹ hervorging, sollten jährlich zu Bismarcks Geburtstag große Feuerschalen auf den Türmen entzündet werden – 20 Am Beispiel der Erfindung von Traditionen zeigt sich deutlich, wie die Autoren allen drei Formationsregeln folgen. Der tartan wird als traditionelles Symbol der Clanzugehörigkeit rekonstruiert, wobei mit der Behauptung der Traditionalität die zeitliche Periodisierung, mit der Clanzugehörigkeit die Innen-Außen-Differenzierung und mit dem Kleidungsstück die symbolische Referenzierung adressiert werden.
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allein, dieser Tag fiel in die vorlesungsfreie Zeit und das Projekt erreichte so nie den Stand einer Realisierung (Greiling 2004). Löst man sich von der Nation als Größenordnung geographischer Kulturräume, geraten übernationale, resp. kontinentale Erfindungen in den Fokus: Edward Saids Buch Orientalism (1979) betrifft die von Europa ausgehende Fiktion einer imaginären Einheit ›Orient‹, die im Rahmen europäischer Kolonisierungen als Gegenbild zum fortschrittlichen Westen entsteht. Das Bild des Orients, das durch französische und englische Reiseberichte, ein Heer von Wissenschaftlern (die Orientalisten) und nicht zuletzt auch durch die Kunst vermittelt wird, ist das eines rückständigen aber exotisch-magischen Gegenentwurfs zur europäischen Kultur: »The Oriental is irrational, depraved (fallen), childlike, ›different‹; thus the European is rational, virtuous, mature, ›normal.‹ By the way of enlivening the relationship was everywhere to stress the fact that the Oriental lived in a different but thoroughly organized world of its own, a world with its own national, cultural, and epistemological boundaries and principles of internal coherence. Yet what gave the Oriental's world its intelligibility and identity was not a result of his own efforts but rather the whole complex series of knowledgeable manipulations by which the Orient was identified by the West (…) The point is that in each of these cases the Oriental is contained and represented by domination frameworks.« (Ebd. 40)
Das kulturelle Wissen um den Orient entwickelt sich vornehmlich im 19. und frühen 20. Jahrhundert und diente als Korrektiv für den geographischen Großraum, der sich in der Folge als Raum für politische und ökonomische Projekte jenseits der europäischen Grenze anbot und von Said als relativ stabile geographische Konstruktion betrachtet wird: »Orientalism is the generic term that I have been employing to describe the Western approach to the Orient; Orientalism is the discipline by which the Orient was (and is) approached systematically, as a topic of learning, discovery, and practice. But in addition I have been using the word to designate that collection of dreams, images and vocabularies available to anyone who has tried to talk about what lies east of the dividing line.« (Ebd. 73)
Dieses Konglomerat an Wissen und Vorstellungen, die den zumeist arabischen Ländern vom Westen aufgezwungen werden, durchlaufen dabei immer wieder verschiedene Versuche der Systematisierung und Re-Definition. Als Grundlage identifiziert Said vier zentrale diskursive Elemente:
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Die immer weiter in den Osten vorstoßenden Reisen ermöglichten eine Expansion der geographischen Repräsentation des Orients, die den biblischen Interpretationsrahmen zunehmend auflösen; es verschoben sich auch die historischen Konfrontationen von einer Konzeption des Orientalen als Feind des Christentums und Barbaren zur historischen Quelle einer eigenständigen (wenn auch vom westlichen Standpunkt aus geschriebenen) Geschichte; eine selektive Identifizierung durch sympathische Einfühlung in den Orient, etwa in der Kunst (z.B. bei Mozart in »Die Entführung aus dem Serail«); schließlich Bemühungen um eine allgemeine Klassifikation, die dem Orientalen eine Stelle als kultureller Charakter im Tableau der Naturgeschichte der Menschheit zuwies (ebd. 116 ff.).
Saids Buch gilt als Eckstein der Postcolonial Studies, hat aber auch einiges an Kritik hervorgerufen. So kritisierten Lewis/Wigen (1997), dass die argumentative Figur, der Orientalismus sei ein den betroffenen Kulturen von außen und oben herab aufoktroyiertes Konstrukt des Westens, diesen Westen selbst als Homogenes und Anderes präsentiere: »Not only do the West’s defenders and its attackers share a dependence on East-Westcomparisons, but more particularly there is a remarkable congruence in the contours of their respective cultural stereotypes. Their values may be strongly opposed, but partisans and critics of the West alike tend to portray East and West in essentially the same set of terms.« (Ebd. 75)
Dennoch betonen auch Lewis/Wigen die Zentralität Europas in der modernen geographischen Imagination, die sich maßgeblich einer gut 500 Jahre währenden Praxis der Kartographie und metageographischen Kategorisierungsarbeit verdanke. Vorstellungen von abgrenzbaren Kontinenten, die mit den Begriffen Orient, Okzident, Ost und West die metageographischen Einheiten Europa, Asien oder Afrika bildeten, sind das Ergebnis kultureller, geographischer, historischer und politischer, euro- aber auch afrozentrischer Imaginationen. Der Komplizenschaft mit der eurozentrischen Perspektive versuchen sie stattdessen mit drei methodologischen Prinzipien entgegenzuarbeiten: »Our methodological differences with textbook geography can be summed up in three main principles. First we have avoided defining regions in terms of specific diagnostic traits, focussing instead on historical processes. Second, we have ignored both political and ecological boundaries, giving primacy instead to the spatial contours of assemblages
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of ideas, practices, and social institutions that give human communities their distinction and coherence. Finally we have tried to conceptualize world regions not only in terms of their relations with one another. For one region's identity has often coalesced only in confrontation with another.« (Ebd. 188)
In kritischer Distanz zu Edward Said bewegt sich auch Jürgen Osterhammel (2010), der das 18. Jahrhundert gerade als eine Zeit beschreibt, in der die Bedeutung von Grenzen marginal gewesen sei. Wie auch Lewis/Wigen hält er an den Grundprinzipien der Aufklärung fest und betont Die Entzauberung Asiens, so der Titel seines Buches. Während Said die politische Imagination des Orients als eine exotische, problematische und rückständige Interpretation durch den Westen als Anderes der Kultur präsentiert, insistiert Osterhammel auf einen gegenläufigen Prozess, der durch eine Vielzahl polyglotter Gelehrter zustande kam: »Im Laufe des 18. Jahrhunderts, das als ein langes, um 1680 beginnendes Jahrhundert gefaßt werden sollte, verloren die Zivilisationen Asiens in der charakteristischen Sichtweise von Europäern ihre Märchenhaftigkeit. Zwar hielt sich von Antoine Gallands Übersetzung der Geschichten aus 1001 Nächten (1704) bis zu William Beckfords Schauerroman Vathek (1786) weiterhin die Bilderwelt des phantastischen Orients, doch trat daneben die rationale Beschreibung und Analyse zeitgenössischer asiatischer Gesellschaften, die zu zeigen versuchte, wie diese Gesellschaften samt ihren politischen Systemen und religiösen Praktiken ›funktionierten‹. Die Länder des nicht-christlichen Eurasiens wurden keineswegs einem pauschalen Oberbegriff von ›Asien‹ oder dem ›Orient‹ als dem Gegenteil von ›Europa‹ bzw. dem ›Okzident‹ unterworfen, sondern in ihren Besonderheiten vergleichend dargestellt und diskutiert. Schroffe Ost-West-Dichotomien finden sich im 18. Jahrhundert ebenso selten wie Versuche, Asien aus der Sphäre historischer Bewegung in einen Sonderraum der ›Geschichtslosigkeit‹ zu verdrängen, es auf ein Abstellgleis der Weltgeschichte zu schieben.« (Ebd. 413)
Das heißt allerdings nicht unbedingt, dass die den Intellektuellen der Aufklärung zur Verfügung stehenden Dokumente auf nüchternen Fakten und objektiv gesicherten Erhebungen basiert hätten: Die zentrale Gattung Reisebeschreibung »war und blieb geschaffene Literatur, kein objektivierendes kamerahaftes Protokoll des Gesehenen. Zwischen dem unmittelbaren Sinneseindruck des reisenden Beobachters und dem, was der Leser in Europa letzten Endes aus seinem Bücherregal holte, lagen zahlreiche Vermittlungsschritte: immer die Niederschrift mit all den literarischen Gattungskonventionen, vorausgenommenen Publikumserwartungen und Erfordernissen des literarischen Marktes, die auf den schreibenden Reisenden einwirkten, sowie die Gestaltung,
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Produktion und Verbreitung des Buches durch Verleger, Illustratoren, Drucker und Buchhändler. Oft ging der Text auch durch weitere Hände: die von Bearbeitern, Redakteuren, Herausgebern, von Übersetzern, die sich noch durch keinen Imperativ der Texttreue gebunden fühlten, von Kompilatoren und Anthologisierern, die teils die offene Form der Collage wählten, teils – man denke an den Abbé Prévost – ihre Vorlagen bedenkenlos umschrieben.« (Ebd. 207)
Auch wenn die Intellektuellen diesem Problem mit einer »Kunstlehre des kritischen Lesens« (ebd. 208) begegneten, so konnte auch die Entzauberung Asien nicht vor einer zunehmenden Kolonialisierung bewahren, die mit dem aufkommenden Eurozentrismus des 19. Jahrhunderts einherging. Komplementär zu den Erfindungen von Grenzen, Territorien, religiösen und kulturellen Essenzen der Moderne betont Bernd Schneidmüller die viel länger währende Offenheit Europas für seine Nachbarn. Zwar sieht auch er in der Ostgrenze Europas die problematischste – in erster Linie, weil sie im Gegensatz zum Mittelmeer und zum Atlantik durch keinen natürlichen Grenzverlauf bestimmbar ist. In seiner Rekonstruktion mittelalterlicher Grenzerfahrungen rückt er stattdessen die stärker verbindenden Elemente zwischen Europa, Asien und Afrika in den Blick. Mittelalterliche Europa-Konzepte behaupteten damals keineswegs einen Anspruch darauf, ein globales Zentrum zu sein. »Sie gingen noch nicht von Europa als Königin aus, sondern hielten den bescheidenen Ort Europas im Gesamtgefüge der alten Welt aus. Die Sinnstiftungen späterer Europa-Ideen lassen sich aus solchen mittelalterlichen Bescheidenheiten jedenfalls nicht ableiten. Und auch die modernen Abgrenzungswünsche finden keine historischen Wurzeln. Die Menschen in Europa wussten vielmehr, dass alles Wichtige aus Migrationen entstanden war: die Religion, die Kultur, die Völker.« (Schneidmüller 2011: 21)
Die zentralen Erfahrungen, die jene Weltregion, die später Europa heißen sollte, mit Asien machte, setzt Schneidmüller weit vorher an und verdeutlicht sie an drei historischen Ereignissen: »(1) Die unwiderstehlich erscheinende Expansion mongolischer Reiterheere aus den asiatischen Steppen nach Westen in der Mitte des 13. Jhs., die an die von den Hunnen angestoßenen Reiterheere gemahnte; (2) die von der Seidenstraße und den Schwarzmeerhäfen in der Mitte des 14. Jhs. nach Europa ausgreifende Pestkatastrophe, die als ›schwarzer Tod‹ in kurzer Zeit zur ersten ›mikrobiologischen Vereinigung Europas mit der damals bekannten Welt führte; (3) die Eroberung der christlichen Kaiserstadt Konstantinopel durch osmanische Truppen Sultan Mehmeds II. in der Mitte des 15. Jhs. Diese drei Katastro-
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phen, die aus dem Osten kamen, ergriffen die Menschen mehr als anderes und formten Geschichte in Europa.« (Ebd. 78)
Die Völker dieses Noch-nicht-Europas waren also derart mit Asien verstrickt, dass ihnen die Erfindung von Grenzen im modernen Sinne (seien sie kontinental, national oder kulturell) absurd oder schlicht undenkbar erschienen wäre.
Sozialkonstruktivistische Ansätze, die die Erfindung und Imagination von Kulturräumen, allen voran von Nationen, Traditionen und metageographischen Einheiten des »Westens« oder des »Orients« thematisieren, zeigen sich sensibel für die machtvollen Ein- und Ausschlüsse, die durch die Festlegung von territorialen und kulturellen Grenzen sowie durch die Erfindung von scheinbar zeitlosen Traditionen vorgenommen werden. Diese stark ideologiekritischen Ansätze bleiben jedoch in unterschiedlichem Ausmaß einer »wahren« Geschichte verpflichtet, die in den Erfindungen verzerrt oder gefälscht würden. Vor allem die Kritik an den postkolonialen Ansätzen zeigte, dass interne Differenzierungen am Herrschaftspol zugunsten der kritischen Rekonstruktion großer Erzählungen aus einer subalternen Perspektive nivellierten. Damit gehen die unterschiedlichen Partikularinteressen an der herrschaftlichen Fabrikation von Kultur einer differenzierteren Analyse verloren.
3.2.3 Gestalten Die Fabrikation derjenigen Referenzobjekte, mit denen die Prozesse der Kontinuierung und Grenzziehung objektiviert und symbolisch festgehalten werden und dabei eine Homogenität der zeitlichen Dauer und des eingegrenzten Terrains erzeugen sollen, bleibt bislang kaum untersucht. Unter den bereits aufgeführten Arbeiten wenden sich vor allem die Beiträge in The Invention of Tradition von Hobsbawm/Ranger (1983) diesem Problem zu, wenn sie die Erfindung des Schottenrocks (Trevor-Roper 1983) oder die massenhaft produzierten Zeichen von Nationalität im 19. Jahrhundert thematisieren (Hobsbawm 1983b): Verwiesen die unterschiedlichen Muster des tartan, an denen die Clans identifiziert werden sollen, auch auf die Grenzen ihrer Gültigkeit, so stellt der Anspruch, ein spezifisches Muster überhaupt zu tragen, die Homogenität seiner Träger her. Doch die Stoßrichtung des Sammelbandes zielte auf die Legitimation durch den Verweis auf die Vergangenheit, für die der tartan ein Objekt der Manifestation darstellte. Die Frage, wie solche Referenzobjekte hergestellt werden, wer über ihren Status entscheidet und welche Definitions- und Aushandlungsprozesse
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diesen Objekten vorausgehen, ist erst in jüngster Zeit zum Thema geworden. Arbeiten, die sich der Fabrikation symbolischer Kulturreferenzen widmen, beziehen sich vor allem auf 1. 2. 3.
die Entwicklung eines touristischen Blicks, dem eine zunehmende Vermarktung nationaler Eigenschaften entspricht, auf Strategien der Produktion kulturellen Reichtums und auf die pragmatische Gestaltung nationalen Kulturerbes und seiner Wertdimensionen.
Zu 1: Einige ältere Arbeiten entstammen dem Feld postmoderner Kulturtheorien, die sich vor allem der Erzeugung kultureller Güter unter dem Gesichtspunkt ihrer Ökonomisierung widmen. Hervorzuheben ist hier vor allem John Urry (2002), der bereits in den 1980ern zur Organisation der Tourismusindustrie unter kulturellen Gesichtspunkten arbeitete. In The Tourist Gaze betont er die professionelle Reorganisation der Welt für Touristen, denen eine bestimmte Art des Sehens auf die spezifischen Ausschnitte der Welt – Monumente, Landschaften, historische Gebäude und typische Objekte – ermöglicht wird: »The gaze is constructed through signs, and tourism involves the collection of signs. When tourists see two people kissing in Paris what they capture in the gaze is ›timeless romantic Paris‹. When a small village in England is seen, what they gaze upon is the ›real olde England‹. As Culler argues ›the tourist is interested in everything as a sign of itself … All over the world the unsung armies of semioticians, the tourists, are fanning out in search of the signs of Frenchness, typical Italian behaviour, exemplary Oriental scenes, typical American thruways, traditional English pubs‹ (1981: 127).« (Ebd. 3)
Die jeweils gültigen Zeichen sind dabei eingebunden in variierende Kontexte, für die Geschmackspräferenzen, konkurrierende Interessen, Touristengruppen und Expertenwissen aufeinander abgestimmt werden müssen. So wendet sich Urry dem Aufstieg der englischen Seebäder wie Brighton und Blackpool zu – die zunächst vor allem von der Arbeiterklasse als Orte kurzzeitiger Entspannung genutzt wurden. Mit der Zeit entstand eine der sozialen Lage der Touristen entsprechende Hierarchie der Strände und Bäder, mit den Bedürfnissen nach Distinktion entsprechenden medizinischen Angeboten, Unterkünften und Freizeitmöglichkeiten. Grund für den Aufstieg sei zunächst also die Suche nach einer anderen Aussicht gewesen – die Arbeiterklasse suchte den engen Behausungen ihrer Siedlungen zu entkommen. In der Gegenwart hätten diese Resorts jedoch wieder ihre Distinktionsfähigkeit verloren: Grund dafür sei die schwindende
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Sichtbarkeit von Klassenschranken, die Deindustrialisierung der Städte und der Aufschwung der Unterhaltungstechnologien und der großen Freizeitparks. Demgegenüber beobachtet Urry die staatliche und private Organisation einer ›Heritage Industry‹, in der vor allem Gebäude von Experten als ›historisch‹ klassifiziert werden, Museen21 und Ausstellungsgebäude nach den Bedürfnissen des ›tourist gaze‹ gestaltet, gebaut und organisiert werden. Die historische Bedeutsamkeit eines Gebäudes oder Exponats besteht dann darin, als ein Zeichen für wichtige historische Referenzen fungieren zu können: »[T]hat because there has been a ›rich‹ history, the old buildings appear not merely old but historically important; and in turn the buildings signify that the place is ›properly old‹, that it is indeed steeped in history. There must therefore be a coherent relationship between the built environment and the presumed atmosphere or character of the place being developed for the tourist gaze.« (Ebd. 108)
Urry selbst bleibt dabei jedoch Semiotiker, er analysiert die Gebäude, Museen, privaten Investitionen und staatlichen Programme, ohne sich der tatsächlichen Gestaltung dieses tourist gaze zuzuwenden. Ganz ähnlich aber mit einer anderen Bewertung verfährt dann auch James B. Twitchell (2004), der in seinem Buch die Verklammerung von Kultur und Markenform im gegenwärtigen Amerika bespricht. Er spricht von einer »Branded Nation«, in der die Schulen, Kirchen, Museen und ganze Lebensläufe als Marken interpretiert werden und in der sich dem Einzelnen neue Chancen der Integration in Komsumgemeinschaften eröffneten: Erfolg, Konsum und Vergemeinschaftung gehen Hand in Hand in der Entwicklung starker Narrative, die dabei auch kritisches Potential eröffnen könnten: »That contrived community of any kind should be created by sharing brands and/or confected stories they retell is dreary and depressing to some, as doubtless it should be. That the putative civilizing rituals should behave like so much soap powder is insulting to many. What these modern markets in belief, knowledge, and art tell us is that no hierarchy is currently exempt from internal competition and the very concept of disembodied authority is if not questionable then at least discussable. What branding tells us, is that often the hierarchy and authority reside not in intrinsic qualities but in the ability to generate compelling narrative.« (Ebd. 2004: 300)
21 Zur Organisation von Zeit und Geschichte im Museum siehe Lumley (1988).
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Zu 2: An die Fragen nach der professionellen und marktförmigen Gestaltbarkeit kultureller Referenzobjekte schließt auch der Sammelband The Cultural Wealth of Nations (Bandelj/Wherry 2011b) an: »We suggest a nation’s cultural wealth derives from the reputational attributes and cultural products of the nation. On the one hand when one sees national governments expending resources to market the reputation and symbolic attributes of their countries to attract world tourists and foreign investment, for the sake of national economic development, one bears witness to the creation and maintenance of that nation’s cultural wealth. The narratives widely disseminated in the global, English-language press describing the country’s major attributes capture these reputations as well. These narratives tell us what the Chinese are good at making, why Brazil is an attractive place to visit, why Italy might be preferred for design but not for financial services, or why anything Swiss is likely to be efficient and on time. One set of symbols and narratives may make a country suitable for sourcing of cut gemstones; another set of understandings make it a good place for rest and relaxation but not for fine stones, fine art, or tastefully designed (highly priced) furniture.« (Bandelj/Wherry 2011a: 7)
Dementsprechend versammeln die Autoren Beiträge zur Produktion solcher symbolischen Repräsentation von nationaler Kultur. Zugleich ist es den Autoren ein Anliegen, die These zu unterstützen, »that symbolic resources have demonstrable economic effects from one country and continent to the next« (ebd. 13). Damit geraten auch Unterschiede in der Verfügung über kulturellen Reichtum zwischen den Ländern in den Blick, z.B. als globale Verteilung von Orten des Natur- und Kulturwelterbes, der Tourismusströme oder des Konsums von Prestigegütern und Markenartikeln (Centeno/Bandelj/Wherry 2011). Dies führt schließlich zu der Forderung, die kulturelle Reichtumsproduktion in die ökonomische Analyse einzubinden (Swedberg 2011). Der Großteil der Beiträge betrifft aber entweder die Analyse der Konstruktion kulturellen Reichtums oder die Strategien der Transformation von kulturellem in ökonomischen Reichtum, von denen im Folgenden die Beiträge von Dario Gaggio und Lauren A. Rivera vorgestellt werden.22
22 Weitere Beiträge betreffen die Culture Bank in Mali, bei der die Bevölkerung Mikrokredite im Austausch für traditionelle Artefakte und die dazugehörigen Geschichten erhält (Wherry/Crosby 2011), die Fabrikation und Kontrolle symbolischer Werte am Beispiel südafrikanischen Weins (Ponte/Daviron 2011) oder die Transformation madagassischen Kunsthandwerks in traditionelle Artefakte für Touristen auf den Inseln Réunion und Mayotte (Regnault 2011).
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Dario Gaggio (2011) untersucht die ikonische und markenförmige Gestaltung der Toskana als schöne Landschaft seit 1945. Diese konnte sich erst in den 1970ern erfolgreich als ein attraktiver Ort für Touristen durchsetzen, als politische Reaktion auf eine Entvölkerung und ökonomische Marginalisierung, die aber nicht notwendigerweise hätte so verlaufen müssen: »The cultural and symbolic value of Tuscany’s rural landscape did not simply accrue from an uncontroversial and static reservoir of meanings. Instead a variety of actors negotiated and contested these meanings for decades, constructing a dynamic compromise they could believe in. The narratives of authenticity on which the iconicity of the Tuscan landscape relies became hegemonic rather late, in the 1970’s, emerging from the physical and metaphorical emptiness that followed the demise of the sharecropping economy and the peasant’s exodus.« (Ebd. 111)
Das Zusammenspiel von nicht-intendierten Nebenfolgen politischer Strategien, einem zunehmenden Agrotourismus und den Versuchen, die toskanische Landschaft zu schützen, führten zu einer Ikonisierung und Vermarktung der Toskana als Inbegriff einer schönen und ursprünglichen Natur: Dazu gehörten verschiedene Bemühungen der räumlichen Restrukturierung – Pflanzung von Olivenhainen, Verlegung von Weinlagen und Ersetzung alter Weinstöcke durch resistentere Neuzüchtungen, das Wegsprengen oder Abtragen von Hügeln für eine letztendlich erfolglose Viehwirtschaft – ebenso wie die Einführung eigenständiger Schutzmarken für den lokalen Wein – gegen den Widerstand ihrer Produzenten – aufgrund einer rigoroseren Politik Frankreichs. Rivera (2011) rekonstruiert die Neuerstehung Kroatiens als ultimatives Mittelmeerland in den Werbe- und Informationspublikationen der Tourismusbranche als eine Form des ›impression managements‹ eines Landes, das sich vom Stigma des Balkankriegs der 1990er Jahre befreien möchte. Kroatien präsentiert sich dabei als das Mittelmeer »von einst«, und damit als vor allem westliches und europäisches Land: »After war, tourism materials shifted to portray the country’s similarity to Western Europe as its most distinctive feature. Specifically, brochures tout Croatia’s European heritage and history (55 percent), physical resemblance to Europe (26 percent) and topographic diversity (19 percent) as its main attractions. Similarly, descriptions of Croatian culture switched from strong local traditions (72 percent), complemented by Western and Eastern influences (23 percent), to costums identical to those in Europe (53 percent) or common internationally (21 percent). Particularly strong emphasis is now placed on stressing Croatia’s ties to Western religions. Mentions of churches as tourist attractions have increased by
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nearly four times since the war, and the depictions of Croatia as a country with deep Catholic heritage have also increased substantially. In contrast, mentions of Islamic or Orthodox religious influences are absent in postwar marketing materials.« (Ebd. 122)
Aus ihrer Fallstudie zieht Rivera den Schluss, dass die politischen und ökonomischen Interessen die Selektionskriterien für die Ereignisse und Objekte beeinflussen, die in die Repräsentation nationaler Kultur integriert oder davon ausgeschlossen werden. Zu 3: Schließlich ist auch auf die neuere pragmatische Kultursoziologie Frankreichs zu verweisen, die in Abgrenzung zu Bourdieu an einer Soziologie der Kritik (Boltanski/Thévenot 2007) oder auch einer Soziologie der Werte (Danko 2008) arbeitet. Die Vertreter dieser Richtung verbinden dabei die Erzeugung kultureller Grenzen und Objekte mit den Praktiken ihrer Rechtfertigung, d.h. der Einordnung in so genannte Evaluationsrepertoires (Lamont/Thévenot 2000), mit denen sie im Hinblick auf ihre Relevanz für das common good bewertet werden. Viele der Studien wenden sich wieder der Kunst zu. Einer Soziologie des Kunstwerks oder des künstlerischen Feldes stellen die Vertreter eine Soziologie künstlerischer Aktivität gegenüber, die nicht durch dahinter liegende Strukturen determiniert sein soll: »In fact, ›amateurs‹ do not believe things have taste. To the contrary, they bring themselves to detect the taste of things through a continuous elaboration of procedures that put taste to the test. In testing tastes, amateurs rely as much on the properties of objects – which, far from being given, have to be deployed in order to be perceived – as on the abilities and sensibilities one needs to train to perceive them; they rely as much on the individual and collective determinisms of attachment, as on the techniques and devices necessary in a situation for things to be felt.« (Hennion 2007: 98)
Die pragmatische Kultursoziologie betont damit die Prozesse des Umgangs mit den Referenzobjekten einer entsprechenden Kultur: Die Bewertung, ob dieser Wein schmeckt oder jenes Musikstück gefällt, ist dann gerade nicht aus einem Habitus mit seinen Dispositionen zu erklären sondern aus dem andauernden Umgang mit solchen Objekten, wobei jede Auseinandersetzung zwischen Akteur und Objekt zu einer Bewährungsprobe im Sinne von Boltanski/Chiapello (2003) wird, d.h. dass in dieser Aktivität der Status des Objekts als kulturell hergestellt wird. Durch die pragmatische Durchführung erhalten sowohl die Tätigkeit (Musik hören) als auch das Objekt (ein Musikstück) ihren spezifischen Mehrwert, die es zum Teil eines entsprechenden Werterahmens machen: Der Hörer genießt
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eine Opernarie. Antoine Hennion beschreibt diesen Prozess am Beispiel des Amateurs: »One does not appreciate wine or music as though one has tripped over a rock. One likes wine AND one ›likes wine‹ (or this or that wine), in quotes: one drifts lightly away from oneself to ›enter‹ into this activity, which has a past and a space, demarcated by its objects, its other participants, its ways of doing, its locations, its movements, its instructions. This is what at once constraints and produces, obliges attentiveness, involving training and gestures, which makes people, little by little, become amateurs, and without dissociation, which makes the wine have a taste to which these become sensitive.« (Hennion 2007: 108)
Durch einen pragmatischen Vollzug realisieren sich die besonderen Objekte wie auch ihre Anhänger, Liebhaber und auch Produzenten. Das betrifft aber nicht nur die materiellen Referenzobjekte, sondern auch die Klassifikationssysteme selbst, die zusammen mit den Objekten in jenen Tests überprüft werden. In der Auseinandersetzung selbst wird sowohl entschieden, ob sich die Objekte in das Werteschema einfügen lassen als auch, ob die Gültigkeit der Werte noch stimmt. Nathalie Heinich etwa untersuchte die Formen der Verteidigung und Zurückweisung von Gegenwartskunst in Frankreich und den USA (Heinich 2000). Für die Analyse kultureller Referenzobjekte ist jedoch Heinichs Untersuchung zum nationalen Kulturerbe Frankreichs von stärkerem Interesse: Le fabrique de patrimoine (2009). Angelegt als Ethnographie, fragt sie danach, wie staatlich eingesetzte Experten (zumeist Kunsthistoriker) vor Ort vorgehen, um ein Gebäude in den Korpus des französischen Patrimoniums einzufügen, d.h. wie sie das französische nationale Kulturerbe überhaupt erst fabrizieren und welcher Evaluationsrepertoires sie sich dafür bedienen: »Using this pragmatic method, I followed a dozen specialists ›on the ground‹ (›sur le terrain‹), when they were in the process of observing all of the buildings in a given area, in order to decide which ones would be worth listing, describing, selecting, or maybe studying. I asked them to explicate the problems they encountered and the criteria they used.« (Heinich 2010/2011: 122)
Das Ziel der Analyse lag vor allem in der Identifikation der jeweils von den Experten zur Entscheidung herangezogenen Werte, die sich zunächst in ihrem Status unterschieden. Einige Werte waren vorgeschrieben, allerdings unterschieden sie sich in ihrer Eindeutigkeit: Während ›Alter‹ und ›Zustand‹ eines Gebäudes noch eindeutig sind, waren Werte wie ›Seltenheit‹ oder ›Ähnlichkeit‹ zu anderen Referenzgebäuden wesentlich deutungsoffener; latente Werte wurden
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ebenfalls mit einbezogen (z.B. die direkte räumliche Umgebung des Gebäudes) und der Wert ›Schönheit‹ wurde sogar explizit als unprofessionell abgelehnt, auch wenn er immer wieder von den Akteuren selbst eingebracht wurde (Heinich 2006). In einer zweiten Analysestufe rekonstruierte Heinich dann die den Werten zugrunde liegenden ›fundamentalen Werte‹: ›Authentizität‹, ›Altertümlichkeit‹, ›Seltenheit‹, ›Schönheit‹ und ›Zeichenhaftigkeit‹, die sie Werteregistern analog zu den Rechtfertigungsordnungen im Sinne von Boltanski/Thévenot (2007) zuordnete und die über den spezifischen Fall hinaus für andere Lebensbereiche Geltung haben sollen: ›Reinheit‹ (›Authentizität‹), ›Familialität‹ (›Altertümlichkeit‹), ›Ästhetik‹ (›Schönheit‹) und ›Hermeneutik‹ (›Zeichenhaftigkeit‹), während ›Seltenheit‹ und sein Gegenwert ›Multiplizität‹ zusammen als Verstärkerwerte gegenüber den anderen vier Werten fungieren: »This is why rarity, together with its contrary, multiplicity, are what could be called ›orthogonal values,‹ which encompass all the others, either to reinforce them or to weaken them. Thus they pertain to a more general order than the ›value registers‹: what I call a ›regime‹ (›realm‹) of qualification – ›qualification‹ meaning both ›definition‹ and ›valorisation.‹ In this perspective, the ›singularity realm‹ valorises all that is rare, out of the ordinary, unique; whereas its opposite, the ›community realm,‹ valorises the many, the standard, the conventional. Let us notice by the way that the notion of monument is strongly bound to the ›singularity realm‹ (since its pattern is the ›chef-d’oeuvre,‹ the exceptional artefact), whereas the notion of heritage pertains to the ›community realm‹ (since it belongs to a community). This double axiological status of national heritage, or ›patrimoine,‹ is probably one of the reasons why such an issue is so rich and powerful, for sociologists as well as for the actors: it may fulfil expectancies of both singularity as well as expectancies of community.« (Heinich 2010/2011: 125)
Aus der Kreuzung der vier Wertregister und den beiden Regimes der Singularität und der Gemeinschaft lässt sich so eine Axiologie des kulturellen Erbes rekonstruieren, dem eine spezifische patrimoniale Funktion zukommen soll: »According to such a perspective, this patrimonial function may be defined as the whole set of actions intended to conserve objects that satisfy a double condition: first, the condition that they belong to the community, being considered as a common good (even if they remain a private property on a juridical level); and second, the condition that their value will last forever; this everlasting value itself originates from four main axiological principles, in other words four values: authenticity (pertaining to the purity register), ancientness (pertaining to the domestic register), signification (pertaining to the hermeneutic register)
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and beauty (pertaining to the aesthetic register). These four values may be more or less enhanced by a fifth one: rarity (pertaining to the singularity realm).« (Ebd. 125)
Die vorgestellten Studien zur Fabrikation von Kultur – beziehen sie sich nun auf Landschaften, nationale oder regionale Eigenschaften, Gebäude, geschmackvolle Weine, Museen, Geschichten oder imaginierte geographische Räume, rituelle Artefakte oder Traditionen – betonen die Gemachtheit und auch das Eingebettetsein der kulturellen Referenzen in kontingente Prozesse des Aushandelns. Sie sind an Interessen gebunden und legitimieren sie zugleich. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Gültigkeit ist somit an veränderbare Machtrelationen gebunden. Dem fügt die vorliegende Arbeit einen Beitrag hinzu, der die Fabrikation von Kultur als Selbstimagination der Gesellschaft begreift, die von Akteuren gegenüber anderen Entwürfen von Kultur behauptet werden muss. Zugleich wird durch die Ausweitung der Perspektive auf die artikulierten zeitlichen Periodisierungen, Innen-Außen-Differenzierungen und symbolischen Referenzierungen der Artikulationsmodus von Kultur überhaupt systematisiert. Mit dem Bezug auf Europa wird der vorherrschende Schwerpunkt auf Regionen und Nationen gebrochen und der Blick auf die Fabrikation gegenwärtiger metageographischer Kulturräume geöffnet.
4 Wie die diskursive Fabrikation von Kultur untersuchen?
Die Durchführung von Diskursanalysen stellt die Soziologie vor ein Problem. Schließt sie nicht blind von der gesellschaftlichen Position der Sprecher auf den machtbezogenen Wirkungsgrad des Diskurses – oder setzt Macht und Diskurs in eins –, muss sie die Analyse von Texten begründen. Auch sind die sozialen Effekte des Diskurses in der Regel nicht aus den ihn tragenden Texten selbst ablesbar. Auf die hier zugrunde gelegten Daten bezogen heißt das konkret: Wie relevant sind Reden, die von Politiker vor ihresgleichen gehalten werden, die sich dabei gerade nicht auf konkrete Gesetzesvorhaben beziehen? Und woran bemisst sich der politische und gesellschaftliche »impact« dieser Veranstaltungen? Zunächst muss eine soziologische Analyse eine plausible Erklärung für Veranstaltungen wie etwa die »Berliner Konferenz« finden, und sei es nur, um die soziale Funktion von »Sonntagsreden« zu bestimmen. Dabei finden Diskurse nicht im leeren Raum statt, schon gar nicht, wenn es sich um Diskurse der politischen Elite handelt. Es muss also eine gesellschaftstheoretische Begründung für das Zustandekommen solcher Diskurse geben. Dazu müssen die erkenntnistheoretischen Konturen von Diskursanalysen explizit gemacht werden: Diskursanalysen stellen dabei auf die Prozesshaftigkeit des Sozialen und seine Verflechtung mit Machtverhältnissen ab (Kapitel 4.1) Zweitens kommt es darauf an, den systematischen Stellenwert von Reden im politischen Feld zu bestimmen, d.h. die herangezogenen Daten sind zu spezifizieren (Kapitel 4.2). Das dritte Unterkapitel (Kapitel 4.3) widmet sich dann der Operationalisierung der Auswertungskategorien und dem Vorgehen in der Analyse.
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4.1 K ONTUREN
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Diskursanalysen beschäftigen sich mit sprachlichen Aussagen und zielen darauf, durch die Interpretation dieser Daten Erkenntnisse über die sprachliche Gestaltung der sozialen Wirklichkeit zu gewinnen. Die Frage, wie Akteure in ihren Lebenswelten Interpretationen von sich und ihrer Umwelt entwickeln und artikulieren, lässt in einem wissenssoziologischen Sinn die Bestimmung von für diese Interpretationen zentralen Kategorien zu. Die vorliegende Arbeit fragt nach der diskursiven Fabrikation von Narrativen der Kultur in einer konkreten Arena: der »Berliner Konferenz«, eine Veranstaltung des europapolitischen Think Tanks »Europa eine Seele geben«. Wissenskategorien wie ›Kultur‹ oder ›Gesellschaft‹ kann dabei eine fundierende Funktion für die Einschätzungen, Erwartungen, Handlungsperspektiven, Selbst- und Fremddeutungen der Akteure zukommen. ›Kultur‹ würde dann von den Akteuren in ihren Interpretationen als erklärende, d.h. unabhängige Variable eingesetzt. Auch der soziologische Diskurs kennt solche diskursiven Operationen, wenn er auf Begriffe wie ›das Soziale‹ oder ›die Gesellschaft‹ als fundierende Begriffe zurückgreift: »Wenn Sozialwissenschaftler das Adjektiv ›sozial‹ zu einem Phänomen hinzufügen, bezeichnen sie damit einen stabilisierten Sachverhalt, ein Bündel von Bindungen, die später wieder herangezogen werden können, um ein anderes Phänomen zu erklären.« (Latour 2010: 9) Ersetzte man in diesem Satz »sozial« durch »kulturell« und die »Sozialwissenschaftler« durch »politische Akteure«, wäre der analytische Rahmen des hier untersuchten Datenmaterials bündig gefasst. Die Frage, wie die Sprecher der Berliner Konferenz den Sachverhalt ›Kultur‹ fassen und was jeweils durch den Rekurs darauf begründet werden soll – Einschätzungen, Entscheidungen und Effekte politischen Handelns – soll im Folgenden untersucht werden. Die in den Reden artikulierten Aussagen werden dabei als sprachförmige »Erkenntnispolitik« begriffen, wie es Achim Landwehr im Anschluss an Pierre Bourdieu formuliert: »Politisches Handeln versucht mittels symbolischer Macht sprachlich fundierte Repräsentationen der sozialen Welt durchzusetzen, um damit sowohl die Vorstellungen der Akteure von der sozialen Welt als auch die Akteure selbst zu erreichen.« (Landwehr 2009: 84) Mit dem Begriff des Diskurses, der hier im Foucault'schen Sinne gebraucht wird, d.h. als organisierte Serie von Aussagen (Foucault 1991), eröffnet sich ein Feld von methodologischen Lösungsvorschlägen, die Reiner Keller folgendermaßen charakterisiert:
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»Die Diskursperspektive richtet sich auf die Ebene der gesellschaftlichen Wissensformationen und -politiken, deren Konturen, Genese, Entwicklung, Regulierungen und Folgen (›Machtwirkungen‹). Sie versteht sich als empirisches Forschungsprogramm: Diskurse werden auf der Grundlage entsprechender Datenmaterialien untersucht. Die einzelnen Äußerungen werden nicht als singuläre Phänomene untersucht, sondern im Hinblick auf ihre typische Gestalt als ›Aussage‹. […] Die Diskursanalyse interessiert sich für die Formationsmechanismen von Diskursen, die Beziehung zwischen Diskursen und Praktiken sowie die strategisch-taktische Diskurs-Performanz sozialer Akteure.« (Keller 2005: 182, Herv. i.O.)
Meines Erachtens werden damit drei Konturen von Diskurs deutlich, die für diskursanalytische Verfahren zentral sind: 1.
2.
3.
Diskursanalysen verfahren historisch-nominalistisch, d.h. sie sind skeptisch gegenüber der universalen Gültigkeit von anthropologischen und natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Stattdessen beobachten sie die Formation dieser Universalien. Sie implizieren eine Theorie der Macht, die sich auf die Durchsetzung bestimmter Signifikationszusammenhänge (das Zeichen ›Kultur‹ darf dann nicht beliebig mit Bedeutungsinhalten verbunden werden) und damit auf die Durchsetzung einer legitimen Artikulationspraxis beziehen. Diskursanalysen begreifen die Diskurse selbst als kontrovers. In sozialen (Diskurs-)Arenen stehen sowohl die Erkenntnisobjekte als auch die darauf bezogenen Handlungsoptionen zur Debatte.
4.1.1 Historischer Nominalismus Die Untersuchung von Diskursen wird von einem Axiom geleitet: Dass das gesellschaftliche Wissen und mit ihm auch seine Gegenstände kontingent sind. Die Begriffe und Kategorien, über die Akteure verfügen, um ihre Wirklichkeit zu beschreiben, sind für diese zwar selbstverständlich, dabei aber weder natürlich noch ewig gültig. Ein Einsatzpunkt für die Auflösung der Selbstverständlichkeit gesellschaftlichen Wissens, seiner Praktiken und Organisation in Diskursanalysen besteht darin, den Dingen und dem Wissen gegenüber eine Haltung einzunehmen, die im Anschluss an Michel Foucault als ›historischer Nominalismus‹ bezeichnet werden kann. In seiner Analyse moderner Gouvernementalität erklärt Foucault seine Vorgehensweise folgendermaßen:
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»Ich möchte ihnen jedoch gleich sagen, daß die Entscheidung, über die Regierungspraxis zu sprechen oder von ihr auszugehen, natürlich eine ganz explizite Weise ist, eine bestimmte Anzahl an Begriffen beiseite zu lassen, wie zum Beispiel Souverän, Souveränität, Volk, Untertanen, Staat, bürgerliche Gesellschaft, als erste, primitive oder gegebene Gegenstände: alle diese Universalien, die die soziologische und die historische Analyse oder die der politischen Philosophie verwenden, um die Regierungspraxis darzulegen. Ich möchte genau das Umgekehrte tun, d.h. von dieser Praxis ausgehen, wie sie sich darstellt, aber zugleich, wie sie sich reflektiert und sich rationalisiert, um von da aus zu sehen, wie sich bestimmte Dinge wirklich konstituieren können, über deren Status man sich natürlich Fragen stellen muß: der Staat und die Gesellschaft, der Souverän und die Untertanen usw. mit anderen Worten, anstatt von Universalien auszugehen, um daraus konkrete Phänomene abzuleiten, oder vielmehr von Universalien als notwendigem Raster für das Verstehen einer bestimmten Anzahl von konkreten Praktiken auszugehen, möchte ich von konkreten Praktiken ausgehen und gewissermaßen die Universalien in das Raster dieser Praktiken einordnen.« (Foucault 2006b: 15)
Soziale Formationen sind nicht von vornherein gegeben, sondern sind als Universalien und Selbstverständlichkeiten das Produkt von Diskursen und Praktiken, d.h. eines komplexen Gefüges an Strategien, Macht- und Wahrheitsspielen, denen kein einheitliches Prinzip zugrunde liegt. Entsprechend betont Foucault die »Multiplizität außerordentlich verschiedener Vorgänge« (Foucault 2006a: 346), die sich durch wechselseitige Verstärkungen, Unterstützungen und Bündelung zu einem Gebilde verdichten: »Wie hat sich diese globale Wirkung, welche die Natur darstellt, gebildet? Wie hat sich der Effekt Staat gebildet, ausgehend von tausend verschiedenen Vorgängen, von denen ich Ihnen lediglich einige zu nennen versucht habe?« (Ebd. 347) Leitend für den historischen Nominalismus ist also die Annahme, dass die sozialen Begriffe, die zur Bezeichnung herangezogen werden, eine historische Reduktion darstellen, die die Bewegungen und Handlungen retrospektiv zum Verschwinden bringen. Man muss also auf der Seite der Empirie ansetzen und sich den vielen kleinen Praktiken und Strategien zuwenden, die versuchen, Ordnung in das Kräftefeld zu bringen, in denen sie ausgeübt werden. Dass diese verschiedenen Praktiken auf ein quasi-natürliches Ding, z.B. ›Kultur‹, reduziert werden, und nur einige wenige dieser Praktiken sichtbar bleiben, lässt den Historiker Paul Veyne von einem »›verborgenen Teil des Eisbergs‹« (Veyne 1992: 27) sprechen, der sich keineswegs »vom Teil über der Wasseroberfläche unterscheidet: wie dieser ist er aus Eis. Ebenso wenig ist er eine Triebkraft, die den Eisberg vorwärts bewegt; er liegt unterhalb der Linie der Sichtbarkeit, das ist
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alles. Er läßt sich in der gleichen Weise erklären wie der Rest des Eisbergs.« (Ebd. 28) Der bekanntlich kleinere Teil des Eisbergs, der aus dem Wasser herausragt, ist dabei nicht nur das Ergebnis einer unüberschaubaren Menge an Praktiken – auch der Zweck geht ihm nicht voraus. Das diskursiv erzeugte Objekt »erklärt sich durch das, was in jedem Moment der Geschichte das Machen war.« (Ebd. 37) Was als Ding jeweils zutage tritt, ist eine historisch spezifische Konfiguration, die selbst, wenn es denselben Namen wie eine vergangene Reihe an Objekten trägt, nicht in dieser aufgeht, sondern durch die Praktiken, durch die sich die Konfiguration aktualisiert, vollständig erklärbar ist: »Kurz, in einer bestimmten historischen Epoche bringt das Ensemble der Praktiken an einem bestimmten materiellen Punkt ein einzigartiges historisches Gesicht hervor, worin wir wiederzuerkennen glauben, was man etwas vage als historische Wissenschaft oder Religion bezeichnet; in einer anderen Epoche wird es jedoch ein ganz anderes Gesicht sein, das sich im selben Punkt bildet, während sich an einem anderen Punkt ein Gesicht bilden wird, das dem früheren vage gleicht. Das ist der Sinn der Negation der natürlichen Gegenstände.« (Ebd. 56)
Diese Vorgehensweise führt zu der Identifikation historisch spezifischer Frageformen – Foucault nennt sie ›Problematisierungen‹ (Foucault 1989) –, die sich als wandelbares historisches Apriori der gegebenen Situation diskursanalytisch nachzeichnen lässt: »[I]ch will damit ein Apriori bezeichnen, das nicht Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern Realitätsbedingung für Aussagen ist. Es handelt sich nicht darum, das wiederzufinden, was eine Behauptung legitimieren könnte, sondern die Bedingung des Auftauchens von Aussagen, das Gesetz ihrer Koexistenz mit anderen, die spezifische Form ihrer Seinsweise und die Prinzipen freizulegen, nach denen sie fortbestehen, sich transformieren und verschwinden.« (Foucault 1981: 184)
Warum sich also eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung mit ihren Institutionen, Begriffen und Rationalitäten herausbildet, ist nicht durch historische Notwendigkeiten zu erklären, sondern durch Kräfteverhältnisse, die mittels variierender Wissenskategorien ein »unsicheres Gelände« (Veyne 1992: 56) zu bändigen versuchen.
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4.1.2 Macht Diskursanalysen sind, insofern sie dem Werk Michel Foucaults verpflichtet sind, auch stets Machtanalysen. Früher oder später wird in der Einführungsliteratur zu Diskurstheorien und Diskursanalysen das soziale Problem Macht adressiert (z.B. Bublitz 2003; Bublitz et al. 1999; Keller 2004; Landwehr 2009; Sarasin 2003b; Torfing 1999), selbst dann noch, wenn es sich um linguistische (z.B. Fairclough 1995; Wodak/KrzyĪanowski 2008) oder literaturwissenschaftliche Zugänge (z.B. Link 2006) handelt. Obwohl sich Diskursanalysen auf sprachliches Material wie Aussagen, Text oder audiovisuelle Daten stützen, weist Achim Landwehr zu Recht darauf hin, dass das Ziel in der Analyse der Herstellung von Wirklichkeit liegt: »Umgekehrt ist es ebenso wichtig, die Bedeutung des Kontextes zu betonen, um eine Vernachlässigung von Fragen der Macht zu vermeiden. Es geht also nicht darum, die Welt hinter dem Text zu vergessen, um sich der Anordnung der Buchstaben auf dem Papier und sich der daraus resultierenden Welt zu widmen (…) Es bleibt weiterhin wichtig, wer mit wem auf welche Weise agiert. Die Konzentration auf Texte und andere Materialien soll die gesellschaftliche Frage nicht obsolet werden lassen, sondern beide sollen miteinander amalgamieren.« (Landwehr 2009: 106)
Auch Reiner Keller (2005), der mit der wissenssoziologischen Diskursanalyse den wohl am meisten systematisierten soziologischen Ansatz ausarbeitete, sieht neben den Fragen nach der Erzeugung von Diskursen und der Konstitution von Phänomenen in der Frage nach den Machtwirkungen von Diskursen eine zentrales Desiderat seiner Methode. Doch liegt die Aufgabe von Diskursanalysen gerade darin, die Machtwirkungen zu erfassen, und sie nicht einfach als dem Diskurs per definitionem zugehörige Eigenschaft zuzuschreiben: »Es ist zum einen eine Frage der theoretischen und empirischen Anstrengungen (und Fantasie), ob und wie rekonstruiert werden kann, dass Diskurse dann entsprechende Zusammenhänge herstellen bzw. organisieren. Zum anderen muss Diskursanalyse auch mit der Möglichkeit rechnen, dass Diskurse keine bzw. nur minimale Machtwirkungen über ihre eigene (Re)Produktion hinaus entfalten.« (Ebd. 261)
Mit der Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2000) liegt ein analytisches Instrument vor, das dazu geeignet ist, Machtprozesse in den Diskursen selbst zu untersuchen. Die beiden Theoretiker vertreten einen so genannten »Postfundamentalismus« (Marchart 2010), d.h. eine soziologische Haltung, die
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keinen totalen Gesellschaftsbegriff akzeptiert, der allen Artikulationen und Praktiken zugrunde läge und daher diesen vorgängig sein soll. Stattdessen bildet die Differenz zwischen den sprachlichen Äußerungen in Form von Zeichen (Signifikanten) und dem, was damit bezeichnet werden soll (Signifikat) den Ausgangspunkt der Analyse für Laclau/Mouffe. Signifikant und Signifikat sind im Sinne der Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure als arbiträr zu betrachten und die Verbindung von beiden muss gezielt hergestellt werden. Diese aktive Herstellung einer Verbindung eines partikularen Inhalts (Signifikat) und einem Zeichen (Signifikant) nennen Laclau/Mouffe »Artikulation«. Wer also ›Gesellschaft‹ sagt und darunter die Totalität menschlichen Zusammenlebens mit ihren Strukturen, Institutionen und Organisationen meint, artikuliert damit sehr spezifische und partikulare Vorstellungen davon, wer und was dazu gehört und wer und was nicht. Weil diese Verbindung zwischen dem Zeichen ›Gesellschaft‹ und dem damit verbundenen Inhalten diskursiv hergestellt werden muss, kann Gesellschaft diesen Artikulationen nicht vorgängig sein und ist daher als analytischer Begriff zu verwerfen: »Um uns im Feld der Artikulationen zu verankern, müssen wir damit beginnen, auf die Konzeption der ›Gesellschaft‹ als fundierende Totalität ihrer Teilprozesse zu verzichten. Wir müssen folglich die Offenheit des Sozialen als konstitutiven Grund beziehungsweise als ›negative Essenz‹ des Existierenden ansehen sowie verschiedene ›soziale Ordnungen‹ als prekäre und letztlich verfehlte Versuche, das Feld der Differenzen zu zähmen.« (Laclau/Mouffe 2000: 130)
Oliver Marchart merkt zu dieser Absage an soziologische Totalbegriffe an: »Anders gesagt ›Gesellschaft‹ dient nicht länger als Grund sozialer Prozesse und konstituiert daher keine gründende Totalität. Dennoch macht Laclau an dieser Stelle keineswegs halt – täte er es, wäre er einfach Antifundamentalist. Die Unmöglichkeit von Gesellschaft erweist sich nämlich als außerordentlich produktiv.« (Marchart 2010: 201)
Diskurse lassen sich für Laclau/Mouffe nämlich durch einen Bedeutungsüberschuss charakterisieren, der von den Akteuren kompensiert werden muss, damit die vollzogenen Artikulationen nicht von anderen Akteuren mit ihren Artikulationen überschrieben und damit aufgelöst werden. Und genau an dieser Stelle setzt für Laclau/Mouffe eine Dynamik der Macht ein, die sie im Anschluss an Antonio Gramsci »Hegemonie« nennen1. Darunter verstehen sie die Möglichkeit, 1
Unter Hegemonie verstand Antonio Gramsci die politischen, moralischen, künstlerischen und alltagsorientierten Strategien, mit denen es einer sozialen Gruppe gelang,
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im Feld des Diskursiven so genannte Knotenpunkte zu etablieren, das heißt gegenüber anderen konkurrierenden Artikulationen eine spezifische Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem herzustellen und aufrecht zu erhalten. Dafür müssen jedoch Artikulationen zum Teil auch wieder aufgelöst werden um einen Signifikanten für andere Artikulationen zu öffnen, damit an den Knotenpunkten so genannte »Äquivalenzketten« hergestellt werden können, d.h. dass ein Zeichen, z.B. ›Gesellschaft‹ oder ›Kultur‹, mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen versehen werden kann. Hegemonial und damit mächtig werden solche Signifikanten dann, wenn es den Artikulierenden gelingt, möglichst viele Bedeutungen zu vereinen, die gegenüber dem Signifikanten als äquivalent gelten. Damit das gelingen kann, müssen diese Artikulationen aber auch eine so genannte »Grenz-Front« etablieren, d.h. eine radikale Differenz artikulieren, gegenüber der die einzelnen Artikulationen ihre Äquivalenz erhalten. In dieser Dynamik des Ein- und Ausschlusses von Bedeutungen wird schließlich Macht sichtbar, wenn es gelingt Differenzen zwischen den Artikulationen zugunsten einer starken Differenz gegenüber anderen Artikulationen zu minimieren: »Die beiden Bedingungen einer hegemonialen Artikulation sind also einmal die Präsenz antagonistischer Kräfte und zum zweiten die Instabilität der sie trennenden Grenzen. Nur die Präsenz eines weiten Bereiches flottierender Elemente und die Möglichkeit ihrer Artikulation zu entgegengesetzten Lagern – was eine beständige Neudefinition der letzteren impliziert – konstituiert das Terrain, das uns erlaubt, eine Praxis als hegemonial zu definieren. Ohne Äquivalenz und ohne Grenz-Fronten ist es unmöglich, von Hegemonie im eigentlichen Sinne zu sprechen.« (Laclau/Mouffe 2000: 177)
Soziologisch heißt das, dass die Akteure eine Deutungshoheit gerade durch eine hinreichende Diffusion des Bedeutungsgehalts z.B. einer politischen Forderung oder eines politischen Projekts erlangen: Je mehr Akteure unter dem Banner eines Begriffs versammelt werden können, umso stärker ist das politische Gewicht und die Plausibilität dieses Begriffs. Hegemonie definiert dann Jacob Torfing (1999) wie folgt: »The achievement of a moral, intellectual and political leadership through the expansion of a discourse that partially fixes meaning around nodal points. Hegemony involves more
Zustimmung zu ihren eigenen politischen Zielen in weiteren Kreisen der Gesellschaft zu erzielen, ohne dabei auf repressive Maßnahmen des staatlichen Gewaltmonopols zurückgreifen zu müssen (Gramsci 1991 ff.).
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than legitimate actions. It involves the expansion of a particular discourse of norms, values, views and perceptions through persuasive redescriptions of the world.« (Ebd. 302)
Akteure können also eine eigene Position derart breit definieren, dass sie anschlussfähig für ganz viele andere soziale Positionen wird. Das geschieht z.B. mittels der Entleerung der Forderung nach ›mehr Kultur‹, in der sich dann gleichermaßen die Förderer des interkulturellen Dialogs, die Vertreter eines national orientierten Traditionalismus oder auch die Agenten einer Ökonomisierung der Kultur mit dem Ziel der Profitmaximierung wieder finden können. Weil die Forderung nach ›mehr Kultur‹ so unterbestimmt ist, ermöglicht sie die Subsumtion einer ganzen Reihe an unterschiedlichsten Forderungen, die in den Diskurs nur noch vermittelt eingehen. Die hegemonial gewordene Position repräsentiert mehr als sie selbst zum Ausdruck bringen kann. Genau das aber ist Macht. Für die Analyse solcher Prozesse der Hegemonialisierung schlägt Ernesto Laclau die Untersuchung sogenannter »leerer Signifikanten« (Laclau 1996b) vor. Gemeint sind dabei jene Zeichen, die zunächst als partikulare Forderungen geltend gemacht wurden und dann, im Sinne der Bildung von Äquivalenzketten und Grenz-Fronten, von ihrem einstigen Inhalt befreit werden, um für andere Artikulationen zur Verfügung zu stehen, und mit denen zugleich die Grenze des Gemeinsamen bezeichnet werden kann. Macht lässt sich in Diskursen dadurch analysieren, dass man Artikulationen in den Blick nimmt, die es erfolgreich geschafft haben, eine partikulare Bedeutung vorläufig zu universalisieren und zum Grundprinzip des Sozialen zu stilisieren. Es geht dann also um die Möglichkeit, Kultur einerseits als Identität und Handlung stiftendes, andererseits als differenzierendes und begrenzendes Prinzip Europas diskursiv zu etablieren und zu plausibilisieren. Die Frage nach der Macht ist die Frage nach der sonderbaren Existenz von Kultur – einer Existenz die als partikulare Artikulation hegemonial geworden ist, d.h. vorläufig erfolgreich einen Anspruch auf Totalität in der Repräsentation Europas erheben konnte. Diese Vorstellung von Macht erlaubt es, die Überlegungen Walter Benjamins in eine Diskursanalyse zu überführen, der ja Herrschaft und Kultur derart miteinander verbunden sah, dass im Namen der Kultur die heteronomen Bedingungen ihrer eigenen Fabrikation unsichtbar gemacht werden. Im Vokabular der Laclau‘schen Hegemonietheorie würde es der hegemonialen Position im Diskurs gelingen, die verschiedensten, auch widersprüchlichen Vorstellungen und Artefakte unter dem leeren Signifikanten ›Kultur‹ zusammenzufassen, und somit
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auch die inneren Verwerfungen und Konflikte und Asymmetrien zum Verschwinden zu bringen. Aber die Analyse von leeren Signifikanten, von Grenz-Fronten und Äquivalenzketten ist an sich noch keine Herrschaftsanalyse. Sie erfasst lediglich, wem es gelang, eine legitime Repräsentation von Kultur gegenüber weiteren Positionen durchzusetzen. Demgegenüber hat eine Herrschaftsanalyse im Sinne Walter Benjamins herauszuarbeiten, wer von der Fabrikation systematisch ausgeschlossen wird. Diese herrschaftlichen Ausschlüsse beziehen sich dabei auf drei Dimensionen, mit denen der Zusammenhang von Herrschaft und diskursiver Kulturfabrikation in den Blick genommen werden kann: 1.
2.
3.
Ausschluss von der Repräsentation: Von diesem Ausschluss sind all jene betroffen, die an der tatsächlichen Fabrikation von europäischen Kulturgütern beteiligt sind, aber von den Signifikationen im Diskurs nicht repräsentiert werden. Ausschluss von Sprecherpositionen: Von diesem Ausschluss sind all jene betroffen, die nicht am Diskurs über europäische Kultur selbst beteiligt werden, auch dann, wenn über sie gesprochen wird oder sie als Teil der europäischen Kultur adressiert werden. Ausschluss von Adressaten: Dieser Ausschluss betrifft all jene, die nicht als potentielle Kulturträger Europas vom Diskurs adressiert werden. Während der Ausschluss von der Repräsentation darüber funktioniert, dass nicht alle, die an der Herstellung und Verbreitung von Kulturgütern beteiligt sind, in die Repräsentation Eingang finden, definiert der Ausschluss von Adressaten, wer überhaupt als Mitglied europäischer Kultur repräsentiert wird.
4.1.3 Diskurs als Arena Daraus folgt auch: Diskursiv hervorgebrachte Objekte sind kontrovers. Die vielfachen Strategien, Aussagen, Vorgänge usw., durch die ein epistemisches Objekt hervorgebracht wird, widersprechen sich, richten sich gezielt gegeneinander oder bilden »Diskurskoalitionen« (Keller 2005), um eine bestimmte Version eines Objekts als gültige zu etablieren. Diese Konfliktivität des Sozialen wäre nicht weiter erwähnenswert, geradezu banal, wenn daraus nicht Konsequenzen für die praktische Erkennbarkeit von Objekten erwüchsen. Diskurse sind stets auch Aushandlungsprozesse zwischen den daran beteiligten Akteuren. Die Bedeutung, die sie den epistemischen Objekten beimessen, hängt ab von den Kontexten, in denen sich die Akteure bewegen. Die Objekte gewinnen ihre Form im Wechselspiel mit den unterschiedlichen Interessen, mit denen die Akteure in
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den Diskurs eintreten – Diskurse lassen sich daher als Arenen im Sinne von Anselm Strauss verstehen, deren Beteiligte aus unterschiedlichen sozialen Subwelten (social worlds) stammen. Die Verhandlung um epistemische Objekte (für diese Untersuchung: ›Kultur‹) bildet dabei den Kristallisationspunkt von sozialen Prozessen, durch den sich Arenen überhaupt ausbilden: »First, arenas of any scope, large or small, involve questions of policy about directions of action. Second, the source of issues and debate can be both external and internal to the participating social worlds-subworlds.« (Strauss 1993: 227) Im Fokus stehen daher die Aushandlungen von in der Zukunft möglichen Handlungsoptionen für die beteiligten Akteure verschiedener Sozialwelten, die sich in den Arenen konfrontiert sehen. Diese Optionen beziehen sich weiterhin auf einen in den Arenen dann auch selbst ausgehandelten Gegenstandsbereich und wie damit weiter zu verfahren sei. Strauss betont dabei, dass die Herkunft der diskursiv verhandelten Objekte sich nicht originär aus den beteiligten Subwelten ableiten lassen muss. Es stellt sich daher folglich nicht die Frage, ob eine durch die politische Welt dominierte Arena überhaupt legitimiert sei, sich zur Kultur zu äußern. Vielmehr ist danach zu fragen, auf welche Probleme mit der Artikulation von Kultur reagiert wird und welche Ziele von den Akteuren einer Arena verfolgt werden: »In arenas, there are no neutral parties, no neutral government, no neutral scientists. However strictly objective they believe themselves, they are embroiled in what is generally called the ›politics‹ of the arena, and are unlikely unable to stay out of controversy.« (Ebd. 228) Dabei lässt sich zwischen historischen Rahmenbedingungen, die in den Arenen selbst nicht explizit verhandelt werden müssen, und den artikulierten Begründungen unterscheiden, die eben Teil jener »questions of policy« bilden. Zu den grundlegenden Prozessen, die in Arenen wirksam werden, zählen für Anselm Strauss: Repräsentationsprozesse: Arenen sind stets kontrovers, insofern die daran beteiligten Akteure claims artikulieren, die sich auf eine legitime Repräsentation der beteiligten sozialen Subwelten beziehen: Definitionsprozesse: In den Arenen muss auch die Bestimmung der relevanten Sachverhalte selbst ausgehandelt werden: Unterschiedliche Perspektiven auf den Sachverhalt müssen aufeinander abgestimmt werden – Sachverhalte werden mit der Zeit aber auch umdefiniert, zu anderen Sachverhalten neu in Beziehung gesetzt und manchmal auch ganz aufgegeben usw. Evolutionen: Nicht nur der Status von Sachverhalten ändert sich, sondern Sachverhalte können sich auch ablösen, einander ersetzen und neu in die Arenen eingebracht werden.
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Passungsprozesse: Die Akteure der sozialen Welten oder ihrer Subwelten versuchen, die relevanten Sachverhalte mit ihren Bedürfnissen, Vorstellungen und Zielen abzustimmen, betonen in der Folge bestimmte Sachverhalte oder einzelne ihrer Aspekte oder weisen sie zurück. Allianzbildungen: Da schon aufgrund der Passungsprozesse nicht alle Akteure einer Arena auf eine einzige Deutung eines Sachverhalts eingeschworen werden können, kann es zu temporären Allianzen und Kooperationen zwischen unterschiedlichen Fraktionen einer Arena kommen, die auf ein gemeinsames Ziel hin gebildet werden. Überschneidungen mit anderen Arenen: Da in Arenen Akteure verschiedener sozialer Welten aufeinandertreffen, können Sachverhalte oder Probleme anderer Arenen ebenfalls Bedeutung erlangen und in die Aushandlungsprozesse eingehen. Themen, die sich als zentral für eine Arena erweisen, können von den Akteuren in eine andere Arena eingebracht werden, z.B. weil der Sachverhalt besonders erfolgreich war, als strategische Ressource wichtig werden könnte etc. Mit der Vorstellung von Diskursen als Arenen wird auch deren soziale Dimension hervorgehoben, d.h. es werden nicht einfach Texte oder Aussagen auf ihre Denotationen und Konnotationen reduziert, sondern die Folgen solcher Aussagen für die Beziehungen zwischen den Sprechern sowie zu deren Adressaten und damit die entsprechenden Öffentlichkeiten in den Blick genommen, die von dem in den Diskursen fabrizierten Wissenskategorien und Identitätsangeboten repräsentiert werden sollen.
4.2 D AS ARCHIV : P OLITISCHE R EDEN UND IHRE F UNKTION Zur Analyse der Fabrikation von Kultur wurde eine konkrete Arena untersucht, nämlich die sogenannte »Berliner Konferenz«, auf der Politiker und Vertreter der »Zivilgesellschaft« über die Relevanz von Kultur für den europäischen Integrationsprozess diskutieren. Organisiert wird diese Veranstaltungsreihe, die seit 2004 alle zwei Jahre stattfindet, von einem politisch initiierten Think Tank, dem neben einigen europäischen Politikern und Vertreter des Kulturbetriebs vor allem deutsche Politiker angehören. Dieser Think Tank hat sich selbst den Namen »Europa eine Seele geben / A Soul for Europe« gegeben – ein Zitat des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Diese Reden sind insofern geeignet für die Analyse zur Fabrikation zur Kultur, als die Berliner Konferenz als Archiv den Kriterien genügt, die z.B. Reisigl (2008: 104) für die Analyse politischer Rhetorik einfordert:
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So fand die Berliner Konferenz 2006 zu einem Zeitpunkt statt, an dem die Europäische Union politisch eine neue Zielrichtung finden musste. Der Verfassungsvertrag und damit ihr bislang weitreichendstes politisches Projekt war gescheitert, zu dessen Gunsten andere Probleme, vor allem die Frage nach der EUErweiterung vernachlässigt wurden. Die politischen Akteure, die sich auf der Konferenz zu Wort meldeten, gehören zur politischen Elite der EU mit ihren Organen (Europaparlament und Kommission) und auch der Nationalstaaten. Insbesondere Deutschland, aus dem die Initiatoren der Konferenz stammen, war hier stark vertreten. Die in den Reden immer wieder aufgegriffene Auseinandersetzung mit dem Islam lässt zudem erwarten, dass darin auch explizit Kultur zum Gegenstand gemacht wird. Da es sich bei der Konferenz um ein medial vermitteltes Ereignis handelt, dessen Reden auch im Internet publiziert werden, kann davon ausgegangen werden, dass die Akteure an der Formierung einer öffentlichen Meinung arbeiten, wenn auch mit ungeklärtem Erfolg. Für die Diskursanalyse wurden die Reden der Veranstaltung herangezogen, die zu Beginn des Forschungsprozesses, d.h. in den Monaten nach der Konferenz, online unter http://www.berlinerkonferenz.eu zur Verfügung standen.2 Tabelle 1 gibt dazu einen Überblick. Aufgeführt sind die Namen der Redner und ihre Funktionen, d.h. welche politischen oder öffentlichen Ämter resp. welche Positionen sie in Unternehmen, Stiftungen oder Medien innehatten. Bei Politikern ist zudem die Parteizugehörigkeit aufgeführt.
2
In der Editionsphase dieser Arbeit stellte sich heraus, dass diese Transkripte nicht mehr online als PDFs verfügbar sind. Von den Reden stehen derzeit nur noch die Beiträge von George Soros, Wim Wenders, Nilüfer Göle, Benita Ferrero-Waldner und Wolfgang Schäuble als Videodateien unter http://www.asoulforeurope.eu/node/1275 (zuletzt: 21.06.12) zur Verfügung. Die Zitate können daher vom gesprochenen Wort der Videodokumente abweichen.
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Tabelle 1: Redner der »Berliner Konferenz« 2006 Redner
Funktion
Partei
Barroso, José Manuel
Präsident der Europäischen Kommission
PSD*
Brock, Bazon
Professor für Ästhetik und Kulturvermittler an der Bergischen Universität Wuppertal
-
Bojtar, Endre
Herausgeber des ungarischen Satiremagazins »Magyar Narancs«
-
Boomgarden, Georg
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
SPD*
Brok, Elmar
Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments
CDU
Busek, Erhard
Sonderkoordinator für den Stabilitätspakt für Südosteuropa
ÖVP*
Dienstbier, JiĜí
Außenminister der Tschechoslowakei a.D.
ýSSD*
FerreroEU-Kommissarin für Außenbeziehungen und Waldner, Benita europäische Nachbarschaftspolitik Figel', Ján
EU-Kommissar für Allgemeine und berufliche Bildung und Kultur
Georgi, Andreas Vorstand der Dresdener Bank AG
ÖVP -
Göle, Nilüfer
Professorin für Soziologie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris
CDU
Hassemer, Volker
Vizepräsident a.D. des Bundesverfassungsgerichts; Sprecher der Initiative
KDH*
Lammert, Norbert
Präsident des Deutschen Bundestags
CDU
Leinen, Jo
Vorsitzender des Verfassungsausschusses des Europaparlaments
SPD
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Tabelle 1: Redner der »Berliner Konferenz« 2006 (Fortsetzung) Redner
Funktion
Partei
Neumann, Bernd
Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien
CDU
Pöttering, Hans-Gert
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament
CDU
Rui Vilar, Emílio
Vorsitzender des Stiftungsrats der Calouste Gulbenkian Foundation
-
Santos de Miranda, Danilo
Direktor des Social Service of Commerce, Sao Paolo
-
Schäuble, Wolfgang
Bundesminister des Innern
CDU
Schwartz-Schilling, Christian
Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina
CDU
Soros, Georges
Vorsitzender des Open Society Institute
Špidla, Vladimír
EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit
ýSSD
Staeck, Klaus
Präsident der Akademie der Künste
(SPD)
von Weizsäcker, Richard
Bundespräsident a.D.
CDU
Wenders, Wim
Filmemacher
-
-
* CDU: Christlich Demokratische Union Deutschlands; ýSSD: ýeská strana sociálnČ demokratická; KDH: Krest'anskodemokratické hnuitie; ÖVP: Österreichische Volkspartei; PSD: Partido da Social Democrata; SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Von den 25 Rednern der Konferenz verfügen 17 über eine Parteizugehörigkeit. Dabei sind mit 12 Personen die konservativen Parteien (CDU, ÖVP, KDH, PSD) deutlich überrepräsentiert. Demgegenüber sind die sozialdemokratischen Parteien (ýSSD, SPD) nur mit vier Rednern vertreten, während liberale, grüne und sozialistische Parteien überhaupt keine Sprecher stellen. Darüber hinaus lassen sich einige der weiteren Redner konkreten Parteien oder politischen Lagern zuordnen: Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste, ist SPD-Mitglied, Georges Soros ein bekennender Liberaler und Endre Bojtar Herausgeber eines dezidiert libertären Satiremagazins; andere wiederum können grob einem links-
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liberalen Spektrum zugeordnet werden: z.B. die Soziologin Nilüfer Göle, der Kunstphilosoph Bazon Brock und der Filmemacher Wim Wenders. Von den 28 transkribierten Redebeiträgen entfallen dabei 20 auf Vertreter der Politik, jedoch nur acht auf Vertreter der Zivilgesellschaft oder des Wirtschaftslebens (siehe Tabelle 2). Die drei Sprecher, die mit jeweils zwei Redebeiträgen in das Sample eingingen, sind ebenfalls Politiker. Unter der Kategorie »Vertreter Politik« wurden all jene Redner versammelt, die zum Zeitpunkt ihres Auftritts ein politisches Amt inne hatten oder ein solches bereits in der Vergangenheit bekleideten. Zu Letzteren gehören dann etwa der ehemalige tschechoslowakische Außenminister JiĜí Dienstbier oder der deutsche Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker. Aus Tabelle 2 ist zudem die Dominanz der Politik ersichtlich, die mit 17 Rednern vertreten sind, während Künstler, Wissenschaftler und Journalisten sowie Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen oder Stiftungen mit gerade einmal sieben Beiträgen zu Buche schlagen. Der einzige Vertreter aus der Finanzwirtschaft, Andreas Georgi von der Dresdener Bank AG, richtet als Sponsor und lokaler Ausrichter der Berliner Konferenz zu Beginn lediglich ein Grußwort an die Teilnehmer. Wenn sich somit auch die Selbstzuschreibung des Think Tanks als zivilgesellschaftlich nicht bedenkenlos halten lässt, so muss die Veranstaltung dennoch als eine Arena im Sinne von Anselm Strauss (1993) betrachtet werden, in der unterschiedliche Akteure – Vertreter der Politik, privater und öffentlicher Organisationen oder Personen des Kulturapparates – zukünftige Handlungsrichtlinien der EU anhand des Sachverhalts EU aushandeln. Ruth Wodak unterscheidet für die Diskursanalyse des Politischen zwischen verschiedenen »fields of action«, denen eine diskursregulierende Funktion zukommt und die sich durch spezifische Genres auszeichnen: »[fields of action] contribute to constituting and shaping the frame of a discourse. Thus for example in the area of political action we distinguish between the functions of legislation, self-presentation, the manufacturing of public opinion, developing party-internal consent, advertising and vote-getting, governing as well as executing, and controlling as well as expressing (oppositional) dissent.« (Wodak 2008: 17)
Diese »fields of action« zeichnen sich also sowohl durch eine spezifisch Funktion, als auch durch typische Genres, d.h. konventionelle Formen der Artikulation, aus. Das von mir analysierte Material lässt sich im Sinne Wodaks dem Feld oder der Arena der politischen Meinungsbildung und Selbstpräsentation zuordnen. Dieses Feld ist vor allem durch folgende Genres gekennzeichnet: Presseveröf-
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fentlichungen und -konferenzen, Interviews, Talk-Shows, Vorlesungen und Beiträge auf Konferenzen, Erinnerungs- und Inauguralreden (ebd. 16). Die Reden dienen daher vor allem auch der Selbstvergewisserung der Akteure über die Relevanz des eigenen politischen Handelns, dessen Aktualisierung und Neuausrichtung im Zusammenhang mit der diskursiven Fabrikation europäischer Kultur analysiert werden soll. Die Konferenz sah neben einer Reihe eröffnender Grußworte sechs thematische Blöcke vor, auf die sich die Reden, wie in Tabelle 3 dargestellt, verteilten. Tabelle 2: Zuordnung der Sprecher und ihrer Redebeiträge zu den sozialen Welten Politik, Zivilgesellschaft und Finanzwirtschaft Soziale Welten
f(x) Sprecher
f(x) Reden
EU-Kommission
4
4
Europäisches Parlament
3
4
Deutsche Bundesregierung
3
3
Deutscher Bundestag
1
2
Nationale Politiker a.D.
3
4
Internationale politische Funktionen
2
2
Nationale öffentliche Organisationen
1
1
Ȉ Vertreter Politik
17
20
Künstler
1
1
Wissenschaftler
2
2
Vertreter von Medien
1
1
Vertreter von Nichtregierungsorganisationen oder Stiftungen
3
3
Ȉ Vertreter Zivilgesellschaft
7
7
Vorstände von Banken
1
1
Ȉ Vertreter Finanzwirtschaft
1
1
Ȉ Gesamt
25
28
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Tabelle 3: Themenblöcke und Redner auf der Berliner Konferenz Thematischer Block
Redner
Index
Eröffnung der Konferenz
Andreas Georgi Richard von Weizsäcker (1) Norbert Lammert (1) José Manuel Barroso
AG RvW-(1) NL-(1) JMB
»Europa eine Seele geben« – Das Konzept und seine Umsetzung
Volker Hassemer Hans-Gert Pöttering (1) Emílio Rui Vilar Ján Figel' Georges Soros
VH H-GP-(1) ERV JF GS
Was ist Europa? Wozu Europa? Richard von Weizsäcker (2) Wim Wenders Jo Leinen Endre Bojtar
RvW-(2) WW JL EnB
»Europa eine Seele geben«: Zivilgesellschaft und Politik
Norbert Lammert (2) Hans-Gert Pöttering (2)
NL-(2) H-GP-(2)
Europa in der Welt
JiĜí Dienstbier Benita Ferrero-Waldner Georg Boomgarden Bazon Brock Elmar Brok Danilo Santos de Miranda
Grußwort
Bernd Neumann
Innerer und sozialer Friede
Vladimír Špidla Erhard Busek Christian Schwartz-Schilling
Offenes Europa / Die jüdischislamische Dimension
Klaus Staeck Nilüfer Göle Wolfgang Schäuble
JD BF-W GB BB ElB DSM BN VŠ ErB CS-S KS NG WS
Auch wenn die Themen »Ziele und Grenzen Europas«, »Funktion der Zivilgesellschaft«, »Außenpolitik«, »Politische Konflikte« und »Religion« zentrale inhaltliche Ansatzpunkte für die unterschiedlichen Vorstellungen und diskursiven Ausarbeitungen von Kultur darstellen, so findet die Abfolge der Reden
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keinen unmittelbaren Ausdruck in meiner Auswertung. Wollte man die diskursive Struktur einer Konferenz oder Tagung vollständig erfassen, müssten auch die Kommentare aus dem Publikum oder die Diskussionen in Workshops und Kleingruppen berücksichtigt werden, die der Analyse nicht zur Verfügung standen. Schließlich lagen auch nicht sämtliche Keynotes vor. So soll etwa (u.a.) Ulrich Beck vorgetragen haben, dessen Beitrag jedoch undokumentiert blieb. Stattdessen wurden die Reden als Artikulationsmomente eines Diskurses über Kultur begriffen. Die Analyse zielt auf die Identifikation von Kulturkonzepten in den Reden, nicht auf die Analyse öffentlicher Veranstaltungen. Das heißt zugleich aber nicht, dass explizite Bezugnahmen der Sprecher aufeinander ignoriert worden wären. Solche Verweise sind für eine Diskursanalyse schon deswegen von vitalem Interesse, weil nur darüber die durch die Redebeiträge etablierte soziale Struktur des Diskurses erfassbar wird – etwa wenn sich eine Rednerin von ihren Vorrednern gezielt absetzen möchte, um eine andere Deutung von Kultur vorzuschlagen. Und so ermöglichte die Analyse über die einzelnen Artikulationen hinweg die Identifikation von narrativen Zusammenhängen, die den Diskurs über Kultur kennzeichnen und den konkreten Interaktionszusammenhang im Sinne eines fundamentalen Prinzips transzendieren. Die Daten erweisen sich also entsprechend geeignet, politische Rhetorik zu untersuchen. Doch welche Relevanz kann einem solchen Ereignis wie der »Berliner Konferenz« zukommen? Aus einer an Walter Benjamin geschulten Perspektive ließe sich zunächst argumentieren, dass auch das kleinste Ereignis Auskunft über die gesellschaftlichen Verhältnisse gibt, deren Ausdruck es darstelle. Seine programmatische Forderung, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten, insistierte gerade darauf, nicht zwischen großen und kleinen Ereignissen zu unterscheiden. Doch so klein ist dieses Ereignis gar nicht. Die Sprecher rekrutieren sich aus den politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten Europas und der Amerikas. Allein ihr sozialer Status verspricht zumindest eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit und eine begrenzte mediale Sichtbarkeit. Dass zudem Mitglieder der Europäischen Kommission an dieser Konferenz beteiligt waren, eröffnet diesen auch die Möglichkeit, diese Konferenz auch als Bühne zur Legitimation politischer Entscheidungen oder Strategien im Medium des Kulturdiskurses selbst zu nutzen. Wenn auch manches als Worthülsen und in der Semantik von Sonntagsreden daherkommen mag – es lassen sich hier Einblicke in die politische Inanspruchnahme von Kulturkonzepten erwarten. Ein öffentlicher Auftritt von Politikern der nicht mit der Artikulation von Interessen einherginge, ist zwar möglich, aber durch den Rahmen einer organisierten Konferenz denkbar un-
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wahrscheinlich, basiert doch die Legitimität ihrer Teilnahme auf ihrer Eigenschaft. Vertreter der Politik zu sein. Soziologisch relevant ist diese Veranstaltung also zunächst deshalb, weil daran die Vorstellungen der Eliten, wie Gesellschaft funktioniert und welche Rolle dabei der Kultur zukommen soll, rekonstruiert werden kann. Sichtbar wird somit also das gesellschaftliche Selbstbild und auch die Ansprüche der politisch Herrschenden – damit handelt es sich um eine organisierte Repräsentation der Gesellschaft (Becker 2007) und beantwortet die Frage danach, wie es Akteuren mit Hilfe des Rückgriffs auf die ›Kultur‹ gelingt, ein spezifisches Bild von Gesellschaft zu entwerfen. Anders gesagt: Die Frage danach, wovon geredet wird, wenn über Kultur geredet wird, zeigt, wie in Diskursen hoch kontingente Zusammenhänge ›fundamentalisiert‹ werden, d.h. wie partikulare Vorstellungen über die Grundlagen der Gesellschaft nicht nur hegemonial, also anderen Vorstellungen gegenüber durchgesetzt werden, sondern auch, wie ›Kultur‹ in Diskussionen als etwas fabriziert wird, was als vermeintlich geteilte Eigenschaften der europäischen Gesellschaften eigentlich nicht weiter der Diskussion bedürfe und künftig als unhintergehbare oder problematisierbare Tatsache zu gelten habe. Umgekehrt ist zu erwarten, dass in den entworfenen gesellschaftlichen Selbstbildern auch sichtbar wird, warum sich vor allem die Politik (aber auch andere soziale Welten wie der Finanzsektor, das Bildungssystem oder die Wissenschaft) der Kultur zuwendet. Gerade für den Sonderfall einer europäischen Kultur wäre zu erwarten, dass damit auch die politischen Herrschaftsansprüche eines Verwaltungsapparates artikuliert werden, der gemäß der sozialwissenschaftlichen Analysen zur EU an einem Demokratie- und Legitimitätsdefizit leidet (Bach 2008; Haller 2009). Dabei muss aber gar nicht auf eine solche allgemeine Diagnostik abgestellt werden. Die spezifische politische Situation der EU war zu dem Zeitpunkt, an dem die Berliner Konferenz 2006 stattfand vor allem durch das Scheitern gekennzeichnet, eine europäische Verfassung zu etablieren. Die Definition, was zu Europa gehört und was nicht, lässt sich als Legitimationsressource für das politische Projekt der EU interpretieren. Insofern wäre auch die vorliegende Studie ein Beitrag zur Ideologiekritik politischer Vergesellschaftung.
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4.3 O PERATIONALISIERUNG UND AUSWERTUNG In Kapitel 2 und Kapitel 3 wurden drei Diskursregeln der Fabrikation von Kultur hervorgehoben: Die kulturelle Formation bedarf der Artikulation von InnenAußen-Differenzierungen, von zeitlichen Periodisierungen und von symbolischen Referenzierungen. Die vorgängigen Überlegungen zur Diskursanalyse betonten deren Fähigkeit, auf die Prozesshaftigkeit und Machthaltigkeit von sozialen Prozessen abzustellen. Die Analyse der Fabrikation von Kultur wurde deshalb in einem dreistufigen Verfahren vorgenommen, das 1. 2. 3.
mit der Identifikation von Kulturnarrativen begann, dann in einem weiteren Schritt die soziale Arena der Sprecher mit ihren unterschiedlichen Positionen und Interessen in den Blick nahm, um schließlich Aussagen über den Herrschaftscharakter der fabrizierten europäischen Kultur treffen zu können.
Zu 1: In einem ersten Zugang wurden die Reden auf Narrative europäischer Kultur hin untersucht, d.h. sie wurden mit Blick auf unterschiedliche, kontrastive Varianten der Befolgung der Formationsregeln des Kulturdiskurses untersucht. Konkret wurde nach Aussagen gesucht, die Informationen zu Zeit (z.B. als historische Daten, Epochen, Fristen usw.) lieferten, Unterscheidungen zwischen Europa und Nicht-Europa trafen oder auf Eigenschaften, Ausdrucksformen oder Gemeinsamkeiten verwiesen, durch die sich Europa auszeichnen soll Die Interpretation verfuhr im Wesentlichen kontrastiv und typisierend, indem die vorhandenen Reden dahingehend untersucht wurden, in welchen Aussageformen die in Kapitel 2 vorgestellten Formationsregeln aktualisiert wurden. Aussagen wurden dann erfasst, wenn sie mindestens einer der drei Formationsregeln befolgten. Daraus lassen sich idealtypisch sieben verschiedene Aussageformen unterscheiden, je nachdem, ob eine, zwei oder alle drei Formationsregeln befolgt werden. Um als Aussage in die Analyse berücksichtigt zu werden, musste ein Satz mindestens auf eine der drei Formationsregeln referieren, d.h. als Satzinhalt fungieren. Tabelle 4 zeigt dies beispielhaft anhand ausgewählter Zitate aus dem Datenkorpus. Sie bildet damit die Bandbreite der Aussagen ab, die in die Analyse mit einbezogen wurden. Aussagen, die keine der drei Formationsregeln befolgen, wurden in der Analyse folglich diesbezüglich nicht codiert. Umgekehrt war es für die Rekonstruktion der narrativen Strukturen letztlich nicht entscheidend, um welche Aussageform es sich bei der jeweiligen Sequenz handelte. Stattdessen stand die Identifikation hinreichend unterschiedlicher Differenzen in der Befolgung der drei For-
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mationsregeln im Vordergrund. Es handelt sich dabei um Vergleiche in Gruppen, d.h. es wurde kein theoretical sampling im strengen Sinne durchgeführt. Eine »natürliche« Grenze fand die Auswertung an der Anzahl der zur Verfügung stehenden Reden. Tabelle 4: Aussageformen und Formationsregeln
AF1
IAD +
ZP -
SR -
AF2
-
+
-
AF3
-
-
+
AF4
+
+
-
AF5
-
+
+
AF6
+
-
+
AF7
+
+
+
Beispiel »Unsere Werte bewahren und stärken. Die Gedankenfreiheit verteidigen. Die Redefreiheit verteidigen. Die Freiheit der Kunst verteidigen.« »Die Europäische Union entstand durch einen Prozess des schrittweisen ›Social Engineerings‹, also des Bemühens, die menschliche Gesellschaft mit rationalen Mitteln zum Besseren zu gestalten.« »Warum ist nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt, ›ins Kino gehen‹ synonym mit ›einen amerikanischen Film sehen‹?!« »Unsere kulturelle Basis ist unsere jüdischchristliche Prägung, wie sie durch die Aufklärung modernisiert wurde.« »Denken Sie an Europas Musik, Literatur und Architektur, etwa an die Gemeinsamkeiten der Baugeschichte von der Romanik bis zur Moderne.« »Unsere Werte, darunter in besonderem Maße die Freiheit, bilden den ›europäischen Geist‹, der dem europäischen Aufbauwerk zugrunde liegt.« »Jeremy Rifkin schrieb kürzlich ein Buch über die Europäische Union und gab diesem Buch den Titel ›Der europäische Traum‹. Es ist interessant, dass ein so euphorisches Fazit über die Errungenschaften von 50 Jahren europäischer Einigung durch einen Beobachter von außerhalb Europas gezogen wird.«
Abkürzungen: AF: Aussageform; IAD: Innen-Außen-Differenzierungen; ZP: Zeitliche Periodisierungen; SR: Symbolische Referenzierungen
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Im Sinne der wissenssoziologischen Diskursanalyse konnten auf der Grundlage dieser Aussagen die realisierten Varianten europäischer Kulturnarrative untersucht werden. Unter narrativen Strukturen versteht Keller die »story lines, plots, scripts« in Diskursen, »durch die verschiedene Deutungsmuster, Klassifikationen und Dimensionen der Phänomenstruktur« (Keller 2005: 246) im Sinne eines roten Fadens des Diskurses zusammengeführt werden. Über diese narrativen Strukturen schreibt Reiner Keller: »Durch den Rückgriff auf eine story line können Akteure diskursive Kategorien sehr heterogener Herkunft in einem mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang aktualisieren. Dadurch entsteht der für öffentliche Diskurse typische Hybridcharakter.« (Ebd. 247) Mit den narrativen Strukturen werden zugleich die für Arenen typischen Repräsentations- und Definitionsprozesse rekonstruiert, d.h. die »typisierende[n] und typisierte[n] Interpretationen« europäischer Kultur (Deutungsmuster), die damit einhergehende Einordnung von »vorgefundene[r] Wirklichkeit in adäquate Kategorien« (Klassifikationen) und die dem epistemischen Objekt ›Kultur‹ zugeschriebenen Eigenschaften (Phänomenstruktur) (siehe zur inhaltlichen Strukturierung von Diskursen anhand dieser drei Kategorien: Ebd. 235 ff.). Um zu diesen narrativen Strukturen zu gelangen, wurden die Redebeiträge auf Ähnlichkeiten in der Fabrikation von Innen-Außen-Differenzierungen, zeitlicher Periodisierung und symbolischer Referenzierungen hin analysiert. Dabei blieb es nicht aus, dass von den identifizierten narrativen Strukturen unterschiedliche Varianten hervorgebracht wurden. Innen-Außen-Differenzierungen: In diese Kategorie fielen Aussagen, die entweder eine geographische Referenz anzeigten (in diesem Sinne wurden Rom, Athen und Jerusalem doppelt codiert). Aussagen, die Fabrikation von InnenAußen-Differenzen anzeigten, können sich aber auch auf Gruppen (z.B. die Türken), Religionen (z.B. den Islam) politische Einheiten (z.B. kommunistische Regimes) oder auf unerwünschte Phänomene (z.B. Migration, Krieg, Menschenhandel) beziehen. Diese mussten dabei nicht ausschließlich antagonistischen Charakter tragen. Zeitliche Periodisierungen: Codiert wurden Aussagen, die im weitesten Sinne Zeitangaben enthielten. Darunter fielen konkrete Daten (Jahreszahlen oder Einzeldaten) und historische Ereignisse (z.B. der Zweite Weltkrieg, die Römischen Verträge), aber auch Epochen (z.B. der Barock) oder Aussagen zur Dauer (z.B. mehrere Jahrhunderte). Zeitangaben konnten aber auch über die Nennung von geographischen Referenzen (in diesem Sinne wurden etwa »Rom«, »Jerusalem« und »Athen« doppelt codiert) oder über spezifische Werke (z.B. Don Carlos für die literarische Klassik) und Autoren (z.B. Voltaire für die Zeit der Aufklärung) erfasst werden (in solchen Fällen handelte es sich um Aussageformen
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der Typen 4 und 5). Schließlich wurden auch Gegenwarts- (z.B. Globalisierung) und Krisendiagnosen (z.B. Zustand der EU nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags) codiert, da in der Regel damit eine Periodisierung vorgenommen wurde, aus der sich für den Sprecher eine Notwendigkeit zum Handeln ergab. Entsprechend wurden ggfs. auch die relevanten Handlungsträger mit festgehalten (z.B. die USA und die Sowjetunion als Akteure des Kalten Kriegs). Symbolische Referenzierungen: Hierunter fielen Aussagen, die sich auf gemeinsame Werte, Eigenschaften oder Erfahrungen bezogen. Neben solchen Zuschreibungen wurden auch konkrete Objekte, Werke und Personen erfasst, insofern ihre Zitation sie als Repräsentanten Europas auswiesen. Gegenüber solchen Versuchen der Kanonbildung oder symbolischen Inanspruchnahme wurden auch Aussagen mit einbezogen, die spezifische Eigenschaften der europäischen Integration, ihre Entwicklungen und Formen adressierten. Auf der Basis der 28 Redebeiträge konnten drei hinreichend unterschiedliche Kulturnarrative unterschieden werden. Diese wurden auf der Basis von 20 Reden extrapoliert. Die 20 Reden verteilten sich folgendermaßen auf die drei identifizierten Narrative: Tabelle 5: Zuordnung von Reden zu Narrativen Narrative Narrativ 1: »Europa als Fortschrittsprojekt« Narrativ 2: »Kultur als Fundament« Narrativ 3: »Kultur als Instrument und Humankapital«
Reden 8 4 8
Beim Codieren blieb es nicht aus, dass es im Sinne des qualitativen Forschungsprozesses zu neuen Einsichten und bestimmten Artikulationen kam, die sich zunächst nicht auf eine der drei Aspekte beziehen ließen. So entwickelte sich aus der Artikulation einer Gegenwartsdiagnose, die einen Bruch zwischen politischer Elite und den Bürgern der EU thematisierte (und dessen Überwindung eine kulturelle Spezifik eines europäischen Verständnisses von Politik bildete), eine politische Handlungsrichtlinie, welche die Überwindung dieses Bruchs über die Mobilisierung der Zivilgesellschaft suchte – eine Strategie, die ich »Governing the Bottom-Up« nenne. Als fünfte Dimension wurde schließlich erfasst, wer in den Reden als relevantes Publikum adressiert wurde, d.h. wer jenseits der anwesenden Personen im Sinne der Narrative als Träger von Kultur definiert wird. Dabei wurden drei unterschiedliche Adressatengruppen als Publikum identifiziert:
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Eliten (politisch und kulturell), denen die Kompetenz und Verantwortung zugesprochen wird, bezüglich Kultur gestaltend, bewahrend oder fördernd zu handeln. Die Zivilgesellschaft, die im Gegensatz zum politischen Apparat und staatlicher Verwaltung einerseits, aber teilweise auch im Gegensatz zu den Eliten als Massenkategorie mit Handlungsaufforderungen konfrontiert wird. Kulturelle Andere, von denen erwartet wird, dass sie sich entsprechend der kulturellen Standards, Werte und Erwartungen in die Gesellschaften zu integrieren haben. Zu 2: Der zweite Schritt der Analyse bezog sich auf die Struktur der Arena. Da nur 20 der 28 Reden eindeutig einem Narrativ zugeordnet werden konnten, wurden die restlichen acht Reden dahingehend untersucht, inwiefern sie auf den oben beschriebenen Arenaprozessen (Evolutionen, Passungsprozesse, Allianzbildungen und Überschneidungen mit anderen Arenen) in der Phänomenstruktur von den Narrativen abwichen: Diese vier Prozesse wurden in Relation zur Herkunft der Sprecher untersucht, d.h. die Reden wurden auch im Hinblick auf die sozialen Welten interpretiert, denen die Redner entstammten. Unter die soziale Welt Politik wurden alle Redner gefasst, die Inhaber eines politischen Amtes auf nationaler oder EUEbene sind, gleichgültig, ob sie dieses Amt zum Zeitpunkt ihrer Rede noch innehatten. Weitere Sprecher entstammten folgenden sozialen Welten: »Nichtregierungsorganisationen«, »Stiftungen«, »Medien«, »Finanzwirtschaft«, »Kunst« und »Wissenschaft«. Zusätzlich wurde miterfasst, welches Publikum von den Sprechern adressiert wurde und inwieweit sich dieses systematisch von den adressierten Gruppen der Narrative unterschied. Von den acht Reden konnten fünf als Diskurskomplizen identifiziert werden, d.h. ihre Reden lassen sich keinem der drei Narrative exklusiv zuordnen, folgen aber den Narrativen, insofern sie einzelne Elemente der Narrative artikulieren – und damit im Sinne Kellers hybride und nur bedingt kohärente Reden darstellen. Den restlichen drei Reden wurde die Kategorie »marginalisierte Sprecher« zugeordnet. Die Akteure entstammen den sozialen Welten »Kunst« und »Wissenschaft« – zwei sozialen Welten, die weder die drei Narrative stützen noch Diskurskomplizen stellen – und stehen in einem oppositionellen Verhältnis zu den drei Narrativen, d.h. die Sprecherpositionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine explizite Kritik oder implizite Zurückweisung der drei Narrative formulieren.
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Zu 3: Der letzte Schritt der Analyse bezieht sich auf die Dimension von Macht und Herrschaft:3 Es konnten durch die Codierungen der Innen-AußenDifferenzierungen, zeitlichen Periodisierungen und symbolischen Referenzierenden schon hinreichend Signifikanten identifiziert werden, die über die verschiedenen Narrative hinweg in einen ähnlichen Artikulationszusammenhang gebracht wurden. So wurde in einem letzten Schritt nach denjenigen Signifikanten gesucht, die sich als leer und damit als besonders variantenreich präsentierten. Gemäß der Theorie von Laclau/Mouffe fungieren diese Signifikanten als Glied von Äquivalenzketten und Grenz-Fronten, mit denen die Innen- und die Außenseite des Fabrikats ›europäische Kultur‹ anzeigt werden. Dementsprechend konnten auf der Ebene der Narrative solche Gruppen als beherrschte Gruppen identifiziert werden, die (a) entweder als »Andere« oder »Außen« der europäischen Kultur betrachtet werden und (b) die aufgrund der Narration und der darin präsentierten Trägergruppen von Kultur im Sinne Benjamins implizit ausgeschlossen werden. Sodann wurden diese Gruppen mit den Sprechern der Arena verglichen und dahingehend untersucht, wem hier eine Stimme zugesprochen wird und wem nicht. Schließlich wurde das jeweils adressierte Publikum bestimmt, dem gegenüber die Fabrikation von Kultur als relevant erachtet wurde, sowie die formulierten Ansprüche, mit denen das jeweilige Publikum konfrontiert wurde.
3
Dieser Schritt der Analyse wurde nicht durch die Vergabe von Codierungen oder durch die Entwicklung von theoretischen Konzepten durchgeführt, sondern es wurde anhand der Analysen zu den Narrativen und der Arena synthetisierend interpretiert.
5 Fabrikationen der Kultur – Drei Narrative
Man sei keine »Kulturlobby« – man wolle also nicht im Sinne eines Kulturapparats und seiner Akteure auftreten, um der Politik auf europäischer Ebene Zugeständnisse und politische Entscheidungen abzuringen. So will Volker Hassemer, der Sprecher der Initiative »Europa eine Seele geben«, eben diesen Think Tank verstanden wissen, und er betont dabei die eigene Unabhängigkeit von politischen Entscheidungsprozessen – auf die umgekehrt aber sehr wohl Einfluss genommen werden möchte und zwar im Sinne einer Wiederentdeckung der kulturellen Dimension Europas. VH-101: »Dieses Modell gibt unserem privaten Engagement die Chance öffentlicher Wirksamkeit, die die Eigenverantwortlichkeit und die informelle Organisationsform unserer zivilgesellschaftlichen Initiative wahrt und ihr zugleich Einfluss auf die öffentlichen Dinge gibt.«
Neben der »Berliner Konferenz« werden auch weitere öffentliche Veranstaltungen organisiert, die das Ziel einer Annäherung des politischen Projekts der Europäischen Union und der Bürger der Mitgliedsstaaten verfolgen und damit nach eigenen Angaben an einer langfristigen Stabilisierung und Stärkung der EU arbeiten. Hassemer drückt das folgendermaßen aus:
1
Zitate aus dem Quellenmaterial werden folgendermaßen angegeben: Vor- und Nachnahme werden zu Insignien abgekürzt; es folgt der Absatz aus der Rede. VH-2 entspricht also Volker Hassemer, Absatz 2. In den Fällen, in denen aus zwei verschiedenen Reden einer Person zitiert wurde, folgt vor dem Absatz eine (1) oder (2), um das entsprechende Dokument anzuzeigen. Dementsprechend erhielte der dritte Absatz des Grußwortes von Richard von Weizsäcker das Siegel RvW-(1)-3 (für eine Liste der Reden, siehe Tabelle 3). Die Zitate sind wortwörtlich und wurden keiner weiteren Korrektur unterzogen .
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VH-2: »Nein, wir verstehen Europa als Gemeinschaft der Europäer, die aus ihren vielfältigen Kulturen die Kraft schöpfen, um gemeinsam in der Welt zu bestehen und friedlich und produktiv miteinander umzugehen. Diese Sicht allein begründet unsere Initiative, die auf Kultur setzt, um Europa voranzubringen.«
Die Initiative ist deutschen Ursprungs, aber sie ist gut mit den institutionellen Organen der Europäischen Union vernetzt: Davon zeugt nicht nur die Teilnahme zahlreicher Mitglieder der Kommission und des Europäischen Parlaments, sondern auch die Etablierung eines Lenkungsausschusses im Parlament, mit dem zusammen nach neuen Kooperationsformen zwischen den politischen Akteuren und der Zivilgesellschaft gesucht wird. Dabei werden nicht nur private Stiftungen zur Finanzierung herangezogen (u.a. die Felix-Meritis-Stiftung, die AllianzKulturstiftung und das Open Society Institute), sondern die Organisatoren begreifen sich selbst als Teil der Zivilgesellschaft, obwohl der Großteil des Kuratoriums der Initiative selbst aus aktiven oder ehemaligen Politikern besteht. Letztlich wurden drei sehr unterschiedliche narrative Strukturen herausgearbeitet, die dem Begriff der Kultur eine je andere Funktion beimessen: 1.
2.
3.
Im Narrativ »Europa als Fortschrittsprojekt« wird Kultur nicht als explizite Kategorie artikuliert. Die diese narrativen Struktur bildenden Artikulationen folgen nichtsdestoweniger den Formationsregeln des Kulturdiskurses (Innen-Außen-Differenzierungen, zeitliche Periodisierungen und symbolische Referenzierungen), binden sie aber an das politische Projekt Europas, das somit als implizite kulturelle Errungenschaft einer modernen Politik präsentiert wird. Ein weiteres Narrativ weist Kultur dagegen eine fundierende Funktion im Sinne eines »kulturellen Fundaments« von Politik zu, aus dem die Differenzen zu anderen Gruppen hervorgehen sollen und gegenüber den Anforderungen und Anfeindungen anderer bewahrt und gestärkt und verteidigt werden müsse. Das dritte Narrativ begreift Kultur als ein Feld gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Investitionen, die als »Instrument und Humankapital« den europäischen Staaten erlaube, sich auf dem Weltmarkt langfristig erfolgreich zu positionieren.
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5.1 E UROPA ALS F ORTSCHRITTSPROJEKT – EIN IMPLIZITER K ULTURBEGRIFF 5.1.1 Eine politische Geschichte alter Männer Der ehemalige tschechische Außenminister JiĜí Dienstbier präsentiert in seiner Rede die Europäische Integration als gezielte politische Maßnahme gegen die Kriegszustände der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: Für ihn beginnt der Integrationsprozess mit dem Ende des Nationalsozialismus. Die Folgen des zweiten Weltkriegs und die Neuordnung des europäischen Raumes durch die Siegermächte bilden den Nullpunkt der historischen Bezüge dieses Narrativs. JD-10: »In the present debates it is often lost that the European integration has been since its beginning a political project. After the great war Monnet, Schuman, de Gasperi, Spaak, Adenauer and their colleagues came to understanding that the most effective prevention of further bloody conflicts would be such interconnection of the European states and nations, that would replace psychology of confrontation and national grudge by psychology of cooperation and solidarity.«
Diese Sequenz beinhaltet die zentralen Referenzen: Zunächst wird ein als minoritär begriffenes Wissen in Erinnerung gerufen, dem aus der Sicht des Sprechers gegenwärtig kaum Beachtung geschenkt wird, nämlich dass es sich bei dem Integrationsprozess durchgehend um ein politisches Projekt handeln, d.h. dass ihm eine prinzipielle Steuerungsfunktion für die beteiligten europäischen Staaten zukommen soll. Der Beginn dieses Projekts wird dabei einerseits mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs identifiziert, andererseits mit den Namen jener politischen Akteure verbunden, die an der Bildung der Montanunion beteiligt waren: die französischen Politiker Jean Monnet und Robert Schuman, der italienische Premierminister Alcide de Gaspari, der belgische Europapolitiker und Präsident der Montanunion Paul-Henri Spaak sowie der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer. Alle fünf gehören zum Kreis jener Personen, die als »Gründerväter Europas« gelten.2 Die Geschichte der Europäischen Integration wird damit als Geschichte großer alter Männer eingeführt; eine nicht unübliche Form für die politische Geschichte der EU (Pinder/Usherwood 2007).
2
Auf der deutschen Homepage der Europäischen Union werden darüber hinaus nur noch Winston Churchill, Walter Hallstein und Altiero Spinelli genannt: http://europa.eu/about-eu/eu-history/1945-1959/index_de.htm (letzter Zugriff: 30.04.12).
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Der Projektcharakter wird deutlich, indem auf die politischen Intentionen dieser Personengruppe abgestellt wird: Die Vermeidung von »further bloody conflicts« soll durch eine Neubestimmung der zwischenstaatlichen Beziehungen erfolgen. Dass es vor allem um eine neue kooperative und solidarische Psychologie gehe, mag zunächst überraschen, wenn man von Nationen und Staaten spricht, die auf der Ebene von Kollektiven organisiert sind. Doch die soziale Ebene, auf der man zu einer Übereinkunft friedlicher Beziehungen zwischen den Staaten gelangte, wird zugleich als internationale Diplomatie, d.h. einer bestimmbaren begrenzten Trägergruppe des Projekts, identifizierbar. Es geht hier also um die Implementation einer nicht-konfrontativen Diplomatie, die aus einem überschaubaren Kreis von Einzelpersonen besteht, die im Sinne von Luc Boltanski und Ève Chiapello als ›Vermittler‹ fungieren und Netzwerke (»interconnections«) herstellen (Boltanski/Chiapello 2003: 152 f.). Aus der zitierten Sequenz geht ein Verständnis der Europäischen Integration als Projekt hervor, dass in dreifacher Hinsicht begrenzt ist: Die Europäische Einheit, von der in dem Zitat die Rede ist, hat eine zeitliche Begrenzung; sie beginnt mit dem Ende des zweiten Weltkriegs und der Gründung der Montanunion 1951, umfasst also gerade einmal 55 resp. 61 Jahre. Das heißt nicht, dass es Europa erst seit 1945/51 gibt, wohl aber als politisches Projekt, dessen Fristigkeit nun aber noch nicht markiert wurde. Die Akteursgruppe wird als Personenkreis aus den Gründungsvätern und damit ebenfalls als begrenztes Team vorgestellt. Das Personal dieses Narrativs ist somit nicht per se kollektiv; ihm wird stattdessen eine eigene Psychologie zugesprochen, die es zu verändern gilt und die als Grundlage für politische Entscheidungen und historische Verläufe gelten kann. Dass es eher als Vermittler denn als Eliten verstanden werden soll, ergibt sich hier aus einer diskursiven Strategie des Nicht-Benennens konkurrierender Akteure. Die Gründungsväter werden damit aus potentiellen Oppositionskonstellationen anderer Gruppen herausgenommen und stattdessen wird eine zeitliche Opposition zu den Akteuren einer rein nationalstaatlich orientierten Politik eingeführt, die sich durch eine konfrontative Haltung des Grolls oder des Neids auszeichneten. Es werden schließlich auch begrenzte Ziele formuliert, auf die sich das noch nicht näher bestimmte politische Handeln beziehen soll, nämlich die Vermeidung von blutigen Konflikten und damit die Förderung von Frieden. Das ist vor dem Hintergrund des präsentierten Geschichtsverlaufs zunächst zwar durchaus konsequent, gewinnt aber seine Eigenheit darin, dass als zentrales politisches Ereignis auf die Montanunion und damit auf wirtschaftliche Zusammenarbeit verwiesen wird. Damit wird eine politische Rationalität impliziert, die eine Abwesenheit von Krieg mit dem Aufbau wirtschaftlicher Kooperation verbindet.
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Auffallend an diesem Gründungsmotiv ist dabei, dass die Zeit zwischen der Gründung der Montanunion als gründendes Ereignis der Europäischen Integration und der Sprecherposition im Jahr 2006 durch keine weiteren Ereignisse differenziert wird. Damit fallen auch die beiden großen Organisationsformen in der Europapolitik zusammen, nämlich die Europäische Gemeinschaft (1951-1992) als wirtschaftsbezogene Kooperationsform mit der Europäischen Union (seit 1992) als suprastaatlichem Institutionengefüge, das weit über eine wirtschaftspolitische Zuständigkeit hinausgeht. Konturen gewinnt das politische Projekt dann auch nicht durch eine politische Differenzierung, d.h. es werden keine gegenwärtigen politischen Gegner identifiziert oder eine Totalintegration der historischen politischen Konstellation artikuliert, sondern so wird eine historische Differenzierung vorgenommen, welche die politisch unruhige und konfliktive Vergangenheit vor 1951 von der Zeit der europäischen Integration trennt. Für Dienstbier wie auch für die anderen Redner, auf denen das Narrativ beruht, bildet dieser Gründungsmythos nur die Ausgangskonstellation, vor deren Hintergrund nun weitere Entwicklungen beschrieben werden. JD-11: »The development proved them right: the war among the member states of the present European Union is not imaginable. But the European integration Union guarantees not only the peace but also expansion of freedom on our continent. The perspective of joining the EU is even today the moving engine of political and economic reforms in the countries for which the membership in the community is not just a political goal but first of all the hope for life in freedom and prosperity.«
Hier werden gleich zwei Auswirkungen dieser politischen Strategie postuliert. Zum einen wird auf die Kontinuität des Projektes europäischer Integration verwiesen. Sie garantiert nun Frieden und macht die prinzipielle Denkbarkeit militärischer Konflikte auf europäischem Boden geradezu zu einer Unmöglichkeit. Zum anderen ermöglicht diese politische Stabilität die Etablierung und Ausweitung des politischen Wertes Freiheit. Damit wird das politische Projekt EU als ein typisch liberales Projekt gerahmt. Die Semantik gewinnt hier insgesamt an wirtschaftsorientierten Obertönen, wenn von der EU als »moving engine«, als Motor, gesprochen wird, der Reformen in denjenigen Ländern antreibt, die eine Mitgliedschaft in der EU anstreben. Hier gewinnt die vorherige Artikulation von Frieden und wirtschaftlicher Kooperation an Fundament, wenn mit Freiheit und Wohlstand zentrale Motive für den Beitritt zur EU als institutionellem Gebilde benannt werden.
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Mit diesem Wertekanon, der den politischen Frieden zur Grundlage für die liberalen Werte Freiheit und Wohlstand postuliert, wird aber auch eine Gegenwartsbeschreibung geliefert. Die EU ist attraktiv für jene Staaten Europas, die wirtschaftlich und politisch schlechtergestellt sind als die Mitgliedsstaaten. Implizit wird damit ein weiteres historisches Datum markiert: Mit dem Beginn der Erweiterung der EU über die Kernstaaten hinaus wird ein Zustand des europäischen Projekts bestimmt, der bis in die Gegenwart anhält und dabei auch zu internen Konflikten darüber führt, welchen Staaten Zentral- und Osteuropas eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt werden soll: JD-12: »The opening of the integration for the countries of Central and Eastern Europe, as Daniel Cohen remarked, ›let the fear of globalization enter the same center of European debate‹. Europe as a protective block was replaced by a feeling ›of the world that let a wolf enter the stable‹.«
Dienstbier unterscheidet damit zwischen einer EU vor der Erweiterung und einer EU in der Erweiterungsphase, die sich vor allem ihrer eigenen Stabilität zu versichern sucht. Die EU ist somit in einer durch Globalisierung und den Integrationsprozess verursachten Krise, die im Inneren der EU wirkt, was auch der Bildvergleich eines nach außen geschützten Blockes – die Festung Europa wird hier als Konnotation mitgeführt – mit dem Wolf im Stall illustriert. Bevor im kommenden Abschnitt die Definitionen dieser Krise genauer untersucht werden sollen, gilt es, ähnliche Periodisierungen der Zeitreferenzen zu identifizieren und in ihren Varianten zu beschreiben. Variante 1 (Jo Leinen) Auch Jo Leinen, Mitglied des Europaparlaments, setzt mit den »Gründungsvätern« der EU ein, die vorwiegend an der Erhaltung des Friedens in Europa arbeiteten: JL-5: »Es war der Traum der Gründerväter, mit der europäischen Integration den Krieg auf unserem Kontinent zu verbannen. Nach vielen Konflikten über mehrere Jahrhunderte ist der Frieden zwischen den Staaten und Völkern in der EU eine Tatsache mit der Aussicht, für lange, lange Zeit Bestand zu haben. Die EU ist damit das größte Friedensprojekt auf der Welt. Darauf können die Europäer Stolz sein.«
Dem Europa seit den frühen 1950er Jahren wird aber im Gegensatz zu dem Gründungsmotiv bei Dienstbier eine wesentlich längere Vergangenheit gegenübergestellt. Der Nationalsozialismus und der zweite Weltkrieg werden einge-
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reiht in einen wesentlich längeren Zeitraum politischer Konflikte, der mindestens noch die Vormoderne umfasst. Zugleich wird auch mit der geopolitischen Relevanz der EU und der unbestimmten Dauer des Friedens die EU selbst als Projekt markiert, dessen interne Aufgabe gerade in der Aufrechterhaltung des Friedens besteht. Die Ausweitung der historischen Gegenzeit »Nationalsozialismus« resp. »Zweiter Weltkrieg« auf »mehrere Jahrhunderte« ermöglicht dabei nicht nur eine zeitliche Grenzziehung, sondern sie ermöglicht es auch, die Gegenpositionen zu den liberalen Gründungsvätern einzuführen, die nun als undemokratische politische Systeme bestimmt werden: JL-6: »Für viele Völker war es ein weiterer Traum in der Nachkriegszeit, in Freiheit und Demokratie leben zu können. Wir sollten uns daran erinnern, dass es viele autoritäre und diktatorische Systeme auf unserem Kontinent gab.«
Die Periodisierung erscheint dabei zugleich eine Moderne und Vormoderne zu umfassen, da Diktatur und Autoritarismus gängige Bezeichnungen für nichtdemokratische Staatsformen der Moderne darstellen, d.h. vor allem als Klammerbegriffe für kommunistische und faschistische Regime dienen, während die Gegenzeit zur EU mehrere Jahrhunderte umfassen soll und damit weit über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück in die Vergangenheit reicht. Zugleich werden ähnlich wie bei Dienstbier Errungenschaften der Moderne – Frieden und Demokratie – zusammen mit dem Wert Freiheit artikuliert und daraus der Attraktionswert für andere Gesellschaften und die potentielle Ausweitung der EU abgeleitet, die als Projekt im Sinne einer positiv formulierten Globalisierung die sozialen Bewegungen in Nicht-EU-Ländern und die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen beförderte: JL-6: »Die Anziehungskraft der EU hat sowohl im Süden wie auch im Osten Europas zu revolutionären und demokratischen Veränderungen geführt. Die EU ist damit auch das größte Freiheitsprojekt auf der Welt. Freiheit gibt es nicht nur innerhalb der Mitgliedstaaten, sondern auch für die grenzüberschreitenden Aktivitäten der Menschen, vom Nordpol bis zum Mittelmeer, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer.«
An das Gründungsmotiv anschließend, wird nun eine historische Dynamik entfaltet, die
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den gut 50 Jahren der Europäischen Integration eine ungenaue, aber lange Gegenzeit des Unfriedens und der Unfreiheit gegenüberstellt, in der der Zweite Weltkrieg nur eine Episode markiert, während die Langfristigkeit des Friedensprojektes EU zwar prognostiziert, aber als nicht selbstverständlich gegeben vorgestellt wird. Auf der Ebene politischer Konstellationen werden den Gründungsvätern nun die parallel existierenden autoritären und diktatorischen Regimes des 20. Jahrhunderts gegenübergestellt, die sich dann auch zeitlich mit dem europäischen Integrationsprozess, nun verstanden als Friedensprojekt, überschneiden. Das erlaubt Leinen die Formulierung einer historischen Dynamik, in der die EG/EU als Ursache der sozialen Bewegungen und Revolutionen in den Regimes fungiert und die schließlich in eine Globalisierung mündet, die den Menschen des europäischen Kontinents aus nationalstaatlichen Begrenzungen freisetzt.
Variante 2 (Norbert Lammert) Auch Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestags, präsentiert eine ähnliche Periodisierung des Integrationsprozesses, der eine Anfangsphase von der Gegenwartsphase unterscheidet. Damit setzt er sich von der Deutung Jo Leinens ab und nähert sich der Position Dienstbiers, indem er die gegenwärtige Situation der EU problematisiert: NL-(1)-8: »Heute denke ich, wird man ohne den Verdacht der Übertreibung hinzufügen dürfen, die Europäische Gemeinschaft hat 50 Jahre nach ihrer Gründung ein Stadium erreicht, in dem ohne die Reaktivierung ihrer kulturellen Dimension weder ihre innere Verfassung neu geordnet, noch über mögliche künftige Erweiterungen ernsthaft geredet werden kann.«
Während Dienstbier eine allgemeine Unsicherheit gegenüber einer möglichen Erweiterung artikuliert, qualifiziert Lammert die Gegenwart als eine Zeit der fehlenden kulturellen Selbstversicherung, ohne diese historisch zu datieren. Die beiden zentralen politischen Projekte, die Entwicklung einer europäischen Verfassung und die Erweiterung der EU, werden durch fehlende kulturelle Selbstdefinition als nicht realisierbar betrachtet. Indem Lammert von einer Reaktivierung der kulturellen Dimension der Europäischen Gemeinschaft spricht, impliziert er, dass diese kulturelle Dimension in der Vergangenheit bereits aktiv gewesen sein muss – allerdings, ohne sie
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näher zu bestimmen. Seine Rede wird dagegen mit einer Aussage über den geschichtlichen Status Europas als ideeller Einheit eröffnet: NL-(1)-3: »Die Idee Europa ist älter als die Europäische Gemeinschaft, deren 50-jähriges Bestehen wir im nächsten Jahr gemeinsam begehen werden. Die Berliner Konferenz für Europäische Kulturpolitik ›Europa eine Seele geben‹ ist der organisierte Ausdruck der Einsicht, dass das Eine ohne das Andere weder zu erklären noch zu gestalten ist und dass wir das politische System dieser Gemeinschaft und die Fülle der Organisationen, die wir im Kontext dieser Gemeinschaft in fünf Jahrzehnten entwickelt haben, immer wieder neu begreifen, neu erklären und vor allen Dingen neu gestalten müssen auf der Grundlage dieser tragenden gemeinsamen Idee.«
Die Vorstellung einer Einheit Europas ist somit Teil eines gegenseitigen Vermittlungsprozesses mit der Europäischen Gemeinschaft, der als notwendige und andauernde Tätigkeit eingefordert wird. Damit präsentiert Lammert eine Logik des politischen Projekts EU, deren politische Handlungsfähigkeit von einer kulturellen Selbstdefinition, was denn Europa sei, abhängig ist. Entsprechend fährt er fort: NL-(1)-8: »Und damit wird für mich die auch praktische Bedeutung dieser kulturellen Dimension spätestens offenkundig. Die nicht mehr beliebig lange vertagbare Frage, ob Europa eigentlich Grenzen hat und wo diese Grenzen verlaufen, lässt sich ohne die Vorabklärung der Fragen nicht schlüssig beantworten, als was sich diese Gemeinschaft eigentlich versteht.
Zugleich wird deutlich, dass kulturelle Definitionen als Grenzziehungsprozesse verstanden werden sollen, die stets mit einer Selbstdefinition als Gemeinschaft – und damit per se als ein Verhältnis eines europäischen Innen zu einem nichteuropäischen Außen – einhergehen. Hier werden aus den 50 Jahren Integration allerdings ganz andere Schlüsse gezogen als bei Dienstbier und Leinen. Betonten beide Politiker vor allem die politische Stabilität mit ihren wirtschaftlichen und politischen Folgen, mit der sich das gegenwärtige Europa als einzigartig von der Vergangenheit absetzt, ist es für Lammert gerade Europa als Idee, die jenseits einer politischen Infrastruktur und eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes Relevanz erhält: NL-(1)-8: »Verstehen wir Europa in erster Linie als eine Behörde oder freundlicher formuliert als ein System politischer Institutionen, was den Charme der Veranstaltung nur unwesentlich erhöht, oder verstehen wir Europa in erster Linie als einen Markt, oder
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verstehen wir Europa in erster Linie als eine Idee. Ich plädiere mit Nachdruck und Leidenschaft für die dritte Variante, zumal die erste wie die zweite weder eine hinreichende Sinnstiftung ergeben noch ein verfügbares Kriterium für die Grenzziehung dieser Europäischen Gemeinschaft liefern könnten.«
Es sind eben gerade nicht die unkontrollierbaren Effekte der Globalisierung, die die EU von Innen bedrohen, sondern die fehlende Verständigung über die notwendigerweise zu ziehenden Grenzen der EU, auf denen die Zukunft Europas als politischer Einheit beruht. Gegen eine Selbstdefinition der EU als begrenzter Wirtschaftsgemeinschaft sprechen für Lammert schon die grenzüberschreitenden globalen Wirtschaftsinteressen der Einzelstaaten: NL-(1)-9: »Wenn wir diese Gemeinschaft alleine der Logik ihrer wirtschaftlichen Interessen, der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitgliedsstaaten überlassen wollten, würde sie im Zweifelsfall zu einer kleineren Ausgabe der Vereinten Nationen, jedenfalls fällt mir kaum ein Flecken auf dem Globus ein, auf dem wir nicht ökonomische Interessen hätten.
Ausgehend von der Europäischen Gemeinschaft als politischer Einheit soll die Zukunft der EU in einer Orientierung an gemeinsamen Werten begründet werden, auf denen die Selbstdefinition Europas gründen soll. Sie ist damit mehr als bloß ein supranationales Regulativ, sondern ein Identitätsprojekt und damit in eine grundlegende Dialektik von integrierender Selbstdefinition und exkludierender Grenzbestimmung auf der Basis einer imaginierten gemeinsamen Idee eingebunden: NL-(1)-9: »Die Abgrenzung einer solchen Gemeinschaft nach innen und nach außen kann nur plausibel werden auf der Grundlage einer Idee. Auf der Grundlage von gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen, die die Europäer miteinander teilen und die sie brauchen, wenn sie eine gemeinsame Zukunft miteinander gestalten wollen.
Lammerts Variante teilt mit dem Grundmotiv (Dienstbier) und der Variation 1 (Leinen) einen gemeinsamen Zeitrahmen, in dem vor allem die Phase der politischen Integration Europas nach dem zweiten Weltkrieg als dem zentralen temporalen Horizont aufgespannt wird. Mit dem Gründungsmotiv teilt sie auch eine Charakterisierung der Gegenwart als dahingehend krisenhaft, dass die EU sich nicht beliebig erweitern lasse. Das gründe jedoch in einer fehlenden Selbstdefinition als ideenbasierter Gemeinschaft und nicht in einer unkontrollierbaren Globalisierung. Als Grundlage jener Selbstdefinitionen können dabei ältere Ideen von Europa herangezogen werden – Ideen, die also gerade jener Gegenzeit ent-
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stammen, von der Gründungsmotiv und Variationen die erfolgreiche Geschichte der Europäischen Integration absetzen. Diese kulturelle Einheit, zu der sich Lammert in dieser Rede wenig bis gar nicht äußert3, dient dabei allerdings letztlich der Klärung möglicher Gestaltungsoptionen für die Zukunft der EU, womit wieder an das gemeinsame Anliegen mit dem Gründungsmotiv angeschlossen wird. Insgesamt betrachtet bildet die Position von Norbert Lammert trotz einer gemeinsamen Krisendiagnose die maximale Distanz zum Gründungsmotiv von Dienstbier innerhalb des Narrativs der EU als politischem Projekt: Sie gründet auf einer anderen Gegenwartsbeschreibung (nicht Globalisierung, sondern fehlende Selbstdefinition als Gemeinschaft), einer Ausweitung des Blicks über die politische und wirtschaftliche Einheit auf die Identitätsdimension der EU und in einem positiven Bezug auf die Vergangenheit vor der Montanunion. Sie teilt mit den bereits präsentierten Varianten jedoch 1. 2. 3.
eine ähnliche Periodisierung durch die Referenz auf die Zeit seit der Montanunion, den Fokus auf die Fortführung des politischen Projekts der EU hinsichtlich der Frage möglicher Erweiterungen und schließlich teilt sie mit den Reden die Vorstellung einer Projekthaftigkeit und Unabgeschlossenheit der Europäischen Union, die über den Erhalt eines bereits erreichten Status quo deutlich hinausgeht.
Die in dem Gründungsmotiv und seinen Varianten formulierte zeitliche Periodisierung ist geprägt von dem Doppelereignis »Ende des zweiten Weltkriegs / Gründung der Montanunion«, dem eine dunkle Zeit der illegitimen Herrschaft, des Kriegs und der Unfreiheit vorausgeht. Der Nationalsozialismus bildet den Kulminationspunkt einer Zeit, von der sich nun die 50 Jahre der Europäischen Gemeinschaft als Zeit des Friedens, der Freiheit und auch der wirtschaftlichen Prosperität absetzen. Damit werden zwei unterschiedliche Prozesse in eins gesetzt, die voneinander zu trennen sind: Die Herausbildung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird mit der politischen Institutionalisierung auf suprastaatlicher Ebene verbunden. Die Argumentation, dass eine gemeinsame Wirt3
Lammerts Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf ein spezifisches Verständnis von Kulturpolitik, dass Kulturförderung nicht allein in den Händen des Staates wissen möchte. Obwohl damit eine institutionelle Rahmung von Kultur als typisch europäischem Verständnis geliefert wird, dienen diese Ausführungen eher dazu, den Bruch zwischen politischem Apparat und Zivilgesellschaft zu thematisieren (siehe Abschnitt 5.1.3).
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schaftspolitik der Freiheit und dem Frieden auf dem europäischen Kontinent dienen soll, verkehrt letztendlich auch die zeitliche Struktur: Die Wirtschaftspolitik ging der Schaffung einer Europapolitik, die sich auf die Liberalisierung von Bürgerrechten und der Schaffung suprastaatlicher Institutionen konzentrierte, denen dann auch eine Kontrolle gegenüber den Nationalstaaten zukam, um 40 Jahre voraus. Obwohl eine Entwicklung der EU angedeutet wird, so wird die Abfolge ihrer Stadien zugunsten der historischen Kontinuität ihrer Ziele vernachlässigt. Veränderungen finden dank des politischen Erfolgs vor allem jenseits der EU statt, indem diese auf andere Staaten im Hinblick auf ihre politischen Ziele Einfluss gewinnt. Die Fortführung eines solchen Zustands in der Zukunft erscheint als wünschenswert, aber keineswegs sicher, in der Variante von Norbert Lammert sogar problematisch und bedarf deswegen eigener politischer Anstrengungen, die auf gemeinsamen Ideen beruhen und auf eine Selbstdefinition zielen, an der sich eine Europäische Identität ausbilden können soll. Die diesem Narrativ zugrunde liegende zeitliche Periodisierung zeigt zudem, dass die drei Formationsregeln untrennbar miteinander verknüpft sind: Wenn von der Geschichte der europäischen Integration gesprochen wird, so werden gleichzeitig Innen-Außen-Differenzierungen vorgenommen: Das adressierte Europa fällt mit den politischen Grenzen der Europäischen Union zusammen. Und die Geschichte Europas wird bereits hier als eine Geschichte der kontinuierlichen Entfaltung von politischen Werten und eines bestimmten Verhältnisses von Staat und Zivilgesellschaft präsentiert, bzw. der Entfaltung dieser kulturellen Spezifik innerhalb eines geographischen Rahmens. Über die zeitliche Periodisierung werden territoriale Grenzen eingeführt und die territorialen Grenzen markieren den Geltungsbereich der Referenzobjekte. 5.1.2 Kulturelle Allianzen, politische Antagonismen und Außenräume Wenn die EU als Projekt erscheint, so ist bereits eine zeitliche Differenzierung vorgenommen worden: die des Ursprungs in Form der Gründung der Montanunion. Mit den Mitgliedsstaaten Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Deutschland und Italien ist damit auch eine geographische Einheit mit eindeutigen Grenzen bestimmt, die mit den Grenzen der beteiligten Nationalstaaten zusammenfallen. Die in den darauffolgenden Jahrzehnten erfolgende Expansion zeigte jedoch nicht nur, dass die Grenzen zunächst der EG, später der EU variabel sind. Das ist zwar erst einmal unproblematisch, da mit dem Beitritt weiterer Staaten sich eben auch das geographische Territorium erweitert. Bevor sich
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jedoch die geographischen Grenzen verschieben, muss eine weitere, diesmal diskursive Grenze gezogen werden: Welche Staaten werden überhaupt als mögliche Beitrittskandidaten gehandelt und auf welcher Grundlage wird ihnen dieser Status anerkannt? Genau darauf zielte ja auch die Aussage von Norbert Lammert, wenn er die Idee Europas zur Grundlage der Europäischen Gemeinschaft erklärt. Neben das relativ klar umgrenzte Gebilde »Europa als EU« tritt ein diskursives Gebilde »Europa als Idee«. Es stellen sich daher zwei Fragen: Wie wird dieses »Europa als Idee« bestimmt? Wer wird also zur Gemeinschaft Europas gerechnet und wer nicht, d.h. was erscheint als Innen und Außen der Differenzierung? Und werden neben den territorialen Grenzen der EU weitere Differenzierungen artikuliert? Welche Differenzierungsform wird jeweils vorgestellt? Werden die Seiten konfliktiv oder antagonistisch gedeutet und werden daran Konkurrenten oder Partner unterschieden? Inwieweit werden damit schließlich Hierarchisierungen eingeführt? Variante 3 (Georges Soros) Eine Antwort lieferte der amerikanische Unternehmer und Gründer des Open Society Institutes, Georges Soros. Er präsentierte eine Rede, deren zeitliche Konstruktion an das Gründungsmotiv der Europäischen Integration als Gegenprojekt zum Nationalsozialismus anschließt und damit zum Korpus jener Reden gehört, in denen das Narrativ »Europa als politisches Fortschrittsprojekt« entwickelt wird: GS-8: »Der Zweite Weltkrieg endete mit der Niederlage des Nazi-Regimes und seiner Ideologie. Europa wurde mit großzügiger Hilfe der Vereinigten Staaten wieder aufgebaut und schließlich wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der zur Bildung der Europäischen Union führte.«
Soros lenkt dabei die Aufmerksamkeit weg von den »Gründungsvätern« und hin zu den Allianzen und Gegnern Europas: Der Nationalsozialismus wird als konstitutives, wenn auch nicht mehr existentes Außen benannt. Durch die Verbindung des Nationalsozialismus mit den Begriffen ›Regime‹ und ›Ideologie‹ wird dieses historische Außen als politische Einheit charakterisiert, zu dem sich eine zunächst nicht näher beschriebene Binnenseite der Grenze in einem Kriegszustand befand, für den der Zweite Weltkrieg selbst nur den Endpunkt der Auseinandersetzung bildete. Mit Deutschland verlor nicht nur ein Land, sondern ein ganzes politisches System erlebte die Niederlage. Unausgesprochen bleiben aber auch die europäischen Siegermächte.
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Gleich im nächsten Satz wird jedoch Europa explizit eingeführt. Und zwar als ein Gebiet, das aus dem zweiten Weltkrieg mit einem Souveränitätsverlust hervorging, sodass ihm eine dritte Instanz helfen musste: die Vereinigten Staaten. Diese werden als potent und generös beschrieben, lassen sich somit als Sieger verstehen, die es Europa erst möglich machten, so etwas wie eine EU anzustreben – der Wiederaufbau Europas durch die USA wird zur notwendigen Vorbedingung der europäischen Integration, die hier mit dem Verweis auf die EU auch weniger als wirtschaftliche Erfolgsgeschichte denn als erfolgreiche politische Einigung angezeigt wird. Schließlich ermöglicht hier auch ein Staatenbund – Soros spricht von den Vereinigten Staaten und nicht von »Amerika« – die Bildung eines weiteren Staatenbundes: Man befindet sich auch hier auf der Bühne politischer Projekte. Zwei Differenzierungen werden von Soros eingeführt: Einmal ein historischpolitischer Antagonismus, der aus dem Untergang des Nazi-Regimes eine notwendige Bedingung für die EU macht. Dieser Antagonismus fungiert daher als eine fundamentale Grenze, die das Nazi-Regime als nicht mehr existentes Anderes präsentiert, zu dem keine Verbindung eingegangen werden kann. Zudem thematisiert Soros eine geopolitische Partnerschaft, die in der Aufbauhilfe durch die USA eine hinreichende Bedingung für die EU sieht. Dieser Allianz ist ein Souveränitätsgefälle eingeschrieben, in dem Europa als der Hilfe bedürftig und die USA als zur Hilfe fähig, aber nicht zur Hilfe gezwungen, beschrieben werden. Mit dem politischen Zweck eines rationalen Gemeinwesens betont Soros ebenfalls die Modernität der EU, der es um eine Optimierung der Gesellschaft gehe. USA und Europa, geführt von Eliten als Handlungsträgern der europäischen Erfolgsgeschichte, sind in einem Prozess des inkrementellen Fortschritts durch sozialtechnologische Unternehmungen miteinander verbunden. Sozialer Fortschritt durch schrittweise Entwicklung auf begrenzte Ziele hin und der Verweis auf das Konzept einer offenen Gesellschaft als Kernelement der EU lassen diese als politisches Projekt sichtbar werden. GS-9: »Die Europäische Union entstand durch einen Prozess des schrittweisen ›Social Engineerings‹, also des Bemühens, die menschliche Gesellschaft mit rationalen Mitteln zum Besseren zu gestalten, eine Methode, die Karl Popper als einer offenen Gesellschaft angemessen betrachtete. Dieser Prozess wurde durch eine weitblickende und entschlossene Elite geleitet, die erkannte, dass Vollkommenheit unerreichbar ist. Man ging schrittweise ans Werk, setzte sich begrenzte Ziele innerhalb begrenzter Zeiträume und tat dies im vollen Bewusstsein, dass sich jeder Schritt als unzulänglich erweisen und einen weiteren Schritt erfordern würde.«
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Im Gegensatz zu den intrinsischen Motiven der Gründungsväter (Frieden, Freiheit, Wohlstand) werden von Soros die globalen extrinsischen politischen Motive hervorgehoben. Es verwundert also kaum, dass er die Innenseite der Differenzierung (das hilfebedürftige Europa) unter dem Gesichtspunkt der durch die USA implementierten politischen Rationalität einer »offenen Gesellschaft« thematisiert: GS-8: »Die Europäische Union verkörpert die Prinzipien einer offenen Gesellschaft in bemerkenswertem Ausmaß, obwohl diese Prinzipien noch nicht in einer Verfassung festgeschrieben sind.«
Gegenüber der politischen Allianz EU-USA, die deutlich durch ein Machtgefälle zugunsten der USA gekennzeichnet ist und die sich durch die gemeinsame totale Grenze zum vergangen Nazi-Regime auszeichnet, führt Soros schließlich als vierte Instanz die Sowjetunion als einen politischen Gegner ein, der sich, solange er existierte, zugleich als fördernde Rahmenbedingung der EU erwies: GS-9: »Begünstigt wurde dieser Prozess zunächst durch die von der Sowjetunion ausgehende Bedrohung und später durch die Globalisierung der Ökonomie, die eher größeren Wirtschaftsräumen zugutekam. So wurde die Europäische Union aufgebaut: Schritt für Schritt.«
Die Grenze zur Sowjetunion wird zwar eindeutig als Bedrohung benannt, hat jedoch die politische Folge, dass aus dieser Konstellation territoriale Zusammenschlüsse ökonomischer Art entstanden. Die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Lücke wird in ihrer Funktion – Motor für Allianzbildung – auch sofort durch die Globalisierung als generalisierten Konkurrenzmechanismus ersetzt. Die dritte eingeführte Grenze hat somit eine katalysierende Funktion und festigt die Europäische Union als Zusammenschluss von Staaten. Im Hinblick auf die artikulierten Innen-Außen-Differenzierungen finden sich bei Soros vier aufeinanderfolgende Versionen, welche die Zeit seit 1945 strukturieren und die zugleich auf einer grundlegenden Allianz zwischen Europa und den USA basieren: Die zerstörerischen Folgen des zweiten Weltkriegs erzeugen einen historisch-politischen Antagonismus zwischen dem Europa der Nachkriegszeit und dem Nationalsozialismus, der die USA als Helfer in der Not auf den Plan ruft. Mit den USA wird eine geopolitische Partnerschaft eingegangen, die durch ein Souveränitätsgefälle charakterisiert ist, sich aber in einer gemeinsamen Sozialtechnologie einig weiß. Die Grenze wird daher als asymmetrische Allianz
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konzipiert, die zu symmetrischen politischen Formen führt: zu politischen Zusammenschlüssen im Sinne eines Staatenbundes. Zur Sowjetunion besteht ein katalytischer Antagonismus: Die Sowjetunion wird als politische Bedrohung zwar ebenfalls ausgegrenzt, letztlich stärkt dieser Antagonismus jedoch den Zusammenhalt zwischen den USA und den europäischen Staaten einerseits, zwischen den europäischen Staaten untereinander andererseits. Diese Katalysatorfunktion wird nach 1991 von der wirtschaftlichen Globalisierung übernommen. Politische Grenzen werden zunächst nicht weiter thematisiert, aber im Sinne eines ökonomischen Wettbewerbs wird der Erhalt der Europäischen Union in ihrer Allianz mit den USA zumindest nicht bedroht. Diesen vier historischen Differenzkonstellationen wird von Soros schließlich eine krisenhafte Gegenwartsbeschreibung gegenübergestellt, die die Allianz der EU mit den USA grundlegend verändert haben soll. Eine erste Krise betrifft die EU in ihrer inneren Konstitution: GS-10: »Dieser Prozess ist nun zum Erliegen gekommen. Der Europäischen Verfassung, die wohl in jedem Fall ein überehrgeiziger Schritt gewesen sein mag, wurde durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden eine Abfuhr erteilt. Somit befindet sich die Union in einem unhaltbaren Zustand mit 27 Mitgliedern und einer Führungsstruktur, die ursprünglich für 6 Mitglieder ausgelegt war, aber mit 15 Mitgliedern noch funktionierte. Der politische Wille, den Prozess voranzutreiben ist geschwunden. Die Erinnerung an vergangene Kriege verblasst und die Bedrohung durch die Sowjetunion ist abhandengekommen. Die existierenden Strukturen sind zu schwerfällig und die Unzufriedenheit mit der derzeitigen Situation könnte leicht zur Entstehung eines politischen Willens in die Gegenrichtung führen. Genau das geschieht jetzt auch. Nationalistische, fremdenfeindliche und antimuslimische Emotionen sind fast überall auf dem Vormarsch und werden durch die gescheiterte Integration von Einwanderern noch verschärft.«
Die Erfolgsgeschichte der EU auf der Grundlage des »Social Engineering« ist vorerst zu Ende. Der Verfassungsvertrag ist gescheitert; die EU verfügt über keine Steuerungskapazitäten, die der gegenwärtigen Größe angemessen sind, und der Verlust der politischen Grenzen zu den totalitären politischen Systemen selbst hat zu einer Erosion des politischen Bewusstseins für eine offene Gesellschaft geführt, die nun mit antidemokratischen Einstellungen in der Bevölkerung bezahlt werden. Interessant ist zudem das Auftauchen weiterer Grenzen: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und antimuslimischen Emotionen. Diese werden als eine der EU interne Problematik verstanden und mit einer »gescheiterten Integration«, also einem Versagen der Innenpolitik erklärt. Diese Grenzen sind
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zudem antimodern in dem Sinne, als sie auf partikularen Differenzen (Fremdheit, Nationalität und Religion) basieren – Grenzen, die durch das Projekt der Europäischen Union im Sinne einer offenen Gesellschaft gerade als Ursachen für Konflikte überwunden werden sollten. Diese Krise verändert somit den Status der EU in der Allianz mit den USA. Die zweite Krisendiagnostik von Soros betrifft die USA, die aufgrund des politischen Handelns der Bush-Administration ihre Machtposition verloren: GS-13: »In der Vergangenheit waren die Vereinigten Staaten die Führungsnation der freien Welt. Sie waren am Ende des Zweiten Weltkrieges ebenso dominant wie nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Damals allerdings nutzten die USA ihre Führungsrolle, um die Vereinten Nationen und die Bretton-Woods-Institutionen zu gründen und den Marshall-Plan auszuarbeiten. Das machte Amerika groß. Die Bush-Doktrin und der Krieg gegen den Terror waren ein drastischer Bruch mit dieser amerikanischen Tradition. Die Welt verlor ihre führende Nation und befindet sich nun in Unordnung.«
Die USA, einst Garant politischer und ökonomischer Stabilität, haben sich durch die Hand des Präsidenten selbst entmachtet. Indem sie statt auf Allianz auf Konflikt und Krieg setzten, verloren sie auch ihre weltpolitische Vormachtstellung, die von keiner anderen Nation und keinem anderen Staatenbund aufgefangen werden kann. Die Allianz zwischen den USA und der EU besteht weiterhin, aber sie ist selbstverschuldet machtlos geworden, gerade weil die politische Klasse sich von den politischen Strategien lossagte, die den USA ihre weltpolitische Bedeutung ermöglichten, nämlich der Schaffung von verbindlichen und verbindenden Elementen. Stattdessen zog George W. Bush mit seiner Politik der Präventionskriege eine neue, problematische Grenze, die zum Verlust der USamerikanischen Vormachtstellung führte. Aus beiden Krisendiagnosen folgt daher auch, dass die Allianz EU-USA nicht dazu in der Lage ist, diese politische Leerstelle zu füllen, denn: GS-14: »Die Europäische Union kann wohl nicht als führende Kraft auf der Welt in die Fußstapfen der Vereinigten Staaten treten.«
In der Variante von Georges Soros taucht also eine fünfte Innen-AußenDifferenzierung auf, in der die Allianz sich nun einem antagonistischem Doppelkonstrukt gegenübergestellt sieht. Einem absoluten Außen in den Formen des Terrors und nichtdemokratischer Staaten einerseits, aber auch einem inneren Außen, nämlich einem erstarkten Nationalismus innerhalb der EU-Staaten selbst: Mit dem ersten politisch-religiösen Antagonismus hat jedoch die EU aufgrund
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ihrer Allianz mit den USA zu kämpfen, während sich die EU durch eine, gemessen an den zur Verfügung stehenden Steuerungskapazitäten, vorschnelle Grenzerweiterung selbst blockiert und dank einer fehlenden Vermittlung der eigenen politischen Ideen durch die Gespenster bereits überwunden geglaubter politischer Antagonismen nationaler Art heimgesucht wird. Innen-Außen-Differenzierungen werden in der Rede von Soros also im Wesentlichen als anhängig zum politischen Projekt der Europäischen Union formuliert (siehe Tabelle 6). Tabelle 6: Innen-Außen-Differenzierung in der Rede von Georges Soros
Innen
Außen
Differenzierungsform
1.
Nachkriegseuropa
Nationalsozialismus
2.
Europa
USA
3.
Europa
Sowjetunion
4.
EU
Globalisierung
5.
Krisenhafte Allianz zwischen EU und USA
a. Absolutes Außen:
Historisch-politischer Antagonismus Asymmetrische geopolitische Allianz Katalytischer politischer Antagonismus Katalytische Konkurrenz Politisch-religiöser Antagonismus
Terror, nichtdemokratische Staaten b. Inneres Außen: Nationalismus
Als politische Antagonismen stehen sich zunächst Europa und der Nationalsozialismus (1.), später Europa und die Sowjetunion (3.) und gegenwärtig eine geschwächte europäisch-amerikanische Allianz und nichtdemokratische resp. nationalistisch motivierte politische Akteure gegenüber (5.). Die geopolitische Allianz mit den USA (2.), gekennzeichnet zunächst durch ein asymmetrisches Machtverhältnis, bleibt auch in der Zeit nach dem Kollaps der Sowjetunion erhalten, in der die erfolgten Differenzierungen dank der Globalisierung mit ihren ökonomischen Konkurrenzen (4.) stabilisiert wurden. Diese Allianz ist aber in der Gegenwart durch politisches Fehlverhalten sowohl der USA als auch der EU in die Krise geraten (5.), die zu einem weltpolitischen Machtverlust der Allianz EU-USA führt, wobei dieser Machtverlust nicht durch eine starke EU aufgefangen werden kann.
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Variante 4 (Elmar Brok) Während Georges Soros die Innen-Außen-Differenzierungen von einem außereuropäischen Standpunkt als die für die EU wichtige Allianz mit den USA beschrieb, betonen andere Sprecher dessen Differenzierungen aus der Binnenperspektive. So etwa Elmar Brok, Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des EU-Parlaments: ElB-4/5: »[…]als ich Bazon Brock hörte, fiel mir ein Wort von Voltaire aus der Aufklärung ein, der mal gesagt hat: ›Vier Fünftel der Kultur der europäischen Völker ist dieselbe. Nur ein Fünftel unterscheidet uns jeweilig.‹ Ich glaube, das ist eine der großen Sünden der Nationalstaaten der Vergangenheit gewesen, dass Populisten, Diktatoren und andere dieses eine Fünftel benutzt haben, zu erklären, an welcher Stelle man selbst besser als die anderen ist, größer als die anderen ist. Man hat dann daraus versucht, die Konfrontation zu legitimieren. Ich glaube, Europa muss genau darauf die Antwort finden. Das, was im Entwurf des Verfassungsvertrages steht und hier von der Frau Kommissarin zitiert wurde: ›Einheit in Vielfalt‹, ist die Antwort darauf. Das, was uns unterscheidet, unterscheidet uns nicht dadurch, dass man sagt, der eine ist besser als der andere, sondern das Unterscheidende ist gemeinsamer Reichtum, ist die Sahne auf dem Cappuccino. Wenn wir das begreifen, dass dieses Gemeinsame uns reicher macht in der Vielfalt, dann haben wir ein ganzes Stückchen gewonnen.«
Erneut lassen sich hier die Äußerungen finden, die es erlauben, die Rede dem Narrativ »Europa als Fortschrittsprojekt« zuzuordnen: Die konfliktive Zeit der Nationalstaaten wird mit der Zeit der EU kontrastiert und es werden Aufgaben für die Zukunft formuliert, denen sich die EU als politische Gemeinschaft stellen muss. Differenzierungen werden hier aber in zwei Richtungen ausgelegt: Eine antagonistische Grenze ist wieder politisch, im ausschließend-totalen Sinn, wie sie Soros gegenüber dem Nationalsozialismus formuliert: In der Vergangenheit hätten Nationalstaaten einen minimalen Unterschied, jenes »Fünftel der Kultur«, ausgenutzt, um Kriege und Konfrontationen zu ermöglichen und Hierarchien zwischen den Völkern zu postulieren, eben jene Antagonismen, in denen Soros dann die wiederauftauchenden Gespenster des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit erkennt. Auch Brok begreift dieses Denken als Problem der Gegenwart, dem sich Europa stellen und auf das es »eine Antwort finden« müsse. Darüber hinaus wird von Brok gleich eine ganze Reihe an internen Differenzen angesprochen, die Europa nun im Sinne einer nicht-politischen Einheit auszeichnen. Diese Differenzen werden als egalitär betrachtet, als positive Unterscheidungen, die der Einheit erst ihren spezifischen Wert verleihen. Die internen
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Differenzierungen würden von allen in Europa geteilt und zur Formel »Einheit durch Vielfalt« verdichtet – Simmels Vorstellung von Kultur als »entfaltete Einheit« ist nicht fern. Auch hier wird also implizit wieder auf eine gemeinsame pluralistische Konzeption Europas Bezug genommen. Die Aufforderung, dass die EU jedoch eine Antwort auf die Frage nach nationalen Konkurrenzen und als politische Gemeinschaft notwendig sei, um politischen Fortschritt zu garantieren, macht zugleich sichtbar, dass für Brok die Anerkennung dieser Vielfalt eher Anspruch denn Realität ist. ElB-5: »Die Europäische Union versucht dieses, wenn sie vom Zivilisatorischen gesprochen haben, auch in einer Reihe von Bereichen aufzunehmen. Deswegen bin ich Frau Kommissarin sehr dankbar, dass sie hier den Begriff der Rechtsgemeinschaft eingeführt hat. Die Europäische Union ist die erste internationale Organisation, die auf der Grundlage einer Rechtsgemeinschaft arbeitet. Das macht ihren Erfolg aus. Das ist die Grundlage ihres Erfolges. Dadurch, dass man diese Rechtsgemeinschaft auf eine vernünftige Art und Weise unter der Anerkennung der Gleichwertigkeit von großen und kleinen, armen und reichen Nationen zusammenfügt und dies auch mit einer solidarischen Politik verbindet, hat man auch im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union in gleicher Maßen Frieden, Freiheit, Wohlfahrt und Stabilität ausgebreitet, wie es das niemals in der Geschichte dieses Kontinentes gegeben hat. Ich glaube nirgendwo sonst in dieser Art und Weise jemals gegeben hat.«
Der Abschnitt präsentiert wieder die Vorstellung von der EU als einzigartigem Friedens-, Freiheits- und Wirtschaftsprojekt, wie sie auch von JiĜí Dienstbier und Jo Leinen präsentiert wurde, bei denen die Zeit der EU radikal von ihrer Vorgeschichte unterschieden wird. Was die Einheit der EU trotz der internen Differenzen garantiert, ist bei Elmar Brok deshalb die politische Verfassung als Rechtsgemeinschaft. Sie nivelliert die vorhandenen Unterschiede der Nationen und erzeugt eine Zusammengehörigkeit und gegenseitige Verpflichtung und ist deshalb die politische Grundlage des Erfolges der EU: ElB-5: »Deswegen ist die Frage der Erweiterung der Europäischen Union die Frage der Erfolgsgeschichte der Europäischen Union, um dieses Europa in sich friedlich zu organisieren.«
Doch in Formulierungen wie »wenn wir begreifen«, »eine Antwort finden müssen«, »Frage der Erweiterung« wird doch auch die Möglichkeit eines Scheiterns mitgeführt, dem sich die gegenwärtige EU ausgesetzt sieht. Dieses mögliche Scheitern wird auch gleich im Anschluss konkretisiert:
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ElB-6: »Wir müssen natürlich auch sehen, wo die Grenzen sind, wenn so etwas zu weit geht. Das ist die Diskussion, in der wir jetzt sehen, dass das dann zum overstretching führt und der Laden auseinander fliegt. Wir müssen sehr genau definieren, in welchem Umfang wir weitergehen können. Oder, ob wir nicht andere Mechanismen anwenden müssen.«
Hier trifft sich Brok mit der Krisendiagnose von Georges Soros, dass man ohne Rücksicht auf die politischen Grundlagen weitere Staaten hinzugezogen habe. Er radikalisiert sie sogar noch: Wo Soros eine politische Blockade sieht, wähnt Brok schon den Kollaps des institutionellen Gefüges und fordert Kriterien für kommende Beitritte und auch politische Alternativen. ElB-6: »Das Thema der Nachbarschaftspolitik wurde hier angesprochen. Wo ist die europäische Perspektive, die wichtig ist, dass Gedanken der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie auch in diesen Völkern vorankommen? Wir verbinden dies mit dem Gedanken der europäischen Perspektive, um so den inneren Prozess dieser Länder zu ermöglichen. Das gilt für Osteuropa und den Balkan und in vielen anderen Bereichen. In einer besonderen Art auch für den Mittelmeerraum. Es ist eine wichtige Angelegenheit für diese Völker, aber auch für uns.«
Aber wer wird hier als Beitrittskandidat gehandelt, d.h. als Außenraum dieser europäischen Perspektive, die mit der EU zusammenfällt? Dieser Außenraum wird mit Osteuropa – d.h. mit Ländern wie Belarus, der Ukraine und Moldawien – und dem Balkan identifiziert. Die »vielen anderen Bereiche« können vor dem Hintergrund einer sehr breiten Europadefinition dann noch die Türkei und jene Staaten sein, die vorwiegend orthodox geprägt sind, z.B. Armenien, Georgien oder Aserbaidschan. Ungeachtet tatsächlicher Anwartschaft auf einen EUBeitritt wird diese (Süd-)Ost-Grenze aber noch in einem weiteren Sinne ausgeweitet: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden als politische Grundlagen nicht nur von möglichen Beitrittskandidaten erwartet, sondern sie sollen auch solchen Staaten vermittelt werden, die nicht Teil der EU werden können. Die Anrainerstaaten des Mittelmeers sollen sich ebenfalls in Richtung Rechtsstaatlichkeit entwickeln. Das europäische Projekt reicht somit weit über die geographischen Grenzen Europas hinaus. Die hier formulierte Grenze changiert also zwischen zwei Bedeutungen: einerseits markiert sie die politische Grundbedingung für den Beitritt zur EU, andererseits wird sie als variabler Grenzpfosten begriffen, den man immer weiter nach außen zu verschieben sucht, unabhängig davon, ob die anvisierten Nachbarn in das Projekt des Staatenbundes integriert werden sollen. Brok mobilisiert hier letztlich ein Bild von Europa als Heilsbringerin der politischen Zivilisation und des Fortschritts.
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In der folgenden längeren Passage werden die zu bearbeitenden geographischen Grenzen noch spezifiziert: ElB-7/8: »Wir müssen jetzt definieren, wie es für Europa weitergeht und wie Europas Rolle in der Welt ist. Was passiert, wenn wir kein Verhältnis zu Russland finden und die Energie wirklich zur Waffe gemacht wird? Was passiert, wenn die Amerikaner geschwächt aus Afghanistan und dem Irak herausgehen? Was passiert dort in der gesamten Region? Wie reagieren wir darauf, dass China Afrika-Gipfel durchführt und die Menschenrechtsklauseln in der Europäischen Union in den Verträgen obsolet werden, weil man auch andere Verträge zustande bringt? Ist es nicht eine Notwendigkeit, dass die zivilisatorische Kraft der Europäischen Union aus dieser Rechtsgemeinschaft heraus auch mit den Werten, die in der Charta der Grundrechte des Verfassungsvertrages stehen, verbunden ist und dieses in einer operationellen Politik umsetzt, die Interessen, die Werte und das Recht miteinander in Verbindung bringt?«
Wieder ergeben sich Übereinstimmungen mit der Position von Georges Soros. Die ungeklärte Verfassung der EU erweist sich als problematisch sowohl für die Zukunft der EU in ihrer politischen Struktur wie auch für die EU im Verhältnis zu ihrem Außen: Russland wird wie einst die Sowjetunion als Bedrohung beschrieben, das seine Energie-Ressourcen als Waffe gegen die EU einsetzen könnte; die Allianz mit den USA wird problematisch, wenn diese dank der Politik von Präsident Bush an weltpolitischer Macht verliert; Rechtsstaatlichkeit und die »zivilisatorische Kraft« der EU – was hier durchaus als eine distinktive, hierarchisierte Selbstbeschreibung gelesen werden kann – könnten von den Staaten Afrikas, an denen die EU ökonomische Interessen besitzt, aus den Kooperationsbedingungen getilgt werden, wenn die EU plötzlich mit China konkurrieren muss. Die Ausweitung des politischen Projekts einer freiheitlichen, friedlichen und ökonomisch stabilen Gesellschaft auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit, verlangt nach einer Neubestimmung außenpolitischer Strategien, die sich auf eine Veränderung des Machtgefüges in der Allianz mit den USA stützt: ElB-9/10: »Ist es nicht notwendig, dass wir hier Stärken entwickeln? Dadurch, dass wir auch militärische Stärken gemeinsamer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln, werden wir gesprächsfähig. Das scheint mir der einzige Weg zu sein, mit den Vereinigten Staaten ein Gespräch zu führen, dass die Lösung der Probleme dieser Welt – von Terror und manchem anderen – nicht allein mit militärischen Mitteln zu erreichen ist.
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Prävention, ziviles Krisenmanagement und militärische Fähigkeiten gehören zusammen. Wobei Prävention das Wichtigste ist. Die Europäische Union stellt 20% des Welthandels sowie 58% der humanitären Hilfe und der Entwicklungshilfe dieser Welt. Die Europäische Union gibt aus ihrem Haushalt dreimal soviel Geld für Auslandshilfe aus, wie die Vereinigten Staaten aus ihrem Haushalt ausgeben. Müssen wir nicht aus einem solchen Zustand heraus in der Lage sein, ein neues transatlantisches Verhältnis zu entwickeln? Ich glaube allein die Europäische Union kann dieses, um in der veränderten Welt die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass man gemeinsam, auch gemeinsam mit Russen und im Rahmen eines multilateralen Verbandes der Vereinten Nationen im Nahen Osten und vielen anderen Bereichen für Frieden sorgt. Es gibt entsprechende Ansätze. Das muss vom einzelnen Nationalstaat erkannt werden.«
Die neuen Kriege der USA im Rahmen ihres Anti-Terrorkampfes bedürfen einer gemeinsamen Korrektur, die zugleich der EU ein stärkeres Gewicht gibt und die Konflikte mit Russland minimiert. Dies müsse mit den USA diplomatisch ausgehandelt werden, wofür Brok auch sogleich die Argumente liefert: die weltökonomische Stärke der EU, ihre überproportionale Beteiligung an Entwicklungshilfe und humanitären Einsätzen. Wie Georges Soros betont Elmar Brok die Außengrenzen des politischen Gebildes EU. Die vergleichsweise geringe Binnendifferenz zwischen den Staaten der EU und ihre gemeinsame Fundierung in der Rechtsgemeinschaft betonen die Differenz zu den möglichen Beitrittskandidaten und zu solchen Staaten innerhalb und außerhalb Europas, in denen die EU politische und ökonomische Interessen verfolgt. Der Erfolg der Durchsetzbarkeit der politischen Ideale der EU in Ländern, die noch kein entsprechendes politisches System entwickelt haben, ist zudem an eine Neujustierung der Allianz mit den USA geknüpft, in der die EU künftig eine stärkere Position erhalten soll. Aus ihr folgt dann auch eine größere weltpolitische Wirkung der EU, der ihr aufgrund des Engagements als Hort der Zivilisation auch zusteht. Unklar bleibt jedoch, wie die EU dadurch die Frage nach den eigenen Grenzen beantworten soll. Fasst man die hier präsentierten Artikulationen von Innen-AußenDifferenzierungen zusammen, so zeigt sich, dass diese sowohl historisch als auch geographisch und politisch gezogen werden (Tabelle 7):4
4
Gudrun Quenzel (2005) kommt in ihrer Arbeit zu den Konstruktionen Europas zu einer fast identischen Interpretation der Gegenräume, welche die USA, Osteuropa und den Balkan umfassen. Analog spricht sie von internen und externen Anderen, wo hier von absoluten Außenräumen und Grenzräumen gesprochen wird.
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Tabelle 7: Innen-Außen-Differenzierungen und zeitliche Periodisierung im Narrativ »Europa als Fortschrittsprojekt« Differenzierungsform Historischer Antagonismus
Historischpolitischer Antagonismus Geopolitische Allianz Katalytischer Antagonismus Katalytische Konkurrenz absoluter Außenraum Territoriale Grenzräume
Innen
Außen
Frieden und Wohlstand in der EU EG/EU
Kriegerische Konkurrenz unter Nationalstaaten Nationalsozialismus
EU
USA
EU
Sowjetunion
EU
Globalisierung
seit 1991
EU USA
Terror Russland China Beitrittskandidaten Anwärterstaaten Balkan arabischer Raum
seit 2001
EU
Zeitliche Periodisierung vor 1945
ab 1945/1951
ab 1945 1945-1991
seit 2004
Die wechselnden Antagonismen zeigen, dass sich die drei Grenzziehungen überlagern können: Der historische Antagonismus zwischen dem Europa der Nachkriegszeit und der Zeit vor 1945 bezieht sich auf das gleiche geopolitische Territorium und unterscheidet im Sinne einer Modernisierungstheorie zwischen einer rückschrittlichen Politik der nationalstaatlichen Konfrontation und einer fortschrittlichen Politik der »Gründungsväter«. Der politisch-historische Antagonismus funktioniert ähnlich, insofern sich die EU gegen den Nationalsozialismus positioniert und damit zwei unvereinbare politische Systeme gegenüberstellt. Die Differenzierungsform operiert jedoch nicht territorial im Sinne eines geographischen Innen und Außen des Nationalsozialismus, sondern sie verweist auf den Unterschied zwischen einem Europa als Ort des Fortschritts und einem historisch zentralen nicht-demokratischen System der Vergangenheit. Der katalytische Antagonismus mit der Sowjetunion hingegen basiert gleichermaßen auf
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einer historischen, politischen und territorialen Differenzierung: In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und bis zum Ende der Sowjetunion 1991 stehen sich zwei politische Blöcke gegenüber, die zudem auch noch die geographische Unterscheidung in Ost und West mitreferenzieren. Eine besondere geopolitische Differenzierung bildet die geopolitische Allianz mit den USA, die als wichtiges Bündnis den gesamten Zeitraum seit 1945 überdauert, auch wenn diese Allianz in ihrer gegenwärtigen Verfassung als geschwächt begriffen wird – ein Resultat einer als falsch begriffenen Außenpolitik der USA einerseits, aber auch der vorschnellen Expansion der EU andererseits. Beide Bündnispartner sind aber prinzipiell Vertreter eines gemeinsamen politischen Systems, und sie sind aufgrund ihrer kontinentalen Definition auch geographisch-territorial klar begrenzt. Die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird von den Rednern durch unterschiedliche Differenzierungen charakterisiert: Zunächst wird eine katalytische Konkurrenz zwischen Europa und dem Rest der Welt behauptet, die der EU wirtschaftlich und politisch eine Stabilität ermöglicht. Die EU als Wirtschaftsraum steht in Konkurrenz zu anderen Wirtschaftsräumen (etwa China, Afrika und Nordamerika), die als Außen einer Globalisierung fungieren. Dazu kommen zwei Außenräume: Einmal ein absoluter Außenraum, der sich gegenüber der Allianz EU-USA durch die Zuschreibung von Terror und fehlender Demokratie konstituiert. Dieser Außenraum setzt sich zum Teil aus Staaten (also politisch-territorialen Einheiten) zusammen, er kann sich aber auch auf politische Bewegungen oder Religion beziehen. Schließlich wird noch ein territorialer Grenzraum definiert, der sich zum einen aus solchen Staaten zusammensetzt, die entweder als Beitrittskandidaten oder als Anwärter auf Beitrittsverhandlungen gelten (vorwiegend Ost- und Südosteuropa). Zum anderen kommen mit dem Balkan und dem nicht-europäischen (Arabisch sprechenden) Mittelmeerraum zwei geographische Einheiten hinzu, die als politisch problematisch begriffen werden, indem diesen ein Defizit an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zugeschrieben wird. Deutlich wird dies an den unerwähnt gebliebenen Staaten, die nicht Teil der EU sind, d.h. vor allem dem Norden und Nordwesten (v.a. Island, Grönland, Norwegen, Faroer) und Ländern in Westeuropa (z.B. Schweiz, Liechtenstein). Die territorialen Grenzen werden also nur dann problematisiert, wenn die Grenze Gebiete markiert, die Anspruch auf Teilhabe an der EU erheben oder ein politisches Konkurrenzprojekt darstellen. Insofern operiert dieses Narrativ ganz klar in einem politischen Rahmen.
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5.1.3 Verfassungsvertrag, politische Klasse und Zivilgesellschaft: Governing the Bottom-Up I An den Innen-Außen-Differenzierungen eines Narrativs, welches das politische Projekt der EU ins Zentrum rückt, wird zugleich auch dessen zentrales symbolisches Referenzobjekt problematisch: Das Scheitern des Verfassungsvertrags zeugt von der Gefahr eines Auseinanderdriftens von Politik und Zivilgesellschaft. Die kontinuierliche Weiterentwicklung des um die Werte Frieden, Freiheit und wirtschaftlichen Wohlstand zentrierten politischen Projekts einer offenen Gesellschaft scheint von diesem Bruch zwischen politischer Klasse und Zivilgesellschaft bedroht zu sein. Zu den geographischen und zeitlichen Konturen kommen diskursive Qualifikationen der Binnenseite. Schon die vorgenommene zeitliche Periodisierung war nicht ohne die Benennung zentraler politischer Werte (Freiheit, Frieden, Fortschritt, Wohlstand) möglich, die das Handeln der Gründungsväter der europäischen Integration bestimmt haben sollen. Die Akteure einer Arena können politische Handlungsperspektiven nicht allein dadurch entwerfen, dass sie ihre Grenzen artikulieren. Politische Identitäten mögen Differenzkategorien sein, d.h. sich gegen andere Positionen abgrenzen, die Aussagen fallen dabei aber nicht nur im Sinne einer Negativdefinition aus. Europa wird nicht nur darin bestimmt, was es nicht ist. Stattdessen werden auch in diesem Narrativ einige Selbstbeschreibungen geliefert. Da dieses Narrativ Europa mit dem institutionellen Gefüge der Europäischen Union und deren territorialen Grenzen gleichsetzt, konzentrieren sich die Aussagen über die Kultur auch vor allem auf das politische Gebilde. Die kulturelle Spezifik bleibt insofern implizit, als nicht auf externe kulturelle Grundlagen der EU verwiesen wird, sondern die Spezifika des politischen Systems selbst als Kultur betont werden. RvW-(2)-5/6: »Was ist Europa? Darüber sollen wir diskutieren. Wir wissen, dass Europa entstanden ist durch vorbildliche Gründerpersönlichkeiten, durch nationale Regierungen, die ihrerseits ihre jeweiligen Bevölkerungen hinter sich hergezogen haben. So entstand die Montanunion, der Binnenmarkt, der Fortschritt, der schließlich zu einer werbenden Veranstaltung in den Zeiten des Kalten Krieges wurde – ein Magnet. Immer mehr neue Mitglieder meldeten sich und wollten dabei sein. Das ging in einem unvermeidlichen Tempo vor sich, bis die Frage der Handlungsfähigkeit der europäischen Union immer dringender und immer unbeantworteter blieb.«
Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker greift die Geschichtsschreibung des Gründungsmotivs auf, nach dem eine weitsichtige Elite nach dem
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zweiten Weltkrieg eine fortschrittliche Wirtschaftspolitik betrieb und mit der Montanunion ein politisches Projekt etablierte, das in seiner Expansion derart attraktiv wurde, dass es schließlich an seine Grenzen stieß. Die Unterscheidung zwischen einer unbegrenzten Attraktivität nach außen und einer begrenzten politischen Handlungsfähigkeit der EU wird eingeführt und als ein zu lösendes Problem postuliert, dass sich verschärft habe. Die Handlungsfähigkeit wird dabei zunächst nicht näher spezifiziert, aber aus den vorhergehenden Sätzen lässt sich entnehmen, dass die wirtschaftliche Entwicklung und der ›Fortschritt‹ bedroht sein könnten. Genauer noch: was auch immer in der Folge als mögliches Handlungsproblem auftaucht, wird als drohender Rückschritt signifiziert. Was immer mit ›Fortschritt‹ verbunden war (etwa wie bereits in den vorhergehenden Reden: Demokratie, Freiheit, Frieden), bleibt nun unterbestimmt, und der Begriff des ›Fortschritts‹ wird für weitere Signifikationen anschlussfähig gehalten. Mit dem Binnenmarkt und der Montanunion werden bereits zwei wirtschaftliche Signifikanten aufgerufen. Fortschritt wird zunächst einmal als ökonomischer Fortschritt artikuliert. Den Endpunkt dieser Entwicklung bildete der finale Versuch, dieser Fortschrittlichkeit einen letztgültigen rechtlichen Rahmen zu geben: Der Verfassungsvertrag bildet daher die zentrale symbolische Referenz dieses Narrativs. Der Vertrag objektiviert sowohl die historische Entwicklung der EU als auch die zentralen Werte dieser politischen Gemeinschaft. Das Scheitern des Verfassungsvertrags durch die Referenden in den Niederlanden und Frankreich markiert dementsprechend einen Bruch zwischen einem Projekt der politischen Eliten Europas und der europäischen Bevölkerung: RvW-(2)-7: »Schließlich kam es zu dem Verfassungsentwurf. Auch wenn Regierungen und Parlamente in den meisten Ländern, die sich damit befasst haben, diesen Verfassungsentwurf akzeptiert haben, so bleibt dennoch ein Zustand, bei dem viele Bürger das Tempo, die Grenzen und die Zielsetzungen dieses Europas zu wenig verstehen. Man kann auch sagen, zu viele Bürger sind sauer. Wer soll noch alles kommen? Wo sind die Grenzen? Wo kommt die soziale Gerechtigkeit für die Reformprozesse, die wir zu Hause machen wollen, her? Hilft uns Europa auf diesem Weg? Ja oder nein? Es ist doch ein Europa der Regierungen oder, wenn man so will, der politischen Eliten, sofern man Regierungen und Eliten gleichsetzen darf.«
Den politischen Führungen, die als Gemeinschaft der europäischen Regierungen (und nicht als bürokratischer Apparat) vorgestellt werden, steht eine Zivilgesellschaft gegenüber, der es an einem Verständnis für die so erfolgreichen Entscheidungen und Zielsetzungen mangelt. Die Fragen nach Perspektiven, Grenzen und
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sozialer Gerechtigkeit in der europäischen Politik müssen beantwortet werden, soll dieser problematische Zustand (»zu viele Bürger sind sauer«) überwunden werden. Dieser Bruch zwischen Politik und Zivilgesellschaft steht dem Prinzip der Fortschrittlichkeit entgegen, durch den sich der bisherige Einigungsprozess auszeichnete. Dabei wird die Identifikation der Bevölkerung mit dem Projekt der europäischen Integration als eine abhängige Variable der politischen Vermittlung begriffen: RvW-(2)-8/9: »Wo ist das Europa der Europäer? Darüber wollen wir heute reden. Wie steht es mit ihrer Bewusstseinslage? Was macht die gesellschaftlichen Strukturen aus? Fördern sie dieses Europa oder bremsen sie? Wie ist es in unseren Kommunen bestellt? Wir erwarten darüber einzelne Beiträge. Aber ich glaube, dass nicht nur von Seiten der Bürger an die Regierungen und europäischen Institutionen Fragen gestellt werden müssen, sondern eben auch in der umgekehrten Richtung. Wir sprechen hier über die Kultur oder gar über die schwer definierbare Seele. Wir wollen, wie es gestern so gut hieß, die emotionale Kluft zwischen dem, was Europa inzwischen ist und dem, was die Bürger verstehen, tragen und wollen, überbrücken. Es geht also in diesem Sinne um ein Europa, dass dort beginnt, wo wir zu Hause sind.«
Gegenüber einer emphatischen Vorstellung einer europäischen Kultur, deren Grenzen ebenso unklar erscheinen wie ihre Mentalität oder Seele, wird eine Konzeption von Kultur als emotionaler Verbundenheit mit den lokalen Lebensbedingungen (»der Heimat«) adressiert, die sich ebenso auf das politische Projekt Europas beziehen müsste, wenn dieses langfristig erfolgreich sein möchte. Kultur wird hier also zunächst einmal nicht in expliziten symbolischen und rituellen Ausdrucksformen gesucht, sondern als emotionale Beziehung zu zentralen institutionellen Gebilden konzipiert, deren Sinn, Wert und Notwendigkeit gegenüber lokalen und regionalen Kontexten hervorgekehrt werden muss. Die Frage nach den geographischen Grenzen Europas wird in eine Frage der territorialen Größenordnung transformiert und dabei die Unwahrscheinlichkeit einer Identifikation mit überlokalen Zusammenhängen betont. Aus den bereits zitierten Aussagen lässt sich jedoch auch entnehmen, dass von Weizsäcker die politischen Eliten Europas – und das heißt zunächst einmal die Vertreter der Kommission, des Rates und des Europaparlaments: »die Regierungen« – in der Verantwortung sieht, diesen Zustand zu beenden, wenn er nach der Legitimation für die politischen Entscheidungen fragt. Auch der Europaparlamentarier Hans-Gert Pöttering teilt die Annahme, dass eine Identifikation der Bürger mit dem politischen Projekt notwendig sei. Doch
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sei diese Identifikation gegenüber der lokal, regional und national bestimmten »Heimat« schwieriger herzustellen: H-GP-(2)-16: »Eine letzte Bemerkung ist: Es ist eine Frage des Bewusstseins, und wie eben auch schon Norbert Lammert gesagt hat, des Netzwerkens zwischen den verschiedenen Ebenen. Wir sind nicht nur Europäer. Wir sind nicht nur, soweit wir Deutsche sind, Deutsche. Wir sind nicht nur, wie in meinem Fall, Niedersachsen. Und wir sind nicht nur Menschen, die in ihrer Heimat sind. Sondern wir sind alles. Wir sind Menschen, die sich zu ihrer Heimat bekennen, denn da wo wir zu Hause sind, da beginnt Europa. Nicht in Brüssel, in Straßburg oder wo auch immer europäische Institutionen tagen. Europa beginnt dort, wo wir zu Hause sind, wo die Heimat ist. Und dann haben wir eine regionale Zugehörigkeit. Unsere europäische Bürgerschaft wird vermittelt durch die nationale Bürgerschaft. Darüber hinaus haben wir eine Verantwortung für die Welt. Aber diese vier Ebenen: Heimat, Region, Vaterland, Europa, die gehören zusammen. Das ist Teil unserer Identität. Deswegen kann ich nur nachdrücklich unterstützen, was Norbert Lammert gesagt hat, dass diese vier Bewusstseinsebenen hoffentlich immer stärker werden in unserem eigenen Bewusstsein, dass sie sich im Bewusstsein der Menschen immer mehr verknüpfen durch Partnerschaften, durch regionale Zusammenarbeit, durch Städtepartnerschaften.«
Die These, dass Europa quasi vor der eigenen Haustüre zu beginnen habe, bleibt ein Desiderat und damit Ziel des europäischen Projekts. Die hierarchisch angeordneten Ebenen lokal, regional, national und supranational werden als gleichermaßen notwendig für eine europäische Identität herausgestellt, die erst noch hergestellt werden muss. Dieser eher konstruktive Zugang zu europäischer Identität, in dem das supranationale Element über einen Prozess des Netzwerkens und Vermittelns Eingang in Identität finden soll, darf sich für Pöttering nicht allein auf die politischen Institutionen der EU beziehen, sondern muss sich gerade auf die Beziehungen und Verbindungen zwischen den Ebenen und damit auf das Verhältnis von Politik und Zivilgesellschaft beziehen. Wo von Weizsäcker vom Überbrücken spricht, will Pöttering Partnerschaften zwischen Städten und Regionen herstellen. Gerade aus der relativen Fortschrittlichkeit der politischen Eliten wird auch die Pflicht abgeleitet, an diesen Verbindungen zu arbeiten, ohne die es keine Zukunft des Projekts geben kann. Ähnlich argumentiert Norbert Lammert in seinem Grußwort, in dem er die politische Relevanz der Berliner Konferenz betont: NL-(1)-5/6: »Meine Damen und Herren, diese Initiative ›Europa eine Seele geben‹ versteht sich als ein besonderes zukunftsweisendes Modell der Zusammenarbeit zwischen
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Zivilgesellschaft und Politik. Das bedeutet auf der einen Seite, dass es hier die Souveränität einer privaten Initiative gibt, ohne die jedenfalls diese Konferenz und die Fülle der damit inzwischen verbundenen Einzelaktivitäten gar nicht zustande gekommen wären, und dass es zum anderen und von Anfang an die Bereitschaft von Parlamentariern und politischen Entscheidungsträgern gab und gibt, sich in den Dienst dieser Initiative zu stellen und damit eine notwendige Verbindung zwischen Zivilgesellschaft und Entscheidungsträgern herzustellen, die für die einen wie für die anderen völlig unverzichtbar sind. Parlamentarismus und Zivilgesellschaft brauchen einander. Das ist vermutlich nicht weiter erläuterungsbedürftig, kann ganz gewiss nicht im Rahmen eines Grußwortes erläutert werden.«
Die gegenseitige Abhängigkeit von Parlamentarismus und Zivilgesellschaft (»notwendige Verbindung«, »brauchen einander«, »nicht weiter erläuterungsbedürftig«) wird nicht bloß als erwünschter Modus politischer Vergesellschaftung verstanden, sondern als unhintergehbare Fundierung des Politischen in Europa. Der Bruch zwischen einer politischen Elite, die über eine verselbstständigte Handlungslogik verfügt, und der Zivilgesellschaft, die dieser Entwicklung ein Unverständnis entgegenbringt und zudem emotional abgespalten ist, kann nur dann als Krise verstanden werden, wenn eine Einheit beider Sphären als Normalzustand begriffen wird. Für Hans-Gert Pöttering fällt die notwendige Vermittlungsaufgabe dabei vor allem dem Europa-Parlament mit seinen Abgeordneten zu: H-GP-(2)-9: »Das Europäische Parlament gehört zur Zivilgesellschaft dazu. Es ist unsere Aufgabe als Europaabgeordnete, ein enges Netzwerk in unseren Staaten zu knüpfen, den Geist des Europäischen Parlaments in die Regionen, in die Kommunen und in die Zivilgesellschaft hineinzutragen.«
Diese Sequenz ist besonders aufschlussreich, weil sie zwei eigentümliche Signifikationen verbindet. Die erste Bezeichnung verbindet das Element »Europäisches Parlament« – einen Teil des europäischen suprastaatlichen Herrschaftsverbandes – mit dem Zeichen Zivilgesellschaft. Diese Re-Signifikation suprastaatlicher Akteure als nichtstaatliche Akteure mag überraschen, ist aber kein Einzelfall. Norbert Lammert lobt, »dass es hier die Souveränität einer privaten Initiative gibt, ohne die jedenfalls diese Konferenz und die Fülle der damit inzwischen verbundenen Einzelaktivitäten gar nicht zustande gekommen wären« und auch Volker Hassemer benennt den Think Tank »Europa eine Seele geben« als eine »zivilgesellschaftliche Initiative einzelner Europäer« (VH-11), um dann vor allem ehemalige Politiker aufzuzählen. Der Think Tank als Schnittstelle von
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politischer Elite und Zivilgesellschaft dient damit als ideale Verkörperung einer allgemeinen Verschränkung der beiden politischen Sphären. Die zweite Signifikation, die vorgenommen wird, betrifft die Transmission eines europäischen Geistes in die Zivilgesellschaft hinein. Das Europaparlament als zentraler Hort einer europäischen Identität muss sich an die anderen Instanzen der Zivilgesellschaft wenden, um diesen das wichtige Gut Europa zu übergeben. Mit diesen beiden Bezeichnungen »Parlament als Zivilgesellschaft« und »Parlament als Botschafter« des europäischen Geistes wird zudem deutlich, dass die Aufgabe der Überwindung des Bruches zwischen politischer Elite und Zivilgesellschaft nicht eindeutig der einen oder der anderen Seite zufällt. Soll das Europaparlament Teil der Zivilgesellschaft sein, so fordert Pöttering zugleich ein Bekenntnis der politischen Elite zum europäischen Projekt. H-GP-(2)-16: »Ich erwarte und stelle es auch als Forderung für unsere Fraktion der Europäischen Volkspartei und europäischer Demokraten: Wenn es den Gipfel gibt, hier in Berlin, am 25. März – 50 Jahre Römische Verträge –, dass es uns gelingt, eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden, die alle drei europäischen Institutionen verpflichtet: den Europäischen Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission. Wir beraten mit unserem konstitutionellen Ausschuss, mit Jo Leinen und anderen darüber, wie wir das klug machen. Man darf den Prozess auch nicht komplizieren. Sondern man muss dann auch denjenigen, die verhandeln, das Vertrauen geben. Aber wir bestehen darauf, dass es eine gemeinsame Erklärung gibt, dass der Europäische Rat, das Europäische Parlament und die Kommission sich gemeinsam verpflichten, an der Zukunft Europas zu arbeiten, um damit zu erreichen, dass dieser alte, sich immer wieder erneuernde Kontinent eine gute Zukunft hat.«
Die Krise, die aus der historisch entstandenen Kluft zwischen dem politischen Projekt einer Elite und der von dem Projekt betroffenen Bevölkerung resultieren soll, muss bei Pöttering durch die Elite selbst wieder bewältigt werden, indem sie sich auf das Europäische Projekt verpflichten lässt, d.h. es zu einer Leitlinie politischen Handelns macht. Ähnlich hält es auch Richard von Weizsäcker, wenn er die moralische Pflicht der Eliten betont, eine europäische Identität des Fortschritts zu etablieren: RvW-(2)-13: »Die Gründer, die Regierungen ihrerseits müssen den Bürgern vorangehen und nicht hinterherlaufen, nur damit sie wieder gewählt werden. Und wenn sie ihnen vorangehen wollen, dann müssen sie ihnen auch etwas davon vermitteln: Die eigenen Werte schließen den Respekt vor den Werten und Überzeugungen, die andere Leute ha-
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ben, die bei uns leben, die bei uns leben wollen und müssen und zu denen wir Beziehungen haben müssen, ein, wenn wir wirklich in die Zukunft vordringen wollen. Wir sind von 1,5 Milliarden Muslimen umgeben, nicht Amerika! Es ist unser Interesse sowie unsere Aufgabe und es ist Bestandteil unserer Werte, dass wir auf diesem Gebiet auch wirklich unsere Fortschritte machen.«
Von Weizsäcker sieht in der Heterogenität der Zivilgesellschaft eine Herausforderung für das politische Projekt Europa, an dem es sich bewähren muss – gerade dann, wenn sich in der Zivilgesellschaft mit den Muslimen politische Positionen finden lassen, die als unvereinbar vorgestellt werden. An die Betonung der moralischen Pflicht der Elite, wird jedoch mit einem zweiten Argument angeschlossen. Nicht nur die Elite muss an der Überwindung dieser Krise arbeiten, sondern auch die Zivilgesellschaft ist dazu aufgefordert, das Angebot der Eliten anzunehmen. Aus der Pflicht, das europäische Projekt politisch zu etablieren, folgt die Pflicht der Zivilgesellschaft, diese zu verkörpern, wie es etwa der Leiter der Akademie der Künste, Klaus Staeck, am Beispiel der Mehrsprachigkeit ausführt: KSt-2: »Und dieses Thema hat es in sich. Es heißt ›Europa eine Seele geben‹, auf Englisch ›A Soul for Europe‹ und auf Französisch ›Une âme pour l’Europe‹. Die drei Sprachversionen des Mottos, unter dem die Initiative und ihre Konferenz stehen, stehen nicht füreinander; sondern beieinander, nebeneinander. Sie ersetzen sich nicht, sie addieren und potenzieren sich. Das heißt, alle anderen in Europa möglichen Sprachversionen sind ebenfalls mitzudenken und mitzuhören, die spanische oder estnische, griechische, norwegische und portugiesische. Und auch an die Basken und Korsen, die Kosovaren und Katalanen, die Nordiren und Wallonen und alle anderen Provinzen, die heute noch ihre teilweise tödlichen Identitätskonflikte auskämpfen, richtet sich dieses Motto als Auftrag, als Anspruch, aber auch als Hoffnung. Ihre Energien werden gebraucht für die künftige Existenz dieses Europa und dürfen nicht vergeudet werden. Wir alle haben das unsrige beizutragen zur Seele Europas, und wir können es zu einem Europa der Europäer machen, nicht nur zu einem Europa der Regierungen und Verordnungen.«
Die Gegenüberstellung eines »Europa der Europäer« mit einem »Europa der Regierungen und Verordnungen« wird mit einem Appell an die Bevölkerungen formuliert, sich an der Sicherung des Fortbestandes Europas zu beteiligen. Georges Soros, der in seiner Rede die Europäische Gesellschaft als »Prototyp für eine globale offene Gesellschaft« (GS-2) versteht, die keine finale Form annehmen kann und die sich an den Bedürfnissen der Bürger orientieren soll, nimmt diesen Aufruf auch dezidiert an:
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GS-31: »Was mich betrifft, kann ich sagen, dass die Idee von Europa als Prototyp einer globalen offenen Gesellschaft sicher eine hinreichend starke Motivation ist. Obwohl ich kein Staatsbürger eines europäischen Landes bin, glaube ich an die offene Gesellschaft. Ich verfüge innerhalb und außerhalb der Europäischen Union über ein Netzwerk von Stiftungen, deren Ziel es ist, diese Idee zu fördern und ich bin bereit, eine Initiative für eine offene Gesellschaft in Europa zu unterstützen. Eine derartige Initiative würde hochqualitative Forschung mit Engagement verbinden und versuchen, die Zivilgesellschaft für die Idee eines Europa als Modell und Kraft für eine globale offene Gesellschaft zu mobilisieren.«
Die ›Zivilgesellschaft‹, verkörpert in Stiftungen, politischem Engagement und wissenschaftlichen Forschungsaktivitäten, muss für die Idee einer ›offenen Gesellschaft‹ mobilisiert werden, weil die Bevölkerung zwar die Vorteile einer solchen Gesellschaftsverfassung genießt, diese aber nicht unbedingt wertschätzt. GS-14: »Die Europäische Union diente also durchaus schon als leuchtendes Beispiel, obwohl dies den meisten Menschen in der Europäischen Union nicht bewusst ist. Jetzt müssen sich die Menschen in Europa nur noch für die Idee einer Europäischen Union als Prototyp einer globalen offenen Gesellschaft gewinnen lassen.«
Der Artikulationszusammenhang, wie er sich in diesen Reden ergibt, lässt sich als eine Strategie der Erzeugung von Zustimmung begreifen, die von der politische Elite artikuliert und an den Bürger adressiert wird. Dabei soll sich die Zivilgesellschaft von sich aus für das politische Projekt einsetzen und so den Bruch sozusagen »von unten« kitten: GS-30: »Er wurde von einer Elite betrieben und große Teile der Bevölkerung fühlten sich davon ausgeschlossen. So kann es nicht weitergehen, schon allein aufgrund der Volksabstimmungen nicht, die immer häufiger eingesetzt werden. Ein Referendum drückt den Willen der Menschen in seiner ungeschminkten, unabsehbaren Form ohne die Zwischenschaltung einer Elite aus. Wenn die Europäische Union also wieder aufleben soll, dann weil die Menschen es wollen. Auf die eine oder andere Weise muss die Zivilgesellschaft mobilisiert werden. Wie das bewerkstelligt werden kann, soll Diskussionsgegenstand bei dieser Konferenz sein.«
Der herrschaftliche Zugriff »von oben« auf das Aktivitätspotential der Zivilgesellschaft, die »Mobilisierung« der Zivilgesellschaft lässt sich als Governing the bottom-up bezeichnen. Dieses Prinzip wird immer dann artikuliert, wenn der Zusammenhang von EU und Nicht-EU (d.h. Zivilgesellschaft oder auch lokalen
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und regionalen Behörden) derart adressiert wird, dass die Nicht-EU als Leistungsträger für europabezogene Probleme in Anspruch genommen werden soll – ein Topos, der auch in den anderen Narrativen artikuliert wird, dort aber keinen systematischen Stellenwert für die jeweilige Kulturkonzeption besitzt. Wo liegt nun der systematische Stellenwert dieser Artikulationspraxis für die Kulturkonzeption des Narrativs eines imaginierten politischen Projekts? Das Narrativ, so lässt sich argumentieren, legt eine Geschichte zugrunde, welche die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg als Zäsur begreift, von der an ein Fortschritt Europas konstatiert werden kann, der wiederum schließlich in eine Krise gerät, die nun überwunden werden muss. Die Grenzen werden dabei geopolitisch gezogen, zunächst im Sinne eines demokratischen, liberalen und marktwirtschaftlichen politischen Systems, das in Opposition zu Faschismus und Kommunismus steht und eine Allianz mit den USA eingegangen ist. Demgegenüber entwickelt dieses Narrativ aber keine eigenen symbolischen Referenzen jenseits des gescheiterten Verfassungsvertrags für Europa.5 Freiheit, Fortschritt und Demokratie fungieren dabei noch am ehesten als jene Werte, auf die mehrfach verwiesen wurde, die jedoch kaum in ihren konkreten Formen artikuliert werden. Es finden sich keine Signifikate für diese Signifikanten. Stattdessen wird ein bestimmtes Verhältnis von politischem Apparat resp. politischer Elite und Zivilgesellschaft als Ausdruck europäischer Kultur artikuliert, in dem beide Einheiten mehr oder weniger als eigenständig und getrennt vorgestellt werden, aber eng miteinander verbunden sein sollen: Die politische Einheit von Elite und bürokratischem Apparat wird als Motor einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung Europas vorgestellt, der den politischen und wirtschaftlichen Fortschritt verwirklicht, d.h. der Zivilgesellschaft mit ihren Bürgern und nicht-staatlichen Organisationen optimale Rahmenbedingungen setzt. Die Frage, was denn das Gemeinsame dieser beiden Instanzen sein soll, wird mit ihrer Relationierung beantwortet und nicht mit einem gemeinsamen Referenten, der diese Relation stiftet. Die Krise, die im Auseinanderbrechen der beiden Sphären ihren Ausdruck findet, d.h. in einem Unverständnis und einer emotionalen Distanz der Zivilgesellschaft gegenüber den Handlungen der politischen Elite und Entscheidungen des bürokratischen Apparats der EU, verlangt ein Engagement, das die beiden Seiten zukünftig wieder zusammenführt. Und dieses Engagement wird schließlich von der Zivilgesellschaft als Bottom-up-Prozess eingefordert. Erneut wird die spezifische Eigenqualität europäischer Kultur mit dem 5
Mit der Europaflagge, der Europahymne und dem Euro verfügt die EU natürlich über solche symbolischen Referenzierungen, doch diese verweisen allein auf die EU resp. die am Euro beteiligten Staaten, und nicht auf eine spezifisch europäische Kultur – im Gegensatz zum Vertrag, der zentrale Prinzipien, Werte und Verfahren festhielt.
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Modus politischer Vergesellschaftung gleichgesetzt. Das goldene Zeitalter der politischen und wirtschaftlichen Integration der Nachkriegszeit wird zum Maßstab der europäischen Identität. Europas Seele darf nicht gespalten sein und diese Seele soll die bürokratische Maschine der EU bewohnen. Kultur ist hier letztlich keine Grundlage der EU, sondern ihr eigener, notwendiger Ausdruck.
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Eine kleinere Gruppe von Reden begreift Kultur als ein Fundament Europas. Aus dieser Grundlage sollen sich dann die Handlungsprinzipien und Werte der Europäischen Gemeinschaft ableiten lassen. So betonte Wolfgang Schäuble, damals noch in seiner Funktion als Bundesinnenminister: WS-3: »Nicht ohne Grund sprechen wir heute – auf einer Konferenz zur Zukunft der Europäischen Einigung – über Kultur als Fundament politischen Denkens und Handelns (…) Europa ist eben mehr als eine Fusion wirtschaftlicher Größen, es hat ein kulturelles Fundament, welches zentralen politischen Werten und Haltungen zu Grunde liegt.«
Hier kommt der Rede von Kultur ein normativer und nicht bloß funktionaler Gehalt zu: Die Rede von Werten und Haltungen, die sich aus der Kultur ableiten lassen, soll über eine bloße Zweckgemeinschaft hinausgehen. Gegenüber dem ersten Narrativ wird Kultur hier keineswegs als Ausdruck politischer Beziehungen verstanden, sondern setzt diese in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihren als kulturell bestimmten Fundamenten. Ohne diese kulturellen Grundlagen sei Europa unmöglich. In diesem Sinne meldet sich auch der Kommissionspräsident zu Wort: JMB-7: »Europa braucht die Kultur, denn sie trägt ganz ohne Frage zu unserem Wohlergehen und unserem Lebensgefühl sowie zum sozialen Zusammenhalt Europas bei. Europa braucht die Kultur aber auch, um in diesen unsicheren Zeiten deutlich zu machen, dass unsere Werte nicht verhandelbar sind.«
Die Unverhandelbarkeit von Werten, an denen sich Handeln zu orientieren habe, ist ein klassischer konservativer Topos, insofern die konkrete Form Europas aus einem zeitlich vorgängigen oder dahinter liegenden Wesen abgeleitet werden
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soll.6 Allerdings eröffnet ein Begriff wie »brauchen« und die Aussage, dass die »Werte nicht verhandelbar sind«, dass sie potentiell verhandelbar wären, und dass die Kultur gegenüber der konkreten Form Europas etwas Äußerliches sei, auf das Europa notwendigerweise angewiesen sei und auf das es nicht verzichten könne. Das kulturelle Fundament ist selbst brüchig geworden oder hat seinen eindeutigen Status als Fundament verloren. Das Herausstellen der Notwendigkeit der Kultur eröffnet die Möglichkeit, genau diese Notwendigkeit in Abrede zu stellen. Dieses Problem wird von José Manuel Barroso auch sofort adressiert, indem er Unterstützung für seine Vorstellung von Kultur als Fundament einfordert: JMB-8: »Europa braucht heute jeden, der unsere Werte und unsere Kultur als Fundamente unserer Gesellschaft betrachtet. Unsere Werte, darunter in besonderem Maße die Freiheit, bilden den ›europäischen Geist‹, der dem europäischen Aufbauwerk zugrunde liegt. Denn Europa ist auch und vor allem Kultur. Es hat sich ganz bewusst dafür entschieden, bei allem Respekt für nationale, regionale und lokale Identitäten diese hintanzustellen und die Völker mit dem Hinweis auf ihre tiefen gemeinsamen Wurzeln zusammenzuführen.«
In diesem Abschnitt findet sich die Grundform der Artikulation dieses Narrativs: Kultur wird zum Fundament und zur Substanz Europas gemacht, zum Geist, der über die regionalen und lokalen Differenzen hinausweist und diese zusammenführt: Was immer auch auf der phänomenalen Ebene sichtbar wird, dahinter steht eine Substanz oder ein Prinzip, das diese Vielfalt bändigt und vereinheitlicht: JMB-8: »Europäische Identität ist gleichbedeutend mit Vielfalt. Und wenn wir aus dieser Vielfalt ein gemeinsames Ganzes schaffen wollen, können wir uns nicht auf einzelne Identitäten stützen, sondern müssen gemeinsame Werte zugrunde legen. Natürlich sind tiefe Wurzeln wichtig, doch müssen wir auch anerkennen, dass der moderne Europäer durch seine Vorfahren, die verschiedenen Völkern und Kulturen angehörten, viele verschiedene Wurzeln hat. Anders ausgedrückt: das Selbstverständnis Europas beruht nicht auf territorialen oder ethnischen Gesichtspunkten, sondern auf gemeinsamen Werten und der Kultur. Die Menschheit verdankt Europa den Humanismus und die Demokratie, und beiden Werten bleibt Europa zutiefst verbunden. Das Neue am europäischen Aufbauwerk 6
Siehe dazu Karl Mannheim über zwei Varianten des Konservatismus: »Für die erstere Betrachtung ist alles Daseiende sinnvoll, weil es überhaupt aus einem vergangenen Werdeprozeß hervorgegangen ist, für die letztere, weil in allen historisch daseienden Dingen bzw. hinter allen Objektivationen einer Kultur dieselbe Grundrichtung, Strebensrichtung des geistig-seelischen Wachstums liegt.« (Mannheim 1984: 120)
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ist jedoch, dass in ihrem Zentrum die Achtung der geschichtlichen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt steht, die in Europa ihre natürliche Ausprägung findet.«
Diese Dialektik von Einheit und Vielfalt wird auch von Wolfgang Schäuble, der von der »Einheit in Vielfalt« (WS-2) spricht, und von der EUAußenkommissarin Benita Ferrero-Waldner geteilt. Diese benutzt die lateinische Phrase »e pluribus unum« (BF-W-20), die sich auch auf US-amerikanischen Münzen und Pässen finden lässt. Es handelt sich damit also weniger um eine kulturelle Eigenschaft Europas als um eine Formel, welche die kulturelle Logik des Substantialismus zusammenfasst. Kontrastiert man dieses Kulturverständnis mit dem ersten Narrativ, so ist Kultur keine Errungenschaft einer kleinen Elite, die sich erfolgreich gegen den historischen Strom der Gewalt in der Geschichte Europas zu stemmen wusste. Das zweite Narrativ versteht das europäische Vertragswerk und die Institutionen der EU hingegen als »natürliche Ausprägung« einer Substanz, auf die sich die unterschiedlichen Formen zurückführen lassen. Pierre Bourdieu charakterisiert einen solchen Substantialismus als eine Haltung gegenüber der Gesellschaft, die »mit der Neigung einhergeht, die Aktivitäten oder die Vorlieben, die für bestimmte Individuen und Gruppen einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt kennzeichnend sind, als substantielle, ein- für allemal in irgendeinem biologischen oder – was auch nicht besser ist – kulturellen Wesen angelegte Merkmale zu behandeln, auch beim Vergleich nun nicht mehr zwischen verschiedenen Gesellschaften, sondern zwischen aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten derselben Gesellschaft.« (Bourdieu 1998a: 16)
Die Negation von territorialen und ethnischen Differenzen wird damit durch die Differenz Europa/Nicht-Europa ersetzt, d.h. intern harmonistisch aufgelöst (Hauck 2006: 51) und als historische Variationen eines kulturellen Wesens konzipiert. Damit wird historisch unterschiedlichen Konstellationen eine über- oder ahistorische Substanz zugeordnet und werden kulturelle Differenzen ontologisiert. Eine solche Substanz kann allerdings nur in ihren Ausdrucksformen identifiziert werden, die dann moralisch oder normativ aufgeladen und als Indizien jenes substantiellen kulturellen Wesens ausgeben werden. EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner beschreibt dieses Fundament als ein »kulturelles Unterbewusstsein« und nutzt ein psychoanalytisches Vokabular, das alles, was als kulturelle Leistungen erscheint, auf eine gemeinsame kollektive Erfahrung zurückführt:
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BF-W-22: »Das Faszinierende an Europa ist dieses Mosaik auf kleinem Raum, das doch auf gemeinsame Gedanken und Strömungen zurückgreift: Denken Sie an Europas Musik, Literatur und Architektur, etwa an die Gemeinsamkeiten der Baugeschichte von der Romanik bis zur Moderne. Das ist Ausdruck eines kollektiven ›kulturellen Unterbewusstseins‹, das in uns schlummert. Es ist die Summe unserer geschichtlichen Erfahrungen, die wir zur Basis von Zukunftspolitik machen müssen.«
Dieses gemeinsame generative Prinzip soll alle kulturellen Leistungen erklären, so verschieden und zusammenhangslos diese Leistungen auch erscheinen mögen. Das zentrale Problem dieses Narrativs scheint also zunächst einmal darin zu liegen, hinter den vielfältigen Erscheinungsformen der Kultur ein stabiles Etwas zu identifizieren. Dabei fallen die Lösungsansätze durchaus unterschiedlich aus. Der EU-Kommissar Vladimír Špidla etwa dynamisiert dieses Fundament, gebraucht aber dennoch das Bild einer »europäischen Persönlichkeit«: VŠ-3: » [D]as Thema der Konferenz ist ›Europa eine Seele geben‹. Natürlich frage ich mich, gibt es so etwas wie eine Seele Europas? Etwas stabiles, unveränderliches, ewiges? Sicher nicht. Statt von einer europäischen Seele würde ich eher von einer europäischen Persönlichkeit, einem europäischen Charakter oder einem europäischen Wesen sprechen. Es hat sich verändert und verändert sich laufend weiter. Leider Gottes haben für diese Veränderungen historische Tragödien gebraucht – wie den Zweiten Weltkrieg oder den Holocaust. Das war eine Katharsis für das Wesen Europas. Dieses Wesen beinhaltet eine radikale Diskontinuität. Unser modernes Wesen ist anders, aber es hat natürlich auch seine historischen Wurzeln.«
In dieser Variante wird argumentiert, dass man Europa zwar nicht als etwas Unveränderliches verstehen dürfe – ansonsten wären gerade aufgrund der positiven Bezugnahmen auf Aufklärung, Demokratie und Humanismus die dunklen Seiten der europäischen Geschichte nicht zu erklären. Dennoch spricht Špidla von einem Wesen Europas, für das diese problematischen Erfahrungen kathartisch wirkten und das nun ein ganz anderes sei als vor dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Doch dann bleibt immer noch unklar, worin eigentlich das spezifische Wesen Europas besteht und was seine Wurzeln sind. Dabei zeigt sich, dass die symbolischen Referenzierungen erneut nur vor dem Hintergrund der vorgenommenen Innen-Außen-Differenzierungen sichtbar werden.
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5.2.1 Die Grenze als Fundament: das Christlich-Jüdische und der Islamismus Was könnte realistischer Weise ein Fundament europäischer Kultur darstellen? Vladimír Špidla argumentiert in Richtung einer kollektiven Erfahrung und stellt damit einen Anschluss an das erste Narrativ her, in dem die historische Zäsur am Ausgang des zweiten Weltkriegs gesucht wird. Doch die anderen Reden, die das Rückgrat des Fundament-Narrativs bilden – das Grußwort von José Manuel Barroso und die Reden von Benita Ferrero-Waldner und Wolfgang Schäuble – betonen stattdessen die religiösen Wurzeln Europas in Christen- und Judentum. Damit wird eine zentrale religiöse Differenz markiert, nämlich die zum Islam. Alles, was als konkrete Ausdrucksform von Kultur benannt wird, wird vor einem Werteschema verortet, dass als jüdisch-christlich ausgelegt wird. Diese These wird von Ferrero-Waldner mit den dazugehörigen Orten in Erinnerung gerufen: BF-W-17: »Den Reichtum Europas kurz zusammenfassen, grenzt ans Unmögliche. Lassen Sie mich es dennoch versuchen und mit Paul Valéry beginnen: ›Europäisch ist alles, was von den drei Quellen Jerusalem, Athen und Rom herrührt‹.«
Unter der Anrufung des literarischen Kronzeugen werden zunächst drei geographische Lokalisierungen angeführt, mit denen auf je ein Wertprinzip verwiesen wird: Mit Jerusalem wird auf die religiösen Wurzeln des Judentums und Christentums referiert, mit Athen auf die Demokratie und mit Rom auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit – obgleich damit Rom auch als Zentrum des katholischen Christentums angesprochen wird: Neben dem römischen Recht galt bis in die Neuzeit schließlich auch das kanonische Recht der Kirche. BF-W-18: »Unsere kulturelle Basis ist unsere jüdisch-christliche Prägung, wie sie durch die Aufklärung modernisiert wurde. Es ist die Trias von Spiritualität, Demokratie und individueller, verrechtlichter Freiheit.«
Zunächst fällt hier die Einverleibung des antiken Athens als Geburtsort der Demokratie in eine jüdisch-christliche Trias auf. Diese Äquivalenzkette wird jedoch verständlich, wenn man sich vor Augen führt, welche Grenze hier gezogen wird. Demokratie ist deswegen jüdisch-christlich, weil für die Seite des Islam gerade ein solches Defizit artikuliert wird.7 Zwar gesteht Wolfgang Schäuble
7
Hier lassen sich durchaus alternative Lesarten entwickeln, etwa eine Anerkennung einer vorchristlichen, agnostischen Demokratie im Falle Roms und Athens. Der
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dem Islam zunächst zu, Einfluss auf Europa ausgeübt zu haben, ja sogar Teil Europas zu sein: WS-17: »Zugleich ist der Islam unbestreitbar ein Teil Deutschlands und Europas. Die Spuren islamischen Lebens in Europa reichen weit zurück, haben Muslime doch in vielfältiger Weise unsere Geschichte und auch unsere Kultur beeinflusst.«
Doch wird sogleich ein gegenwärtiger Konflikt heraufbeschworen, der diese These mit Bezug auf die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurücknimmt. Gegenüber den folgenden Qualifizierungen bleibt der kulturelle Einfluss des Islams geradezu unterbestimmt: WS-18: »Islamistische Bestrebungen forcieren eine ›Islamisierung‹ Europas im Sinne eines – von der überwiegenden Mehrheit der bei uns lebenden Muslime nicht geteilten – totalitären Islam-Verständnisses. Mit Forderungen nach Durchsetzung einer angeblich ›islamgemäßen‹ Lebensweise wenden sich islamistische Organisationen gegen die Grundlagen unserer freiheitlichen europäischen Demokratien, gegen unser Rechts- und Wertesystem. Demgegenüber stehen Forderungen nicht nur aus den europäischen Aufnahmegesellschaften, sondern auch vieler Muslime selbst, der Islam müsse sich europäisieren, wenn Muslime hier dauerhaft als geschätzter Teil pluralistischer Gesellschaften leben wollen.«
Während zunächst zwischen Islamisten und Muslimen unterschieden wird, wobei letztere sich durch ihr Akzeptieren der als europäisch benannten Rechte und Werte als integriert auszeichnen lassen, werden die Islamisten und ihre Organisationen als nicht-europäisch bezeichnet, weil sie eben eine Ideologie vertreten, die sich gegen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie richtet. Sodann wird die Forderung erhoben, der Islam müsse sich europäisieren, d.h. sich am europäischen Wertesystem ausrichten und dieses in seine alltägliche Lebensführung und politische Haltung überführen. Mit dieser eigenartigen Zweiteilung zwischen europäisierten Muslimen und außereuropäischen Islamisten wird zugleich die nächste Satz schließt jedoch mit der christlich-jüdischen Prägung eine solche Deutungsoffenheit wieder insofern ein, als sie historisch zunächst ein religiöses Fundament postuliert, dass durch die Aufklärung modernisiert würde. Damit wird eine Kontinuität der Aufklärung mit der Antike explizit zurückgewiesen. Mit Offe gesprochen erzeugt hier die Definition von Kultur intern Ausgeschlossene. Als »faktisch Disqualifizierte« (1996: 282) wird dem Nicht-Religiösen und Fremd-Religiösen kein Platz in der fabrizierten Kultur eingeräumt. Auf dieses Argument hat mich dankenswerterweise Gabriele Wagner aufmerksam gemacht.
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historische Dynamik einer Fundamentalisierung durch Religion auf die Außenseite Europas verwiesen und die Muslime in die jüdisch-christliche Wertsphäre eingegliedert. Diese bilde trotz des Holocausts eine gemeinsame Perspektive: WS-12: »Nun ist es keineswegs so, dass diese Werte und Prinzipien alleine unserem christlichen Erbe geschuldet wären oder gar dem Christentum exklusiv zuzuschreiben sind. Besonders mit dem Judentum verbinden uns gemeinsame kulturelle Wurzeln, die – ungeachtet der verheerenden Verbrechen, die der Nationalsozialismus über Deutschland, Europa und vor allem die Juden gebracht hat – in gemeinsamen Haltungen zu vielen ethischen Fragen Niederschlag finden.«
Diese gemeinsame Perspektive musste von Christen und Juden jedoch erst erarbeitet werden, was Wolfgang Schäuble emphatisch betont und zum Vorbild für den Umgang mit dem Islam erklärt: WS-14: »Im Bewusstsein gemeinsamer Wurzeln sind Christen und Juden in Europa auch im interkulturellen Dialog aufeinander zugegangen. 60 Jahre nach der Shoah ist das Verhältnis zwischen dem deutschen Staat und der jüdischen Glaubensgemeinschaft von partnerschaftlicher Zusammenarbeit geprägt und mit Leben gefüllt. Im Bewusstsein unserer geschichtlichen Verantwortung, aber auch in dankbarer Freude über die Entstehung neuen jüdischen Lebens in unserem Land, haben die Bundesrepublik Deutschland und der Zentralrat der Juden in Deutschland ihre Partnerschaft auf eine dauerhafte vertragliche Grundlage gestellt. Damit sind längst nicht alle Fragen beantwortet. Das Verhältnis Deutschlands zu den Juden wird wohl immer im langen Schatten der Geschichte stehen und auch in der Gegenwart nicht gänzlich ohne Reibungen auskommen. Dennoch darf uns die Entwicklung unseres Verhältnisses zu den Juden Hoffnung machen für den Dialog mit Vertretern auch anderer Religionen und Kulturen.«
Die Gegenüberstellung von Islam einerseits und Christentum und Judentum andererseits wird von Schäuble zwar insofern ambivalent gehalten, indem die Grenze zwischen ihnen überwunden werden kann, sogar überwunden werden muss. Dennoch wird sie zunächst einmal hervorgekehrt, um den Europäisierungsbedarf des Islams auszuweisen. Am schärfsten formuliert das José Manuel Barroso, der Europa insgesamt durch den islamischen Fundamentalismus bedroht sieht: JMB-18: »Doch lassen Sie mich auf mein eigentliches Thema zurückkommen. Fanatismus ist weltweit auf dem Vormarsch. Weltweit melden sich Fundamentalisten zu Wort. Auch Intoleranz nimmt weltweit zu. Machen wir uns nichts vor. Wir müssen den Gefah-
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ren, die unsere Freiheit und unsere Werte bedrohen, mit größter Entschlossenheit entgegentreten. Europa, Wiege der Toleranz gegenüber Menschen, ihren Meinungen, ihrem Glauben und ihren Unterschieden, muss sich Gehör verschaffen. Wir dürfen nicht zögern, denn sonst werden wir eines Tages bereuen, nicht rechtzeitig laut und vernehmlich ›nein‹ gesagt zu haben.«
Hier taucht der Islam nicht nur als das Andere Europas auf, dass mit Hilfe von Dialog und politischen Maßnahmen zu einer Umorientierung geführt werden soll. Der islamische Fundamentalismus, Barroso sagt auch »Fanatismus«, bedroht die europäische Kultur insgesamt. Dagegen müsse man sich aktiv und mit einer gewissen Dringlichkeit wehren: JMB-6: »So, wie sich die Welt uns heute darstellt, halte ich es für unsere Pflicht nicht nur als Politiker, sondern auch als Mitglieder dieser Gesellschaft darauf hinzuweisen, dass die europäischen Werte, die unseren Kontinent und unser gemeinsames Aufbauwerk einen, nämlich Freiheit, Menschlichkeit und Toleranz, bedroht sind. Ihnen allen, die Sie in der Welt der Kultur zuhause sind, möchte ich sagen, dass Europa Sie als Bastion gegen Angriffe auf seine Werte und als Fürsprecher dieser Werte braucht!«
Eine solche Semantik der Bedrohung und des Krieges (»Bastion gegen Angriffe«, »Gefahren entgegentreten«) beschwört den Untergang des Abendlandes und der Konflikt wird mit dem Verweis auf die Unverhandelbarkeit der kulturellen Grundlagen noch verschärft: JMB-19: »Es ist daher wichtig, für Respekt vor der Vielfalt einzutreten. Zugleich aber dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass dieser Respekt wiederum auf einem tieferen Respekt vor bestimmten Grundsätzen beruht, die nicht verhandelbar sind – über Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Freiheit der Kunst lässt sich nicht diskutieren.«
Bislang wurde jedoch nur von Fundamentalismus und Fanatismus gesprochen. Woraus lässt sich also schließen, dass der Islam gemeint ist? Zunächst muss man einschränken, dass nicht nur der Islam gemeint ist, denn wenn Barroso von einem »weltweiten Vormarsch« spricht, dann sind damit auch außereuropäische Regionen gemeint. Und tatsächlich eröffnet Barroso seine Vortrag mit dem Verweis auf den Tod der putinkritischen, russischen Journalistin Anna Politkowskaja, und adressiert damit die undemokratischen Zustände in Russland. Doch die Bedrohung durch die politischen Verhältnisse in Russland, so problematisch sie auch sein mögen, wirkt nur vermittelt auf die Stabilität europäischer Kultur ein. Dass mit Fundamentalismus der Islam gemeint ist, lässt sich dann
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auch bestätigen, wenn man sich den anderen Beispielen zuwendet, die Barroso nennt. Sie beziehen sich auf Vorgänge innerhalb der EU und beziehen sich vor allem auf Selbstzensuren von Kunst und Literatur mit Bezug auf Religionskritik am Islam: JMB-25/26: »Die Freiheit der Kunst verteidigen. Wir dürfen niemals akzeptieren, dass ein Buch nicht veröffentlicht, eine Karikatur zensiert oder eine Oper nicht aufgeführt wird! Lassen Sie uns gemeinsam die kulturelle Pluralität und Diversität in allen ihren Ausdrucksformen verteidigen!«
Obwohl es in Europa auch Zensuren gibt, die sich auf nichtreligiöse Inhalte beziehen, wird stattdessen auf den so genannten »Karikaturenstreit« um die religionskritischen Bilder in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten im September 2005 und die Aussetzung der Mozart-Oper Idomeneo an der Deutschen Oper in Berlin im Herbst 2006 verwiesen. Die anschließende generelle Aufforderung, Kultur in allen ihren Ausdrucksformen zu verteidigen, minimiert aber auch interne Differenzen – schließlich wird auch in Europa Zensur betrieben und man würde kaum das gesamte Spektrum tatsächlich erzeugter Bilder, Schriften, Filme und Aussagen als Ausdruck europäischer Kultur verteidigen. Aus den bisher zitierten Aussagen lassen sich also zwei Äquivalenzketten bestimmen, aus denen sich die religiöse Grenz-Front zusammensetzt: Tabelle 8: Die religiöse Grenz-Front Äquivalenzkette 1 »Europa« jüdisch-christlich Jerusalem = Spiritualität Rom = Rechtsstaatlichkeit Athen = Demokratie • Freiheit • Kunst • Meinung • Glauben • Pluralität • Respekt + integrierte Muslime
Äquivalenzkette 2 »Nicht-Europa« islamistisch Fundamentalismus Fanatismus Bedrohung (Selbst-)Zensur
Im Sinne eines kulturellen Fundaments Europas wird ein jüdisch-christlicher Zusammenhang artikuliert, der sich auf die Werte Spiritualität, Rechtsstaatlich-
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keit und Demokratie bezieht und dem zusätzlich das vorchristliche Athen und die integrierten europäischen Muslime zugeschlagen werden. Dieser Zusammenhang findet seinen Ausdruck in Pluralität, Diversität, Respekt und Freiheit der Meinung, Kunst und Religion. Demgegenüber wird ein Fundamentalismus und Fanatismus postuliert, der als nicht-europäisch und islamistisch beschrieben wird, der gegenüber Europa als Bedrohung auftritt und gegen den man sich zu verteidigen und dem man sich entgegenzustellen habe, da er zu Zensur oder Selbstzensur führen würde. 5.2.2 Werteregister und Bildungskanon Der Grenz-Front zum Islamismus, die Barroso, Schäuble und Ferrero-Waldner konstruieren, wird eine kulturelle Spezifik Europas gegenübergestellt, die vor allem auf zwei Registern an Referenzobjekten beruht: auf einem Register an liberalen Werten und auf einem Register bildungsbürgerlicher Hochkultur. Der Narration (1.) eines europäischen Wertefundaments steht (2.) eine sozialdemokratische Variante gegenüber, die ausgehend von einer krisenhaften Gegenwartsbeschreibung einen möglichen Verlust sozialer Kohäsion identifiziert. Parallel dazu findet (3.) sich ein auch ein Werteregister, das auf zentrale Werte der Aufklärung verweist Zu 1: Das liberale Wertregister betrifft die normativen Orientierungen des politischen Liberalismus, die in der Kultur gelten sollen. Dafür werden einzelne Werte artikuliert, die Auswahl zum Teil begründet oder als kollektiv geteilt vorgestellt. Dabei wird nicht einfach die Verbindlichkeit dieser Werte eingefordert, sondern Europa wird zunächst analog zum Narrativ »Europa als Fortschrittsprojekt« als Verkörperung dieser Werte verstanden: BF-W-20: »Erstens steht Europa für eine Kultur der Vielfalt, nicht für Monokultur. Unser Wahlspruch lautet nicht umsonst ›In Vielfalt geeint‹, und nicht ›e pluribus unum‹.«
Europa soll mit Pluralismus identisch sein und existiert daher nur in der bereits erläuterten Dialektik von Einheit und Vielfalt. Diese Identität wird hier wiederum mit einem Anspruch plausibilisiert, der selbst nicht dem europäischen, sondern dem amerikanischem Kontext entstammt. Die Formulierung, dass es sich dabei »nicht umsonst« um einen gemeinsamen Signifikanten handele, entzieht diese Behauptung jeder Infragestellung, indem auf Gründe referiert wird, die wiederum nicht benannt werden. In genau diesem Sinne werden von Ferrero-Waldner vier weitere Werte benannt, die sie als »Leitbegriffe« (BF-W-19) einführt:
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BF-W-27: »Ein zweiter Grundwert, damit zusammenhängend: Europa steht für eine Kultur der Freiheit. Europa, das heißt, die unantastbare Würde des Individuums und seine Wahlfreiheit zu verteidigen.« BF-W-33/34: »Drittens: Europa steht für Rechtskultur; für die Stärke des Rechts, und nicht das Recht des Stärkeren. Einer der zivilisatorischen Leistungen der Integration ist es, das Recht auf eine überstaatliche Ebene gehoben zu haben. Unsere Rechtsgemeinschaft ist kein Verwaltungsprojekt, sondern eine kulturelle Errungenschaft.« BF-W-38: »Viertens: Europa steht für eine Kultur der Konfliktlösung. Das ist der ›Gründergeist‹ unseres Integrationsprojektes: Die Überwindung von ›Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‹.« BF-W-43/44: »Fünftens: Europa steht für eine Kultur der Kreativität. (…) Sie dürfen wir nicht brachliegen lassen. Im 21. Jahrhundert ist Humankapital unser wichtigster Rohstoff. Hier müssen wir mehr investieren, finanziell und vor allem gesellschaftlich. Bundeskanzlerin Merkel hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass sich Europa seines ›kreativen Imperativs‹ besinnen muss.«
Pluralismus, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Kreativität – damit werden eben jene Signifikanten aufgerufen, die bereits in die Konstruktion der Grenz-Front zum Islamismus eingingen. Zusätzlich wird mit der Konfliktlösung an das erste Narrativ mit seinem Gründungsmotiv angeschlossen, indem es zum »Gründergeist« europäischer Integration erklärt wird. Dabei werden die Werte aber auch konkret »gefüllt« – also mit partikularen Inhalten verknüpft: Während Pluralität kaum ausdefiniert wird, wird Freiheit mit individueller Wahlfreiheit, Rechtsstaatlichkeit mit dem staatlichen Gewaltmonopol, Kreativität mit wirtschaftlich rentablem Humankapital und Konfliktlösung schließlich mit nicht-interventionistischer Außenpolitik identifiziert: BF-W-40: »Dauerhafte Konfliktlösung muss politischer Natur sein, nicht rein militärisch.«
Gerade letztere Rhetorik wird aber auch durch ein Vokabular des Kriegs und des Kampfes konterkariert, wie bereits aus der Grenz-Front zwischen christlichjüdischem Europa und islamistischem Nicht-Europa zu ersehen war. Besonders umfangreich ist die Liste an Werten und Eigenschaften Europas, die in der Rede von José Manuel Barroso aufgeführt wurden. Sie lassen sich in
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verschiedene Wortfelder8 zusammenfassen, die in Tabelle 9 dargestellt sind. Am häufigsten finden sich darin Vokabeln der Freiheit (dreizehnmal verwendet; entweder als abstrakte Freiheit oder als konkrete Freiheit der Rede, des Denkens, Glaubens und vor allem der Kunst, die allein dreimal genannt wird), gefolgt von Vokabeln der Pluralität (9). Gleichauf mit Vokabeln der Toleranz (7) finden sich Begriffe, die sich auf Zugehörigkeit oder Integration beziehen (7); auf den unteren Plätzen finden sich die Vokabeln zum Humankapital (5) sowie zu Partizipation, Demokratie (je 3), Humanismus, Vernunft (je 2) und Frieden (1). Tabelle 9: Wertewortfelder in der Rede von J. M. Barroso Wortfelder Wortfeld der Freiheit (der Kunst, der Rede, der Meinung, der Gedanken, der Religion) Wortfeld der Pluralität (z.B. multikulturell, mehrsprachig, Diversität, Unterschiede) Wortfeld der Toleranz (inkl. Offenheit, Meinung, Glauben) Wortfeld der Integration (inkl. soziale Zusammengehörigkeit, brüderlich, Zugehörigkeit, Sicherheit) Wortfeld des Humankapitals (inkl. Bildung, Kreativität, Innovation, Unternehmensgeist) Wortfeld der Partizipation (Dialog, Teilnahme am öffentlichen Leben) Demokratie, demokratische Werte Humanismus/Menschlichkeit Vernunft (Heroismus der Vernunft) Frieden
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Auffallend ist die Überbetonung von Freiheit und solchen Vokabeln, die auf Pluralität, Toleranz, Demokratie und Humankapital verweisen (insgesamt 37 Nennungen). Sie lassen sich auch als liberale Wortfelder bezeichnen. Einige weitere Wortfelder lassen sich eher einem sozialdemokratischen Vokabular zuschreiben; sie zeichnen sich durch solche Begriffe aus, die auf Integration, Partizipation, Demokratie und Zusammengehörigkeit verweisen (13).9 Ein drittes
8
Gezählt wurden Nomen und Adjektive, die zur Beschreibung von Europas Kultur oder als wünschenswert für den Zustand Europas herangezogen wurden.
9
Im Sinne eines leeren Signifikanten ist Demokratie ein Zeichen, das sowohl in liberale als auch in sozialdemokratische Zeichenketten eingebunden werden kann. Ähnlich
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Konglomerat an Begriffen lässt sich schließlich unter dem Begriff ›Aufklärung‹ subsumieren – es besteht aus den Verweisen auf Humanismus, Vernunft und Frieden (5). Zu 2: Das sozialdemokratische Werteregister wird vor allem in der Rede des tschechischen EU-Kommissars für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit vorgetragen. Vladimír Špidla thematisiert nicht so sehr die religiösen Grenz-Fronten Europas, sondern das so genannte »Europäische Sozialmodell«: VŠ-7: »Ebenso haben wir begriffen, dass der innere und soziale Friede eine der Grundlagen und Grundvoraussetzungen unseres Zusammenlebens in Europa ist. Das in letzter Zeit viel zitierte und viel diskutierte ›Europäische Sozialmodell‹ zielt auf die Erhaltung eben dieses sozialen Friedens in unseren Gesellschaften ab.«
Obwohl Špidla im Gegensatz zu den anderen Vertretern des FundamentNarrativs ein Bewusstsein von der historischen Kontingenz dieser Grundlagen artikuliert (siehe oben, VŠ-3), so spricht er doch von einem europäischen Wesen, dass sich in einer »radikalen Diskontinuität« (VŠ-3) des modernen Europas anzeigt: Vorrang hätten nun sozialer Zusammenhalt, sozialer Frieden und Wohlstand: VŠ-8: »Das europäische Sozialmodell beruht auf gemeinsamen Wertvorstellungen. Eines der wichtigsten Ziele unseres Sozialmodells ist die soziale Kohäsion auf der Basis der Aktivität und Solidarität. Es gibt wohl kein Land in Europa, das die Armut nicht aktiv bekämpft oder eine Ghettoisierung für richtig hält.«
In der Liste an Wertvorstellungen, durch die sich das europäische Sozialmodell auszeichnen soll, fallen vor allem Dimensionen der Teilhabe, der Chancengleichheit und der Solidarität: VŠ-9: »Wir verteidigen in Europa den universalen Zugang zu den sozialen Systemen. Bei einem Unfall erhält der Arme die gleiche Grundbehandlung wie der Reiche.« VŠ-10: »Jeder soll Zugang zum Bildungssystem haben, jeder gemäß seinen Fähigkeiten und seinen Wünschen. Es gilt das Prinzip der Chancengleichheit und der NichtDiskriminierung. All dies trägt zum sozialen Frieden und der Konkurrenzfähigkeit in Europa bei.« verhält es sich mit den Begriffen, die ich als Werteregister der Aufklärung bezeichne, die aber eher unterbestimmt bleiben.
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VŠ-16: »Sehr wohl hat Europa ein ganz eigenes Wesen – zu der nicht zuletzt sein auf den inneren Frieden ausgerichtetes Sozialmodell gehört. Es ist solidarisch und aktiv.«
Die Differenzierungen, die der EU-Kommissar gegenüber diesen modernen Wesenszügen Europas artikuliert, bestehen vor allem in Krisendiagnosen der Armut, Prekarität, sozialer Polarisierung und einer fehlgesteuerten Finanzierung sozialer Sicherungssysteme. Sie verlaufen nicht mehr zwischen einer christlichjüdischen und einer islamischen Kultur, sondern trennen zwei Versionen Europas. Die erste Version ist ein solidarisches Europa, in dem Konflikte dialogisch gelöst werden, die zweite Version ist ein Europa, das als instabil, sozial gespalten und unfähig zur Konkurrenz und Demokratie charakterisiert wird und damit letztlich nicht mehr die Probleme der Gegenwart und nahen Zukunft bewältigen kann: VŠ-14: »Wir müssen die soziale gesellschaftliche Konzeption, die für die Bereitschaft steht, alle mitzunehmen und keinen zurückzulassen, unbedingt erhalten. Dafür ist eine grundlegende Modernisierung unserer sozialen Sicherungssysteme notwendig. Rente, Gesundheit, Arbeitswelt, Immigration und Integration, die demographische Herausforderung usw.«
Die beiden vorgestellten Werteregister, welche die kulturelle Spezifik Europas beschreiben sollen, bilden somit die beiden großen politischen Lager des Liberalismus und der Sozialdemokratie ab. Während das liberale Werteregister für die religiöse Grenz-Front anschlussfähig bleibt, und damit die christlich-jüdischen Wurzeln letztlich mit dem säkularen Vokabular der Freiheit, des Pluralismus, des Kapitals und der Aufklärung verbindet, wartet das sozialdemokratische Wertregister mit einer eigenen binneneuropäischen Grenz-Front auf, die lose an das Wertregister des Liberalismus gekoppelt bleibt: Begriffe, die auf Demokratie verweisen, können Bestandteil beider Äquivalenzketten sein. Obwohl beide Varianten europäischer Wertefundamente die Gegenwart als problematisch oder krisenhaft beschreiben, unterscheiden sich in gleich zweierlei Hinsicht: Die sozialdemokratische Version, wie sie von Vladimír Špidla entworfen wird, folgt einer diskontinuierlichen Geschichtskonstruktion der Moderne, während die liberale Version auf eine kontinuierliche lange Zeit Europas abstellt (siehe Kapitel 5.3.3). Dementsprechend werden in der sozialdemokratischen Variante vor allem Gegenwartsdiagnosen der europäischen Gesellschaft herangezogen. Zu 3: Der liberalen Variante wird jedoch ein Register an Referenzobjekten beigestellt, das aus Schriftstellern und Künstlern des bürgerlichen Bildungska-
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nons und deren Werken besteht. So illustriert Benita Ferrero-Waldner den Begriff der Freiheit mit Beispielen aus der literarischen Aufklärung und der Klassik: BF-W-27: »Europa, das ist aber auch das Widerspiel von Freiheit und Verantwortung. Es ist der tiefe Humanismus des Erasmus ebenso wie die scharfe Ironie von Voltaire. Es ist die Freiheitsliebe aus Schillers Don Carlos und Beethovens Fidelio ebenso wie die Toleranz von Lessings Nathan dem Weisen.«
Die Bandbreite der in ihrer Rede angeführten Referenzen bleibt jedoch nicht auf das bürgerliche Zeitalter des 17. und 18. Jahrhunderts beschränkt. Die Kultur Europas umfasst die Neuzeit, deren Kronzeugen gegenwärtige Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf (BF-W-30), Jürgen Habermas oder Jacques Derrida (BF-W-60) ebenso sein können wie der Shakespeare des Elisabethanischen Zeitalters: BF-W-43: »Das Faustische Streben nach Erkenntnis, das Genie eines Leonardo, aber auch der Hamletsche Zweifel, die Skepsis und das kritische Denken, sie alle sind Teil der ›Conditio Europea‹.«
Eine Liste der von Ferrero-Waldner direkt oder indirekt angeführten Schriftsteller und Künstler umfasst folgende Personen: • • • • • • • • • • • • • •
Ludwig van Beethoven Ralf Dahrendorf Jacques Derrida Erasmus von Rotterdam Johann Wolfgang von Goethe Jürgen Habermas Victor Hugo Imanuel Kant Ephraim Gotthold Lessing Friedrich Schiller William Shakespeare Paul Valéry Leonardo da Vinci Voltaire10
10 Kommissionspräsident Barroso zitiert zudem die Philosophen Edmund Burke und Edmund Husserl, Wolfgang Schäuble erwähnt den jüdischen Intellektuellen Leo Baeck.
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Zu diesen Künstlern, Philosophen und Schriftstellern gesellt Ferrero-Waldner auch noch eine Reihe namhafter Politiker der Zeit seit der Gründung der Montanunion: Jean Monnet, Jacques Delors und Angela Merkel. Obwohl diese sicherlich nicht zum europäischen Kulturkanon gehören, lässt sich doch auch für dieses Narrativ konstatieren, dass sich darin die Trägergruppe europäischer Kultur aus den Intellektuellen und den politischen Eliten zusammensetzt – zudem charakterisiert durch die weitgehende Absenz von Frauen: Hier wird erneut eine Kultur der wenigen, weißen, männlichen Sieger präsentiert. 5.2.3 Lange Zeit und Globalisierung In Gegenüberstellung zum Narrativ des imaginierten politischen Projekts zeichnet sich das zweite Narrativ durch einen gänzlich anderen Umgang mit der Geschichte aus. Während das erste Narrativ vor allem mit zwei zeitlichen Einschnitten operiert, nämlich mit der politischen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Gegenwart, in der es zu einem Bruch zwischen politischer Elite und Zivilgesellschaft gekommen sei, thematisiert das zweite Narrativ vor allem die Veränderungen der Gegenwart, während die Vergangenheit eine kontinuierliche, aber auch zugleich unspezifizierte Zeitspanne darstellt, auf die zurückgegriffen werden kann, um die Gegenwart zu bestimmen. Das ist nur stimmig, wenn Kultur als Substanz Europas, als ein Fundament und damit als etwas Unveränderliches aufgefasst wird. Die Metapher der tiefen, kulturellen historischen und gemeinsamen Wurzeln wird von allen Vertretern dieses Narrativs verwendet: JMB-8: »Denn Europa ist auch und vor allem Kultur. Es hat sich ganz bewusst dafür entschieden, bei allem Respekt für nationale, regionale und lokale Identitäten diese hintanzustellen und die Völker mit dem Hinweis auf ihre tiefen gemeinsamen Wurzeln zusammenzuführen.«
Barroso spricht damit eine über die Städte, Regionen und Nationen hinwegführende Gemeinsamkeit an, an welche eine europäische Identität anknüpfen kann, gerade weil diese Gemeinsamkeit vorgängig ist. Das Bild der Wurzel impliziert nicht nur, dass sie unter der Erde und damit zum Teil dem direkten Blick entzogen sei, sondern auch, dass sie mit der Zeit gewachsen sei. Deutlicher noch macht es Wolfgang Schäuble, der diese Wurzeln mit einem zeitlichen Index versieht:
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WS-6: »Wir müssen uns der kulturellen Wurzeln und Grundlagen europäischen Denkens und Handelns bewusst werden, wie sie sich über Jahrhunderte, ja Jahrtausende entwickelt haben.
Was als Werte und kulturelle Referenzen Europas gilt, soll das Ergebnis einer langsamen Entwicklung darstellen. Dabei führt Schäuble moderne Werte auf eine interne Transformation der christlichen Kulturwelt zurück: WS-7/8: »Durch zahlreiche, auch blutige innerchristliche Auseinandersetzungen und Konflikte, durch die Reformation und die Aufklärung sind wir zu einer europäischen Kultur gelangt. Sie bewahrt die ethischen Forderungen und Errungenschaften des Glaubens, ohne jene jedoch zum Instrument politischer Machtansprüche verkommen zu lassen. Für uns Europäer ist klar, dass keine religiöse Ordnung zur Grundlage politischer Ordnung werden darf. Unveräußerlich sind Rechte und Pflichten, die dem Einzelnen in der freiheitlichen demokratischen Gesellschaft zukommen, wie sie sich ausgehend vom Recht der Glaubensfreiheit entwickelt haben. Die Universalität der Menschenrechte gründet in der aus dem christlichen Glauben gewonnenen Erkenntnis, dass jeder Mensch – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und natürlich auch Religion – Träger seiner eigenen, unveräußerbaren Menschenwürde ist.«
Es wird eine direkte Linie von der Religion zur Säkularisierung gezogen, deren Konfliktivität zwar notiert, aber letztlich als Katalysatoren für einen Wandel betrachtet wird, in dem sich die modernen demokratischen und liberalen Werte direkt aus der Religion ableiten lassen. Unterhalb der Konflikte und veränderten Werteorientierungen kann auf etwas Gemeinsames zurückgegriffen werden, dass über die Jahrhunderte hinweg identisch blieb. Wolfgang Schäuble argumentiert hier noch vergleichsweise differenziert. Die lange Zeit der europäischen Kultur hat ihre Schattenseiten, wenn sie sich auch in der Moderne mit ihrem Prinzip der Gewaltenteilung und den Menschenrechten voll entfaltet hat. Demgegenüber sprechen Ferrero-Waldner und Barroso von Europa als »Wiege des Individualismus« (BF-W-29) und als »Wiege der Toleranz gegenüber Menschen« (JMB-18). Beides sind Werte, die in der Rede von Wolfgang Schäuble Verwendung finden. Mit dieser Kurzformel, die Europa zum Ursprung der Moderne macht, ohne zeitliche Periodisierungen einzuführen, wird der Gegenwart eine sehr lange Vergangenheit gegenübergestellt, die nur durch wenige zeitliche Markierungen strukturiert wird.11 Hier gewinnt nun auch der 11 Ferrero-Waldner spricht davon, dass Europa das Individuum auch deshalb so hochschätze, »weil wir aus den Exzessen des Massenzeitalters, den Katastrophen des Kol-
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Verweis auf die Antike an Sinn, der die Funktion einer primären Quelle des modernen Europas zukommt. Die zitierten Künstler, Philosophen und Schriftsteller entstammen allesamt der Renaissance und der Neuzeit. Demgegenüber fehlt für das Mittelalter, d.h. für die Hochzeit der christlichen Herrschaft in Europa, jede Referenz. Diese Konstruktion eines langen Zeitraumes mit seinen Ausblendungen und Verkürzungen dient den Rednern jedoch nicht dazu, eine historisch korrekte Sichtweise auf Europa zu werfen. Der eigentliche historische Einschnitt wird in der Gegenwart vorgenommen und dafür benötigen die Redner eine Kontrastfolie, die Stabilität verspricht: Während das Europa bis in die jüngste Vergangenheit sich durch eine konstante Entwicklung seiner eigenen kulturellen Grundlagen auszeichnet, ist die Gegenwart instabil, unsicher und krisenhaft. Diese Krisenhaftigkeit wird jedoch nicht aus der eigenen politischen Dynamik heraus erklärt – eine zu schnelle Expansion bei zu geringer Integration der Zivilgesellschaft – sondern aus externen Quellen: In der Artikulation der religiösen GrenzFront zum Islamismus wurde schon eine solche externe Quelle der Bedrohung identifiziert. Eine zweite umfassendere Quelle bildet hingegen die Globalisierung. Sie stellt Europa in mehrfacher Hinsicht vor Herausforderungen, die einen Rückgriff auf ein kulturelles Fundament notwendig machen, soll sich Europa als Einheit bewähren. Die Funktionalität der Kontinuität europäischer Kultur wird deutlich, wenn man sich folgendem Argument von Ferrero-Waldner zuwendet: BF-W-13: »Unsere Werte, unsere ›Seele‹, unsere Kultur haben also keinen ›musealen Charakter‹, sondern sind im Gegenteil Zukunftsbausteine für eine globalisierte Gesellschaft.«
Die Werte dienen als Ressource, um die Zukunft Europas angesichts der Globalisierung zu gestalten. Wären sie museal, d.h. würden sie als Referenzen einer Vergangenheit betrachtet, die man ausstellen und der man sich mit Distanz nähern könnte, so wären sie Elemente, die man für die Zukunft nutzbar machen könnte. Die Werte müssten dafür gegenwärtig sein und Teil eines überzeitlichen Kontinuums darstellen. Sie müssen in ein Selbstbild Europas eingebunden werden:
lektivismus im 20. Jahrhundert gelernt haben.« (BF-W-29). Hier wäre eine sehr kurze Entwicklung des Individualismus beschrieben, was jedoch mit der Vorstellung eines kollektiven kulturellen Unterbewussten widerspricht, aus dem die kulturelle Vielfalt abzuleiten sei.
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BF-W-5: »Die Frage nach Europas Selbstbild ist in dieser Epoche relevant wie nie. Die Welt wächst zusammen. Das ist kein Nullsummenspiel. Wir lösen eine massive Globalisierungsdividende ein.«
Doch was wird eigentlich als Globalisierung verstanden? Streng genommen gibt Ferrero-Waldner gar keine Definition von Globalisierung: BF-W-8: »Globalisierung geschieht! Und die EU muss in die Offensive, um sie mitzugestalten. Die EU ist nicht das Trojanische Pferd der Globalisierung, sondern unsere Antwort darauf. ›Globalisierungsmanagement‹: Das ist heute die ›raison d’être‹ der EU.«
Abgesehen davon, dass Formulierungen wie »Globalisierung geschieht!«, »Die Welt wächst zusammen« oder »in die Offensive müssen« nahe legen, dass Globalisierung eine unausweichliche Bedingung für europäische Politik darstellt, wird sie anhand der Effekte charakterisiert, die aus ihr entstehen und denen man konkret begegnen muss. Hier wird ein komplexer weltpolitischer Prozess, über dessen Ursachen und Folgen die Sozialwissenschaften unterschiedlichste Erklärungen und Beschreibungen anfertigen, als unausweichliche Erscheinung beschrieben, mit der sich die Welt konfrontiert sieht. Interessant ist darüber hinaus, dass Ferrero-Waldner die EU nicht als verdeckten Verursacher der Globalisierung versteht, die der EU einen dauerhaften weltpolitischen Erfolg zuführt. Das Bild des Trojanischen Pferdes impliziert schließlich, dass der Sieg durch eine List errungen wird, die den Kämpfer verdeckt ins Zentrum des gegnerischen Lagers führt. Damit widerspricht FerreroWaldner zunächst einer Konzeption von Globalisierung, in der die EU ihre eigenen Gesellschaftsstrukturen anderen Gesellschaften aufzwingen will, sondern beschreibt die Institutionen der EU selbst als Effekt der Globalisierung. Die EU gibt es nur, weil sich die europäischen Staaten einer Globalisierung ausgesetzt sehen, die sich zunächst vor allem in ihren negativen Folgen auszeichnen: BF-W-6/7: »Andererseits sehen wir ihre ›dunkle Seite‹: Extremismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Auswirkungen regionaler Konflikte auf Sicherheit, Wirtschaft und Energieversorgung, dazu Migration und Klimawandel. Die Antwort darauf ist aber nicht, sich in eine ›Festung Europa‹ zurückzuziehen. Wir können Europas Wohlstand und Werte nicht wahren, indem wir uns aus der Geschichte ›ausklinken‹.«
Aufschlussreich ist dieses Zitat zunächst einmal bezüglich der Konzeption von Globalisierung. Globalisierung wird vor allem als ein äußerer Sachzwang begrif-
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fen, dem man sich ausgesetzt sieht und der sich nicht verhindern lässt. Globalisierung erzeugt hier also vor allem Unordnung und Unsicherheit. Die hier aufgelisteten Bedrohungen scheinen sich mit Ausnahme des Klimawandels auf die Staaten auf der Seite jener Globalisierungsverlierer und ihre Unfähigkeit zu einem erfolgreichen Globalisierungsmanagement zu beziehen. Doch genau lassen sich die Urheber oder konkreten Verkörperungen dieser Folgen in FerreroWaldners Rede nicht ausmachen. Sie bleiben auf einer kategorischen und abstrakten Ebene: Sie spricht weder von konkreten Krisenherden, noch von den Besitzern der Massenvernichtungswaffen, nicht von identifizierbaren extremistischen Gruppen, von den Verursachern des Klimawandels oder den Wegen und Aufenthaltsorten der migrierenden Menschen. Globalisierung erzeuge auf Seiten der Bevölkerung Angst, auf die man politisch zu reagieren habe, da von dieser Politik die Legitimität der politischen Institution ›Europäische Union‹ abhänge. Man kann es auch folgendermaßen umformulieren: Die Legitimität der EU verdankt sich ihrer Fähigkeit, aus den Ängsten der Bevölkerungen politischen Profit zu schlagen. Diese politische Logik funktioniert dadurch, dass zunächst eine Unsicherheit durch Globalisierung unterstellt wird, die sich in der Bevölkerung der EU-Bürger nicht als Angst vor Globalisierung, sondern als Unbehagen gegenüber Europa, sprich Angst vor Europa, ihren Ausdruck findet. Durch diese Re-Definition eines postulierten Unbehagens gegenüber Europa als Angst vor der Globalisierung soll es der EU nun möglich sein, selbst eine Politik zu verfolgen, die in der Lage ist, zugleich das Unbehagen gegenüber den Institutionen zu beseitigen und die Folgen der Globalisierung zu meistern: BF-W-9/10: »Eine stärkere EU auf der Weltbühne, ist nicht nur eine Frage der Effizienz, sondern auch ein Beitrag zur Legitimität der Union. Das aktuelle ›Unbehagen an Europa‹ hat viel mit Globalisierungsängsten zu tun. Mehr als zwei Drittel der EU-Bürger wünschen sich eine stärkere EU-Außenpolitik. Wir sollten dem Folge leisten! Doch diese EU-Außenpolitik kann keine wertfreie ›Realpolitik‹ sein. Das entspräche nicht unserem Selbstverständnis und wäre in einer vernetzten Welt kontraproduktiv.«
Die Kommissarin plädiert dann auch für eine Außenpolitik, die sich an den bereits oben ausgeführten Werten Pluralität, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Konfliktlösung und Kreativität orientiert: BF-W-42: »Die EU kann hier, mit ihrer breiten, postmodernen Außenpolitik einen wichtigen Beitrag leisten. Und diese Politik muss wiederum auf Werte aufbauen. Denn Kon-
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fliktlösung beruht eben auf Respekt und Relativierungsvermögen, ohne aber eigene ›Kernwerte‹ aufzugeben.«
Neben diesen eher negativen Folgen der Verunsicherung wird eine zweite Folge der Globalisierung identifiziert, die ebenso unausweichlich der europäischen Politik ihre Richtung aufzwingt, aber wesentlich positiver bewertet wird – Wettbewerb: BF-W-62: »Europa steht nicht nur vor wirtschaftlicher Konkurrenz, sondern in einem globalen geistigen Wettbewerb. Wer Europa darauf vorbereiten will, der muss sein Wertebewusstsein schärfen.«
Die Begriffe ›Wirtschaftsstandort‹ und ›geistig-kultureller Standort‹ bemühen eine Semantik des Wettbewerbs, dem man sich als weltpolitischer Akteur ausgesetzt sieht, und in dem man über bestimmte Ressourcen verfügen und diese taktisch und strategisch einsetzen muss, um sich durchzusetzen. Die Strategie, mit der man sich in diesem Wettbewerb zu positionieren habe, heißt Globalisierungsmanagement. Einem Wettbewerb wird mit unternehmerischem Handeln begegnet, das zugleich die Begründung der EU als solche darstellen soll. Doch wie lässt sich dieses Argument verstehen, dass angesichts einer Globalisierung Kultur als Objekt eines politischen Managements Europas strategisch eingesetzt werden soll? Zunächst ist der Wettbewerb nicht bloß ökonomischer, sondern auch »geistig-kultureller« Natur. Man müsse sich also in einem kulturellen Wettbewerb bewähren: BF-W-11: »In dieser Wendezeit ist es wichtig, dass sich Europa seines inneren Kompasses, seiner ›Seele‹ besinnt. Denn Europa ist nicht nur ein Wirtschaftsstandort, sondern ein geistig-kultureller Standort.«
Diese Wettbewerbssemantik, übertragen auf die Kultur, entspricht der Vorstellung eines ›Kampfes der Kulturen‹, wie sie von Samuel Huntington (1996) vertreten wird. Zwar gibt es in der Rede von Ferrero-Waldner keinen Hinweis darauf, dass dieser ›Kampf der Kulturen‹ eine historische Notwendigkeit sei, dennoch spricht sie einem möglichen ›Kampf der Kulturen‹ weltpolitische Aktualität zu:
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BF-W-28: »Diese Toleranz ist als Basis einer liberalen Gesellschaft besonders wichtig, gerade jetzt, wo der angebliche ›Kampf der Kulturen‹ zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden droht.«
Dabei zeigt sich jedoch, dass die darin steckende politische Logik das Ziel verfolgt, mittels des Rückgriffs auf europäische kulturelle Eigenheiten, die in der Vergangenheit begründet wurden, nun weltpolitisch zu agieren. Damit artikuliert Ferrero-Waldner das Argument, dass sich wahre Innovation nur durch die Rückbesinnung auf Traditionelles generieren lassen. Fortschritt sei nur denkbar, wenn man sich der Vergangenheit zuwende. Für Ferrero-Waldner stellt Globalisierung zunächst einmal einen historischen Differenzmarker dafür dar, dass sich in der Gegenwart etwas ändert, wofür sie auf ein modernisierungstheoretisches Vokabular der Entgrenzung oder Vernetzung zurückgreift: Sie spricht dann von einer »globalen Informationsgesellschaft« (BF-W-30), von »vernetzte(r) Welt« (BF-W-16) und der Notwendigkeit einer »postmodernen Außenpolitik« (BF-W-48), die auf den »Wegfall von Grenzen« (BF-W-29) zu reagieren habe. Demgegenüber charakterisiert sie zwar kategorisch Globalisierung als »politisch, rechtlich, wirtschaftlich, aber auch kulturell« (BF-W-24), sie führt aber nicht näher aus, worin in Politik, Recht, Wirtschaft und Kultur sich die Globalisierung niederschlägt. Politisch ergeben sich aus den vorgenommen Zeit- und Krisendiagnosen drei politische Handlungsstrategien, die sich aus diesem Narrativ begründen lassen: Eine erste Strategie besteht im offensiven Missionieren. Fehlentwicklungen außerhalb Europas können nicht mehr einfach hingenommen werden, sondern verlangen ein Eingreifen und eine Transformation anderer Staaten: BF-W-45-51: »Meine Damen und Herren! Sie sehen, wie stark die internationale Dimension von Europas ›Seele‹ ist. Sie zu transportieren, ist daher nicht nur eine Frage unseres moralischen Selbstverständnisses, sondern in unserem Eigeninteresse. Unsere Grundwerte sind Eckpfeiler offener Gesellschaften. Sie weltweit zu fördern, schafft Sicherheit. Indem wir ›gutes Regieren‹ unterstützen, stärken wir das Gewebe der Globalisierung. Wir mussten ja in jüngster Vergangenheit erkennen, dass fehlende Mitbestimmung, Menschenrechtsverletzungen und Wirtschaftsmisere Radikalismus produzieren, der vor unseren Grenzen nicht halt macht. Das heißt nicht, dass wir unsere Kultur einfach ›exportieren‹ oder gar aufoktroyieren wollen. Ich plädiere nicht für ›liberalen Imperialismus‹. Das wäre verfehlt und kontraproduktiv.
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Sondern wir müssen behutsam zu einem ›hausgemachten‹ Systemwechsel beitragen, der dem menschlichen Grundbedürfnis nach Freiheit und Mitbestimmung Rechnung trägt. Wie universell dieses Wertesubstrat ist, spiegeln die UN-Human Development Reports zur arabischen Welt wider. Sie belegen, wie sehr sich die Menschen der Region Reformen und Demokratie wünschen. Denken Sie auch daran, dass 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking Beethovens Neunte Symphonie gespielt wurde, als die Panzer heranrollten. Kurzum, um mit Victor Hugo zu sprechen: ›Man kann die Invasion von Armeen aufhalten, aber nicht die Invasion von Ideen.‹ Die EU muss daher die ›Seele‹ ihrer Außenpolitik ausstrahlen. Durch diplomatische Vermittlung und gezielten Druck; durch Dialog mit der Zivilgesellschaft und mit religiösen Führern; durch die Förderung von menschen- und insbesondere Frauenrechten, und durch wirtschaftliche und finanzielle Anreize, auch im Bereich Bildung, um dem explosiven Freiheits- und Gender-Defizit in vielen Regionen entgegenzuwirken.«
Europa bildet das kulturelle, moralische und politisch fortschrittliche Zentrum, dass in der Pflicht steht, seine eigenen Errungenschaften einem weniger entwickelten Außen näherzubringen. In Abgrenzung zur Politik militärischer Interventionen, wie sie von den USA mit ihrem liberalen Imperialismus repräsentiert wird, muss Europa inhaltlich überzeugen und von innen nach außen wirken. Die Strahlkraft europäischer Kultur hat an den Bedürfnissen der Menschen in den nicht-europäischen Staaten anzusetzen, die für die europäischen Werte gewonnen werden sollen: Europa hat eine neue Mission und sie soll vor allem Europa selbst zugutekommen: BF-W-59: »Und es ist unsere Aufgabe, diesen ›way of life‹ auszustrahlen. Das ist der Kern der EU-Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Es geht somit nicht nur um die innere ›Verfasstheit‹ Europas, sondern auch um seine internationale ›Mission‹. Vielleicht ist Europas globale Rolle ja die Keimzelle eines neuen europäischen Narratives.«
Demgegenüber bediente José Manuel Barroso in einer zweiten Strategie eine Kriegsrhetorik. Davon ausgehend, dass die politischen Gegner des Liberalismus nicht für die europäischen Werte gewonnen werden könnten, müssten diese Werte, allen voran die Freiheit selbst in ihren verschiedenen Spielarten, verteidigt werden. JMB-6: »Ihnen allen, die Sie in der Welt der Kultur zuhause sind, möchte ich sagen, dass Europa Sie als Bastion gegen Angriffe auf seine Werte und als Fürsprecher dieser Werte braucht!«
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Die Mobilmachung der Kultur und seiner Träger muss zügig erfolgen, oder es droht eine kulturelle Niederlage. Mit dem Verweis auf die kulturelle Katastrophe des Nationalsozialismus wird diese Haltung als heroisch charakterisiert. Die Verteidigung der Kultur verlangt Mut und gewährt Achtung und Ehre, die im Stil einer moralischen Stärkung der Kampftruppen vorgetragen wird: JMB-32: »Möge jeder von uns an seinem Platz seinen Beitrag zu diesem Heroismus der Vernunft leisten, damit sich die Fehler der Vergangenheit weder in Europa noch anderswo auf der Welt jemals wiederholen können.«
Eine dritte Strategie zielt schließlich auf die muslimischen Migranten, von denen ein Bekenntnis zum europäischen Wertekanon verlangt wird. BF-W-26 »Wir brauchen einen erneuerten Grundkonsens. Wir brauchen ein unumgängliches Bekenntnis zu unserem Wertefundament, nicht zuletzt von Einwanderern.«
Das europäische kulturelle Fundament verlangt Anerkennung und Respekt, ist nicht beliebig verhandelbar. Daran darf auch keine Partei aus den eigenen Reihen rütteln. WS-22: »Wo sich vielfältiges neues jüdisches und auch muslimisches Leben gebildet hat, bieten sich auch Chancen, die vielfältige Kultur Europas als Fundament unseres Handelns wieder zu entdecken. Vielleicht ist es gerade die Vielfalt, die Europa so einzigartig und anziehend macht. Kulturelle Vielfalt bedeutet jedoch nicht, dass verbindliche, kulturell begründete ethische und politische Grundlagen unseres Zusammenlebens etwa aus religiösen Motiven heraus in Frage gestellt werden dürfen. Hier liegen die Grenzen des politischen Konsenses, der die europäische Einheit trägt.«
An diesem Zitat von Wolfgang Schäuble wird zudem deutlich, dass Kultur auch ein Instrument der Durchsetzung nationaler Machtinteressen darstellt. Sollte die EU grundsätzliche politische Werte zur Disposition stellen, sieht sich der Innenminister Deutschlands auch dazu in der Pflicht, eine härtere Position einzunehmen und diese auf nationaler Ebene stark zu machen. Die Fundamente der europäischen Einheit liegen jenseits eines politischen Konsenses, der prinzipiell auch aufgekündigt werden kann. Die kulturellen Grundlagen sind absolut verbindlich und ohne Alternative.
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Versteht man Kultur als Fundament, dann entzieht man den politischen Akteuren die Möglichkeit, in jene einzugreifen. Man kann und soll sie zwar nutzen, muss sie schützen und anbeten, aber dieses Narrativ hat keine Vorstellung dazu entwickelt, wie Kultur selbst produziert wird. Dennoch finden sich auch in den Reden von Barroso und Ferrero-Waldner Aussagen, die Kultur als Ort und Objekt der Investition präsentieren: BF-W-44: »Sie dürfen wir nicht brachliegen lassen. Im 21. Jahrhundert ist Humankapital unser wichtigster Rohstoff. Hier müssen wir mehr investieren, finanziell und vor allem gesellschaftlich. Bundeskanzlerin Merkel hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass sich Europa seines ›kreativen Imperativs‹ besinnen muss.« JMB-12: »Die Kultur ist ein echter Wirtschaftsfaktor. Sie trägt zur Schaffung von Wohlstand bei. Sie schafft neue Arbeitsplätze. Sie hat ihren Anteil an Innovation, Unternehmungsgeist und Wissensvermittlung. Nach einem unlängst von der EU in Auftrag gegebenen Bericht werden 2,6 % des BIP im Bereich Kultur erwirtschaftet - absolut gesehen eine enorme Summe. Daher ist der Gedanke, dass Kultur und künstlerisches Schaffen zum wirtschaftlichen und sozialen Erfolg Europas beitragen können, für mich keineswegs ein Tabu. Auch den Gedanken, durch den Wirtschaftsfaktor Kultur zur europäischen Integration beizutragen, halte ich keineswegs für abwegig.«
Kultur, so klingt es hier an, ist Teil des Humankapitals, dem man sich in der Gegenwart zuwenden muss, um Wirtschaftswachstum zu generieren. Die ersten beiden Narrative ließen sich als Glaubensbekenntnisse zu verschiedenen Werteregistern verstehen, seien diese nun politisch oder religiös. Doch eine solche Initiative kommt nicht allein zusammen, um sich mit der Definition europäischer Kultur um ihrer selbst willen zu beschäftigen. Es geht dabei auch um politische Interessen und ökonomische Möglichkeiten. Hans-Gert Pöttering sagt das auch ganz deutlich: H-GP-(1)-8/9: »Nach mehreren Gesprächen war mir klar: Es sollte tatsächlich nicht primär der Kultur, sondern der Europapolitik weitergeholfen werden. Und der Vorschlag war nicht, die Stellung der Kulturpolitik in der Europäischen Union zu stärken, sondern die Ressorts außerhalb der Zuständigkeit des Kulturkommissars mit Kultur im besten Sinne zu infiltrieren - von der Justiz über die Wirtschafts-, die Sicherheits- und Außenpolitik bis hin zur Regional- und Strukturpolitik.«
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Kultur ist ein Instrument, das dazu benutzt werden kann, um die drängenden politischen Probleme Europas zu lösen. Die Kultur ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern um zu dienen. Während die anderen Narrative Kultur stets noch als etwas Autonomes vorstellten, dem man sich zuwenden solle, bildet es für Hans-Gert Pöttering einen Transmissionsriemen, um in den verschiedenen politischen Feldern Fortschritte zu erzeugen. Für den EU-Parlamentarier dreht sich damit das Verhältnis zur Kultur um 180 Grad: H-GP-(1)-7: »Die Kultur nicht als Anspruchsteller, sondern als Anbieter europapolitisch verwertbarer Konzepte und Methoden – das war neu. Appelle, die EU solle mehr Kultur fördern, die kannten wir Parlamentarier; aber dass die Kultur die Europapolitik befördern und beeinflussen sollte – wie sollte das gehen?«
Der Common Sense läge also darin, in der Kultur etwas Zweckfreies, Schönes zu sehen, das man um seiner selbst zu fördern habe und womit sich die Gesellschaft schmücken könne. Kultur wäre dann schwach und der Förderung bedürftig, weil sie nicht sofort Machtgewinn oder Profit erwarten lässt. Dass die Berliner Konferenz eine andere Haltung einnimmt, macht auch Volker Hassemer, der Sprecher des Think Tanks, deutlich: VH-5: »Der Prozess der europäischen Einigung braucht eine Seele, damit er nicht nur äußerlich weiter vorankommt, sondern auch qualitative Fortschritte macht, die ihn erst stabilisieren können. Unsere Sorge gilt also der Zukunft Europas, nicht dem Wohlergehen der Kultur. Wir sind keine Kulturlobby, wenn wir sagen, dass Europa für sein Fortkommen seine kulturellen Kräfte nutzen muss.«
Aus dem Fundament werden Mittel, die eingesetzt werden können, um Europa zu stärken. Dafür sollen politische Programme aufgelegt werden, die auf lokaler und regionaler Ebene nicht nur ökonomische Anreize, sondern profitable Infrastrukturen schaffen sollen: VH-31: »›Europa eine Seele geben‹ heißt, auch, viertens, gesellschaftliche und ökonomische Strukturen durch lokale und regionale kulturelle Aktivitäten systematisch und nachhaltig zu stabilisieren. Das belegen wir mit dem Projekt ›Kultur zur Strukturentwicklung‹.«
Doch ein solches Unterfangen kann nicht allein vonseiten der Politik gestemmt werden. Volker Hassemer macht deutlich, dass für die Produktion ökonomisch verwertbarer Kulturgüter erneut die Zivilgesellschaft zuständig sei – sie ist dazu
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aufgefordert, sich ihrer eigenen kulturellen Eigenschaften zu besinnen und diese in kulturelle Leistungen zu transformieren: VH-32: »›Europa eine Seele geben‹ heißt auch – das ist das fünfte Beispielsprojekt – in Städten und Regionen, wo die Kultur Europas Wirklichkeit wird, das Bewusstsein dafür zu verbreiten, dass kulturelle Leistungen Leistungen für Europa sind und die Bürger der Städte und Regionen damit eine eigene europäische Verantwortlichkeit haben.«
Am Horizont zeichnet sich ein zweiter Modus des »Governing the Bottom-Up« ab, der nun nicht auf eine Anerkennung des europäischen Institutionengefüges zielt, sondern auf eine Arbeit am eigenen Kulturkapital. 5.3.1 Kultur als Wirtschaftssektor und Humankapital: Governing the Bottom-Up II Die Kultur soll dienen, soll sich vermehren und den europäischen Staaten ökonomischen Profit erzeugen. Der EU-Kommissar für allgemeine und berufliche Bildung und Kultur, Ján Figel’, vertritt diese Konzeption und führt dazu aus: JF-15/16: »We have just published a study on the economy of culture in Europe. I presented it to EU culture ministers at a Council meeting earlier this week. This is a very interesting document. It highlights both the direct contribution of the cultural and creative sectors to the Lisbon Agenda (in terms of GDP, growth and employment), as well as the indirect contribution (links between creativity and innovation, links with the ICT sector, regional development and attractiveness). By way of example, the cultural and creative sector represents 2.6 % of European GDP (as opposed to 1.9 % for the food, beverage and tobacco industries. It employs 5.8 million people (and this is a conservative estimate).«
Kultur wird hier als eigener Wirtschaftssektor verstanden, der zum Bruttosozialprodukt beiträgt und Arbeitsplätze schafft. Die Nahrungsmittel- und Tabakindustrie dient zwar zunächst als Vergleichsgröße, führt aber auch den Index der Unterscheidung zwischen einfachem Konsum und hochwertiger Kulturproduktion mit sich. So ist es nur folgerichtig, wenn Figel’ nicht mehr zwischen Kultur und Wirtschaft unterscheiden möchte: JF-17: »Our research confirms that the cultural and creative sectors have a significant impact on growth and jobs. We have to overcome the usual image of a dichotomy between economy and culture.«
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Die Vorstellung, Kultur sei etwas Unantastbares, wird zurückgewiesen; ihr Wert besteht nicht aus sich heraus, sondern zeigt sich in den erwirtschafteten Summen: JF-19: »Creativity and innovation are essential for growth and competitiveness in the knowledge era. Let me add one thing in this respect. Support to the cultural industries is often perceived as an extravagant expense. However, nothing could be further from the truth. Culture is not a luxury; it is in fact an extremely sound investment. Culture brings money!«
Damit nimmt Kultur die Form eines Kapitals an, das eine Rendite abwirft. Kultur ist eine Ressource, in die nicht einfach um ihres Gebrauchswertes willen investiert wird, sondern weil durch die Investition in sie Geld erzeugt wird. Dass Kultur kein Luxus ist, entspricht durchaus auch einer Vorstellung einer autonomen Kultur, die für alle gleichermaßen zugänglich sein soll und ohne die es keine Identität gäbe – aber hier ist die Kultur kein Luxus, weil Europa im globalen Wettbewerb der Wissensgesellschaft auf eine solch profitable Quelle keinesfalls verzichten kann. JF-20: »Every Euro spent on culture generates large returns in economic terms – as I said – but also in terms of employment, quality of life and social benefits.«
Und gewonnenes Kapital lässt sich erneut investieren, indem mit dem erwirtschafteten Geld Arbeitsplätze geschaffen werden. Daher sei es die Aufgabe der EU, möglichst gute Bedingungen für Kreativität, Innovation und Kulturproduktion herzustellen. Nicht die Kultur muss also gefördert werden, sondern die Bedingungen, unter denen Kulturproduktion stattfindet, müssen verbessert werden: JF-18: »The EU should help to build an environment that stimulates creativity in our economies and societies.«
Doch worin soll nun eigentlich das Kapital, das sich in der Kultur verkörpert, bestehen? Wer soll es hervorbringen und nutzbar machen und wie kann es nach Ansicht der Redner mobilisiert werden? Die Redner sind sich auch hier zum größten Teil einig: Kultur wird verstanden als der breite Markt an Kunst- und Kulturproduktion inklusive ihrer privaten und öffentlichen Förderinstitutionen. Dazu kommen die Medien- und Werbebranche und schließlich auch die Bil-
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dungs-, Wissenschafts- und Forschungsorganisationen. In diesem Sinne wird dann auch »Europa eine Seele geben« zu diesen Verkörperungen gezählt: JF-23/24: »Cultural operators and artists can contribute a great deal. One notable example is the ›Civil Society Platform for Intercultural Dialogue”, which is just starting to take shape. This is an initiative led by the European Forum for Arts and Heritage, the European Cultural Foundation, and the Network for European Foundations. I am glad also to see that the ›Soul for Europe‹ will take part in this platform.«
Verantwortlich ist also noch einmal die Zivilgesellschaft in der Form von Organisationen, die sich der Finanzierung, Produktion und Vermarktung von Kultur widmen sollen. Auf der Tagung sprachen daher auch Vertreter verschiedener Stiftungen, die »Europa eine Seele geben« unterstützen: Dazu gehören die Calouste Gulbenkian Foundation, das Open Society Institute, die Allianz-Stiftung, das Brasilianische Serviço Social do Comércio Sao Paolo, der Riksbanken Jubileumsfond und die Robert-Bosch-Stiftung. Als mögliche Disseminatoren werden auch das spanische Cervantes-Institut und das deutsche Goethe-Institut gesehen, mit denen die politische und ökonomische Verwertung von Kultur befördert werden soll. Deren Aufgabe beschreibt Emílio Rui Vilar von der Calouste Gulbenkian Foundation als stärkere Vernetzung, Kooperation und Dialogisierung. ERV-18: »Foundations can indeed foster mutual knowledge through networking and issue-based cooperation. We can broaden exposure to transnational experiences, strengthening intercultural dialogue and mutual understanding. This is a clear commitment of the European Foundation movement, assumed by the European Foundation’s Centre (EFC).«
Inhaltlich wird Kultur dann vor allem als Kreativität und Innovationsfähigkeit verstanden: Konzepte, mit denen sich Kultur leichter einer ökonomischen Verwertung zuführen lassen. ERV-16: »Second, culture could leverage innovation and competitiveness through the promotion of creation and creativity. A more dynamic and creative environment can be a positive factor for the accomplishment of the Lisbon Agenda goals. A recent paper of ECP clearly shows the interaction between creativity – innovation – competitiveness.«
Hinzu kommt eine Vorstellung von Bildung, die im Erwerb von Fertigkeiten besteht, mit denen die europäischen Länder im globalen Wettbewerb bestehen können. Für den Bildungskommissar Figel’ erhält dabei vor allem die Mehrspra-
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chigkeit als Grundlage für einen interkulturellen Dialog eine besondere Bedeutung, da mehrsprachige Bürger stärker an der Kultur partizipieren und daher auch wirtschaftlich erfolgreicher sein können. Dafür wurde das Jahr 2008 zum »Jahr des Interkulturellen Dialogs« ausgerufen: JF-37-40: »The Year of Intercultural Dialogue will try to address these challenges pursuing three overall goals: • raising the awareness of European citizens and of those living in the Union; • developing social and personal habits that will equip us for a more open and complex cultural environment; • finally, intercultural dialogue is linked to a more political goal: creating a sense of European citizenship.«
Der Bürger soll sich mit Europa identifizieren und sich entsprechend derart selbst transformieren, dass er mit dem nötigen Rüstzeug ausgestattet ist, um den Anforderungen der EU gerecht zu werden. DSM-6: »For us, culture and education are two faces of the same reality. In fact, it is the most important tool for sustainable development which means social, environmental and economic progress.«
Die zweite Variante des Governing the Bottom-Up verlangt von den Bürgern, sich für das wirtschaftliche Wohl der EU einzusetzen. Dabei wird jedoch in Rechnung gestellt, dass die EU und die Nationalstaaten auch grundlegende Angebote zu machen haben, an denen die Zivilgesellschaft partizipieren kann. So fordert etwa Rui Vilar: EVR-9-15: »Starting with what Europe can do for culture, I would argue that European institutions should endorse the following actions: • To promote effectively authors and artists’ mobility within the European Union and neighbourhood countries. Similar to the very successful ERASMUS students exchange programme, on the occasion of the 250th anniversary of Mozart’s birth, a MOZART artists mobility and exchange programme should be established; • To facilitate the circulation of the mobile heritage that forms part of the European imaginary, creating a kind of a ›Schengen‹ cultural area; • To support the cross-translation of European literature, specially of European minority languages;
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• To promote the immaterial art, cinema and audiovisual, capable of using the new communication technologies, reinforcing the European artistic production to counterbalance American influence; • To facilitate the learning of non-European languages (e.g. Arabic, Mandarin, Persian, Hindu) as a factor of openness and of immigrants integration.«
Künstler als Trägergruppe europäischer Kultur sollen besser unterstützt werden, indem ihnen größere Mobilität ermöglicht werden soll. Auch die Ausstattung mit größeren finanzielle Ressourcen sowie besseren Technologien und Veröffentlichungsoption sollen gefördert werden. Die zweite Forderung nach einem mobilen kulturellen Erbe ist daher nur konsequent, wenn die Kultur von der Ebene der Nationalstaaten getrennt und auf kleinere Einheiten übertragen wird, die nun Kultur verkörpern sollen. Gerade diese Vielfältigkeit an Kultur erzeugenden Einheiten sei die Stärke des europäischen Kultursektors, was Rui Vilar mit evolutionstheoretischen Begriffen fasst: ERV-17: »Third, as biodiversity is essential to our survival and development, we should use the cultural diversity of our continent for the European project benefit. Civil society institutions have a special role to play on what concerns intercultural, interethnic and interfaith dialogue. Foundations in particular as independent bodies have the capacity to develop their work cross-borders and crossbeliefs.«
Ein anderer Vorschlag bezieht sich auf eine stärkere Professionalisierung der Kulturberufe, wie es der ungarische Herausgeber Endre Bojtar einfordert: EnB-5-6: »What is proposed? A Foundation which would provide help (grants, but not only, see below) for independent journalism in the accession countries both SEE and East-Central Europe on the European Union. The Foundation would promote investigative writing with a new approach.«
Dabei geht es ihm vor allem um die Förderung eines stärkeren Wettbewerbs der Berichterstattung, die sich auf neuere und systematische Methoden der Informationserhebung durch die Journalisten stützen soll: EnB-13: »The goal should not be propaganda, i.e. to prove and illustrate that the EU is the earthly paradise but to present it as an arena of competing or even conflicting political aspirations and ideologies, to pinpoint to the vested interest of particular groups involved in these debates. If the EU is to be our common Vaterland, then reporting on it in the accession countries should be as in-depth, insider and exciting as reporting on national
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affairs in a sense the EU should not belong to the Foreign Desk any more but to the Home section. In order to bring home EU politics for their readers East European papers will have to recourse to journalistic genres they have not used in this field so far: investigative pieces based on their own research. They will have to build an independent network of information, they will have to learn where their sources are (be they personal or institutional). They will need a whole new phone register.«
Diese Umstrukturierungsprozesse innerhalb der EU werden notwendig, weil zwar ein Wettbewerb eingefordert wird, zugleich aber die ungleichen Voraussetzungen einen solchen Wettbewerb für die ehemaligen Ostblock-Staaten erschweren. Eine entsprechende Stiftung würde es den nationalen Presseorganen erlauben, hochwertigeren Journalismus zu erzeugen, was wiederum die Akzeptanz der EU in den einzelnen Nationalstaaten erhöhen soll. EnB-15-19: »What would be the Foundation for? This type of reporting is difficult because it is expensive and because it requires a new knowledge and know-how. The Foundation could therefore help in these respects: a.) providing the applicants with travel grants to complete a story; b.) help journalists in identifying and finding their sources, both personal and institutional; c.) and, in the longer term promoting knowledge in the accession countries on old and new and would-be member states.«
Kultur dient in beiden Fällen als ein Mittel zum Zweck, nämlich der langfristigen politischen oder wirtschaftlichen Entwicklung der EU-Staaten. Die Besonderheit dieses Narrativs besteht dann auch darin, dass es einerseits Kultur entmystifiziert und zum Instrument politischer Steuerung macht, andererseits den distinktiven und heiligen Gehalt der Kultur in einen Gebrauchswert transformiert und in Form von Ausbildungen, Fördergeldern, Übersetzungen und Neugründung von Organisationen monetären Mehrwert verspricht. Hier wird eine Ökonomie der Kultur zugrunde gelegt, die es den Akteuren offen lässt, mit welcher Orientierung sie sich beteiligen. Wichtig ist hingegen, dass sich die Kultureliten beteiligen, und es wird nach Strategien gesucht, die auf eine erhöhte Partizipation an der Kultur zielen. 5.3.2 In die Zukunft investieren Entsprechend legen die Vertreter dieses Diskurses keine wirklichen Geschichten vor. Zunächst tauchen in den Reden immer wieder Verweise auf kürzlich vergangene Entscheidungen und Entwicklungen der EU auf, aber die Zeitperspekti-
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ve richtet sich vor allem auf die Zukunft. Wenn in Kultur investiert wird, so geht es um zukünftig zu ergreifende Schritte und die erwartbaren positiven Effekte: ERV-7: »It was the sense of disconnection between the European Union institutions and European citizens, expressed by opinion pools, that lead the European Commission to the preparation of a ›Communication on Culture‹ to be adopted in the first quarter of 2007.« JF-47: »As of next year, all the policies under my responsibility will be used to promote dialogue between cultures, and the same will also apply to some of our external policies. It will remain a priority in years to come.«
Dass kaum ein einheitlicher historischer Zeithorizont entwickelt wird, ist mit der bereits beschriebenen Indifferenz des Narrativs gegen eine spezifische Bestimmung europäischer Kultur und ihre Entwicklung begründbar. Stattdessen lässt sich der Blick auf die Zukunft in drei verschiedenen Varianten beschreiben, die je ein unterschiedliches Verhältnis von Gegenwart und Zukunft nahelegen. Eine erste Variante der Beziehung zwischen Gegenwart und Zukunft findet sich in der Artikulation von Krisen, die einer möglichst raschen Lösung bedürfen. Für Emílio Rui Vilar muss sich Europa zwangsweise mit seiner zunehmenden kulturellen Heterogenität beschäftigen: ERV-19: Europe will inevitably and increasingly be more intercultural. Civil society institutions can and must help to adopt best practices in fostering the understanding of the migrations phenomena. They should also play a key role in favouring minority cultures integration.«
Ähnlich sagt es Ján Figel’, der jüngste Entwicklungen der Migration als Begründung für den politischen Fokus auf Bildung, Interkulturalität und Mehrsprachigkeit heranzieht: JF-31: »The second reason why this is the time to focus on intercultural dialogue is that Europe’s cultural landscape has grown more diverse in the past few years as a consequence of its enlargements and of immigration.«
Dazu gehören aber auch Probleme von Staaten, die an die EU angrenzen, etwa der ›brain drain‹ südosteuropäischer Länder, den der österreichische Politiker Erhard Busek beklagt:
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ErB-8: »Gehen wir weiter: Der brain drain ist sehr groß. Ich hoffe, dass die Mobilitätsprogramme ab 2007 hier eine gewisse Hilfe darstellen. Dazu ist aber zu sagen, dass die Länder 50% zahlen müssen. Das können sie nicht. Ich hoffe, dass das IPA-Programm der Europäischen Kommission diese Lücke deckt.«
Busek beschreibt eine unsichere ökonomische Lage in den Ländern des Balkans, die, solange sie noch nicht Mitgliedsstaaten der EU sind, mit Abwanderung konfrontiert sind, die einerseits die ökonomische Lage in den Ländern selbst verschärft, andererseits zu einer höheren Migration in EU-Länder führt. Eine zweite Variante stellt konkrete politische Entscheidungen vor, die in der Zukunft Effekte zeitigen sollen. Im Gegensatz zur ersten Variante wurde hier bereits auf einen Handlungsbedarf reagiert. Vor allem der EU-Kommissar Ján Figel’ begründet bereits getätigte Entscheidungen: JF-34/35: »If we are serious about building a peaceful and creative society for tomorrow we need therefore to build a culture of dialogue and understanding now. Future starts – as always – today. The policy move is necessary and urgent, but it won’t be easy. That is why the intercultural dialogue became also one pillar within the new programme Culture 2007.«
Rasches Handeln sei notwendig, wenn Europa eine friedliche und kreative Zukunft anstrebe. Entsprechend müssen weitere Ressourcen, d.h. die Zivilgesellschaft mobilisiert und Studien über den Erfolg der Maßnahmen durchgesetzt werden: JF-44/45: »Indeed, we need to learn from the grass-roots. That is why we have asked civil society to send us their ideas for the initiatives which will be funded by us as part of the year. We believe that learning from best practices is essential. Indeed, next week, we will host a conference and exhibition in Brussels identifying good practices of projects funded by Community programmes. We are also launching a study on Member State approaches to intercultural dialogue, and the results should be available by next summer.«
Schließlich wird in den Reden eine dritte Variante präsentiert, in der die Zukunft des Think Tanks »Europa eine Seele geben« mit seinen unterschiedlichen Projekten thematisiert. Volker Hassemer nennt etwa drei Ziele, die in den nächsten zwei Jahren umgesetzt werden sollen:
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VH-15-19: »Diese Berliner Konferenz 2006 markiert den halben Weg zwischen dem Beginn mit der Konferenz 2004 und dem selbst gesetzten Limit 2008, zu dem wir, wie mit den Förderern, dem Steering Committee und Präsident Barroso vereinbart, die Arbeit zu einem ersten Abschluss gebracht haben wollen. Von der Konferenz erhoffen wir uns Anstöße für das Pensum, der kommenden zwei Jahre. Es wird umrissen von den drei Begriffen • Verjüngung, • Vertiefung und •
Verbreiterung«
Hier wird ein begrenzter Zeitraum (2004-2008) benannt, in dem bestimmte Ziele umgesetzt und dem Think Tank eine bestimmte Form gegeben werden sollen. Hans-Gert Pöttering hat darüber hinaus bereits die weitere Zukunft im Blick: H-GP-(1)-24: »Kurz und gut: Nachfolgekonferenzen in anderen Ländern und anderen Städten sind nicht nur unbedingt zu begrüßen, sondern notwendig, um die Idee ›Europa eine Seele geben‹ wirksam zu verbreiten. Sie sollten aber, um diesem Ziel zu dienen, künftig in den entscheidenden inhaltlichen und strukturellen Merkmalen mehr als bisher die Botschaften und Methoden der Berliner Konferenz nutzen.«
Die Zeitperspektive dieses Narrativs ist nicht besonders differenziert. Das Narrativ ist prinzipiell auf die Zukunft ausgerichtet, ohne diese jedoch konkret zu bestimmen. Was zukünftig verhindert werden soll, ist eher indirekt durch die formulierten Ziele der Integration, der politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Wachstums ersichtlich. Der Rückgriff auf Kultur soll dann auch möglichst schnell zu einer politischen Stabilität oder zur Akkumulation von Humankapital führen, die beide als wichtige Ressourcen für die Behauptung und Entwicklung der EU betrachtet werden. 5.3.3 Der ineffiziente Balkan Nicht nur der Zeithorizont bleibt unterbestimmt, sondern auch die Innen-AußenDifferenzierungen werden nicht besonders hervorgehoben. Einzig der Balkan wird als Außenraum stärker hervorgehoben. Christian Schwartz-Schilling, hoher Repräsentant von Bosnien-Herzegowina, beschreibt die Situation des Balkans als schwierig. Allerdings sieht er die Probleme weniger in der Bevölkerungsstruktur und den Arbeitsbedingungen angelegt als im politischen Kontext der Legislative:
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CS-S-8: »Und dann stellen wir fest, wo es keinen kulturellen Kontext gibt, werden Gesetze verabschiedet, die überhaupt keine Bodenhaftung in den Gemeinden und den Städten haben.«
Ohne ein Minimum an kultureller Investition sei es unmöglich, auf dem Balkan stabile Gesellschaften herzustellen. Die Behörden arbeiteten ineffizient und auf Seiten der Bevölkerung gebe es eine Unsicherheit über die Ergebnisse bürokratischer Entscheidungen. Das alles verhindere eine Entwicklung der Länder: CS-S-12: »Eine Region, die vor diesem Krieg der 90er Jahre frei durch Europa reisen konnte. Das ist ja jetzt nicht etwas Neues, was wir ihnen bieten, sondern sie sehen, dass das Europa, was heute ständig im Munde geführt wird, zurückhaltender, abweisender ist, als sie es vorher erlebt haben. Und das, nachdem sie sich um den demokratischen Transit in der Wirtschaft, in der Sozialpolitik, auf allen Gebieten bemühen. Wie sehr wir unsere Investitionen durch Menschen und durch Kapital wieder dadurch konterkarieren, dass diese Menschen nicht frei mit uns kommunizieren können. Die Kinder, die Jugendlichen, der Schulaustausch, die Studenten, die Dozenten, die müssen sich anstellen und stehen morgens um 06:30 Uhr vor den Botschaften und müssen sich anhören: Ja, Sie müssen wieder zurückfahren. Ihre ganzen Papiere sind nicht in Ordnung. Dann fahren sie wieder zurück nach Tuzla oder wohin. Und dann kommen sie drei Wochen später zurück, nachdem sie die Papiere haben. Dann entsteht eine neue Frage: Ja, kommen Sie in acht Tagen wieder, dann bekommen Sie Ihr Visum. Dann sind Tage verloren. Dann kommt das Visum für zwei bis drei Wochen. Das war es dann für dieses Jahr.«
Dabei seien die Versprechen der EU – vor allem Freizügigkeit und Kommunikation – für diese Gesellschaften im kommunistischen Jugoslawien ja schon einmal Standard gewesen. Der aktuelle Zustand mit seinen Beschränkungen sei vielmehr ein Rückschritt. Bosnien-Herzegowina dient Schwartz-Schilling als Kontrastfolie zur EU. Der angemahnte Bruch zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Behörden sei dort Realität: CS-S-9: »Wir haben es versäumt, einen bottom up-Prozess in Gang zu bringen. Das heißt von der Ebene der Kommunen und dort, wo die Bürger leben, die Bürgermeister und alle die dort sind, im Dialog mit Einzelnen, die Probleme anzupacken und wir haben uns ausschließlich darum gekümmert, von oben her Gesetze zu initiieren, die dann irgendwie dort weiter existieren oder eben auch nicht.«
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Auch Erhard Busek, Sonderkoordinator für den Stabilitätspakt für Südeuropa, thematisiert die Frage der Effizienz anhand der Grenze zwischen der EU und den Ländern auf dem Balkan. Für Busek sind diese Länder durch ein strukturelles Defizit gekennzeichnet. ErB-9: »Es gibt das besondere Problem des ländlichen Raumes, der in diesen Ländern völlig entleert wird. Das gilt teilweise auch für die neuen Mitgliedsstaaten und das gilt sehr stark im Gesundheitsbereich.«
Dazu komme eine Haltung der EU, ökonomisch von dieser Situation zu profitieren, aber die negativen Folgen zu ignorieren: ErB-5: »Einerseits haben wir davon sehr profitiert und viele Probleme gelöst bekommen. Auf der anderen Seite akzeptieren wir die Situation nicht richtig. Das erzeugt soziale Spannungen. Das erzeugt aber auch kulturelle Probleme.«
Diese Ignoranz zeigt sich dann vor allem im Umgang mit den Folgen der ungleichen Produktivität, die zwischen den EU-Ländern und dem Balkan besteht: ErB-9: »Also: Ich liebe dann die slowakische Krankenschwester, wenn sie meiner Mutter hilft. Aber generell bin ich dafür, dass die Slowaken wegbleiben. Das ist so ungefähr die Grundeinstellung, die hier in Wirklichkeit herrscht. Das verlangt eine öffentliche Diskussion und eine wesentliche Änderung der entsprechenden Haltung. Das betrifft auch die Arbeitswelt. Wir profitieren. Österreich, Norditalien, Slowenien, die Tschechische Republik, der Süden von Deutschland profitiert von Südosteuropa. Wenn die Wirtschaftsraten dieser Länder besser sind, dann geht das auf Kosten Südosteuropas. Ähnliches gilt auch für das Ostgeschäft. Aber wir geben das nicht zu. Wir sind eben Exportkaiser, ohne daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Welche Bedeutung hat es für uns, dass wir eigentlich auch den anderen zu etwas verpflichtet sind? Was geben wir? Das ist ein Problem der Öffentlichkeit, das hier schon so oft benannt wurde.«
Busek thematisiert die Zirkulation und Migration von Arbeitskräften zwischen der EU und dem Balkan. Das sei an sich keine neue Tatsache, würde aber noch immer nicht umfänglich anerkannt: ErB-5: »Schon vor den Kriegen hat es eine starke Migration gegeben. Wir verdanken den Begriff des Gastarbeiters jenen, die einst aus Jugoslawien gekommen sind. Das ist eine sehr lange Entwicklung.«
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Stattdessen habe man für diese Gesellschaften keine Lösungen gefunden. Die gesetzlichen Regelungen wurden von Erwartungen getragen, dass die Kriegsflüchtlinge nach einem angemessenen Zeitraum wieder zurückkehren würden – eine Annahme, die sich als falsch erwiesen habe: ErB-6: »Durch die Erweiterung der Europäischen Union hat sich das sogar dramatisiert. Die Sieben-Jahres- Frist ist für die Mobilität der Arbeitskräfte sehr problematisch. Auch mein Land hat diese Frist. Ich persönlich war immer dagegen, weil wir uns etwas in die Tasche lügen. Es ist sehr deutlich an einer Frage geworden, die auch im österreichischen Wahlkampf eine Rolle gespielt hat. Die Pflege der älteren Bevölkerung wird in Wirklichkeit nur bewältigt, wenn Krankenschwestern und Pflegekräfte der Nachbarstaaten kommen. Sie sind illegal da oder als Touristen selbstverständlich nicht ordentlich beschäftigt. Aber damit wird ein Problem gelöst und da sieht man darüber hinweg.«
Die europäischen Gesellschaften deckten mit südost- und osteuropäischen Arbeitsmigranten ihren Bedarf an niedrig qualifizierten Fachkräften, stellten dafür aber keine ausreichenden Sicherheiten bereit, setzten gar stillschweigend auf eigentlich illegale Praktiken. Damit wird eine Problematisierung der Frage vorgenommen, was eigentlich als Humankapital gilt und was nicht. Die EU-Staaten blendeten eine zentrale Arbeitskraft aus, wenn sie nur auf ein kulturbezogenes Humankapital setze. Dies lasse sich an der Frage sehen, wem man in Europa eine Staatsbürgerschaft ermögliche und wem nicht: ErB-6: »Es gibt extreme Fälle. Wenn Sie jemanden haben, der irgendwo in einem Betrieb zusammenräumt und der will österreichischer Staatsbürger werden, dann bekommt er die Staatsbürgerschaft nicht. Wenn er ein Fußballer ist, bekommt er sie schon. Wenn ich eine Haushaltshilfe hätte, die Anna Netrebko heißt, bekommt sie sicher nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Wenn sie Opernsängerin ist, bekommt sie die Staatsbürgerschaft sofort. Das ist schizophren. Das ist aber nicht nur in Österreich so.«
Der Vorstellung, dass man vor allem Kultur als Humankapital begreife, das für die Gesellschaften der EU von Nutzen sein könnte, führt zu ungleichen Zugangschancen auf Integration. Dazu komme, dass mit der Arbeitsmigration auch demographische Probleme einhergingen, die sich sowohl aufseiten der EU als auch aufseiten Südosteuropas unterschiedlich auswirkten: ErB-6: »Ich habe heute in der Berliner Zeitung gelesen, dass die Abwanderung aus Berlin ausgeglichen wird durch die Zuwanderung vor allem aus Polen und aus anderen Ländern.
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Damit halten wir eigentlich die Balance angesichts der eigenen Geburtenraten. Die berühmte Diskussion über den ›polish plumber‹ kennen wir ja als eine europäische Diskussion. Das haben wir nicht bewältigt und dafür gibt es auch keine europäische Öffentlichkeit, keine durchgehenden Regelungen. Das muss man ganz offen zugeben.«
Während in Deutschland die Geburtenraten als zu niedrig eingeschätzt werden und die Bevölkerung zunehmend altert, profitiert das Land von den Arbeitsmigranten aus den südost- und osteuropäischen Ländern. Auf dem Balkan fänden sich dagegen relativ junge Gesellschaften, die aber strukturell nicht in der Lage seien, diesen in der Breite eine angemessene Perspektive anzubieten: ErB-7: »Die Migrationsfrage ist eine sehr dramatische. In Südosteuropa gibt es das Problem der hohen Geburtenrate der Albaner insbesondere im Kosovo. Kalkulieren Sie ein, dass die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre ist. Das ist eine politische Zeitbombe jenseits der Statusfrage. Das Problem ist außerhalb der Diskussionen. Es gibt keine entsprechenden Strategien.«
Diese Länder sind doppelt betroffen: Sie haben zu hohe Geburtenraten und keine ausreichende Infrastruktur, gerade in den ländlichen Gebieten, die sich zunehmend entleerten. Nicht nur Europa sei von einem ›brain drain‹ betroffen, sondern eben auch die Balkanländer (ErB-8). Der Balkan erscheint in diesen Beiträgen als ein Gebiet, das einerseits nicht entwickelt genug ist, um an der EU vollumfänglich zu partizipieren. Andererseits hat die ökonomische, politische und demographische Situation dieser Staaten Folgen für die EU. Als direkter Nachbar – »der Westbalkan, und man braucht ja nur einmal auf die geografische Karte zu schauen, ist umgeben von Mitgliedern der Europäischen Union« (CS-S-16) – kann er nicht einfach ignoriert werden, weil die EU zunächst für die Kriegsflüchtlinge und dann wieder für Arbeitsmigranten eine attraktive Region darstelle. Im Kontrast zur EU wird jedoch auch ein kulturelles Gefälle sichtbar, insofern die europäischen Gesetze wenig Sicherheit für niedrig qualifizierte Arbeitskräfte versprechen. Die Frage, ob jedes Humankapital wünschenswert sei, und warum es gerade Vertreter von Kulturberufen leichter haben sollten, ist für Busek nicht legitim, während die EU aus der Sicht von Schwartz-Schilling nicht genügend Anstrengungen unternommen habe, in den Ländern des Balkans entsprechende zivilgesellschaftliche Strukturen zu entwickeln. Bosnien-Herzegowina ist damit auch ein Beispiel dafür, wohin Gesellschaften geraten, wenn der Bruch zwischen Staat und Zivilgesellschaft zu groß wird – und wozu der Einsatz von Kultur notwendig wird.
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Busek beschreibt dieses Desiderat an der Produktion von übernationalen Geschichtsbüchern für den Schulunterricht: ErB-10: »Es ist von Geschichtsbüchern die Rede gewesen. Gestatten Sie mir die Bemerkung: Ich freue mich über das deutsch-französische Geschichtsbuch, aber es ist 61 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Wir versuchen so etwas Ähnliches in Südosteuropa. Wenn ich 61 Jahre warten muss für ein gemeinsames Geschichtsbuch für Südosteuropa, haben wir das Jahr 2067. Das dauert zu lange! Das muss man ganz deutlich sagen.«
5.4 Z USAMMENFASSUNG In der Diskursanalyse konnten drei unterschiedliche Narrative europäischer Kultur identifiziert werden, die sich je an einem politischem Problem festmachen lassen. In allen drei Narrativen wird die Gegenwart als Krise oder als Herausforderung verstanden. Dabei erhalten die Formationsregeln des Kulturdiskurses ein je unterschiedliches Gewicht in den Narrativen (siehe Tabelle 10). Tabelle 10: Formationsregeln des Kulturdiskurses und die Narrative europäischer Kultur
Innen-AußenDifferenzierungen Zeitliche Periodisierungen Symbolische Referenzierungen
»Europa als Fortschrittsprojekt« +
»Kultur als Fundament« +
»Kultur als Instrument und Humankapital« -
+
-
+
-
+
-
Im ersten Narrativ stehen die Vergangenheit und die mögliche Zukunft des europäischen Einigungsprozesses als politisches Projekt im Zentrum. Die Errungenschaften der Entwicklung zunächst der EG und dann der EU werden als Fortschritte im Hinblick auf Frieden, Freiheit, wirtschaftlichen Wohlstand und Demokratie präsentiert. Allerdings ist der Integrationsprozess in eine Krise geraten, die aus einer Ungleichzeitigkeit der politischen und zivilgesellschaftlichen Entwicklungen hervorging. Um diese Krise zu überwinden, müssen politische Eliten und Zivilgesellschaft gleichermaßen an der Überwindung dieses Bruchs arbeiten, der in einem Governing the Bottom-Up seinen Ausdruck findet. Dem Narrativ
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des Europa als Fortschrittsprojekt entspricht eine implizite Kultur, die sich auf die politische Identität Europas bezieht. Grundlage dieses Narrativs ist eine enge Kopplung von Aussagen zur historischen Entwicklung der EU mit politischen Antagonismen, Allianzen, Konkurrenzen und Grenzen. Damit erfüllt das Narrativ vor allem die Formationsregeln der Innen-Außen-Differenzierung und der zeitlichen Periodisierung, wogegen es kaum auf symbolischen Referenzierungen basiert. Diese Lücke wird in Ansätzen mit dem Verweis auf den gescheiterten Verfassungsvertrag gefüllt, der als symbolische Referenz der politischen Entwicklung der EU zu lesen ist, fungiert doch für das Narrativ die EU selbst als der kulturelle Ausdruck Europas. Das zweite Narrativ geht ebenfalls von einer Gegenwartsdiagnose aus: Für die Redner wird Europa von außen vor allem durch einen islamistischen Fundamentalismus und durch unbeherrschbare Nebenfolgen der Globalisierung bedroht, welche die Staaten zu einem globalen Wettbewerb zwingen und die aufseiten der europäischen Bevölkerungen zu einer erhöhten Unsicherheit und Angst, zugleich aber auch zu einem gesunkenen Vertrauen in die EU geführt haben sollen. Diesen Gefahren soll mit einer Politik begegnet werden, die von den Europäern ein offensives Eintreten für zentrale politische Werte Europas fordert, mit einer Innenpolitik, die von den muslimischen Immigranten ein deutliches Bekenntnis zu diesen Werten verlangt und mit einer Außenpolitik, die sich die kulturelle Missionierung außereuropäischer Staaten zur Aufgabe gemacht hat. Dem Narrativ des von außen bedrohten Europas entspricht die Fabrikation kultureller Fundamente als normative Grundlage für politische Strategien in der Innen- und Außenpolitik. Hier zeigt sich, dass das zweite Narrativ die zeitliche Periodisierung gegenüber den starken ideologischen, religionsbasierten GrenzFronten (Innen-Außen-Differenzierungen), normativen Registern und der Anrufung eines europäischen Bildungskanons (symbolische Referenzierungen) vernachlässigt. Unterstellt wird stattdessen ein überhistorisches, gemeinsames kulturelles Wesen oder Unterbewusstes, aus dem sich Kulturwerte und Kulturwerke ableiten ließen. Auch das dritte Narrativ sieht Europa einem globalen Wettbewerb ausgesetzt. Dieser Wettbewerb wird jedoch als positive Herausforderung angenommen. Dabei soll vor allem auf die kulturellen Leistungen der Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden, was die EU als spezifischen Anbieter auf dem Weltmarkt positioniert. Auch hier wird auf ein Governing the Bottom-Up gesetzt, durch das man vom einzelnen Bürger kulturelle Investitionen in Form von Bildung und Mobilität verlangt, die der EU als Wirtschaftsstandort zugutekommen soll. Dieses ökonomische Narrativ, das Kultur als Instrument begreift, findet seinen Ausdruck in einer Fabrikation von Kultur als Humankapital, die auf die
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Etablierung von Europa als produktivem Investitionsstandort auf dem Weltmarkt zielt. Der Schwerpunkt dieses Narrativs liegt auf den zeitlichen Periodisierungen, ohne jedoch eine umfassende Geschichtsschreibung zu entwickeln. Stattdessen werden die krisenhafte Gegenwart und die ökonomische Zukunft in den Fokus gerückt. Als symbolische Referenzierungen kommen solche Elemente ins Spiel, die Kapital anzeigen: die auf dem Kulturmarkt erwirtschafteten Summen und Beschäftigungszahlen ebenso wie institutionalisiertes Kulturkapital im Form von Zertifikaten und Bildungstiteln. Durch eine kontrastive Analyse dieser Narrative konnten die Unterschiede in den Varianten der Kulturfabrikation identifiziert werden, die in der kulturellen Formation mit ihren (1) Innen-Außen-Differenzierungen, (2) zeitliche Periodisierungen und (3) symbolische Referenzierungen wie folgt beschrieben werden: Innen-Außen-Differenzierungen: Im ersten Narrativ (»Europa als Fortschrittsprojekt«) werden vor allem politische Grenzen präsentiert. Europa grenzt sich zum einen gegen nicht-demokratische politische Systeme (Nationalsozialismus, Sowjetunion, Russland, China) ab, bildet mit den USA eine enge geopolitische Allianz (»offene Gesellschaft«) und sieht sich mit politisch mehr oder weniger problematischen Grenzräumen (Osteuropa, Balkan, arabischer Mittelmeerraum) konfrontiert. Im zweiten Narrativ (»Kultur als Fundament«) wird die europäische Kultur vor allem aus einer Gegenüberstellung von religiösen Bezügen definiert. Einem christlich-jüdischen europäischen Kulturkreis steht eine islamistische Kultur jenseits Europas gegenüber, gegen die man sich verteidigen müsse oder von der man, insofern sie innerhalb Europas in Erscheinung tritt, eine normative Neuorientierung verlangen müsse. Die Innen-Außen-Differenzierung basiert hier auf einer ideologischen Grenz-Front, die sich inhaltlich anschlussfähig für die politische Selbstdefinition des ersten Narrativs zeigt. Demgegenüber setzt die Fabrikation von »Kultur als Instrument und Humankapital« vor allem auf vermarktbare Distinktionsgewinne, die Europa gegenüber anderen Wirtschaftsregionen hervorheben sollen – als Kehrseite lässt sich der Balkan als eine Region identifizieren, die durch ein strukturelles Entwicklungsdefizit und politische Ineffizienz gekennzeichnet sein soll. Zeitliche Periodisierungen: Die Fabrikation von Zeithorizonten im ersten Narrativ (»Europa als Fortschrittsprojekt«) basiert auf einer Geschichtsschreibung, die am Ausgang des Zweiten Weltkriegs die erfolgreichen Bemühungen einer politischen Elite um gesellschaftlichen Fortschritt thematisiert, in Europa eine Zone des Friedens, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wohlstands zu errichten. Dieser Erfolg machte die EU für die jungen postsowjetischen Staaten attraktiv, führte in der Folge aber dazu, dass die allzu schnelle EU-Erweiterung in der Gegenwart zum Scheitern der Bemühungen um eine Europäische Verfas-
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sung führte. Im Wesentlichen wird ein dunkles Zeitalter Europas vor der Gründung der Montanunion mit der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert, die im Sinne eines goldenen Zeitalters nun in der Gegenwart in eine vorläufige Krise geraten sei. Ganz anders wird der Zeithorizont im zweiten Narrativ (»Kultur als Fundament«) strukturiert. Dort wird der europäischen Kultur eine lange Zeit zugeschrieben, die zwar auf der Oberfläche durchaus konfliktiv verlaufe, sich aber letztlich auf eine gemeinsame kollektive Erfahrung zurückführen lasse. Dieses Wesen hat seinen Ursprung in der Antike und erreicht in den politischen Denksystemen des Liberalismus und der Sozialdemokratie seine Vervollkommnung. Obwohl diese lange Zeit vor allem christlich-jüdisch definiert wird, bleibt das Mittelalter als Hochphase christlicher Herrschaft ausgeblendet; Bezüge auf die neue und neueste Zeit finden sich häufiger. Die zeitliche Periodisierung im dritten Narrativ (»Kultur als Instrument und Humankapital«) stellt zwar die kulturellen Leistungen der Vergangenheit in Rechnung, konzentriert sich jedoch vor allem auf die Gegenwart und Zukunft Europas, die mehr Investitionen verlangen. Gerade weil die Vergangenheit hier von geringer Bedeutung ist, bildet dieses Narrativ keinen Ansatz für eine Geschichtsschreibung. Stattdessen wird die Gegenwartsdiagnose mit ihren Folgen für die Zukunft betont. Symbolische Referenzierungen: Das erste Narrativ (»Europa als Fortschrittsprojekt«) operiert kaum mit symbolischen Referenzen, was es erlaubt, das dadurch artikulierte Kulturverständnis als implizite Kultur zu charakterisieren. Einzig dem Verfassungsvertrag – d.h. einem Herrschaft legitimierenden objektivierten juridischen Dokument – kommt die Funktion einer symbolischen Referenz zu. Diese entspricht der erwünschten engen Beziehung zwischen politischer Elite und den europäischen Bürgern, deren Auseinanderdriften dann auch als zentrales politisches Problem gilt. Die Fabrikation kultureller Fundamente setzt stattdessen explizit auf zwei normative Register, durch die sich Europa auszeichnen soll – auf ein Register liberaler Werte und auf ein Register sozialer Errungenschaften. Hinzu kommt ein bildungsbürgerlicher Kanon an Künstlern, Philosophen und ihren Werken, die als Materialisierung und Verkörperungen der europäischen Werte gedeutet werden. Für das dritte Narrativ besteht die zentrale Strategie in der Investition in Bildung sowie Innovationsfähigkeit, wissenschaftliche und journalistische Kapazitäten – Eigenschaften, die Europa vor allem im Hinblick auf seine ökonomische Attraktivität auszeichnen. Die symbolischen Referenzierung bestehen dann im institutionalisierten Kulturkapital und in den Wirtschaftsstatistiken der EU-Mitgliedsstaaten.
6 Kulturfabrikation, Arenaprozesse und Herrschaftskonstellationen
Bisher wurden die Reden als politische Reden interpretiert, d.h. als Aussagen, die nach Wodak (2008) politische Meinungen und Selbstpräsentationen betreffen. Insgesamt zeigte sich, dass die unterschiedlichen Narrative zwar ganz unterschiedlichen Rationalitäten folgen, sich aber zueinander wenig kontrovers verhalten und kaum kritisch aufeinander Bezug nehmen. Das drängt zur Frage, wer eigentlich von den vorgebrachten Kulturkonzeptionen überzeugt werden bzw. welches Publikum überhaupt adressiert werden soll. In Bezug auf Walter Benjamins Idee, dass Kultur nicht ohne Herrschaft zu denken sei, muss also geklärt werden, gegenüber wem Herrschaft ausgeübt wird, und wie dies in den Narrativen sichtbar wird. Bestimmbar werden die Herrschaftskonstellationen über die diskursive Organisation der Berliner Konferenz. Das Diskursfeld, von dem Reiner Keller schreibt, dass darin »Diskurse um die Konstitution bzw. Definition eines Phänomens wetteifern« (Keller 2005: 229) ist zugleich eine »policy arena« im Sinne der Theorie von Anselm Strauss (1993), in der unterschiedliche soziale Welten miteinander in Kontakt treten. Eine Analyse dieser Arena ermöglicht es dann, Herrschaftskonstellationen zu identifizieren. Dafür müssen zunächst einige Einschränkungen vorgenommen werden: Nicht alle Reden des Archivs lassen sich als politische Reden identifizieren. Ausnahmen bilden zunächst die Reden von Bazon Brock, Nilüfer Göle und Wim Wenders, die sich explizit gegen die von Politikern vorgebrachten Positionen wenden und als Vertreter der Kunst und Wissenschaft am Rand des Diskurses angesiedelt sind. Damit verkörpern die drei Sprecher zwei Eigenschaften: Sie sind keine genuinen Akteure des politischen Feldes und sie lassen sich nicht eindeutig einem der drei Narrative zuordnen. Doch sie sind nicht die einzigen, die sich außerhalb des diskursiven Zentrums bewegen. Es lassen sich aber auch Vertreter der Politik finden, die sich nicht einzelnen Narrativen zuordnen lassen, sondern in ihren Reden die typischen Merkmale mehrerer Narrative verbinden.
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Letzteres trifft auch auf Andreas Georgi zu, der allerdings kein Politiker ist, sondern Vorstandsmitglied der Dresdener Bank. Tabelle 11: Sprecherpositionen, soziale Welten und Narrative Soziale Welt Diskurskoalition Sprecherposition 1 Politik (alle Narrative) Sprecherposition 2 (Zivilgesellschaft) Narrativ 1 NGOs/Stiftungen Narrativ 2 -/Narrativ 3 NGOs/Stiftungen Medien Diskurskomplizen Sprecherposition 3 Politik Sprecherposition 4 Marginalisierte Sprecherposition 5
Finanzwirtschaft
Wissenschaft Kunst
Artikulationsverhältnis zum Narrativ einem Narrativ zugeordnet
einem Narrativ zugeordnet einem Narrativ zugeordnet einem Narrativ zugeordnet
Mehreren Narrativen zugeordnet Mehreren Narrativen zugeordnet Keinem Narrativ zugeordnet
So lassen sich fünf Sprecherpositionen unterscheiden (vgl. Tabelle 11): Und zwar hinsichtlich einerseits der (Nicht-)Zugehörigkeit zur sozialen Welt der Politik und andererseits zur Beteiligung an der Artikulation der Narrative. Nach dem Vorschlag von Reiner Keller (2005) lassen sich all jene Sprecher, deren Reden sich vorrangig einem der drei Narrative zuordnen lassen, als Diskurskoalitionen charakterisieren – egal ob die Sprecher in der sozialen Welt der Politik beheimatet sind (Sprecherposition 1) oder nicht (Sprecherposition 2). Getragen werden die drei Diskurskoalitionen von solchen Sprechern (Sprecherpositionen 3 und 4), die sich keinem der drei Narrative allein verpflichtet fühlen, aber sich integrierend und konsensuell zu ihnen verhalten. Sie fungieren dabei als Diskurskomplizen. Schließlich lässt sich mit den Reden von Brock, Göle und Wenders noch die Sprecherpositionen der Marginalisierten (Sprecherposition 5) benennen. Sie bilden selbst keine Diskurskoalition, weil sich ihre Reden nicht aufeinander beziehen und über keine gemeinsame story line verfügen. Stattdessen kommt ihnen die Rolle des Kommentars zu.
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6.1 D IE B ERLINER K ONFERENZ
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ALS
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ARENA
Das Diskursfeld der Berliner Konferenz erweist sich somit als Arena im Sinne von Anselm Strauss, die er als »interaction by social worlds around issues – where actions concerning these are being debated, fought out, negotiated, manipulated, and even coerced within and among the social worlds« (Strauss 1993: 226) versteht. Gemeint ist damit zunächst, dass die Mitglieder einer Arena i.d.R. unterschiedlichen sozialen Welten entstammen und in Verhandlungen um den Gegenstand treten, der das Zentrum der Arena darstellt. Die Berliner Konferenz lässt sich also als eine Arena beschreiben, in der Akteure aus den sozialen Welten Politik, Nicht-Regierungsorganisationen, Medien, Finanzwirtschaft, Kunst und Wissenschaft in Verhandlungen darüber treten, was denn europäische Kultur sei. Wie bereits in Kapitel 4.1.3 entwickelt, lassen sich Arenen anhand von sechs Prozessen beschreiben: • • • • • •
Repräsentationsprozesse, identifizierbar über Aussagen, die Ansprüche sozialer Welten geltend machen Definitionsprozesse, die das für die Arena zentrale Thema entwickeln Evolutionen, die die Entfaltung und Neudefinitionen und Erweiterungen des Themas durch verschiedene Akteure betreffen Passungsprozesse, die als selektive und strategische Aneignungen des Themas die sozialen Welten mit dem Thema zusammenbringen sollen Allianzbildungen, welche die Bereitschaft und Grenzen der Involvierung der Akteure in gemeinsame Aktivitäten bezüglich des Themas definieren Überschneidungen von Arenen, mit denen das Aufeinandertreffen von Problemen, Sachverhalten unterschiedlicher Arenen gemeint ist.
Nachdem die vorausgehende Diskursanalyse mit der Identifikation von drei kulturbezogenen Narrativen im Wesentlichen die Definitions- und Repräsentationsprozesse von Kultur sichtbar machen sollte, geht es in diesem Abschnitt um die restlichen vier Prozesse sowie um das jeweils adressierte Publikum, die anhand der oben entwickelten Sprecherpositionen 1-5 untersucht werden sollen. Die Anwendung der Arenentheorie stößt mit Bezug auf die hier untersuchten Daten allerdings auf das Problem, dass diese keinen Zeitverlauf abbilden. An den Reden lassen sich also keine Interaktionsverläufe oder Prozesse des Organisierens beobachten, wohl lässt sich aber eine Momentaufnahme der Arena rekonstruieren, mit ihren Akteuren, Adressaten und Themen.
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6.1.1 Die Diskurskoalition Den Diskurskoalitionen lassen sich generell zwei Sprecherpositionen zuordnen, die jeweils unterschiedliche soziale Welten repräsentieren: a) Redner aus der sozialen Welt der Politik und b) Redner, die anderen sozialen Welten entstammen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ein gemeinsames Verständnis des Themas »Kultur« entwickeln, auch wenn sie sich in den Zielen oder politischen Strategien, die die Akteure für relevant erachten, unterscheiden. Die soziale Welt Politik Das zweite Narrativ, das Kultur als Fundament europäischer Politik definiert, besteht nur aus Diskurskoalitionären der Sprecherposition 1, also Politikern. Diese sind zudem mit der Ausnahme von Wolfgang Schäuble allesamt EUKommissionsmitglieder, d.h. Repräsentanten einer zentralen bürokratischen Institution der EU. Der Diskurskoalition gehören somit keine Vertreter anderer sozialer Welten an, und es ist anzunehmen, dass das dieses Narrativ vorwiegend von den Zielen und Rationalitäten der Europapolitik selbst getragen wird. Der deutsche Innenminister irritiert hier inhaltlich kaum; dass er aber stärker nationalpolitisch argumentiert, ist aus folgendem Zitat ersichtlich: WS-22: »Kulturelle Vielfalt bedeutet jedoch nicht, dass verbindliche, kulturell begründete ethische und politische Grundlagen unseres Zusammenlebens etwa aus religiösen Motiven heraus in Frage gestellt werden dürfen. Hier liegen die Grenzen des politischen Konsenses, der die europäische Einheit trägt.«
Schäuble weist hier einen Eingriff europäischer Politik in religionsbezogene Innenpolitik zurück. Aus den vorhergehenden Abschnitten seiner Rede geht hervor, dass er damit die Integration muslimischer Bürgern in Deutschland anspricht. Einerseits wird eine fehlende Übereinstimmung darüber kommuniziert, wie mit Muslimen zu verfahren sei, also wie vor dem Hintergrund eines gemeinsam entwickelten Verständnisses von europäischer Kultur politisch weiter verfahren werden soll. Andererseits dienen die Ausführungen von Wolfgang Schäuble insgesamt auch dazu, das Thema »Kultur« innerhalb der gemeinsamen story line zu entfalten und zur Legitimationsgrundlage für seine Innenpolitik zu machen. Es sind damit genau jene Dimensionen von policy arenas angesprochen, die als Evolutionen, Passungsprozesse, Allianzbildungen und Überschneidungen von Arenen (ebd. 229) bestimmt wurden: So werden (1.) die christlich-jüdischen Wurzeln europäischer Kultur ausgearbeitet (z.B. WS-12), sodann werden (2.)
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mit der Forderung nach Integration politische Strategien entworfen (z.B. WS-18) und schließlich werden (3.) die Zuständigkeiten der politischen Domänen, v.a. der deutschen Innenpolitik gegenüber der EU-Politik, hervorgehoben (WS-22). Begreift man die europäische und die nationale Politik als je verschiedene soziale Welten, die an mehreren Arenen teilhaben, so bildet (4.) das Verhältnis von Migranten v.a. türkischer Herkunft zum Prinzip Rechtsstaatlichkeit in Deutschland den Schnittpunkt der Arenen. Zieht man die diskursive Ausgestaltung des Narrativs heran, so lassen sich als Adressaten drei Gruppen identifizieren. Die für das Narrativs so zentrale Grenz-Front zwischen dem christlich-jüdischem Europa und dem nicht-europäischen Islamismus (Barroso, Schäuble) sowie die Unterscheidung von demokratischen und nicht-demokratischen Staaten (Ferrero-Waldner), an die sich die Strategie des Bekämpfens, Missionierens richten, adressieren zugleich 1.
2.
3.
die Nichtzugehörigen außerhalb Europas, für die stellvertretend die Angehörigen des Islam angesprochen werden. Dieser Gruppe wird, wie oben bereits ausgeführt, die antagonistische Position des politischen Gegners zugeschrieben. die möglicherweise Nichtzugehörigen innerhalb Europas resp. Deutschlands, v.a. die als zu integrierenden Muslime dazu aufgefordert werden, sich zum normativen Rahmen der europäischen Kultur zu bekennen. die etablierten Kultureliten, die zur Aufrechterhaltung zentraler Werte aufgerufen werden: Von ihnen versprechen sich die Redner eine bewahrende Haltung gegenüber dem vorgestellten Wertefundament europäischer Kultur.
Die zivilgesellschaftlichen sozialen Welten Erweitert man das Spektrum auf Diskurskoalitionäre jenseits der Politik (Sprecherposition 2), so finden sich im ersten und dritten Narrativ einige Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen wie NGOs und Stiftungen. Für das erste Narrativ »Europa als Fortschrittsprojekt« wird diese Position von Georges Soros vertreten. Als Vorsitzender und Repräsentant einer amerikanischen Organisation, die sich weltweit für die Etablierung liberaler Demokratien einsetzt, stellt er einen weiteren Sonderfall dar. Zunächst spricht er als Nicht-Europäer, aber auch als Investor und Unternehmer, wenn er folgenden Unterstützungsvorschlag vorbringt: GS-31: »Obwohl ich kein Staatsbürger eines europäischen Landes bin, glaube ich an die offene Gesellschaft. Ich verfüge innerhalb und außerhalb der Europäischen Union über ein Netzwerk von Stiftungen, deren Ziel es ist, diese Idee zu fördern und ich bin bereit, eine
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Initiative für eine offene Gesellschaft in Europa zu unterstützen. Eine derartige Initiative würde hochqualitative Forschung mit Engagement verbinden und versuchen, die Zivilgesellschaft für die Idee eines Europa als Modell und Kraft für eine globale offene Gesellschaft zu mobilisieren.«
Zugleich ist er es, der die Beziehungen Europas zu den USA ins Zentrum einer weltpolitischen Allianz rückt und damit im Gegensatz zu den anderen Rednern (es sind fast alles Politiker nationaler Parlamente bzw. Regierungen oder Vertreter des Europaparlaments) des Narrativs den Blick auf das politische Geschehen jenseits der EU richtet. Erneut erweist sich hier, dass der Diskurs in einer policy arena stattfindet: Evolutionen: Sowohl mit der Ausarbeitung des Konzepts der »offenen Gesellschaft« (GS-9) wie mit der Thematisierung des weltpolitischen Versagens der Bush-Administration (GS-13) werden dem Problem »europäische Kultur« zwei Aspekte hinzugefügt, nämlich Europa mit einem bestimmten politischen System identifiziert und die externen Erwartungen an die politischen Akteure Europas spezifiziert. Passungsprozesse: Der oben angeführte Vorschlag zur Finanzierung von politisch anschlussfähiger Forschung kann als Versuch gelesen werden, das politische Anliegen der Neugestaltung des Verhältnisses von Politik und Zivilgesellschaft mit den eigenen Ansprüchen (d.h. der Etablierung von liberalen, rechtsstaatlichen politischen Systemen) zu verbinden. Allianzbildungen: Obwohl sich Soros als Kooperationspartner und Finanzier anbietet, macht er jedoch auch deutlich, wo die Grenzen seiner Involvierung liegen. So weist er in GS-14 den Anspruch zurück, die EU könne die politische Funktion der USA übernehmen. Ebenso macht er deutlich, dass sein eigenes übergeordnetes politisches Ziel – die Etablierung einer globalen offenen Gesellschaft – nicht nach dem Modell nationaler Regierungen oder der EU realisiert werden kann: GS-27: »Eine globale offene Gesellschaft bedeutet nachdrücklich keine globale Regierung. Regierungen wirken sich zwangsläufig beeinträchtigend auf die Freiheit des Einzelnen aus. Eine globale Regierung käme nicht umhin, repressiv zu agieren, auch wenn sie auf liberalen Prinzipien aufbaute. Eine globale offene Gesellschaft könnte nicht einmal so eng integriert sein wie die Europäische Union, denn die Affinität zwischen den Mitgliedsländern wäre weniger ausgeprägt.«
Überschneidungen mit anderen Arenen: Damit wird auch deutlich, dass Soros eine andere Strategie verfolgt. Sein Open Society Institute zielt auf die Etablie-
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rung von Demokratie, liberaler Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit. Indem er die EU als unvollkommenen Prototyp der offenen Gesellschaft definiert, wird auch klar, dass Soros in der EU eine Verbündete für seine eigenen Ziele sieht, die sich mobilisieren lässt. Im Austausch dafür kann die EU an seinen eigenen Projekten partizipieren, um die inneren Brüche zwischen politischem Apparat und Zivilgesellschaft zu kitten. Publikum: Adressiert werden in diesem Narrativ vor allem all jene, die sich zukünftig an der Etablierung liberaler Staatsordnungen beteiligen können. Soros schlägt Projekte vor, die »hochqualitative Forschung mit Engagement verbinden« (GS-31), d.h. gegenwärtige und zukünftige politische Eliten und Wissenschaftler. Für dieses Narrativ werden also zwei Gruppen deutlich, die zur Überwindung des politischen Bruchs herangezogen werden sollen: Zu den Regierten, den Bürgern der EU-Mitgliedstaaten, treten jene Akteure, die die zukünftigen Regierungen stellen oder solche Regierungen beraten sollen. Aber auch dieses Narrativ arbeitet über Ausschlüsse: Die von den Rednern präsentierten Geschichten über die Entwicklung der EU grenzen all jene aus, die dieser Entwicklung im Weg standen, also vorrangig den Nationalsozialismus und die kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas. Dem dritten Narrativ »Kultur als Instrument und Humankapital« springen drei Vertreter der Zivilgesellschaft zur Seite: Danilo Santos de Miranda vom Serviço Social do Comércio in Sao Paolo, Emílio Rui Vilar, Vorsitzender der Galouste Gulbenkian Stiftung, und der Herausgeber eines ungarischen SatireMagazins, Endre Bojtar. Auch ihre Beiträge machen deutlich, dass das Narrativ nicht allein ein politisches Problem entwickelt, sondern vor allem auch die Frage thematisiert, wie andere sozialen Welten von der Investition in Kultur profitieren: Evolutionen: Wird von den Politikern des Narrativs vor allem Kultur als ein Bereich an Investitionen begriffen, von denen man sich die Lösung europapolitischer Probleme verspricht, so entwickelt Danilo Santos de Miranda dieses Thema über den europäischen Rahmen hinaus weiter. Dient Kultur als ein einsetzbares Kapital, so ließen sich doch damit prinzipiell auch Probleme anderer Weltregionen bearbeiten: DSM-15: »While in some countries of Africa, the daily struggle is for food and health care, in some countries of Europe, for example, it can be about the performance and the velocity of the already high- speed train. Why not use all this capacity to help the needy in the poor areas of the globe?«
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Die ökonomischen und kulturellen Kapazitäten Europas, hier präsentiert als technisch-zivilisatorischer Fortschritt, könnten dazu mobilisiert werden, soziale Ungleichheiten zu minimieren. Diese Forderung, ein Problem, dem sich die Organisation des Brasilianers Santos de Miranda widmet, wird auch sofort begründet: Europäische Kultur ist daher nicht einfach ein der EU innewohnendes Vermögen, sondern gründet in der Kolonialgeschichte der europäischen Gesellschaften, deren postkoloniale Folgen in den Reden weitgehend ausgeklammert bleiben: DSM-16: »How has Europe been dealing and how does it intend to deal with the reflux of the communities and populations of its former colonies preventing it from becoming only a huge cultural, material and symbolic exclusion?«
Santos de Miranda thematisiert hier die Gefahr aller Formen von Kapitalakkumulation, nämlich den potentiellen Ausschluss der an der Produktion und Akkumulation beteiligten Akteure, in diesem Fall der Nachfolgegesellschaften ehemaliger Kolonien. Passungsprozesse: Ähnlich argumentiert auch der ungarische Herausgeber Endre Bojtar. Er möchte aber vor allem die postkommunistischen Gesellschaften innerhalb der EU stärken. Dabei sieht er einen größeren Investitionsbedarf bei den Intellektuellen dieser Gesellschaften, v.a. bei seiner eigenen Profession, den Journalisten und Schriftstellern, die sich nur am Rande für Europa und die EU interessierten: EnBj-8: »In order to bring home EU politics for their readers East European papers will have to recourse to journalistic genres they have not used in this field so far: investigative pieces based on their own research. They will have to build an independent network of information, they will have to learn where their sources are (be they personal or institutional). They will need a whole new phone register.«
Hier wird Investition in Kultur als Professionalisierung eines Berufstandes neu gefasst, dem ein Bedarf an kultureller Weiterentwicklung gemäß der journalistischen Standards in West- und Mitteleuropa attestiert wird. Für Bojtar geht es hier dann auch um die flächendeckende Durchsetzung eines gemeinsamen Kulturniveaus durch die Investition in eine bessere Infrastruktur der Presse. Allianzbildungen: Der Vorschlag, den Bojtar dafür bereithält, besteht in der Einrichtung einer Stiftung, welche die Journalisten mit finanziellen Ressourcen ausstattet, aber ihnen auch wichtige Kommunikationspartner und Wissensbestände zur Verfügung stellt.
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EnBj-10/11: »What would be the Foundation for? This type of reporting is difficult because it is expensive and because it requires a new knowledge and know-how. The Foundation could therefore help in these respects: a.) providing the applicants with travel grants to complete a story; b.) help journalists in identifying and finding their sources, both personal and institutional; c.) and, in the longer term promoting knowledge in the accession countries on old and new and would-be member states.«
Für die Durchsetzung dieser konkreten Forderung werden eindeutig Allianzpartner gesucht. Doch obwohl es anzunehmen ist, dass hier die EU mit ihren Ressourcen einspringen soll, geht diese direkte Adressierung nicht eindeutig aus der Rede Bojtars hervor. Überschneidungen mit anderen Arenen: Bojtar adressiert die fehlende EUSensibilität in der sozialen Welt der ungarischen Presse resp. in den Medien der südosteuropäischen, mittel- und osteuropäischen Gesellschaften. Auch Rui Vilar, ein Vertreter des Stiftungswesens, artikuliert, wofür die ökonomische und politische Mobilisierung von Kultur jenseits der EU-Politik dienen kann: ERV-9: »Starting with what Europe can do for culture, I would argue that European institutions should endorse the following actions: a. To promote effectively authors and artists’ mobility within the European Union and neighbourhood countries. Similar to the very successful ERASMUS students exchange programme, on the occasion of the 250th anniversary of Mozart’s birth, a MOZART artists mobility and exchange programme should be established; b. To facilitate the circulation of the mobile heritage that forms part of the European imaginary, creating a kind of a ›Schengen‹ cultural area; c. To support the cross-translation of European literature, specially of European minority languages; d. To promote the immaterial art, cinema and audiovisual, capable of using the new communication technologies, reinforcing the European artistic production to counterbalance American influence; e. To facilitate the learning of non-European languages (e.g. Arabic, Mandarin, Persian, Hindu) as a factor of openness and of immigrants integration.«
Im Zentrum stehen für Rui Vilar also konkrete Kalküle: Finanzielle Ausstattung der Kultureliten, v.a. der Künstler, Schriftsteller und Übersetzer um sich gegen den Kulturmarkt der USA zu behaupten, während ein Forcieren von Mehrsprachigkeit und das Erlernen nicht-europäischer Sprachen – es sind dies alles Sprachen, die vorwiegend in Asien und Afrika gesprochen werden – sowohl inner-
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halb als auch außerhalb Europas neue Potenziale entfalten könnte: Rui Vilar betont zwar eine Integration von und kulturelle Öffnung hin zu den Minoritäten europäischer Gesellschaften, doch mit den arabischsprachigen Gesellschaften, mit China, Iran und Indien sind im Wesentlichen die großen Märkte Asiens angesprochen, in denen europäische Kulturgüter abgesetzt werden könnten. Die Etablierung eines europäischen Stipendienprogramms wie etwa MOZART oder die Kanonisierung von europäischer Kultur, die Rui Vilar als bewegliches Kulturerbe definiert, sind für ein »Branding« europäischer Kulturgüter notwendige Voraussetzungen. Adressiertes Publikum: Im Wesentlichen werden von den Vertretern dieses Narrativs drei Gruppen zum Handeln aufgefordert: Die Politik verlangt von der Zivilgesellschaft eine zunehmende Investition in ihr eigenes Humankapital, insbesondere in Bildung; den Kultureliten in Kunst, Wissenschaft und Medien werden zwar einerseits Versprechen zur finanziellen und professionellen Förderung gegeben, andererseits werden diese Förderungen in Form von dauerhaft zur Verfügung stehenden Institutionen auch eingefordert; damit werden auch die Politiker unter Zugzwang gestellt: Wenn sie sich von der Kultur eine Stärkung Europas versprechen, so müssen sie auch die entsprechenden Rahmenbedingungen für die zu tätigenden Investitionen schaffen. 6.1.2 Diskurskomplizen Unter Diskurskomplizen sollen jene Sprecher verstanden werden, die sich in ihren Aussagen nicht einem der drei Narrative eindeutig zuordnen lassen. Da mit der Ausnahme von Andreas Georgi alle Sprecher der sozialen Welt der Politik entstammen, soll die Aufmerksamkeit hier nicht auf den unterschiedlichen Sprecherpositionen (3 und 4) liegen. Stattdessen sollen die Reden wieder im Hinblick auf die Arenaprozesse (1.-4.) und das adressierte Publikum (5.) untersucht werden, insofern sie die drei Narrative verbinden. Streng genommen ergeben sich daraus vier Möglichkeiten, sich zu den Narrativen zu verhalten, wie in Tabelle 12 abgebildet. Die Reden können sich also dahingehend unterscheiden, auf welche Narrative sie sich beziehen und ob auf zwei oder drei Narrative reagiert wird. Dabei zeigt sich, dass keiner der Diskurskomplizen davon absieht, Motive des Narrativs »Europa als Fortschrittsprojekt« zu gebrauchen. Entsprechend findet sich keine Position, die sich um eine ausschließliche Integration der Fundament- und Humankapital-Narrative bemühen – d.h. es gibt keinen Komplizen des dritten Typs.
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Tabelle 12: Diskurskomplizenschaften und Narrative Diskurskomplizen 1 2 »Europa als »Europa als FortschrittsFortschrittsprojekt« projekt« + + »Kultur als »Kultur als InFundament« strument und Humankapital«
3 »Kultur als Fundament« + »Kultur als Instrument und Humankapital«
4 »Europa als Fortschrittsprojekt« + »Kultur als Fundament« + »Kultur als Instrument und Humankapital«
Reden RvW-(1) NL-(2)
-/-
BN AG
GB
Die folgende kontrastive Analyse der Diskurskomplizen konzentriert sich vor allem auf den Prozess der Evolution und auf das adressierte Publikum. Die Funktion der Diskurskomplizen besteht nicht primär in der Ausarbeitung und Rechtfertigung einer eigenen Agenda, sondern in Aussagen, die sich zwischen die Narrative einsortieren lassen und diese damit stützen. Es soll gezeigt werden, wie einige Reden einzelne Elemente unterschiedliche Narrative aufgreifen und dabei das Thema um der Zusammenführung der Narrative willen weiterentwickeln. Seltener werden auch Diskursangebote der Narrative explizit zurückgewiesen. Komplizenschaft der Narrative 1 und 2 Richard von Weizsäcker greift in seinem Grußwort zur Veranstaltungseröffnung die Kulturkonzepte des zweiten Narrativs auf, wenn er darlegt, wie das Thema »Europa eine Seele geben« zu verstehen sei: RvW-(1)-5: »Was ist damit gemeint? Es ist einfach zu erklären und schwer zu verwirklichen. Es geht um die politische Kraft der Kultur. Kultur ist kein privater Spielplatz für die ›happy few‹, für die Denker, die Künstler und Intellektuellen. Kultur ist unser aller Lebensweise. Dazu gehören unsere heimatlichen Wurzeln, unser Familienleben, unser Gemeindewesen, unsere Rechtsordnung, unsere Sprache und Bildung, unser Wissen und Glauben. Kultur ist also unsere Art, freiheitlich und human zusammenzuleben. Sie liegt
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der Politik und der Wirtschaft, dem Lokalen und dem Feuilleton zugrunde. Eine Kultur, die sich frei entfalten kann, ist Mutter der Zukunft.«
Zunächst distanziert er sich davon, dass Kultur nur eine Angelegenheit der Eliten sei und betont, dass Kultur eine Grundlage gesellschaftlicher Institutionen wie Heimat, Familie, Rechtsstaatlichkeit, politischem Apparat und Wirtschaftsordnung sei. Aber sie ist auch die Grundlage gesellschaftlicher Entwicklungen, d.h. in der Tradition gründet auch der Fortschritt. Anstatt aber die religiösen GrenzFronten zu betonen, relativiert er diese, indem er mit dem Iran eine gegenwärtige Form des politischen Islam historisiert: RvW-(1)-10: »Dies liegt auch unserer Außenpolitik in Europa zugrunde. Wer Gespräche mit dem Iran oder mit der Türkei führt, gerade auch dann, wenn es in den Beziehungen große Hindernisse gibt, der tut gut daran, sich der alten kulturellen Wurzeln und gepflegten Überlieferungen dieser großen Länder bewusst zu sein, anstatt nur das Fremde zu sehen und abzuwehren.«
Freilich spricht er auch dort von »kulturellen Wurzeln«, die es zu respektieren gelte, doch hinter dieser Thematisierung von Kultur wird deutlich, dass diese politisch entwickelt werden könne, sogar entwickelt werden müsse: RvW-(1)-9: »Vor allem gilt eins: Kultur ist kein politikfreier Raum. Richtig ist vielmehr nur die Umkehrung dieses Satzes: ein kulturfreier Raum ist schlechte Politik.«
Damit entfernt er sich vom Narrativ »Kultur als Fundament« und sucht Anschluss an das Narrativ des »europäischen Fortschrittsprojekts«, für das Kultur den Ausdruck der politischen Entwicklung darstellt. Es verwundert also kaum, dass es ihm dann auch nicht in erster Linie um die Verteidigung einer Kultur gegen äußere und innere Feinde geht, sondern um das Zusammenführen von politischer Elite und Zivilgesellschaft: RvW-(1)-12: »Es geht um zivilgesellschaftliche Impulse, ein Europa der Europäer zu sammeln, nicht nur ein Europa der Regierungen, Institutionen und Verordnungen. Die Initiative zu unserem Zusammensein stammt nicht von einem Verband, einer Partei oder gar einer Regierung, sondern von europäischen Bürgern. Die Resonanz unseres Beisammenseins war schon beim ersten Mal stark.«
Von Weizsäcker adaptiert also die Fundament-Konzeption und entwickelt sie weiter in Bezug auf das Fortschritts-Narrativ der politischen Identität Europas.
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Mit dieser Evolution werden zwei Narrative zusammengeführt, die jeweils einem ganz anderen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang folgen, ohne dass diese sich für den Bundespräsidenten a.D. gegenseitig ausschließen würden. Konzipierten die Vertreter des ersten Narrativs die politische Kultur Europas als Ausdruck und damit Folge von Entscheidungen der politischen Elite der Nachkriegszeit, so argumentieren Barroso, Ferrero-Waldner, Schäuble, Schwartz-Schilling und Špidla gerade entgegengesetzt, nämlich dass Politik kulturell fundierten Normen und Werten folgen solle. Die Verbindung dieser Narrative leistet genau die Phrase von Weizsäcker: »Kultur, die sich frei entfalten kann, ist Mutter der Zukunft«. Adressaten dieser Rede sind, wie bei einem Grußwort üblich, zunächst einmal die anwesenden Teilnehmer der Konferenz. Darüber hinaus fordert von Weisäcker jedoch gerade die politische Elite Europas – d.h. die Kommission (RvW-(1)-15), das Europaparlament (RvW-(1)-12), den deutschen Bundestag (RvW-(1)-17) und die Bundesregierung (RvW-(1)-16) – auf, sich an der Verwirklichung einer europäischen Identität zu beteiligen. Norbert Lammert, der bereits als Vertreter des ersten Narrativs analysiert wurde, nimmt in seinem zweiten Beitrag eine Haltung ein, die es ihm erlaubt, Kultur sowohl als politische Errungenschaft als auch als Grundlage von Politik zu thematisieren. Mit Wolfgang Schäuble eint ihn auch, dass es ihm um die politische Zuständigkeit der EU und der nationalen Parlamente und Regierungen geht (indem er weitestgehend die Zuständigkeit der EU für die Kunst- und Kulturförderung begrenzen möchte), doch argumentiert er zunächst nicht mit kulturellen Fundamenten. Stattdessen stellt er die Bundesrepublik als »Kulturstaat« dar: NL-(2)-5: »Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich seit ihrer Gründung als Kulturstaat. Dies ist in einer Reihe von Erklärungen, nicht zuletzt auch in einigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich festgehalten worden, und es hat im Übrigen im Einigungsvertrag, also in dem Dokument, in dem die beiden deutschen Staaten die Wiederherstellung der nationalen Einheit vollzogen haben, auch zum ersten Mal einen unmittelbaren staatsrechtlich und völkerrechtlich relevanten Niederschlag gefunden. Dieses Selbstverständnis als Kulturstaat bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Zuständigkeit für Kunst und Kultur in erster Linie beim Staat zu suchen und dort verankert wäre, aber es kommt in diesem Selbstverständnis schon eine Überzeugung zum Ausdruck, durch die sich Deutschland in mancherlei Weise vom Selbstverständnis anderer bedeutender Staaten und Gesellschaften innerhalb der Europäischen Gemeinschaft unterscheidet, nämlich die über Jahrhunderte gewachsene Überzeugung, dass die Förderung von Kunst und Kultur ganz wesentlich eine öffentliche Aufgabe ist.«
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Deutschland unterscheide sich von anderen Nationalstaaten dahingehend, dass dem Staat die Förderung von Kunst und Kultur ein zentrales Anliegen sei. Zwar seien Staat und Kultur nicht identisch, doch wird auch hier im Modus der politischen Geschichte die Verbindung von Staat und Kultur über eine symbolische Referenzierung analog zum Verfassungsvertrag in politischen Statements, Verträgen, gerichtlichen Entscheidungen eingeführt; diesmal jedoch auf der Ebene des Nationalstaats und nicht der EU. Mit Blick auf die symbolische Referenz des ersten Narrativs, den Verfassungsvertrag, schließt Lammert jedoch an das Fundament-Narrativ an, wenn er dessen Scheitern auf eine fehlende gemeinsame normative Orientierung zurückführt: NL-(2)-11: »Ich bin fest davon überzeugt, dass es keine Aussicht auf innere Konsistenz der Europäischen Gemeinschaft gibt, die wir dringend brauchen, wenn wir uns nicht auf die kulturellen Grundlagen besinnen und damit die Grundsätze, die Prinzipien, die Orientierungen, auf denen diese Gemeinschaft beruht. Deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass gerade unter diesem Gesichtspunkt die Reaktivierung der gemeinsamen kulturell gewachsenen Überzeugungen und Prinzipien eine der Voraussetzungen für die künftige Verfassung der Europäischen Gemeinschaft ist, im Übrigen schon gar mit Blick auf künftige Grenzziehungen dieser Gemeinschaft, die sich für mich jedenfalls anders als über die kulturelle Identität dieser Gemeinschaft plausibel gar nicht begründen lassen.«
Der von den Vertretern des ersten Narrativ so eindringlich beschworene Bruch zwischen der Zivilgesellschaft und den politischen Eliten ist für Lammert nichts anderes als die Aktualisierung der gemeinsam geteilten kulturellen Grundlagen, d.h. vorgängigen Normen, aus der sich die Identität Europas ableiten lassen soll. Daran sollen sich auch die Grenzen Europas bemessen, womit erneut die ersten beiden Narrative zusammengeführt werden. Das adressierte Publikum ist wie auch bei Richard von Weizsäcker vor allem die politische Elite, aber er adressiert auch die Kulturelite Europas, wenn er mit Blick auf die Institution der Kulturhauptstädte eine stärkere Vernetzung der kulturellen und politischen Eliten anspricht: NL-(2)-12: »Ich finde es lohnt darüber nachzudenken, ob wir aus der Fülle von Europäischen Kulturhauptstädten, die es aus den letzten 20 Jahren gibt und die in der Regel die nationalen Hauptstädte waren, und den Hauptstädten europäischer Kunst und Kultur, die wir in den nächsten 10 – 20 Jahren bekommen werden, die viel stärker dezentral angelegt sein werden, nicht ein enges Netzwerk knüpfen, in dem sich durch die unmittelbaren auch persönlichen Beziehungen von Kulturverantwortlichen in Politik und Zivilgesellschaft
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eine immer dichtere Verbindung in all den Themen ergeben könnte, mit denen sich auch diese Konferenz beschäftigt.«
Komplizenschaft der Narrative 1 und 3 Georg Boomgarden, zum Zeitpunkt der Konferenz Staatssekretär im deutschen Außenministerium, problematisiert das Verhältnis von Politik und Zivilgesellschaft im Sinne des ersten Narrativs: GB-6: »Ideen sind wichtig. Sie brauchen Träger. Als Träger brauchen sie das Europa der Bürger. Die Kommissarin hat Werte erwähnt: Toleranz, Menschenrechte, Dialog, das ist das, was die europäische Zivilgesellschaft ausmacht. Diese wird nicht funktionieren ohne europäische Öffentlichkeit. Wir müssen europäische Öffentlichkeit herstellen. Das bedeutet: Öffentlichkeit, Presse, Kultur müssen stärker europäisiert werden oder zwischen den Europäern untereinander zugänglich werden.«
Anders als die Diskurskoalitionäre des ersten Narrativs, die sich auf die politische Elite als Trägergruppe des europäischen Fortschritts stützen, wendet er sich den strukturellen Konturen der Zivilgesellschaft zu: Öffentlichkeit, Presse und Kultur, denen es an einem europäischen Profil fehle. Damit nimmt er eine ähnliche Position wie Endre Bojtar ein, der ebendieses im Sinne des dritten Narrativs für Ost- und Mitteleuropa behauptete. Beide Narrative operieren mit einem »Governing the Bottom-Up«, d.h. sie sehen vorwiegend die Zivilgesellschaft und deren Eliten als Transmissionsriemen, um den Bruch zwischen Politik und Bevölkerung zu überwinden (»Europa als Fortschrittsprojekt«), resp. um Europa als Wirtschaftsstandort zu stabilisieren (»Kultur als Instrument und Humankapital«). GB-7: »SHELL hat in der Jugendstudie 2006 festgestellt: Die beiden Elemente, die von den Jugendlichen zwischen 15 und 25 an Europa am meisten geschätzt wurden, waren von 91% die Freizügigkeit und schon an zweiter Stelle von 87% die kulturelle Vielfalt. Allerdings steht auf der negativen Seite: Es gab eine sehr geringe Identifikation Europas mit sozialem Schutz. Und 31%, das sind nicht wenige, fürchteten den Verlust ihrer heimatlichen Kultur. Hier gibt es ein Spannungsverhältnis und hieran müssen wir arbeiten. Kultur heißt: Verständigung organisieren. Das bedeutet die Freizügigkeit nutzen für mehr Begegnungen. Über Jugendaustausch müssen wir nicht nur reden, sondern auch Geld bereitstellen und zwar in allen europäischen Ländern. Wir müssen noch mehr unsere Sprachen lernen. Kultur muss dynamisch bleiben, nach vorne gerichtet sein. Wir müssen über unsere gemeinsame Vergangenheit sprechen. Vielleicht gemeinsame Geschichtsbücher, wie jetzt das deutsch-französische, herausgeben. Wir müssen aber auch die Zukunft gemein-
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sam gestalten. Und das heißt, gemeinsam die Kultur gestalten und nicht nur sich gegenseitig vorhalten.«
Mit dem Gebrauch von statistischen Kennzahlen zur Beschreibung des europäischen Zustandes greift Boomgarden auf eine argumentative Technik zurück, die auch von den Vertretern des dritten Narrativs (Ján Figel’ und Emílio Rui Vilar) verwendet wurde, um ihr Anliegen zu plausibilisieren. Mit der Forderung, »die Zukunft gemeinsam [zu] gestalten« und »nicht nur sich gegenseitig vor[zu]halten« schlägt sich Boomgarden eindeutig auf die Seite des dritten Narrativs und geht auf Konfrontationskurs mit der EU-Außenkommissarin, der er schon zuvor entgegenhält, dass »die außenpolitische Darstellung Europas in Drittländern das geringere Problem« (GB-5) sei. Stattdessen argumentiert Boomgarden wie auch Bojtar für eine Politik, die innerhalb Europas dessen kulturelles Profil schärfen solle. Europäische Identität auf Seiten der Zivilgesellschaft – das Leitthema des ersten Narrativs – soll mit einer systematischen Europäisierung der Jugend forciert werden. Dafür müssen auf Seiten der Politik finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden; auf Seiten der Zivilgesellschaft verlangt das aber auch einen verstärkten Einsatz im Bereich Bildung, vor allem beim Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen. Adressiert werden also sowohl die politischen Eliten als auch die zukünftigen Bürger Europas. Komplizenschaft aller drei Narrative Zwei Redner versuchen, alle drei Narrative zusammenzubringen: Bernd Neumann, Kulturstaatsminister und Andreas Georgi, Vorstandsvorsitzender der Dresdener Bank AG. Letzterer thematisiert den für das Fortschrittsnarrativ typischen Dualismus von Zivilgesellschaft und politischem Apparat resp. politischer Elite, der im Sinne eines demokratischen Fortschritts in der Zukunft überwunden werden müsse: AG-4/5: »Damit Europa Zukunft hat, brauchen wir in der EU effiziente Institutionen und die richtigen Strukturen, keine Frage. Deshalb ist das Thema Verfassung auch so außerordentlich wichtig. Aber mehr noch brauchen wir Bürger, die sich für die Idee der europäischen Einigung begeistern und sozusagen von der Basis her mit Leidenschaft dabei mitwirken, dass das demokratische Europa noch stärker vorankommt.«
Einige Absätze später wird erneut einer der »Gründerväter« genannt, auf den sich die europäische Integration zurückführen lasse:
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AG-9: »Heute auf den Tag genau vor 105 Jahren, am 17. November 1901, wurde übrigens Walter Hallstein geboren. Er war einer der ganz großen Europäer der ersten Stunde, der visionäres Denken und pragmatisches Handeln miteinander verband. Damit hat er den immer schon schwierigen Einigungsprozess mit großer Energie vorangebracht.«
Doch Europa ist mehr als bloß ein politischer Apparat, darauf legt Georgi Wert, wenn er politische Steuerung als Lösung zurückweist: AG-24: »Wir brauchen einfach mehr als immer nur weitere Regeln, Richtlinien und Regulierungen! Denn diese vermögen zwar zu harmonisieren, vielleicht noch gemeinsame Werte zu garantieren, aber Hoffnungen zu erwecken oder gar Sehnsüchte zu entfalten, ... sicherlich nicht.«
Stattdessen betont Georgi, dass Europa sowohl ökonomisch als auch normativ zu bestimmen sei. Dabei seien diese Werte aber keineswegs bedroht, wie es die Vertreter des Fundament-Narrativs nahe legten. Stattdessen gehe es um eine Konzentration von Kultur: AG-18/19: »Europa ist eine Wirtschaftsgemeinschaft und eine Wertegemeinschaft. Und die steht für Aufklärung, Freiheit und ein friedliches Miteinander, Werte einer Kultur, auf die wir wirklich bauen können ... und sollten. Bei diesen Werten spürt man etwas von der Seele Europas, um die es ja bei diesem Kongress geht und ohne die Europa eine ziemlich trostlose Veranstaltung wäre. Gott sei Dank ist es ja nicht so, dass Europa seelenlos wäre. Die Betonung des heutigen Mottos liegt wohl eher auf „eine“ als auf Seele!«
Georgi macht das Fundament Europas zum Ansatzpunkt für ökonomische Entwicklung, die beiden Aspekten zugutekommen soll. Die folgende Sequenz argumentiert zwar letztlich im Sinne der Kultur als Wirtschaftsfaktor, aber in den Aussagen werden die Werte, durch die sich Europa auszeichne, im Sinne eines Schatzes an Ressourcen, als ein ökonomisch mobilisierbares Potential definiert, das aber auch als normative Definition Europas dient. AG-20-22: »Europa ist schon heute mehr als die Summe der Bruttosozialprodukte aller europäischen Länder. Mehr als Produktion und Vertrieb von Waren oder Dienstleistungen. So wichtig die auch sind, wenn es um Wirtschaftskraft und Selbstbewusstsein Europas geht, um das, was diesen Kontinent so einzigartig macht, spielen aber noch ganz andere Dinge eine Rolle. Nicht umsonst liegt ein Schwerpunkt dieses Kongresses auf der Kultur.
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Hier können wir getrost der europäischen Seele mehr Raum geben. Hier steckt ein kreatives Potenzial, das Europa prägt und voranbringt – und letztlich auch immer wieder der Wirtschaft zugutekommt.«
Andreas Georgi adressiert Fundament und Humankapital zugleich. Die zirkuläre Argumentation, dass sich Europa nicht auf Ökonomie beschränken lasse, dieses Nichtökonomische aber zugleich die Grundlage von wirtschaftlicher Prosperität sei, bildet den diskursiven Widerspruch ab, Kultur zugleich als universales Fundament wie auch als investierbares partikulares Gut zu konzipieren. Wenn er schließlich davon spricht, dass sich die von ihm vertretene Unternehmensgruppe eine spezifische Unternehmensform gegeben habe, und das als eine Verfassung beschreibt, wird schließlich auch ein Versuch unternommen, die europäische Integration und politische Identität Europa als Metapher für die eigene Unternehmensentwicklung heranzuziehen: AG-8: »Dass wir überzeugte Europäer sind, hat auch die Allianz-Gruppe mit ihrer Entscheidung unterstrichen, sich eine neue „Verfassung“, nämlich die der Europa-AG zu geben. Ein wichtiger Schritt, wie ich meine, der zeigt, wo wir unsere Zukunft sehen.«
Die Rede Georgis erweist sich als diskursive Assemblage, in der die drei Konzepte Fundament, Fortschrittsprojekt und Humankapital aufgerufen werden, ohne sie systematisch aufeinander zu beziehen. Nichtsdestotrotz werden sie artikuliert und stehen daher für weitere Anschlüsse im Diskurs zur Verfügung. Georgi unterscheidet sich von den anderen Rednern am stärksten auch in den Adressierungen: Mit der Zurückweisung von Versuchen, politisch zu steuern, wird auch die politische Elite als Handlungsträger ausgeschlossen. Stattdessen werden »junge Menschen« angesprochen, die »gemeinsam intensiv über Europa nachdenken« (AG-3) und noch expliziter adressiert er das Humankapital der Zivilgesellschaft, wenn er sagt: AG-25: »Gebraucht werden Menschen, die nicht nur auf die Preise, sondern auf die Werte achten. Die nicht europamüde sind, sondern hellwach und begeisterungsfähig.«
Der von Georgi benötigte Europäer wird als wertebewusste Konsumenten oder als einsatzbereiter, alerter Mitarbeiter präsentiert. Auch der deutsche Kulturstaatsminister Bernd Neumann verbindet die ersten beiden Narrative derart, dass der Bruch zwischen Zivilgesellschaft und Politik nur über die Aktualisierung einer ahistorischen kulturellen Einheit überwunden werden könne:
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BN-5: »Es ist eine große Herausforderung, den Menschen eine positive Vorstellung von Europa zu vermitteln. Ich bin überzeugt, dass im Zentrum solcher Bemühungen immer die Kultur stehen muss. Denn Europa ist immer eine kulturelle Einheit gewesen. Diese Einheit besteht paradoxerweise gerade in der Vielfalt der Kulturen. Und ich gehe noch weiter: Das Spannungsverhältnis von Einheit und Vielfalt hat Europa überhaupt erst zu einem Hort der Freiheit gemacht. Blaise Pascal hat diesen Zusammenhang einmal ganz klar benannt: ›Vielfalt, die sich nicht zur Einheit ordnet, ist Verwirrung. Einheit, die sich nicht zur Vielfalt gliedert, ist Tyrannei‹.«
Neumann zitiert Pascal, verwendet die von Ferrero-Waldner gebrauchte Formel »e pluribus unum« und gründet darauf die Charakterisierung Europas als »Hort der Freiheit«. Das im ersten Narrativ exponierte Problem soll mit Hilfe der im zweiten Narrativ vorgeschlagenen Mittel gelöst werden: BN-8: »Wenn wir Europa wirklich für die Menschen greifbarer machen wollen, müssen wir den Zugang zu unserem gemeinsamen kulturellen Erbe erleichtern.«
Nachdem er seine eigene Kulturpolitik anhand der von ihm als der Novellierung bedürftig erachteten Fernsehrichtlinie erläutert (BN-9-15), kommt aber auch der Kulturstaatsminister zu der Aussage, dass Kultur ein Wirtschaftsfaktor sei: BN-16: »Kultur hat nicht nur eine ideelle, geistige Dimension, sondern auch in hohem Maße eine wirtschaftliche. Kultur und Wirtschaft schließen sich nicht aus – im Gegenteil. Es wird oft übersehen, dass die Kulturwirtschaft und die Kreativindustrien die Wirtschaftszweige sind, die in Europa die größten Zuwachsraten haben. Unter bestimmten Bedingungen können sie sich sogar als „Job-Motor“ erweisen. Deshalb war es ein Fehler, dass man bei Formulierung der Lissabon-Strategie das kulturell-kreative Potential Europas wenig oder gar nicht berücksichtigt hat. Gerade mit Blick auf unser Ziel, Europa als eine der wettbewerbsfähigsten Regionen der Welt zu erhalten, dürfen wir den Zusammenhang von Kultur und Wirtschaft nicht vergessen.«
Hier wird deutlich wie in kaum in einer anderen Rede die Position vertreten, warum in Kultur zu investieren sei und welche Effekte man sich davon versprechen könne. Man müsse konkurrenzfähig bleiben, Arbeitsplätze schaffen und Geld in die Kassen der öffentlichen Verwaltung fließen lassen: BN-17: »Was wäre z.B. Berlin ohne die Kultur und die nur durch sie verursachten Tourismusströme. Vor allem das Gebiet des Kulturtourismus ist in Europa noch weiter zu erschließen. Unsere fabelhaften Kunstschätze und Kulturstätten haben eine magnetische
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Wirkung auf Touristen aus aller Welt. Dies gilt es weiter auszubauen. Es ist höchste Zeit mit einem lang gepflegten Vorurteil Schluss zu machen, nämlich mit der Auffassung, dass Kultur immer nur Geld kostet. Tatsächlich bringt Kultur auch Geld ein und schafft Arbeitsplätze.«
Schließlich betont Neumann, dass die ökonomische Verwertung von Kultur keinen Angriff auf einen heiligen Kulturbestand darstelle – ganz im Gegenteil: BN-18: »Wenn wir das stärker hervorheben, schwächen wir nicht den Eigenwert der Kultur. Wir unterstreichen ihn vielmehr und benennen zudem ein weiteres wichtiges Argument für den Grundsatz, dass Kulturförderung keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft ist.«
Neumann synthetisiert die drei Narrative derart, dass das europäische Fortschrittsprojekt nur dann erfolgreich sein könne (und er versteht darunter im Sinne des Fortschritt-Narrativs die Konstruktion einer europäischen Identität), wenn es der Politik gelingt, den Menschen ihre eigenen kulturellen Fundamente (im Sinne des Fundamente-Narrativs) zugänglich zu machen. Gelingen soll dies durch eine Vermarktung von und Investition in Kultur (im Sinne des Humankapital-Narrativs), durch die sich sowohl wirtschaftliches Wachstum als auch eine gesteigerte Identifikation mit der eigenen Kultur ergeben soll. Das adressierte Publikum ist entsprechend die politische Elite Deutschlands und der EU, welche die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Investition in die Kultur zu erzeugen und zu gewährleisten hat. 6.1.3 Marginalisierte Sprecher Die drei Redner, die als marginalisierte Sprecher identifiziert werden konnten, zeichnen sich dadurch aus, dass sie Kritik an einem der Narrative üben, ohne dabei in ihren Argumenten einem der beiden anderen Narrative zu folgen. Aus diesem Grunde werden die drei Reden nicht entlang der Prozess-Dimensionen der Arena dargestellt, sondern sie werden als eigenständige Positionen analysiert.1 1
Es mag zunächst nicht überraschen, dass die in der Kategorie »Marginalisierte« versammelten Sprecher wenig anschlussfähig für die restlichen Sprecher bleiben. Es ließe sich argumentieren, dass diese als Mitglieder von Kunst und Wissenschaft eine Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung einnehmen und somit als Kommentare zur politischen Fabrikation von Kultur zu betrachten wäre. Dagegen wäre einzuwenden, dass selbst unter einer solchen systemtheoretischen Prämisse die Diskurskoalitionäre und -komplizen ›Kultur‹ als eine Beobachtung zweiter Ordnung prozessierten. Eher
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Nilüfer Göle: Was ist die Einheit? Die Gleichsetzung von europäischer Kultur mit einem ungebrochenen Verhältnis von Bürger und Staat, von Eliten und Masse, das über eine Identität der geographisch lokalisierbaren Heimat zusammengehalten wird, schließt jedoch diskursiv solche Definitionen europäischer Kultur aus, die sich entweder auf die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg beziehen oder solche Territorien, die sich außerhalb der EU befinden. Entgegen einer solchen eingeschränkten Perspektive argumentiert die Soziologin Nilüfer Göle: NG-5: »And also the Turkish membership, the question of Turkish membership legitimacy is almost questioned, by the French it is named as ›Do we want a forced marriage?‹, mariage forcé, although in the eyes of Turks this is not a forced marriage, it was an outcome of a very natural engagement with the West this idea of westernization, which started before the European Union, during the second half of the 19th century, and at that period it is interesting to remember, to recall, that the name, the word civilization didn't mean anything particularistic and religious but it meant much more the positivistic Augustinian sense of universal culture that can embrace all other cultures in spite of differences in religion. Do remember the debate between French civilization and German Kultur, maybe, as it was put by Norbert Elias. Anyhow, Turks have taken this seriously, the idea of civilization as something universal.«
Göle nutzt die Diskussionen um den EU-Beitritt der Türkei dazu, die Grenzen der europäischen Kultur weiter zu ziehen als in den vorhergehenden Reden. Grundlage dieser Annäherung der Türkei an die EU sei also nicht eine jüngere Entwicklung, sondern sie resultiere aus einem Prozess der Orientierung am Westen, der weitaus länger wirksam sei als die Herausbildung der europäischen Institutionen. Diese Orientierung am Westen resultiere aus einem Verständnis von Kultur als universalem Prinzip, als Zivilisation, das in der Türkei seit dem 19. Jahrhundert vorhanden sei. Zugleich schließt Göle Religion als starke Differenz für die Bestimmung von Kultur aus, wenn sie auch das Auftauchen religiöser Signifikanten in den Ländern der EU und in der Türkei beobachtet und u.a. die Kopftuchdebatte und das Problem der Ehrenmorde anführt. Dabei würden vor allem Identitäten verhandelt, die sich dann gerade nicht auf politische Verge-
wäre umgekehrt davon auszugehen, dass Kunst und Wissenschaft die Fabrikation von Kernbeständen kulturellen Wissens, Narrativen und Symbolen zu verantworten hätten. Selbst der beiden sozialen Welten spezifische diskursive Duktus dürfte also nicht verhindern, dass die darin entwickelten narrativen Strukturen von Politik und Ökonomie aufgegriffen werden könnten.
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sellschaftung im Sinne eines gemeinsamen politischen Projekts beziehen, sondern auf angenommene religiöse Wurzeln und ein kulturelles Erbe: NG-16: »We can say in general, at the more abstract level, that religion is becoming decisive in Europe. We had described always in social sciences Europe as secular Europe in counter-distinction with pious America. But newcomers to Europe – Muslims, but also Polish and others – bring into [it] the religious issue. But also the Turkish membership, I would say, brings therefore the identity issue of all Europeans which is more and more based on this equation, on this inspiration from the heritage of the Christian past that we name as cultural values. So more and more, religion is becoming decisive in Europe in definition of cultural values, collective identities – whether it is European or Islamic, and public controversies.«
Auch wenn sie das fortschrittliche Zivilrecht der Türkei betont, so definiert Göle Europa nicht als politisches Projekt, sondern im Sinne einer reflexiven Modernisierung und einer Pluralisierung verwischen die Grenzen Europas oder werden problematisch und Europa reagiert darauf, indem es seine Werte auf religiöse Unterschiede und Gruppenidentitäten zurückführt. NG-10: »But we can also say that Islam is becoming a European matter as Europe became an indigenous ideal in the Turkish case, in a Muslim country, as European ideals travelled to a Muslim country and became indigenized, anchored. We can also now say and become aware that Islam is becoming part of Europe not as an external factor, not as a distinctive civilization. That is why we shouldn't speak about, maybe, a dialogue of civilizations, but – as Ulrich Beck would have put it – an ›inclusive other‹, as something which makes part of Europe.«
Der klaren Vorstellung eines politischen und wirtschaftlichen Fortschritts seit 1945, der im ersten Narrativ postuliert wird, der auf einem festen Territorium und auf einem Schulterschluss zwischen Politik und Zivilgesellschaft beruht, wird von Nilüfer Göle insofern problematisiert, als sie den zeitlichen Rahmen der Europäisierung ausweitet, den Bezugsrahmen kultureller Identität religiös expliziert und die Grenzen Europas ausweitet. Denn die EU-Erweiterung an sich muss stets mit einem proto-europäischen Raum argumentieren. Zu diesem ProtoEuropa gehören mit z.B. der Türkei jene Staaten, die Anspruch auf einen EUBeitritt erheben können. Damit wird die absolute Grenze Europas grundsätzlich unsicher und Aushandlungsprozessen zugänglich.
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NG-15: »Turkish membership triggered a societal debate not on Turkey but on the European identity. It played a role of catharsis. If we take Turkey, would say many French intellectuals and citizens, then we won't have a feeling of difference, we will be diluted. So where the frontiers will start? How we will define the frontiers of Europe if we include Turkey? Why not Russia, why not Morocco, would say some. So accepting Turkey would mean renouncing to Europe, would have written many intellectuals. It means forgetting the western victory over the Ottoman army when the siege of Vienna was lifted in 1683. And others would say, we need the other to define ourselves. So I have written: Would identifying Europe mean ›othering‹ Turkey? I think that's what happened in the last three years. More and more we are discussing European identity and Turkey was distanced. But something more important is happening as well, an unspoken tacit equation between Europe and its Christian heritage is becoming more and more outspoken and explicit. I think the lecture of Pope Benedikt XVI at the University of Regensburg, here in Germany, can be read in this direction of trying to define Europe in relation to its Christian heritage and values of rationality and in counter-distinction with Islam.«
Ihre Zurückweisung der Vorstellung, europäische Kultur lasse sich durch eine politische Balancierung von Staat und Zivilgesellschaft bestimmen, begründet Göle mit der empirischen Beobachtung ganz anders gearteter Signifikationen, nämlich einer Artikulation Europas als zugleich christlich und aufgeklärt – eine Selbstdefinition, die sich explizit gegen den Islam als unaufgeklärt und uneuropäisch richtet. Bazon Brock: Zivilisation statt Kultur Man könnte erwarten, dass der kulturelle Fundamentalismus des zweiten Narrativs einiges an Kritik hervorrufen würde. Die argumentative Figur, im Namen einer prinzipiellen Freiheit spezifische Kritikformen am Fundament diskursiv auszuschließen, ist weder neu noch besonders ausgefallen. Tatsächlich gibt es jedoch nur einen Redner, der den Begriff der Kultur als legitime Kategorie einer Kritik unterzieht. Es ist der Ästhetiker und Philosoph Bazon Brock. BB-2/3: »Hochmögende Versammlung, ich möchte nicht gleich Mighty Quinn zitieren, aber in die Richtung geht das schon. Frau Ferrero-Waldner, man kann sich natürlich nicht in den offenen Markt verlieben, aber in Sie könnte man sich schon verlieben. Da wäre aber doch die Frage, ob das auf Gegenliebe stößt. Gegenliebe wäre doch die Voraussetzung dafür, dass etwas geschieht. Bekanntlich liebt man sich in Kulturen nicht gegenseitig, sondern nur untereinander. Das heißt die Angehörigen einer Kultur lieben sich und grenzen sich deutlich gegen die anderen Kulturen ab.«
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Brock macht deutlich, dass Kultur gerade nicht eine Kategorie der kollektiven Vollinklusion darstellt, sondern dass die Beschreibung von Kultur immer auch ein Äußeres der Kultur erzeugt und damit eine Front zwischen verschiedenen Kulturen aufrechterhalten wird: Inkludiert oder integriert wird auch innerhalb der Kultur nur gegen andere. Damit wird die von den Vertretern des zweiten Narrativs geteilte These, dass Kultur eine quasi-heilige, unhinterfragbare und immer schon vorhandene Substanz sei, zurückgewiesen. Sein zweites Argument richtet sich dann auch gegen die Geschichtskonstruktion einer kontinuierlichen langen Zeit, der massive Veränderungen in der Gegenwart gegenübergestellt werden: BB-3/4: »Das heißt, wir müssen langsam lernen, dass die historischen Fakten und die Entwicklung Europas vollständig gegen alles steht, was hier unter dem Begriff der Kultur subsumiert wird. Man hat in Europa die katastrophalen Konsequenzen aus dem 30jährigen Krieg genutzt, um das Gerede von der Kultur endlich zu Gunsten einer universalen, die Menschheit als Ganzes betreffenden und nicht in ihrer kulturellen Prägung betreffenden Einheit zu sehen. Das ist im Wesentlichen das Konzept Europas im 18. Jahrhundert, von Franzosen, von Engländern, von Deutschen gleichermaßen entwickelt. Es bedeutete nämlich einzusehen, dass jeder Mensch von Natur aus kulturell geprägt ist. Wir sind von Natur aus Kulturmenschen und die Logiken der Kulturen sind reine Naturgesetze. Die Kulturwissenschaftler haben schon seit zweihundert Jahren nachgewiesen, dass alle Kulturen der Welt gleich funktionieren, dass alle das Gleiche leisten, dass es auf der kulturellen Ebene keine mögliche Unterscheidung zwischen Kultur A, B, C gibt. Denn wenn sie Kulturen sind, dann leisten sie für ihre Mitglieder genau das, was jede Kultur zu leisten hat, nämlich ein verbindliches Geflecht von Beziehungen, was es mir ermöglicht, innerhalb meiner Gruppe antizipieren zu können, wie Leute reagieren, die zur Gruppe gehören, nämlich im Unterschied zu denen, die nicht dazu gehören. Man hat leicht verstanden, dass etwa die Mafia der Inbegriff von Kultur ist, dass Fußballhooligans der Inbegriff von Kultur sind. Wir sollten doch als Erstes, wenn wir von Europa sprechen, lernen, was Europa eigentlich geleistet hat, nämlich die Verabschiedung von der kulturellen Legitimation.«
Dieser Abschnitt betont noch einmal, dass Kultur nichts Besonderes sei, wodurch sich Europa oder andere Großeinheiten auszeichnen könnten: Jeder verfüge über Kultur und Instanzen illegitimer Gewalt und der Kriminalität seien ebenso Verkörperungen von Kultur wie die Vertreter legitimer Herrschaft. Darüber hinaus müsse man Kultur im Sinne der Ethnologie als eine Kategorie zur Beschreibung partikularer Lösungsvarianten für universale Probleme verstehen. Der eigentliche Einschnitt erfolgte dann auch bereits nach den Religionskonflik-
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ten des 30-jährigen Krieges in der Einsicht, dass sich aus kulturellen Unterschieden keine Universalien ableiten ließen. Folglich kann daraus auch keine Legitimität für politisches Handeln, Erkenntnis und Wahrheit gewonnen werden. Stattdessen soll sich ein ganz anderes Legitimitätsmuster herausgebildet haben, das in den Reden zum kulturellen Fundament unzulässigerweise mit der Kultur vermischt wurde. Das Register kultureller Partikularität ist vom Register der Universalität systematisch zu unterscheiden: BB-6: »Mit anderen Worten: Was nach dem 30jährigen Krieg definitiv, aber seit Beginn des 14. Jahrhunderts systematisch und institutionalisiert vorgenommen wurde, ist die Einheit der Menschheit jenseits der je natürlichen, kulturellen Prägungen der einzelnen Menschen. Das wir kulturell geprägt sind, alle gleichermaßen, ist so, wie wir eben einen Stoffwechsel haben, so wie eben unser Nervensystem funktioniert. Das sind grundlegende natürliche Leistungen.«
Tatsächlich wird hier gar nicht so sehr die Fortschrittlichkeit Europas in Frage gestellt, sondern der Maßstab, mit dem dieser Fortschritt gemessen werden soll: Die Verwirklichung universaler Standards, die den Grad der Zivilisation ausmachen. Nicht der Verweis auf Freiheit, Demokratie, Frieden usw. ist für Brock problematisch, sondern die konfrontative Begründung gegenüber anderen Gruppen. Es sei weder hilfreich noch notwendig, Werte mit dem Verweis auf die eigene Besonderheit begründen zu wollen, da eine solche Strategie stets nur zur Intensivierung von Kämpfen führe: BB-7: »Wenn Europa etwas in die Welt gesetzt hat, was alle anderen nicht geschafft haben, dann ist es gerade die Abkopplung von der kulturellen Legitimation und die Durchsetzung von universalen Standards, von zivilisatorischen Großformen, die die Kulturen überwölben. Darin etwas schaffen, was es im Hinblick auf die Vorstellungen vom Fortschreiten der Menschheit zur Befreiung von eben dieser bloßen Reaktivität zu leisten gilt. Wenn man heute von Europa aus Politik macht, dann muss es Zivilisationspolitik sein anstatt Kulturpolitik. Die versteht sich von alleine. Dafür gibt es natürliche Interessengruppen jeder Macht. Eine Kultur der Freiheit oder eine Kultur der Konfliktlösung ist ein Widerspruch in sich. Es ist ja gerade die Tatsache, dass wir durch unsere Kulturzugehörigkeit andauernd in Konflikte geraten. Das Unbehagen an der Kultur hat Freud formuliert als eine Quelle der permanenten Kriege, dieser permanenten Auseinandersetzung um den eigenen und den anderen Gott, die eigenen und die anderen Batikmuster, die eigenen und die anderen Kochrezepte. Europa steht gerade für die Überschreitung dieser natürlichen, also kulturellen Prägungen jedes Menschen.«
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Gemäß der Forderung nach der weltweiten Durchsetzung universaler »zivilisatorischer Minimalstandards« (BB-8) wird auch eine andere Vorstellung von Globalisierung präferiert, die nicht auf eine Hierarchisierung, auf Gewinner und Verlierer, zielt und in der sich die Europäer gegen andere Kulturentwürfe verteidigen müssten: BB-8: »Alt ist die Empfehlung im Sinne der Forderung von Herrn Cox: Lasst uns hier eine Agentur für universale Zivilisierung schaffen, die weltweit, und nur darin erfüllt sich beispielsweise Globalisierung, zivilisatorische Minimalstandards schafft, die von jedem eingehalten werden müssen jenseits seiner kulturellen Besonderheiten. Denn das ist die Aufgabe, die sich nicht von Natur aus versteht. Die Kultur versteht sich von Natur aus für jeden Menschen von alleine. Aber das Andere, das Europäische ist, diese Möglichkeit zu schaffen, eine Einheit der Menschheit gerade im Jenseits der kulturellen Bedingungen als Zivilisation, als universale Zivilisation zu schaffen. Das ist die europäische Mission. Passion Europa, Mission Europa kann nur darin bestehen. Nicht in einem Herauskrähen unserer kulturellen Leistungen gegenüber anderen. Das ist lächerlich. Wir haben keine kulturellen Besonderheiten, nicht einmal gegenüber einem kleinen Bandenstaat. Auf der Kulturebene sind wir alle völlig gleich. Was wir leisten, ist eben gerade, diese Ebene zu verlassen.«
Kultur ist für Brock weder fundamental, da sie stets im Unterschied zu anderen identifiziert wird, noch ist Kultur besonders funktional in der Bewältigung der bevorstehenden Aufgaben. Schließlich erzeugt Kultur keine eigene Spezifik, die den Kulturträger gegenüber anderen auszeichnet, hervorhebt oder veredelt. Wenn Europa sich durch etwas auszeichnen soll, dann dadurch, dass es nicht auf dem Status seiner Besonderheit beharrt und stattdessen seine eigenen Grenzen überwindet. Wim Wenders: Kultur als Waffe Dass Kultur in erster Linie der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung dienen soll, findet bei dem Filmemacher Wim Wenders keinen großen Anklang: WW-13: »Europa hat eine Seele, oh ja, die muss man unserem Kontinent nicht erst geben. Die hat er schon. Das ist nicht seine Politik und nicht seine Wirtschaft. Das ist in erster Linie seine Kultur.«
Europa verfügt über Kultur, das ist für Filmemacher erst einmal gar nicht problematisch. Die Versuche allerdings, Kultur in den Dienst von Politik und Ökonomie zu stellen, würden nicht weiterhelfen. Schließlich seien Politik und Wirt-
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schaft keine Modi der Identifikation mit Europa, während Kultur eine große Anziehungskraft darstelle, vor allem für diejenigen, die außerhalb Europas seien: WW-12/13: »Hier, in Berlin, bin ich Deutscher, inzwischen von ganzem Herzen. Aber kaum ist man in Amerika, sagt man nicht mehr, man sei aus Deutschland, Frankreich oder wo auch immer. Man kommt aus ›Europa‹, oder kehrt dorthin zurück. Für die Amerikaner ist das der Inbegriff von Kultur, Geschichte, Stil, ›Savoir vivre‹. Das einzige, was ihnen einen Minderwertigkeitskomplex einjagt. Und zwar einen permanenten. Und auch aus Asien oder gar anderen Teilen der Welt aus gesehen erscheint Europa wie eine Bastion von Menschheitsgeschichte, Würde, und, ja, wieder dieses Wort: der Kultur.«
Wenders artikuliert sein Verständnis von Kultur im Sinne des zweiten Narrativs, dass Europa über eine Kultur verfüge, die nicht erst gezielt herzustellen sei, sondern für die anderen Weltregionen die Verkörperung von Kultur schlechthin darstelle. Kultur sei die Basis, auf der alle anderen Werte aufbauten. Dafür zitiert der Regisseur aus der Rede von José Manuel Barroso, die dieser auf der Vorgängerkonferenz im Jahr 2004 gehalten hatte: WW-15: »›Europe is not only about markets, it is also about values and culture. And allow me a personal remark: in the hierarchy of values, the cultural ones range above the economic ones. If the economy is a necessity for our lives, culture is really what makes our life worth living.‹ Ich könnte andere Teile seiner denkwürdigen Rede zitieren, am liebsten die ganze, weil er mir aus dem Herzen spricht.«
Doch auch für Wenders gibt es ein Vermittlungsproblem. Der EU ist es bislang nicht gelungen, bei den Bürgern eine emotionale Bindung zu Europa herzustellen. Der Bruch zwischen Staat und Zivilgesellschaft, der in allen drei Narrativen mehr oder weniger explizit verhandelt wird, wird bei Wenders im Sinne einer fehlenden affektiven Besetzung der EU durch die Bürger hergestellt. WW-4: »Man könnte meinen: Europa ist im Eimer, fucked, foutue, wenn Sie an das Verfassungsdesaster denken, an seine tatsächliche politische Macht, an die mangelnde Begeisterung seiner Einwohner für ›die europäische Sache‹ in der letzten Zeit. ›Die Europäer‹ haben Europa bis oben hin...«
Diese mangelnde Begeisterungsfähigkeit führt Wenders auf falsche Modelle der Repräsentation zurück:
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WW-17-20: »Bloß: Nach außen hin, zu seinen Bewohnern, agiert Europa nach wie vor als eine in erster Linie wirtschaftlich gesonnene Macht, mit politischen und finanziellen Argumenten, nie mit kulturellen. Europa argumentiert nicht mit Emotionen! Wer liebt denn sein Land wegen seiner Politik oder wegen seines Marktes? Kein Mensch! Direkt hier nebenan, 100 Meter weiter, ist der ›Showroom‹ der Europäischen Gemeinschaft, so wie es davon in jeder Hauptstadt einen gibt. Was liegt da aus? Landkarten, Broschüren, Wirtschaftsinformationen, Materialien zur Geschichte der Europäischen Union. Alles langweilig, tote Hose! Wer fühlt sich da repräsentiert, oder angesprochen?!«
Die EU setzt auf scheinbar bewährte politische Strategien, die mit Publikationen und funktionalen Informationsformaten ein Selbstbild als wirtschaftlich erfolgreich und politisch fortschrittlich darzustellen. Doch damit werden möglicherweise Finanzinvestoren gelockt – für Wenders fühlt sich die europäische Zivilgesellschaft davon nicht adressiert. Kultur nur als Instrument für eine weitere Förderung des wirtschaftlichen Wachstums zu benutzen, läuft am Ziel vorbei, weil der Markt keine emotionalen Bindungskräfte entwickeln kann. Die Lösung liegt für Wenders in der Macht der Bilder, von der das amerikanische Kino lebt: WW-22/23: »Warum ist nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt, ›ins Kino gehen‹ synonym mit ›einen amerikanischen Film sehen‹?! Weil die Amerikaner schon vor langer Zeit begriffen haben und das radikal umgesetzt haben, womit die Menschen bewegt werden, womit man sie zum Träumen bringt. Der ganze ›Amerikanische Traum‹ ist eine Erfindung des Kinos, den inzwischen die ganze Welt träumt.«
Amerika habe mit dem Bildmedium Kino ein Instrument an die Hand bekommen, mit dem es gelang, starke Erzählungen zu generieren, die über die Staaten hinaus weltweit wirksam wurden. Europa hat dann das spiegelbildliche Problem: Es ist zwar weltweit attraktiv, jedoch hat es keine integrierende Erzählung für sich selbst gefunden. Alle Vorschläge, die von Seiten der Politik gemacht wurden, um den Bruch zwischen Zivilgesellschaft und politischer Struktur zu kitten, setzten am falschen Ende an – sie waren Zwecke und nicht Mittel. Europa müsse mit dem Kino daraus einen Ausweg finden. WW-31: »In diesen Bildern des Europäischen Kinos könnte sich eine ganze neue Generation von Europäern wiederfinden, könnte sich Europa definieren, emotionell, kräftig, nachhaltig, könnten europäische Gedanken in die Welt getragen werden, könnten wir unser höchstes Gut, unsere KULTUR, ansteckend kommunizieren, die ›Open Society‹, die
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gestern so eindringlich beschworen wurde, die Kultur des Dialoges und des Friedens und der Menschlichkeit, aber wir haben uns diese Waffe aus der Hand nehmen lassen.«
Das Kino und mit ihm Kultur ist ein Instrument, dem würde Wenders gar nicht widersprechen. Nur ist es kein Kapital, dass man einsetzt, um einen Surplus an Kapital zu erzeugen. Stattdessen soll es eine Waffe sein. Im Prinzip radikalisiert Wenders die Position des zweiten Narrativs. Wo an vielen Stellen die Narrative Anknüpfungspunkte füreinander bieten – in ähnlichen Krisendiagnosen und dem Gebrauch einer religiösen oder psychologisierenden Semantik für die Bezeichnung von Kultur: Geist, Seele, Unterbewusstes, Persönlichkeit –, fallen die Mittel und die Zwecke auch bei Wenders zusammen. Die Vertreter des zweiten Narrativs wollten die Kultur gegen eine Bedrohung von außen schützen. Wenders will das Kino mit seinen emotionalen Bildern als Waffe nutzen. Dabei habe man sich diese Waffe der Bilder »aus der Hand nehmen lassen« – Amerika sei derzeit der Herr der Bilder und fülle die Köpfe der Menschen mit eigenen Vorstellungen davon, was gut und was schlecht sei: WW-26/27: »Jetzt werden Millionen von Europäern, alle zur gleichen Zeit, über Weihnachten und das Neujahr hinaus, einen Kleingangster sehen, der aussieht, man wird mir das verzeihen, wie der russische Präsident, wie Vladimir Putin. Dieser neue Bond geht wohl ziemlich brutal und rücksichtslos vor. Was will uns das sagen? Was erzählt uns da diese amerikanische Produktion?«
Am Beispiel von Daniel Craig, der den aktuellen James Bond verkörpert, wird mit Verweis auf den russischen Präsidenten eine Brücke zur amerikanischen Politik unter George W. Bush gezogen, die hier als brutal und rücksichtslos charakterisiert wird. Die Waffe richtet sich also gegen die USA, von denen Wenders die Hoheit über die emotionale Definition zurückerlangen will. Dabei geht es ihm aber letztlich nicht um die Außendarstellung der EU, sondern um die Überwindung einer Selbstentfremdung der EU: WW-32: »Ich sage bewusst WAFFE, weil Bilder die mächtigste Waffen dieses 21. Jahrhunderts sind. Es wird kein europäisches Bewusstsein geben, keine Emotionen zu diesem Kontinent, keine zukünftige europäische Identität, keine Bindung ohne dass wir unsere eigenen Mythen, unsere eigene Geschichte, unsere eigenen Ideen und Gefühle UNS VOR AUGEN HALTEN können!«
Waffen bedrohen, zerstören und sind Instrumente der Gewalt. Aber Waffen ermächtigen auch. Mit Bildgewalt sollen die Europäer von ihrer eigenen Kultur
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emotional überwältigt, an die eigene Geschichte emotional gebunden werden und ein Bewusstsein von sich als Europäer erhalten.
Die Soziologin Nilüfer Göle fragt danach, woran eigentlich die Grenzen und Gemeinsamkeiten Europas gemessen werden können, und weist die Deutung zurück, dass sich diese aufgrund der eigenen politischen Entwicklung bestimmen ließen, wie es das Fortschritts-Narrativ vorschlägt. Stattdessen beschreibt sie, dass die religiösen Differenzierungen dazu herangezogen werden, ohne diese als ein kulturelles Fundament zu betrachten (insofern weist sie auch das Fundamente-Narrativ zurück). Das Desiderat, Kultur als Wirtschaftsfaktor zu etablieren, bleibt unthematisiert. Der Philosoph Bazon Brock weist das Konzept der Kultur als Einheit stiftendes Moment gänzlich zurück und schlägt stattdessen eine Neuorientierung an den zivilisatorischen Grundlagen von Gesellschaften vor. Damit distanziert er sich von allen drei Narrativen: Dem Fortschritts-Narrativ stellt er eine wesentlich längerfristige Geschichtsschreibung entgegen, auch wenn er an einer politischen Fortschrittlichkeit Europas grundsätzlich festhält; am Fundamente-Narrativ kritisiert er die Vorstellung, Kultur verfüge über eine grundsätzlich andere und besonders schützenswerte Kultur; mit der Wertlosigkeit von Kultur wird implizit auch das Humankapital-Narrativ abgelehnt. Der Regisseur Wim Wenders schließlich plädiert für die Rückeroberung des Films als emotionaler Waffe, was ihn zwar in die Nähe des FortschrittsNarrativs bringt, doch weist er eine politische Geschichte Europas als langweilig zurück. Ihm geht es um die Entwicklung eines nicht-funktionalen europäischen Narrativs, für das die Produktion von Gelderträgen (im Sinne des dritten Narrativs) allenfalls eine Nebensache sei. Damit nähert er sich dem Fundamente-Narrativ an, jedoch trennt ihn von dessen Befürwortern, dass er nicht an der Grenz-Front zu anderen Religionen, sondern an der Konfrontation mit den USA als Hegemon des Kinos interessiert ist, was ihn wiederum von den Vertretern des Fortschritt-Narrativs trennt. Mit dieser Position steht Wenders im Prinzip gegen alle drei Narrative.
6.1.4 Die Arena »Berliner Konferenz« – Zusammenfassung Die folgenden Tabellen 13.1 bis 13.3 bieten einen Überblick über die vorgenommene Analyse der Arena. Es zeigte sich, dass sich drei Gruppen in dieser Arena gegenüberstehen:
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Die Diskurskoalitionäre: Sie bestehen vorwiegend aus Politikern und werden unterstützt von Vertretern der Zivilgesellschaft mit Ausnahme der Kunst und Wissenschaft. Sie tragen maßgeblich zur Artikulation der drei Narrative bei, treten jedoch selten in eine Konfrontation zueinander, d.h. die Narrative bilden drei unabhängige Erzählstränge, die zum Teil auf ähnlichen Zeitdiagnosen (vor allem dem Bruch zwischen politischer Elite und Zivilgesellschaft) beruhen, aber sich dabei nicht gegenseitig in die Quere kommen. Die Diskurskoalitionäre unterscheiden sich dann auch vornehmlich hinsichtlich der kommunizierten Ziele und Bedarfe: Gegenüber den Politikern wird vorwiegend eine verstärkte Investition in eine kulturelle Infrastruktur gefordert (Narrativ 3) oder eine Allianz im Sinne der Etablierung und Verstärkung einer offenen Gesellschaft vorgeschlagen (Narrativ 1). Als Besonderheit sticht das Fundament-Narrativ (Narrativ 2) heraus, das nur von politischen Amtsträgern artikuliert wird. Hier wird vor allem von deutscher Seite die nationale Zuständigkeit für eine eigenständige Migrations- und Integrationspolitik verteidigt und die EU an ihre begrenzten Eingriffsrechte erinnert. Die Diskurskomplizen: Sie sind durch Aussagen charakterisiert, die sich auf mehrere Narrative beziehen. Sie entstammen ebenfalls größtenteils der sozialen Welt der Politik (und es bilden ausschließlich Politiker der deutschen Legislative und Exekutive diese Gruppe), erweitert um einen Vertreter der Finanzwelt. Unter den Rednern, die keinem der Narrative exklusiv zugeordnet werden konnten, findet sich kein Diskurskomplize, der zwischen den Narrativen 2 und 3 vermittelt. Eine Verbindung dieser beiden Narrative bedarf der Vermittlung durch das Fortschritts-Narrativ, dass plausibel macht, zu welchem Zweck ein unverhandelbares kulturelles Fundament nun als ökonomisches Gut gehandelt werden soll. Die marginalisierten Sprecher: Diese Redner sind allesamt Vertreter der Zivilgesellschaft, insbesondere der Kunst und der Wissenschaft – zweier Bereiche, die sich selbst gerne entweder als autonom (Kunst) verstehen oder der Wahrheit (Wissenschaft) verpflichtet fühlen. Ihre Position ist durch eine Exklusivität gekennzeichnet, die sie weder eindeutig einem Narrativ zuordnet, noch vermittelnd als Diskurskomplizen fungieren lässt. Sie stehen den Narrativen als kontroverse Positionen gegenüber, indem sie zentrale Annahmen der Narrative problematisieren, vor allem die in ihnen zum Ausdruck kommende Historiographie (zeitliche Periodisierung), an den vorgenommenen politischen Grenzziehungen, dem Status kultureller Tatsachen (Innen-Außen-Differenzierungen) und den vorliegenden, der Identitätsstiftung dienenden kulturellen Artefakten (symbolischen Referenzierungen).
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Tabelle 13.1: Die Arena »Berliner Konferenz«: 1. Narrativ: »Europa als Forschrittsprojekt« Diskurskoalition mit sozialer Welt NGOs GS Ev
Pp
Ab
Ü
aP
Europa als »offene Gesellschaft« Mobilisierung von Zivilgesellschaft und Etablierung liberaler politischer Systeme EU als Prototyp offener Gesellschaften sofern kein Regierungsmodell Verbindung der Agenda des Open Society Institutes mit EU-Projekten Zivilgesellschaft politische Eliten Kultureliten
Diskurskomplizen
mit Narrativ 2 RvW, NL Politischer Fortschritt gründe in kulturellen Gemeinsamkeiten Schließung der Kluft zwischen Zivilgesellschaft und politischer Elite durch Stärkung der kulturellen Identität (Kulturstaat) politische Eliten Kulturelite
mit Narrativ 3 GB Schärfung des kulturellen Profils Europas Bereitstellung von Ressourcen für die Förderung junger Europäer Förderung von Sprachkompetenzen
Marginalisierte Sprecherin aus sozialer Welt Wissenschaft NG gegen Narrativ 1: Europa lässt sich nicht auf das politische Projekt EU reduzieren, Grenzräume gehören zu Europa gegen Narrativ 2: Kultur kein ahistorisches Fundament Narrativ 3: nicht thematisiert
politische Eliten Zivilgesellschaft
Die Abkürzungen in der linken Spalte beziehen sich auf die Arenaprozesse: Ev = Evolutionen, Pp = Passungsprozesse, Ab = Allianzbildungen, Ü = Überschneidungen, aP = adressiertes Publikum
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Tabelle 13.2: Die Arena »Berliner Konferenz«: 2. Narrativ: »Kultur als Fundament« Diskurskoalition mit sozialer Welt Innenpolitik Deutschlands WS Ev
christlich-jüdische Wurzeln
Pp
Forderung nach Integration muslimischer Bürger Zuständigkeiten von nationaler und EUPolitik Verbindung von Migrationspolitik mit politischen Konsequenzen aus dem Scheitern der Verfassung Muslime in Europa
Ab
Ü
aP
Diskurskomplizen
mit Narrativ 3 -/-/-
Marginalisierter Sprecher aus sozialer Welt Wissenschaft BB gegen Narrativ 2: Kultur keine Heil bringende Kategorie der Besonderheit gegen Narrativ 3: Kultur verfügt über keinen eigenen Wert
-/-
gegen Narrativ 1: Fortschrittliche Einsichten bereits nach dem Dreißigjährigen Krieg
Die Abkürzungen in der linken Spalte beziehen sich auf die Arenaprozesse: Ev = Evolutionen, Pp = Passungsprozesse, Ab = Allianzbildungen, Ü = Überschneidungen, aP = adressiertes Publikum
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Tabelle 13.3: Die Arena »Berliner Konferenz«: 3. Narrativ: »Kultur als Instrument und Humankapital« Diskurskoalition mit sozialen Welten Stiftungen und Medien EnB, ERV, DSM Ev
Verhältnis zu ehemaligen Kolonien und europäischer Peripherie
Pp
Neujustierung der Medien Mittel- und Osteuropas Finanzierung von Reisen, Netzwerkbildung und Aufbau von neuen Wissensbeständen
Ab
Ü
aP
Bereitstellung von Ressourcen, Öffnung von Märkten Branding
politische Elite Kultureliten
Diskurskomplizen
mit Narrativ 1 und 2 AG, BN AG: Bürger müssen für Europa begeistert werden, aber Absage an politische Steuerung. Europa ökonomisch und normativ bestimmbar Kulturelle Fundamente sind Ressourcen, die investiert werden können BN: Bruch zwischen Zivilgesellschaft und Politik nur durch Aktualisierung kultureller Gemeinsamkeiten zu überbrücken Überbrückung durch Investition in Kulturwirtschaft Zivilgesellschaft als Konsument und Mitarbeiter Politische Eliten der EU und Deutschlands
Marginalisierter Sprecher aus sozialer Welt Kunst WW gegen Narrativ 3: Kultur nicht bloß funktional zum Erhalt politischer Systeme sondern emotionale Waffe der Identität gegen Narrativ 2: Desinteresse an religiöser GrenzFront gegen Narrativ 1: Politische Geschichte der EU sei langweilig Kritik an USA als Hegemon der Bilder
Die Abkürzungen in der linken Spalte beziehen sich auf die Arenaprozesse: Ev = Evolutionen, Pp = Passungsprozesse, Ab = Allianzbildungen, Ü = Überschneidungen, aP = adressiertes Publikum
Die drei Narrative und die zwischen ihnen vermittelnden Diskurskomplizen adressieren drei Gruppen, auf die sich eine Herrschaftsanalyse stützen kann:
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Die politische Elite, d.h. die Amtsträger der nationalstaatlichen und europäischen Exekutive und Legislative, die entweder zu mehr politischem Einsatz oder Maßhaltung im Steuerungsbemühen angehalten werden. Die Zivilgesellschaft, die sich aus den politischen Subjekten der Bürger, den Konsumenten resp. Anbietern von Kulturprodukten und den Kulturschaffenden, dann v.a. als Kulturelite der Kunst, Wissenschaft oder Medien, zusammensetzt. Schließlich die muslimischen Migranten, die im Hinblick auf ihre Integrierbarkeit in die europäischen Gesellschaften thematisiert werden.
6.2 H ERRSCHAFT DURCH K ULTUR – D IE KULTURELLE F ORMATION UND DIE B EHERRSCHTEN E UROPAS In Diskursen Macht oder sogar Herrschaft zu analysieren, ist eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits gehört es zu den an Foucault orientierten Diskursanalysen als Voreinstellung, Macht und Diskurs analytisch zu verbinden (Foucault 1983, 1991). Andererseits bleibt dies zunächst einmal eine theoretische Setzung, die empirisch eingeholt werden muss – auch dann, wenn man etwa mit Isabell Lorey davon ausgeht, dass den Diskursen als Praktiken eine Wahrheit setzende Macht zu eigen ist, die sich nicht einfach auf ein »Sprechen über Dinge« reduzieren lässt, sondern »die Dinge hervorbring[t]« (Lorey 1999: 89). Reiner Keller spricht daher auch von einem Desiderat seiner wissenssoziologischen Diskursanalyse: »Neben die Frage nach der Wissensstruktur tritt diejenige nach der Arbeitsteilung und Sozialstruktur, nach den Interessenskonstellationen, Macht-, Herrschafts-, und Beziehungsgefügen, zwischen Personen, Gruppen, Akteuren, Organisationen, Praktiken, Artefakten und manifesten institutionellen Strukturen, die solche Ordnungen stabilisieren oder transformieren.« (Keller 2005: 178)
Komplikationen ergeben sich darüber hinaus daraus, dass die Soziologie seit Max Weber eine Unterscheidung mit sich führt, die zwischen Macht als amorpher Beziehung und Herrschaft als Chance, für einen Befehl Gehorsam zu finden, unterscheidet (Weber 1980). Während Macht dabei als wenig strukturierte Beziehung zwischen Individuen gefasst wird, erwächst für Herrschaft als stabilem Ordnungsprinzip stets ein Legitimitätsproblem (Neuenhaus-Luciano 2012). Eine dritte Komplikation ergibt sich aus der Forschungsfrage nach der Fabrikation europäischer Kultur selbst: Mit der EU steht ein bürokratischer Herrschaftsverband (Bach 2008) zur Verfügung, dem allzu leicht eine Dominanz qua
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politischer Natur zugesprochen werden könnte – doch welche Befehle vermögen die EU-Behörden in Bezug auf die Fabrikation in den Reden erlassen, und wer soll ihnen Folge leisten? Dazu kommen viertens die bereits angeführten adressierten Publikumsgruppen in den Narrativen. Aber wie verhält sich der Diskurs zu jenen, die im Sinne eines politischen Antagonismus gezielt exkludiert werden? Und was ist mit jenen, die nicht einmal würdig befunden werden, als politische Gegner adressiert zu werden? Diesen vier Problemen will nicht ausgewichen werden, aber die anschließende Herrschaftsanalyse steht quer zu diesen Problemen. Der Rekurs auf Benjamin erlaubt es nämlich, weder bei Foucault noch bei Weber ansetzen zu müssen. Das soziologische Grundproblem einer Foucault’schen Diskursanalyse besteht darin, aufzuzeigen, dass die diskursiven Praktiken wirkmächtig in dem Sinne sind, dass der untersuchte Diskurs nicht esoterisch auf sich selbst beschränkt bleibt. Webers Unterscheidung von Macht und Herrschaft orientiert sich hingegen stets an einer transparenten Beziehung zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfänger. Benjamin betont dagegen, dass es weder darauf ankommt, wem die Geschichte in der Gegenwart dient – die Form der Geschichtsschreibung selbst ist eine Form der Herrschaft über all jene, deren Stimmen in der Geschichtsschreibung nicht gehört werden. Das heißt umgekehrt, dass sich Herrschaft nicht alleine daran bemisst, durch wen wessen Befehle befolgt werden, sondern vor allem daran, wessen Handeln und Wissen vergessen gemacht wird, d.h. wer nicht einmal die Möglichkeit erhält, als Befehlsempfänger überhaupt der Berücksichtigung wert erachtet zu werden. In einem Entwurf zu der zitierten These VII aus den Geschichtsphilosophischen Thesen schrieb Benjamin: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten, Gefeierten, das der Dichter und Denker nicht ausgenommen. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.« (Benjamin 2010: 115) Damit löst sich nicht nur das Problem der sozialen Wirkmächtigkeit der Diskurse, sondern auch die Frage nach der Unterscheidung von Herrschaftsverband und Machtchance. Die Herrschafts- und Machtanalyse kann sich also im Sinne Benjamins darauf beschränken, wem die kulturelle Formation überhaupt eine Rolle als Kulturträger zugesteht und wem nicht. Aufgrund der vorgelegten Analyse lassen sich drei Ebenen unterscheiden, auf denen die Trägergruppen hinsichtlich ihrer Einbeziehung thematisiert werden: Auf der Ebene des Erinnerns in den Diskursen, nämlich wer in den Narrativen als Handlungsträger der Kultur erscheint und wer vergessen gemacht wird.
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Auf der Ebene der Arena und ihrer Sprecherpositionen, vor allem dahingehend, wem überhaupt die Möglichkeit eingeräumt wird, auf der Konferenz zu sprechen, an welche Sprecher inhaltlich angeschlossen wird und wie häufig sich die Sprecher gegenseitig zitieren resp. welche Sprecher nicht zitiert werden. Schließlich auf der Ebene der adressierten Gefolgschaft, d.h. wer als gegenwärtige und zukünftige Kulturträger genannt werden. Die entsprechenden Gruppen sind in Tabelle 14 zusammengestellt und werden in den folgenden Unterkapiteln vorgestellt:
Tabelle 14: Die Beherrschten Europas und die kulturelle Formation Narrativ 1 Alternative politische Positionen
Narrativ 2 Laizistische Positionen Kulturfabrikanten
Europas Stumme
Politische Linke Euroskeptiker Frauen
Kulturfabrikanten und Muslime
Europas Gefolge
Zivilgesellschaft als Gemeinschaft europäische citizens
Integrationsbedürftige Migranten Konservierende Kulturelite
Europas Vergessene
Narrativ 3 Ältere Menschen Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau Wenig mobile Menschen Kulturkonsumenten jenseits der Direktoren, Vorsitzenden und Geldgeber Zivilgesellschaft als Kulturkonsumenten
6.2.1 Europas Vergessene Die drei Narrative operieren im unterschiedlichen Ausmaß mit antagonistischen Ausschlüssen. Während im Narrativ 1 vor allem Gruppen ausgeschlossen wurden, die als nicht-demokratische politische Positionen und Regimes bestimmt wurden, zog das Narrativ 2 eine zentrale Grenz-Front gegenüber dem Islamismus, dem eine andere Kultur zugesprochen wurde. Das Narrativ 3 hingegen operierte stattdessen nicht mit antagonistischen Grenzen, schloss aber über die Betonung des Humankapitals all jene aus, die sich nicht an der Akkumulation von Kulturkapital beteiligen, darunter auch solche, für deren Biographien eine Investition z.B. in den Erwerb von Fremdsprachen bislang weder notwendig noch attraktiv erschien.
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Für das erste Narrativ »Europa als Fortschrittsprojekt« wurden vor allem die politischen Eliten der Nachkriegszeit zu den Machern der Geschichte erklärt. Damit verfolgte das Narrativ eine Geschichte der Sieger – gedoppelt durch die Allianz mit den USA. Man positioniert sich hier eindeutig auf der weltpolitischen Siegerseite. Konflikte innerhalb Europas werden dabei vor allem dem langen Jahrhundert der nationalen Konkurrenzen zugeschrieben, in dessen Folge auch noch der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus stehen. Dass die europäische Integration selbst hochgradig konfliktiv verlief, einzelne Staaten (etwa Großbritannien) sich dem Projekt nur selektiv anschlossen und bis heute die demokratische Legitimität des Europarates und der Kommission nicht unumstritten ist, wird nur bedingt thematisiert. Auch grundsätzliche Bedenken gegen einen transnationalen Wirtschafts- und Politikraum finden keine Repräsentation in dem Narrativ. Vergessen werden vor allem jene, die für andere politische Formen und Institutionen innerhalb Europas kämpften – davon zeugt auch die Dominanz konservativer und rechtsliberaler Positionen. Das zweite Narrativ »Kultur als Fundament« grenzt doppelt aus: Es bestimmt einerseits recht rigoros aufgrund einer kulturellen Besonderheit, wer zu Europa gehört und wer nicht. Die kulturellen Fundamente werden als anbetungswürdig betrachtet und für sakrosankt erklärt. Wer sie ehrt, wird integriert, wer nicht, bleibt ausgeschlossen. Insofern wird Kultur nach dem Modus einer Religionsgemeinschaft fabriziert. Auch dieses Narrativ nivelliert vor allem den historischen Konflikt zwischen Aufklärung und Religion zugunsten eines als konstant vorgestellten europäischen Kulturfundaments. Vor allem der Islam wird zu einer Europäisierung im Sinne einer christlich-jüdischen Rechtsstaatlichkeit aufgerufen. Vergessen werden jene, die sich gegen eine solche religiöse Eingemeindung verwahren möchten, vor allem laizistische Positionen, die im Sinne der Konfrontation mit dem Islam einer hegemonialen europäischen Haltung des aufgeklärten, moralischen Kulturmenschen subsumiert werden. Eine zweite Gruppe wird damit ebenfalls vergessen: nämlich die eigentlichen Kulturproduzenten. Kultur wird hier mit den wenigen großen Namen und Werken der Literatur, Philosophie und Kunst identifiziert, wie sie sich im Kanon der gymnasialen Schulbücher humanistischer Fächer wiederfinden. Wenigen großen Namen stehen eine Vielzahl an Kulturproduzenten gegenüber, die aus dem Kanon ausgeschlossen bleiben. Und auch diejenigen, die an der materialen Fabrikation von Kultur, ihrer Distribution oder Aufführung der symbolischen Referenzen arbeiten, bleiben unsichtbar. Insofern lässt sich diese Geschichte als Geschichte kulturellen Sieger verstehen. Das dritte Narrativ »Kultur als Instrument und Humankapital« schließlich operiert wie auch das erste Narrativ mit einem Imperativ der Einbeziehung der
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europäischen Bürger in einen Kulturmarkt. Das dadurch artikulierte »Governing the Bottom-Up« folgt einem kulturökonomischen Imperativ. Ausgeschlossen und vergessen werden damit all jene, die nicht über die ausreichenden Geld-, Zeit- und Bildungsressourcen verfügen, um an solchen Kulturmärkten zu partizipieren. Die ausgeprägte Zukunftsperspektive des Narrativs präferiert damit auch die »Europeans in the making«, also die jungen, gut ausgebildeten, internationalen Eliten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Vergessen werden dadurch diejenigen Bevölkerungsgruppen, die über geringere Bildung verfügen und weniger mobil sind. 6.2.2 Europas Stumme Die Berliner Konferenz selbst reproduziert diese Differenzen. Dominant sind die Inhaber politischer Ämter, insbesondere der deutschen. Das vertretene Lager ist deutlich konservativ geprägt, gefolgt von einigen sozialdemokratischen und liberalen Rednern – die Umweltbewegung und die sie repräsentierenden grünen politischen Parteien sind ebenso wenig vertreten wie sozialistische oder euroskeptische rechte Positionen. Dazu fällt die Unterrepräsentation von Frauen in den Reden auf. Mit Benita Ferrero-Waldner und Nilüfer Göle sind gerade einmal zwei Sprecherinnen dokumentiert. Auch für die Kultur sprechen vorwiegend ihre Eliten. Ein Philosoph, eine Soziologin, ein international ausgezeichneter Filmregisseur, ein Herausgeber eines politischen Magazins. Damit sind vor allem die »Denker« vertreten und erneut nicht diejenigen, die als Fabrikanten den kulturellen Werken ihr Gewicht verleihen – solche, die die architektonischen Entwürfe tatsächlich in Bauwerke umsetzen, die geschriebenen Bücher verlegen, die Drehbücher vor der Kamera verkörpern. Nicht vertreten sind auch diejenigen, die als Kulturpublikum adressiert werden. Die Repräsentation der Kulturwelt ist eindeutig zugunsten ihrer Produktionsseite verzerrt. Stumm bleiben auch diejenigen, die als der Integration bedürftig erachtet werden: Mit Nilüfer Göle – aber auch mit Navid Kermani, dessen Redebeitrag nicht als Dokument zugänglich war – sind zwar zwei Muslime vertreten, doch weder die französisch-türkische Soziologin noch der deutsch-iranische Schriftsteller sind typische Vertreter derjenigen Migranten, die in den Reden zum Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit oder zur Anerkennung der Trennung von Religion und Staat aufgefordert werden. Göle ist Professorin an einer französischen Universität, die sich kritisch mit eurozentrischen Definitionen des Laizismus auseinandersetzt und dürfte kaum zu denjenigen gezählt werden, von denen eine Integration verlangt wird. Gläubige Muslime, die mit Bezug auf ihre Religiosität
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ein säkularisiertes Verhältnis zu Europa entwickeln sollen, finden sich nicht unter den Sprechern. Wird Kultur als Humankapital verstanden, so wird dieser Bereich vorwiegend durch die Finanzwelt, die Stiftungen, die Kulturanbieter abgebildet. Kulturkonsumenten im weitesten Sinne erhalten in der Arena keine Stimme. Zwar wird einigen Vertretern der Zivilgesellschaft, die sich der Vermittlung der Kultur widmen, eine Stimme gegeben – doch auf deren Forderungen und Bedürfnisse wird kaum konkret eingegangen. Stattdessen werden die Kulturkonsumenten zu ihrer Partizipation am Kulturmarkt aufgerufen, die sich weitgehend auf den Erwerb von Sprachkompetenzen und Bildungstiteln bezieht – gleichgültig, ob dies den Kulturbedürfnissen der Konsumenten entspricht. 6.2.3 Europas Gefolge Die Narrative fungieren also auch im Sinne von Imperativen, die an jeweils spezifische Publikumsgruppen gerichtet werden. Sie legen eine bestimme Form des Gehorsams nahe, dem Folge zu leisten sei, um die je diagnostizierte Krise (politische Stagnation Europas, Kulturverlust Europas, ökonomischer Niedergang Europas) zu bewältigen – damit werden in den Narrativen auch Unterschiede in der ihnen zugrunde liegenden politischen Herrschaft sichtbar. Mit dem Bruch zwischen Zivilgesellschaft und politischer Elite wird im ersten Narrativ »Europa als Fortschrittsprojekt« eine Gegenüberstellung vorgenommen, die zwischen den europäischen Identitätsstiftern und jenen unterscheidet, die sich noch nicht genügend mit Europa identifiziert hätten, d.h. sich noch nicht als europäische Bürger begreifen. Die Gründe sollen eindeutig in der fehlenden Vermittlung liegen, d.h. es sei Aufgabe der Eliten, ihrer Erzieheraufgabe nachzukommen. Das verlangt aber von Seiten der Zivilgesellschaft auch eine Bereitschaft, sich erziehen zu lassen – die Sprecher erwarten damit eine europäische Gouvernementalität, die von den Bürgern eine Gefolgschaft einfordert, sich im Sinne Europas politisch zu identifizieren resp. identifizieren zu lassen. Die Zivilgesellschaft konstituiert sich hier als »European Citizenship«, also als politisch verantwortliche Bürger, die nicht nur von den Freiheiten und individuellen Schutzrechten des Integrationsprozesses profitieren sollen, sondern auch zur Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit und politischen Identität aufgerufen sind. Das zweite Narrativ »Kultur als Fundament« verlangt auf der einen Seite Migranten Gehorsam gegenüber normativen Vorgaben, die Befolgung von Gesetzen und die Anerkennung von Rechtsinstitutionen. Dabei wird die Legitimität einer gegebenen rationalen Herrschaftsordnung traditional begründet und dar-
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über hinaus mit charismatischen Eigenschaften verbunden, die den Kulturträgern und den Kulturwerken zu Eigen sein soll. Das Publikum wird zum Bekenntnis aufgerufen, also als Anhänger europäischer Kulturherrschaft adressiert. Demgegenüber wird von den Kultureliten selbst verlangt, als Verteidiger, Konservatoren und Missionare der Kulturwerte zu fungieren. Durch sie soll sich die europäische Kultur weiterhin bewähren und ausweiten, d.h. letztlich als legitim durchsetzen. Das dritte Narrativ »Kultur als Instrument und Humankapital« adressiert schließlich ebenfalls die Zivilgesellschaft, nicht jedoch im Sinne eines politischen Subjekts, sondern als Konsumenten von Kultur, die ihre eigenen Ressourcen zu Zwecken der wirtschaftlichen Prosperität einsetzte. Auch hier findet sich eine Gouvernementalität der kulturellen Lebensführung wieder, die den Einzelnen zu einem möglichst rationalen Gebrauch der eigenen kulturellen Leistungsmöglichkeiten anhalten sollen. Der Kulturkonsument soll möglichst »sophisticated« sein, sich also nicht unbedingt durch einen undisziplinierten Massenkonsum sondern durch einen distinktiven Konsum auszeichnen. Das heißt dass in der Folge auch mit entsprechenden Produkten auf die raffinierten Kulturbedürfnisse zu reagieren sei, was umgekehrt wieder gesteigerte kulturelle Distinktion auf Seiten der Konsumenten verlangt. 6.2.4 Europa im Kontext von Kultur als Herrschaft Die vorliegende Arbeit stellt der sozialwissenschaftlichen Europaforschung, die stark von Fragen nach der politischen Legitimität der EU und nach den Dimensionen der Integration geprägt ist, eine andere Perspektive gegenüber.2 Die Identifikation der drei kulturbezogenen Narrative ermöglicht es, die Selbstdeutung der politischen und kulturellen Eliten im Hinblick auf die Grenzen, Legitimität und Funktionalität der EU zu thematisieren: Wie sehen die politischen Eliten die EU selbst? Dabei zeigt sich eine Abhängigkeit der Fabrikation einer Kultur Europas von den jeweiligen politischen Problemdefinition, die notwendigerweise Exklusionen innerhalb des adressierten Kollektivs zur Folge hat. Den unterschiedlichen Versuchen, Kultur politisch zu mobilisieren, ist gemeinsam, dass sie das Fehlen einer europäischen Identität konstatieren, die es erlaubte, den Bruch zwischen politischen Institutionen und Zivilgesellschaft zu überwinden. Doch die Redner der Berliner Konferenz 2006 entwickelten unter-
2
Siehe zu der stark politikwissenschaftlichen Orientierung der Europasoziologie aus sehr unterschiedlichen Theorieperspektiven: Bach (2008), Bieling (2004), Eigmüller/Mau (2010), Haller (2009), Münch (1999), Vobruba (2010).
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schiedliche Strategien ›europäische Kultur‹ als partikulare Fabrikate zu erzeugen.3 Die erste Strategie versucht direkt, das Projekt der EU als politischimaginierte Einheit zu retten. Sie beruft sich zwar ähnlich wie die zweite Strategie auf eine gemeinsame Geschichte, doch sie fasst diese nicht als langfristige, amorphe Kulturgeschichte, sondern als politische Geschichte der Institution der EU, die sich im überschaubaren Rahmen der Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs abspielt. Als politisches Kernelement wird dabei die Open Society als politische Kultur identifiziert, auf die sich Europa als politische Gemeinschaft gründet. Die Krise wird hier als ein Abbruch des Projekts einer offenen Gesellschaft interpretiert, d.h. als ein Auseinanderklaffen von zivilgesellschaftlichen und politischen Strukturen, die nun wieder zusammengebracht werden müssen. Die Lösung wird dabei in einem ständigen Anpassungsprozess von politischen Projekten und den Ansprüchen der Bürger gesehen. Kultur wird in dieser Strategie dann als der Modus betrachtet, die politische Einheit herzustellen. Sie ist damit kein Instrument, dass seinem Zweck entsprechend eingesetzt wird, und auch kein gemeinsamer Orientierungsrahmen, sondern eine Weise, sich politischer Technologien und Diskurse zu bedienen, um das Projekt der EU am Laufen zu halten. Die zweite Strategie präsentiert Kultur als einen von der Europäischen Gemeinschaft geteilten Vorrat an Traditionen, Werten und Ausdrucksformen, auf welche die europäischen Mitgliedsstaaten aufgrund einer gemeinsamen Geschichte zurückgreifen können. Als gemeinsame Substanz oder als »kulturelles Unterbewusstes« verstanden, ermöglicht der Rückgriff auf Kultur eine wertorientierte Europapolitik, die den Bruch zwischen der politischen Struktur und den Bürgern der Mitgliedsstaaten dadurch auflöst, dass sie die Grenzen Europas hervorhebt und somit eine stärkere Identifizierung der Bürger mit den Institutionen ermöglichen soll. Dahinter steht die These, dass die Bürger die Europäische Union als Agent der Globalisierung und damit als Produzent von Unsicherheiten wahrnehmen. Eine klar konturierte Außenpolitik und eine Besinnung auf Kernwerte, die als Ausdruck des jüdisch-christlichen Kulturkreises resp. des Abendlandes gedeutet werden, soll diese Angst minimieren und damit die Ursache für die Entfremdung zwischen EU und Zivilgesellschaft beseitigen.
3
Die identifizierten Narrative entsprechen nur oberflächlich den drei Stories von Europa, wie sie von Klaus Eder (2010) identifiziert werden: Er spricht von einer Marktstory, einer Staatsbürgerschaftsstory und von der Story einer kulturellen Besonderheit. Die Daten hier zeigen viel eher, auf welche Weise Markt- und Staatsbürgerschaftsstory in den Narrativen kultureller Besonderheit systematisch eingewoben werden.
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Die dritte Strategie greift stattdessen auf Kultur als Instrument zu, das eingesetzt werden kann, um den angesprochenen Bruch zu heilen. Kultur wird hier verstanden als ein Arsenal an Techniken, Werken und Gütern, mit denen Europa den Bürgern vermittelt werden soll. Dieser Instrumentendiskurs betont dabei zwei Momente: Erstens setzt er auf eine kulturorientierte Wirtschaftspolitik, mit der Europa seine weltwirtschaftliche Position sichert und sich damit über eine für die EU typische Weise legitimiert. Integration ist dann als Marktintegration gedacht, und Kultur dabei als ein besonders viel versprechender Markt: »sophisticated goods for sophisticated consumers«, wie es ein Teilnehmer der Berliner Konferenz formuliert. Damit wird diskursiv an die Selbstdeutung der EU als erfolgreicher supranationaler Wirtschaftsverband angeschlossen. Das Problem wird also dadurch gelöst, dass die Erschließung eines Kulturmarktes der wirtschaftlichen Stabilität der europäischen Volkswirtschaften und ihrer Einheiten – letztlich den wirtschaftenden Bürgern – zugutekommt. Das zweite Moment begreift Kultur als ein Mittel der Bildung und Erziehung, dass eingesetzt werden kann, um die europäischen Bürger erst zu erzeugen. Als besonders defizitär erscheint dabei die Bevölkerung Osteuropas, vor allem des Balkans, die man mit geeigneten Erziehungsprogrammen z.B. durch das Vorführen von Filmen in Schulen oder durch die Förderung von Mehrsprachigkeit erst noch an Europa heranführen müsse. Kultur wird hier zu einem technischen Instrument, das man nutzen kann, um einen gewünschten Zweck zu realisieren – nämlich die Implementation einer europäischen Identität. Gegenüber der politischen Frage, wie die Grenzen Europas zu bestimmen seien, konnte gezeigt werden, dass sowohl die politischen wie auch die geographischen Grenzen variieren können. Dabei zeigen sich die ausgegrenzten Außenräume Europas als durchaus unterschiedlich problematisch für die EU. Als besonders problematisch erscheinen Staaten, die eine Mitgliedschaft in der EU anstreben. Stabilisierung erfahren die unterschiedlichen politischen und geographischen Grenzen durch die Artikulation von kulturellen Grenzen, die zwischen einem homogenen Innen und einem antagonistischen Außen unterscheiden. Kulturelle Grenzbestimmungen können aber auch nicht final zwischen einem Innen und Außen unterscheiden, weil Elemente des Außen auch im Inneren der Kultur auftauchen können und diese Homogenität bedrohen. Das dritte Narrativ zeigt zudem, dass auch nicht-antagonistische Lösungen diskursive Exklusionen produzieren, d.h. dass auch in einem Integrationsnarrativ Stimmen systematisch nicht repräsentiert werden. Herrschaft wird somit in solchen Diskurspraktiken erfassbar, die Akteure aus dem Feld der Sichtbarkeit in das Feld der Unsichtbarkeit drängen, ohne sie aus der Pflicht zu entlassen, sich im Sinne des Diskurses zu verhalten.
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Das ist die Strategie der Legitimation durch Kultur, wie sie von den Eliten Europas selbst verfolgt wird. Der Rekurs auf Kultur ist also nicht nur eine Historisierung der EU, sondern zugleich die Fabrikation einer ideologischen Grundlage für ein politisches Arrangement, das sich selbst noch unter den Bedingungen ökonomischer und politischer Krisen als Musterlösung politischer Vergesellschaftung zu imaginieren versucht.
7 Schlussfolgerungen: Kultur als partikulares Fabrikat
Eine zentrale Leitidee dieser Arbeit bestand in der Annahme, dass Kultur gezielt hergestellt werden müsse: Kultur ist ein Fabrikat, dem Seltenheitswert zukommt. Methodologisch ist damit zunächst einmal nicht mehr gesagt, als dass Kultur in sozialtheoretischen Überlegungen nicht länger als Determinante von Verhalten gefasst werden kann. Eine Theorie, die Differenzen im Verhalten auf unterschiedliche Kulturen zurückführt, vergisst, dass eine solche Annahme nur dann Sinn macht, wenn mindestens zwei soziale Einheiten (Gruppen, Organisationen, Staaten etc.) miteinander verglichen werden. Die vermeintliche Spezifik einer Kultur entsteht erst im Vergleich mit anderen und ist daher eben zunächst einmal Effekt einer wissenschaftlichen Arbeitstechnik. Dem Verhalten an sich eignet dabei keine spezifische kulturelle Qualität. Lässt man die in Kapitel 3.1 vorgestellten Ansätze Revue passieren (siehe Tabelle 15), so zeigt sich, dass genau darin philosophische und ethnologische Ansätze in der Anthropologie scheitern. Gerade weil der Mensch ein exzentrisches Wesen ist, lässt sich keine Gegenüberstellung von Natur und Kultur vornehmen. Diese Gegenüberstellung ist vor allem auch dann problematisch, wenn letztlich Soziales und Kulturelles im Begriff der Institution etwas Identisches werden. Und auch die Ethnologie sucht ja letztendlich nach den Unterschieden in der Lösung universaler Probleme. Beide Diskurse sind durch die kulturelle Formation geregelt. Die Ethnologie nimmt anhand von Beobachtungen, Gegenständen, Bauten und Feldberichten (symbolische Referenzen) Vergleiche zwischen sozialen Einheiten vor, um die einzelne Gruppe/Gesellschaft von anderen abzugrenzen und zu sondieren (Innen-Außen-Differenzierung). Sowohl die philosophische Anthropologie als auch die die Ethnologie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Skala, auf denen diese Vergleiche vorgenommen werden: Während die Ethnologie im klassischen Sinne die fremde Gruppe von der eigenen unterscheidet und deren Eigenheiten im expliziten oder impliziten Vergleich
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bestimmt, geht es der philosophischen Anthropologie um die Bestimmung der Grenze zwischen der Gattungsgruppe Mensch und allen anderen Tieren. Beiden ist gemein, dass die Vergleich auf eine geschichtslose Ebene (zeitliche Periodisierung) gehoben werden: Hier unterscheiden sich die Strukturmodelle eines Claude Lévi-Strauss nur wenig von dem Funktionalismus eines Bronislaw Malinowski. Als Anthropologien erheben sie den Anspruch, Eigenschaften von Vergesellschaftung jenseits der empirischen Ausgestaltungen in den einzelnen Fällen zu identifizieren, während für die philosophische Anthropologie ja die überhistorische Natur des Menschseins das programmatische Zentrum darstellt, die sie aus der synthetischen Lektüre von ethnologischen und biologischen Daten destilliert. Tabelle 15: Die kulturelle Formation und die Kultursoziologie1 Ethnologie IAD ZP
SR
H
Vergleich von menschlichen Gruppen Partikulare/historische Lösung für universale Probleme Beobachtungen, Artefakte, Feldberichte Herrschaft als Ausdruck von Kultur, Repräsentation durch begrenztes Repertoire
Philosophische Anthropologie Mensch vs. Tier
Praxistheorie
Überhistorische Natur
Situative Praxis, Zeitpraktiken
Feldberichte, biologische Daten Herrschaft durch fundamentale Institution
›doings‹ und ›sayings‹, Artefakte Fokus auf Macht, Herrschaft als Inkorporierung
Kultur = Soziales
Abkürzungen in der linken Spalte: IAD: Innen-Außen-Differenzierungen, ZP: Zeitliche Periodisierungen, SR: Symbolische Referenzierungen, H: Herrschaft.
Demgegenüber sind praxistheoretische Zugänge durchaus reflexiv angelegt. Prinzipiell sind diese Theorien gegenwartsorientiert resp. machen es möglich, sich dem Umgang mit Zeit zu widmen. Robert Schmidt bemerkt mit dem Verweis auf Anselm Strauss dazu: »Soziale Praktiken entfalten sich nicht nur in der Zeit, sie spielen zugleich mit der Zeit.« (Schmidt 2012: 53) Der Fokus auf
1
Ich verzichte hier auf eine Darstellung der Position Simmels, da sie als empirisches Programm zu wenig anschlussfähig erscheint.
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›doings‹ und ›sayings‹ (Schatzki 2002) liegt daher auch auf eher situativen Lösungen, die zwar nicht unstrukturiert ablaufen, aber deren generative Kraft und Prozesshaftigkeit nun hervorgehoben werden. Das größte Problem bereiten praxeologische Zugänge hingegen in ihrer Gleichsetzung von Kultur- und Sozialtheorie. Im praktischen, materialen Vollzug realisieren sich soziale Ordnungen sowie auch deren Repräsentationsformen – soziale Ordnungen werden von den Praxistheorien daher auch stets als kulturelle Ordnungen begriffen. Das konstante, explorative Vergleichen von Artefakten und ihrer praktischen Gebrauchsweisen macht die Praxistheorien zur Erbgemeinschaft der klassischen Ethnologie. Und obwohl ihr die Mittel zur Untersuchung von Kultur als Sonderbereich der praktisch organisierten Repräsentation von Gesellschaft zur Verfügung stehen, verzichten diese Ansätze mit wenigen Ausnahmen darauf und konzentrieren sich stattdessen auf die Etablierung einer neuen Sozialtheorie. Schließlich zeigt sich, dass alle drei Ansätze Herrschaft einen Stellenwert einräumen, der den Zusammenhang mit Kultur unterbestimmt lässt. Da die Ethnologie traditionell Sozialstruktur und kulturelle Ausdrucksformen in einen Zusammenhang bringt, wird nur ein begrenzter Teil des kulturellen Repertoires der Gruppe als symbolischer Ausdruck von Herrschaft interpretiert, während umgekehrt alle herrschaftsbezogenen Informationen, Positionen und Artefakte als Ausdruck von Kultur gedeutet werden. Die philosophische Anthropologie, vor allem in der Version von Gehlen, rückt mit der Institution einen spezifischen Herrschaftsmodus in den Mittelpunkt der eigenen Theorie. Die anthropologische Notwendigkeit der Etablierung von dem einzelnen Individuum äußeren Instanzen, an denen sich das Verhalten auszurichten habe, begreift Herrschaft und Kultur als etwas Identisches. Kultur ist dann nicht Ausdruck von Herrschaft, sondern das zentrale Mittel. Auch wenn Institutionen aus dem Handeln des Menschen erwachsen, so werden Institutionen und Kultur doch als den Menschen vorgängige Tatsachen der Verhaltensführung begriffen. Damit nimmt die philosophische Anthropologie eine genau umgekehrte Perspektive auf die Funktion von Kulturfabrikation ein. Ihre Kulturtheorie ist eine von evolutionär entstandenen Fundamenten. Die Praxistheorie nimmt auch mit Bezug auf Herrschaft wieder eine ambivalente Position ein, indem die Verankerung der Praxeologie in den poststrukturalistischen, pragmatischen und sprechakttheoretischen Ansätzen den Gebrauch des Machtbegriffs näher legt als eine explizite Herrschaftsanalytik.2 Die Beto2
Ein Blick in das Sachregister von »Die Transformation der Kulturtheorien« (Reckwitz 2008: 700 ff.) zeigt, dass es zwar fünf Einträge zum Stichwort »Macht« gibt, jedoch keinen einzigen zu »Herrschaft«. Siehe zur Herrschaftsvergessenheit der praxistheoretisch begründeten Körpersoziologie auch Alberth (2012).
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nung von Routinen, praktischem Bewusstsein und Körperlichkeit kontrastiert deutlich mit strategischen und intentionalen Akten, wie sie etwa für Max Webers Konzept von Herrschaft als notwendig vorausgesetzt werden, nämlich für einen angebbaren intentionalen Befehl Gehorsam zu finden. Der Rückgriff auf die Arbeiten von Pierre Bourdieu erlaubt zwar eine Thematisierung von Herrschaft, indem diese durch Inkorporierung naturalisiert wird, doch bietet der Zugriff auf eine Machtanalytik im Sinne einer produktiven Erzeugung sozialer Arrangements wohl auch einen empirisch einfach zu handhabenden Zugriff (vgl. dazu etwa das skizzierte Forschungsprogramm in Schmidt 2012). Die hier vorgelegte Arbeit verhält sich zu den skizzierten Positionen kritisch. Sie konzipierte Kultur als partikulares Fabrikat. Als partikulares Fabrikat ist sie mit der Vorstellung von Kultur als Existenzbestimmung des Menschen, wie sie von der philosophischen Anthropologie favorisiert wird, unvereinbar. Deren Grundannahme besteht ja gerade darin, dass Kultur eine Universalkategorie sei, da der Mensch zum Gebrauch von Symbolen gezwungen sei, mit denen evolutionäre Mängel kompensiert und ein reflexives Verhältnis zur Umwelt entwickelt würde. Die damit einhergehende Universalisierung und Ontologisierung des Kulturbegriffs reduziert gleichzeitig seinen Informationsgehalt. Welche Bedeutung Kultur als spezifisches Sinnmuster zukommt, kann dann nicht mehr erfasst werden. Zwar betonen Berger/Luckmann (1969) die prinzipielle Relativität von universalen Sinnwelten, gleichzeitig entscheiden sie sich jedoch für den Begriff der Institutionalisierung und eine weitgehende Tilgung des Begriffs von Kultur aus ihrer Theorie. Streng genommen könnte eine daran anschließende Wissenssoziologie die Herausbildung einer Sinnwelt ›Kultur‹ untersuchen, doch geht dann der stets vorläufige, der gerade eben noch nicht institutionalisierte Charakter des Fabrikats Kultur für die Analyse verloren. Der Fokus auf die Dialektik von objektiver und subjektiver Wirklichkeit setzt a priori voraus, dass hier stets ein Vermittlungsverhältnis zu bestehen habe. Eine Theorie von Kultur als partikulares Fabrikat hebt stattdessen auf der Ebene der Objektivationen vor allem den Anspruch der Kultur auf universale Gültigkeit hervor und bestreitet ganz prinzipiell die Möglichkeit, dass eine Sinnwelt tatsächlich universal werden kann.3
3
Das hat dann dramatische Konsequenzen für Theorien sozialen Wandels und der Modernisierung. Für eine Theorie von Kultur als partikulares Fabrikat sind diese Theorien kein gangbarer Modus, wohl aber für eine Soziologie, die Veränderungen sozialer Relationen aus einer Bottom-up-Perspektive zu rekonstruieren hätte: Zur Frage, was sich den verändert, ist stets auch die Frage danach, für wen die Veränderung stattfindet, mit zu formulieren.
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Die Ethnologie erweist sich dagegen für eine Theorie der Kultur als partikulares Fabrikat ungewollt als äußerst hilfreich. Ihre eigentliche Forschungspraxis operierte ja seit jeher mit partikularen Fällen, deren Spezifik sie in einer komparativen Methode des Vergleichens identifizierte. Damit formulierte sie ungewollt eine der Grundregeln der Fabrikation, nämlich die Differenzierung partikularer Einheiten im Vergleich. Zwar ist die Ethnologie mittlerweile an einem Punkt, an dem sie nicht mehr notwendigerweise einem anthropologischen Funktionalismus anhängt oder an der Identifikation universaler Strukturen arbeitet. Von der Etablierung der Ethnologie zeugt auch die Übernahme zentraler Methoden, die etwa in Verfahren der Ethnographie oder der Artefaktanalysen Eingang fanden. Damit endet dann aber schon die Gemeinsamkeit. Denn wovon der hier vorgestellte Ansatz abweicht, ist gerade das Schlussverfahren. Was im Vergleich durch den Ethnologen sichtbar wird, soll nun eine vom Vergleich unabhängige Eigenschaft des untersuchten Falls sein. Damit wird der eigentliche Fabrikationsprozess der Kulturdefinition selbst zum Verschwinden gebracht. Die Untersuchung von Kultur als partikularem Fabrikat verhält sich reflexiv zur Ethnologie, indem sie von einer Fremdbeschreibung von Kultur auf die Selbstbeschreibung als Kultur abstellt. Von der Ethnologie wird damit auf eine Ethnotopologie im Sinne der Untersuchung von kollektiven Selbstpositionierungen als sich bestimmt unterscheidende, konstante und sichtbare Sozialeinheiten umgestellt. Zu praxistheoretischen Ansätzen besteht sicherlich die größte Nähe. Der hier unterbreitete Vorschlag betont die Abhängigkeit der Kultur von Praktiken, wenn auf ihre Fabrikation abgestellt wird. Kultur ist wie jede Form von Sozialität ein praktisch vollzogenes ›accomplishment‹. Wie oben bereits ausgeführt, bestehen hier vor allem Uneinigkeiten, ob alle Praktiken Kultur erzeugen oder nicht. Unnötigerweise führen manche Arbeiten die Vorstellung von Kultur als stets corealisierte Dimension mit – womit Kultur erneut universalisiert, weil stets präsent gehalten wird. Mir scheint diese Annahme jedoch für die Praxeologie nicht zwingend notwendig und sich eher den Entstehungszusammenhängen dieser Theorien in den Kulturwissenschaften zu verdanken. Ein tatsächliches, wenn auch nicht unlösbares, Problem ist die systematische Hervorhebung von Routinen, praktischem Bewusstsein und Körperlichkeit in praxeologischen Ansätzen für die Analyse von Kultur als partikularem Fabrikat. In dieser Arbeit wurden artikulatorische Praktiken zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht. Kultur in der hier gefassten Konzeption eignet dann effektiv immer ein reflexives Moment, lässt sich als praktisch erzeugte Selbstbeschreibung verstehen und damit kann der Fabrikationsprozess nicht allein auf vorreflexive doings reduziert werden. Als konstitutives Kriterium müssen dann strategische Praktiken der Or-
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ganisation von Repräsentationen erfasst werden, ohne die keine Fabrikation von Kultur auskommt. Diese den partikularen Fabrikaten eingeschriebene Intentionalität ist für den hier vorliegenden Vorschlag auch deswegen notwendig, weil er zugleich ein spezifisches herrschaftssoziologisches Profil entwickelt: Wenn Kultur keine unabhängige Variable von Verhalten darstellt, so ist Herrschaft keine der Kultur externe Bedingung. Herrschaft ist keine Variable, durch die Kultur verzerrt oder ideologisch vereinnahmt werden könne. Die Vorstellung, dass es eine originäre Kultur gäbe, die durch Herrschaftsinteressen unterdrückt oder verfälscht würde, ist hochgradig problematisch. Tatsächlich kann konkretes Verhalten, Sprechen, Gesang, Musik, Arbeitsweisen, Sexual- und Erziehungspraktiken usw. durch Herrschaft unterdrückt werden. Die Geschichte der Kolonisierung zu negieren, ist hier gar nicht das Anliegen. Nur wird dadurch noch keinesfalls Kultur unterdrückt. Das Problem der postkolonialen Theorie besteht darin, einer realen Herrschaft eine imaginierte vorgängige kulturelle Einheit zu unterstellen.4 Eine solche Selbstbeschreibung hat sich in vielen Fällen vermutlich gerade erst in der Erfahrung von Herrschaft als Option einer Artikulation kultureller Identität angeboten. In diesem Sinne wäre die politische und organisationale Fabrikation einer postkolonialen Internationale durchaus einer Untersuchung wert. Denn mit Benjamin wäre selbst noch der Anspruch auf eine eigene Kultur, d.h. auf einen partikularen, stabilen und sichtbaren Unterschied zu anderen ein Ausdruck jener Herrschaft, der es gelang, die Spuren der Beteiligung an der Fabrikation von Kulturwerken auszulöschen. Mit Benjamin ist der Entwurf einer Gegenkultur stets ein Ausdruck der Situation von Machtrelationen, in der dieser Entwurf getätigt wird. Kultur als partikulares Fabrikat stellt dagegen systematisch auf solche Strategien ab, die darauf zielen, gegenwärtige Machtrelationen nicht einfach zu hegemonialisieren, sondern partikulare Interessen und Selbstbilder über spezifische Verfahren der Repräsentation derart zu universalisieren, dass diese Andersartigkeit als zeitlich stabile und Differenz sichtbar wird. Kultur ist ohne solche Herrschaftsstrategien der Veränderung (Reuter 2002) nicht zu haben. Die Sichtbarkeit weniger, die den Anspruch darauf erheben, ein spezifisches Kollektiv umfassend gegenüber einem Anderen zu repräsentieren, lässt drei unterschiedliche Herrschaftsstrategien erkennen, die in der Fabrikation von Kultur am Wirken sind: Eine erste Herrschaftsstrategie besteht darin, aus der gesamten Bandbreite menschlicher Aktivität nur eine begrenzte Anzahl an Aktivitäten und damit auch 4
Sie folgt damit dem historistischen Irrtum, erkennen zu wollen, »wie es eigentlich gewesen war«.
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nur eine begrenzte Anzahl an Akteuren auszuwählen und als Kultur sichtbar zu machen. Zieht man noch einmal das Bild des Triumphzuges von Benjamin heran, so zeigt sich dies an der Auswahl an Kulturwerken, die mitgeführt werden, während andere Artefakte und die darin objektivierten Praktiken nicht repräsentiert werden. In der oben ausgeführten Analyse hatte ich diese Strategie als Vergessen bezeichnet, das sich streng genommen doppelt vollzieht, indem bestimmte mögliche symbolische Referenzen vergessen werden, aber auch jene Akteure, die an der Fabrikation sowohl der erinnerten als auch der vergessenen Referenzen beteiligt waren. Die zweite Herrschaftsstrategie schließt Andere von der Repräsentation aus. Ihnen wird keine Stimme eingeräumt, sie werden mundtot gemacht. Nicht alle dürfen im Triumphzug mitmarschieren und sind daher von der öffentlichen Inszenierung ausgeschlossen. Auf dieser Ebene wird zwischen würdigen und unwürdigen Repräsentanten unterschieden. Die dritte Herrschaftsstrategie, die in der partikularen Fabrikation von Kultur zum Ausdruck kommt, bestimmt, wer als Repräsentierte angesprochen werden darf und wer nicht. Diese Herrschaftsstrategie entspricht dem gängigen Othering, indem explizit Gruppen aufgrund von Kollektivzuschreibungen als zugehörig oder ausgeschlossen definiert werden. Damit wird nicht nur eine Gefolgschaft etabliert, sondern der Clou dieser Strategie besteht vor allem darin, der fabrizierten Kultur einen sozialen Körper zu geben, d.h. seine materiale Persistenz in der Bevölkerung zu sichern und damit die Innen-Außen-Differenzen über die Zeit hinweg zu stabilisieren. Der Triumphzug bedarf eben sowohl der Verlierer als auch eines Publikums. Die Verlierer werden gerade durch den Einbezug eines spezifischen Publikums, das als Resonanzraum dient, erst wirksam ausgeschlossen. Mit diesen drei Strategien lässt sich der herrschaftssoziologische Beitrag dieser Arbeit darin bestimmen, dass die Analyse des Zusammenhangs von Kulturdefinitionen und Diskurspraktiken die Sichtbarkeit resp. die Unsichtbarkeit zum zentralen Moment von Kulturfabrikation macht. Herrschaft zeigt sich dann im Vermögen, darüber entscheiden zu können, wer und was dauerhaft als Teil der Kultur sichtbar werden darf. Herrschaft bedarf auch der Definition dessen, wer überhaupt der Unterwerfung oder eines Befehls wert ist. Herrschaft zeigt sich nicht nur daran, wie Gewalt ausgeübt wird, sie impliziert auch eine Anerkennung der Beherrschten. Die Analyse der Fabrikation von Kultur zeigt hier mit Benjamin, dass ihr eine Gewalt zukommt, die sie tatsächlich zum Ausdruck von Herrschaft macht, indem sie diese grundsätzliche Entscheidung, wer beherrscht werden soll, in eine umfassende, sich gegen ein Außen abgrenzende Selbstthematisierung von Gesellschaft einbettet.
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2:
Redner der »Berliner Konferenz« | 100 Zuordnung der Sprecher und ihrer Redebeiträge zu den sozialen Welten Politik, Zivilgesellschaft und Finanzwirtschaft | 103 Tabelle 3: Themenblöcke und Redner auf der Berliner Konferenz | 104 Tabelle 4: Aussageformen und Formationsregeln | 108 Tabelle 5: Zuordnung von Reden zu Narrativen | 110 Tabelle 6: Innen-Außen-Differenzierung in der Rede von Georges Soros | 130 Tabelle 7: Innen-Außen-Differenzierungen und zeitliche Periodisierung im Narrativ »Europa als Fortschrittsprojekt« | 136 Tabelle 8: Die religiöse Grenz-Front | 155 Tabelle 9: Wertewortfelder in der Rede von J. M. Barroso | 158 Tabelle 10: Formationsregeln des Kulturdiskurses und die Narrative europäischer Kultur | 186 Tabelle 11: Sprecherpositionen, soziale Welten und Narrative | 192 Tabelle 12: Diskurskomplizenschaften und Narrative | 201 Tabelle 13.1: Die Arena »Berliner Konferenz«: 1. Narrativ: »Europa als Fortschrittsprojekt« | 222 Tabelle 13.2: Die Arena »Berliner Konferenz«: 2. Narrativ: »Kultur als Fundament« | 223 Tabelle 13.3: Die Arena »Berliner Konferenz«: 3. Narrativ: »Kultur als Instrument und Humankapital« | 224 Tabelle 14: Die Beherrschten Europas und die kulturelle Formation | 227 Tabelle 15: Die kulturelle Formation und die Kultursoziologie | 236
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Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft Februar 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 27,90 €, ISBN 978-3-8376-2558-5
Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2
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Kultur und soziale Praxis Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Januar 2014, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2402-1
Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Januar 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2447-2
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt März 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
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Kultur und soziale Praxis Werner Binder Abu Ghraib und die Folgen Ein Skandal als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror Dezember 2013, 548 Seiten, kart., 46,99 €, ISBN 978-3-8376-2550-9
Sonja Buckel »Welcome to Europe« – Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts Juridische Auseinandersetzungen um das »Staatsprojekt Europa« September 2013, 372 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2486-1
Mario Schmidt Wampum und Biber: Fetischgeld im kolonialen Nordamerika Eine maussche Kritik des Gabeparadigmas Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2526-4
Caroline Schmitt, Asta Vonderau (Hg.) Transnationalität und Öffentlichkeit Interdisziplinäre Perspektiven April 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2154-9
Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen
Anett Schmitz Transnational leben Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland
Januar 2013, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5
Oktober 2013, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2328-4
Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas Januar 2014, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4
Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung
Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus August 2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
Hannes Schammann Ethnomarketing und Integration Eine kulturwirtschaftliche Perspektive. Fallstudien aus Deutschland, den USA und Großbritannien
Mathias Wagner, Kamila Fialkowska, Maria Piechowska, Wojciech Lukowski Deutsches Waschpulver und polnische Wirtschaft Die Lebenswelt polnischer Saisonarbeiter. Ethnographische Beobachtungen
April 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2428-1
November 2013, 254 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2333-8
Mai 2013, 392 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2335-2
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