Die Erzeugung von Arbeit: Variationen, Unterschiede und Hierarchien von Erwerb und Unterhalt 9783110781335, 9783110781298

Work was and is the object and product of conflicts. This volume shines the spotlight on borderline cases and various di

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German Pages 275 [276] Year 2022

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Die Erzeugung von Arbeit
Wege zum Arbeitsamt
Eigenartige Arbeitskräfte
Der Raum des Musizierens
Einen Erwerb ergreifen
Nicht-Arbeit in den Anfängen des Sozialstaats
Abkürzungsverzeichnis
Register
Die Autor/innen
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Die Erzeugung von Arbeit: Variationen, Unterschiede und Hierarchien von Erwerb und Unterhalt
 9783110781335, 9783110781298

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Die Erzeugung von Arbeit

Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum



Band 253

Die Erzeugung von Arbeit  Variationen, Unterschiede und Hierarchien von Erwerb und Unterhalt Herausgegeben von Sigrid Wadauer

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch: – die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien – das Institut für Historische Sozialforschung (IHSF) und die Arbeiterkammer Wien – das Land Niederösterreich

ISBN 978-3-11-078129-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078133-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078137-3 Library of Congress Control Number: 2022942099 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Straßenkehrer am Platz vor dem Kaufhaus Schmidek, Morgendämmerung, Schatten eines Hauses (1933), © Österreichische Nationalbibliothek/Wien. Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Sigrid Wadauer Die Erzeugung von Arbeit Grundzüge eines Forschungsprogramms  1 Irina Vana Wege zum Arbeitsamt (Österreich 1880–1938)  21 Jessica Richter Eigenartige Arbeitskräfte Die Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst (Österreich 1918–1938)  63 Georg Schinko Der Raum des Musizierens (Österreich 1918–1938)  123 Sigrid Wadauer Einen Erwerb ergreifen Auseinandersetzungen über die Möglichkeiten und Bedingungen eines selbstständigen Lebensunterhaltes  171 Sonja Hinsch Nicht-Arbeit in den Anfängen des Sozialstaats Variationen und Kontraste eines Problems (Österreich 1918–1938)  221 Abkürzungsverzeichnis  261 Register  263 Die Autor/innen  269

Sigrid Wadauer

Die Erzeugung von Arbeit Grundzüge eines Forschungsprogramms Was Arbeit ist oder sein soll, war und ist umstritten – war und ist Gegenstand von politischen, alltäglichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden – nicht zuletzt angesichts jeweils aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und Veränderungen von Arbeitsverhältnissen – viele fest etablierte Vorstellungen der Geschichte von Arbeit in Zweifel gezogen, teils auch verworfen. Es wurden neue Fragen gestellt, die Konzeptualisierung des Forschungsgegenstandes mitsamt seinen Grenzen wurde überdacht.1 Im Zuge dessen verloren auch wieder und wieder formulierte Groß- und Meisternarrative über Begriff und Praxis von Arbeit2 an Überzeugungskraft und Plausibilität,3 gleichzeitig ist in Anbetracht des rezent dominanten Trends zur Globalgeschichte die Nachfrage an epochen- und länderübergreifenden Darstellungen aber kaum rückläufig. Dafür stehen der historischen Forschung vielleicht nicht per se völlig neue Quellen und Materialien, aufgrund der Digitalisierung historischen Quellenmaterials aber doch vielfach neue technische Möglichkeiten der Erschließung, Auswertung und Interpretation von Quellen zur Verfügung. Die Geschichtsforschung scheint dabei trotz aller Differenziertheit und Vielfalt nicht nur nach wie vor in eine breiter angelegte history of work4 und eine auf Lohnarbeit und Arbeiterbewegung fokussierte labour history5 gespalten (die den oft vielfältigen, wechselhaften und kombinierten Lebensunterhalten von Menschen im Laufe ihres Lebens kaum gerecht wird). Zudem steht eine Ge-

1 Abhandlungen zu dieser Frage sind überaus zahlreich; ich nenne hier nur beispielhaft einige wenige: Kocka, Work as a Problem; Eckert, Why all the Fuss?; Eckert, What is Global History Good For?; Kocka/Schmidt, Arbeitergeschichte; van der Linden/Lucassen (Hg.), Working on Labour; van der Linden, Workers of the World; van der Linden/Rodriguez Garcia (Hg.), On Coerced Labor; Hofmeester/van der Linden (Hg.), Handbook. 2 Vgl. z. B. Conze, Arbeit. 3 Vgl. z. B. Wadauer, Immer nur Arbeit?; Leonhard/Steinmetz (Hg.), Semantiken; Lis/Soly, Worthy Efforts. 4 Nur z. B. Lis/Ehmer (Hg.), The Idea of Work. 5 Labour history ist meist an Kämpfen und politischen Organisationen von Lohnarbeiter/innen orientiert. Vgl. z. B. Kocka/Schmidt, Arbeitergeschichte; Schmidt, Arbeiter; Allen/Campbell/ McIlroy (Hg.), Histories of Labour; eine neuere Bibliografie findet sich etwa bei Priemel, Heaps of Work. https://doi.org/10.1515/9783110781335-001

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schichtsschreibung, die untersucht, wie sich Arbeit verändert hat,6 einer historischen Forschung gegenüber, die die Kategorisierungen und Unterscheidungen, die den Vorstellungen,7 Darstellungen und Daten der Arbeit inhärent sind, zum Untersuchungsgegenstand macht.8 Vermittelt oder konsequent zu Ende gedacht werden diese Konzepte allerdings nach wie vor nur selten: Macht es überhaupt Sinn, die mannigfaltigen Arten und Weisen, wie Menschen in verschiedenen historischen Epochen und Gesellschaftsformationen ihren Lebensunterhalt organisierten, ja im Extrem gar von der Urgeschichte der Menschheit bis zur Gegenwart, allesamt als Arbeit zu verstehen – gleich wie Menschen dies selbst wahrnahmen, beschrieben und begriffen?9 Ist dieses Abstraktum Arbeit nicht vielmehr eine relativ junge Erfindung?10 Wie könnte eine überzeugende Historisierung von Arbeit aussehen?11 Hier setzt dieses Buch an: Es historisiert Arbeit, indem es die Erzeugung von Arbeit untersucht. Es wird also keine bestimmte Definition oder Vorstellung von Arbeit zum Ausgangspunkt genommen, es werden keine Formen, Typen oder Unterarten von Arbeit und deren Veränderungen dargestellt. Vielmehr werden die vielfältigen Auseinandersetzungen zum Gegenstand gemacht, in denen und durch die Arbeit im Spektrum der Vielzahl an möglichen Praktiken, Erwerben, Lebensunterhalten und Lebensbereichen bestimmt und von anderen unterschieden, normalisiert und institutionalisiert, also hervorgebracht wurde. Ausgangspunkt dafür sind Tätigkeiten, die als scheinbare Grenz- oder Randfälle diese Auseinandersetzungen um Arbeit und ebenso die Selbstverständlichkeiten von Arbeit weit besser beobachten lassen als das, was unstrittig als Arbeit galt. Der Fokus liegt auf Österreich von ca. 1918 bis 1938, also auf einer Zeit, die gleichermaßen vom Entstehen einer modernen Sozialpolitik, von politischen Umbrüchen wie von wirtschaftlichen Krisen geprägt war; die Autor/innen berücksichtigen jedoch auch verschiedene vorangehende Entwicklungen seit dem späten 19. Jahrhundert. Die Beiträge adressieren Leitthemen aktueller wissenschaftlicher Debatten: staatliche Regulierung, Kategorisierung und Verwaltung von Arbeit, Beruf und Erwerbslosigkeit im Kontext von Arbeitsvermittlung und 6 Z. B. Hofmeester/Kessler/Moll-Murata, Conquerors; Lucassen (Hg.), Global Labour History. 7 Zur neueren Begriffsgeschichte vgl. etwa Leonhard/Steinmetz (Hg.), Semantiken von Arbeit; Lis/Soly, Worthy Efforts. 8 Nur z. B. Desrosières, Die Politik der großen Zahlen; Topalov, The Invention of Unemployment; Wobbe, Making up People; Wobbe/Renard/Müller, Terms of Work; Wobbe, Die Differenz Haushalt; Mejstrik, Berufsstatistisches Niederösterreich, Higgs/Wilkinson, Women. 9 So etwa Lucassen, The Story of Work; Lis/Ehmer (Hg.), The Idea of Work; Frambach, Arbeit im ökonomischen Denken. 10 Conrad/Macamo/Zimmermann, Kodifizierung. 11 Dazu ausführlicher Wadauer, Immer nur Arbeit?

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Arbeitslosenversicherung, die Wahrnehmung und Nutzung dieser Verwaltung; (ir-)reguläre und prekäre Selbstständigkeit; Unterhaltung (konkret: Musizieren) als Arbeit, Freizeit und/oder Konsum; geschlechterspezifische Erwerbsstrategien und geschlechtshierarchische Erwerbsverhältnisse; Tätigkeiten und Erwerbe im Rahmen von Haushalten bis hin zu Beschäftigungs- und Zwangsmaßnahmen. Die hier präsentierten Forschungsergebnisse beruhen auf einer mehrjährigen Zusammenarbeit, auf intensivem Austausch und Diskussion.12 Sie beziehen sich aufeinander und auf ein gemeinsames Konzept. Im Folgenden stelle ich zunächst die wichtigsten Thesen und Leitgedanken des Bandes vor, skizziere die Grundzüge des gemeinsamen Forschungsprogramms und zeige die Prinzipien der forschungspraktischen Umsetzung. Im Anschluss an eine kurze Darstellung der untersuchten Bereiche und Beispiele erläutere ich das für die Beiträge verwendete statistische Werkzeug.

Der Gegenstandsbereich: Verengung, Unsichtbarkeit, In- oder Exklusion? Ein Ansatzpunkt der Kritik, ein zentrales Thema aktueller sozialpolitischer und wissenschaftlicher Diskussionen ist – nicht erst in den letzten Jahren – die sogenannte „Verengung“ des Arbeitsbegriffs.13 Viele Formen von Arbeit wären demnach nicht als solche anerkannt, in den politischen Debatten und historiografischen Untersuchungen vernachlässigt, wenn nicht gar unsichtbar und außen vor gelassen worden.14 Tatsächlich lässt sich historisch eine „Verengung des Arbeitsbegriffs“ insofern feststellen, als Arbeit in der westlichen Welt seit dem 19. Jahrhundert in Politik, Verwaltung und in wissenschaftlichen Debatten immer mehr als von außerökonomischen Zwängen „freie“, marktorientierte Erwerbs- und Lohnarbeit verstanden wurde. Diese Arbeit wurde in den entstehenden Sozial- und Wohlfahrtsstaaten zunehmend mit neuen sozialen Rechten und Pflichten (Versicherungen, Arbeitsschutz, Mitsprache) verknüpft.15 Eine solche Arbeit – idealiter berufliche Beschäftigung – erforderte Eignung, Neigung und

12 Sie sind aus einer längeren Zusammenarbeit und einem Projektzusammenhang hervorgegangen. Die Forschung der Autorinnen und Autoren wurde vom European Research Council im Siebenten Rahmenprogramm der Europäischen Union (FP7/2007–2013/ERC Grant Agreement Nr. 200918) und vom Austrian Science Fund (FWF, Projekt Nr. Y367–G14) gefördert. 13 Nur z. B.: Bernet/Schiel/Tanner, Editorial; Komlosy, Arbeit, S. 9; Hausen, Arbeit, S. 346. 14 Z. B. Sarti/Bellavitis/Martini (Hg.), What Is Work? 15 Tálos/Wörister, Soziale Sicherung.

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formelle Ausbildung, sie versprach dauerhafte Anstellung, ausreichend Lohn, Karriere, Status und persönliche Erfüllung. Es entstanden damit verbunden auch neue Arten legitimer und formalisierter Nicht-Arbeit und neue Phasen des (Erwerbs-)Lebens: Krankenstand, Arbeitslosigkeit, Freizeit, Ruhestand etc.16 Wie die Beiträge dieses Bandes an etlichen Beispielen detailliert zeigen, wurde diese Arbeit rechtlich normiert und verbindlich geregelt, durch verschiedenste neuen Einrichtungen definiert, klarer bestimmt und nicht zuletzt in der und durch die Verwaltung etabliert.17 Diese Veränderungen passierten jedoch nicht „von selbst“, sie waren Gegenstand und Produkt von Sozialpolitik, von organisierten politischen Kämpfen, von alltäglichen Konflikten und Auseinandersetzungen. Es handelt sich bei der Durchsetzung dieser Arbeit weder um eine zwangsläufige noch um eine lineare, irreversible Entwicklung. Mehr noch: Diese neue Arbeit war niemals die einzige Art und Weise, wie Menschen ihren Lebensunterhalt organisierten, organisieren konnten und organisieren wollten, oft vielleicht nicht einmal die häufigste. Viele Praktiken des Lebensunterhalts – sowohl in Europa als auch in globaler Perspektive – entsprachen und entsprechen dieser Arbeit kaum oder gar nicht. Normalisierung und Normierung bedeutet ja nicht, dass die normalisierte Arbeit in quantitativem Sinne vorherrschend war oder ist. Im hier verwendeten Sinn meint Normalisierung: als normal durchgesetzt werden, normiert werden, zur Norm, zum Maßstab und zur dominanten Referenz werden. In den aktuellen Forschungen zur Arbeit ist nun die Tendenz feststellbar, den Gegenstandsbereich der Geschichte von Arbeit wesentlich zu erweitern. Forscher/innen beziehen verschiedenste, lange Zeit von der Geschichtsschreibung vernachlässigte Praktiken und Aspekte von Arbeit ein und rücken sie in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen: bezahlte und unbezahlte Tätigkeiten im eigenen oder fremden Haushalt etwa, Erwerbe außerhalb regulärer (Lohn-)Arbeitsverhältnisse und Arbeitsplätze wie Klein- und Kleinstselbstständigkeit18, informelle und prekäre Erwerbspraktiken, die je nach Kontext und Wahrnehmung mal legal, mal verboten sein konnten.19 Es handelte sich um ein breites Spektrum an Tätigkeiten, die oft vor allem, aber nicht nur von Frauen ausgeübt wurden. Zwar konnten sie offensichtlich zum Teil oder ganz Grundlage einer

16 Z. B. Garraty, Unemployment, Topalov, The Invention of Unemployment; Walters, Unemployment; Zimmermann, Arbeitslosigkeit; Ehmer, Alter und Arbeit. 17 Siehe dazu auch Buchner, Organising the Market? 18 Z. B. Haupt, Besitz; Luks, Prekarität. 19 Einen Literaturüberblick bietet Betti, Historicizing Precarious Work; siehe auch Mayer-Ahuja, Die Globalität unsicherer Arbeit; Damitz, Prekarität; Wadauer, Mobility; Buchner/Hoffmann-Rehnitz, Introduction.

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Existenz und eines Unterhaltes darstellen, galten aber zeitgenössisch nicht oder nicht unstrittig als Arbeit. Somit wurden diese Praktiken und Lebensunterhalte kaum oder nur bedingt als Arbeit bezeichnet, geachtet und anerkannt. Sie begründeten nur in begrenztem Maße Status und (sozialrechtliche) Ansprüche und gingen oft sogar mit negativen Sanktionen einher. Um die an Arbeit geknüpften Rechte und Pflichten, um die positiven oder negativen Sanktionen geht es aber letztlich in den Auseinandersetzungen und Konflikten darum, was „Arbeit“ ist oder nicht ist. Darüber hinaus werden gegenwärtig vermehrt verschiedene Formen außerökonomischer Zwänge, Unfreiheit und Sklaverei erforscht. Begründet wird diese Erweiterung des Gegenstandsbereichs nicht zuletzt damit, dass solche bislang wenig berücksichtigten Arbeitsverhältnisse und Formen von Arbeit, Tätigkeiten und Lebensunterhalte ganz wesentlich zur Konstituierung des Kapitalismus beigetragen haben20 und auch im historischen Verlauf keineswegs verschwunden sind. „Freie“ Lohnarbeit wird somit nicht mehr fraglos als der privilegierte Gegenstand der Forschung, ihre historische Durchsetzung als vorherrschende Form von Arbeit nicht mehr als zwangläufiges Resultat historischer Entwicklung gesehen.21 All diese vielfältigen, bisher vernachlässigten Praktiken in die Geschichte von Arbeit einzubeziehen und sie als Arbeit zu begreifen, scheint – je nach Standpunkt und Perspektive – in manchen Fällen eher konsensfähig, z. B. bei Care-Arbeit in Haushalten und anderswo, bei Sexarbeit, Gelegenheitsarbeit, Zwangsarbeit etc.22 In anderen Fällen ist dies möglicherweise für manche weniger plausibel, etwa in Hinblick auf besonders ärmliche Tätigkeiten an der Grenze zur Bettelei und zum „Scheinerwerb“ (Kleinsthandel, Straßenmusik usw.) oder auch in Hinblick auf illegale Aktivitäten wie Diebstahl oder Hehlerei.23 Auch die Grenzen zwischen Sorge-Arbeit und Freizeitaktivitäten sind keineswegs immer eindeutig und klar gezogen. Zwischen Arbeitsplatz, Haushalt oder Wohnung kann es zahlreiche Überschneidungen geben, nicht zuletzt auch infolge der jüngst wieder stärker gewordenen Verbreitung von Homeoffice. Manche konstatieren nun – sowohl bezüglich der Organisation von Arbeit als auch

20 Gerstenberger, Markt. 21 Dazu etwa Steinfeld/Engermann, Labour – Free or Coerced; Brass/van der Linden (Hg.), Free and Unfree Labour; Wobbe/Renard/Schalkowski/Braig, Eine reflexive Perspektive auf Arbeit. 22 Z. B. Hoerder/Van Nederveen Meerkerk/Neunsinger (Hg.), Towards a Global History. 23 Dazu ausführlicher Wadauer, Immer nur Arbeit?; Wadauer, Betteln – Arbeit – Arbeitsscheu.

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im Hinblick auf die Forschungskonzeption – eine neue Unschärfe von Arbeit.24 Wie soll und kann vor diesem Hintergrund die oft kritisierte „Verengung des Arbeitsbegriffes“ nun korrigiert oder gar überwunden werden? Was gilt es einzubeziehen, welche Positionen und Perspektiven sollen dafür ausschlaggebend sein? Ist eine „operationale Definition“ – wie auch immer diese erarbeitet wird und aussieht – wirklich die Lösung dieses Dilemmas? Die in Fachkreisen etablierte Vorstellung der „Verengung des Arbeitsbegriffs“ übersieht allerdings auch, dass viele der Tätigkeiten und Aspekte, die nun zumindest teilweise wieder für die Geschichte von Arbeit reklamiert und damit quasi auch rehabilitiert werden, zwar in der Forschung lange Zeit oft wenig beachtet, in den Quellen jedoch keineswegs selten Erwähnung finden oder gar ungewöhnlich scheinen. Ganz im Gegenteil: Sie werden häufig recht prominent beschrieben, im Vergleich und im Kontrast zu idealen Formen und historisch neuen Vorstellungen von Arbeit adressiert, in Zweifel gezogen und beurteilt, wie die Beiträge zu diesem Band in vielfältiger Weise vor Augen führen. An solchen umstrittenen Tätigkeiten, das macht sie für unsere Forschung besonders interessant, werden Kriterien, Maßstäbe und relevante Unterschiede explizit und die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der Arbeit greifbar. Arbeit, auch das wird an solchen Auseinandersetzungen deutlich, wurde seit dem 19. Jahrhundert nicht nur klarer bestimmt, normiert und institutionalisiert. Indem sie sich nach und nach zum wichtigsten Bezugspunkt für immer mehr Tätigkeiten und Lebensunterhalte entwickelte, wurde sie zugleich auch abstrakter und universeller25 und für immer mehr Personen unumgänglicher, gleich wie sie ihren Unterhalt finden wollten bzw. tatsächlich fanden. Tätigkeiten und Lebensunterhalte, die der neuen Arbeit nicht oder nur in einzelnen Aspekten entsprachen und vielleicht traditionell erschienen, blieben in den Auseinandersetzungen um Arbeit nicht außen vor und damit unverändert. Das ganze Spektrum von Unterhaltspraktiken veränderte sich und damit nicht nur Tätigkeiten, die als Arbeit durchgesetzt wurden, sondern auch ihre Variationen und konstituierenden Gegensätze. Diese sind somit als Teil der Entstehung und Durchsetzung einer neuen Arbeit zu begreifen. Indem immer mehr an Arbeit gemessen und zur Arbeit in Bezug gesetzt wurde, bekam immer mehr einen Arbeits-Sinn und sei es nur der, Nicht-Arbeit bzw. nicht „richtige“ Arbeit zu sein. Manche Erwerbe – wie etwa Diebstahl und Bettelei – wurden explizit als Verkehrung und Skandal von Arbeit und/oder Beruf dargestellt. Zugleich wurde Arbeit – auch das ist ein Aspekt dieser Entwicklung – zum Sammelbegriff und Ehrentitel für alles Mögliche, das man auch als wertvoll, wichtig oder schlicht als 24 Eckert, Why all the Fuss?, S. 7. 25 Conrad/Macamo/Zimmermann, Kodifizierung.

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aufwendig und mühsam beschreiben wollte, von der Hausarbeit, über die politische Arbeit bis hin zur Beziehungsarbeit, Traumarbeit etc. Vieles wurde als Arbeit gerechtfertigt und legitimiert, nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Arbeit war und blieb dabei strittig, Gegenstand und Produkt von Auseinandersetzungen, und nicht zuletzt das macht sie historisch. Anstatt also von „Verengung“/Erweiterung, von In- oder Exklusion zu sprechen, heben die Beiträge dieses Bandes die Erzeugung und Durchsetzung neuer Variationen, Hierarchien und Kontraste hervor. Dabei ging es in den Unterscheidungen und Bewertungen, im Hinnehmen und Sanktionieren von Tätigkeiten nicht ausschließlich um Arbeit, sondern je nach Kontext oft oder sogar häufiger um Beruf, Gewerbe, redlichen Erwerb, Auskommen, Fortkommen, Unterhalt und Sorgepflichten. Auch hier greift die bisherige Forschung in unseren Augen zu kurz, vor allem mit jenen objektivistischen Konzepten, die solche Differenzierungen nur als nachrangige Frage der Wortwahl abtun. Diese miteinander zusammenhängenden, aber in vielem unterschiedlichen und keineswegs deckungsgleichen Vorstellungen, Kategorisierungen und Referenzen entschieden über die Legitimität einer Tätigkeit, sie waren praktisch relevant und zogen unterschiedliche Konsequenzen nach sich. Dass das Abstraktum Arbeit die zentrale Position erlangen würde, die es heute innehat, war in der von uns untersuchten Zeit noch keineswegs entschieden – und sollte nicht als zwangsläufig und notwendig angenommen werden. So zielten etwa viele Debatten und Maßnahmen im Österreich der Zwischenkriegszeit auf den „Beruf“ ab, ein Begriff, der gar nicht so leicht in andere Sprachen übersetzbar ist.26 In der Strafverfolgung vermeintlich „Arbeitsscheuer“ ging es um den redlichen Erwerb oder Unterhalt.27 Gehen die Bemühungen, in globaler Perspektive die Geschichte der Arbeit in ihrer Vielfalt zu zeigen, also nicht paradoxerweise über solche fundamentalen, auch länder- und kulturspezifischen Unterschiede hinweg? Strittige Praktiken schlicht mit Arbeit in eins zu setzen, erzeugt Anachronismen und wird der Multidimensionalität der Unterschiede und Hierarchien von Lebensunterhalten nicht gerecht.

26 Siehe dazu das Themenheft Mejstrik/Wadauer/Buchner (Hg.), Die Erzeugung des Berufs, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften Jg. 24, H. 1 (2013). 27 Vgl. Wadauer, Der Arbeit nachgehen?

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Die forschungspraktische Umsetzung Die Beiträge dieses Bandes greifen diese Überlegungen auf, sie wurden aufeinander bezogen konzipiert und folgen, wie erwähnt, auch in der forschungspraktischen Umsetzung gemeinsamen Prinzipen. Im Mittelpunkt stehen jeweils verschiedene Grenz- und Konfliktfälle, anhand derer sich wesentliche Auseinandersetzungen um Unterschiede und Hierarchien nachvollziehen lassen. Die konsensuell/konfliktive Herstellung von Arbeit wird als Zusammenhang differierender Praktiken konzipiert und untersucht. Dafür wurde – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – eine breite Vielfalt von Quellenmaterial herangezogen: von gesetzlichen Regulierungen und Materialien der staatlichen Verwaltung bis zu Stellungnahmen politischer Repräsentanten, Organisationen und Körperschaften oder zeitgenössischer Experten. Die Entwicklung und Durchsetzung einer neuen Arbeit war aber nicht nur eine Sache des Staates und der (organisierten) Politik. Es wurden deshalb grundsätzlich auch die oft auf den ersten Blick macht- und wirkungslosen individuellen situationsbezogenen Selbstdarstellungen und Argumentationen (etwa im Kontext von Verwaltung und Strafverfolgung) und lebensgeschichtliche Erzählungen einbezogen. Ziel war, das Zusammenwirken der verschiedensten Praktiken und Perspektiven zu untersuchen und dabei die Prinzipien der Unterscheidungen, der Grenzziehungen und Hierarchisierungen von Arbeit und Lebensunterhalten zu verdeutlichen. Zu diesem Zweck wurden Variations- und Kontrastspektren von Beobachtungsfällen erhoben, systematisch verglichen und mithilfe spezifischer Multipler Korrespondenzanalysen untersucht. Dabei handelt es sich um eine Technik der Geometric Data Analysis,28 die für eine systematische und relationale Konstruktion sozialer historischer Phänomene besonders gut geeignet ist.29 Die verwendete Technik und die Interpretation der Ergebnisse und der grafischen Darstellungen werden am Ende dieser Einleitung noch näher erläutert. Zuvor werden die Beiträge vorgestellt und die ihnen zugrunde liegenden Forschungsergebnisse zueinander in Beziehung gesetzt. Irina Vana befasst sich in ihrem Beitrag mit Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktverwaltung. Diese Institutionen trugen seit dem Ende des 19. Jahrhundert durch die Registrierung von Angebot und Nachfrage zur Konstituierung eines auf das Staatsgebiet bezogenen Arbeitsmarktes bei. Sie kategorisierten und normalisierten Berufe und Erwerbe, sie etablierten – nicht zuletzt mit der Einführung der Arbeitslosenunterstützung – einen Unterschied von legitimer 28 Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis; Le Roux/Rouanet, Multiple Correspondence Analysis. 29 Bourdieu/Wacquant, Ziele, S. 125.

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Nicht-Arbeit einerseits und Müßiggang, Landstreicherei und Arbeitsscheu andererseits,30 trugen also wesentlich zur Erzeugung des gesellschaftlichen Phänomens der Arbeitslosigkeit bei. Anhand lebensgeschichtlicher Erzählungen von Arbeits- bzw. Erwerbs- oder Stellenlosen rekonstruiert Irina Vana auch, auf welch unterschiedliche Weise Personen in ihrer Suche nach einem Erwerb und Unterhalt diese neuen Einrichtungen und die gebotenen Formen der Unterstützung und Vermittlung benutzten oder vermieden. Dabei wird auch deutlich, wie sie diese damit mitgestalteten und wie sich ihre Sicht auf die Vermittlungseinrichtungen in der Interpretation ihrer Situation manifestierte. Nicht alle, die keinen Erwerb hatten, waren in die Arbeitslosenversicherung einbezogen, nicht alle konnten oder wollten Arbeitsvermittlung und Unterstützung in Anspruch nehmen. Normalisierte berufliche Arbeit war eine wesentliche Voraussetzung dafür, und sie war zugleich ein Produkt dieser Institutionalisierung, denn Arbeitslosenunterstützung erlaubte es – trotz vorübergehender Stellenlosigkeit und fehlenden Lohns – bei einem Beruf zu bleiben. Rückhalt im Familienhaushalt ermöglichte die vorangehende (Berufs-)Ausbildung und bot die nötige Stabilität in den Lebenszusammenhängen. Eine solche berufliche Beschäftigung und die damit verknüpften neuen sozialstaatlichen Unterstützungsformen war Männern eher zugänglich als Frauen. Auch die Kategorisierung der Arbeitsverhältnisse über den Ort bzw. Bezirk als primär ländlich oder als gewerblich spielte dabei eine Rolle. Die Umsetzung sozialstaatlicher Politik erfolgte, das wird hier und auch in anderen Beiträgen dieses Bandes deutlich,31 regional außerordentlich unterschiedlich. Jessica Richter untersucht in ihrem Beitrag die Vielfalt jener Praktiken genauer, die in Irina Vanas Studie als wenig formalisierte, dominierte Erwerbsund Unterhaltspraktiken aufscheinen, die kaum oder nur beschränkt Zugang zu neuen Formen der Absicherung boten, nämlich Dienst in fremden Haushalten und auf Bauernhöfen, die landwirtschaftliche Arbeit, das Aushelfen und Mithelfen in eigenen oder fremden Haushalten. Auch für diese Tätigkeiten – die primär, aber nicht nur, Frauen Unterhalt boten – wurde, wie Jessica Richter zeigt, das berufliche Lohn- und Arbeitsverhältnis zum Maßstab und Modell. Sie waren jedoch besonders schwer zu formalisieren und zu kodifizieren. Keiner beruflichen außerhäuslichen Tätigkeit nachzugehen, sondern seinen Unterhalt im Haushalt zu finden, wurde in lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht ausschließlich als Mangel wahrgenommen, es wird in solchen Darstellungen auch als Vermeidung eines Lohnarbeitsverhältnisses nachvollziehbar. Nur wenige 30 Wadauer, Establishing Distinctions. 31 Vgl. zu Maßnahmen der Verfolgung von Bettler/innen und Landstreicher/innen oder zur Jugendpolitik auch Wadauer, Der Arbeit nachgehen?

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wollten oder konnten den Dienst als reines Arbeitsverhältnis verstehen und praktizieren. Noch schwieriger war es, ein solches Arbeitsverhältnis mit einer Aufnahme quasi als Familienangehörige zu vereinbaren, wie dies dem propagierten Ideal des häuslichen Dienstes entsprach. Neben der Orientierung am Arbeitsverhältnis waren die Potenziale der Integration in den Haushalt – das Versorgt- und Umsorgtsein und das Sorgen – für die Ausdifferenzierung und Hierarchisierung solcher Tätigkeiten entscheidend. Georg Schinko widmet sich den Möglichkeiten des Musizierens, die in mancher Hinsicht – vor allem wegen des Bezugs zur Kunst – als Sonderfall erscheinen mögen. Solche Praktiken finden nur selten im Rahmen der Geschichte von Arbeit Berücksichtigung. Am Musizieren lassen sich aber viele der bereits angesprochenen Entwicklungen der normalisierten beruflichen Erwerbsarbeit nachvollziehen und weiter ausdifferenzieren. Auch das Musizieren unterlag, wie Georg Schinko erläutert, in Österreich und international einem weitreichenden Wandel. Mit der Veränderung von Arbeits- und Lebensverhältnissen seit dem 19. Jahrhundert entstanden neue Optionen der Freizeitgestaltung, des Konsums und der Unterhaltung, infolgedessen neue Betätigungsfelder für das Musizieren als Erwerb. Anhand von autobiografischen Texten vergleicht Georg Schinko die vielfältigen Praktiken des Musizierens und arbeitet heraus, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen das Musizieren zur Kunst und zum – mit mehr oder minder großem materiellen Erfolg betriebenen – Beruf werden konnte, wann es eine Freizeitbeschäftigung oder auch ein Neben- oder Noterwerb wurde oder als solches galt. Zunehmend formalisierte Ausbildungsgänge, gesetzliche Regelungen und Berufsorganisationen bestimmten die Zugangsmöglichkeiten zum Beruf und zu den Erwerbsmöglichkeiten, etablierten Unterschiede und Hierarchien. Auch hier zeigt sich die Bedeutung des materiellen Rückhalts im Haushalt, der den Musizierenden erst die Stabilität und Kontinuität in Studium und Praxis bot und die legitimste Form des Musizierens, jenes als Kunst, überhaupt erst erlaubte. In Sigrid Wadauers Beitrag geht es um eine weitere Alternative zu beruflicher Lohnarbeit, nämlich um das Spektrum der selbstständigen Erwerbe. Veränderungen von Arbeit betrafen nicht nur Lohnarbeit, auch die Möglichkeiten und Bedingungen des selbstständigen Erwerbs und der Gewerbeausübung veränderten sich seit dem 19. Jahrhundert. Auch daran lassen sich vermehrte staatliche Interventionen festmachen und nachvollziehen. Ein selbstständiger Erwerb konnte einen konsequenten Schritt in einer beruflichen Erwerbslaufbahn und damit einen Aufstieg darstellen, oder – im Fall von Erwerbslosigkeit oder beschränkter Arbeits- und Erwerbsfähigkeit – einen Ausweg bieten, einen Ersatz für ein unselbstständiges Beschäftigungsverhältnis. Solche oft nur wenig lukrativen Gewerbe und „proletaroiden“ Kleinstselbstständigkeiten (von den

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vielfältigen Formen des Handels oder Gewerbes, vielfach ohne stabilen Standort, bis zum schon in Georg Schinkos Beitrag angesprochenen Straßen- und Gelegenheitsmusizieren) scheinen der Wirtschaft kaum mehr anzugehören, sie wurden häufig als Tätigkeit an der Grenze zur Bettelei und auch als willentliches Vermeiden von redlicher Arbeit wahrgenommen und kriminalisiert. Dabei unterlagen gerade Gewerbe, die kaum Kapital, keinen festen Standort oder formelle Qualifikation erforderten, rigiden gewerberechtlichen Vorschriften und Auflagen. Der Beitrag zeigt auf der Grundlage von Anträgen und Interaktionen im Kontext von Bewilligungsverfahren, wie Antragsteller/innen von ihren Möglichkeiten Gebrauch machten, ihren Erwerb legitimierten und dabei mit Behörden interagierten oder eine solche Interaktion vermieden. Häufig findet man hier ein überaus hartnäckiges Beharren auf Praktiken und Erwerben, die offiziell als unerwünscht galten oder nur ausnahmsweise in außerordentlichen Zwangslagen als legitim anerkannt wurden. Neben Ansprüchen an den Staat – gerade im Fall von Kriegsinvaliden und -witwen – sowie gewerberechtlichen Kriterien, wie etwa die Unfähigkeit zur Arbeit, spielen in diesem Zusammenhang auch Fragen des Sorgens für Angehörige und des Haushalts für die Möglichkeiten der Legitimierung des Gewerbes eine Rolle. Sonja Hinsch differenziert die Konsequenzen des Mangels an regulärer, anerkannter Arbeit weiter aus. Die Zwangsarbeitsanstalten und Besserungsanstalten der Zwischenkriegszeit mögen auf den ersten Blick als bloße Relikte einer überkommenen repressiven Politik erscheinen, sie waren freilich keine Erfindung des Sozialstaats. Die neue Arbeit war nicht nur mit der Etablierung neuer Rechte verknüpft, es bestand auch eine Pflicht, sich selbst und seine Angehörigen auf redliche Weise zu erhalten; es gab implizite und manifeste Zwänge zur Arbeit. Die Einweisung in eine Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalt war – neben Arbeitslosenunterstützung, Anweisung von Arbeit oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – eine extreme Variante im Spektrum infrage kommender Maßnahmen. Sonja Hinsch arbeitet heraus, nach welchen Kriterien und Prinzipien Personen ohne regulären Erwerb den dafür vorgesehenen Einrichtungen zugewiesen wurden und wie Betroffene in diesem Kontext argumentierten und agierten. Auch hier war die Anerkennung schuldloser Arbeitslosigkeit – eng gebunden an ein formalisiertes Arbeitsverhältnis – ausschlaggebend. Je weniger ein Erwerb und Unterhalt diesem entsprach, desto mehr stand die Person anstelle der Umstände im Fokus der Verhandlungen, desto eher lief sie Gefahr, Zwangsmaßnahmen unterworfen zu werden. Die jeweils getroffenen Maßnahmen variierten aber auch danach, welche Arbeit und Unterhaltspraktiken als angemessen galten und welche nicht; sie unterschieden sich nach Geschlecht und nicht zuletzt auch nach dem Lebensalter. Neue Arbeit und Sozialpolitik trugen ja auch zur Konstituierung von Erwerbslebensläufen und Lebensphasen bei

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(als Zeit der Ausbildung, des Erwerbs oder des Ruhestands).32 Wiederum waren die Kriterien Sorgen und Versorgtwerden für die Variationen und Unterschiede von grundlegender Bedeutung. Die Beiträge dieses Bandes untersuchen somit in vielerlei Hinsicht unterschiedliche, wenngleich zusammenhängende soziale Phänomene. Sie verwenden dafür jeweils spezifische Quellenmaterialien und finden je eigene, ihren Gegenständen angepasste Strategien, Beobachtungsfälle zu konstruieren. Allein daraus ergeben sich schon Unterschiede in den Darstellungen und Ergebnissen; dennoch lassen sich vielfach Analogien in den dargestellten Prinzipien der Variation, der Grenzziehungen und der Hierarchisierung festmachen. Alle Beiträge zeigen, wie normalisierte berufliche Beschäftigung zur Referenz und zum Maßstab wurde. Alle Beiträge thematisieren in diesem Zusammenhang auch die Logik der Verwaltung, sie legen dar, wie sich im Untersuchungszeitraum das Verhältnis von Staat und Bürger/innen verändert hat. Sie verdeutlichen zugleich auch die Wichtigkeit des Haushalts, der damit verbundenen Ressourcen und Verpflichtungen, die zur Möglichkeit von beruflicher Erwerbsarbeit, zur notwendigen Ausbildung und zur Stabilität beitrugen. Die Pflichten und Ansprüche des Sorgens und Versorgtwerdens dienten auch der Legitimierung von Praktiken. Abgesehen von diesen beiden wichtigsten Prinzipien von Variation und Kontrast wiederum wird an vielen Beispielen deutlich, dass die Potenziale und Zwänge, die Rechte und Verpflichtungen von Arbeit und Unterhalt auch auf Geschlecht und Lebensalter, auf regionale Unterschiede, sowie (Zuschreibungen von) Religion und Ethnizität bezogen waren. Dabei werden jene Erwerbe, die der neuen Arbeit nicht oder nur teilweise entsprachen, nicht bloß als Mangel begreifbar. Sie erscheinen auch als störrische Verweigerung und als Vermeidung. Die in diesem Band präsentierten Studien stellen keine Dichotomien oder Typen dar, sondern Variations- und Kontrastspektren. Sie erlauben es, die Grenzziehungen und Hierarchisierungen von Arbeit, Erwerben und Lebensunterhalten als mehrdimensional zu begreifen. Dies ist keine metaphorische Wendung. Vielmehr beruhen die Ergebnisse auf den von den einzelnen Autor/innen durchgeführten Multiplen Korrespondenzanalysen. Diese Forschungstechnik erlaubt es, das jeweilige (kontextspezifische, also nicht überall gleiche) Gewicht von Aspekten empirisch zu bestimmen. Nicht nach vorweg als bedeutsam definierten Kriterien, sondern nach den Ergebnissen der systematischen Untersuchung des Materials richtete sich auch die Darstellung. Da Korrespondenzanaly-

32 Siehe auch Wadauer, Der Arbeit nachgehen?

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sen in den Geschichtswissenschaften nur selten Anwendung finden, wird diese Technik im folgenden Exkurs noch etwas genauer erläutert.

Die Technik der Multiplen Korrespondenzanalyse Die hier versammelten Beiträge beruhen auf systematischen Konstruktionen und Untersuchungen von Serien von Variations- und Kontrastspektren. Praktiken und Stellungnahmen wurden im Rahmen von strukturalen Samples systematisch verglichen. Die Erhebungen zielten darauf ab, die jeweils wichtigsten Variationen und Kontraste der Beobachtungseinheiten (Fälle) bzw. ihrer Eigenschaften (Modalitäten) auszuloten und zu erfassen. Die Beobachtungseinheiten beruhen entweder primär auf lebensgeschichtlichen Darstellungen, Erzählungen und Interviews (ergänzt durch Zeitungsartikel oder anderes Material) und beschreiben „ganze“ Biografien, Lebensabschnitte oder einzelne lebensgeschichtliche Sequenzen, so etwa in den Beiträgen von Irina Vana, Jessica Richter und Georg Schinko. In den Studien von Sonja Hinsch und Sigrid Wadauer stellen die Beobachtungseinheiten oft recht komplexe Aktenfälle dar, die mehrere Parteien bzw. deren Agieren und deren Statements involvierten. Die Beobachtungseinheiten verglichen die Autor/innen jeweils über eine größere Zahl von Fragen (Variablen) und beschrieben sie durch Antworten auf diese Fragen (Values oder Modalitäten). Die so konstruierten komplexen Datensätze werteten sie mithilfe von spezifischen Multiplen Korrespondenzanalysen (MKA) aus. Dabei handelt es sich – wie erwähnt – um eine Technik der Geometric Data Analysis,33 die einer systematisch-relationalen Konstruktion sozialer historischer Phänomene besonders entgegenkommt.34 Neben vielen anderen Konstruktionsvorteilen erlaubt sie die Visualisierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden in den Daten in Form von Punktwolken (in hochdimensionalen geometrischen Räumen). Resultate der Untersuchungen sind mehrere zweidimensionale Raumkonstruktionen, die in den Beiträgen dargestellt werden. Diese Technik eignet sich besonders gut für das oft selektiv überlieferte, heterogene und lückenhafte Material, das Historiker/innen zur Verfügung steht. Die Autor/innen dieses Bandes konnten auf Erfahrungen früherer Projekte aufbauen,

33 Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis; Le Roux/Rouanet, Multiple Correspondence Analysis. 34 Bourdieu/Wacquant, Ziele, S. 125.

14  Sigrid Wadauer

vor allem auf Arbeiten von Alexander Mejstrik und Sigrid Wadauer;35 sie haben sich diese jeweils kreativ angeeignet und genutzt. Im Folgenden werden die Grundprinzipien der Geometric Data Analysis kurz erläutert und Hinweise zur Interpretation der Grafiken gegeben. Eine MKA übersetzt komplexe Datensätze in zwei homologe geometrische Punktwolken: eine der Modalitäten und eine der Beobachtungseinheiten. Diese sind (abhängig vom Datensatz) n-dimensional und lassen sich nach Dimensionen zerlegen. Die Varianzbeiträge der Dimensionen (Achsen) sind hierarchisch und kumulativ, das heißt, die erste Dimension ist die beste eindimensionale Annäherung an die Gesamtwolke, die zweite Dimension die zweitbeste eindimensionale Annäherung und so weiter. Sämtliche Dimensionen zusammengenommen ergeben die Gesamtwolke. Zur Interpretation stehen neben der Achsenvarianz (dem Beitrag einer Achse zur Gesamtvarianz) verschiedene andere Informationen zur Verfügung. Das sind zunächst die Koordinatenwerte der Punkte: Je näher Punkte in einer der beiden Orientierungen der Dimension (positive oder negative Koordinaten) beieinanderliegen, umso ähnlicher sind sie. Je weiter sie auseinanderliegen, umso unähnlicher sind sie. Der Nullpunkt (das Baryzentrum) stellt einen Umschlagspunkt dar, ein neutrales Zentrum. Darüber hinaus gibt es weitere Werte zur Interpretation und Maßzahlen, um die Wichtigkeit der Punkte zu messen: Ctr (der relative Beitrag des Punktes zur Achsenvarianz) und cos² (der relative Beitrag der Achse zur Punktvarianz). Die Interpretation der Daten erfolgt wesentlich über die grafische Darstellung der Ergebnisse. Üblicherweise wird mit der primären Fläche begonnen, also mit der Integration der ersten und der zweiten Dimension. Die Beiträge dieses Bandes folgen hingegen Alexander Mejstriks Konzept, der vorgeschlagen hat, zunächst jede Dimension für sich zu interpretieren (Analyse) und dann erst zusammenzuführen (Synthese).36 Dafür werden Hilfsgrafiken erstellt, die Position und Ctr der Modalitäten (oder auch der Beobachtungsfälle) abbilden. In diesen Grafiken (z. B. Abbildung 1 im Beitrag von Irina Vana) sind die Koordinaten der Modalitäten oder Beobachtungseinheiten von links nach rechts abgebildet. Die Verteilung von oben nach unten bildet die differenziellen Wichtigkeiten der Punkte für die Konstituierung der Dimension (relative Varianzbeiträge der Punkte zur Achse, Ctr) ab. In der Interpretation geht es darum, das Variationsprinzip der Achsen herauszuarbeiten. Es gilt also dabei, zunächst die eindimensionalen Zusammen35 Mejstrik, Totale Ertüchtigung; Mejstrik, Felder; Mejstrik, Kunstmarkt; Mejstrik/Garstenauer/ Melichar/Prenninger/Putz/Wadauer, Berufsschädigungen; Wadauer, Tour. 36 Vgl. Mejstrik, Totale Ertüchtigung, Bd. 2, S. 800–804.

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hänge (prinzipiell vieldimensionaler) Modalitäten und Beobachtungseinheiten zu verstehen und die verwendeten Texte oder Akten aus der Perspektive nur einer Dimension zu lesen. Hat man eine tragfähige Hypothese über die Variations- und Kontrastprinzipien der ersten und wichtigsten Dimension gefunden, geht man zur zweiten, zweitwichtigsten Dimension über. Die primäre Fläche schließlich liefert die beste zweidimensionale Annäherung an die Struktur der Gesamtwolke. Die Flächengrafiken bilden die beiden wichtigsten Dimensionen vertikal und horizontal ab, die diagonalen Orientierungen weg vom Baryzentrum stellen die jeweils beste Integration dieser beiden Dimensionen dar. Die Flächengrafiken bilden Koordinaten und cos²-Werte der Modalitäten (die relativen Beiträge der Achse zur Punktvarianz) ab. Diese Technik erlaubt somit eine systematische Annäherung, Interpretation und Beschreibung der erfassten Auseinandersetzungen und Gebrauchsweisen. Es handelt sich dabei um ein System von Variationen (von kontinuierlichen Übergängen) und Kontrasten, aber nicht von Typen. Das analytisch-synthetische Herangehen mag ungewöhnlich erscheinen, es ermöglicht jedoch, den dimensionalen, kontextspezifischen Sinn von Praktiken und Attributen zu begreifen und die Interpretation nachvollziehbar zu machen.

Danksagung Die Texte beruhen auf gemeinsamen Diskussionen und intensivem Austausch im Team. Alexander Mejstrik hat die Autor/innen im Hinblick auf die Umsetzung der MKA unterstützt. Er, Jessica Richter, Georg Schinko und Nikola Langreiter haben am Lektorat und Korrektorat der Beiträge mitgewirkt. Besonders danke ich Theresa Wobbe für ihr Feedback und ihre Anregungen zu diesem Text. Unser Dank gilt weiters den Institutionen, die diese Publikation durch ihre finanzielle Unterstützung ermöglicht haben: dem Institut für Historische Sozialforschung (IHSF) und der Arbeiterkammer Wien, der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und der Niederösterreichischen Landesregierung (Abteilung Wissenschaft und Forschung).

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Irina Vana

Wege zum Arbeitsamt (Österreich 1880–1938) Das späte 19. und das frühe 20. Jahrhundert gelten international als „Geburtsstunde“1 sozial- und arbeitsrechtlicher Regelungen. Das gilt auch für Österreich. Damals wurde neu verhandelt, was Arbeit war, was ein legitimer Erwerb sein konnte und was als legitime oder illegitime Nicht-Arbeit zu werten war.2 Arbeit wurde immer eindeutiger als außerhäusliche Erwerbsarbeit, Lohnarbeit bzw. Berufsarbeit verstanden und gegen andere Formen, den Lebensunterhalt zu bestreiten, ausdifferenziert. Auch die Differenzierung zwischen Arbeitslosigkeit und weniger legitimen Formen der Nicht-Arbeit ist ein Ergebnis dieses Prozesses.3 Während Arbeitslosigkeit als wirtschaftliches Risiko von arbeitswilligen4 und arbeitsfähigen5 Lohnarbeiter/innen verhandelt wurde, dem durch die Arbeitsvermittlung entgegengewirkt werden sollte, wurden andere Formen, ohne reguläre Arbeit auszukommen (z. B. Mithilfe), ab- und umgewertet. Kurzum: Die Grenzen von Arbeit und Nicht-Arbeit wurden neu gezogen. Diese Grenzziehungen stehen im Fokus, wenn es darum geht darzustellen, wie Arbeit in diesem spezifischen historischen Kontext kodiert und praktiziert wurde, und wie die Errichtung neuer staatlicher Einrichtungen wie der öffentlichen Arbeitsämter dazu beitrug.6 Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierten öffentlichen Arbeitsnachweise gelten in der Literatur als wichtige Verwaltungseinrichtungen der sich entwickelnden, modernen Sozialpolitik7 und wirkten als solche an der Herstellung von Arbeitsmärkten8 und Arbeitslosigkeit9 mit. Sie werden daher auch als Element der Durchsetzung eines neuen Regimes der Arbeit gewertet.10 Im folgenden Beitrag beschäftige ich mich mit der Frage, wie diese auf die Normalisierung von Arbeit wirkten, d. h. auf die Herstellung eines legitimen, durch vergleichsweise einheitliche Praktiken und formale Richtlinien durchge1 Ritter, Sozialstaat, S. 5. 2 Wadauer, Immer nur Arbeit?, S. 225. 3 Topalov, The Invention, S. 493–507; Zimmermann, Arbeitslosigkeit. 4 Wadauer, Establishing Distinctions. 5 Pawlowsky/Wendelin, Transforming Soldiers, S. 181–194. 6 Wadauer, Immer nur Arbeit?, S. 225. 7 Tálos, Staatliche Sozialpolitik, S. 207; Melinz, Armutspolitik, S. 142. 8 Buchner, Orte der Produktion, S. 305–334. 9 Zimmermann, Arbeitslosigkeit. 10 Wadauer/Buchner/Mejstrik, The Making, S. 161–189. https://doi.org/10.1515/9783110781335-002

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setzten Verständnisses von Berufsarbeit.11 Die in diesem Beitrag thematisierten „Wegen zum Arbeitsamt“ beschreiben drei mögliche Perspektiven auf die Etablierung der Arbeitsämter und auf deren Wirkung: Einleitend behandle ich die politische Debatte um die Ausgestaltung der öffentlichen Arbeitsvermittlung in Österreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zu deren Ausbau zu einem bundesweiten Netzwerk der öffentlichen Arbeitsvermittlung in der Ersten Republik. Die Auseinandersetzungen hierum zeigen, welche unterschiedlichen Vorstellungen von den Funktionen und Aufgaben einer öffentlichen Arbeitsvermittlung bestanden und wie divers die öffentlichen Arbeitsnachweise zu der Zeit waren. Die beschriebenen Wege zum Arbeitsamt meinen in diesem Sinn unterschiedliche sozialpolitische Perspektiven und Sichtweisen auf deren Gestaltung. Im Weitern beschreibe ich die administrative Ausgestaltung der Ämter und wie sich diese in der statistischen Darstellung sowohl ihrer eigenen Tätigkeiten als auch von Arbeitslosigkeit abbildete. Zugleich möchte ich, im dritten Teil, die Frage nach den „Wegen zum Arbeitsamt“ durchaus wörtlich interpretieren: Im Anschluss an die Darstellung der historischen Entwicklung und Ausgestaltung der ersten Einrichtungen der öffentlichen Arbeitsvermittlung in Österreich setze ich mich mit der Frage auseinander, wer die öffentlichen Arbeitsämter nutzte, wer diese mied und wie sie genutzt wurden. Dieser Blickwinkel erlaubt es, einen in der Forschung bisher weniger berücksichtigten Aspekt der Etablierung der öffentlichen Arbeitsämter zu untersuchen: Durch den Fokus auf die Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsämter wird der Beitrag der Personen, die die öffentlichen Ämter nutzten, zum Ausgangspunkt für ein vertieftes Verständnis davon, wie die Ämter praktisch wirksam wurden.

Die Schaffung öffentlicher Einrichtungen zur Arbeitsvermittlung Die ersten öffentlichen Einrichtungen zum Zweck der Arbeitsvermittlung auf dem Gebiet der späteren Republik Österreich wurden um 1889 gegründet. Sie ergänzten damals die verschiedenen Einrichtungen der Innungen, welche nach der Gewerbeordnung (1859) zur Führung von Vermittlungsstellen verpflichtet waren, der Gewerkschaften, der Arbeitgeber/innenvereinigungen, der karitati-

11 Wadauer, Establishing Distinctions, S. 47.

Wege zum Arbeitsamt



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ven Vereine und der gewerblichen Vermittler/innen. Die Registrierung bei einer der 1889 gegründeten öffentlichen Einrichtung war freiwillig.12 Die meisten öffentlichen Arbeitsnachweise waren zu der Zeit direkt der Armenfürsorge der Gemeinden eingegliedert, welche nach dem Heimatrecht13 zur Arbeitsvermittlung befugt waren.14 Einzelne öffentliche Arbeitsnachweise wurden auch von Kronländern oder von Städten verwaltet.15 Parallel dazu bestanden auf Länderebene Naturalverpflegsstationen, die wandernden Arbeitssuchenden Kost, Logis und Vermittlung boten16 und damit Bettelei und Vagabundage entgegenwirken sollten. 17 Die Naturalverpflegsstationen manifestierten, wie Sigrid Wadauer schreibt, „das Entstehen moderner Sozialpolitik und gleichermaßen die Ambiguität von deren Maßnahmen.“18 Die öffentlichen Arbeitsvermittlungen – kommunale Stellen und Naturalverpflegsstationen – waren zur Zeit der Monarchie noch tief in der Armenfürsorge verwurzelt und vermittelten, wie etwa der Zeitgenosse Josef Pollak, Leiter der Arbeits-Nachweisstelle in Salzburg, argumentierte, „vorwiegend alle jene Arbeiten, für die man, wie der Volksmund sagt, ‚gerade jemanden brauche‘“.19 Kompetenzen zur Organisation einer öffentlichen Arbeitsvermittlung hatten zudem das Ackerbauministerium, das Handelsministerium und das Innenministerium. Ersteres betrieb auch eine eigene Vermittlungsstelle, welche jedoch nicht in das nach 1918 entstehende Netzwerk von Arbeitsnachweisen einbezogen wurde. Dieses „österreichische System“20 der Arbeitsvermittlung vor dem Ersten Weltkrieg wurde vom Juristen und Sozialstatistiker Ernst Mischler21 als „provinzielles“22 Nachweissystem charakterisiert. Es zeichnete sich dadurch aus, dass die einzelnen Nachweise in unterschiedlichen Kompetenzbereichen geregelt

12 Mischler, Die öffentliche Arbeitsvermittlung, S. 59. 13 Das Heimatrecht regelte die Zuständigkeit einer Person zu einer Gemeinde, der gegenüber im Bedarfsfall ein Anspruch auf Armenunterstützung geltend gemacht werden konnte. 14 Genauer dazu: Vana, Gebrauchsweisen, S. 46. 15 Mischler, Die öffentliche Arbeitsvermittlung, S. 58. 16 Wadauer, Vazierende Gesellen, S. 101–131. 17 Wadauer, Der Arbeit nachgehen?, S. 58. 18 Wadauer, Der Arbeit nachgehen?, S. 55. 19 Pollak, Zur Errichtung einer Beschäftigungs-Anstalt, S. 35. 20 Mischler, Die öffentliche Arbeitsvermittlung, S. 58. 21 Ernst Mischler arbeitete für das Statistische Zentralamt, war Begründer des Arbeitsnachweises der Stadt Graz und des Reichsverbands der allgemeinen Arbeitsnachweise in Österreich und in zahlreichen Gremien als Experte zu Fragen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik aktiv. Vgl. Otruba, Ernst Mischler, S. 561–562. 22 Mischler, Die öffentliche Arbeitsvermittlung, S. 58.

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waren23 und ihre Tätigkeit sich zumeist auf größere Territorien24 erstreckte. Damit verbunden waren jedoch, wie die politischen Debatten zeigen, auch unterschiedliche Vorstellungen von dem, was die öffentliche Arbeitsvermittlung war. Der erste Gesetzesentwurf des Arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium25 aus dem Jahr 1889 zur Organisation der öffentlichen Arbeitsvermittlung in Österreich sah vor, dass die Arbeitsvermittlung primär eine Aufgabe der Innungen sein sollte. Die Leistungen der öffentlichen Einrichtungen wurden in diesem Entwurf als Fürsorgeleistung gesehen, die in die Kompetenz der Gemeinden fallen sollte.26 Dagegen wollten Vertreter des Reichsverbands der allgemeinen Arbeitsnachweise in Österreich die öffentliche Arbeitsvermittlung als staatliche, sich über das gesamte Staatsgebiet erstreckende sozialpolitische Aufgabe etablieren.27 Die öffentliche Arbeitsvermittlung bewerteten sie als ein Werkzeug, um einen nationalen „Arbeitsmarkt zu gestalten“.28 Die Einrichtung sollte zudem ein „vorbeugendes Mittel der Armenpflege“29 sein, durch welches die „arbeitslosen Arbeitswilligen von den arbeitsfähigen Arbeitsscheuen“30 getrennt werden sollten. Zweck einer öffentlichen Arbeitsvermittlung war nach Meinung der Expert/innen auch die Kontrolle von Migration und die Bekämpfung von Landstreicherei31 sowie die Regulierung der gewerblichen Vermittlung und der Umschau.32 Sie sollten als neutrale Einrichtungen fungieren, die zwischen den Interessen von Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen vermittelten33 und unentgeltlich, möglichst rasch, über offene Stellen informierten.34

Die Industriellen Bezirkskommissionen Bis 1918 bestand keinerlei Kooperation zwischen den einzelnen öffentlichen Einrichtungen. Erst im Zuge der Demobilisierung während und nach dem Ersten

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Ebd., S. 61. Ebd., S. 58. Hainisch, Das Arbeitsstatistische Amt, S. 522. Mischler, Bericht, S. 381. N. N., 1. Verbandstag, S. 232. von Fürer, Die Gestaltung, S. 155. Mischler, Die öffentliche Arbeitsvermittlung, S. 62. Wolf, Verhandlungen, S. 200. Wadauer/Buchner/Mejstrik, The Making, S. 178. Ebd., S. 175. von Fürer, Die Gestaltung, S. 126. Mischler, Die öffentliche Arbeitsvermittlung, S. 59.

Wege zum Arbeitsamt



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Weltkrieg wurde eine Struktur geschaffen, durch welche die weiterhin autonom verwalteten und dezentral geführten öffentlichen Arbeitsnachweise verbunden wurden.35 Die damals gegründeten Industriellen Bezirkskommissionen36 waren paritätisch besetzte Körperschaften, welche neben der Organisation der Arbeitsvermittlung auch die Aufgabe der Arbeitslosenfürsorge übernahmen. Ehemalige Arbeitsvermittlungen der Gemeinden und Städte sowie paritätisch verwaltete Nachweise der Gewerkschaften und der Arbeitgeber/innenvereine wurden zu öffentlichen, den Industriellen Bezirkskommissionen eingegliederten Arbeitslosenämtern. Zu ihnen zählten sowohl allgemeine Arbeitsnachweise als auch fachspezifische Nachweise, die für Arbeitssuchende bestimmter Branchen zuständig waren. Auch einzelne von gemeinnützigen Vereinen geführte Nachweise wurden den Industriellen Bezirkskommissionen als öffentliche Arbeitsämter eingegliedert.37 Ähnliche Strukturen wurden zur selben Zeit in anderen europäischen Staaten etabliert. Sie entsprachen dem Entwurf der 1919 gegründeten International Labour Organisation (ILO) zur Organisation einer öffentlichen Arbeitsvermittlung,38 der in Österreich im Jahr 1924 ratifiziert wurde. Mit der Koordination der öffentlichen Arbeitsvermittlungsstellen ging die Idee des überregionalen Ausgleichs im Rahmen eines zu schaffenden nationalen Arbeitsmarktes einher. Die bundesweite Verwaltungsstruktur der öffentlichen Arbeitsvermittlungsstellen sollte, wie Politiker/innen und Expert/innen argumentierten, eine „planmäßige Verteilung der Arbeitskräfte auf die einzelnen Industriezweige“39 fördern. Durch die Arbeitsvermittlung sollte, wie Marie Scherl, Bedienstete der Industriellen Bezirkskommission Wien, schrieb, „Übersicht und Ordnung in die mannigfache Art von Angebot und Nachfrage“ 40 gebracht werden. Die Arbeitsvermittlung sollte ihrer Vorstellung nach „beobachten und […] regulieren, die Arbeitssuchenden nach Berufsklassen, -gruppen und -sparten in Evidenz […] halten, und […] unentgeltlich möglichst rasch und reibungslos einer geeigneten Arbeit“41 zuführen.

35 N. N., Arbeiterfürsorge, S. 256. 36 Vollzugsanweisung des Deutschösterreichischen Staatsrates, betreffend die Arbeitsvermittlung für die Zeit der Abrüstung, StGBl. 1918/18. 37 N. N., Sprengel, S. 22–24. 38 ILO, Employment Exchanges, S. 36. 39 Kaff, Die Arbeiter- und Angestellten-Kammern, S. 33. 40 Scherl, Die Frau, S. 531. 41 Ebd.

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Die Arbeitslosenämter und die Einführung der Arbeitslosenunterstützung Die Verbindung zwischen Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenfürsorge wurde nach dem ersten Weltkrieg als ordnungspolitische Maßnahme zur Sicherung des sozialen Friedens betrachtet.42 Im November 1918, unmittelbar nach dem Krieg, wurde daher das Arbeitslosengeld eingeführt, vorerst als vorübergehende Aushilfezahlung. Es sollte der „großen Masse von entwurzelten Menschen insolange eine Sicherung ihrer Existenz“43 bieten, „bis sie wieder ihren Arbeitsplatz im Wirtschaftsleben finden könnten.“44 Die Arbeitslosenämter der Industriellen Bezirkskommissionen waren für die Kontrolle der Auszahlung des Arbeitslosengeldes zuständig. 1920 wurde das auf Basis der Notverordnung eingeführte Arbeitslosengeld zu einer Versicherungsleistung ausgebaut, die von nun an nicht mehr ausschließlich vom Staat, sondern anteilig durch Arbeitgeber/innen, Arbeitnehmer/innen und staatliche Gelder finanziert wurde. Wer zum Bezug des Arbeitslosengeldes berechtigt war, wurde im Arbeitslosenversicherungsgesetz (AlVG) und ab 1935 im Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz (GSVG) geregelt. Wie umstritten die formale Definition von Arbeitslosigkeit war, zeigen unter anderem die unzähligen Novellen des AlVG, durch welche der Kreis der Bezugsberechtigten zwischen 1920 und 1935 zunehmend wieder eingeschränkt wurde.45 Grundsätzlich waren Personen bezugsberechtigt, die als arbeitswillig und arbeitsfähig galten und über einen bestimmten Zeitraum eine krankenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hatten, diese ohne eigenes Verschulden verloren hatten und vorübergehend keine „entsprechende Beschäftigung“46 in ihrem erlernten Beruf finden konnten. Hauspersonal sowie land- und forstwirtschaftliche Arbeiter/innen und Angestellte47 waren vom Bezug ausgenommen, denn die Landwirtschaft kannte offiziell keine Arbeitslosigkeit. Stattdessen wurde die Abwanderung aus der Landwirtschaft, die sogenannte „Leutenot“ beklagt.48 Zentrale Aufgabe vor allem der landwirtschaftlichen Arbeitsvermittlung war es daher auch, Arbeitslose aus Industrie und Gewerbe in die Landwirtschaft zu bringen.

42 43 44 45 46 47 48

Palla, Maßnahmen, S. 842. Pribram, Die Sozialpolitik, S. 632. Ebd. Tálos, Sozialpolitik in der Ersten Republik, S. 580. Dieser Berufsschutz bestand für acht Wochen; AlVG § 6/3, i. d. F. StGBl. 153/1920. Bruckmüller/Sandgruber/Stekl (Hg.), Soziale Sicherheit. Richter, Geordnete Wanderungen, S. 115.

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Nach 1923 wurden aus diesem Grund auch Personen, die in sogenannten „rein ländlichen“ Gebieten in kleingewerblichen Betrieben49 beschäftigt waren, vom Bezug des Arbeitslosengeldes ausgenommen.50 Sie sollten bei Verlust ihres Arbeitsplatzes in die Landwirtschaft wechseln, womit sie jedoch die Möglichkeit verwirkten, aus ihrer gewerblichen Arbeit Ansprüche an die Versicherung zu stellen. Auch Personen, die bei mehreren Arbeitgeber/innen beschäftigt waren, sowie Personen, die im Betrieb naher Familienangehöriger beschäftigt waren und Selbständige konnten keine Arbeitslosenunterstützung beziehen.51 Weitere Einschränkungen wurden in Bezug auf das Alter, die Dauer früherer Beschäftigungen und die Dauer des Bezugs eingeführt.52 Vor allem jüngere Personen und Frauen erhielten aufgrund dieser Einschränkungen vergleichsweise selten Unterstützungsleistungen.53

Die Administration der Arbeitslosenämter Die Verknüpfung der Verwaltung des Arbeitslosengeldes mit der Arbeitsvermittlung hatte weitreichende Konsequenzen für die Organisation der Arbeitsvermittlung und der Arbeitslosenämter – und für deren Nutzung. Sich bei einem Arbeitslosenamt zu registrieren, war zwar auch nach 1918 freiwillig. Jedoch konnten Vermittler/innen aufgrund der materiellen Versorgungsansprüche,54 die mit dieser Meldung verbunden waren, nun durch die Androhung des Entzugs von Arbeitslosengeld auf Arbeitslosengeldbezieher/innen einen „milden Arbeitszwang“55 ausüben, wie Dieter Stiefel formuliert. Sie gewannen damit gegenüber den am Amt registrierten Arbeitssuchenden an Verfügungsgewalt. Besonders die Administration der öffentlichen Arbeitsämter änderte sich durch die neue Aufgabe der Kontrolle und Anweisung von Arbeitslosengeld. Für die Verwaltung des Arbeitslosengeldes wurde erstmals eine Einteilung der Ämter in Arbeitsamtssprengel vorgenommen. Die Anspruchsberechtigten wurden einem bestimmten öffentlichen Arbeitsamt zugewiesen. Das ermöglichte die Durchsetzung einer personenbezogenen Verwaltung. Wesentliches Instru-

49 50 51 52 53 54 55

Betriebe mit weniger als fünf Beschäftigten. Suppanz, Arbeitslosigkeit, S. 93. Hammerl/Kraus, Handbuch, S. 4. Ebd., S. 75. Vana, Arbeitslose Männer, S. 26. Tálos/Wörister, Soziale Sicherung, S. 24. Stiefel, Arbeitslosigkeit, S. 55.

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ment dazu waren Dauerkarten,56 auf welchen die Daten der bei den öffentlichen Ämtern registrierten Personen fortlaufend erfasst wurden. Diese konnten zwischen den Ämtern über einen im zuständigen Ministerium für soziale Verwaltung eingerichteten Zentralkataster57 ausgetauscht werden.58 Das ermöglichte den Transfer von Informationen über Arbeitskräfte und Arbeitslosengeldbezieher/innen zwischen den Ämtern. Auch Informationen über offene Stellen wurde über den Zentralkataster koordiniert. Damit wurde die Basis einer branchenübergreifenden, bundesweiten Verwaltung der Arbeitslosengeldbezieher/innen geschaffen, welche die Durchsetzung eines nationalen Arbeitsmarktes beförderte. Die bei den öffentlichen Ämtern verwendeten Dauerkarten beinhalteten Informationen zu Beruf, Aufenthaltsort, Familienstand, vorangegangenen Arbeitsverhältnissen und vor allem zum Arbeitslosengeldbezug. Die so produzierten Verwaltungsdaten gaben Auskunft über die Lebensunterhalte der Arbeitslosengeldbezieher/innen sowie die Wechsel zwischen Arbeitsstellen und Arbeitslosengeldbezug. Sie bildeten das Material für die offiziellen Verwaltungsstatistiken zu Arbeitsvermittlung und Arbeitslosengeld. Diese prägten wiederum, wie Didier Demazière am Beispiel Frankreichs zeigt, Arbeitslosigkeit und die Vorstellung von Arbeitslosen.59

Statistiken der Arbeitsvermittlung Als Nachweis über die Geschäftstätigkeit der Ämter wurde den Statistiken bereits um 1900 von Vertretern der öffentlichen Vermittlungsstellen wie Ernst Mischler eine „normative“60 Funktion zugeschrieben. Sie bildeten in der Zwischenkriegszeit zunehmend die offiziellste Referenz zur Darstellung von Arbeitslosigkeit und eines nach spezifischen Kriterien gegliederten Arbeitsmarkts, sie dienten der Konzeption sozialpolitischer Maßnahmen. Die von den Ämtern produzierten Statistiken, die ich im Folgenden knapp beschreibe, präsentierten die Aktivitäten der Vermittlungsstellen entsprechend der festgelegten „staatlich-legitimen Kategorien“61 gemäß „staatlich-legitimer Vorstellungen“,62 verwaltungsspezifischer Fragestellungen und ebensolcher Zielsetzungen. Was wa-

56 57 58 59 60 61 62

Industrielle Bezirkskommission Wien (Hg.), Die Industrielle Bezirkskommission, S. 40. Forchheimer, Die Industriellen Bezirkskommissionen, S. 598. Ebd., S. 40. Demazière, Sociologie, S. 6. Mischler, Verwaltungs-Statistik, S. 40. Mejstrik, Berufsstatistisches Niederösterreich, S. 640. Ebd.

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ren diese durch die Statistiken hergestellten Konzepte und Kategorien von Arbeitslosigkeit? 1929 waren rund 94% aller offiziell bei Arbeitsvermittlungsstellen registrierten Arbeitsgesuche bei öffentlichen Arbeitsämtern registriert.63 Die restlichen 6% wurden von Nachweisen der Gewerbegenossenschaften, paritätisch geführten Vermittlungsstellen und anderen nicht gewerblich betriebenen Nachweisen verzeichnet. Nicht Teil der Statistik waren Arbeitsgesuche, die bei gewerblichen Vermittlungen registriert waren. Aus der Statistik der Arbeitsgesuche kann nicht direkt auf die Zahl der Arbeitssuchenden geschlossen werden, da sich Arbeitssuchende dennoch vielfach bei mehreren Stellen gleichzeitig registrierten, wie Zeitgenossen kritisch anmerkten.64 Die Statistiken zeigen, wie das Problem der Arbeitslosigkeit gefasst wurde, wer Ansprüche an das Amt stellen konnte und wer nicht. Arbeitslosigkeit wurde damit vorwiegend als ein industrielles, gewerbliches und urbanes Problem von Männern dargestellt: Mehr als die Hälfte der bei einem der öffentlichen Arbeitslosenämter registrierten Menschen waren bei einem Amt im Bereich der Industriellen Bezirkskommission Wien gemeldet. Die überwiegende Zahl der Registrierten – etwas weniger als drei Viertel – waren Männer.65 Diese qualifizierten sich unter anderem durch Arbeiten in industriellen Branchen und im Gewerbe sowie durch längere Beschäftigungen eher für den Bezug des Arbeitslosengeldes. Frauen erwarben nicht nur seltener Unterstützungsansprüche, sie verloren diese auch rascher wieder, da sie, wie es in offiziellen Schriften hieß, „häufiger einen wirtschaftlichen Rückhalt in der Familie finden als die männlichen.“66 Daher blieben Männer zumeist länger im Unterstützungsbezug.67 Die zeitgenössischen Studien zeigen, dass die öffentliche Arbeitsvermittlung für die tatsächliche Vermittlung einer Arbeitsstelle nur eine marginale Rolle spielte.68 Wie Expert/innen in Bezug auf die öffentliche Arbeitsvermittlung in der Zwischenkriegszeit kritisierten, wurden die Ämter damals primär zum Arbeitslosengeldbezug genutzt. Von der Verwaltung wie auch von den dort Registrierten wurden die Arbeitsämter der Zwischenkriegszeit daher oft als „rein anweisende Stellen“69 charakterisiert. Zudem fungierten die Ämter, wie in zeitgenössischen Zeitungsartikeln beschrieben, als „Wärmestuben“, als „Versamm-

63 64 65 66 67 68 69

Vana, Gebrauchsweisen, S. 178. Forchheimer, Die Industriellen Bezirkskommissionen, S. 598. Vana, Gebrauchsweisen, S. 200. Vgl. Bundesamt für Statistik, Die Ergebnisse, S. 254. Vana, Arbeitslose Männer, S. 21. Rager, XVI Internationale Arbeitskonferenz, S. 751. Uranitsch, Die Arbeitsnachweise, S. 605.

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lungsort“ und als Ort des „Protests“.70 Von Vielen wurden die Ämter gänzlich gemieden, wie die autobiografischen Aufzeichnungen, auf die ich später noch eingehen werde, zeigen: Entweder, weil ihnen die Einrichtungen nicht vertraut waren, weil sie nicht verstanden, wie sie diesen nutzen konnten oder weil sie diese ablehnten. Viele nutzten für die Suche nach einer Arbeitsstelle private Kontakte, lasen Annoncen, fragten um Arbeit vor Fabriken oder bei Meister/innen an oder nutzten andere Vermittlungen. Sie wurden durch Zufall auf neue Erwerbsmöglichkeiten aufmerksam71 oder waren im Haushalt der Eltern oder bei Bekannten tätig. Manche fanden erneut bei früheren Arbeitgeber/innen Beschäftigung.72 Verpflichtungen gegenüber der Herkunftsfamilie konnten73 zur Lösung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses führen. Auch betriebsinterne Versetzungen begründeten neue Beschäftigungsverhältnisse.74 Das öffentliche Arbeitsamt hatte in diesen Zusammenhängen verschiedene Funktionen, die im Folgenden mittels eines systematischen Vergleichs unterschiedlicher Gebrauchsweisen der Ämter herausgearbeitet werden.

Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsämter Durch einen Vergleich unterschiedlicher Arten der Nutzung öffentlicher Arbeitsämter zeige ich, nach welchen Kriterien sich die Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsämter unterschieden oder ähnelten und welche Praktiken der Arbeitsannahme und Arbeitssuche mit deren Nutzung verbunden waren. Welche Einstellungen zum Arbeitsamt lassen sich daraus ableiten, und wie sah die Nutzung von Vermittlungs- und Fürsorgeleistungen aus? Betrachtet werden hierfür die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Arten, öffentliche Arbeitsämter zu nutzen und der Art, wie Menschen ihren Lebensunterhalt fanden.75 Damit kann ich zeigen, wie die Einrichtungen praktisch wirksam wurden und wie jene, die die Arbeitsämter nutzten – aber auch jene, die sie mieden – die Ämter und deren Wirkung mitgestalteten. Die Informationen über die Wahrnehmung und die Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsämter beziehe ich aus autobiografischen Texten und Inter70 Wilding, … Für Arbeit und Brot, S. 248. 71 Wadauer, Tour, S. 281. 72 Rosenbloom, Looking for Work, S. 23. 73 Richter, Zwischen Treue und Gefährdung?, S. 8. 74 Vosko, Managing the Margins, S. 59. 75 Zu den theoretischen Überlegungen des Forschungsprogramms siehe die Einleitung zu diesem Band; Wadauer, Tour, S. 85; Mejstrik, Felder.

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views. In diesen erzählen die Autobiograf/innen und Interviewten von ihrer Arbeitssuche und über Arten der Stellen-, Posten- oder Arbeitsannahme. Auch Kombinationen unterschiedlicher Lebensunterhalte und Einkünfte, wie Aushilfen, das Arbeitslosengeld, Fürsorgeleistungen, Lohnarbeiten, Dienste, Mithilfen und illegale Tätigkeiten werden erwähnt. In einzelnen Texten werden zudem Gründe für die Vermeidung eines Kontakts zu den öffentlichen Arbeitsämtern vorgebracht. Diese Ego-Dokumente bieten damit eine Fülle an Informationen zum Gebrauch der öffentlichen Arbeitsämter und zu Faktoren, die einen unterschiedlichen Gebrauch der Ämter bedingen konnten. Die Mehrzahl dieser Ego-Dokumente wurde in den 1980er Jahren verfasst. Es sind retrospektiv entstandene Selbstdarstellungen und selektive Erinnerungen. In ihnen werden bestimmte Themen aufgegriffen und andere bewusst oder unbewusst ausgespart. Stellungnahmen von anderen Zeitgenossinnen und -genossen, tradierte Erinnerungen anderer76 und das spezifische Erleben einer Situation – um nur einige Beispiele zu nennen – strukturieren die Texte in unterschiedlicher Weise. Die Erzählkonventionen,77 denen die Texte folgen und die sie hervorbringen, sind, wie Sigrid Wadauer dargelegt hat, ein wesentlicher Aspekt des historischen Phänomens. Was in welcher Form in den Texten erzählt wird, ist kein Zufall, sondern von den Kontexten abhängig, in denen die Texte entstanden sind und von den Kontexten, über die sie berichten.78 Daher interpretiere ich die Texte auch in Bezug auf zeitgenössische Texte und im Kontrast zu zeitgenössischen Quellen. Durch einen Vergleich unterschiedlicher Stellungnahmen kann ich darstellen, „welche Kombinationen von Aussagen, welche Redeweisen spezifisch für bestimmte Repräsentationsformen“79 sind, welchen Erzähllogiken ein Text folgen kann, in welchen Zusammenhängen er plausibel wird80 und in welcher Weise die einzelnen Erzählungen für ein spezifisches Verständnis des betrachteten historischen Phänomens81 charakteristisch sind. Das ermöglicht einen quellenkritischen Umgang mit den retrospektiv entstandenen Selbstzeugnissen.82

76 77 78 79 80 81 82

Bertaux/Bertaux, Autobiographische Erinnerungen, S. 149–152. Lejeune, Der autobiographische Pakt, S. 51. Corsten, Beschriebenes, S. 185. Wadauer, Tour, S. 87. Ebd., S. 66. Ebd., S. 52. Ebd., S. 60.

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Die Erzählungen Basis des von mir vorgenommenen Vergleichs ist eine Erhebungstabelle, in der ich insgesamt 67 autobiografische Texte, Interviews und biografische Erzählungen83 nach einem einheitlichen Schema verglichen habe. Die Texte bilden die Beobachtungseinheiten der Erhebung. Die Fragen, durch welche die Beobachtungseinheiten charakterisiert sind, beziehen sich, meinem Forschungsinteresse entsprechend, auf die darin erwähnten Praktiken der Arbeitssuche und Lebensunterhalte, die Herkunftsfamilie der Protagonist/innen und die Haushalte, in denen sie lebten. Ebenso berücksichtigt habe ich biografische Informationen (auch über die Zeit nach 1938), politische und religiöse Äußerungen sowie Textmerkmale und von den Protagonist/innen verwendete markante Ausdrücke zur Beschreibung von Arbeit, Nicht-Arbeit, Unterstützungsbezug und Arbeitssuche, wie etwa die Ausrücke „beim Amt stempeln“, „Pfusch“ und ähnliches. In das Sample habe ich Texte aufgenommen, durch die ein möglichst kontrastreiches Spektrum der Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsämter erfasst wird.84 Einbezogen sind Erzählungen von Personen, die bei öffentlichen Arbeitsämtern registriert waren, von Personen, die über Zeitungsartikel nach Arbeit suchten, von solchen, die überhaupt nicht von der Arbeitssuche berichteten, von wandernden Gesellen und von Personen, die sich als arbeitslose Wanderer beschrieben, von Personen, die überwiegend im Haushalt tätig waren, von Fabriksarbeiter/innen und von Personen, die in der Zwischenkriegszeit auch als selbständige Gewerbetreibende arbeiteten. In der Konstruktion berücksichtigt sind damit auch Praktiken und Situationen, die in der bisherigen Forschung zur Arbeitsvermittlung oftmals unberücksichtigt blieben,85 da sie von Historiker/ innen nicht als Arbeitssuche oder Arbeitslosigkeit klassifiziert wurden und daher als für die Forschung zur Arbeitsvermittlung irrelevant erachtet wurden. Viele Protagonist/innen fanden im Laufe ihres Lebens auf unterschiedliche Weisen ihren Lebensunterhalt und kombinierten verschiedene Einkünfte.86 Indem ich diese im Vergleich berücksichtige und überprüfe, in welchen Zusammenhang sie zur öffentlichen Arbeitsvermittlung standen, musste ich nicht vorab entscheiden, welche Tätigkeiten oder Einkünfte im Kontext der Arbeitsvermittlung relevant waren, welche als Arbeiten oder Beitrag zum Lebensunterhalt gelten konnten und welche nicht. Stattdessen werden Arbeit, Arbeitssuche, Le83 Eine genaue Auflistung der im Vergleich berücksichtigten Erzählungen findet sich in meiner Dissertation: Vana, Gebrauchsweisen, S. 468. 84 Mejstrik, Felder, S. 169. 85 Tilly, Arbeit, S. 31. 86 Lucassen, In Search, S. 2.

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bensunterhalte und Nicht-Arbeit über die Beziehung zueinander empirisch konstruiert. Die meisten der verglichenen Texte sind, wie bereits erwähnt, zwischen 1980 und 2000 entstanden. Diese Erinnerungen wurden zum Teil aufgrund von themenspezifischen Schreibaufrufen und oft auch mit der Intention, späteren Generationen ein bestimmtes Wissen über die Vergangenheit zu vermitteln, verfasst. Teil der Erhebungstabelle ist auch die um 1930 verfasste Autobiografie von Ernest Steinlechner, in der zeitgenössische Quellen (Zeitungsartikel) zitiert und kommentiert werden.87 Zudem habe ich einen zeitgenössischen biografischen Roman und eine biografische Kurzgeschichte in den Vergleich integriert. Beide wurden um 1930 geschrieben und thematisieren in unterschiedlicher Weise das Erleben von Arbeitslosigkeit und den Kontakt zum Arbeitsamt in der Zwischenkriegszeit. Der biografische Roman Karl und das zwanzigste Jahrhundert88 gilt in der Sekundärliteratur als „Arbeitslosenroman“.89 Die Kurzerzählung Der Berufsaufstieg einer Schneiderin von Olly Schwarz wurde von der Frauenrechtlerin und Pädagogin Olly Schwarz, die auch die Zentralstelle für weibliche Berufsberatung gründete, 1934 in dem „berufskundlichen Lesebuch für schulentlassene Mädchen“ ‚Wir stehen im Leben‘ veröffentlicht.90 In der Erzählung thematisierte sie die beruflichen Orientierungsversuche der in Wien aufwachsenden Martha Werner. Beschrieben wird deren Werdegang vom Pflichtschulende bis zur Eröffnung ihrer eigenen Schneiderei.

Das Feld der möglichen Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsämter Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den erfassten Texten einerseits und den Merkmalen, durch welche sie beschrieben werden, andererseits, habe ich mittels einer spezifischen Multiplen Korrespondenzanalyse berechnet. Durch das Verfahren, das in der Einleitung zu diesem Band genauer beschrieben wird, werden die Relationen zwischen den Merkmalen und den Texten als Distanzen zwischen Punkten zweier homologer, mehrdimensionaler Wolken darstellbar.

87 88 89 90

Steinlechner, Entwurf. Brunngraber, Karl. Kreuzer, Biographie, S. 27. Schwarz, Wir stehen im Leben, S. 5.

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Jede Dimension dieser Wolken weist eine eigenständige Struktur mit eigenen „Unterscheidungs- bzw. Verteilungsprinzipen“91 auf. Diese Prinzipien werden auf Grundlage der wichtigsten Modalitäten und Beobachtungseinheiten formuliert.92 Die Achsen, die das Spektrum der jeweiligen Dimensionen abbilden, weisen eine dominante und eine dominierte Orientierung auf. Um das Baryzentrum, den Nullpunkt der Achse, finden sich neutrale Positionen. Die dominante Orientierung bildet die jeweils offiziellste Referenz in dem beschriebenen Spektrum, die gegenüber weniger legitimen oder illegitimen Praktiken und Vorstellungen durchgesetzt wurde. Sie beschreibt die in dem Spektrum am „klarsten und am eindeutigsten abgrenzbaren“93 Positionen und Stellungnahmen. Das sind zugleich jene, die über Bezug auf rechtliche Normen und Vorschriften definiert sind bzw. (im Falle der Sozialstaatlichkeit) offizielle Ansprüche darstellen. Inhaltlich können die Dimensionen auch als soziale Institutionen gefasst werden, welche nach Bourdieu als ein „einigermaßen dauerhaftes Ensemble von sozialen Beziehungen […] Individuen Macht, Status und Ressourcen verschiedenster Art verleiht.“94 Ich interpretiere die Wolke als mehrdimensionales Feld der möglichen Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsämter. Die Dimensionen (bzw. Institutionen) des konstruierten Feldes sind hierarchisch geordnet. Die einzelnen Dimensionen sind daher für die Darstellung des gesamten Feldes der möglichen Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsämter unterschiedlich wichtig. Die ersten beiden Dimensionen bieten die bestmögliche Annäherung an die Gesamtstruktur des Feldes, welches in diesem Fall insgesamt 66 Dimensionen umfasst. Im Folgenden beschreibe ich die Zusammenhänge der ersten beiden, wichtigsten Dimensionen jeweils für sich. Anschließend bespreche ich ihre gemeinsame Wirkung im zweidimensionalen Feld. Die wichtigste Dimension des Feldes der möglichen Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsämter beschreibt die Institution der Arbeit. Anhand des Spektrums der Dimension kann dargestellt werden, welche Elemente für die Durchsetzung der legitimsten Arbeitsweise besonders wichtig waren,95 gegen welche anderen Arbeitsweisen diese durchgesetzt wurden und wie bestimmte Arten, öf-

91 Bourdieu, Sozialer Raum, S. 9. 92 Das sind jene Modalitäten, die nach dem Ctr-Kriterium in der Dimension den höchsten Erklärungsbeitrag liefern 93 Mejstrik, Totale Ertüchtigung, Bd. 2, S. 758. 94 Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 10. 95 Nach dem Ctr-Kriterium.

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fentliche Arbeitsämter zu gebrauchen, dazu beitrugen. Das Spektrum der Dimension reicht von der dominanten Orientierung auf Berufsarbeitsverhältnisse (positiver Pol dieser Achse) über neutrale Positionen hin zu dominierten Orientierungen wie dem „Dienst“ sowie Mithilfen von (Pflege-)kindern im Haushalt des Vormunds (negativer Pol der Achse), die eigentlich offiziell nicht Arbeit sein durften. Die zweitwichtigste Dimension des konstruierten zweidimensionalen Feldes der Lebensunterhalte beschreibt die Institution Haushalt. Das Spektrum dieser Dimension reicht von der dominanten Orientierung auf (bürgerliche) Familienhaushalte (positiver Pol der Achse) über neutrale Positionen weniger gut abgesicherter Familienhaushalte und Pflegefamilien hin zu in dieser Dimension dominierten Orientierungen, die durch das Fehlen von Haushalten gekennzeichnet sind (negativer Pol der Achse). Die Familienhaushalte beschreiben eine durch gegenseitige Sorgeleistungen und Verwandtschaftsverhältnisse konstituierte Gemeinschaft, während das Fehlen von Haushalten Obdachlosigkeit umfasst und wechselnde Formen der Eingliederung in unterschiedliche Haushalte bedingt. Anhand des Spektrums der zweiten Dimension kann dargestellt werden, wie Haushalte durch unterschiedliche Praktiken, den Lebensunterhalt zu bestreiten, mit hervorgebracht wurden – etwa im Falle des Dienstes durch die Eingliederung in den Haushalt der Dienstgebenden. Auch können darin Unterschiede zwischen den Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung mit Bezug auf den Haushalt ausgemacht werden. Die Synthese dieser beiden Dimensionen bildet das Feld der Lebensunterhalte. Jedes Merkmal und die Positionen der Beobachtungseinheiten in dem zweidimensionalen Feld sind über ihren Bezug zur Arbeit und zum Haushalt gleichermaßen determiniert. Das Feld der Lebensunterhalte beschreibt demnach einen neuen, eigenständigen Sinnzusammenhang. Die Orientierungen in den beiden ersten Dimensionen und in dem durch diese konstituierten zweidimensionalen Feld beschreibe ich im Folgenden anhand von Zitaten und Beispielen aus den Beobachtungseinheiten, die in der jeweiligen Struktur besonders wichtig sind, detaillierter. Dazu werden jene Modalitäten herangezogen, die am meisten zur Konstitution der jeweiligen Dimension beitragen.

Erste Dimension: Die Arbeit Berufsarbeitsverhältnisse beschreiben die normgebende Referenz der ersten Dimension von Arbeit (rechts außen in Abbildung 1). Wichtigste Elemente einer

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Orientierung auf Berufsarbeitsverhältnisse bilden die Nutzung öffentlicher Arbeitsämter zum Arbeitslosengeldbezug96 und die Absolvierung einer Lehre.97

Abb. 1: Arbeit (Ctr-Hilfsgrafik der ersten Dimension). © I. V.98

96 Modalität: Zum Bezug des Arbeitslosengeldes am Arbeitsamt angemeldet. 97 Modalität: Lehrabschluss. 98 Erklärung: Die Interpretation der Hilfsgrafiken wird in der Einleitung dieses Bande genauer erläutert. Die vertikale Achse zeigt den Beitrag der Modalität zur Konstitution der Achse (Ctr), die horizontale deren Position im Spektrum. In der Grafik sind die Wolke der Beobachtungseinheiten und die Wolke der Modalitäten simultan dargestellt. Die Kreuze zeigen die Positionen der in der ersten Dimension überdurchschnittlich wichtigen Modalitäten und Beobachtungseinheiten des Samples. Beschriftet sind Modalitäten und Beobachtungseinheiten, die nach dem Ctr-Kriterien besonders wichtig sind und/oder Extrempositionen einnehmen. Modalitäten in ( ) bedeuten: „trifft nicht zu“. Ist die Modalität unter „“ gesetzt, bedeutet dies, dass der/die Erzähler/in das Wort im Text verwendet.

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Der Arbeitslosengeldbezug, welcher den höchsten Beitrag zur Konstitution der Dimension leistet, zeigt, dass die Arbeitslosen zuvor in einem legitimen Berufsverhältnis standen, aus welchem ein Anspruch auf Unterstützung resultiert. Diese Unterstützung war im Falle des Arbeitsplatzverlusts das legitimste Einkommen. Das Arbeitslosengeld stand nach dem Gesetz Personen zu, die durch ein vorangegangenes Beschäftigungsverhältnis die nötigen Versicherungszeiten vorweisen konnten. Wer Arbeitslosengeld beziehen wollte, musste sich beim zuständigen Arbeitsamt registrieren und zur Annahme einer „entsprechenden Beschäftigung“ bereit und körperlich fähig sein. Als offizielle, juristische Definition von Arbeitslosigkeit bilden der Arbeitslosengeldbezug und die ihm zugrunde gelegten Bestimmungen die wichtigste Referenz, um sich als arbeitslos zu beschreiben, die eigene Erfahrung des Arbeitsplatzverlusts als Arbeitslosigkeit darzustellen und die Arbeitslosigkeit gegenüber anderen Formen der Nicht-Arbeit abzugrenzen. Das gilt nicht nur für jene, die Arbeitslosengeld beim Arbeitsamt beziehen konnten, sondern auch für Personen, die sich ohne Erfolg darum bewarben. Der Werkzeugmacher Franz Engelmann, dessen Erzählung in der Struktur der ersten Dimension am eindeutigsten auf Berufsarbeitsverhältnisse (rechter Pol der Achse) orientiert ist, schrieb in seiner Autobiografie: „Nach ungefähr vier Monaten geriet unsere Firma in eine Krise, die zu einer […] Einschränkung der Belegschaft führte. Ich wurde dabei mit vielen anderen entlassen. […] Ich war arbeitslos und damit eingereiht in die große Schlange vor dem Arbeitsamt.“99 Indem Engelmann wirtschaftliche Probleme als Grund seines Arbeitsplatzverlustes anführte, verwies er auf den unverschuldeten Verlust der Arbeitsstelle, die gesetzliche Voraussetzung für eine Arbeitslosenunterstützung. Auch der Kontorist Ernest Steinlechner, betonte in seiner bereits 1930 geschriebenen Autobiografie, dass er aufgrund der wirtschaftlichen Lage keine Arbeit finden konnte: „Es gab wohl Arbeit, aber zu wenig für alle Arbeitslosen.“100 Engelmann, der nach der Anmeldung am Amt im Arbeitslosengeldbezug stand, und Steinlechner, dem die Unterstützung nicht zugesprochen wurde, bezeichneten sich beide als arbeitslos. Steinlechner verzichtete 1923 sogar auf die ihm zugesprochene Invalidenrente, um als arbeitsfähig zu gelten und vom Arbeitsamt leichter eine Arbeitsgelegenheit zugewiesen zu bekommen.101 Doch er erhielt weder eine Zuweisung zu einer Arbeitsstelle noch finanzielle Unterstützung. Steinlechner kritisierte in seiner Autobiografie die damaligen Entscheidungen des für ihn zuständigen Amtes: „Ich bin weder im Besitze der Arbeitslosenun99 Engelmann, Ohne Titel, S. 40. 100 Steinlechner, Entwurf, S. 234. 101 Ebd., S. 295.

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terstützung folglich auch nicht der Notstandsunterstützung und bekomme auch keine Hilfe durch das Winterhilfswerk.“102 Seine Ansprüche begründete er – ähnlich wie Engelmann – mit den gesetzlich vorgesehenen Versicherungszeiten: „In Tirol angekommen lag ich einige Zeit im Krankenhaus Wörgl und meldete mich dann, da ich die zum Bezug der Arbeitslosenunterstützung erforderlichen 20 Wochen Arbeit nachweisen konnte beim Arbeitsamt Schwarz an. Ich suchte Quartier, damit ich einen Meldezettel vorweisen könne. Ohne festen Wohnsitz wurde keine Unterstützung ausbezahlt. Die Gendarmen rieten mir aber die Gegend zu verlassen.“103 Die Darstellung der eigenen Arbeitslosigkeit beschränkte sich jedoch in diesen Erzählungen nicht auf die Auseinandersetzung mit formalen Richtlinien. Sie beinhaltete auch Aspekte, die der rechtlichen Definition von Arbeitslosigkeit scheinbar widersprechen. Anerkannte Arbeitslosigkeit (und die damit einhergehende Unterstützung) erlaubte es beispielsweise, die Zeit der Arbeitslosigkeit als Freizeit104 zu nutzen. So schilderte Engelmann, dass er sich entschied, während des Arbeitslosengeldbezugs mit Freunden Skifahren zu gehen. Er wollte die von Arbeit freie Zeit gestalten und nutzen: „Trotz dieser allgemeinen Misere wollten wir aber unser junges Leben weiterführen. [….] Wir konnten doch mit Sicherheit annehmen, daß es zu keiner Vermittlung kam. [….] Es war Winter und wir wollten Skilaufen.“105 Er adressierte die Zeit der Beschäftigungslosigkeit als potenzielle Freizeit, da sie von der regulären Arbeitszeit als Beschäftigter unterschieden war. Die beschäftigungslose Zeit als Freizeit zu bezeichnen, war für Engelmann mithin nur durch den Arbeitslosengeldbezug möglich. Ein anderes Beispiel ist jenes der „Gelegenheitsarbeiten“. Als zusätzliches Einkommen neben dem Arbeitslosengeld wurden kleine Erwerbsarbeiten zu „Pfuscharbeiten“ (Schwarzarbeit), welche andernfalls als Erwerb gelten würden. Engelmann führte beispielsweise aus: „Mein Vermittler [am Arbeitsamt, I. V.] konnte mir nicht helfen. Ich probierte es selbst […], konnte aber nicht einmal eine Hilfsarbeiterstelle erhalten. Darauf begann ich in meiner Umgebung kleinere Pfuscharbeiten […,] was immer sich bot, zu suchen, um etwas Geld zu verdienen.“106 Arbeitslos zu sein bedeutete für Engelmann demnach nicht, nicht zu arbeiten. Vielmehr bezeichnete sich Engelmann als arbeitslos, da er keine formale

102 103 104 105 106

Ebd. Steinlechner, Entwurf, S. 221. Safrian, Wir ham, S. 233. Ebd., S. 40. Ebd., S. 48.

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Beschäftigung in seinem erlernten Beruf finden konnte. Franz Engelmann bezeichnete sich auch nicht einfach als Arbeitslosengeldbezieher, sondern als arbeitsloser Werkzeugmacher.107 Er durfte aufgrund seiner Berufsausbildung erwarten, andere Tätigkeiten vermittelt zu bekommen als Personen, die keinen Lehrabschluss hatten. Über diesen zogen die Vermittler/innen Rückschlüsse auf seine Fähigkeiten und Fertigkeiten. „Es war Ende April beim Stempeln in der Thaliastraße. Mein Vermittler fragte mich so nebenbei als ich ihm meine Karte reichte: ‚Als Werkzeugmacher müßtest du eigentlich auch drehen können‘. ‚Ja freilich‘ antwortete ich ‚drehen, fräsen, schleifen, hobeln, alles kann ich‘. ‚Na dann geb’ ich dir eine Zuweisung, geh’ gleich hin, vielleicht wirst du aufgenommen!‘“108 Obschon Engelmann als Arbeitsloser vorübergehend nicht in seinem Beruf tätig war, verstand er sich durch den Berufsabschluss weiterhin als berufszugehörig und wurde auch vom Amt in dieser Weise verwaltet und adressiert.109 Der Beruf konstituierte in diesem Sinn nach formalen Kriterien ein „persönliches Merkmal“,110 auf welches sich arbeitslos gewordene Berufsträger/innen weiterhin beziehen konnten und das die Wertigkeit zwischen Arbeiten weiterhin bestimmte. So betonte Engelmann, nachdem er die ihm zugewiesene, von ihm als Hilfsarbeiterstelle beurteilte Beschäftigung111 aufgenommen hatte: „Also bei dieser Revolverarbeit würde ich nur so lange bleiben, bis ich eine andere Arbeit irgendwo im Werkzeugbau gefunden habe.“112 Über die Lehre konnten, nach absolvierter Lehrzeit, auch erste Versicherungsansprüche in der Krankenkasse und auf Arbeitslosengeld erworben werden. Auch darin zeigt sich, dass die Ausdifferenzierung von Berufsarbeit mit Arbeitslosigkeit eng verbunden war. Der Zugang zu Berufsarbeitsverhältnissen über die Lehre stand Männern eher offen als Frauen. Für Frauen war die Möglichkeit einer Lehrausbildung in der Zwischenkriegszeit auf sehr wenige Branchen und Bereiche eingeschränkt.113 Die meisten Frauen verrichteten Hilfsarbeiten in männlich dominierten Berufsbranchen, waren in Haushalten oder in der Landwirtschaft tätig. Häufig konnten sie daher auch keine Ansprüche auf Arbeitslosengeld erwerben und traten dementsprechend auch seltener mit der Industriellen Bezirkskommission bzw. dem Arbeitsamt in Kontakt.

107 108 109 110 111 112 113

Ebd., S. 58. Ebd. Zimmermann, Arbeitslosigkeit, S. 97. ILO, Die Methoden, S. 58. Engelmann, Ohne Titel, S. 59. Ebd., S. 60. Leichter, Die Entwicklung, S. 39.

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Eine dominierte Orientierung im Spektrum der Arbeit (linker Pol der Achse) zeichnet sich dadurch aus, dass die Protagonist/innen niemals Kontakt zu den Einrichtungen der Industriellen Bezirkskommission oder der Landesarbeitsämter hatten, in einigen Fällen jedoch zu öffentlichen Dienstvermittlungsstellen. Da sie primär im Haushalt oder in der Landwirtschaft beschäftigt waren, also keine berufliche Arbeit (in der dominanten Orientierung) verrichteten, hatten sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Auch Erzählungen von Protagonist/innen, die (noch) einer Schulausbildung oder einem Studium nachgingen, weisen in dieser ersten Dimension eine dominierte Orientierung auf. Schüler/innen und Student/innen hatten, ebenso wie mithelfende Angehörige und Dienstbot/innen, keinen Lehrabschluss, also auch keine Versicherungszeiten und keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Allerdings war eine längere Schulausbildung oder ein längeres Studium auch eine Möglichkeit, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden.114 Bei Mithilfen und im Dienst (zum linken, dominierten Pol der Dimension hin) war nicht das formelle Erlernen eines Berufs, sondern das Lernen durch die Erfahrung und „das Tun“ wichtig. Es handelt sich dabei also um ein, im Vergleich zur Lehre, wenig formalisiertes (An-)Lernen. Das beschrieb etwa Hanna Konrad, deren Erzählung in dem bereichsdominierten Spektrum extrem positioniert ist. Sie schrieb: „Ich sagte mir selbst, das muß ich alles lernen. […] Omali lernte mir zuerst Socken stricken, […]. Der Heurechen hatte auch schon auf meine Handerl gewartet. Ich habe alle landwirtschaftlichen Arbeiten gelernt.“115 Hanna Konrad beschrieb ihre Tätigkeiten am Hof sowohl als Arbeit als auch als Mithilfe. Formal beschäftigt war Hanna Konrad nie. Arbeitsämter wurden von den Protagonist/innen, deren Erzählungen im bereichsdominierten Spektrum der Dimension (zur linken Seite der Achse) positioniert sind, nicht oder selten genutzt – vorrangig deshalb, weil sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatten. Aber auch als Arbeitsvermittlung wurden die Ämter von diesen Personen eher selten in Anspruch genommen. Hanna Konrad erzählte, im Kontrast zu Engelmann und Steinlechner, nicht davon, dass sie, wenn sie ihren Posten oder ihre Stelle verlor, Arbeit suchte. In ihrer Autobiografie schilderte sie stattdessen Wechsel zwischen unterschiedlichen Dienststellen und Haushalten. „Ich bekam einen anderen neuen Posten. […] Ich kam wieder zu einem Bauern. […] dann mußte ich wieder etwas anderes suchen,“ schrieb sie. Die häufigen Stellenwechsel von Dienstbot/innen waren, wie Jessica Richter beschreibt, oftmals Anlass von behördlichen und polizeilichen Maßnahmen, die darauf ausgerichtet waren, die Mobilität von Dienstbot/innen einzuschränken. Die Wechsel werden von Historiker/innen auch als eine der 114 Pawlowsky, Arbeitslosenpolitik, S. 120. 115 Konrad, Lebensgeschichte, S. 3.

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wenigen Möglichkeiten der im Dienst Stehenden bewertet, um sich gegen schlechte Dienstverhältnisse zur Wehr zu setzten.116 Stellenwechsel waren mithin Vieles, aber offiziell nicht mit dem Satus der Arbeitslosigkeit verbunden. Wenn Konrad ihre Stelle oder ihren Posten verlor oder verließ, stellte sie das eher als individuelles Problem dar und nicht als strukturelles, wirtschaftlich bedingtes Problem. Die Krise, die sie rückblickend thematisierte, war nicht jene der Massenarbeitslosigkeit, sondern ihr persönliches Leid: „Mit dem Kind hatte ich oft gar keinen Verdienst, nur das Essen und die Nächtigung. Die Bauern haben die Dienstboten ausgenützt wo es ging. […] Mit minderwertigen Fetzen mußte man sich zufrieden geben und durfte keine Ansprüche stellen.“117 Die Haus- und Landwirtschaften, in denen Hanna Konrad tätig war, kannten offiziell keine Arbeitslosigkeit, da sie das Problem des Arbeitsmangels, wie einleitend beschrieben, nicht kannten.118 Der Verlust eines Postens oder einer Stelle wurde im Falle von Dienstbot/innen in der Regel eher als Mangel ihrer Fähigkeit, sich den Gewohnheiten der Dienstgeber/innen anzupassen, gewertet.119 Sie galten daher auch nicht als „arbeitslos“, sondern, wie Topalov am Beispiel Frankreichs darstellt, als „stellenlos“ oder „herrschaftslos“.120

Zweite Dimension: Der Haushalt Die normgebende Referenz in der zweiten Dimension (rechts außen in Abbildung 2) bildet das Leben im bürgerlichen Familienhaushalt. Dieser beschreibt einen Lebenszusammenhang, der als legitimer Versorgungskontext anerkannt war, sowohl von den Familienmitgliedern selbst als auch von den Behörden. Der Familienhaushalt bezeichnet das Zusammenleben der leiblichen Kinder mit ihren (verheirateten) Eltern, die nicht nur für das Wohl ihrer Kinder sorgten, sondern auch für ihre Ausbildung aufkamen.

116 117 118 119 120

Richter, Brüchigkeit, S. 97. Konrad, Lebensgeschichte, S. 19. Gschliesser, Die öffentlichen Arbeitsnachweise, S. 150–155. Uranitsch, Grundsätze, S. 409; Wierling, Mädchen für alles, S. 76. Topalov, The Invention, S. 497.

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Abb. 2: Haushalt (Ctr-Hilfsgrafik der zweiten Dimension). © I. V.121

Die Inanspruchnahme der durch die Eltern gebotenen Sorgeleistungen sowie die Art und der Umfang, in dem Sorgeleistungen genutzt wurden, war von der sozialen Position der Herkunftsfamilie abhängig. Das bürgerliche Milieu konnte die im Rahmen eines Familienhaushalts zugesicherten Sorgeleistungen, wie die Weitergabe von Besitz und Erziehungsleistungen zwischen den Generationen, 121 Erklärung: Die Interpretation der Hilfsgrafiken wird in der Einleitung dieses Bandes genauer erläutert. Die vertikale Achse zeigt den Beitrag der Modalität zur Konstitution der Achse (Ctr) die horizontale deren Position im Spektrum. In der Grafik sind die Wolke der Beobachtungseinheiten und die Wolke der Modalitäten simultan dargestellt. Die Kreuze zeigen die Positionen der in der ersten Dimension überdurchschnittlich wichtigen Modalitäten und Beobachtungseinheiten des Samples. Beschriftet sind Modalitäten und Beobachtungseinheiten, die nach dem Ctr-Kriterien besonders wichtig sind und/oder Extrempositionen einnehmen. Modalitäten in ( ) bedeuten: „trifft nicht zu“. Sind die Modalitäten unter „“ gesetzt, bedeutet dies, dass der/die Erzähler/in das Wort im Text verwendet.

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am besten regeln.122 Jene Protagonist/innen, die nach eigenen Angaben in diesem Milieu aufwuchsen, konnten durch die Sorge des Elternhauses am ehesten höhere Bildung realisieren und nahmen diese Möglichkeit auch am ehesten wahr. Das ermöglichte es ihnen wiederum, zum Erhalt der sozialen Position der Familie beizutragen.123 Die Erzählung von Godfried Stieber von Stürzenfeld,124 Sohn eines höheren Bahnbeamten125 und dessen Ehefrau, der „Tochter eines sehr reichen Gastwirtes“,126 beschreibt diese dominante Extremposition im Spektrum der zweiten Dimension des Haushalts. Er besuchte bis zu seinem 19. Lebensjahr, im Jahr 1938, ein Privat-Internat und wurde in dieser Zeit durch sein Elternhaus erhalten. Stiebers Vater war selbst Sohn eines „Stationsvorstands“127 und hatte ein Realgymnasium besucht.128 Nach Abschluss weiterer Dienstprüfungen bei der Bahn war er seinem Vater – Stiebers Großvater – nachgefolgt und hatte sich als höherer Bahnbeamter etabliert, eine Option, die auch Godfried Stieber offen gestanden hätte, die er jedoch zugunsten eines „höheren Studiums“ ausschlug.129 Stiebers Mutter „besorgte den Haushalt“.130 Die Bedeutung, die der Erwerbsarbeit und der Ausbildung des Vaters zukam, die Beschreibung der Mutter als Hausfrau sowie die Erzählungen über die schulischen Leistungen des Protagonisten als Kind sind wesentliche Aspekte davon, wie die einzelnen Mitglieder in den bürgerlichen Familienhaushalt integriert waren und welche Sorge ihnen durch diesen zukam. In diesem Haushaltsmodell galt der Vater als Familienernährer, wodurch die Mutter von der außerhäuslichen Erwerbsarbeit „freigestellt“ werden sollte, um die Pflege der Kinder und die Führung des Haushalts zu übernehmen. Ihre eigenen Pflichten definierten die Kinder bürgerlicher Familienhaushalte über ihre Schulleistungen. Nicht jede/r konnte und wollte Versorgungsleistungen durch einen Familienhaushalt nutzen. Das war zum Beispiel der Fall, wenn, wie bei Ernest Steinlechner, der Vater die Fürsorge nicht leisten wollte131 (Steinlechners Erzählung nimmt in der Dimension eine Extremposition ein), oder wenn die Eltern mittellos waren, wie im Fall von Franz Kals oder Leopold Sekora, oder bereits tot, wie 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131

de Singles, Die Familie, S. 19. Gestrich, Geschichte der Familie, S. 88. Stieber, Das war mein Leben, S. 5. Ebd. Stieber, Biographie, S. 1. Stieber, Das war mein Leben, S. 5. Ebd., S. 9. Ebd., S. 12. Stieber, Biographie, S. 1. Steinlechner, Entwurf, S. 168.

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im Fall von Aloisia Gosch. Leopold Sekora etwa wurde im Alter von fünf Jahren von seiner Mutter ins Kinderheim gebracht132 und von dort mit vierzehn Jahren an eine Lehrstelle „abgegeben“133, die nicht nur für „Kost und Unterkunft, sondern auch für die Bekleidung“134 aufkam, da die Mutter den Unterhalt nicht garantieren konnte. Die Nutzung öffentlicher Unterkünfte wie Asyle und Herbergen steht im schärfsten Kontrast zum Leben im Familienhaushalt, sie zeigt ein Fehlen an Versorgung im Familienhaushalt. Diese Einrichtungen sollten nur im Ausnahmefall und temporär zur Sicherung von Grundbedürfnissen (insbesondere das Wohnen) beitragen, konnten aber kein Ersatz für einen dauerhaften Lebenszusammenhang wie den Familienhaushalt sein, der nicht nur Essen und Wohnen absicherte, sondern darüber hinaus auch Bildung und Status versprach. Ernest Steinlechner erzählte, dass er nach seiner Rückkehr von der Front 1918 weder einen stabilen Wohnort noch einen Verdienst finden (bzw. behalten) konnte: „Obdachlos wie ich war, kam ich in die Nächtigungsstation für Kriegsinvalide in Innsbruck in der Klosterkaserne. Das Unglück, Elend und die Krankheit waren meine ständigen Begleiter.“135 Sein (Zieh-)Vater starb in diesem Jahr und seine Mutter war kränklich und auf seine Hilfe angewiesen.136 Einen eigenen Familienhaushalt beschrieb er in dieser Situation als ein persönliches Ziel, das er nicht erreichen konnte: Alles, was mir bisher Freude bereitete, ist jetzt für mich verloren – das Heim, das ich mir nach Beendigung des Krieges gründen wollte, ist sehr in Frage gestellt, wenigstens in dem idealen Sinne, in dem ich mir das vorstellte, das Verlangen nach den Freuden, denen jeder Mann mit großer Erwartung entgegensieht, eine Frau, Kinder und ein glückliches Familienleben.137

Später war Steinlechner sechs Jahre lang auf Wanderschaft. Er schlief in unterschiedlichen Herbergen, kam bei Bauern unter, lebte immer wieder vorübergehend bei Arbeitgeber/innen in Kost und Logis und nützte Wohlfahrts- und Heilanstalten als Unterkünfte. Selbst einem Gefängnisaufenthalt konnte er als Möglichkeit, „auf billige Weise zu Verpflegung und Quartier“138 zu kommen, etwas Positives abgewinnen.

132 133 134 135 136 137 138

Sekora, Daheimbleiben, S. 235. Ebd., S. 236. Ebd., S. 236. Steinlechner, Entwurf, S. 217. Ebd., S. 198. Ebd., S. 210. Ebd., S. 257.

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Im Vergleich zum Leben ohne Haushalt, das Steinlechner schilderte, ist der „Anschluß an fremde Haushalts- bzw. Wohneinheiten“139 als Pflegekind, Dienstbot/in oder Bettgeher/in in dem konstruierten Spektrum eher neutral positioniert. Wer dauerhaft in fremden Haushalten lebte und zu diesen beitrug, konnte auch in diesen einen rechtlich mehr oder weniger abgesicherten Status erlangen und an diese Haushalte legitime Versorgungsansprüche stellen. Solche Verbindlichkeiten, etwa gegenüber Dienstgeber/innenhaushalten oder Haushalten von Pflegeeltern, konnten jedoch nur aufgrund temporär eingegangener Verpflichtungen eingefordert werden. Entsprechendes beschrieb Anna Prath. Sie wuchs, wie Steinlechner, als Pflegekind bei Verwandten auf.140 Ihre Sorgeansprüche an den Haushalt der Pflegeeltern legitimierte sie über ihre „Arbeitskraft“, die sie in den Haushalt einbrachte: Nun begann es in der Landwirtschaft an Arbeitskraft zu fehlen. […] Ich mußte mit den drei jüngeren Geschwistern [Cousinen] […] im Haus bleiben, auf sie Acht geben, das Essen wärmen […] und die Tiere, soweit es uns möglich war, versorgen. […] Ich lernte so die Not an Arbeitskräften kennen und dass auch die Kleinarbeit, wenn sie mit Liebe und Verstehen gemacht wird, großen Nutzen hat.141

Anna Prath lebte in der Folge auf unterschiedlichen Gutshöfen. 1936 heiratete sie,142 lebte mit ihrem Mann jedoch weiterhin in Landarbeiterbarracken. 1937 wurde Anna Praths Sohn geboren, dessen Pflege sie sich bis 1938 widmete.143 Sie schaffte es zu dieser Zeit, anders als Steinlechner, gemeinsam mit ihrem Mann, ein Leben im Familienhaushalt zu arrangieren, in welchem sie als Mutter und Hausfrau bis 1938 zur Versorgung und Erziehung ihres Sohnes im Haushalt tätig war und keiner außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachging.

Das zweidimensionale Feld: Die Lebensunterhalte Die beiden ersten Dimensionen des konstruierten Feldes, Arbeit und Haushalt, deren Merkmale ich vorab als eindimensionale hierarchische Spektren dargestellt habe, konstituieren gemeinsam das zweidimensionale Feld der Lebensun-

139 140 141 142 143

Ehmer, Wohnen, S. 134. Feistritzer (Hg.), Freud’, S. 13. Ebd., S. 17–18. Ebd., S. 121. Ebd., S. 120.

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terhalte (Abbildung 3).144 Die Dimension der Arbeit wird in diesem durch die horizontale Achse dargestellt, die Dimension des Haushalts durch die vertikale Achse. Die Orientierungen in dem konstruierten Feld sind, ebenso wie in den einzelnen Dimensionen, hierarchisch aufeinander bezogen und werden über ihren primären Bezug auf die erste Dimension, die Arbeit, und den sekundären Bezug auf den Haushalt definiert. Modalitäten und Beobachtungseinheiten, die nahe einer der beiden Achsen liegen, werden durch die Variation in dieser Dimension umfassender erklärt. Nahe der vertikalen Achse finden sich daher Merkmale und Beobachtungseinheiten, die in Bezug auf die Dimension der Arbeit neutral sind. Nahe der horizontalen Achse liegen Merkmale und Beobachtungseinheiten, die in Bezug auf die Dimension des Haushalts neutral sind. Um die Diagonalen zwischen den beiden Achsen liegen Modalitäten und Beobachtungseinheiten, die durch beide Dimensionen gleichermaßen bestimmt sind und damit die Synthese zwischen den beiden ersten Dimensionen, Arbeit und Haushalt, am besten beschreiben. Im Nullpunkt des konstruierten Feldes, um seinen Schwerpunkt herum, schlagen die Orientierungen um. Hier finden sich Lebensunterhalte, die hinsichtlich der möglichen Orientierungen in der Fläche neutral positioniert sind. Zur Beschreibung der Orientierungen im Feld ziehe ich jene Modalitäten und Beobachtungseinheiten heran, welche im von den beiden Achsen aufgespannten Feld145 überdurchschnittlich gut repräsentiert sind.146 Die dominante Referenz in dem zweidimensionalen Feld beschreibt die Synthese einer dominanten Orientierung auf Berufsarbeitsverhältnisse (1. Dimension) und einer dominanten Orientierung auf den Familienhaushalt (2. Dimension). Sie konstituiert die in der Struktur des zweidimensionalen Feldes legitimste Art, den Lebensunterhalt zu bestreiten: das Bestreben, ein Fortkommen durch Berufsarbeit zu finden, eine Karriere zu verwirklichen (Orientierung nach rechts oben in Abbildung 3). Am eindeutigsten positioniert sind in dieser Richtung die Erzählungen von Frau O. und von Lilly Lösch. Die beiden Interviews wurden in den 1980er und den späten 1990er Jahren geführt. Beide Protagonistinnen formulierten in den Interviews den Anspruch, sich in und durch ihre Berufsarbeit mittels einer dauerhaften Beschäftigung gesellschaftlich zu etablieren und durch den Beruf nicht nur einen gesicherten Lebensunterhalt, sondern

144 Die ersten beiden Dimensionen erfassen gemeinsam 30% der Gesamtvarianz der Punktwolken. 145 Entsprechend dem cos², d. i. die Maßzahl für den relativen Beitrag der beiden Achsen zur Punktvarianz; vgl. Mejstrik, Felder, S. 185. 146 Le Roux/Rouanet, Multiple Correspondence Analysis, S. 29.

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auch Erfüllung und Arbeitsfreude zu erfahren. Sie strebten eine Berufslaufbahn bzw. eine Karriere in einem für Frauen „passenden“ Berufsfeld an. Die Fürsorgerin Frau O. (rechts oben in Abbildung 3) erzählte im Interview, dass sie „immer schon den Sozialberuf angestrebt“147 hatte, zu dem sie sich ob ihres „Gespürs“148 berufen fühlte. Dass Frau O. einen Beruf im Sozialbereich anstrebte, ist dabei kein Zufall. Pflegerische, soziale und pädagogische Berufe wurden auch über die den Arbeitsämtern eingegliederten Berufsberatungsstellen als „gehobene Frauenberufe“149 kodifiziert und etabliert. Lilly Lösch formulierte ähnlich wie Frau O, dass sie durch ihr „Verwirklichungsstreben“150 eine angesehene Position im Berufsleben erreichen konnte. Sie beschrieb ihre diversen Tätigkeiten im Interview rückblickend als Stationen einer „Berufslaufbahn“151 und vermittelte damit, dass sie in ihrem Beruf vorwärts kam. Die Nutzung von Arbeitsämtern stand dazu nicht im Widerspruch. Mit Berufsarbeit verbundene Versicherungsleistungen erlaubten es auch in der Arbeitslosigkeit, am Beruf festzuhalten, also eine Kontinuität im Beruf herzustellen. Trotz Vorbehalten gegenüber dem Arbeitsamt, die von Lilly Lösch vorgebracht wurden, war die Inanspruchnahme der Versicherungsleistungen nach dem Verlust des Arbeitsplatzes für sie selbstverständlich. Sie erzählte, dass sie sich arbeitslos melden „musste“.152 Das Arbeitslosengeld bot ihr vorübergehend finanzielle Sicherheiten und konnte als offizielles Einkommen in erwerbslosen Zeiten gewertet werden. So konnte Lösch berufsfremde Lebensunterhalte vermeiden. Durch das Arbeitslosengeld hatte sie eine stabile Berufs- und Lebenssituation hergestellt und sich eigenständig erhalten. Die im Kontrast dazu stehende dominierte Flächenorientierung (in der Abbildung 3 links unten) beschreibt abhängige Unterhalte. Sie lässt sich als Mangel und Vermeidung des Fortkommens im Beruf interpretieren. Hanna Konrads Geschichte beschreibt diese dominierten Unterhalte am eindeutigsten. Sie fand als Pflegekind am Hof ihres Onkels, im Dienst und als potenzielle Ehefrau in unterschiedlichsten Haushalten ihren Lebensunterhalt. Zwischen 1926 und 1938 wechselte sie dreizehn Mal ihren Wohnort und damit auch den Ort und die Art ihres Lebensunterhalts. Sie „kam zu einem Bauern“153, war „im Dienst“154, hatte 147 O., Interview, Sieder, ‚Zur alltäglichen Praxis‘, S. 10. 148 Ebd., S. 13. 149 Am Beispiel der Schweiz und mit Bezug auf die Bestrebungen der ILO schildert das beispielsweise Angehrn, Arbeit am Beruf, S. 130. 150 Lösch, Interview, S. 26. 151 Ebd., S. 21. 152 Ebd., S. 24. 153 Konrad, Lebensgeschichte, S. 18. 154 Ebd., S. 16.

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einen „Posten“155 inne oder fand „etwas Neues“.156 Ihre Lebensunterhalte funktionierten nicht als Beschäftigung oder Beruf und waren, im Gegensatz zur Berufslaufbahn, durch Instabilität gekennzeichnet Die öffentlichen Arbeitsämter erfüllten für sie daher andere Funktionen als für jene, die ein Fortkommen durch den Beruf suchten. Die Nutzung von öffentlichen Dienststellenvermittlungen, um eine „Aufnahme in den Haushalt“157 oder am Hof zu finden, war für Hanna Konrad mangels anderer Möglichkeiten (z. B. privater Kontakte) alternativlos. Die Funktion der Arbeitsämter unterschied sich für Konrad deshalb nicht von der gewerblicher Vermittlungen. Ich klopfte an eine Tür, wurde eingelassen und gefragt, was ich möchte. Ich sagte meinen Wunsch und mir wurde ein Fragebogen in die Hand gedrückt, wohin und woher, so vieles war zu schreiben. Ich stand bei einem Pult und habe geschrieben, so gut ich mich auskannte. Auf einmal klopfte mir jemand auf die Schulter. Es war eine fesche Frau und sie fragte mich, was ich da mache. ‚Ausfüllen‘, war meine Antwort. Die Frau sagte: ‚Lassen Sie den Papierkrieg‘ und schmiß meinen Bogen weg. […] ‚Kommen Sie, ich lade Sie auf ein Mittagessen ein und wir fahren zum Starnberger Bahnhof. Dort kaufen wir eine Zeitung und schauen da wegen einem Posten.‘158

Neben der dominanten und dominierten Orientierung im Feld sind in der zweidimensionalen Fläche eine prätentiöse und eine skeptische Orientierung auszumachen.159 Eine prätentiöse Orientierung bildet die Synthese einer dominanten Orientierung auf Berufsarbeitsverhältnisse in der ersten Dimension und einer dominierten Orientierung in der zweiten Dimension (rechts unten in Abbildung 3). Die Prätention beschreibt das Bemühen darum, einen Beruf und einen eigenständigen, anerkannten Verdienst zu finden, um nicht von anderen abhängig zu sein, weder von einem Familienhaushalt noch von öffentlichen Unterstützungssystemen. Es wird also eine berufliche, formalisierte Beschäftigung angestrebt, der Bezug des Arbeitslosengeldes jedoch so gut wie möglich vermieden, da die Betroffenen nicht mit den Vorurteilen gegen Arbeitslose, wie Arbeitsscheu und Müßiggang, assoziiert werden wollen. Es ist dies der Versuch, sich selbst zu erhalten bzw. den „Lebensunterhalt selbst [zu] verdienen“, wie der Schneidergeselle Joseph Winkler schrieb, der in dem Feld eine prätentiöse Orientierung einnimmt.160 Josef Winkler verzichtete beispielsweise zu Beginn auf seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und auf Sorgeleistung im Familienhaus155 156 157 158 159 160

Ebd., S. 19. Ebd., S. 18. Uranitsch, Grundsätze, S. 410. Konrad, Lebensgeschichte, S. 27. Mejstrik, Totale Ertüchtigung, Bd. 2, S. 571; Wadauer, Tour, S. 106. Winkler, Ohne Titel, S. 10.

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halt und ging stattdessen auf Wanderschaft: „Hier bleiben und Stempeln gehen, wie man den Bezug der Arbeitslose damals nannte, wollte ich nicht.“161 Das Arbeitslosengeld zu beziehen, erschien ihm „gar nicht richtig“162, denn „Stempeln gehen, das heißt zur Kontrolle [gehen]“.163 Auch Ernest Steinlechner, dessen Erzählung in dem Feld eine prätentiöse Orientierung beschreibt, betonte, dass die „meisten Arbeitslosen, besonders Familienväter, […] ordentlich bezahlte Arbeitsgelegenheit der Arbeitslosenunterstützung“164 generell vorgezogen hätten. Eine solche Kritik an der „Unterstützungsmentalität“ jener, die sich am Amt meldeten, lag auch in der Angst vor Stigmatisierung als arm oder als Müßiggänger begründet.165 So meldete sich beispielsweise Josef Winkler während seiner Wanderschaft beim Gemeindeamt, um dort eine Schlafstätte zu finden. Als er jedoch erfuhr, dass die Heimatgemeinde im Rahmen der Armenfürsorge für die Übernachtung bei einer fremden Gemeinde aufkommen musste, sah er davon ab und zog weiter.166 Aus Winklers Perspektive bot die Wanderschaft im Gegensatz zum Arbeitslosengeld die Möglichkeit, von öffentlichen Unterstützungsleistungen unabhängig zu bleiben und während der Arbeitssuche, die er als wandernder Schneidergeselle betrieb, weiterhin eigenständig den Lebensunterhalt zu bestreiten. Dabei bezog er sich auf handwerkliche Traditionen. „Das war ja auch der Zweck der Wanderschaft, verschiedene Werkstätten kennen zu lernen“.167 Die Wanderschaft wurde von ihm als Abenteuer erzählt, das jene, die anderswo nach Arbeit suchten und für sich selbst sorgen wollten, von denen unterschied, die zu Hause blieben und dort Arbeitslosengeld bezogen. Sich trotz der Arbeitslosigkeit selbst zu erhalten, ohne öffentliche Einrichtungen und Leistungen in Anspruch zu nehmen, stellte er als „absolute Freiheit“168 und Unabhängigkeit dar. Die Wanderschaft war aber auch eine Möglichkeit, nach dem Arbeitslosengeldbezug weiterhin berufsbezogene, offizielle Unterstützungen in Anspruch zu nehmen.169 So schrieb Franz Kals, dass er sich nach dem Verlust des Arbeitslosengeldes dazu entschloss, auf Wanderschaft zu gehen: „Ich bezog dann bis April oder Mai die Arbeitslosenunterstützung und gleich nach den Osterfeierta-

161 162 163 164 165 166 167 168 169

Ebd., S. 14. Ebd., S. 78. Ebd., S. 72. Steinlechner, Entwurf, S. 227. Winkler, Ohne Titel, S. 78. Ebd., S. 21. Ebd., S. 73. Ebd., S. 75. Wadauer, Establishing Distinctions, S. 51.

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gen ging ich auf Wanderschaft. Ich hatte schon immer die Absicht gehabt, die Welt kennen zu lernen.“170 Dieser Versuch, sich selbst zu erhalten, konnte auch leicht scheitern. Anton Ferganter, der ebenfalls eine prätentiöse Orientierung im Feld einnimmt, erzählt vom Ringen darum, „Hindernisse“171 zu überwinden: „Stets das Ziel vor Augen: Nicht untergehen, nach oben schwimmen.“172 Und auch Winkler war auf der Wanderschaft nicht nur als Schneidergeselle tätig, sondern kombinierte unterschiedliche Einkünfte, die er selbst in der Summe eher als reines „Erwerbsgeschäft“173 denn als Berufsarbeit wertete. Die Wanderschaft, die für ihn Freiheit und Unabhängigkeit bedeutete, brachte einen Mangel an Kontinuität im Beruf mit sich und stand damit einer Berufslaufbahn entgegen, wie sie Frau O. anstreben und verwirklichen konnte. Eine skeptische Orientierung bildet die Synthese einer dominierten Orientierung in der ersten Dimension und einer dominanten auf den Familienhaushalt in der zweiten Dimension (in Abbildung 3 links oben). Sie beschreibt den Unterhalt jener, die durch und im Familienhaushalt erhalten wurden und damit nicht nur Berufsarbeit, sondern auch Arbeitslosigkeit und einen Kontakt zum Arbeitsamt vermeiden konnten. Wichtiger als die öffentlichen Einrichtungen und die eigenständige Erwerbsarbeit waren für diese Protagonist/innen die Übertragung der familiären Ressourcen der Eltern auf ihre Kinder, beispielsweise durch potenzielle Erbansprüche oder Möglichkeiten der Betriebsübernahme. Hier findet sich die Erzählung des Bauernsohns Leopold Kandler, der am Hof der Eltern seinen Lebensunterhalt fand, eine Landwirtschaftsschule174 besuchte und bis 1938 niemals unselbstständig erwerbstätig war. Er beschrieb sich als einen „gut in Praxis und Schule ausgebildeten Jungbauern,“175 der in der „Familienwirtschaft“176 mitwirkte, um als Bauernsohn später die Familienwirtschaft führen zu können. „Am Hof herrschte für uns Kinder ein von der Mutter geführtes, ziemlich strenges, autoritäres Regime. Erst bei Arbeitsantritt trat der Vater in die Rolle des Lehrherrn. […] Manchmal versprach er mir in seiner Verlegenheit das Haus. Das heißt, ich würde sein Nachfolger werden.“177

170 171 172 173 174 175 176 177

Kals, Mein Lebenslauf, S. 23. Ferganter, Der lange Weg, S. 1. Ebd. Messner, Die Berufsständische Ordnung, S. 9. Kandler, Die Bichlbauernleute, S. 19. Ebd., S. 102. Ebd., S. 163. Ebd., S. 19.

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Abb. 3: Feld der Lebensunterhalte (Zweidimensionale Punktwolke). © I. V. 178

Die Orientierungen entlang der Diagonale beschreiben das Feld der Lebensunterhalte als Synthese der beiden ersten Dimensionen am besten. Ich möchte jedoch auch auf die Orientierungen entlang der Achsen in dem zweidimensionalen Feld eingehen.

178 Die Wolke der Beobachtungseinheiten und die Wolke der Modalitäten sind simultan dargestellt. Die Kreuze zeigen die Positionen von Beobachtungseinheiten (Texten) und Modalitäten, die durch die beiden wichtigsten Dimensionen der Struktur der Wolken überdurchschnittlich gut erklärt werden (entsprechend dem cos²). Modalitäten in ( ) bedeuten „trifft nicht zu“. „“ bedeutet: Der Ausdruckwird von der/dem Autor/in verwendet. Doppelt unterstrichene Modalitäten weisen ein 6-fach überdurchschnittliches cos² auf. Einfach unterstrichene Modalitäten weisen ein 5-fach überdurchschnittliches cos² auf. Nicht unterstrichene Modalitäten weisen mindestens ein 3-fach überdurchschnittliches cos² auf. Je heller die Modalitäten abgebildet sind, desto weniger gut sind sie in der Fläche repräsentiert. Die grauen Modalitäten weisen ein 2-fach überdurchschnittliches cos² auf. Die Beobachtungseinheiten sind fett gedruckt.

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Die Kombination einer dominanten Orientierung entlang der Achse der ersten Dimension und einer neutralen Orientierung hinsichtlich der zweiten Dimension (rechter Pol der ersten Dimension in der Fläche) beschreibt in der Fläche arbeitslose Lebensunterhalte. Sie werden am besten durch die Erzählung Engelmanns repräsentiert, die bereits einleitend im Kontext der ersten Dimension erläutert wurde. Für Engelmann war es ebenso selbstverständlich wie für Lilly Lösch, den Anspruch auf Arbeitslosengeld am Amt geltend zu machen. Es gelang ihm aber nicht, eine Berufslaufbahn herstellen, wie Lilly Lösch dies rückschauend für sich in ihrem Interview tat, da ihm die Unterstützung durch den Haushalt fehlte. Stattdessen kombinierte er unterschiedlichste Einkünfte und Notbehelfe, darunter auch das Arbeitslosengeld, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Den Kontrast zu arbeitslosen Unterhalten beschreibt die Orientierung auf eine Haushaltsintegration bzw. die Absenz von Beruf und Lohnarbeit (am linken äußeren Rand des konstruierten Spektrums der Achse der ersten Dimension). Sie konstituiert Lebensunterhalte, die auf der Integration in (fremden) Haushalten basieren, welche den dort Lebenden einen eigenständigen Unterhalt garantieren. So berichtete Therese Halasz, deren Erzählung hier am eindeutigsten positioniert ist, dass sie bis zu ihrer eigenen „Hausstandsgründung“179 als Dienstbotin in regelmäßigen Abständen ihren Posten wechselte, um „möglichst vieles kennenzulernen.“180 Sie suchte sich jeweils neue Haushalte, durch die sie sich in unterschiedlichen Positionen ihren Lebensunterhalt sicherte. Die Kombination einer dominanten Orientierung entlang der Achse der zweiten Dimension und einer neutralen Orientierung hinsichtlich der ersten Dimension (am oberen Rand der vertikalen Achse der zweiten Dimension) beschreibt in der Fläche den Status des „Student/innenlebens“. Das sind Lebensunterhalte von Personen, die sich noch nicht eigenständig erhalten wollten und stattdessen einer höheren Ausbildung nachgingen. Diese Orientierung weisen Kinder aus bürgerlichen Familienhaushalten auf, wie etwa Godfried Stieber. Im Kontrast zum Student/innenleben stehen Gelegenheitsunterhalte (am unteren Rand der vertikalen Achse der zweiten Dimension) als Kombinationen von Aushilfen und mehr oder weniger legalen Einkünften in der Landwirtschaft, im Gewerbe oder im Dienst. Diese Orientierung wird am eindeutigsten durch die Erzählung von Marie Moser repräsentiert. Sie fand ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, als Pflegekind, als Schneiderin, Störerin181 und als 179 Halasz, Erinnerungen, S. 3. 180 Ebd., S. 3. 181 Die „Stör“ bezeichnete Arbeiten, die von Gewerbetreibenden im Hause des Kunden verrichtet wurden.

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Magd. Diese Lebensunterhalte beschrieb sie als Notwendigkeit zum Überleben, da sie sonst keinerlei Einkünfte hatte: Dann im zweiten Winter wurde ich auch arbeitslos. Man bekam aber kein Geld vom Staat wie heute, sondern ich stand ohne jede Hilfe da. Das war die nackte Not, von einem Tag auf den andern. Auch mein Ausbeuter hatte keine Gelegenheitsarbeiten. Was tat man? Man mußte buchstäblich betteln gehen. Und das tat ich auch. Mit einer Tasche ging ich bei Bauern fragen, ob sie mich als Störschneiderin brauchen könnten. Die Antwort war oft ein ‚Nein‘. Und das ging einen Winter lang so dahin. Ich weiß heute nicht mehr, wie man alles überlebte.182

Resümee: Wirkungsweisen der öffentlichen Arbeits(losen)ämter Ich habe in diesem Beitrag die Wege zum Arbeitsamt aus drei unterschiedlichen Perspektiven dargestellt: Die einleitenden Ausführungen zu den politischen Zielen der Ausgestaltung der Ämter und zu ihrer Administration183 habe ich durch die Erzählungen zur Nutzung der Arbeitsämter durch Arbeitssuchende ergänzt. Damit wird nicht nur der in der Forschung zur Arbeitsvermittlung vorherrschende Fokus auf ihre programmatischen Ziele der Vermittlung184 überwunden, sondern auch deutlich, wie der Zugang zum Arbeitsamt und dessen Nutzung einerseits die Ausgestaltung der Ämter und andererseits die Sichtweisen der dort Registrierten auf ihre Lebenssituation, ihren Lebensunterhalt und ihre Erwerbsstrategien prägten. Die Analyse der Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung ermöglicht es damit, sich der praktischen Wirkung der Ämter auf die Normalisierung von Arbeit und Nicht-Arbeit anzunähern. Die Untersuchung beschränkt sich jedoch nicht auf die Erzählung jener Personen, die sich beim Arbeitsamt registrierten. Vielmehr habe ich systematisch auch die Erzählungen jener Menschen einbezogen, die die Ämter nicht nutzten, obwohl sie das hätten tun können. Durch den Vergleich der unterschiedlichen Stellungnahmen kann ich zeigen, für wen es sinnvoll war, sich bei einem Arbeitsamt zu registrieren und welche Gründe und Situationen dazu führten, dass Menschen das Arbeitsamt mieden oder von vornherein in anderer Weise ihren

182 Moser, Traum von Menschlichkeit, S. 360. 183 Roloff, Strömung des Sozialen; Buchner, Orte der Produktion. 184 Vgl. etwa Krempl, Zäsuren der österreichischen Arbeitsmarktverwaltung, S. 35; Hülber, Der geschichtliche Werdegang.

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Lebensunterhalt zu bestreiten suchten. So wird deutlich, dass die Kritik am Arbeitsamt überwiegend von jenen Arbeitssuchenden formuliert wurde, die sich bei den Arbeitsämtern meldeten, nicht von jenen, die es mieden. Diese Kritik prägte das in der Zwischenkriegszeit dominante Bild vom Arbeitsamt als „Stempelamt“ bzw. als rein anweisende Stelle mit. Die Überlegungen zur praktischen Wirkung der Ämter werden im Folgenden unter zwei Gesichtspunkten nochmals zusammenfassend reflektiert. Erstens will ich die Wirkung der Ämter auf die Sichtweisen von Nicht-Arbeit, Arbeit und Lebensunterhalten sowie auf Möglichkeiten herausstellen, den Lebensunterhalt zu gestalten. Zweitens will ich diese Erkenntnis in Bezug zur Entstehung der sozialstaatlichen Einrichtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzen und die Rolle der Arbeitsämter in diesem Zusammenhang reflektieren. Wie im Vergleich der Ego-Dokumente deutlich wird, war für die Nutzung der Ämter entscheidend, wie die dort Registrierten vor und während ihrer Arbeitslosigkeit ihren Lebensunterhalt fanden. Wichtigster Referenzpunkt war die „entsprechende Beschäftigung“. Die vorangegangene Beschäftigung erlaubte es den beim Amt Registrierten, Arbeitslosengeld zu beziehen, sie ermöglichte damit die „bezahlte Nicht-Arbeit“185 bzw. Arbeitslosigkeit. Sie prägte aber auch die Erwerbsmöglichkeiten und die Tätigkeiten außerhalb des Erwerbsverhältnisses. Diejenigen, die zuvor einer beruflichen Erwerbsarbeit nachgegangen waren, kategorisierten ihre Tätigkeiten in Bezug auf die Arbeitslosigkeit als Gelegenheitsarbeit, „Pfusch“ (Schwarzarbeit) und Aushilfstätigkeit. Im Kontrast zu diesem beruflichen Erwerbsarbeitsverhältnis standen in der ersten Dimension Mithilfen und der Dienst. Solche Tätigkeiten erscheinen als Mangel an Beruflichkeit. Sie wurden überwiegend von Frauen ausgeübt und waren nicht in die Versicherungspflicht einbezogen. Das Spektrum zeigt mithin eine auch im heutigen System sozialer Absicherung vorherrschende Stratifikation durch die Formalisierung erwerbsbezogener Ansprüche. Die zweite Dimension des Feldes zeigt, dass nicht nur ein fehlender Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung Anlass zur Vermeidung der Arbeitsämter gab. Auch die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zusammenhang des Haushalts (zweite Dimension) begründeten, wie öffentliche Ämter genutzt oder eben auch gemieden wurden. Das Versorgt-Sein durch einen Haushalt ermöglichte es, etwa durch die Verlängerung der Ausbildung, den Kontakt zum Arbeitsamt zu vermeiden. Dienststellenvermittlungen wurden vor allem von jenen genutzt, die keine Sorgeleistungen durch ihren Fa-

185 Conrad, Was macht eigentlich, S. 574.

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milienhaushalt in Anspruch nehmen konnten und sich als Bedienstete in fremde Haushalte begaben. Das Arbeitslosenversicherungsgesetz sah vor, dass erwerbsfähige Personen ihren Lebensunterhalt primär durch die eigene Erwerbsarbeit und die darüber erworbenen Ansprüche sichern sollten oder, wenn die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts (noch) nicht möglich war, diese durch den Familienhaushalt garantiert sein sollte. Arbeit und Haushalt konstruierten also, wie auch die Struktur des konstruierten Feldes der Lebensunterhalte zeigt, eine neue hierarchische Ordnung von Lebensunterhalten im Sozialstaat. Diese Ordnung begründet ein neues Verhältnis zu den öffentlichen Einrichtungen, die durch die Versicherungsansprüche verstärkt zur Sicherung des Lebensunterhaltes genutzt werden konnten186 und damit zu wichtigen Institutionen des Sozialstaats wurden. Am Beispiel des Arbeitsamts manifestiert sich daher nicht nur die Rolle der Lohnarbeit für die Konstitution des Sozialstaats187, sondern auch die Hierarchie zwischen Lebensunterhalten, die im Kontext des Sozialstaats durchgesetzt wurden. Erst durch die gemeinsame Wirkung dieser beiden wichtigsten Institutionen wird deutlich, wie eine „Berufslaufbahn“188 als legitimste Form, den Lebensunterhalt zu bestreiten, verwirklicht werden konnte. Der vorübergehende Bezug des Arbeitslosengeldes ermöglichte es, auf anerkannte und legitime Weise den Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne im Fall des Arbeitsplatzverlustes berufsfremde Arbeiten annehmen zu müssen. Das brachte Kontinuität im Beruf, ein Anspruch, der jedoch nur mit entsprechender (Aus-)Bildung und mit Rückhalt durch den Familienhaushalt realisiert werden konnte. In dem Zusammenhang tritt vor allem die neue Funktion des Amtes zur Sicherung des Lebensunterhalts in den Vordergrund. Die Kehrseite davon, die gleichzeitige Kontrollmöglichkeit des Amtes über die Lebensunterhalte der Arbeitslosengeldbezieher/innen189, begründete die ambivalente Haltung der Arbeitslosen zum Arbeitsamt und zu dessen Nutzung. Sie erklärt, warum vor allem jene, die länger am Amt registriert waren und auch für die Arbeitsvermittlung auf das Amt angewiesen waren, dieses kritisch sahen und nach Alternativen suchten. Der Vergleich unterschiedlicher Arten der Arbeitssuche und der verschiedenen Wege, bei Arbeitsplatzverlust den Lebensunterhalt zu bestreiten, zeigt daher zugleich, dass trotz der Bedeutung, die den öffentlichen Arbeitsämtern für die Durchsetzung von Berufsarbeiten und für die Konstitution des Sozialstaats zukommt, auch andere Einrichtungen, die Arbeitsvermittlung anboten, wie jene 186 187 188 189

Walters, Unemployment, S. 36. Conrad, Was macht eigentlich, S. 558. Lilly Lösch, Interview, S. 21. Vana, ‚Eingereiht in die große Schlange‘, S. 112.

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der Innungen, in Österreich nicht obsolet wurden.190 Sie wurden durch die Etablierung staatlicher Einrichtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht marginalisiert, sondern nahmen andere Funktion wahr als die öffentlichen Arbeitsämter, wie am Beispiel der Wanderschaft deutlich wird. Sie wirkten daher ebenso wie die öffentlichen Arbeitsämter an der Herstellung eines beruflich differenzierten, auf das gesamte Staatsgebiet bezogenen Arbeitsmarkts mit, an der Durchsetzung von beruflicher Erwerbsarbeit, dem Konzept der Berufslaufbahn, sowie der Herstellung von Arbeitslosigkeit im Kontext des entstehenden Sozialstaates.

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Anhang Die konstruierte Erhebungstabelle umfasst insgesamt 67 Beobachtungseinheiten, welche durch 355 Fragen mit 1.029 möglichen Antworten charakterisiert werden. Mittels einer spezifischen Multiplen Korrespondenzanalyse habe ich die Distanzen zwischen den einzelnen Modalitäten berechnet. Von den Antwortmodaltäten habe ich bei der Berechnung der Distanzen im Raum 862 berücksichtigt. Die restlichen Antwortmodalitäten habe ich supplementär gesetzt.

Jessica Richter

Eigenartige Arbeitskräfte Die Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst (Österreich 1918–1938) Die Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst begannen keineswegs erst Ende des 19. Jahrhunderts. Allerdings nahmen sie genau zu dieser Zeit (wieder) an öffentlicher Sichtbarkeit und Vehemenz zu. Politiker/innen, religiöse, karitative und politische Vereinigungen, Interessenorganisationen, Behörden und Gerichte, Dienstgeber/innen und Hausgehilfinnen rangen verstärkt darum, wie der häusliche Dienst verrechtlicht, geregelt und praktiziert werden sollte. Die so genannte „Dienstbotenfrage“ beschäftigte politische und öffentliche Debatten, äußerte sich in privaten oder medial breit diskutierten Klagen wie auch in stillem oder laut verkündetem Protest und setzte sich in Rechtsstreitigkeiten und Behördenverfahren fort. Sie führte die mal gewünschten und verteidigten, mal kritisierten und bekämpften Diskrepanzen zu anderen Einkommensmöglichkeiten vor Augen und verwies auf die sich veränderten Praktiken des Dienstes, denen sich Zeitgenoss/innen kaum verschließen konnten. In den Anfangsjahren der Ersten Republik fanden die vielfältigen Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst, die Gegenstand dieses Beitrags sind, in Gesetzesänderungen Niederschlag. Diese trugen in der politischen Konstellation nach Ende des Ersten Weltkriegs einigen der Forderungen Rechnung, die Hausgehilfinnen1, deren Organisationen und manche Sozialdemokratinnen 1 Im Folgenden verwende ich die Bezeichnung „Hausgehilfe“/„Hausgehilfin“ für einwohnende häusliche Bedienstete, da dies dem zeitgenössischen Sprachgebrauch entspricht. Mitlebende, meist familienfremde Arbeitskräfte auf Bauernhöfen nenne ich „landwirtschaftliche Dienstboten“ bzw. „Dienstbotinnen“, obwohl sie zumindest in den Landarbeiterordnungen der Hinweis: Dieser Beitrag stellt die Ergebnisse des fünften Kapitels meiner Dissertation (vgl. Richter, Produktion, S. 287–419) in gekürzter Form dar. Ich danke Sigrid Wadauer für die Betreuung und Ausbildung im Projekt „The Production of Work“, die zu den hier vorgestellten Ergebnissen geführt hat. Alexander Mejstrik danke ich für forschungspraktische und technische Instruktionen, sowie für fortgesetzte Unterstützung. Eine weitere Beschäftigung mit dem Gegenstand dieses Aufsatzes wurde mir am Institut für Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten, im an den „Forschungsverbund Migration“ des „Forschungsnetzwerks Interdisziplinäre Regionalstudien (first)“ angegliederten Projekt „Überleben in der ‚Krisenzeit‘ 1914–1950 – Brennpunkt Migration“ ermöglicht. Dafür danke ich Ernst Langthaler und Ulrich Schwarz-Gräber. Das Projekt wurde durch das Forschungs-, Technologie- und Innovationsstrategie-Programm des Landes Niederösterreich gefördert. https://doi.org/10.1515/9783110781335-003

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schon lange erhoben hatten. Das bundesweite Hausgehilfengesetz von 1920 ersetzte die Dienstbotenordnungen in seinem Gültigkeitsbereich, das heißt zunächst in Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohner/innen. Am Ende der Monarchie hatten allein in der westlichen Reichshälfte noch 24 verschiedene Ordnungen gegolten, die sich je auf einzelne Kronländer oder die Hauptstädte erstreckten. Mit den Dienstbotenordnungen fiel auch die Polizeigerichtsbarkeit: Anstelle der Polizei waren nun die ordentlichen Gerichte, ab 1929 die Gewerbegerichte für Streitigkeiten aus Dienstverhältnissen zuständig. Dienstbücher, die nicht nur Ausweisdokumente für Dienstbot/innen gewesen waren, sondern auch bisherige Stellen und deren Dauer dokumentiert sowie Bewertungen des Verhaltens enthalten hatten,2 wurden mit der Gesetzesänderung 1920 und der Ausweitung des Hausgehilfengesetzes auf kleine Gemeinden im Jahr 19263 ebenfalls abgeschafft. Darüber hinaus regelte das neue Gesetz die Lohnzahlung (auch im Krankheitsfall), Fragen der Verpflegung und Unterkunft und setzte Ruhezeiten, Urlaub und die Entlohnung von Überstunden fest. Ab 1922 waren Hausgehilfinnen außerdem in die gesetzliche Krankenversicherung der Arbeiter/innen einbezogen.4 Neben den Dienstverhältnissen von Hausgehilfinnen wurden auch jene landwirtschaftlicher Dienstbot/innen und Landarbeiter/innen durch die zwischen 1921 und 1926 länderweise erlassenen Landarbeiterordnungen gesetzlich neu bestimmt. Wie die Tätigkeiten häuslicher Dienstbot/innen waren auch ihre

1920er Jahre als „Landarbeiter“ bezeichnet wurden. Zum einen war die Unterscheidung von mitlebenden und nicht mitlebenden Erwerbstätigen wichtig. Zum anderen wurden Knechte und Mägde sowohl umgangssprachlich als auch in vielen amtlichen Dokumenten weiterhin „Dienstboten“ genannt. Wenn nicht direkt auf die amtliche Bezeichnung rekurriert wird, verwende ich „Hausgehilfin“ in der weiblichen Form, da diese Tätigkeiten fast ausschließlich Frauen ausführten. 2 Sigrid Wadauer untersucht die vielfältigen Auseinandersetzungen um Identitätsdokumente wie Dienstboten- und Arbeitsbücher und stellt deren variierende Gebrauchsweisen heraus. So sahen viele Zeitgenoss/innen in den Dokumenten Symbole klassenspezifischer Ausbeutung. Manche Dienstbot/innen aber wussten sie im eigenen Interesse zu nutzen oder fälschten ihre Bücher sogar. Viele andere entledigten sich der Dokumente, wenn sie für sie nachteilige Eintragungen enthielten. Vgl. Wadauer, Kategorisierung. 3 1926 wurde der Gültigkeitsbereich des Gesetzes auch auf Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohner/innen ausgeweitet. Vgl. StGBl. 1920/101, § 1 sowie BGBl. 1926/72. 4 Bollauf, Dienstmädchen-Emigration, S. 25. Dass sich gerade in der Zwischenkriegszeit häusliche Dienste auch außerhalb von Österreich massiv veränderten, zeigen einige Beiträge des 2015 erschienenen Sammelbandes Towards a Global History of Domestic and Caregiving Workers. Vgl. dazu zusammenfassend Neunsinger, Domestic Service, S. 389–399.

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Tätigkeiten vorher durch die Gesindeordnungen geregelt worden.5 Die obligatorische Krankenversicherung wurde 1922 auf Landarbeiter/innen ausgedehnt; sie blieb in den Folgejahren allerdings umkämpft und konnte erst 1928 mit dem Landarbeiterversicherungsgesetz (LAVG) auf eine stabilere, bundesweite Grundlage gestellt werden.6 Sogar Sozialdemokrat/innen bewerteten diese Gesetze als Meilenstein – als längst fällige Veränderung überkommener Verhältnisse.7 Aber gleichzeitig kritisierten sie die Regelungen als unzureichend und ambivalent. Hausgehilfinnen standen nun beispielsweise Ruhezeiten zu (neun Stunden nachts und zwei Stunden tagsüber); feste Arbeitszeiten wurden aber nicht festgelegt. 13 Stunden am Tag blieben entsprechend als zulässige aktive Zeit übrig. Diese Dauer wurde häufig überschritten, da niemand die Einhaltung des Gesetzes kontrollierte.8 Ebenso blieben Hausgehilfinnen (genauso wie Landarbeiter/innen und ländliche Dienstbot/innen) von der Arbeitslosenversicherung ausgenommen. Zwar hatten Hausgehilfinnen nun Anteil an manchen Errungenschaften der Arbeiter/innenbewegung, doch wurden sie nicht mit anderen Lohnarbeiter/innen gleichgestellt. Viele Zeitgenoss/innen, unter anderem christlichsoziale Politiker/innen, sahen im häuslichen Dienst eine mindere Erwerbsmöglichkeit, die sich grundsätzlich von regulären Arbeitsverhältnissen unterschied – und unterscheiden sollte. Die Tatsache, dass fast ausschließlich Frauen häusliche Dienste erbrachten9 und diese als genuin ‚weibliche‘ Tätigkeiten wahrgenommen wurden, galt in der geschlechtshierarchisch strukturierten österreichischen Gesellschaft als Argument für die Minderbewertung auch des häuslichen Diensts. In Relation zu Männern erfuhren die Erwerbstätigkeiten von Frauen Geringschätzung, die sich beispielsweise in Lohnunterschieden oder Differenzen sozialer Absicherung zeigte. Wurden Frauen aufgrund angeblicher naturgegebener Eigenschaften und Fähigkeiten weithin als prädestiniert für Haus- und Familienarbeit anstelle von Wirtschaft und Beruf imaginiert, blieb ihnen der Zugang zu regulärer Erwerbsarbeit vielfach verwehrt.10

5 Internationales Arbeitsamt, Gesamtarbeitsvertragswesen; Internationales Arbeitsamt, Arbeitsvertragsrecht. 6 Bruckmüller, Soziale Sicherheit, S. 69–74. 7 Heß-Knapp, Hausgehilfengesetz, S. 18; Platzer, Hausgehilfin, S. 161. 8 Leichter, Erhebung, S. 738. Nach dieser Erhebung des Referats für Frauenarbeit der Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte (Leiterin: Käthe Leichter) arbeiteten über die Hälfte der Befragten länger als 14 Stunden, ca. 10% sogar länger als 16 Stunden am Tag. 9 Nach der Volkszählung von 1934 waren 98,5% der als „niederes Hauspersonal im Haushalt“ Tätigen Frauen. Vgl. Bundesamt für Statistik, Volkszählung Bundesstaat Textheft, S. 164. 10 Boschek, Frauenarbeit; Hausen, Polarisierung; Leichter, Frauenarbeit; Vana, Arbeitslose Männer.

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Mit den Gesetzesänderungen führten die Auseinandersetzungen um den Dienst zu einem vorläufigen Ergebnis – wenngleich sie dadurch auch nicht aufhörten. Und sie berührten Fragen, die über die gesetzliche und behördliche Regulierung und Formalisierung des Dienstes weit hinausgingen. Sogar das „Wesen“, der „Charakter“ der Dienstverhältnisse stand zur Disposition: Was war der Dienst überhaupt und in welchem Verhältnis stand er zu anderen Erwerben und Lebensunterhalten? Waren Hausgehilfinnen Arbeitskräfte oder abhängige Haushaltsmitglieder? Gehörten sie zur Familie oder waren sie Fremde? Diese Fragen wurden auch in der Zwischenkriegszeit nicht endgültig entschieden und sie sind es bis heute nicht.11 Aber die gesetzlichen Regelungen kodifizierten einen neuen Stand dieser Auseinandersetzungen, was diese wesentlich veränderte. Kurz: Sie waren offiziell Teil der Konflikte und Debatten um Arbeit und Beruf, die Gegenstand dieses Sammelbandes sind.12 Während dies für den häuslichen Dienst in Österreich kaum erforscht ist, existiert international eine Fülle an Forschungsarbeiten, die aber meist nur auf bestimmte Aspekte und Beteiligte fokussieren. Forscher/innen untersuchten etwa Kämpfe und Kampagnen für die Ausweitung von Arbeiter/innenrechten auf Hausgehilfinnen oder politische Proteste und Interventionen von Hausgehilfinnen (Streiks, Leserinnenbriefe an Zeitungen etc.) in verschiedenen Teilen der Welt. Dabei wurden auch die Perspektiven etwa von Wissenschaftler/innen oder Dienstgeber/innen im jeweiligen historischen Kontext angesprochen.13 Eine systematische Erforschung der Vielfalt dieser oft isoliert betrachteten Perspektiven und Praktiken, ohne welche die Geschichte hauswirtschaftlicher Dienste nicht zu erfassen ist, kommt dabei jedoch insgesamt zu kurz. Zu dieser Geschichte trugen nicht nur scheinbar bemerkenswerte Ereignisse, Proteste, herausragende Organisationen (wie Gewerkschaften) oder öffentliche bzw. politische Debatten bei, sondern ebenso das, was Dienstgeber/innen und Hausgehilfinnen alltäglich taten, wie sie miteinander interagierten, stritten oder sich arrangierten. Und auch Behörden, Gerichte, Organisationen sowie alle anderen,

11 Dazu lohnt ein Blick auf einige der sozialwissenschaftlichen Studien, die in den letzten drei Jahrzehnten über die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Migrantinnen angefertigt wurden, die in Europa und den USA als Haushaltsarbeiterinnen bezahlt tätig sind. Vgl. etwa Anderson, Doing the Dirty Work; Lutz, Weltmarkt. Einen guten Überblick über die historische und sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft der letzten 50 Jahre gibt Sarti, Historians. 12 Vgl. dazu Buchner/Hoffmann-Rehnitz, Introduction, S. 23 f.; Mejstrik/Wadauer/Buchner, Editorial; Wadauer, Der Arbeit nachgehen?; Wadauer, Establishing Distinctions; Wadauer, Tour; sowie die Einleitung von Wadauer in diesem Band. 13 Vgl. exemplarisch Delap, Knowing, S. 7 f.; Lokesh, Making the Personal Political; Palmer, Domesticity, S. 111–135; Hutchison, Problem; oder hinsichtlich der langen Geschichte derzeitiger Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen Boris/Fish, Decent Work.

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die in der einen oder anderen Weise mit hauswirtschaftlichen Diensten befasst waren, definierten, regelten und organisierten diese mit. Sie alle waren an den Auseinandersetzungen um die Dienste beteiligt, wenn auch unterschiedlich mächtig und daher mit ungleichen Möglichkeiten ausgestattet, sich durchzusetzen. Mit meiner Arbeit möchte ich einen Beitrag zum Verständnis dieser Auseinandersetzungen leisten. Dazu habe ich für das Österreich14 der Zwischenkriegszeit einen Möglichkeitsraum konstruiert: Es gab viele Weisen, den Dienst zu praktizieren und ihn zu beschreiben. Die wichtigsten dieser Möglichkeiten, wie sie in überlieferten Quellen zum Tragen kommen, habe ich systematisch und kontrolliert erhoben und miteinander verglichen. Wie wurden sie hierarchisiert? Welche (Un-)Ähnlichkeiten lassen sich beobachten? Als Materialien für das Sample habe ich Selbstzeugnisse, politische und literarische Quellen und offizielle Dokumente – Erzählungen, Berichte, Kommentare usw. – nicht nur über häusliche Dienste, sondern auch über andere Erwerbe, Lebensunterhalte, landwirtschaftliche Dienste und Mithilfen erhoben. Die Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Lebensunterhalten waren sowohl vor dem Ersten Weltkrieg als auch in der Zwischenkriegszeit vielfach uneindeutig.15

Konstellationen der Lebensunterhaltsorganisation in Selbst-/Erzählungen von Hausgehilfinnen und Dienstbot/innen Selbstzeugnisse und lebensgeschichtliche Aufzeichnungen16 eignen sich gut für eine Erforschung der Tätigkeiten von Hausgehilfinnen. Ihnen kann man entnehmen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gab, den Dienst zu praktizieren. Darüber hinaus geben sie einen Einblick in die Vielfältigkeit der Dienste,

14 Bei den Hausgehilfinnen liegt der Schwerpunkt auf Wien, wo während der Ersten Republik ca. die Hälfte aller Hausgehilfinnen tätig waren. Vgl. Bundesamt für Statistik, Volkszählung Bundesstaat Textheft, S. 168. Aber auch Hausgehilfinnen in anderen Städten und ländlichen Gegenden wurden einbezogen. 15 Vgl. hierzu Richter, ‚Domestic Service‘, S. 492–500; Richter, Produktion, Kapitel 4. 16 Lebensgeschichtliche Aufzeichnungen ehemaliger Hausgehilfinnen, Knechte und Mägde sind in der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien (im Folgenden: DOKU) für die Forschung zugänglich, vgl. Müller, Dokumentation. Ich danke Günter Müller (DOKU), dass er mir in den letzten Jahren mit Rat, Tat und Quellen zur Seite gestanden ist.

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sprechen Ähnlichkeiten mit und Übergänge zu anderen Erwerben an und ermöglichen es zu untersuchen, wie die Autor/innen landwirtschaftliche und hauswirtschaftliche Dienste, andere Erwerbstätigkeiten und Lebensunterhalte über längere Zeiträume kombinierten. Hausgehilfinnen und Dienstbot/innen wechselten ihre Stellen häufig,17 und Selbstzeugnisse berichten detailliert von solchen Bewegungen weg vom und zurück in den Dienst, zwischen Diensten und anderen Erwerben in Stadt und Land. Bei der Zusammenstellung des Samples war daher für mich eine Maximierung von Kontrasten maßgeblich: Ich habe Texte zu unterschiedlichen Lebensunterhalten zeitweilig Bediensteter, zu verschiedenen Kombinationen unterschiedlicher Möglichkeiten eines Auskommens sowie Texte ehemaliger haus- und landwirtschaftlich Beschäftigter verwendet. Darüber hinaus müssen die Merkmale und Besonderheiten der Quellen in die Untersuchung einbezogen werden. Die lebensgeschichtlichen Texte sind meist Jahrzehnte nach dem Erlebten entstanden, dienen unterschiedlichen Zwecken, sind aus verschiedenen Anlässen verfasst worden, richten sich an unterschiedliche Leser/innenkreise oder verknüpfen Erfahrungen und Situationen mit später Erlebtem, mit durchgesetzten Wertmaßstäben oder mit Meinungen und Erzählungen anderer.18 Sie orientieren sich an literarischen Stilen und Vorbildern. All dies wird in den Texten nur zum Teil explizit angesprochen, erschließt sich den Leser/innen ohne eine systematische Untersuchung aber kaum.19 Allgemeiner und grundsätzlicher: Wie alle Autor/innen von Selbstzeugnissen und/oder Erinnerungstexten stellen auch die Verfasser/innen von lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen ihr Selbst und das Leben, über das sie schreiben, aktiv her: Ob sie es wollen und wissen oder nicht, sie ordnen, lassen aus, produzieren (Dis-)Kontinuität, unterscheiden und verbinden Lebensphasen, während die Autor/innen andere Zeitabschnitte und Erlebnisse außen vor lassen. Sie straffen, betonen, ignorieren, vergessen, selektieren, konstruieren Zusammenhänge aus ihrer gegenwärtigen Perspektive – einfach um überhaupt zusammenhängend erzählen zu können.20 Sigrid Wadauer plädiert daher für einen systematischen Vergleich solcher Materialien, der nicht nur die dargestell17 Langhans-Sulser, Dienstboten-Frage, S. 3–5; Schwechler, Hausdienstboten, S. 25 sowie Bochsler/Gisiger, Dienen, S. 175; Todd, Domestic Service, S. 197. 18 Manche der Autor/innen der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen verfassen immer wieder Erinnerungstexte und treffen sich zu regelmäßigen Gesprächskreisen, um Erinnerungen und Erlebnisse auszutauschen und zu diskutieren. 19 Exemplarisch dazu Assmann, Erinnerungen, S. 7; Derenda, Leben schreiben; Hämmerle, Nebenpfade?, S. 149; Koenker, Autobiography, S. 379–381; Wadauer, Tour, S. 65–71. Zur Forschung mit Tagebüchern siehe Gerhalter, Tagebücher; Gerhalter, Tagebuch. 20 Bourdieu, Die biographische Illusion, S. 75–81.

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ten Praktiken, sondern auch die Modi der Darstellung aufnimmt: Formale Merkmale von Texten (Stil, Wortwahl, angesprochene Referenzen, Motive, Adressat/innen etc.) müssen Gegenstand der Untersuchung sein. So lässt sich verstehen, wie bestimmte Bedeutungen beim Erzählen, Berichten, Kommentieren hergestellt werden und worauf die Texte Bezug nehmen.21 Daher, aber auch um andere Darstellungen des Dienstes in Relation zu den lebensgeschichtlichen Texten einordnen zu können, habe ich weitere Materialien zur Konstruktion des Samples verwendet: (Fall-)Geschichten und Artikel aus den Publikationen von Parteien und Interessenverbänden, einen biografischen Text, eine Serie von Dienstzeugnissen sowie ein Theaterstück. Die autobiografischen Aufzeichnungen habe ich darüber hinaus mit anderen Selbstzeugnissen ergänzt, nämlich mit einem Tagebuch, Interviews22 und Briefen. Insgesamt besteht mein Sample aus 41 Texten23, die ich in 351 Abschnitte unterteilt habe. Einerseits wollte ich dargestellte Lebensphasen (etwa: die Zeit in einer bestimmten Dienststelle) direkt miteinander vergleichen. Anfang und Ende dieser Lebensabschnitte orientieren sich daran, wie sie die Autor/innen selbst in ihren Texten konstruieren – beispielsweise indem sie Zäsuren setzen („1923 begann der Ernst des Lebens.“ „1929 trat ich in einen neuen Posten an.“) Andererseits untersuchte ich, welche Lebensunterhalte und Haushaltskonstellationen in den beschriebenen Lebensverläufen aufeinanderfolgen. In diesem Beitrag werde ich mich aber auf den ersten Punkt konzentrieren, den Vergleich der Textabschnitte bzw. der erzählten Lebensphasen. An jeden Textabschnitt habe ich dieselben Fragen gestellt und die Antworten kodiert. Die Fragen fungieren somit als Variablen, die Antworten als Modalitäten des Samples. Die Textabschnitte stellen die Beobachtungseinheiten dar. Fragen beziehen sich unter anderem auf die erwähnten Tätigkeiten, Haushalte, Arbeitszusammenhänge, Personen, Lebensunterhalte und Vergütungen, Werkzeuge/Arbeitsmittel, Emotionen sowie Arbeits- und Lebensbedingungen. Darüber hinaus frage ich nach Text-, Erzähl- und sprachlichen Merkmalen, um Inhalte und Formen der Texte über ihre Relationen zueinander zu beschreiben. Jeder Textabschnitt im Sample ist also durch ein Set von Merkmalen charakterisiert (sowie umgekehrt jedes Merkmal durch ein Set von Textabschnitten), anhand derer sich die Abschnitte (sowie umgekehrt die Merkmale) vergleichen

21 Wadauer, Tour, S. 67 f., 74. 22 Die Interviews wurden für die Publikation Grinninger/Mayr, Geschichte, geführt und sind im Archiv Soziale Bewegungen in Oberösterreich überliefert. 23 Die Briefe sowie die Dienstzeugnisse, die den Werdegang jeweils einer dargestellten Person in mehreren Texten dokumentieren, werden zusammengenommen als ein Text gezählt. Dabei beschreibt jedes Dienstzeugnis ein anderes Dienstverhältnis.

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lassen. Um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Abschnitten (respektive den Merkmalen) bestimmen zu können, habe ich mein Sample spezifischen Multiplen Korrespondenzanalysen unterzogen. Deren wichtigsten Ergebnisse (die beiden ersten Dimensionen) werde ich verwenden, um im Folgenden meinen zweidimensional konstruierten Forschungsgegenstand, den Raum der Lebensunterhalte in Haus und Hof, im Überblick und detailliert zu beschreiben.24

Erste Dimension: Wirtschaften Die erste Dimension erfasst die wichtigste lineare Differenzierung zwischen Merkmalen bzw. Textabschnitten: Sie beschreibt Unterschiede und Ähnlichkeiten im Wirtschaften (vgl. Abbildung 1) zum Zwecke des Lebensunterhalts. Möglichkeiten, sich ein Auskommen, Einkommen oder einen Unterhalt zu organisieren, gab es viele: Formalisierte Erwerbsarbeits- und Angestelltenverhältnisse, Beamtendienste, selbstständige Existenzen, Dienste und so genannte Mithilfen in Haus und Hof, Eigenproduktion, von anderen erhalten zu werden oder (mehr oder weniger) legale und illegale, legitime oder illegitime Tätigkeiten wie Betteln und Schwarzarbeiten. In der Zwischenkriegszeit mit ihren wiederkehrenden ökonomischen Krisen waren die Lebensunterhalte vieler Menschen (oder auch: ihr Wirtschaften25) immer wieder prekär und gefährdet. Schon diese Unsicherheit machte es immer wieder notwendig, neue Wege zum Lebensunterhalt zu finden und Ressourcen, Beziehungen und Kontakte dafür zu mobilisieren. Einige dieser unterschiedlichen Lebensunterhalte habe ich in mein Sample aufgenommen und miteinander verglichen – nämlich all jene, denen die Protagonist/innen der Textabschnitte26 vor oder nach einer Zeit im Dienst nachgingen.

24 Vgl. die Einleitung für diesen Band. Meine Verwendungsweise von Korrespondenzanalysen orientiert sich an den Forschungsarbeiten von Alexander Mejstrik. Vgl. Mejstrik, Kunstmarkt; Mejstrik, Felder. 25 Ich verwende die Bezeichnung „wirtschaften“ in Anlehnung an Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs aus der Zwischenkriegszeit, in denen Unterschiede zwischen „Wirtschaftseinheiten“ (Haushalten, Betrieben etc.) mit hergestellt wurden, über die wiederum Differenzierungen zwischen Beschäftigten definiert wurden. Vgl. dazu Richter, Produktion, S. 258– 266. 26 Ich schreibe von Protagonist/innen, um einerseits zu verdeutlichen, dass nicht nur Erinnerungstexte in den Vergleich der Quellen einbezogen wurden. Andererseits konstruieren auch Autor/innen von Selbstzeugnissen ihr eigenes Ich und machen dieses zur/zum Protagonist/in der eigenen Erzählung.

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Somit fächert diese erste und wichtigste Dimension jene Praktiken im Sample auf, die auf den Lebensunterhalt bezogen sind. Mit Praktiken ist nie nur bewusstes oder unbewusstes, geschweige denn geplantes Handeln gemeint. Sie sind soziale Tatbestände, verwoben mit sozialen Verhältnissen, Prozessen und Kontexten und sie sind hierarchische Systeme, denen der ungleiche Zugang zu Ressourcen und der Macht, auf die Verteilung von Ressourcen Einfluss zu nehmen, inhärent ist.27 Alexander Mejstrik und Sigrid Wadauer folgend sind Praktiken außerdem mehrdimensional: Sie entfalten nicht nur einen einzigen Sinn, sie lassen sich nicht auf eine bestimmte Funktion reduzieren. Dieselben Praktiken können beispielsweise sowohl auf den Lebensunterhaltserwerb als auch auf das Familienleben gerichtet sein – sie wirken gleichzeitig in verschiedenen Subsystemen (nach Bourdieu: Feldern). Ist wie hier in diesem Abschnitt nur eine Dimension von Praktiken gemeint, spreche ich im Folgenden von „Einsätzen“ analog zur Spielmetapher, mit der Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant soziale Felder erklären: Im sozialen Spiel teilen die Spieler/innen ihren Glauben an dessen Sinn, an Gewinn- und Verlustmöglichkeiten, an die Existenz eines Regelwerks – und zwar unabhängig davon, wie weit sie die Regeln letztlich einhalten. Ausgestattet mit unterschiedlichen Ressourcen und möglichen Spieleinsätzen ringen sie um Spielpositionen. Da es sich hier aber um soziale Tatbestände handelt, ist das Spiel immer Ernst.28 Diese hierarchische Konstellation findet sich in meiner Konstruktion wieder. In der ersten Dimension unterscheiden sich die Einsätze je nachdem, wie sie auf ein Arbeitsverhältnis in einem offiziellen Sinne Bezug nehmen. Dieses war seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als legitimste Art durchgesetzt worden, den Lebensunterhalt zu organisieren. Gemeint ist die regulierte und staatlich verwaltete, vertraglich geregelte, durch Sozialversicherungen abgesicherte, kontinuierliche, außerhäusliche Erwerbsarbeit, hier vereinfacht „offizielles Arbeitsverhältnis“ genannt.29 Diese Erwerbsarbeit war an Voraussetzungen wie bestimmte verbriefte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten geknüpft. Mit ihr gingen (wenn auch oft unerfüllte) Versprechen einher, etwa auf ausreichenden Lohn, Absicherung, Dauerhaftigkeit oder Fortkommen. Und sie konnte auf die gesellschaftliche Anerkennung als einzig ‚richtige‘ Arbeit bauen.30 Je nachdem, wie (von positiv bis negativ) und wie sehr Merkmale und Textabschnitte darauf Bezug nehmen, sind sie in einem linearen Spektrum der Mög-

27 Mejstrik, Kunstmarkt, S. 136 f., 172 f. und S. 184, Fußnote 37. 28 Bourdieu/Wacquant, Ziele, S. 127 f. 29 Vgl. hierzu Vana in diesem Band sowie Vana, Gebrauchsweisen und Wadauer, Der Arbeit nachgehen? 30 Wadauer, Immer nur Arbeit?, S. 234 f.

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lichkeiten positioniert, im Haushalt oder am Hof zu wirtschaften. Die erste Dimension des Raums erlaubt es, dieses Spektrum und sein Strukturprinzip zu erfassen. Das Arbeitsverhältnis stellte die wichtigste Referenz für alle Einsätze dar: Ob sie ihm entsprechen (konnten) oder nicht, wie sehr sie sich auch dagegen sperrten, es hintertrieben oder ihm nacheiferten, in jedem Fall waren die Einsätze alle auf das Arbeitsverhältnis bezogen, wie unterschiedlich die Konsequenzen dieses Bezugs (von legitim bis zu illegitim) auch immer sein mochten. Damit gab der Bezug auf das Arbeitsverhältnis einen Maßstab für Einsätze ab – und zwar den wichtigsten, primären Maßstab, wie meine Konstruktion zeigen kann. Je nachdem, wie ähnlich zu oder wie unterschiedlich ein Wirtschaften von diesem offiziellen Arbeitsverhältnis war, wurde es bewertet und eingeordnet. Und davon hing auch ab, wie sich Protagonist/innen der Lebensgeschichten selbst zur offiziellen Referenz positionierten. Dass die gesellschaftliche Durchsetzung des Arbeitsverhältnisses die Dienste in Haus und Hof nicht unberührt ließ, war Politiker/innen bereits vor dem Ersten Weltkrieg bewusst. Als der niederösterreichische Landtag im Jahr 1910 eine neue Dienstbotenordnung für das Wiener Hauspersonal diskutierte (die bis dato gültige Ordnung hatte bereits seit 100 Jahren Bestand gehabt), konstatierten sowohl sozialdemokratische als auch christlichsoziale Abgeordnete, dass sich der Gesindedienst im Wandel hin zu einem Arbeitsverhältnis befand, der sich auch gesetzlich niederschlagen müsse. Allerdings gingen die Vorstellungen deutlich auseinander, wie dies zu geschehen habe und vor allem wie weit häusliche Dienste als Erwerbsarbeit verrechtlicht werden sollten. Während es für den christlichsozialen Berichterstatter des beratenden Gemeinde- und Verfassungsausschusses Josef von Baechlé keine Option war, „die für Lohnarbeiter geltenden Vorschriften für Dienstboten zur Anwendung zu bringen“,31 sahen Sozialdemokraten gerade in der Sonder- und Ungleichbehandlung von Dienstbot/innen im Vergleich zu anderen Erwerbstätigen den Skandal. Karl Renner, von 1918 bis 1920 der erste Staatskanzler der Republik, setzte sich in der Debatte für die Regelung des Dienstes als Lohnvertrag ein und bemängelte, dass der rechtliche Sonderstatus des Gesindes im neuen Gesetz beibehalten werden sollte. So erklärte er: Wir tun klug, wenn wir nichts anderes von dem Dienstnehmer verlangen als eine streng umschriebene Arbeitsleistung und von dem Dienstgeber nichts fordern, was er nicht leisten kann, nicht Fürsorge und Obhut, die er nicht versteht, weil er einer anderen Gesell-

31 Stenographisches Protokoll Landtag Erzherzogtum Österreich unter der Enns, 25.10.1910, S. 267.

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schaftsklasse angehört, sondern nur eine klare glatte Geldleistung und bestimmte Fürsorgepflicht durch öffentliche Institute. Mit einem Wort, das Dienstverhältnis hat sich immer mehr zu einem Arbeitsverhältnis umgewandelt. Wir stehen mitten in dieser Umwandlung und es wäre an der Zeit gewesen, das Dienstverhältnis auf die Gewerbeordnung hinüberzuführen. […] Für nichts anderes, nicht für persönliche Dienste, sondern für hauswirtschaftliche Arbeiten sollen die Rechtsverhältnisse zwischen dem einen und andern Vertragsteil geregelt werden.32

Mit ihrer Sichtweise konnten sich die Sozialdemokraten33 im Landtag nicht durchsetzen, und auch bedeutende Änderungen wurden bis nach dem Ersten Weltkrieg nicht erzielt, obwohl sich die neue Auffassung des häuslichen Dienstes zum Teil in der Namensgebung des ein Jahr später beschlossenen Gesetzes niederschlug – statt „Dienstbotenordnung“ hieß es jetzt „Dienstordnung für das Hauspersonal“.34 Die Forderungen, die sie in die Debatten einbrachten, entsprachen jenen, für die seit den 1890er Jahren neben protestierenden Hausgehilfinnen Sozialdemokratinnen35 sowie die im Jahr 1911 gegründete sozialdemokratische Hausgehilfinnenorganisation Einigkeit gestritten hatten. Für sie, wie auch für Kommunistinnen, waren Hausgehilfinnen eine besonders stark ausgebeutete Gruppe von Arbeiterinnen. Die Einigkeit betrieb daher bis zu ihrem Verbot durch die Austrofaschisten im Jahr 1934 politische Lobbyarbeit und organisierte Unterstützungsangebote wie Fortbildungskurse, Stellenvermittlung oder, als Trägerin der städtischen Stellenlosenheime des Roten Wien, auch Übernachtungsmöglichkeiten für Hausgehilfinnen.36 In meinem Sample habe ich unter anderem Abschnitte einer Fallgeschichte aus einer kommunistischen Arbeiterinnenzeitung sowie einen als Leser/innenbrief in der Verbandszeitung der Einigkeit veröffentlichten Werdegang einer

32 Ebd., S. 274. 33 Das aktive und das passive Frauenwahlrecht wurden erst in der Ersten Republik ab 1918 eingeführt. 34 Gesetz vom 28. Oktober 1911, womit für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien eine Dienstordnung für das Hauspersonal (Gesindeordnung) erlassen wird, LGuVBl. Erzherzogtum Österreich unter der Enns 1911/118. Vgl. Die neue Wiener Dienstordnung für das Hauspersonal (Gesinde-Ordnung) (= Handausgabe der österreichischen Gesetze und Verordnungen, H. 10), Wien 1911. 35 Einigkeit, Aufstieg, S. 7–9. Nach eigener Aussage ist die Initiative zur Organisation von Versammlungen und Protesten von Sozialdemokratinnen ausgegangen. Die Einbindung des häuslichen Dienstes in die Arbeiter/innenbewegung und die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen häuslicher Dienstbot/innen hatte in der österreichischen Sozialdemokratie der Jahrhundertwende insgesamt aber einen geringen Stellenwert, zudem galten häusliche Dienstbot/innen weithin als unorganisierbar. 36 Richter, Vocation, S. 249–254.

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Abb. 1: Ctr-Hilfsgrafik der ersten Dimension – der Raum des Wirtschaftens. © J. R. Legende: n. e. = nicht erwähnt; Tät. = Tätigkeiten; < = weniger als; M = Mutter; V = Vater; „“: wörtliche Nennung; kursiv: Name des/der Protagonist/in.

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Hausgehilfin aufgenommen.37 Diese offiziellen, politischen Repräsentationen des Hausgehilfinnendienstes sind von all jenen Beobachtungseinheiten die wichtigsten, die sich positiv am Arbeitsverhältnis orientieren (vgl. Abbildung 1, rechte Seite). Diese und andere Textabschnitte – etwa Dienstzeugnisse – präsentieren Annäherungen an das offizielle Arbeitsverhältnis, was sich jeweils auch in ihrer Form und der Art und Weise des Schreibens niederschlägt. Es handelt sich hierbei um extrem kurze zeitgenössische Darstellungen, die vielfach in der dritten Person erzählen.38 Sie beschreiben einen Dienst, der als Arbeitsverhältnis funktionierte bzw. von den Protagonistinnen39 der Textabschnitte als Arbeitsverhältnis praktiziert wurde. Das dominante Wirtschaften, so wie es sich in diesen (offiziellen und politischen) Textabschnitten darstellt, die es von allen Abschnitten in meinem Sample am besten umsetzen, möchte ich nun beschreiben. Wer positiv von einem Arbeitsverhältnis sprach oder schrieb, brauchte keine großen Worte, denn aus dieser Perspektive war eigentlich alles klar. Es genügte, das Arbeitsverhältnis selbst oder die Position, welche die Protagonistin im Haushalt einnahm, zu erwähnen. Beides verwies auf den festen Rahmen, den ein Arbeitsverhältnis gab: Ein klar formuliertes Berufsbild, für das durchgesetzte Standards in Hinblick auf Kenntnisse und Berufserfahrung, Vergütung, Aufgaben, Arbeitsort und Rechte und Pflichten der Arbeitsparteien existierten, die durch Gesetze geregelt, von Arbeitsmarktverwaltung oder Berufsberatung anerkannt40 oder zumindest gemeinhin akzeptiert waren. Die diesem Berufsbild entsprechende Berufsbezeichnung fasste all dessen Eigenschaften in einem Wort zusammen:41 Was etwa eine Köchin war, was sie tat und dafür bekommen musste, leisten konnte und wo sie tätig war, wusste man auch über den je konkreten Haushalt hinaus, und es gab ein gesetzliches Regelwerk, auf das sich 37 P., Leidensweg, S. 5; T., Hausgehilfin, S. 3. Alle Abschnitte beider Texte sind in dieser Orientierung überdurchschnittlich wichtig, und die meisten von ihnen gehören auch zu den wichtigsten Abschnitten. 38 Merkmale u. a.: Länge: unter zehn Zeilen; entstanden vor 1945; Verfasser/in ist nicht Protagonist/in; Schreiben in 3. Person. 39 Die Publikationen, aus denen die wichtigsten Abschnitte stammen, zielten auf eine Leserinnenschaft ab. Darüber hinaus findet sich auch die Modalität „weiblich“ in dieser Orientierung. 40 Zur Herstellung von Berufsbildern und Arbeitsstandards durch Berufsberatung vgl. beispielsweise Angehrn, Arbeit am Beruf, S. 73–85. 41 Merkmale u. a.: konkrete Tätigkeiten nicht erwähnt; Erhalt von Essen nicht erwähnt; Haushaltsstruktur nicht erwähnt; Tätigkeiten werden benannt („Dienst“, „Stelle“, „Posten“ etc.), aber konkrete Tätigkeiten nicht erwähnt; „müssen“ und „dürfen“ nicht erwähnt; Position, nicht aber Tätigkeiten erwähnt; Art des Arbeitszusammenhangs (Haushalt, Betrieb etc.) nicht erwähnt; wohnen nicht erwähnt sowie nicht beschrieben; „Köchin“.

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beide Seiten, Dienstgeber/innen und Hausgehilfinnen, berufen konnten respektive sollten. Die Erwerbstätigkeiten der Protagonistinnen waren also, zumindest idealerweise, einerseits rechtlich geordnet, andererseits waren ihre jeweiligen Positionen als Stubenmädchen, Köchin etc. fix – oder sollten dies in dieser Orientierung sein.42 Beide, Regelwerk und Stellung im Haushalt, entsprachen jenen anderer Arbeitender in derselben Position. Es gab demnach also einen Standard, nach dem sich die Arbeitsverhältnisse richteten oder richten sollten. Da in diesen Textabschnitten nur das Arbeitsverhältnis selbst Thema ist, wurden andere offizielle Lebensbereiche (wie die eigene Familie) ausgespart. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass es in dieser Perspektive getrennte Lebensbereiche gab und unter diesen auch solche, die mit dem Arbeitsverhältnis nichts zu tun hatten. Gefühlsregungen, Beschreibungen der Protagonistin oder ihres Werdegangs sowie manche Details eines konkreten Arbeitsverhältnisses (seine Dauer, die genauen Umstände des Arbeitsantritts oder andere Menschen, die am Arbeitsort lebten und/oder arbeiteten) hatten in der abstrakten Darstellungsweise ebenfalls keinen Platz.43 Entsprechend sind gerade die Merkmale „Häufigkeit der (Stellen-)Wechsel ab Schulentlassung mit 14 Jahren“ sowie „keine Selbstbeschreibung der Protagonist/in“ extrem platziert.44 Die Erwähnung solcher Details war aber auch nicht notwendig, denn die Textabschnitte stellten aus der Perspektive der Einigkeit oder mancher Kommunistinnen verallgemeinerbare Bedingungen und Probleme dar, welche die Hausgehilfinnen als

42 Spezialisiert waren die Tätigkeiten der meisten Hausgehilfinnen kaum, vgl. dazu die zweidimensionale Orientierung Mitleben als Familienfremde/r sowie z. B. Henkes, Heimat, S. 71. Klar abgegrenzte Aufgabenbereiche kamen, wenn überhaupt, eher dem höheren Hauspersonal oder erfahrenen, besser qualifizierten Hausgehilfinnen (etwa Köchinnen) in größeren Haushalten zu. Zu spezialisierten „Haushaltsberufen“ vgl. Littmann, Frauenberufe. Kindler und Kordasiewicz zufolge war die Spezialisierung in Polen im 19. Jahrhundert höher als im 20. Jahrhundert; im 21. Jahrhundert nehme die Spezialisierung aber wieder zu. Vgl. Kindler/Kordasiewicz, Maid-of-all-Work, S. 159. 43 Merkmale u. a.: Länge: unter zehn Zeilen; „lachen“ und „weinen“ nicht erwähnt; Zahl der Geschwister nicht erwähnt; Häufigkeit der Wechsel ab 14 Jahre nicht erwähnt. Sonstige Merkmale u. a. (hier nicht abgebildet): Stellenfindung sowie Dauer des Verbleibs nicht erwähnt; Alter nicht erwähnt; Zeitraum unklar; Geburtsjahr nicht erwähnt; keine Selbstbeschreibung (Protagonist/in); Haushaltsvorstand/Haushaltsvorständin nicht benannt; Arbeit der Mutter bzw. des Vaters nicht erwähnt. 44 Am extremsten positioniert sind die Modalitäten „Emmy“ und „Schwärzler-Bereuter“ – beides Antworten auf die Frage „Wie heißt der/die Protagonist/in?“. Die Modalitäten verbinden also die Abschnitte eines Texts (bzw. die Textabschnitte des Artikels über die Hausgehilfin „Emmy“ sowie die Dienstzeugnisse von Anna Schwärzler-Bereuter) miteinander. Vgl. Sammlung Frauennachlässe, NL 135 1. Zusammengenommen verwirklichen dieser Artikel und die Dokumentenserie das Arbeitsverhältnis in besonders ausgeprägtem Maße.

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Gruppe betrafen. Mit diesem und anderen Artikeln in ihrer Verbandszeitung verfolgte die Einigkeit außerdem das Ziel, Hausgehilfinnen für die Gewerkschaftsarbeit zu mobilisieren und Klassenbewusstsein zu wecken: „Mit euren Problemen“, so lautete die Botschaft zusammengefasst, „seid ihr nicht allein und die Organisation stärkt euch den Rücken.“45 Aber nicht nur politische oder offizielle Schriften sind positiv am Arbeitsverhältnis orientiert. In geringerem Maße gilt dies auch für einige wenige Abschnitte von Selbstzeugnissen und Interviews; etwa, wenn sie auf Posten und die Stellung im Haushalt/Betrieb nur knapp verweisen, weil sich ein Wissen darüber aus der Perspektive der Sprecherinnen/Autorinnen voraussetzen lässt. Umgekehrt waren nicht alle politischen Schriften bzw. Textabschnitte positiv am offiziellen Arbeitsverhältnis orientiert. Manche dieser Abschnitte stehen zu den oben beschriebenen im Kontrast – sie weisen eine negative Orientierung auf: Die Einsätze entsprachen dem offiziellen Arbeitsverhältnis zu wenig, konterkarierten es, setzten es nicht genug um und/oder folgten einer Darstellungsweise, die zur abstrakten, standardisierenden Form im Widerspruch stand (vgl. Abbildung 1, linke Seite). Dies trifft beispielsweise auf einige Abschnitte einer Lebensgeschichte zu, die in zehn Folgen in der Zeitung der katholischen Hausgehilfinnenorganisation Reichsverband der christlichen Hausgehilfinnen erschien, der zweiten großen Hausgehilfinnenorganisation neben der sozialdemokratischen Einigkeit.46 Der Verband lehnte ein Verständnis von Hausgehilfinnen als reine Lohnarbeiter/innen ab. Er setzte sich einerseits für eine Erweiterung ihrer Rechte und Ansprüche ein, andererseits aber für einen Ausgleich zwischen Hausgehilfinnen und Dienstgeber/innen.47 Von einem mehr oder weniger negativen Bezug auf das Arbeitsverhältnis zeugen Abschnitte, die insgesamt auf den ersten Blick heterogen erscheinen. Sie beschreiben eine so große Vielfalt an Lebensunterhalten und Arrangements, dass sie hier nicht im Detail besprochen werden können. Gemeinsam ist diesen Abschnitten nur ihre negative Orientierung am Arbeitsverhältnis. Die wichtigsten von ihnen sind lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen entnommen und beschreiben das Wirtschaften von Dienstbot/innen und (Pflege-)Kindern auf Bauernhöfen oder in ländlichen Haushalten.48 Weniger wichtig und extrem positioniert finden sich hier auch Darstellungen der Tätigkeiten von Hausgehilfinnen und Hausfrauen. Wie die unterschiedlichen Kontexte und Lebensunterhalte

45 Vgl. dazu genauer: Richter, Arbeit, S. 39–42. 46 Reisenberger, Schwester Rosa. 47 Richter, Vocation, S. 248 f. 48 Merkmale u. a.: aktueller Erwerb des Vaters: eigener Hof; aktueller Erwerb der Mutter: eigener Hof; „landwirtschaftlich“; am Hof, „Bauernbua“; „Jungbauer“.

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ausgestaltet waren, war demnach abhängig von den jeweils vorgefundenen und veränderlichen Bedingungen: von Wetter und Jahreszeit, dem spezifischen Haushalt bzw. Hof, dessen Mitgliedern und den hier jeweils anfallenden Aufgaben, von den vorhandenen Ressourcen und Nutztieren etc. Die Tätigkeiten der Protagonist/innen richteten sich ferner nach den Phasen im Arbeitsjahr.49 Sie waren also kaum verallgemeinerbar und konstant, sondern spezifisch für den jeweiligen Hof oder Haushalt und steter Veränderung unterworfen.50 Die Arbeitsbeziehungen zeichneten sich darüber hinaus trotz bestehender Gesetze in einem großen Maße durch informelle Arrangements aus, die offizielle Regelungen und sogar amtliche Definitionen und Kategorisierungen von Bediensteten unterliefen. Deswegen und weil den Autor/innen und Interviewten wichtig und bewusst ist, dass das Erzählte und Beschriebene aus heutiger Sicht vergangen und fremd ist, beschreiben sie genau und detailreich, wie sie ihr Wirtschaften im jeweiligen Kontext erinnern und was sich ihrer Auffassung nach verändert hat.51 Außerdem waren Pflichten, Vergnügungen, das Miteinander am Hof oder im Haushalt, lokale Bräuche und religiöse Traditionen so eng miteinander verbunden, dass grundsätzliche Unterscheidungen zwischen Arbeitszeit, Freizeit oder Gemeinschaft kaum getroffen werden konnten.52 Dies war beim Arbeiten und Leben auf Bauernhöfen besonders offensichtlich. Gedankliche Trennungen, etwa von Arbeit und Konsum, die in den Geschichts- und Sozialwissenschaften so gebräuchlich sind und oft „analytisch“ genannt werden, unterschlagen Gemeinsames wie auch Wechselbezüge, worauf etwa Peter-Paul Bänziger in seinen Forschungen verweist.53 Alexander Mejstrik und Sigrid Wadauer zeigen darüber hinaus, dass Trennungen und Bestimmungen von Bereichsgrenzen selbst gegen andere Vorstellungen in historischen Auseinandersetzungen

49 Merkmale: sonstige landwirtschaftliche Tätigkeiten (abseits der üblichen Tätigkeiten am Hof wie Feld-, Stall-, Garten-, Holzarbeiten); saisonale Rhythmen; Zahl der Tiere erwähnt; Wetter erwähnt; Phasen im Arbeitsjahr erwähnt; Haushaltsressourcen erwähnt; aktueller Erwerb des Vaters: eigener Hof; aktueller Erwerb der Mutter: eigener Hof. 50 Vgl. auch Garstenauer/Landsteiner/Langthaler, Einleitung: Land-Arbeit, S. 8 f. 51 Merkmale u. a.: sonstige landwirtschaftliche Tätigkeiten (vgl. Fußnote 49); Saison; Zahl der Tiere erwähnt; Wetter erwähnt; Phasen im Arbeitsjahr erwähnt; Haushaltsressourcen erwähnt; zitieren im Dialekt; Vergleiche mit heute; etwas holen/liefern; etwas tragen; Abschnitt länger als 601 Zeilen. 52 Merkmale u. a.: Phasen im Arbeitsjahr erwähnt; Tierliebe; Geschenk erhalten; Glaube; Vergnügen; eingeladen; Religion; Religion anderer erwähnt; Naturliebe; kirchliche Daten. 53 Bänziger, Moderne; Bänziger, Konsumgesellschaft.

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durchgesetzt wurden, ohne dass die Vielfalt möglicher Einsätze dadurch begrenzt worden wäre.54 Zusammengenommen fächert sich in der Dimension „Wirtschaften“ ein hierarchisches Spektrum der im Sample versammelten Möglichkeiten auf, im Haushalt und am Hof tätig zu sein. Die legitime Referenz ist das Arbeitsverhältnis, die legitimste Möglichkeit, einen Lebensunterhalt zu organisieren. Je nach Art des Bezuges auf diese Referenz (positiv oder negativ) und nach Ausprägung dieser beiden Orientierungen (eher zentral bis eher extrem) sind die beobachteten Abschnitte und Merkmale in gegenseitigen Kontrasten und Variationen entlang der Dimension platziert.

Zweite Dimension: Teil eines Hausstands sein Im Folgenden präsentiere ich das zweitwichtigste Differenzierungs- und Hierarchisierungsprinzip (Dimension) „Teil eines Hausstands sein“, nach dem sich Merkmale und Textabschnitte unterscheiden. Es erlaubt, analog zur im letzten Abschnitt diskutierten ersten Dimension, das zweitwichtigste Kriterium von Ähnlichkeiten und Unterschieden zu beobachten. In meiner Konstruktion unterscheiden sich Merkmale und Abschnitte danach, wie (positiv oder negativ) und wie sehr sie auf eine Haushaltsintegration als Kind im Hause Bezug nehmen – also jene abhängige Position55 im Familienhaushalt, auf die die (elterliche) Sorge am stärksten gerichtet war. Ob die Protagonist/innen dieser offiziellen Referenz entsprachen oder nicht, ob sie sie zu verwirklichen suchten oder sie ablehnten, womöglich sogar hintertrieben – wie in der ersten Dimension sind Textabschnitte und Merkmale hier in jedem Fall auf die offizielle Referenz bezogen. Ihrer jeweiligen Bezugnahme entsprechend sind die Merkmale bzw. Abschnitte in einem linearen Spektrum der Möglichkeiten positioniert, Teil eines Hausstands zu sein und damit als Haushaltsmitglied mit anderen zusam-

54 Mejstrik, Totale Ertüchtigung; Wadauer, Der Arbeit nachgehen? 55 Das geltende Ehe- und Familienrecht schrieb das hierarchische Verhältnis zwischen Ehemännern als Haushaltsvorstand und ihren Ehefrauen und Kindern fest. Die Haushaltsvorstände waren offiziell auch Dienstgeber des Hauspersonals, obwohl die Haushaltsführung als Verantwortungsbereich von Frauen galt und sie meist auch die Anleitung der Hausgehilfinnen übernahmen. Noch in den Gesindeordnungen, die erst nach und nach durch das Hausgehilfengesetz ersetzt wurden, oblag es dem Haushaltsvorstand, die ‚häusliche Ordnung‘ durchzusetzen. Dienstbot/innen waren ihm zu Treue und Gehorsam verpflichtet. Vgl. Mesner, Neugestaltung, S. 187; Richter, Produktion, S. 219 f.

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menzuleben. Die zweite Dimension des Raums ermöglicht es, dieses Spektrum und sein Strukturprinzip zu erfassen. Wer war das Kind im Hause? In den Debatten darum, welchen Platz Dienstbot/innen und Hausgehilfinnen im Haushalt der Dienstgeber/innen finden sollten, wurde dieses Schlagwort häufig bemüht. Dahinter steckte das Idealbild von Bediensteten, die beinahe wie leibliche Kinder in den Haushalt einbezogen waren.56 Wenn Hausfrauen etwa die eigenen Qualitäten als Dienstgeberinnen hervorzuheben versuchten, betonten sie, dass sie ihre Hausgehilfinnen nicht wie Dienstbotinnen, sondern wie die eigenen Kinder aufgenommen hätten. Hausgehilfinnen, Knechte und Mägde sprachen vom „Kind im Hause“ um auszudrücken, dass sie es mit einem Posten relativ gut getroffen hatten.57 Für den katholischen Reichsverband der christlichen Hausgehilfinnen war das „Kind im Hause“ Ausdruck von dessen Wunschvorstellung eines Dienstverhältnisses, in dem Dienstgeber/innen und deren Angehörige in Harmonie mit dem Dienstpersonal zusammenlebten.58 Ende des 19. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit waren also die Verweise auf das „Kind im Hause“ Teil bestimmter Positionen und Perspektiven in den Auseinandersetzungen darum, was und wie Dienstverhältnisse von Hausgehilfinnen sein sollten. Wenn etwa manche christlichsoziale Politiker/innen und Katholik/innen als Alternative zum Klassenkampf einen Ausgleich zwischen familieneigenen und -fremden Haushaltsmitgliedern anstrebten59 oder bürgerlich-liberal orientierte Dienstgeberinnen und Frauenbewegungsaktivistinnen Hausfrauen aufriefen, Hausgehilfinnen gegenüber gütig zu sein und sie durch Erziehung und Anleitung zu guten Hausgehil-

56 Der Status des Kindes im Hause implizierte neben einer von außen angenommenen Unselbstständigkeit der Betreffenden auch Schutzbedürftigkeit, die sich in den Debatten um den häuslichen Dienst auch mit zeitgenössischen Vorstellungen einer Gefährdung von Frauen und Jugendlichen mischte. Die vielen jungen Frauen, die in häuslichen Diensten standen, wurden von Wohltätigkeitsorganisationen, aber auch von Politiker/innen und Reformer/innen immer wieder als schutzbedürftig/unselbstständig beschrieben, vgl. Richter, Zwischen Treue und Gefährdung, S. 7–10; Stenographisches Protokoll Landtag Erzherzogtum Österreich unter der Enns, 25.10.1910, S. 272. Männer im Hausdienst waren nicht nur selten, sondern sie nahmen auch eher exklusive Positionen (etwa als Butler) ein, die Erfahrung voraussetzten. Sie lebten weniger häufig mit den Dienstgeber/innen in Hausgemeinschaft. Die Bindung an den Haushalt war deshalb lockerer. 57 Karl Pichler, Lebenslauf, S. 26; Wagenhofer, Leodolter, S. 57 f.; Sekora, Daheimbleiben, S. 257–262; Franz Wesenauer, Kein Titel, S. 13. 58 Richter, Vocation, S. 248. 59 Vgl. exemplarisch Salberg/Glas, Unser Dienstmädchen, S. 1–5, 120, sowie Stenographisches Protokoll Konstituierende Nationalversammlung, 26.2.1920, S. 1824 f.

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finnen auszubilden,60 war häufig davon die Rede – wenn auch mit unterschiedlichen Implikationen. In diesen Debatten wurden zwei Aspekte der gegenseitigen Sorge, für die der Familienhaushalt verantwortlich sein sollte, mehr oder weniger explizit angesprochen. Zur Sorge gehörte erstens die Umsorge, also das füreinander Sorgen im Rahmen von Familienbeziehungen: das Pflegen, Kümmern, Unterstützen, Erziehen, Beraten etc. Zweitens war die Versorgung Funktion der Verbrauchswirtschaft des Haushalts: die Wiederherstellung der Arbeitskräfte und das Aufziehen der nächsten Generation, indem Einkommen und Selbstproduziertes in Konsumgüter für die Haushaltsmitglieder umgewandelt wurde. Dazu gehörte es, Lebensmittel herzustellen oder zu besorgen, zu kochen und zuzubereiten, zu nähen, zu reparieren, aber auch etwa Ressourcen zu sparen und Gebrauchtes wiederzuverwenden. Dem familienfremden „Kind im Hause“ sollte Umsorge und Versorgung zumindest in einem gewissen Maße zuteilwerden. Hausgehilfinnen und Dienstbot/innen waren dieser Vorstellung gemäß also eingebunden in die häusliche Gemeinschaft. Sie sollten gut, bestenfalls familiär behandelt werden, obwohl sie untergeordnet („Kind“) waren; sie sollten ihr Auskommen haben und nicht im Stich gelassen bzw. entlassen werden, wenn sie alt oder krank wurden. Der Alltag vieler Dienstverhältnisse sah hingegen anders aus. Die Rede vom „Kind im Hause“, oder häufig auch: vom „Familienanschluss“, war also weniger eine Beschreibung der Realität als eine Referenz für Dienstverhältnisse und ein Ziel, das manche Beteiligte in den Auseinandersetzungen um die Dienste als Lösung vorschlugen. Die Weise, wie Protagonist/innen in den Hausstand und die Sorgebeziehungen im Haushalt integriert waren und sich einordneten, ist das zweitwichtigste Prinzip, nach dem sich die Textabschnitte in Bezug zur Referenz, dem Kind im Hause, unterscheiden und variieren (vgl. Abbildung 2). In jedem Textabschnitt nehmen die Protagonist/innen eine bestimmte Position in einem Haushalt ein: Sie sind leibliche oder Ziehkinder, Knechte, Mägde, Hausgehilfinnen, in manchen Phasen Untermieter/innen, Bettgeher/innen, Gäste etc. oder Ehepartner/ innen und gegebenenfalls Haushaltsvorständ/innen. Mit jeder dieser Positionen sind einerseits bestimmte Legitimitäten (z. B. Pflichten und Rechte) verbunden. Andererseits unterscheiden sich die in den Textabschnitten präsentierten Einsätze, selbst wenn prinzipiell dieselben Positionen beschrieben werden: Ein

60 Vgl. exemplarisch Allgemeiner österreichischer Frauenverein, Dienstbotenfrage, S. 13; Hoffmann, Zur Dienstbotenfrage, S. 630; Lejeune, Dienstbotenfrage, S. 14; Schmidt-Friese, Unsere Dienstboten, S. 568, 571–573. Zu Rosa Mayreder, einer der wichtigsten Persönlichkeiten des Allgemeinen österreichischen Frauenvereins und des Publikationsorgans Dokumente der Frauen vgl. Semanek, Edition.

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Abb. 2: Hilfsgrafik der zweiten Dimension – Raum der Hausstandszugehörigkeit. © J. R. Legende: J. = Jahre; HH = Haushalt; HH-Vorst. = Haushaltsvorständ/innen; > = mehr als; V = Vater; M = Mutter; pos. = positiv; Liebesbez. = Liebesziehung; DG = Dienstgeber/in/fremde/r Haushaltsvorstand/Haushaltsvorständin; jm. = jemand; eig. = eigener; Betreu = Betreute; HHMitgl. = Haushaltsmitglieder; Ausb. = Ausbildung; „“: wörtliche Nennung.

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Kind, eine Magd, eine Hausgehilfin zu sein, wurde auf unterschiedliche Weise gelebt. Im Vergleich der Textabschnitte ist das Kind im Hause die Referenz für alle Einsätze: Es ist die legitimste Weise, ein von den Haushaltsvorständ/innen (bzw. dem Haushaltsvorstand und dessen Ehe-/Partnerin) abhängiger Teil eines Hausstandes zu sein, weil bei ihm die Sorge in all ihren Komponenten konzentriert ist. In meiner Konstruktion sind die Kinder im Hause im Unterschied zu den erwähnten Debatten aber meist nicht Dienstbot/innen und Hausgehilfinnen, sondern eher Kinder, die mit ihren leiblichen Eltern im gemeinsamen Haushalt leben. In der dominanten Orientierung (vgl. Abbildung 2, linke Seite) gehörten neben den Eltern der bis zehnjährigen Protagonist/innen gegebenenfalls auch deren Geschwister zum Hausstand, nicht aber Familienfremde. Diese Zwei-Generationen-Familien lebten konstant über viele Jahre zusammen.61 Entsprechend ihrer jeweiligen Position sowie ihres Alters und Geschlechts kamen den Haushaltsmitgliedern je spezifische Aufgaben zu. So waren die Eltern nicht nur für ihre eigene Versorgung zuständig, sondern auch für die der Kinder. Sie sicherten beide, vor allem aber der Vater, durch außerhäusliche Erwerbstätigkeiten das Haushaltseinkommen. Der Mutter oblag die Führung des Haushalts und gegebenenfalls der zugehörigen Wirtschaft: Sie betreute Tiere (etwa Hühner oder Ziegen) und bestellte den Hausgarten.62 Die Protagonist/innen hingegen konnten und mussten sich darauf verlassen, dass das, was sie zum Leben brauchten, von den Eltern bereitgestellt wurde. Waren sie alt genug, gingen sie zur Schule, die ihren Tagesablauf strukturierte, oder sie waren mit Tätigkeiten beschäftigt, die für ihr Alter und ihre soziale Herkunft üblich waren: Sie spielten und/oder trugen durch Mithilfe zur Haushalts- bzw. Wirtschaftsführung bei.63 Die Protagonist/innen wurden aber im Familienhaushalt nicht nur versorgt, sondern auch erzogen. Als Kinder im Elternhaus fanden sie stabile Familienbe-

61 Merkmale u. a.: Alter sechs bis zehn Jahre, Haushaltsvorständ/innen werden „Eltern“ bzw. „Vater“/„Mutter“ genannt; Zusammenleben mit den eigenen Eltern; Zusammenleben mit eigenen Geschwistern; unter 6 Jahre alt; Haushalt ohne Beschäftigte; Verbleib im Haushalt länger als 11,5 Jahre (höchste erfragte Dauer); weniger wichtig und relativ nahe im Zentrum positioniert: Alter zehn bis 14 Jahre (hier nicht abgebildet). Des Weiteren: kein Umzug. 62 Merkmale u. a.: keine Stellensuche/-findung; Vater arbeitsfähig; Mutter arbeitsfähig; Vater: Gelegenheitsarbeiten; Eltern im Taglohn (direkt darunter, nicht abgebildet: Mutter: Haushaltstätigkeiten/Wirtschaft); aktueller Erwerb d. Vaters: Dienste; Erwerb d. Vaters: Arbeiter. 63 Merkmale u. a.: Alter sechs bis zehn Jahre; Sequenz: zeitlich vor und nach Schuleintritt (vor & in Schule); Sequenz: zeitlich während Schulpflicht (in der Schule); Lernen in der Schule positiv beschrieben; Schulzeit positiv beschrieben; sammeln (Beeren, Pilze, Kohlen, Kartoffeln etc.).

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ziehungen vor, die so normal, das heißt verallgemeinert und durchgesetzt waren, dass sie in den entsprechenden Abschnitten kaum eigens beschrieben werden. Die Protagonist/innen mussten sich den von den Eltern vorgegebenen Verhaltensnormen anpassen. Zwar werden besondere Situationen und Erinnerungen erwähnt: Bestrafungen durch die Eltern ebenso wie deren herausragende Eigenschaften. Die alltägliche Normalität des Eltern-Kind-Verhältnisses stand aber auch dann nicht in Frage, wenn die Beziehung zu den Eltern konfliktreich war.64 Von allen im Sample beschriebenen Möglichkeiten, im Haushalt zusammenzuleben, kommt die bisher beschriebene (dominante) Konstellation den zeitgenössischen Vorstellungen eines idealen Familienhaushalts am nächsten. Die Bevölkerungsmehrheit teilte diese Idealvorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erreichbar oder überhaupt erstrebenswert waren sie dennoch nie für alle. Ungeachtet der Durchsetzung des Familienhaushalts gegen andere Weisen der Haushaltsführung und des Zusammenlebens existierten unterschiedliche Einsätze fort. Für den Familienhaushalt war eine geschlechtshierarchische Aufgabenund Kompetenzverteilung charakteristisch. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts waren Vorstellungen ‚natürlicher Wesensunterschiede‘ zwischen Männern und Frauen immer mehr etabliert worden. Dementsprechend sollten Frauen für die private Haushaltsführung65 und Kindererziehung zuständig sein. Komplementär dazu erschienen Männer prädestiniert für die harsche Welt der Öffentlichkeit, für Beruf und Politik. Sie sollten als Familienernährer und -oberhäupter das Haushaltseinkommen sicherstellen, den Hausstand vertreten und die Ordnung im Haushalt herstellen. Der Haushalt wurde zunehmend als privater Schutzraum gedacht, in dem Gefühle, Liebe, Intimität und zwischenmenschliche Beziehungen ihren Platz haben sollten, kurz: in dem allumfassende Sorge zirkulieren und sich insbesondere auf die leiblichen Kinder richten sollte.66 Denn zu diesem Familienideal gehörte auch die ideelle Aufwertung der Mutterschaft und die zunehmende Bedeutung, die der Kindererziehung zugemessen wurde.

64 Merkmale: Haushaltsvorständ/innen werden „Eltern“ bzw. „Vater“/„Mutter“ genannt, Zusammenleben mit den eigenen Eltern, Zusammenleben mit eigenen Geschwistern, Strafe vom Vater, Strafe von der Mutter. Hier nicht abgebildet u. a. „schöne Kindheit“, positive Charakterisierung des Vaters. 65 Dass die Hausarbeit im Privathaushalt selbst ein Produkt des 18. und 19. Jahrhunderts ist, haben Barbara Duden und Gisela Bock bereits 1977 überzeugend dargelegt, vgl. Bock/Duden, Arbeit aus Liebe, S. 122. 66 Hausen, Polarisierung, S. 372–377; Hausen, Arbeit, S. 348 f.

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Die allgemeine Schulpflicht, eingeführt im Jahr 1774 von Maria Theresia, hatte dazu beigetragen, die Kindheit nach und nach als eigenständige Lebensphase herzustellen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte die Schulpflicht gemeinsame Erfahrungen für eine zunehmende Zahl der Sechs- bis 14jährigen hervor: Zwar hatten Kinder je nach sozialer Herkunft ungleiche Möglichkeiten des Schulbesuchs und auch deren Eltern bewerteten die Schule unterschiedlich. Aber offiziell sollte die Kindheit dadurch gekennzeichnet sein, dass Kinder zumindest zeitweise eine öffentliche Lerninstitution durchliefen. Für viele ärmere Haushalte stellte der Beitrag der Kinder zum Lebensunterhalt aber weiterhin eine Überlebensnotwendigkeit dar. Noch in der Zwischenkriegszeit waren Mithilfen von Kindern bzw. Minderjährigen vor allem im Haushalt und in der Landwirtschaft sowohl legal als auch gängig, wenn auch sukzessive Schutzbestimmungen eingeführt worden waren und wurden. In ländlichen Gegenden bestand die Möglichkeit der ‚Schulbefreiung‘ fort, die es Eltern und Vormündern erlaubte, in der Landwirtschaft eingesetzte Kinder jedes Jahr für mehrere Monate vom Schulbesuch zu entbinden.67 Mit vielen dieser Ambivalenzen und Einschränkungen waren auch die Protagonist/innen der für die dominante Orientierung wichtigsten Textabschnitte konfrontiert. Mein Sample enthält ja vor allem Erzählungen, die entweder von ehemaligen Hausbediensteten, Landarbeiter/innen oder Dienstbot/innen stammen oder die ihre Lebensgeschichten zum Gegenstand haben. In Österreich und anderen europäischen Ländern stammten sie vor allem aus ärmeren ländlichen Haushalten – jenen von Arbeiter/innen, Landarbeiter/innen, Tagelöhner/innen oder außerhäuslich Bediensteten.68 Die Versorgung der Haushaltsmitglieder war daher immer wieder prekär und gefährdet. Ein Erwerbseinkommen der Mütter (zusätzlich zu ihrer Haus-/Wirtschaftsführung) sowie Mithilfen der Kinder waren oft unverzichtbar.69 Insbesondere die Gefährdung des Lebensunterhalts, aber auch Konflikte und/oder ein liebloser Umgang der Eltern mit den Kindern ließ die Abhängigkeit letzterer besonders deutlich zu Tage treten. Als Kinder waren die Protagonist/innen darauf angewiesen, dass sie von den Eltern versorgt und umsorgt wurden – ein Merkmal des Kindes im Hause. Wenn beispielsweise

67 Ehmer, Alter und Arbeit, S. 23–30; Klammer, Dienstboten, S. 193 f.; Papathanassiou, Arbeit, S. 33–37. 68 Vgl. exemplarisch: Platzer, Hausgehilfin, S. 159; Rigler, Frauenleitbild, S. 116; Sarti, Conclusion, S. 202; Stillich, Dienstboten, S. 99 f. 69 Merkmale u. a.: Vater arbeitsfähig; Mutter arbeitsfähig; Vater: Gelegenheitsarbeiten; Eltern im Taglohn; aktueller Erwerb Vater: Dienste; Vater arbeitslos; Beruf des Vaters: Arbeiter; Kärnten; aktueller Erwerb Mutter: Dienste; aktueller Erwerb Mutter: Tagelohn, Landwirtschaft; Gemeindegröße: 500 bis 2.500 Einwohner/innen; Beruf Vater: Dienste; Burgenland.

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der Vater trank, erwerbslos oder auch nur unterbeschäftigt war, wurden die Gefährdung und Abhängigkeit besonders spürbar – ohne dass dadurch aber die grundsätzliche Zuständigkeit der Eltern, für die Kinder zu sorgen, in Frage stand. Die entsprechenden Merkmale nehmen daher eine Extremposition in der positiven Orientierung an der Referenz ein.70 Daneben gibt es im Sample auch jene Textabschnitte und Merkmale, die eine negative Orientierung aufweisen (vgl. Abbildung 2, rechte Seite). Sie haben lediglich, aber konstitutiv, gemein, dass die Protagonist/innen nicht wie das Kind im Hause in den Hausstand integriert waren, sein konnten und/oder wollten, diese Stellung für sich ablehnten, unterliefen, nicht erreichten etc. Die wichtigsten und extremsten dieser dominierten Merkmale sind auf der rechten Seite der Grafik dargestellt. Diese Protagonist/innen waren für ihre Versorgung selbst zuständig und mussten dafür in dem Haushalt, in dem sie lebten, Leistungen erbringen – beispielsweise indem sie hier als Hausgehilfinnen tätig waren oder als Ziehkinder zu einer Vielzahl von Arbeiten angehalten wurden.71 Da sie Familienfremde waren, waren sie keine selbstverständlich Umsorgten. Überhaupt galten für sie die moralischen Regeln des familiären Miteinanders nicht per se: Wie Beziehungen und Umgangsweisen gestaltet wurden, musste erst definiert werden – sei es, dass sich die Protagonist/innen einpassten, unterordneten oder mit den Haushaltsvorständ/innen stritten. Entsprechend detailliert beschreiben die Autor/innen die Beziehungen zu anderen Haushaltsmitgliedern und insbesondere zu den Haushaltsvorständ/innen, was diese Textabschnitte deutlich von jenen der dominanten Orientierung unterscheidet. Die Abwesenheit klarer Normen des Miteinanders war einerseits prekär: Konflikte, die mitunter Entlassungen oder Bestrafungen nach sich zogen, entstanden leicht.72 Andererseits waren die Beziehungen im Dienstgeber/innen70 Merkmale u. a.: Vater trinkt; Vater: Gelegenheitsarbeiten; Strafe durch Mutter; Sequenz: zeitlich vor und nach Schuleintritt; aktueller Erwerb Vater: Arbeiter; sehr wichtig und extrem positioniert: unter 6 Jahre alt. 71 Merkmale u. a.: „Dienst“; nennt Haushaltsvorständin/Haushaltsvorstand bzw. Dienstgeber/in „Frau“ bzw. „Herr“; „Stelle“; Geld erwähnt; „Gehalt“ (ebenso, nicht abgebildet: „Lohn“). Extrem positioniert und damit in besonders starkem Kontrast zur Referenz: „Angestellte/r“; schulische Ausbildung (im Sample lediglich vorhanden: Besuch einer Krankenschwesternschule); sowohl „Stelle“ als auch „Stellung“ kommen im Abschnitt vor. Etwas weniger extrem: „Moa“ (erster Knecht). 72 Merkmale u. a.: Konflikt mit Haushaltsvorstand/Haushaltsvorständin bzw. Dienstgeber/in; Einblick gewinnen in die und Beschreibung der Familie; Verhaltensanforderungen sowie Kleidungsstandards beschrieben; für Protagonistin gelten Sonderregeln (im Vergleich zu anderen Hausstandsmitgliedern); Haushaltsvorstand/Haushaltsvorständin bzw. Dienstgeber/in negativ charakterisiert; extrem positioniert: „wir“ sowie freiwillig Extra-Leistungen erbringen; kein Eigenleben haben und kontrolliert werden.

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haushalt kaum die wichtigsten im Leben der Protagonist/innen, und sie waren auch nicht unbedingt von Dauer: Die Protagonist/innen hatten Liebesbeziehungen und verließen den Haushalt, oft schon nach kurzer Zeit.73 Die zweite Dimension spannt also ein Spektrum möglicher Weisen des Zusammenlebens auf: von der selbstverständlichen, dauerhaften Haushaltsintegration als Sorgeabhängige/r bis hin zur immer stärker umstrittenen Einbindung auf Zeit, zur zunehmenden Lockerung der Abhängigkeit und zur immer weitergehenden Eigenzuständigkeit der Protagonist/innen für ihre physische und psychische Versorgung.

Erste Fläche: Lebensunterhalte in Haus und Hof Nach dieser getrennten (analytischen) Interpretation der beiden wichtigsten linearen Differenzierungs- und Hierarchisierungsprinzipien des untersuchten Phänomens ist es möglich, beide simultan in Betracht zu ziehen (Synthese), also die Bezüge der Textabschnitte und Merkmale gleichzeitig am Arbeitsverhältnis und dem Kind im Hause zu beobachten. Es handelt sich um eine zweidimensionale Konstruktion, die sich dementsprechend als zweidimensionale Punktwolken (der Merkmale und der Textausschnitte) veranschaulichen lässt. Diese zweidimensionale Konstruktion (Fläche) wird durch die besprochene erste und zweite Dimension als Koordinatensystem aufgespannt. Um diese Fläche, den Raum der Lebensunterhalte in Haus und Hof, zu beschreiben, stelle ich im Folgenden vier der möglichen zweidimensionalen Orientierungen vor: jene, die auf den beiden Diagonalen des Koordinatensystems platziert sind (oder genauer: jene, für welche die beiden Prinzipien gleichermaßen zentral oder extrem ausgeprägt sind). Die Beziehungen zwischen diesen vier ausgewählten Orientierungen erlauben es, den Raum der Lebensunterhalte in Haus und Hof als einen Raum des Möglichen zu erfassen.

Dominante Orientierung: Zum Haushalt gehören Die positive Orientierung sowohl am Arbeitsverhältnis als auch am Kind im Hause manifestiert sich in der selbstverständlichen, stabilen, geregelten und standardisierten Zugehörigkeit zum Haushalt. In meinem Sample ist diese für die Flächenstruktur wesentliche Orientierung nur angedeutet. Der Status als

73 Merkmale u. a.: Liebesbeziehung; verlässt Haushalt auf eigenen Wunsch; Verehrer/in; Wechsel in anderen Haushalt.

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sich im Arbeitsverhältnis selbst erhaltende/r und nach festgelegten Standards tätige/r Erwachsene/r und als ein von Sorge abhängigem Kind waren in der Praxis nicht miteinander vereinbar. Daher ist es durchaus überraschend, dass sich überhaupt Textabschnitte mit dieser Orientierung finden, wenngleich diese nur wenig extrem ausgeprägt ist.

Abb. 3: Grafik der primären Fläche – Raum der Lebensunterhalte in Haus und Hof, Zoom der dominanten Orientierung (zum eigenen Haushalt gehören). © J. R. Legende: n. e. = nicht erwähnt; beschr. = beschrieben/Beschreibung; hw = hauswirtschaftlich; „“: wörtl. Nennung.

Wer zum Haushalt gehörte, war festes Mitglied des Hausstandes, hatte mit den anderen Haushaltsmitgliedern ihr/sein Auskommen und trug zur gegenseitigen Sorge bei. Ob nun in Prekarität oder ökonomischer Sicherheit, in harmonischer Gemeinschaft oder Distanziertheit, er/sie lebte Normalität: einen relativ glei-

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chen Alltag in einem stabilen Gefüge. Besonderes und Bemerkenswertes wie Gefühlsachterbahnen, deutlich erlebte Veränderungen des eigenen Tuns, Verschärfung oder Verbesserung der (wirtschaftlichen) Lage, Konflikte, Freude, Schicksalsschläge oder außergewöhnliche Erlebnisse – all dies kommt in den Abschnitten nicht vor.74 Es genügte offensichtlich, wenn Rahmeninformationen für die Leser/innen bekannt waren, um den/die Protagonist/in als Familienmitglied, Dienstbot/in etc. einzuordnen. So finden sich Textabschnitte, in denen Hausgehilfinnen, Land- und gewerbliche Arbeiter/innen eine klar definierte Stellung in Arbeitsverhältnis und Hausstand einnehmen. Sie sind in der ersten Dimension extremer positioniert als in der zweiten (d. h. in Abbildung 3 wären sie oberhalb der Diagonalen platziert). Therese Halasz (in Halasz9) beispielsweise agierte als Hausgehilfin in einem Schloss so, wie sie es bereits gewohnt war: Sie erweiterte ihre Kochkenntnisse, was sie gleichzeitig als Zweck ihres Dienstes darstellte.75 Abschnitte, die in der ersten Dimension hingegen eher neutral und in der zweiten extremer positioniert sind (d. h. unterhalb der Diagonalen), enthalten Beschreibungen von Protagonist/innen, die auf Zeit in ihr Elternhaus zurückkehrten: Sie waren zuvor bereits ausgezogen und kamen dort nun vorübergehend wieder unter, weil sie krank waren, keine Stellung hatten oder in der elterlichen Wirtschaft eine Arbeitskraft gebraucht wurde. Das Elternhaus stellte für viele Hausgehilfinnen, landwirtschaftliche Dienstbot/innen und Arbeiter/innen oft noch viele Jahre nach dem Erwerbseintritt sowohl einen Rückhalt in schlechten Zeiten als auch eine Verpflichtung dar.

Donabaum5 hat einen Zufluchtsort Die 1905 geborene Josefa Donabaum beschrieb den Dienst in diesem Sinn. Sie führte ihr Tagebuch in den ersten Jahren wie eine unregelmäßige Buchhaltung über ihre Stellen als Dienstmädchen. Zwischen September 1921 und August 1924 skizzierte sie zunächst knapp ihr bisheriges Leben (Donabaum1 bis 3) und listete dann in unregelmäßigen Abständen vor allem ihre Posten als Hausgehilfin (Donabaum4, 6, 7 und 9), in einem Gasthaus (Donabaum8), als Näherin (Do-

74 Merkmale u. a.: „lachen“ oder „weinen“ nicht erwähnt; keine wörtliche Rede; Tätigkeiten nicht bewertet; Tätigkeiten nicht beschrieben; keine Selbstbeschreibung; Erlebnisse anderer Personen nicht erwähnt; „arbeiten“ nicht erwähnt; Arbeitszeiten nicht erwähnt; konkrete Tätigkeiten nicht erwähnt; keine Besuche erwähnt, Erhalt von Geld oder Lohn nicht erwähnt; Belastungen nicht erwähnt. 75 Therese Halasz, Brief vom 5.6.1984, S. 3 sowie Brief vom 22.4.1984, S. 4.

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nabaum10) sowie eine Phase der Arbeitslosigkeit (Donabaum11) auf, die sie jeweils in wenigen Worten charakterisierte. Erst ab 1925, als sie in Deutschland (Donabaum12) und Belgien (Donabaum13) als Näherin beschäftigt war, wurden die Eintragungen häufiger und detaillierter und umfassten nun (bis September 1926) auch umfangreiche Schilderungen der Reisen, von Ausflügen, Erlebnissen oder Beziehungen.76 Der Abschnitt Donabaum5 ist unter den gut dargestellten Textabschnitten der flächendominanten Orientierung der Diagonalen am nächsten.77 Dieser Abschnitt behandelt (im Unterschied zu anderen dieser Orientierung) aber keine ihrer Dienststellen selbst, sondern eine Phase zwischen zwei Posten als Hausgehilfin. Josefa Donabaum hatte ihre vorherige Stelle aufgrund einer Krankheit aufgeben müssen. Kranke Hausgehilfinnen behielten ihren Dienstposten äußerst selten, insbesondere, wenn sie über längere Zeit dienstunfähig waren. Gegenüber den Dienstgeber/innen bestand lediglich ein begrenzter rechtlicher Schutz, der von diesen vielfach unterlaufen wurde.78 Und auch der moralische Anspruch, Dienstbot/innen nicht auf die Straße zu setzen, wenn sie ihrem Dienst wegen ihres Alters oder einer Krankheit nicht nachkommen konnten, wurde individuell unterschiedlich, oft aber unzureichend erfüllt. Rückhalt fanden Dienstbot/innen und Hausgehilfinnen wenn überhaupt, nur temporär im eigenen Elternhaushalt79 oder gegebenenfalls bei anderen Verwandten oder Bekannten.

76 Josefa Gastegger (geb. Donabaum) führte dieses Tagebuch zwischen September 1921 und September 1926. Es hat insgesamt 50 Seiten. In den Jahren 1921 und 1922 machte sie lediglich jeweils drei kurze Eintragungen, in den Jahren 1923 und 1924 jeweils vier. Vgl. Sammlung Frauennachlässe, NL 47. Ich danke Li Gerhalter, Sammlung Frauennachlässe, für die Unterstützung. Zur Sammlung vgl. Gerhalter, Collection. 77 Gastegger5 wird 2,7mal so gut (cos²: 0,15) wie der Durchschnitt (cos²: 0,029) dargestellt. Die wichtigste Dimension bildet den Abschnitt doppelt so gut ab wie die zweitwichtigste; im Verhältnis zu anderen Abschnitten wird Gastegger5 jedoch durch beide Dimensionen relativ gleichmäßig erklärt. 78 Nach dem Hausgehilfengesetz durfte eine erkrankte Hausgehilfin während einer bestimmten Frist (je nach Dauer des Dienstverhältnisses zwei oder vier Wochen) nicht entlassen werden. Auch der Lohnanspruch wirkte fort. Bestand das Dienstverhältnis aber noch nicht 14 Tage, bestand kein Schutz. Vgl. StGBl. 1920/101, §§ 11, 12 (1). Außerdem hielten sich Dienstgeber/innen kaum an die Bestimmungen, wie Zeitgenoss/innen häufig kritisierten. Die Sozialdemokratin Antonie Platzer etwa schrieb 1930: „In der Regel ist es jedoch so, daß man für eine erkrankte Hausgehilfin keinen Platz im Hause hat und sich so schnell wie möglich ihrer entledigt. Die Folge davon ist, daß leichtere Erkrankungen fast immer übergangen und nicht behandelt werden und Dimensionen annehmen, die eine Spitalsaufnahme erfordern.“ Platzer, Hausgehilfin, S. 163 f. 79 Zum Haushalt als Ressource für Arbeitssuchende vgl. Vana in diesem Band.

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Als kranke Postenlose wandte sich Josefa Donabaum in diesem Textabschnitt daher an ihre Mutter in Niederösterreich (ihr Vater war bereits verstorben). Der vollständige Abschnitt Donabaum5, ein bei der Mutter verfasster Tagebucheintrag, lautet: „Herzogenburg, 25. Feber 1923. Bin seit 21. Feb. von Wien zu Hause. Musste den Posten bei Löws verlassen, weil ich Lungenspitzenkatarrh bekam. Ist mir dort sehr gut gegangen. Bleibe vorläufig auf Erholung zu Hause.“ Auch im „sehr gut[en]“ Dienst war die Erkrankte lediglich ein familienfremdes Hausstandsmitglied und eine Arbeitskraft. „Zu Hause“ hatte sie demgegenüber nicht nur ein selbstverständliches Auskommen, sondern wurde versorgt und musste sich nur ihrer „Erholung“ widmen. Ihr „zu Hause“ hebt sie in diesem kurzen Abschnitt gleich zweimal hervor – weil es sich aber eben um ihr Zuhause handelte, wo sie unhinterfragt dazugehörte, musste sie es nicht weiter beschreiben. In diesem Zuhause hatte sie einen festen Platz – unabhängig davon, wo sie eigentlich wohnte – und einen Haushalt, wo sie in Notzeiten ihren Lebensunterhalt finden konnte.

Prätentiöse Orientierung: Im Dienstverhältnis stehen Die prätentiöse Flächenorientierung synthetisiert eine positive (eindimensionale) Orientierung am Arbeitsverhältnis und eine negative am Kind im Hause. Zusammengenommen, also zweidimensional betrachtet, lässt sie sich als positive Orientierung am Dienstverhältnis fassen (vgl. Abbildung 4). Teil der Auseinandersetzungen um den Dienst von Hausgehilfinnen waren die Debatten um die „Dienstbotenfrage“. Um die Jahrhundertwende und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde sie in vielen europäischen Ländern und den USA in Zeitungen und politischen Schriften unterschiedlichster Couleur diskutiert. Das Problem beschäftigte Parlamente und ließ Dienstgeber/ innen wie christliche Organisationen die vermeintlich gute alte Zeit beschwören, als Diener/innen angeblich folgsam, fleißig, treu, beständig und dennoch leicht zu bekommen gewesen waren. Die Klagen über das Personal waren aber alles andere als neu. Schon die Wiener Dienstbotenordnung von 1810 (und andere vor ihr) hatten ähnliche Mängel beheben und Konflikte befrieden sollen,80 und schon damals war eine gute alte Zeit als Kontrast zu einer untragbaren Gegenwart zitiert worden.81

80 Gesindeordnung für die Stadt Wien 1810, § 4; Wiesenberger, Dienstbotenbuch, S. 114. 81 Zu den Ähnlichkeiten der „Dienstbotenfrage“ („servant problem“, „crise de la domesticité“ etc.) in Europa vgl. Sarti, Conclusion, S. 248–251.

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Abb. 4: Grafik der primären Fläche – Raum der Lebensunterhalte in Haus und Hof, Zoom der prätentiösen Orientierung (im Dienstverhältnis stehen). © J. R. Legende: ≠ = nicht; n. e. = nicht erwähnt; J. = Jahre; Geschw.anzahl = Geschwisteranzahl; HH = Haushalt; Sequ. = Sequenz; HH-Vorständ. = Haushaltsvorständ/innen; „“: wörtl. Nennung.

Doch in diesen neueren Debatten zeigten sich auch Veränderungen. Viele Beteiligte artikulierten nun die Notwendigkeit, Dienste neu zu organisieren und rechtlich umzugestalten, um sie Erwerbsarbeitsverhältnissen ähnlicher werden zu lassen. Durch die Gesetzesänderungen in den Anfangsjahren der Ersten Republik und die Auseinandersetzungen in weiterer Folge wurden Dienstverhältnisse von Hausgehilfinnen immer mehr als eine besondere Form der Erwerbsarbeit verstanden und in Gesetzestexten oder behördlichen und gerichtlichen Do-

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kumenten kodifiziert: einerseits als ein Vertragsverhältnis wie andere Arbeitsverhältnisse auch (Dienst gegen Vergütung, festgelegte Rechte und Pflichten beider Parteien), andererseits als verschieden von anderen Arbeitsverhältnissen, da sie ihren Ort im Haushalt und nicht in einem Betrieb hatten und auf Hauswirtschaft und Hausstandsmitglieder gerichtet waren. Auch in anderen zeitgenössischen Schriften finden sich Bezüge auf diese neuen Dienste: in Texten aus unterschiedlichen politischen Kontexten, in offiziellen Dokumenten und/oder Beiträgen in politischen Zeitschriften. Beobachtungseinheiten, die die prätentiöse Orientierung besonders gut darstellen, konstruierte ich auf der Grundlage von solchen Texten. Folgende Abschnitte sind besonders gut dargestellt: je ein Artikel einer kommunistischen Zeitung und der Verbandszeitung der sozialdemokratischen Hausgehilfinnenorganisation Einigkeit, eine Serie von Dienstzeugnissen aus der Feder von Dienstgeber/innen sowie zwei (Fall-)Geschichten aus einer Hausfrauenzeitung und eine Abhandlung einer schweizerischen Dienstgeberin zur Dienstbotenfrage. Es handelt sich also um offizielle Darstellungen von Diensten, deren Autor/innen (meist) in der dritten Person die (möglichen) Erfahrungen von Hausgehilfinnen präsentierten.82 Den Autor/innen war aber nicht daran gelegen, umfassende biografische Porträts zu verfassen. Die betreffenden Texte beschränkten sich auf einzelne Dienstverhältnisse oder den Werdegang der Protagonist/innen als Hausgehilfinnen. Scheinbar typische Verhaltensweisen oder Probleme von Hausgehilfinnen im Dienst sind das Thema, während die Betreffenden selbst, etwa ihr individueller Werdegang, ihre familiären Beziehungen83 und sogar zentrale Lebensdaten84 in den Hintergrund treten. Auch andere Details (etwa die Dauer des Dienstverhältnisses oder Phasen der Stellensuche)85 konnten die Verfasser/innen aussparen. Wer in einem so beschriebenen Dienstverhältnis stand, war der Kindheit entwachsen: Die Protagonistinnen waren älter als 14 Jahre, hatten die Jahre der Schulpflicht absolviert und das Elternhaus verlassen.86 Sie waren Hausgehilfinnen im großstädtischen Haushalt ihrer Dienstgeber/innen, mit denen und gegebenenfalls mit deren Kindern sie unter einem Dach zusammenleb82 Merkmale u. a.: entstanden vor 1945, Verfasser/in ist nicht Protagonist/in, Schreiben in 3. Person. 83 Merkmale u. a.: Geschwisteranzahl unklar, Arbeit des Vaters nicht erwähnt. 84 Merkmale u. a.: Geburtsjahr unklar, Häufigkeit der Wechsel nach Schulentlassung, Alter nicht erwähnt. 85 Merkmale u. a.: Dauer des Verbleibs im Haushalt unklar; Stellensuche nicht beschrieben. 86 Merkmale u. a.: nach Schulentlassung; nennt Haushaltsvorständ/innen nicht „Eltern“, „Mutter“ oder „Vater“; ist nicht sechs bis zehn Jahre (oder null bis sechs bzw. zehn bis 14 Jahre) alt; gehört zur Altersgruppe 20 bis 25 Jahre, lebt mit familienfremden Haushaltsvorständ/innen (Dienstgeber/innen) zusammen.

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ten.87 Ihre berufsmäßige Erwerbsarbeit88 gab vor, was sie tun und wem ihre Leistungen zugutekommen sollten, denn einerseits wurden Hausgehilfinnen in den 1920er Jahren in behördlichen und (höchst-)gerichtlichen Entscheidungen immer klarer dem Privathaushalt von Einzelpersonen zugeordnet. Nur private Dienstgeber/innen sollten in der Lage sein, Hausgehilfinnen zu beschäftigen – öffentliche und private Anstalten jedoch nicht mehr.89 Andererseits hatten die Protagonistinnen einen abgesteckten Aufgabenbereich, der mit ihrer jeweiligen Stellung im Haushalt (als Köchin, Stubenmädchen, Kinderfrau o. Ä.) näher bestimmt war. Ihre Verpflichtungen brauchten daher im Textabschnitt nicht erläutert zu werden,90 denn die grundsätzliche Zuständigkeit für Haushaltstätigkeiten war seinerzeit unstrittig. In Entsprechung ihres jeweiligen Haushaltsberufs erledigten sie Reinigungsarbeiten, räumten auf, kochten und bereiteten Mahlzeiten zu, servierten und bedienten, betreuten Kinder oder kümmerten sich um ältere und kranke Dienstgeber/innen bzw. deren Angehörige. Dies zogen weder Dienstgeber/innen, Politiker/innen und Behörden, Hausgehilfinnen oder deren Organisationen in Zweifel. Die Dienste von Hausgehilfinnen waren eine wohlbekannte soziale Realität, die große Teile der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens entweder als Bedienstete oder als Dienstgeber/innen bzw. als deren Angehörige betrafen.

87 Merkmale u. a.: lebt in Wien bzw. lebt in der Großstadt; Zusammenleben mit Dienstgeber/ in, Umzug und Wechsel des Arbeitskontexts seit dem letzten Textabschnitt. 88 Ich schreibe nicht Beruf, weil dieser Terminus zur Untersuchungszeit immer mehr als kontinuierliche, gelernte Erwerbsarbeit durchgesetzt wurde (vgl. die Beiträge von Irina Vana und Georg Schinko in diesem Band). „Berufsmäßig“ war die Tätigkeit von Hausgehilfinnen oder Bedienerinnen rechtlich gesehen, wenn sie regelmäßig im selben Haushalt ausgeübt wurde. Hausgehilfinnen wurden (unabhängig von der Dauer ihres Verbleibs) auf unbestimmte Zeit aufgenommen und waren somit per definitionem berufsmäßig beschäftigt. Ihre „Berufszugehörigkeit“ bestand im Dienst als Hausgehilfin, wenn Behörden eine Kontinuität in der Erwerbsbiografie erblicken konnten. Dies wurde häufig als Grund angeführt, um unterstützungsberechtigten Arbeitslosen, die vormals auch im Haushalt oder der Landwirtschaft tätig gewesen waren, die Verlängerung der Unterstützung oder die Notstandshilfe vorzuenthalten. Vgl. exemplarisch Verwaltungsgerichtshof [im Folgenden: VwGH], Erkenntnis Zl. 150/26 vom 25. Jänner 1927, Sammlung Nr. 14.622 (A.), S. 77–79; VwGH, Erkenntnis Zl. 651/26 vom 18. Februar 1927, Sammlung Nr. 14.668 (A.), S. 171–173; VwGH, Erkenntnis Zl. A. 969/30 vom 8. April 1931, Sammlung Nr. 16.1611, S. 209–211; Bundesgerichtshof, Erkenntnis Zl. A. 1122/34 vom 29. November 1934, Sammlung Nr. 116 (A.), S. 145–147. 89 Richter, ‚Domestic Service‘, S. 493–495. 90 Merkmale u. a.: Zusammenleben mit Dienstgeber/innen; Position genannt; Nennung der Position, nicht aber der konkreten Tätigkeiten; Benennung des eingegangenen Arrangements (als „Dienst“, „Stelle“ o. Ä.), aber keine Nennung der konkreten Tätigkeiten.

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Der Aufgabenbereich von Hausgehilfinnen war aber auch gesetzlich geregelt: Das Hausgehilfengesetz definierte nicht nur den Kreis der Personen, die vom Gesetz erfasst werden sollten, sondern damit auch gleich deren grundsätzlichen Zuständigkeiten. So heißt es in Paragraph 2 (1) des Hausgehilfengesetzes: „Die Bestimmungen dieses Gesetzes gelten für das Dienstverhältnis von Personen, die zur Leistung von Diensten für die Hauswirtschaft des Dienstgebers oder für Mitglieder des Hausstandes angestellt und in die Hausgemeinschaft des Dienstgebers aufgenommen sind.“91 In ähnlicher Weise legte auch das Wiener Gesetz über die Hauspersonalabgabe (das Haushalte betraf, die mehr als eine Person beschäftigten) die Aufgaben des „Hauspersonals“ fest, wenngleich dieser Personenkreis auch weiter gefasst war als jener der „Hausgehilfen“ laut Hausgehilfengesetz.92 Eine Differenzierung unterschiedlicher Berufspositionen im Haushalt ergab sich ferner durch lokale Vereinbarungen wie vor allem bezüglich der Mindestlöhne in Wien.93 Zwar waren die gesetzlichen Einordnungen von Erwerbstätigen (weiterhin) Gegenstand von Konflikten etwa zwischen Dienstgeber/innen, Hausgehilfinnen oder staatlichen Stellen und Behörden. Aber im Verlauf der 1920er und 1930er Jahre wurden Hausgehilfinnen und deren Aufgaben immer klarer und eindeutiger bestimmt. Zunehmend wurde die Auffassung durchgesetzt, dass Hausgehilfinnentätigkeiten nur persönliche Dienste im und für den Haushalt umfassen konnten. Diese machten Dienstverhältnisse aber gleichsam zu etwas Besonderem, das sich von anderen Arbeitsverhältnissen, etwa in Gewerbebetrieben, unterschied. Die Vorstellung, dass die Tätigkeit für die Hauswirtschaft „enge persönliche“ oder zumindest spezifische Beziehungen zwischen Dienstgeber/innen und Hausgehilfinnen hervorbrachte, war nicht nur weit verbreitet, sondern diente auch als Argument, um Hausgehilfinnen von anderen Erwerbstätigen abzugrenzen und gesetzliche Sonderbestimmungen für sie zu rechtfertigen oder durchzusetzen.94 In den Auseinandersetzungen um die Dienste in der Zwischenkriegszeit war der Umgang damit zwar konträr: Christlichsoziale bzw. katholische Organisationen etwa idealisierten ein persönliches „Vertrauensverhältnis“; Sozialdemokrat/innen forderten rein professionelle Beziehungen. Alle 91 StGBl. 1920/101, § 2 (1). Neben den mit den Dienstgeber/innen in einem Haushalt (in „Hausgemeinschaft“) lebenden Personen wurden einige Bestimmungen des Gesetzes außerdem auf manche Bedienerinnen, Wäscherinnen oder Hauslehrer/innen ausgedehnt, die einen eigenen Haushalt führten. 92 LGBl. für Österreich unter der Enns/Niederösterreich Land 1920/725, § 1 (1); LGBl. für Österreich unter der Enns 1920/788 sowie die neuere Definition des Personenkreises in der novellierten Fassung von 1921: LGBl. Wien 1922/20, § 1 (2), vgl. auch § 1 (3). 93 Richter, Produktion, S. 126–129. 94 Richter, ‚Domestic Service‘, S. 492–500.

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mussten sich jedoch mit der spezifischen Beziehungskonstellation im Haushalt auseinandersetzen und Möglichkeiten finden, dieses Miteinander zu gestalten.95 Im Falle einer Hausgehilfin bzw. einer Köchin, eines Stuben- oder Alleinmädchens, so könnte man daher zusammenfassend für diese Orientierung sagen, verstand sich in der Zwischenkriegszeit von selbst, was sie prinzipiell tun und dafür bekommen, wo und für wen sie tätig sein sollte. Aufgrund ihres Dienstes wurden Hausgehilfinnen als Familienfremde in den Haushalt (Hausstand und Hausgemeinschaft) aufgenommen und verrichteten persönliche Dienste, wodurch sie in Beziehung zu den Mitgliedern der Dienstgeber/innenfamilie traten. Konstruiert wurde also eine Berufsgruppe mit ihren Untergliederungen und Gemeinsamkeiten, die in den Textabschnitten (vom Dienstzeugnis bis zum Artikel der sozialdemokratischen Hausgehilfinnenorganisation zur Mobilisierung von Mitgliedern) je unterschiedlich in Szene gesetzt wurde. Dieses durchgesetzte, offizielle Verständnis des Dienstes im Haushalt gab für manche Protagonist/innen den Maßstab ab, den sie selbst an ihren Dienst anlegten und an dem sie ihr Handeln ausrichteten. Sie reagierten auf Missstände im Hausdienst (um so im Sinne der linken Autor/innen zu protestieren bzw. gewerkschaftliche Mobilisierung zu befördern) und/oder sie stilisierten sich im Sinne der betreffenden Medien als „moderne“ Berufstätige: Sie gingen oder blieben im Dienst, je nachdem ob dieser ihren Ansprüchen genügte oder nicht. Ein nüchternes, sachliches Verhältnis zeigt sich aber nicht nur in Texten sozialistischer/kommunistischer Organisationen oder etwa in offiziellen Dokumenten. Manche Protagonist/innen, wie jene im weiter unten vorgestellten Textabschnitt aus dem Buch einer Dienstgeberin, machten ihre Arbeit unter den für ihre Stellung und den Haushalt üblichen Bedingungen. Sie kamen dennoch nicht umhin, sich mit ihrer Situation als Familienfremde und dem spezifischen Miteinander im Haushalt auseinanderzusetzen. Ein besonderes Dienstverhältnis setzte bei Bediensteten aber auch besondere Tugenden bzw. Eigenschaften voraus, die in den Textabschnitten dieser Orientierung zur Sprache kommen.96 Treue und Redlichkeit beispielsweise gehörten nicht nur zum spezifischen Anforderungsprofil an Hausgehilfinnen und galten als Garantie für einen reibungslosen Ablauf der Hauswirtschaft auf längere Sicht, sondern verwiesen auf Notwendigkeit und Schwierigkeit für Dienstgeber/ innen und Hausgehilfinnen, sich als Fremde miteinander zu arrangieren. Gerade im Haushalt, der ein geschützter privater Ort sein sollte, erlebten Dienstgeber/innen familienfremde Hausstandsmitglieder leicht als potenzielle Gefahr, 95 Richter, Vocation, S. 236–285. Für die Weimarer Republik vgl. Witkowski, Arbeit, S. 64–66. 96 Merkmale: treu, redlich.

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die im Zaum gehalten werden musste. Treue und Redlichkeit waren unter jenen Eigenschaften von Hausgehilfinnen, die weithin als wichtig anerkannt waren und etwa in Dienstzeugnissen üblicherweise aufgeführt wurden. Sie sollten (einseitig) einen Brückenschlag zwischen eigenen und fremden Hausstandsmitgliedern ermöglichen.

Anna7: Untreue und Einsamkeit im vornehmen Haus Die „Treue“ der Hausgehilfinnen ist auch das leitende Motiv einer Fallgeschichte,97 die eine Dienstgeberin erzählt, die offenbar der eher bürgerlichen Frauenbewegung in der Schweiz nahestand. Emma Langhans-Sulser veröffentlichte im Jahr 1913 ein Buch zur Dienstbotenfrage, nachdem sie im Oktober 1910 in Chur an der Elften Generalversammlung des Bundes schweizerischer Frauenvereine98 teilgenommen hatte, die dieser viel debattierten Zeitfrage gewidmet war. Die Rednerinnen dieser Veranstaltung waren sich darin einig, „dass das jetzige patriarchalische Verhältnis [bzw. das hierarchische ‚enge persönliche‘ Verhältnis zwischen Dienstgeber/innen und Dienstbot/innen, J.R.] als einzig richtiges, als geheiligtes weiter bestehen soll.“99 Dem hätte sich Langhans-Sulser anschließen können. Vorwort und Einleitung ihrer Publikation ist jedoch zu entnehmen, dass sie sich zwar inspiriert fühlte, den auf der Versammlung vorgetragenen Thesen und Lösungsvorschlägen aber nicht ohne Weiteres zustimmen konnte. Ihr Buch sollte, aus ihrer eigenen langjährigen Erfahrung als Dienstgeberin und Freundin anderer Dienstgeberinnen, Gedanken und Vorschläge zur Linderung der „Dienstbotennot“, der Knappheit an geeignetem Personal, formulieren. Dabei zielte sie zwar auf einen Interessenausgleich ab und lehnte dementsprechend die sozialistische bzw. sozialdemokratische Politik der Interessenkonflikte ab, verurteilte aber auch einseitig die häufigen, scheinbar grundlosen Dienststellenwechsel und die hohen Ansprüche, die viele Hausgehilfinnen in Zeiten des Personalmangels stellen würden. In einem „Normal-Dienstvertrag“, also einer gesetzlichen Regelung der Dienstverhältnisse, sah sie eine Lösung

97 Langhans-Sulser, Dienstboten-Frage, S. 17–25. 98 Zum Bund Schweizerischer Frauenvereine vgl. Joris, Bund Schweizerischer Frauenorganisationen; vor allem aber Isler, Politiken der Arbeit. Zu der betreffenden Generalversammlung vgl. Frauenbestrebungen, Jg. 1910, H. 11 (1. November 1910). Ich danke Simona Isler für den Hinweis auf diese Ausgabe. 99 K.-H., Elfte Generalversammlung, S. 83.

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dieser Probleme.100 Treue hatte ihrer Ansicht nach sowohl mit der Erfüllung der Pflichten einer Stelle als auch mit dem Vertrauensverhältnis zwischen Dienstgeberin und Hausgehilfin zu tun. Um Treue zu entwickeln, war ihr zufolge auch der Beitrag der Dienstgeberin gefragt: Daß es sehr schwer ist, ein gutes Dienstmädchen zu werden, haben wir schon gezeigt. Eine gute Leitung kann ihm diese Aufgabe, und vor allem auch das Ausharren im gleichen Dienste, erleichtern; allein es braucht viel Zeit, um sich in alle Pflichten einer Dienststelle so einzuleben, daß alles tadellos geht und die Herrschaft dem Mädchen unbedingt vertrauen kann. Erst dann kann man von ihm mit Recht sagen, es sei treu. Diese Treue ist eine der schönsten Eigenschaften eines Dienstmädchens.101

Fast alle Abschnitte ihres Berichts sind in meiner Konstruktion am Dienstverhältnis orientiert.102 Die Hausgehilfin Anna stammte aus einem armen Elternhaus (Abschnitt Anna1) und wurde nach der Schulentlassung zunächst zu einem Arzt und dessen Familie in den Dienst geschickt. Von der „Frau Doktor“ erhielt sie Anleitung, Belehrung und Erziehung, die die Autorin des Berichts als wesentlich hervorhob. Während der Jahre, die sie in dieser Stelle blieb, änderten sich sowohl ihre Arbeitsbedingungen als auch die Zusammensetzung des Haushalts (Anna2 bis Anna5). Im sechsten Abschnitt verließ Anna den Posten nach dem Tod ihrer Schwester, um ihrem Schwager den Haushalt zu führen und in stiller Hoffnung, ihn später zu heiraten und einen eigenen Hausstand gründen. Dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Schließlich fand Anna eine „gute Stelle“ in einem „vornehmen Hause“ (Anna 7).103 In meiner Konstruktion zeigt der Abschnitt Anna7 die prätentiöse Orientierung insgesamt am besten und ausgewogensten.104 Über Annas Pflichten im vornehmen Haus erfährt man kaum Konkretes: Es handelte sich um eine „gute Stelle“ und um einen „Dienst“, Annas „Leistungen“ „befriedigten“ sehr und sie hatte dort „Arbeiten“ zu erledigen. Anna wird im Text zitiert, sie bezeichnete sich demnach als „Mädchen“, ihre Dienstgeberin und deren Bekannte als „Damen“, was wiederum auf Unterschiede in der ge100 Langhans-Sulser, Dienstboten-Frage, Vorwort und S. 1–12. 101 Ebd., S. 25. Hervorhebung im Original. 102 Nur im ersten Abschnitt, in dem die Verhältnisse und Annas Platz in ihrem Herkunftshaushalt beschrieben werden, orientieren sich die Einsätze positiv am Zugehören zum Haushalt. 103 Langhans-Sulser, Dienstboten-Frage, S. 24 f. 104 Das cos² ist 3,7fach überdurchschnittlich. Der Abschnitt wird durch die positive Orientierung am Arbeitsverhältnis etwas besser repräsentiert als durch seine negative Orientierung am Hausstand; beide eindimensionalen Orientierungen weisen ein überdurchschnittliches cos² auf.

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sellschaftlichen Stellung von Dienstgeber/innen und Bediensteten verweist. Mehr erfahren wir nicht. Aber Details sind im Kontext der Geschichte auch nicht notwendig. Einerseits konnte die Autorin diese Information als Normalität von Dienstverhältnissen voraussetzen, andererseits konzentrierte sie sich in diesem Abschnitt vor allem auf Annas enttäuschte Sehnsucht „auf ein eigenes Heim“ und deren Einsamkeit wegen des Mangels an Kontakt zu den Dienstgeber/innen. So war die instrumentelle Beziehung zwischen Anna und den anderen Hausstandsmitgliedern in der Geschichte der Anfang größeren Übels: „Zwischen ihr und der Herrschaft gab es keine anderen Beziehungen, als den Dienst; kein teilnehmendes Wort und keine freundliche Frage wurde ihr daselbst je zuteil.“105 In der Folge wurde Anna mürrisch, ließ sich nichts mehr sagen und wies jeglichen Tadel von sich. „Wäre sie sonst nicht so tüchtig“, meinten die Dienstgeber/innen, „müßte man sie entlassen.“ Die Klagen nahmen zu: Jedem Mann wäre sie ‚nachgestiegen‘, sie vernachlässigte ihre Aufgaben und gab freche Antworten.106 Annas Entlassung wird lediglich angedeutet. Die Geschichte hat kein eindeutiges Ende. Sie schließt damit, dass Annas „einzige Freundin, die Frau Doktor, den schlimmen Bericht“ zu spät hörte. „Ein freundliches Wort und eine ernste Mahnung von ihr wäre gewiss imstande gewesen, die arme Enttäuschte über die Klippe, an der sie jetzt scheiterte, zu führen. Sie hätte dem Mädchen liebevoll gezeigt, […] daß sie gar nicht mehr vernünftig denken könne und vergesse, wie sie sich zu benehmen habe.“107 Mussten Annas Tätigkeit und die Bedingungen ihrer Beschäftigungen nicht erklärt werden, da der häusliche Dienst den Leser/innen ein Begriff war, so bedurften die Beziehungen zu den Dienstgeber/innen und die Weise des Zusammenlebens sehr wohl einer Erläuterung. Das Miteinander gestaltete sich in diesem Haushalt anders als bei der vorherigen Dienstgeberin, der „Frau Doktor“, die hier als leuchtendes Beispiel einer Dienstgeberin fungiert. Während letztere Anna (ungeachtet der Hierarchie zwischen beiden) als ‚mütterliche Freundin‘ in den Haushalt aufnahm, erfuhr sie im „vornehmen Hause“ keine Anteilnahme und Anleitung oder die als notwendig erachtete „Erziehung“ als Familienfremde. In beiden Fällen allerdings handelte es sich bei dem Dienst um ein Arbeitsverhältnis, das sich aufgrund seiner Besonderheit, der Aufnahme in den Haushalt, von anderen Arbeitsverhältnissen unterschied und unterscheiden sollte. Ob es positiv oder negativ erlebt bzw. im Text beschrieben wurde, ob die Bezie-

105 Langhans-Sulser, Dienstboten-Frage, S. 24. 106 Ebd., S. 24 f. 107 Ebd.

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hungen verhältnismäßig innig oder distanziert waren: Anna hatte in jedem Fall kein „eigenes Heim“. Damit war sie auch nicht als Familienmitglied, sondern vornehmlich als Arbeitskraft in den Haushalt einbezogen. Sie konnte nicht nur bei Fehlverhalten entlassen werden, sondern musste ihr Verhältnis zu den Dienstgeber/innen von Stelle zu Stelle immer neu bestimmen und herstellen. Die Autorin sah Anteilnahme, Anleitung und Erziehung als Aufgaben der idealen Dienstgeber/in. Von Hausgehilfinnen erwartete sie hingegen Arbeitswilligkeit, Ausdauer, Arbeitsfreude, Unterordnung und gutes Benehmen. Anna charakterisierte sie als einfältig108 und gestand ihr keine eigenständigen Bedürfnisse zu. Aber allein ihre Stellungnahme zum ‚richtigen‘ Verhalten beider Seiten verweist darauf, wie umstritten und unbestimmt die Stellung als Familienfremde im Haushalt war. Ähnliches findet sich in anderen prätentiösen Abschnitten, wenn sie auch meist durch eine der beiden eindimensionalen Orientierungen (1. Wirtschaften, 2. Teil des Hausstands sein) besser abgebildet werden als durch die andere. Gilt dies für die erste Dimension, werden Beziehungen und Weisen des Zusammenlebens im Abschnitt tendenziell ausgeblendet, da dies für die Beschreibung eines Arbeitsverhältnisses unerheblich ist. Ist hingegen die zweite Dimension besser repräsentiert, stellt der Abschnitt stärker das umkämpfte oder zumindest zunächst unbestimmte Miteinander im Haushalt dar.

Skeptische Orientierung: Aufwachsen im Elternhaus Das Aufwachsen im Elternhaus in ländlichen Gegenden steht im Raum der Lebensunterhalte in stärkstem Kontrast zur Orientierung am Dienstverhältnis (Prätention): sowohl durch seinen Gegensatz zum Arbeitsverhältnis als auch durch die Verwirklichung des Kindes im Hause. Jene, die im eigenen Elternhaus aufwuchsen, wussten von den gerade behandelten Konflikten um den Dienst (noch) wenig. Landidylle, kindliche Abenteuer, Familienleben, Schule, aber auch Armut prägten den in den lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen ehemaliger Dienstbot/innen und Hausgehilfinnen beschriebenen Alltag als Heranwachsende.

108 Ebd., S. 21.

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Abb. 5: Grafik der primären Fläche – Raum der Lebensunterhalte in Haus und Hof, Zoom der skeptischen Orientierung (im Elternhaus aufwachsen). © J. R. Legende: V = Vater; M = Mutter; pos. = positiv; LW = Landwirtschaft; hw = hauswirtschaftlich; HH = Haushalt; J. = Jahre; ≠ = nicht; Sequ. = Sequenz; EW = Einwohner/innen; „“: wörtl. Nennung.

Die Protagonist/innen standen in diesen Textabschnitten nicht im Dienst oder einem Erwerbsverhältnis und bemühten sich auch nicht darum. Sie waren anders aktiv: Sie spielten, gingen zur Schule und halfen im Elternhaus mit. Doch selbst wenn dies fürs Aus- und Durchkommen des Haushalts notwendig sein mochte,109 in Lebensbereiche wie Arbeit, Freizeit, Familienleben etc. ließen sich die Aktivitäten nur schwer einteilen. Was die Protagonist/innen taten, war nicht 109 Papathanassiou, Arbeit, S. 33–37; für das 18. und 19. Jahrhundert: Humphries, Children.

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festgelegt, sondern folgte den eigenen und den – durchaus veränderlichen – Bedürfnissen des Familienhaushalts, musste sich jedoch auch nach offiziellen Verpflichtungen (wie der Schulpflicht) oder natürlichen Bedingungen (wie Jahreszeiten etc.) richten.110 Mithilfen und Freizeit/Spiel waren nicht oder nicht immer klar voneinander unterscheidbar. Die Protagonist/innen waren einerseits „zu Hause“, im ländlichen Haushalt der eigenen Eltern, und verlebten dort mit Geschwistern und gegebenenfalls weiteren Verwandten eine „Kindheit“, zum Teil sogar eine „schöne Kindheit“, als Schulkinder. Nicht sie, sondern die Eltern waren grundsätzlich für ihre Versorgung und die des Haushalts zuständig, obwohl sie durch ihre Mithilfen durchaus wichtige Beiträge zum Haushaltseinkommen leisteten. Zugunsten der Schule waren die Protagonist/innen von Erwerbsarbeit und zumindest ausreichend vom Mithelfen freigestellt.111 Gleichzeitig wussten manche um den Wert ihres Beitrags und/oder beschreiben die Kindheit als Phase des spielerischen Erlernens von Tätigkeiten in Garten und Wirtschaft. Diese Arrangements bestanden langfristig. Die Stabilität war jedoch nicht zuletzt aufgrund der Armut der Haushalte und der damit vielfach verbundenen Überarbeit der Eltern oder einer mangelnden Gesundheitsversorgung gefährdet. Manche Protagonist/innen mussten in nachfolgenden Abschnitten sogar noch vor der Schulentlassung den Elternhaushalt verlassen, weil den Eltern etwas zustieß. Als Pflegekinder in fremden Haushalten verloren sie aber nicht nur ihren Platz und die Geborgenheit in der eigenen Familie: Sie wurden vielfach, auch über gesetzliche Einschränkungen hinaus, zur Arbeit in Haus und Landwirtschaft angehalten. Schulbesuche wurden daher bei einigen selten (vgl. Orientierung Mitleben als Familienfremde/r).112 Aber auch Protagonist/innen, die im Elternhaus aufwuchsen, spürten die Folgen einer angespannten Einkommenssituation – und das galt in besonderem Maße in Krisenzeiten, etwa wenn ein Elternteil krank wurde.113

110 Merkmale u. a.: Lernen in der Schule positiv bewertet; Schulzeit positiv bewertet; in der Schule; sammeln (Beeren, Holz etc.); „spielen“; keine Stellensuche. 111 Vana, Gebrauchsweisen, S. 407. Merkmale u. a.: „zu Hause“; „schöne Kindheit“; Lernen in der Schule positiv bewertet; aktueller Erwerb des Vaters: Landwirtschaft; Alter sechs bis zehn Jahre; Mutter: Haushaltstätigkeiten/eigene Wirtschaft; aktueller Erwerb der Mutter: hauswirtschaftliche Dienste bzw. Bedienungen; Mutter arbeitsfähig; Haushaltsvorständ/innen „Eltern“ genannt; Schulzeit positiv bewertet; Vater arbeitsfähig; in Schule; lebt mit Geschwistern und Verwandten zusammen; aktueller Erwerb der Mutter: Landwirtschaft; Alter zehn bis 14 Jahre; Ort: außerhalb von Ortschaften; Gemeindegröße: 500 bis 2.500 Einwohner/innen. 112 Vana, Gebrauchsweisen, S. 407. 113 Merkmale u. a.: barfuß; Krankheit Elternteil/e; Verbleib im Haushalt 9,5 bis 11,5 Jahre; Verbleib im Haushalt mehr als 11,5 Jahre, kein großes Haus bzw. großer Haushalt.

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Diese Lebensunterhaltsorientierung war somit deutlich von der Abhängigkeit von den Eltern geprägt: Als nicht erwerbstätige Kinder waren die Protagonist/innen sowohl auf die Versorgung als auch die Umsorge der Eltern angewiesen. Nur wenn sowohl die Freistellung von Erwerbsarbeit als auch die selbstverständliche Umsorge und Erziehung im Familienhaushalt gewährleistet war, konnte diese Phase als Kindheit beschrieben werden, selbst wenn sie vielfach nicht reibungslos ablief.114 All dies zeigt sich am deutlichsten, je näher die Punkte an der Diagonale liegen (vgl. Abbildung 5). Je neutraler dabei ihre Position auf der ersten Dimension Wirtschaften bzw. je extremer ihre Position auf der zweiten, Teil des Hausstands sein, ist, desto jünger werden die Kinder, das Abhängigkeitsverhältnis zu den Eltern verstärkt sich (in der Abbildung wären sie unterhalb der Diagonale platziert). Je neutraler sie hingegen in Bezug auf die zweite Dimension positioniert sind (oberhalb der Diagonale), umso stärker sind die Heranwachsenden in die landwirtschaftlich und dörflich geprägten Abläufe eingebunden. Jahreszeiten, Perioden im Arbeitsjahr, Religion und Bräuche spielen dann eine immer wichtigere Rolle.

Kominek3: Mithilfen, prekäre Versorgung und „Nestwärme“ Kominek3 ist derjenige Abschnitt im Sample, der am besten geeignet ist, um die positive Orientierung am Aufwachsen im Elternhaus zu veranschaulichen. Er wird nicht nur gut durch seine Position in der Fläche dargestellt (das cos² ist mehr als doppelt überdurchschnittlich), sondern beide Dimensionen tragen dazu auch zu fast gleichen Teilen bei.115 Hermine Kominek116 wurde im Jahr 114 Merkmale u. a.: Bestrafung durch den Vater; Beziehung zum Vater positiv; Vater sowie Mutter positiv charakterisiert. 115 Das cos² von Kominek3 (0,14) ist 4,8mal so hoch wie der durchschnittliche Wert. Sowohl für die erste als auch die zweite Dimension beträgt das cos² für diesen Abschnitt ca. 0,07 und ist überdurchschnittlich. 116 Insgesamt habe ich die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen Hermine Komineks in elf Abschnitte unterteilt (Kominek1 bis Kominek11). Die Zäsuren in der Kindheit betreffen zunächst Veränderungen der Haushaltskonstellation: Ihre Brüder ziehen aus bzw. rücken als Soldaten im Ersten Weltkrieg ein. Nach der Schulentlassung mit 14 Jahren geht sie dann an jenem Bauernhof in den Dienst, wo die Eltern im Tagelohn stehen. In den folgenden Abschnitten hat sie Posten als Hausgehilfin und Stubenmädchen in einer Krankenanstalt inne. Dabei beschreibt jeder Textabschnitt je eine Stelle – mit Ausnahme eines Abschnitts, in dem sie mehrere Posten als Hausgehilfin in Wien zusammenfasst und gemeinsam beschreibt, ohne im Text eine Zäsur zu setzen. Zwischen zwei Stellen ersetzt sie in einem weiteren Abschnitt außerdem die Arbeitskraft ihrer erkrankten Mutter in der elterlichen Wirtschaft und als Tagelöhnerin. Der letzte Textabschnitt Kominek11 bezieht sich auf die Jahre zwischen ca. 1933/1934 und 1945. Sie ist

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1907 als zehntes und jüngstes Kind einer Tagelöhner/innenfamilie geboren. Im Gegenzug für ihre Tagedienste bei einem Bauern stellte dieser den Eltern Komineks während ihrer Kindheit (Kominek1 bis 3) eine Keusche zur Bewirtschaftung zur Verfügung, was einen wesentlichen Teil des Lebensunterhalts der Familie sicherstellte: ein ärmliches Häuschen sowie Grund für einen Gemüsegarten und die Haltung einiger Tiere. Armut war während der gesamten Kindheit Komineks ein Thema. Das Wohnen war beengt und ungesund. Die Familie litt immer wieder Hunger. Auch an Kleidungsstücken mangelte es. 117 Kominek3, der dritte Abschnitt118 der 1985 verfassten lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen, präsentiert eine späte Phase des Aufwachsens im Elternhaus im ländlichen Niederösterreich. Die Periode beginnt mitten im Ersten Weltkrieg, ca. 1916, als ihre beiden jüngsten und bis dato noch mit ihr bei den Eltern wohnenden Brüder Sepp und Loisl zu Bauern in den Dienst gingen. Ihre anderen Geschwister waren entweder längst außer Haus oder als Soldaten an der Front. Vier weitere Geschwister waren bereits verstorben. Kominek blieb damit als einziges Kind im Elternhaus zurück, wodurch sich ihr Alltag gründlich veränderte. Der Abschnitt endet mit ihrer Schulentlassung 1921 und ihrem direkt darauffolgenden Dienstantritt als Magd bei jenem Bauern, für den die Eltern im Tagelohn tätig waren. Später nahm Hermine Kominek vor allem Posten als Hausgehilfin bzw. als Stubenmädchen in Krankenanstalten an. Als die beiden jüngsten Brüder auszogen, ging Hermine bereits seit drei Jahren in die Volksschule. Für sie bedeutete die neue Haushaltskonstellation eine doppelte Zäsur: Einerseits konnte sie sich endlich sattessen, andererseits war sie nun das einzige Kind, das bei der elterlichen Wirtschaft mithelfen musste. Konnte jetzt wohl genug Brot u. Milch essen, aber nun gab es viel Arbeit für mich. Wenn ich von der Schule heim kam lagen schon die schriftlichen Aufträge für mich auf dem Tisch: Hole Futter für die Ziegen, hole Heu mit dem Schubkarren vom weit entfernten Acker, hole viel Wasser vom paar Minuten entfernten Brunnen, der Bottich sollte immer voll sein. Der Gemüsegarten mußte gejätet u. gegossen werden, die Hühner hatte ich zu versorgen usw. Habe natürlich auch versucht, die Stube in Ordnung zu bringen, die Betten zu machen, den Boden zu reiben u. v. a.119

nun verheiratet und erlangt unter anderem als Bedienerin ein Einkommen. Vgl. Kominek, Lebensgeschichte. 117 Hermine Kominek, Lebensgeschichte, S. 1–14. 118 Ebd., S. 4 f., 9 f., 13 f. Die Chronologie wird im Text nicht ganz eingehalten, so dass der Abschnitt nicht zusammenhängend erzählt wird. Zudem gibt es Textpassagen, die sich trotz der Zäsursetzung der Autorin auf mehrere Abschnitte beziehen (wie etwa die Beschreibung des Hauses oder der Erwerbstätigkeit der Eltern). 119 Ebd., S. 4 f.

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Durch diese vielfältigen Arbeiten trug Kominek zur Versorgung bei und entlastete die Eltern. Diese gingen tagsüber ihren Tagediensten für den Bauern nach, um die Grundversorgung der Familie zu gewährleisten. Darüber hinaus suchten sie noch andere Einkommensmöglichkeiten, um erwerbslose Perioden abzupuffern. Der Vater stellte im Winter teils mit Hilfe der Mutter Holzschuhe und Körbe her. Kominek musste diese Produkte in umliegenden Ortschaften „abliefern“, verkaufen oder gegen Nahrungsmittel eintauschen. In der Erzählung waren ihre Mithilfen einerseits durch Armut erzwungene Notwendigkeit, andererseits aber auch ein anerkannt wertvoller Beitrag zum elterlichen Haushalt. „Ich tat alles selbstverständlich u. gern und freute mich, wenn mich Mutter lobte. Wir hatten überhaupt viel Nestwärme und Liebe, so daß wir die vielen Dinge die uns fehlten, nicht sosehr vermißten.“120 Zu Hause wurde Kominek versorgt wie umsorgt. Als leibliches Kind gehörte sie selbstverständlich und langfristig dem Haushalt an, was es ihr ermöglichte, heranzuwachsen und die Pflichtschulzeit zu beenden. Gleichzeitig war sie als Kind im Schulalter von den Eltern materiell abhängig und als Minderjährige der Erziehung der Eltern unterworfen, die beim Vater auch in Strafen münden konnte. Sein Alkoholkonsum stellte sowohl die Gemeinschaft als auch die Versorgung im Haushalt immer wieder auf die Probe. Als Haushaltsvorstand war er ‚seinem‘ Hausstand aber nicht zur Rechenschaft verpflichtet: „Vom Vater hatten wir überhaupt mehr Angst, als wir ihn liebten. Er war jähzornig, besonders wenn er getrunken hatte u. das kam ziemlich oft vor. Obwohl wir das Geld für dringende Anschaffungen benötigt hätten, so trug er doch Sonntag für Sonntag das Geld ins Wirtshaus, aber er war der Herr im Haus, da durfte auch Mutter nichts sagen.“121 Doch seinen grundsätzlichen Verpflichtungen als (Mit-)Versorger kam der Vater stets nach. Weder der Jähzorn noch das Ausmaß seines Alkoholkonsums im Haushalt stellten den Bestand eines Familienhaushalts oder die Kontinuität der Beziehungen an sich in Frage. Obwohl der Vater sie und die Mutter vor Probleme stellte und die Armut drückend war, konnte Kominek im Vergleich zu anderen Heranwachsenden im Sample unter relativ stabilen Umständen im Elternhaus aufwachsen.

Dominierte Orientierung: Mitleben als Familienfremde/r Solche Stabilität findet sich bei der positiven Orientierung am Mitleben als Familienfremde/r nicht. In den Auseinandersetzungen um die Dienste kam man 120 Ebd., S. 5. 121 Ebd., S. 6.

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um die Veränderlichkeit der in Häusern und Höfen vorgefundenen Bedingungen kaum herum. Wohnungen, die Zusammensetzung des Hausstands, die zu befriedigenden Bedürfnisse etwa wechselten von Haushalt zu Haushalt: zwischen verhältnismäßig arm und reich, Stadt und Land, nach den Berufen/Gewerben oder kulturellen Hintergründen ihrer Bewohner/innen, nach Arbeitsweisen und -organisation, nach Ausstattung mit Ressourcen und Hilfsmitteln, nach der Zusammensetzung der Mitglieder und deren individuellen Eigenschaften oder Bedürfnissen. Auf Höfen wurden nicht nur unterschiedliche Dinge produziert, sondern dies geschah auch auf unterschiedliche Weise. Kleinere Bauernhöfe funktionierten anders als große Güter etc. Für Zeitgenoss/innen war dies einerseits selbstverständlich, andererseits ein Problem, mit dem man umgehen musste und mit dem unterschiedlich umgegangen wurde. Waren etwa die Hausgehilfinnengewerkschaft Einigkeit und sozialdemokratische Politiker/innen bemüht, die Unterschiede zwischen Haushalten zu ignorieren oder gar zu negieren, um Hausgehilfinnen über eine identische Problemlage als Gruppe konstruieren und organisieren zu können (siehe prätentiöse Orientierung),122 sahen andere in der Variabilität der Haushalte gerade deren wesentliches Merkmal. So schrieb etwa der Leiter des Arbeitsamtes in Graz Egon Uranitsch 1928 über die besonderen Anforderungen an die Stellenvermittlung für Hausgehilfinnen: „Hierbei handelt es sich nicht lediglich um die Einstellung in Arbeit in irgendeinem Betrieb, sondern in den meisten Fällen um Aufnahme in den Haushalt. Jeder Haushalt hat seine besonderen Eigenheiten. Jede offene Stelle ist daher von der anderen verschieden.“123 In der dominierten Orientierung ließen sich die Dienste von Hausgehilfinnen, ländlichen Dienstbot/innen und anderen mitlebenden Mithelfenden kaum als standardisiertes Dienstverhältnis einer mehr oder weniger einheitlichen Berufsgruppe fassen und umsetzen. Von der prätentiösen Orientierung unterscheidet jene am Mitleben als Familienfremde/r, dass Besonderheiten der Haushalte/ Höfe, der Arrangements, Bedingungen und Beziehungen vor Ort (z. B. zum Zweck der gewerkschaftlichen Mobilisierung) nicht ausgeblendet wurden und (z. B. aufgrund des hohen Grads an Veränderlichkeit und Unterschiedlichkeit zu anderen Dienststellen) aus der Perspektive der Protagonist/innen auch nicht ausgeblendet werden konnten. Wurden sie als Familienfremde in einen Haus-

122 Diese Textabschnitte werden aber besser durch ihre positive Orientierung am Erwerbsverhältnis als durch ihre negative Orientierung am Kind im Hause beschrieben (in der Grafik: sie sind zwischen der Diagonalen und der x-Achse positioniert), weswegen ich sie hier nicht als Beispiel herangezogen habe. 123 Uranitsch, Hausgehilfinnenvermittlung, S. 409. Ich danke Irina Vana für die Bereitstellung dieser Quelle.

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halt oder Hof aufgenommen, traten sie in ein eigenes Universum ein, das sich in vielem von den Haushaltskonstellationen, Beziehungen und Arbeitsarrangements vor- und nachher unterschied. Dies galt nicht nur für Pflichten, Rechte, Bedingungen, Vereinbarungen und das Miteinander im Haushalt selbst,124 sondern auch für sämtliche anderen Beziehungen und Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Hauses oder des Hofes, die davon beeinflusst wurden oder sich veränderten: In der Kirche, auf Dorffesten, am Ort war man nicht irgendwer, sondern Knecht oder Magd von XY. Der Eintritt in einen neuen Posten bedeutete auch, die Eltern seltener/häufiger besuchen zu können als zuvor etc. Somit bezieht sich diese Orientierung auf den Umgang mit den Besonderheiten der konkreten Konstellation, aber diese ist besonders gerade in Relation zu den Arrangements auf anderen Höfen und in anderen Häusern. Zum Teil wird dies in den Textabschnitten durch Vergleiche und Bezugnahmen auf andere Stellen und Haushaltskonstellationen verdeutlicht. All dies zeichnete das Mitleben als Familienfremde/r aus, jene Flächenorientierung, die negative Orientierungen an den beiden offiziellen Referenzen vereint. Die Protagonist/innen der Textabschnitte fügten sich in die Ordnung im fremden Haus oder Hof ein. Die Variabilität von Haushalten war keineswegs gleichbedeutend mit der Abwesenheit jeder Ordnung, etwa von Verhaltens- und Kleidungsstandards für Familienmitglieder und -fremde. Die Protagonist/innen der Abschnitte kritisierten dies, passten sich an und/oder identifizierten sich mit den jeweiligen Ordnungen. Manche übernahmen Verantwortung und fühlten sich verpflichtet.125 Jede dieser Ordnungen beschreiben die Autor/innen detailgenau, denn deren Kenntnis kann bei der Leser/innenschaft nicht einfach vorausgesetzt werden. Weder reicht ein simpler Verweis auf einen Beruf oder eine bestimmte Stellung (Köchin, Knecht etc.) dafür aus, noch ist ein Detailwissen über das Mitleben als Familienfremde/r bei den Leser/innen zu erwarten.126 Denn viele der in dieser Orientierung positionierten Textabschnitte entstammen lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen, die erst Jahrzehnte nach dem Erzählten entstanden sind. 124 Vgl. dazu auch Henkes, Heimat, S. 68–70. 125 Merkmale u. a.: „wir“; selbstständig; „wir“ & freiwillige Extraarbeit leisten; Kleidungsstandards. 126 Merkmale u. a.: wörtliche Rede; zitieren im Dialekt; Tätigkeiten beschrieben (wie tut man etwas); „arbeiten“; „helfen“; Arbeitszeit erwähnt; sonstiger Besitz; Erlebnisse anderer; Tätigkeiten bewertet (wie bewertet man etwas, das man tut); positive Aspekte des Wohnens erwähnt (wohnen sonst +); Qualität Essen positiv; Länge Abschnitt: 401–600 Zeilen; sonstige hauswirtschaftliche Tätigkeiten (außer die üblicherweise genannten wie reinigen, nähen, kochen etc.); aufräumen; Wäsche/waschen; Qualität sowie Quantität Essen positiv; freie Tage etc.

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Abb. 6: Grafik der primären Fläche – Raum der Lebensunterhalte in Haus und Hof, Zoom der dominierten Orientierung (als Familienfremde/r mitleben). © J. R. Legende: neg. = negativ; pos. = positiv; erw. = erwähnt; beschr. = beschrieben/Beschreibung; hw = hauswirtschaftlich; „“: wörtl. Nennung.

Die Aufgaben, Vergütungen oder Lebensbedingungen der Protagonist/innen waren an die Bedürfnisse des konkreten Haushalts oder Hofs gebunden. Selbst wenn ein/e Protagonist/in für eine spezifische Position mit einem, nach offiziellen Maßstäben, abgegrenzten Aufgabenspektrum (zum Beispiel als Köchin) und nach vorherigen Absprachen engagiert wurde, orientierten sich die tatsächlichen Bedingungen der Tätigkeiten an den Gegebenheiten vor Ort und den Wün-

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schen der Dienstgeber/innen.127 Ähnliches galt für die Beziehungen und das Zusammenleben der Haushaltsmitglieder. Auch dies war veränderlich und abhängig von den jeweiligen Konstellationen und Beteiligten.128 Darüber hinaus veränderten sich die Protagonist/innen auch selbst. Sie wurden älter, kräftiger, wuchsen heran und lernten dazu, wie manche im Vergleich zu vorherigen Dienststellen oder -phasen hervorhoben.129 Dies konnte den Übergang in einen anderen rechtlichen Status bedeuten. Pflegekinder und Dienstbot/innen waren beispielsweise vielfach mit ähnlichen Aufgaben betraut. Doch jene galten nicht oder bedingt als Arbeitskräfte, diese aber schon. Wurden Dienstbot/innen in den 1920er Jahren in die obligatorische Krankenversicherung für Landarbeiter einbezogen, existierten Befreiungsmöglichkeiten für (Pflege-)Kinder und andere so genannte mithelfende Familienangehörige fort.130 Alter, Erfahrung und besonders in der Landwirtschaft auch Körperkraft waren außerdem wesentlich für die Stellung im Haushalt oder am Hof. Die Position einer Köchin etwa setzte neben einem Haushalt mit mehreren Beschäftigten Kenntnisse und Erfahrung voraus. Knechte und Mägde stiegen mit zunehmendem Alter gegebenenfalls in der Gesindehierarchie auf, wenngleich dafür zunächst oft (wie bei Hausgehilfinnen, die ihre Stellung verbessern wollten) ein Stellenwechsel notwendig war.131 Mit dem Aufstieg in der Diensthierarchie, oder auch nur mit dem Versuch, sich in einen neuen Posten einzufügen, konnten die Protagonist/innen erfolgreich sein oder scheitern. Ein Zugewinn an Kenntnissen, Erfahrungen, Kraft etc. führte vielfach, insbesondere während der wirtschaftlichen Krisen der Zwischenkriegszeit, nicht zu einer Verbesserung der Stellung im Haus oder am Hof, selbst wenn der Posten gewechselt wurde. Und wenn eine Hausgehilfin oder Dienstbot/in eine Stelle bekam, die nach offiziellen Maßstäben (etwa: Mindestlohnregelung) oder verbreiteten Vorstellungen besser dotiert oder spezialisierter war als die vorherige, sagte dies noch nichts über die tatsächlichen Bedin-

127 Vgl. etwa den Abschnitt K7: Franziska K., Kein Titel, S. 51–60. Die Autorin hat der Veröffentlichung ihres vollen Namens nicht zugestimmt. 128 Merkmale u. a.: Familienintegration & gemeinsam essen; „Hoheit“; auf negative Weise kritisiert werden; Widerstand; Kolleg/innen bzw. andere fremde Haushaltsmitglieder positiv charakterisiert; Lob; persönliche Nähe zu anderen Haushaltsmitgliedern; beschimpft werden & andere im Haushalt haben bessere Lebensbedingungen; „wir“ und freiwillige Extra-Arbeit leisten etc. 129 Merkmale u. a.: Selbstbeschreibung; Kenntnisse fehlen; Kenntnisse nützen; lernen; Selbstbeschreibung: Körper etc. 130 Bruckmüller, Soziale Sicherheit, S. 68; Vana, Gebrauchsweisen, S. 408. 131 Vgl. etwa Lasnik, Von Mägden, S. 42–43; Mitterauer, Familienwirtschaft, S. 201 f.; Walser, Dienstmädchen, S. 26; Wierling, Mädchen für alles, S. 72.

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gungen oder Aufgaben aus, die mit dieser Stelle verbunden waren. Gleichsam brachte aber schon der Wechsel in einen anderen Haushalt bzw. an einen anderen Hof vielfach die Notwendigkeit mit sich, sich einzuarbeiten, sich damit in das neue Arbeitsumfeld einzupassen und sich hier benötigte Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen.132 Ebenso wie das Arbeitsumfeld veränderte sich auch das Miteinander im Haushalt mit einem Wechsel: neue Personen und eine neue Haushaltskonstellation bedeuteten auch immer eine Veränderung der Beziehungen. Voneinander trennen ließen sich das Zusammenwohnen und -wirtschaften, Arbeit und Leben in Haus oder Hof ohnedies nicht.133 Für Hausgehilfinnen und landwirtschaftliche Dienstbot/innen waren Arbeitsort und Lebensmittelpunkt in dieser Orientierung eins. Gerade auf Höfen arbeiteten Bäuer/innen, andere Familienmitglieder und Familienfremde zusammen. Dienstbot/innen wurden in Feste und religiöse bzw. regionale Bräuche eingebunden.134 Aber auch für häusliche Bedienstete in der Stadt gab es eine Trennung von Lebensbereichen im Dienst so gut wie nicht. Sie verfügten kaum über selbstbestimmte Zeit, waren für die Dienstgeber/innen fast permanent greifbar und lebten mit den anderen Haushaltsmitgliedern eng zusammen. Dadurch entstanden leicht intensive (oft konfliktgeladene, zum Teil aber auch vertraute) Beziehungen.135 Letzteres wird im Abschnitt umso stärker herausgestrichen, je extremer dieser auf der zweiten Dimension positioniert ist bzw. je neutraler die Position auf der ersten Dimension ist (in Abbildung 6 wäre er nahe der y-Achse platziert). Ist ein Abschnitt hingegen auf der ersten Dimension extremer positioniert als auf der zweiten, beschreibt er stärker die Vielfalt der Tätigkeiten der Protagonist/innen. Er stellt dar, wie die Aktivitäten in die Strukturen der Häuser und Höfe und in das Zusammenleben vor Ort eingebunden sind (Abbildung 6: nahe der x-Achse). In manchen Abschnitten dieser Orientierung ist die Notwendigkeit, sich immer wieder einzufinden, anzupassen, dazuzulernen, auch eine Tugend – eine Fähigkeit, neue und oft auch schwierige Situationen zu meistern. Die mehr oder weniger abstrusen Wünsche der Dienstgeber/innen zu erfüllen (und damit gegebenenfalls auch Konflikten oder Strafen zu entgehen), gleichzeitig aber den eigenen Stolz zu bewahren und/oder sogar Privilegien zu erstreiten,136 zeigte

132 Merkmale u. a.: Kenntnisse fehlen; Selbstbeschreibung; lernen. 133 Merkmale u. a.: Religion; Erlebnisse anderer; tanzen; Familienintegration & gemeinsam essen; Alltag. 134 Hempe, Ländliche Gesellschaft, S. 196; Langthaler, Feld. 135 Vgl. exemplarisch Gill, Painted Faces, S. 124, 127 f.; Müller, Dienstbare Geister, S. 166, 194; Todd, Domestic Service, S. 183, 193, 195. 136 Franziska K., Kein Titel, S. 51–60.

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diese Fähigkeit. Dasselbe galt für Karl Pichler (s. u.), der eine Vertrauensstellung erreichte, wenn diese auch nie so viel gegenseitiges Verpflichtungsgefühl einbrachte, wie es unter Familienmitgliedern selbstverständlich war. All dies war für diese Orientierung kennzeichnend.

Pichler7: „Ich würdigte keinen Blick zurück und fuhr meiner neuen Zukunft 137 entgegen“ Wie für viele andere war der Diensteintritt beim Bauern für Karl Pichler die Ankunft in einer anderen Welt. Alles war neu, die Aufgaben ebenso wie das Miteinander. Der entsprechende Textabschnitt Pichler7 kommt unter den gut dargestellten Abschnitten der Diagonalen am nächsten.138 Karl Pichler, geboren 1912 im ländlichen Oberösterreich, verfasste seine lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen im Jahr 1996, um seinen Nachkommen zu verdeutlichen, wie er als Kind leiden musste. Dabei wuchs der Sohn eines Flößers und Forstarbeiters und einer Küchengehilfin und Hausfrau zunächst (Pichler1 bis 4) unter ähnlich stabilen Bedingungen wie die junge Hermine Kominek (Kominek1 bis 3) in seinem Elternhaus auf. Pichler war ca. elf, zwölf Jahre alt, als seine Mutter und kurz darauf sein Vater starben. Seine Lebensumstände verschlechterten sich damit dramatisch. Er wurde bei einem Onkel, seinem Taufpaten und neuen Vormund, untergebracht (Pichler5), später bei dessen Tochter (Pichler6). In beiden Haushalten war er vom Familienleben ausgeschlossen, wurde zu „jeder Arbeit“ angehalten und lebte unter besonders schlechten Bedingungen. Ca. 15jährig wurde Pichler von seinem Firmpaten in den Dienst als Knecht aufgenommen (Pichler7). Die traumatische Zeit als Ziehkind war vorbei. Nach Jahren der „Sklaverei“139 fand er einen Ort, an dem er sich wohlfühlte, gut untergebracht war und ausreichend Verpflegung hatte. Mit der Freundlichkeit der Bauernfamilie, der Knechte und Mägde wusste er zunächst gar nicht umzugehen: Ich war momentan sprachlos, weil ich so etwas nicht gewöhnt war und war vollkommen eingeschüchtert. Ich wurde hier erstmals wieder als Mensch behandelt. […] Ich getraute mir am Anfang [beim gemeinsamen Essen, J.R.] gar nicht zuzugreifen, da ich ja nicht mehr gewohnt war, als Mensch mittun zu dürfen. Anschließend gab es eine Sylvesterfeier, ich mußte überall mittun. Mit einem Wort, ich fühlte mich wie neugeboren und das ich wieder als Mensch behandelt und als solcher wieder in einer Familie Platz gefunden habe.140

137 138 und 139

Karl Pichler, Lebenslauf, S. 25. Der Abschnitt Kandler3 ist zwar insgesamt am besten dargestellt (Summe cos² für die erste zweite Dimension), doch das cos² der zweiten Dimension beträgt beinahe null. Karl Pichler, Lebenslauf, S. 23.

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Mit Schilderungen all des Neuen am Hof geht die Erzählung weiter; die fundamentalen Veränderungen seiner Lebensumstände mussten in Worte gefasst werden. Seine Arbeiten als Knecht kannte Pichler zwar schon, zumindest teilweise. Aber er musste sich bemühen, „sämtliche landw.[irtschaftliche] Arbeiten“141 zu lernen und mit den anderen am Hof Schritt zu halten. In diese Arbeiten wuchs er hinein. Nach dem Weggang eines anderen Knechts stieg er sogar zum „Moa“, also zum ersten Knecht auf und wurde damit auch in die Arbeitsplanung eingebunden. Darüber hinaus verrichtete Pichler nun im Winter Dienste beim Schmied, damit der Bauer das Beschlagen der Pferde nicht bezahlen musste, und er leistete einen Beitrag zu den Nebenverdiensten seines Herrn, zu denen Holzlieferungen und Transporte gehörten. Zuletzt bekam Pichler die Chance, etwas (nur) für sich zu tun, auch wenn dies teils ins Hofleben eingebunden war und auch andere Hausstandsmitglieder einbezog: etwa das eigene Fahrrad zu pflegen, ein Reh aufzuziehen oder in einer Musikkapelle unter Leitung des örtlichen Pfarrers mitzuspielen. Diese unterschiedlichen Facetten der Zeit Pichlers an diesem Hof ließen sich mit einem bloßen Verweis auf den Dienst aber nicht zusammenfassen.142 Dass die Vielfalt des Mitlebens sich sowohl auf die Aufgaben Pichlers als auch auf die dort gelebten Beziehungen erstreckte, zeigt sich nicht zuletzt in der Wortwahl des Autors. Er schrieb in Bezug auf die Hofbewohner/innen von „wir“, womit er sprachlich den gemeinschaftlichen Charakter des Wirtschaftens betonte. Der Bauer selbst war sowohl sein „Göd“ (Pate) als auch sein „Dienstgeber“ und „Gebieter“ – er stand mit ihm also sowohl in einer (religiös bestimmten) Beziehung als auch in einem Arbeitsund hierarchischen Machtverhältnis. Der „Platz“ in der „Familie“ aber, den Pichler durch den Tod seiner Eltern verloren und hier zunächst wiederzufinden geglaubt hatte, zieht sich als Thema durch seine ganze Autobiografie: eine Erzählung über den Verlust von Sicherheit, Geborgenheit und über einen Ort, an dem man dazugehört. Solch einen Ort fand Pichler letztlich auch hier nicht, obwohl er gut aufgenommen worden war. Er war zwar Teil des Hausstands, aber zur Familie des Bauern gehörte er dennoch nicht; in die Erbfolge war er beispielsweise nicht eingebunden. Alles Vertrauen des Bauern und alle Verlässlichkeit Pichlers reichten dafür nicht aus, denn als Hoferbe war der leibliche Bauernsohn vorgesehen. Entsprechend war auch Pichlers Verbundenheit mit dem Hof und seinen Bewohner/innen begrenzt. Letztlich war es seine Freude an der Musik, die das Ende dieser Phase (und damit des Abschnitts) einläutete. Pichler spielte bei der örtlichen Musikka140 Ebd., S. 26. 141 Ebd., S. 27. 142 Ebd., S. 26–29.

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pelle mit und verließ den Hof (Pichler8) schließlich zugunsten eines anderen Dienstherrn, um sich so den Fußweg zu den Proben zu verkürzen.

Fazit In den Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst seit der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit ging es immer sowohl um das Verhältnis des Dienstes zur Erwerbsarbeit als auch um die Art der Integration von Bediensteten in die Haushalte der Dienstgeber/innen. Ein vorläufiges Ergebnis dieser Auseinandersetzungen waren die neuen Gesetze, die die Rechte, Pflichten und Ansprüche häuslicher Bediensteter ab den frühen 1920er Jahren regelten und dabei auch den Kreis der Personen definierten, die als „Hausgehilfen“ gelten sollten. Aber die Auseinandersetzungen um den und die Veränderungen des häuslichen Diensts beschränkten sich keineswegs nur auf politische Debatten, Gesetze oder behördliche Maßnahmen. An ihnen beteiligten sich staatliche Einrichtungen, Ämter, Politiker/innen genau wie Vereine, Dienstgeber/innen oder Hausgehilf/innen, wenn diese auch nicht dieselben Möglichkeiten hatten, ihre Perspektiven durchzusetzen. Und die Auseinandersetzungen erstreckten sich von der hohen Politik und der staatlichen Verwaltung bis hin zu den scheinbar unbedeutenden Handgriffen, Äußerungen, Beziehungen im alltäglichen Dienst, ob sich diese nun den durchgesetzten und sich durchsetzenden Praktiken anpassten oder mit diesen in Konflikt standen. Dieser Alltag im Verhältnis zu all jenen in der Geschichtswissenschaft oft als bedeutungsvoller angesehenen und spektakuläreren Ereignissen, Handlungen, Maßnahmen und Neuerungen in Staat und Politik war Gegenstand meiner Konstruktion, die ich in diesem Aufsatz vorgestellt habe. Präsentiert habe ich die beiden wichtigsten Differenzierungs- und Hierarchisierungsprinzipien (Wirtschaften und Teil des Hausstands sein) in ihrer Analyse (eindimensionale, lineare Konstruktion) und Synthese (zweidimensionale Konstruktion – Fläche), nach denen sich Textabschnitte und Merkmale unterscheiden und variieren. Obwohl der häusliche Dienst in der Zwischenkriegszeit mehr als je zuvor als Arbeitsverhältnis kodifiziert und organisiert wurde, konnten und/oder wollten nur wenige den Dienst in diesem Sinne praktizieren oder darstellen. Der Dienst als Arbeitsverhältnis war vor allem eine Sache von offiziellen Organisationen und ihren Schriften – etwa der sozialdemokratischen Hausgehilfinnengewerkschaft Einigkeit, welche auf eine Angleichung des Status von Hausgehilfinnen und Lohnarbeiter/innen und auf eine Stärkung ihrer Rechte abzielte.

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Gleichzeitig waren die neuen Regelungen inhärent ambivalent, worin Widerstände gegen eine Einpassung von Diensten in die Erwerbsarbeit deutlich wurden. Die Ambivalenz war eine Reaktion auf die spezifische Haushaltsintegration von Hausgehilf/innen, dem persönlichen und privaten Charakter ihrer Tätigkeiten und der Machtposition der Dienstgeber/innen. Während manche Zeitgenoss/innen dafür plädierten, Hausgehilfinnen wie das Kind im Hause zu behandeln und in den Haushalt aufzunehmen, um häufigen Stellenwechseln oder Desinteresse am Dienst entgegenzuwirken oder die Lebenslagen von Hausgehilfinnen zu verbessern, unterschied sich das Verhältnis von Hausgehilfinnen zu den Dienstgeber/innen doch vielfach erheblich davon. Die Versorgung und Umsorge der Hausbewohner/innen, die sie zu leisten hatten, wurde ihnen im Gegenzug weniger und schon gar nicht in dieser selbstverständlichen Weise zuteil. Vor allem in offiziellen Schriften finden sich daher positive Bezüge auf Arbeitsverhältnisse, die aber dennoch meist mehr oder weniger von der Notwendigkeit geprägt waren, Versorgung, Umsorge und die Beziehungen zwischen den fremden und nicht-fremden Haushaltsmitgliedern zu bestimmen (im Dienstverhältnis stehen). Das selbstverständliche Zugehören zum Haushalt, eine Normalität gekennzeichnet durch einen geregelten Unterhalt und einen festen Platz in der Zirkulation von Sorge, findet sich hingegen sowohl in den zeitgenössischen Publikationen als auch in den Selbstzeugnissen des Samples kaum. Die Dienste und Lebensunterhalte vieler Protagonist/innen von lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen nach der Schulentlassung (Mitleben als Familienfremde/r) waren vielmehr vom Mangel geprägt: einem Wirtschaften, das kaum Standards und Regelungen folgte, sowie von einer nach offiziellen Maßstäben mangelhaften Stellung im Haushalt als familienfremdes Hausstandsmitglied. Ihren Alltag prägten eher die je spezifischen, haushaltsabhängigen Regeln als Gesetze und Verträge. Er war abhängig von den vorgefundenen Bedingungen, Notwendigkeiten oder Bedürfnissen der anwesenden Personen. Die Protagonist/innen machten die Bewältigung des sich stetig verändernden Alltags und der immer neuen Herausforderungen an ihr Können und ihre persönlich-zwischenmenschlichen Fähigkeiten zur Tugend. Andere arrangierten sich, hielten aus oder richteten sich im Haushalt oder Hof ein, indem sie sich Privilegien erkämpften, Konflikte eingingen oder sogar ihren Dienst (zeitweise) idealisierten. Dadurch trugen Bedienstete am Hof und im Haushalt zu den Auseinandersetzungen um die Dienste bei, die bis heute nicht abgeschlossen sind.

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Literatur und Quellen Ego-Dokumente und Nachlässe Therese Halasz, Handschriftliche Briefe 5. Juni 1984 bis 22. April 1986, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien [im Folgenden: DOKU]. Franziska K., Kein Titel, Manuskript, DOKU, 1983–1984. Rudolf Kikel, Das aufrechte Leben des Rudolf K., Manuskript, DOKU, 1995. Hermine Kominek, Meine Lebensgeschichte, Manuskript, DOKU, Jänner 1985. Karl Pichler, Mein Lebenslauf in Freud und Leid, Manuskript, DOKU, Jänner 1996. Sammlung Frauennachlässe, NL 47, Tagebuch von Josefa Donabaum, verh. Gastegger, 1921– 1926. Sammlung Frauennachlässe, NL 135 1, Dienstzeugnisse von Anna Schwärzler-Bereuter 1919– 1940. Franz Wesenauer, Kein Titel, Typoskript, DOKU, 1994.

Gedruckte Quellen Allgemeiner österreichischer Frauenverein, Ein Beitrag zur Lösung der Dienstbotenfrage (= Sechste Publication des Allgemeinen österreichischen Frauenvereines), Wien 1895. Boschek, Anna, Frauenarbeit und Gewerkschaften. Rede und Diskussion zur Rede Anna Boscheks auf dem Österreichischen Gewerkschaftskongreß (Juni 1928), Wien 1929. Bundesamt für Statistik, Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Bundesstaat Textheft, Wien 1935. Einigkeit, Der Aufstieg der Hausgehilfinnen und Heimarbeiterinnen. Bericht der ‚Einigkeit‘ 1924–1928 an den Verbandstag der Hausgehilfinnen, Erzieherinnen und Hausarbeiterinnen Österreichs am 24. November 1929 in Wien, Wien 1929. Frauenbestrebungen. Offizielles Organ der Union für Frauenbestrebungen (Zürch.[er] Stimmrechtsverein), Jg. 1910, H. 11 (1. November 1910), http://doi.org/10.5169/seals-325802, Zugriff am 21.02.2022. „Gesindeordnung für die Stadt Wien, und den Umkreis innerhalb der Linien vom 1. Mai 1810“, in: Sr. k. k. Majestät Franz des Ersten politische Gesetze und Verordnungen für die Oesterreichischen, Boehmischen und Galizischen Erbländer, Wien 1811, Bd. 34, Nr. I. Hoffmann, Nina, „Zur Dienstbotenfrage“, Dokumente der Frauen, Jg. 2, H. 22 (1900), S. 629– 631. Internationales Arbeitsamt (Hg.), Das Arbeitsvertragsrecht der Landarbeiter Deutschlands, Österreichs und Ungarns (= Studien und Berichte, Reihe K – Landwirtschaft Bd. 10), Genf 1930. Internationales Arbeitsamt (Hg.), Das Gesamtarbeitsvertragswesen in der Landwirtschaft (= Studien und Berichte, Reihe K – Landwirtschaft Bd. 11), Genf 1932. K.-H., C., „Elfte Generalversammlung des Bundes schweizerischer Frauenvereine in Chur, 8. und 9. Oktober 1910“, Frauenbestrebungen, Jg. 1910, H. 11 (1. November 1910), S. 81–84, http://doi.org/10.5169/seals-325802, Zugriff am 21.02.2022.

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Georg Schinko

Der Raum des Musizierens (Österreich 1918–1938) Geht es um Auseinandersetzungen über verschiedene Arten von Arbeit im Österreich der Zwischenkriegszeit, so drängen sich unweigerlich Vorstellungen verschiedener Ereignisse, Orte und Gruppen auf, die für diese Auseinandersetzungen stehen: Massen an arbeitslosen Fabriksarbeiter/innen zur Zeit der Wirtschaftskrise; Aufmärsche der Arbeiterbewegung am 1. Mai; Etablierung und teilweiser Rückbau sozial- und arbeitsrechtlicher Bestimmungen; die „Arbeitsschlacht“ des Austrofaschismus. Demgegenüber hat eine Untersuchung des Musizierens1 in der österreichischen Zwischenkriegszeit scheinbar wenig mit Auseinandersetzungen über Arbeit zu tun. Doch die institutionelle Ordnung von Arbeit und Nicht-Arbeit kann nicht nur anhand der Phänomene beschrieben werden, in denen es vordergründig ausschließlich um Arbeit (genauer gesagt: um höchst spezifische Formen von Arbeit) ging. Sie zeigt sich auch anhand von Tätigkeiten wie Musizieren, die auch (aber eben nicht nur) Unterhaltung, Kunst, Freizeit, Tradition etc. waren. Die Untersuchung des Musizierens in der österreichischen Zwischenkriegszeit als einer exemplarischen Tätigkeit ermöglicht die Darstellung wichtiger Differenzierungen und Hierarchisierungen von Arbeit und Nicht-Arbeit. Genauer: Gerade Musizieren, das als Beruf, als Lohnarbeit, in der Freizeit und/oder als Not-Unterhalt getan wurde, eignet sich besonders gut dazu, eben jene Kategorien auszuloten und zu hinterfragen. Die Untersuchung eines Spektrums von Arbeit und Nicht-Arbeit anhand von Musizieren eröffnet neue Fragestellungen, die bislang weder in einer Geschichte der Arbeit noch in den Disziplinen, die sich vorrangig mit Musik beschäftigen, behandelt wurden. Wurden historische Formen von Musik (und schon weniger: historische Praktiken des Musizierens) in Theater- und Musikwissenschaft zwar ausgiebig behandelt, jedoch nur äußerst selten auch hinsichtlich der Variationen von Arbeit und Nicht-Arbeit betrachtet, so fand umgekehrt Musizieren nur im Ausnahmefall Eingang in die arbeitsgeschichtliche Forschung. Zwar wurden in einigen internationalen Untersuchungen zum 19. und frühen 20. Jahrhundert Verbindungen zwischen Musizieren und Arbeit herge-

1 Hier und in Folge ist mit „Musizieren“ auch Singen gemeint. Hinweis: Die hier in Kurzform dargestellten Inhalte sind ausführlicher dargestellt in Schinko, Über die Produktion. https://doi.org/10.1515/9783110781335-004

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stellt.2 Ein Zusammendenken einer Vielzahl an Musizierformen (sei es verschiedener Genres, sei es verschiedener Arbeitsverhältnisse) fand aber auch dort wenig statt. Thema von Untersuchungen waren stets Gruppen wie Orchestermusiker, Tanz- und Unterhaltungsmusiker oder Berufsmusiker (hier tatsächlich auf die männlichen Vertreter reduziert). Wenn aber gerade anhand der Übergänge und Kontraste zwischen verschiedenen Formen des Musizierens beschrieben werden soll, wann und wo Musizieren Beruf, Lohnarbeit, Unterhalt etc. war, ist die Beschränkung auf eine derart abgegrenzte Gruppe von Musizierenden zu wenig. Deshalb behandelt meine Untersuchung Musizieren in Verhältnissen, die bislang wenig bis gar nicht aufeinander bezogen wurden.

Musizieren 1918–1938 Die Vielfalt an Formen des Musizierens in der österreichischen Zwischenkriegszeit war unüberseh- und unüberhörbar. Musiziert wurde in Musikvereinen und Fabrikskapellen, in Konzertsälen und Opernhäusern, in Bars, Cafés und Varietés ebenso wie auf den Straßen und im Umherziehen auf dem Land – um nur die gängigsten Orte des Musizierens anzusprechen. Die Volkszählung von 1934 zählte insgesamt 8.666 Personen, die Musik als ihren Hauptberuf angaben, inklusive Musiklehrer/innen und Kapellmeister/innen; zusätzlich noch 1.520 Sänger/innen und Gesangslehrer/innen.3 Diese ca. 10.000 Personen stellten jedoch nur einen kleinen Teil der Musizierenden insgesamt dar. Verfügte die staatliche Zwangsgewerkschaft der Musiker/innen im Austrofaschismus über 15.000 Mitglieder,4 so gaben die Nichtberufsmusiker-Verbände ihre Mitgliedszahl 1935 mit ca. 70.000 Mitgliedern an5 und behaupteten an anderer Stelle: „[…] die Zahl der Berufsmusiker ganz Österreichs ist gegenüber der Zahl der Nichtberufsmusiker verschwindend klein“.6 Nicht alle, aber doch viele Musizierende musizierten gegen Entgelt. Sinnvolle Aussagen zur Höhe dieses Entgeltes können vor allem für jene Musizierenden gemacht werden, die in arbeitsrechtlich abgesicherter Lohnarbeit tätig wa2 Ehrlich, The Music Profession; Rohr, The Careers; Newhouse, Artists; Kraft, Artists; DavidGuillou, Early Musician’s Unions; Eckhardt, Zivil- und Militärmusiker; Schepers, Tanz- und Unterhaltungsmusiker; Miller, Working Musicians; Sargeant, A New Class. Für Österreich steht eine derartige Untersuchung noch aus. 3 Bundesamt für Statistik, Die Ergebnisse, S. 313–314. 4 Österreichisches Staatsarchiv, Ring der ausübenden Musiker Österreichs u. a., Vorschläge. 5 Munninger, Das wahre Gesicht, S. 5. 6 Köchel, An alle Musikkapellen, S. 63.

Der Raum des Musizierens 

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ren. Die ständestaatliche Musikergewerkschaft, der Musikerring, veröffentlichte 1934 eine Reihe von Mindesttarifen der gewerkschaftseigenen Stellenvermittlung für fallweise musikalische Beschäftigung in Wien und Umgebung:7 Tab. 1: Ambulante Tarife der Stellenvermittlung des Musikerringes für Wien und Umgebung 1934 (Quelle: Der österreichische Musiker). Klavier-Alleinspieler in äußeren Bezirken pro Dienst

5 Schilling

nicht-symphonisches Konzert (bis drei Stunden)

8 Schilling

Vereinsfest (drei Stunden Marsch + fünf Stunden Konzert/Tanz) 18 Schilling Symphoniekonzert (bis drei Stunden + drei Stunden Probe)

16 Schilling

Grammophonaufnahmen (bis drei Stunden)

18 Schilling

Hier sieht man bereits einige Differenzierungen des Musizierens in der Zwischenkriegszeit: Bezug zur Kunst, geografischer Ort, Mechanisierungsgrad der Musik. Die Tarife für nicht-symphonische Konzerte waren – geht man von ein bis zwei Konzerten am Tag aus – ähnlich hoch wie jene für ausgebildete Maurer (etwa 69 Schilling Tarifwochenlohn) oder Maler und Anstreicher (etwa 75 Schilling Tarifwochenlohn).8 Dass viele Vertreter dieser Musizierenden mit einer derartigen Einstufung in der Lohnhierarchie nicht einverstanden waren und unter Bezugnahme auf die lange Ausbildung und den künstlerischen Charakter des Musizierens Besserstellungen forderten, zeigen viele zeitgenössische Behandlungen der Thematik. Für Formen des Musizierens, die nicht abgesicherte Lohnarbeit waren, fehlen Angaben über Entgelte weitgehend. Einiges weist darauf hin, dass sie oftmals schlechter bezahlt waren als diese. Viele Musizierende waren Mitglieder unterschiedlicher Interessensvertretungen. Diese Organisationen unterschieden sich vor allem darin, ob sie erwerbsmäßiges oder nichterwerbsmäßiges Musizieren vertraten und ob ihre Mitglieder in der Stadt oder auf dem Land musizierten. Die Musikergewerkschaften verstanden sich als Vertretung der Berufsmusiker/innen: zuerst der Musikerverband als sozialistische Gewerkschaft, deren Vorläufer bereits in den 1870er Jahren gegründet worden waren, und danach der Musikerring, eine Organisation mit Zwangsmitgliedschaft, die im Austrofaschismus gegründet wurde.9 Trotz 7 N. N., Ambulante Tarife. 8 N. N., Arbeiterlöhne, S. 7; Butschek, Der österreichische Arbeitsmarkt, S. 489; eigene Berechnungen. 9 Formal existierte neben dem Musikerring eine eigene Gewerkschaft der Musiker. In der Praxis waren beide Organisationen über personelle Mehrfachbesetzungen und gemeinsame Druckwerke eng miteinander verbunden, vgl. Zwittkovits, Amateurmusik, S. 562. Der Musikerring

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der offensichtlichen politischen Gegnerschaft – der Musikerverband wurde im Austrofaschismus aufgelöst – bestanden große inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den Forderungen beider Organisationen, die zum Großteil die Privilegierung von Berufsmusiker/innen, die Agitation für eine Musikerkammer und den Kampf gegen die mechanische Musik betrafen. Als Kontrahenten der Musikergewerkschaften verstanden sich die Nichtberufsmusiker-Verbände: der 1929 gegründete Bund der Nichtberufsmusiker Österreichs und sein 1934 gegründeter Nachfolger, der Reichsverband für österreichische Volksmusik. Sie beschäftigten sich vor allem mit der Förderung des Gemeinschaftsgedankens unter Nichtberufsmusikern, propagierten Musizieren aus Idealismus und wirkten einer Verberuflichung des Musizierens auf dem Lande (etwa durch die Einführung von Tarifen) entgegen. Neben den genannten Organisationen bestanden viele weitere, deren Mitgliederzahl und Einfluss jedoch um einiges geringer waren, wie etwa der Zentralverband der Arbeiter-Musik-Vereine oder der Reichsverband der Straßenmusikanten.10 Musizieren wurde nach unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmungen ausgeübt. Während Musizieren ohne Entgelt weitgehend ungeregelt war, konnte entgeltliches bzw. erwerbsmäßiges Musizieren als Gewerbe nach der Gewerbeordnung, als lizenzierte Tätigkeit nach Hofkanzleidekreten des frühen 19. Jahrhunderts oder in abhängiger Lohnarbeit nach den Bestimmungen des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches und diverser arbeits- und sozialrechtlicher Gesetze stattfinden. Wann welches Gesetz zur Anwendung kommen sollte, war auch den zuständigen Behörden nicht immer klar: Der Polizei gilt die Musik einfach als Ruhestörung, die öffentliche Produktion als ein Delikt […] So wird das niedere Musikwesen als öffentliche Lustbarkeit taxiert und als Anhang zum Schankgewerbe betrachtet […] Die Behörden sind jetzt ratlos und darum inkonsequent. Sie wissen nicht, wie sie sich zu den Musikern stellen sollen. […] Nach dem Vagabundengesetz können sie doch nicht amtshandeln, was ihnen vielleicht am einfachsten und praktischsten erschiene, das gewerbliche Recht dünkt ihnen inapplikabel, zumal ihnen die Definitionen über Kunst und Gewerbe fehlen, die Unterscheidungsmerkmale zwischen gewerblichem und künstlerischem Betrieb der Musik unbekannt sind.11

Wann Musizieren eine „schöne Kunst“ (und damit von der Gewerbeordnung ausgenommen) war, blieb tatsächlich oft unklar. Ebenso war der Übergang zwischen Produktionslizenzen (die zur Veranstaltung öffentlicher Produktionen bewar nicht nur Interessensvertretung der Musizierenden, sondern auch für Ausgabe und Kontrolle der Musikerberechtigungsscheine zuständig und besaß dadurch auch zahlenmäßig größere Relevanz. 10 Zum Reichsverband der Straßenmusikanten siehe etwa Thury, Die letzten Werkelmänner. 11 N. N., Die Rechtlosen, S. 174.

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rechtigten) und Bettelmusiklizenzen (die grundsätzlich nur an arbeitsunfähige und bedürftige Personen ausgegeben werden sollten) fließend. Noch 1932 – viele Jahrzehnte nach dem Inkrafttreten der entsprechenden Gesetze – konnte das Bundesministerium für Handel und Verkehr nach eingehender Beschäftigung mit den Unterschieden zwischen Gewerbe und Lizenzen nur feststellen, „dass sich die Verwaltung bis jetzt um diese Fragen wenig gekümmert und den Dingen ihren Lauf gelassen hat“.12 Das Wiener Theatergesetz von 1929 hatte für Wien sowohl Produktions- als auch Bettelmusiklizenzen abgeschafft. Die Musikerverordnung von 1934 nahm dann alles Musizieren von der Gewerbeordnung aus und forderte für jedes erwerbsmäßige Musizieren den Nachweis von formalen Qualifikationen oder von Fähigkeiten. Damit stellte sie sowohl eine Vereinfachung der bis dahin bestehenden Bestimmungen dar, als auch einen Anspruch, in erwerbsmäßiges Musizieren einzugreifen, der in dieser Form seit der Aufhebung der Musikerzünfte Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr formuliert worden war. Die Verhältnisse und Entwicklungen von Musizieren in der Zwischenkriegszeit könnten hier noch ausführlicher besprochen werden – man denke nur an die Mechanisierung von Musik oder das Aufkommen einer Massenkultur. Es scheint aber zweckmäßiger, diese Aspekte weiter unten im Zusammenhang mit den wichtigsten Institutionen und Differenzierungen des Musizierens zu behandeln.

Anlage der Untersuchung Zeitgenössische Akteure produzierten eine Vielfalt an Material über Musizieren und über Musiker/innen: Staatliche Verwaltungsbehörden stellten Lizenzen und Gewerbescheine aus, Organisationen publizierten periodische Druckwerke und machten Eingaben bei Behörden. Musikkritiker/innen schrieben Abhandlungen über ästhetische Aspekte von Musik etc. Eine Untersuchung der Unterschiede, die zwischen Musizierformen gemacht wurden, muss sich zwangsläufig entscheiden, welche Quellen – d. h. objektivierte/verdinglichte Praktiken welcher historischen Akteure – für eine Untersuchung herangezogen werden. Während ich die soeben erwähnten Quellen verwendet und berücksichtigt habe, stellt vor allem der systematische Vergleich lebensgeschichtlicher Erzählungen13 von Musizierenden mittels Multipler Korrespondenzanalyse den

12 Österreichisches Staatsarchiv, Musikergewerbe. 13 Der Begriff lebensgeschichtliche Erzählung bezeichnet ein weites Feld von Schreib- und Erzählformen, in denen jemand sein/ihr eigenes Leben oder Teile davon zum Thema der Erzäh-

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Hauptteil meiner Untersuchung dar. Die Verwendung lebensgeschichtlicher Erzählungen ermöglicht eine breitere Einbeziehung von Perspektiven über jene des Staates und anderer Organisationen hinaus. Die aus einer derartigen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse beschränken sich in ihrer Reichweite aber nicht auf den jeweiligen Lebensweg der Erzählenden. Ich verstehe die Erzählungen als Versuch des Erzählers/der Erzählerin, sich in einem sozialen Raum zu positionieren, wie auch als Versuch, einer bestimmten Perspektive auf die Welt Legitimität zu verleihen.14 Demnach beziehen sich die Ergebnisse nicht nur auf die Texte selbst, sondern auf Praktiken und Institutionen des Musizierens insgesamt. Erzählen ist nicht die Wiedergabe eines objektiven Ablaufs von Ereignissen, sondern eine soziale und historische Praktik,15 die in Bezug zu Positionen in einem Raum steht. Vergleicht man eine Reihe von Erzählungen, die ein Phänomen – wie das Musizieren – behandeln, so werden sowohl die Strukturen der Positionierungen als auch die zentralen Konflikt„objekte“ beschreibbar, die Referenzen, auf die hin sich Erzählungen vorrangig (ob negativ oder positiv) beziehen und zu deren (De-)Legitimierung sie beitragen. Mittels der Multiplen Korrespondenzanalyse wird dieser Raum des Musizierens konstruiert: eine Beschreibung sowohl der für Musizieren in der Zwischenkriegszeit wichtigsten Referenzen als auch der unterschiedlichen Arten, sich auf diese zu beziehen. Die Struktur dieses Raums ist aber keine binäre Klassifikation (z. B. da die Kunst, dort die Nicht-Kunst), sondern beinhaltet eine schrittweise Bewegung zwischen den Referenzen (von sich stark positiv auf Kunst beziehenden zu sich stark negativ auf Kunst beziehenden Praktiken). Eine ausführliche Darstellung der Prinzipien dieser Bewegung muss im vorliegenden Beitrag allerdings ausbleiben. Die lebensgeschichtlichen Erzählungen von Musizierenden wurden nach dem Prinzip der Kontrastmaximierung ausgewählt. Ausgehend von einem kleinen Anfangsbestand an Erzählungen wurden aufgrund der vorläufigen Ergebnisse ihres systematischen Vergleichs (siehe unten) immer wieder neue Erzählungen hinzugefügt, von denen vermutet wurde, dass sie noch nicht ausreichend besetzte Positionierungen im Raum des Musizierens einnehmen könnten. So wurde der Bestand an Erzählungen fortlaufend um noch nicht be-

lung macht. Lebensgeschichtliche Erzählungen können nicht nur Autobiografien sein, sondern auch Tagebücher, Chroniken, Bewerbungsschreiben, Interviews etc. Der Begriff ist weitgehend deckungsgleich mit jenem der Ego-Dokumente, welcher allerdings u. a. wegen dem irreführenden Verweis auf ein „Ego“ hier nicht verwendet wird,vgl. von Greyerz, Ego-Documents, S. 277– 280. 14 Bourdieu, Die biographische Illusion; ders., Sozialer Raum, S. 15–29. 15 Israel, Changing the Place; Wadauer, Tour, S. 55 ff.

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rücksichtigte Positionierungen erweitert. Um die lebensgeschichtlichen Erzählungen untereinander systematisch vergleichen zu können, habe ich sie durch die möglichen Antworten auf eine Reihe von Fragen an die Erzählungen beschrieben. Grundlage des Vergleichs sind also die durch diese Fragen kategorisierten Erzählungen. Einige Fragen – etwa nach Entstehungsdatum oder Fundort – zielten auf den Produktionskontext der Erzählung ab, während andere – etwa nach Geschlecht oder Herkunft des/der Erzählenden – „traditionelle“ sozialstatistische Variablen darstellen. Ein großer Teil der Fragen beschäftigte sich mit dem beschriebenen Musizieren, wobei ich vor allem Fragen verwendet habe, die sich bereits in anderen arbeitsgeschichtlichen Untersuchungen als fruchtbar erwiesen hatten – etwa nach Bezeichnungen des Entgelts („Honorar“, „Gage“, „Lohn“) oder nach formalen Legitimationen (Abschlüsse von Konservatorien, Berechtigungsscheine). Unter anderem um diese Vielzahl von Merkmalen (Antworten) und Beobachtungseinheiten (Erzählungen) miteinander vergleichen zu können, habe ich die Technik der spezifischen Multiplen Korrespondenzanalyse verwendet (siehe Anhang). Dabei interpretiere ich die Antworten auf die Fragen als Praktiken, sich in einem Raum des Musizierens zu positionieren. Die folgenden Darstellungen des Raumes des Musizierens beziehen sich auf die Ergebnisse des systematischen Vergleichs mittels der Korrespondenzanalyse.

Die wichtigsten Referenzen des Musizierens Hohe Kunst In Folge wird die erste Dimension des Raumes des Musizierens bzw. die dafür dominante Referenz der hohen Kunst vorgestellt (vergleiche die Hilfsgrafik in Abbildung 1). Diese Dimension ist für die Struktur des Gesamtraums die wichtigste. Die Art der Bezugnahme auf hohe Kunst bestimmte maßgeblich, wie Musizieren kategorisiert und beurteilt wurde. Sich positiv auf hohe Kunst zu beziehen (Praktiken links des Nullpunktes in Abbildung 1) legitimierte das eigene Musizieren, während negativ auf hohe Kunst bezogenes Musizieren (Praktiken rechts des Nullpunktes in Abbildung 1) grundsätzlich suspekt war und der zusätzlichen Legitimierung bedurfte. In der Hilfsgrafik angezeigte Praktiken werden im Text kursiv dargestellt.

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Abb. 1: Hilfsgrafik der Praktiken der ersten Dimension Hohe Kunst. © G. Sch. Die X-Achse weist die Koordinaten der Praktiken auf, die Y-Achse deren Anteil an der Varianz der Dimension (Ctr). Es werden nur Praktiken mit überdurchschnittlichem Ctr angezeigt. ( ) = keine Erwähnung, „ “ = wörtliche Verwendung.

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Sich der hohen Kunst anzunähern, beinhaltete intensive Beschäftigung mit Musik. Wer starken Anspruch auf Künstlerschaft erhob, trat häufig auf16 und widmete dem Musizieren innerhalb der eigenen Lebensgeschichte viel Raum.17 Schon die Titel der Erzählungen bezogen sich auf Musizieren: „Ein Leben mit der Gitarre“, „Aus dir wird nie ein Pianist“ oder „A Singer’s Life“. Künstler/innen erzählten aber nicht nur viel über ihr Musizieren, sondern auch ausführlich darüber, wie dieses erlebt wurde: Musizieren war ein Erlebnis, das etwa als Freude oder als Mühsal charakterisiert wurde. Im Kontrast dazu traten Erzählende mit negativem Bezug auf hohe Kunst nur selten auf und gaben Musizieren nur wenig Raum.18 Musizieren war gerade nicht Hauptsache des eigenen Lebens, sondern wurde beiläufig behandelt. Wer hohe Kunst machte, musste diese intensiv erleben. Dieser Kontrast galt auch für die Art der Aneignung musikalischer Fähigkeiten. Wer sich stark positiv auf hohe Kunst bezog, beschrieb seine/ihre Ausbildung als eine kontinuierliche Entwicklung höchst individueller Fähigkeiten. Auf der Suche nach der „passenden“ Entwicklung musikalischer Fähigkeiten wurden mehrere Ausbildungen aneinandergereiht19 und detailreich beschrieben.20 Der/die Musizierende musste sich persönlich in die Aneignung von Fähigkeiten einbringen21 und so die Ausbildung zu einem Teil des eigenen Lebens machen, wie es etwa folgendes Zitat des Pianisten Artur Schnabel über einen seiner Lehrer beschrieb: „Es gelang ihm, alles an Vitalität, Elan und Schönheitssinn, was in einem Schüler angelegt war, freizusetzen, und er duldete keinerlei Abweichung von dem, was er als Authentizität des Ausdrucks erachtete“.22 Die Betonung individueller Fähigkeiten bedeutete aber nicht, dass Talent und Begabung an die Stelle mühsamen und kontinuierlichen Lernens gesetzt worden wären, wie es etwa Nathalie Heinich für Vorstellungen über Künstler/innen seit der Romantik beschreibt.23 Ein Leben lang zu lernen, stellte eine wichtige Praktik der

16 Dieser Aspekt wird durch die Praktik mehr als 20 Musiziertätigkeiten vor 1938 abgebildet. 17 Dieser Aspekt wird durch die Praktik mehr als 40 Seiten über Musik geschrieben abgebildet. 18 Diese Aspekte werden durch die Praktiken weniger als 4 Musiziertätigkeiten vor 1938 sowie weniger als 10 Seiten über Musik geschrieben abgebildet. 19 Dieser Aspekt wird durch die Praktik mehr als vier verschiedene Ausbildungen absolviert abgebildet. 20 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken mehr als neun Seiten über Ausbildungen geschrieben, Charakter der Lehrperson beschrieben, Fähigkeiten der Lehrperson beschrieben, Erfolg der Ausbildung beschrieben, freudige Erfahrungen in der Ausbildung sowie Mühsal der Ausbildung abgebildet. 21 Dieser Aspekt wird durch die Praktik Formulierung von Ansprüchen an die eigene Ausbildung abgebildet. 22 Schnabel, Aus dir wird nie ein Pianist, S. 41. 23 Heinich, Drei Dimensionen, S. 7.

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hohen Kunst des Musizierens dar. Die 1888 im Deutschen Reich geborene Opernsängerin Lotte Lehmann, die später u. a. an Opernhäusern in England, Frankreich, Österreich und den USA sang, schrieb: „Aus jener Zeit schöpfte ich die Erfahrung, daß ein Künstler niemals aufhören darf zu lernen. Er ist nie fertig mit seinem Studium“.24 Im Kontrast dazu standen musikalische Ausbildungen als einmaliges Erlernen vorgegebener Fertigkeiten. Sich stark negativ auf die hohe Kunst zu beziehen, bedeutete, während einer kurzen Ausbildung „das Musizieren“ zu erlernen. Hatte man die Ausbildung hinter sich gebracht, konnte man musizieren. Dafür stand auch die Ausbildung im Musikverein. Nicht von ungefähr wurde in zeitgenössischen Beschreibungen vom „Abrichten“ geschrieben. Der Unterricht in den Musikvereinen (vor allem auf dem Land) zielte darauf ab, möglichst bald einfache Stücke aufführen zu können. Die unmittelbare Anwendung der erlangten Fähigkeiten war wesentlich für diese Ausbildung, was im starken Gegensatz zu den bevorzugten Ausbildungsformen der hohen Kunst – am Konservatorium, der Musikschule und vor allem im Privatunterricht bei berühmten Musizierenden – stand. War die individuelle Aneignung von Fähigkeiten ein Merkmal von positiv zur hohen Kunst beitragenden Ausbildungspraktiken, so war Musizieren als individuelle Tätigkeit Teil der versuchten Positionierung als Künstler/in. Schon der Kontrast zwischen Erzählungen der hohen Kunst, die sich als Memoiren bezeichneten und publiziert wurden, und den teils standardisierten, ohne Titel verfassten Lebensläufen weitgehend unbekannter Musizierender verwies darauf, dass hohe Kunst zu machen eine Sache großer Einzelner und deren hervorragender Leistungen war. Sich als besonders, als eine/r jenseits der breiten Masse zu erzählen, stand historisch schon seit längerem in engem Zusammenhang mit Vorstellungen von der Künstlerpersönlichkeit.25 Umgesetzt wurde dieser Anspruch etwa durch die weiter oben beschriebene detailreiche Beschreibung des eigenen Musizierens wie durch Beschreibungen der eigenen Musiziertechnik oder Abgrenzungen des eigenen Stils. Die Praktiken, die im Kontrast zur Individualität der hohen Kunst standen, scheinen auf den ersten Blick nur einen Mangel an Kunst darzustellen – eine unzureichende oder falsche Art des Musizierens. Gerade diese Praktiken wurden aber von Akteuren wie den Nichtberufsmusikerverbänden mit Bezug auf die (Dorf-)Gemeinschaft als eigenständige und selbstbewusste Form des Musizierens praktiziert: „Die Volksmusik ist eine gegebene Tatsache, die sich nicht ändern wird, solange es heimatliebende 24 Lehmann, Anfang, S. 116. 25 Vgl. Troge, Zwischen Gesangverein und Musikcomputer, S. 289, 305; Ruppert, Der moderne Künstler, S. 38; Zembylas, Kunst, S. 104–105.

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Landbewohner gibt […] Vielleicht habe ich nächstens Gelegenheit, dem Nichtkenner etwas ‚von uns‘ zu erzählen“.26 Gerade nicht Individualist/in zu sein, sondern sich in die Gemeinschaft einzufügen, wurde in dieser Perspektive als passend und legitim empfunden. Hohe Kunst als einen Erwerb oder ein Geschäft zu betreiben wurde vor allem von musikästhetischer Seite oftmals als „Verrat“ an der Kunst verstanden. Paul Bekker formulierte: „Kunst im Allgemeinen und insbesondere Musik […] besitzt keinen Handelswert im Sinne der Börse. Jede geschäftliche Einschätzung widerspricht ihrem Wesen von Grund auf“.27 Über Geld sollte also im Zusammenhang mit Musik nicht gesprochen werden. Doch zeigt sich in den Versuchen von Musizierenden, sich als Künstler/innen zu positionieren, eine spezifische materielle Organisation ihres Musizierens. Vor allem zu Beginn der Künstlerlaufbahn spielte Entgelt eine wichtige Rolle. Künstler/in wurde man nicht nur über ein spezifisches ästhetisches Verständnis von Musik und bestimmte musikalische Fähigkeiten, sondern auch über „richtige“ Engagements, die vertraglich abgesichert und mit fixer Bezahlung (nicht Lohn oder Gehalt, sondern Honorar) verbunden waren. Mit fortschreitender Künstlerlaufbahn wurde allerdings tatsächlich nicht mehr über Honorare für Musizieren geschrieben, Auftritte wurden nun vor allem über Zusammentreffen mit Berühmtheiten oder den ästhetischen Wert einer Darstellung beschrieben. Hohe Kunst fand im Kunstbetrieb statt – eine Bezeichnung für die Strukturen, die die Organisation von Auftritten im Namen der hohen Kunst regelten. Auftritte der hohen Kunst fanden an spezifischen Orten statt: dem Opernhaus, dem Konzertsaal oder dem Theater. Schon der Auftritt an einem „unpassenden“ Ort konnte den Kunstwert von Musik schmälern, wie es etwa der Oberste Gerichtshof bei einem Versuch der arbeitsrechtlichen Definition von Kunst formulierte: Allein es kann wohl bezweifelt werden […] ob Musik in allen Formen der Ausübung Kunst und nicht Handwerk sei […] Es gibt gewiß Aufführungen, bei denen aus Zeit, Ort und anderen Umständen zu erkennen ist, daß eine richtige Durchführung des Musikstückes weder vom Dienstgeber noch vom Publikum ernstlich gefordert wird.28

Zu den nicht-künstlerischen Aufführungsorten gehörten etwa – als Praktik mit negativem Bezug auf hohe Kunst – die Kirchen: Orte, die hauptsächlich von Nichtkünstler/innen wie Nebenerwerbsorganist/innen oder Mitgliedern der lokalen Kirchenchöre bespielt wurden. Auch andere Praktiken der Auftrittsgestal26 Munninger, Das wahre Gesicht, S. 5. 27 Bekker, Das deutsche Musikleben, S. 149. 28 Bundesministerium für Justiz, Sammlung, 8. Jg., S. 264.

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tung kennzeichneten den Kunstbetrieb: die Vermittlung von Auftritten über Agent/innen, die Nennung des/der Musizierenden in Druckwerken und unterschiedlicher Umgang mit dem Publikum, das bei positivem Bezug auf hohe Kunst als interessiert und musikverständig bezeichnet wurde, bei negativem jedoch weitgehend ungenannt blieb. Besonders wichtig für die Produktion hoher Kunst ist der Kontrast zwischen der Mobilität von Künstler/innen29 und dem räumlichen Verharren von jenen mit negativem Bezug auf hohe Kunst.30 Die Opernsängerin Lotte Lehmann etwa nahm nach ihrer musikalischen Ausbildung zuerst ein Engagement in einer anderen Stadt und dann in einem anderen Land an, bis sie nach immer schneller wechselnden Gastspielen und Tourneen u. a. in anderen Kontinenten feststellte, dass sie sich „an keine Oper mehr dauernd binden“31 wollte. Der Vereinsmusiker Konrad Bergmann, der 1911 in der ländlichen Steiermark geboren wurde und dessen Musizieren nie über sein Geburtsbundesland hinausging, hatte hingegen einen anderen Bezugsrahmen: „Der Durchbruch war gelungen! Wir wußten, daß wir im Bezirk Voitsberg als durchaus ernstzunehmende Musikkapelle registriert waren!“32 Trug die Bezugnahme auf hohe Kunst am wesentlichsten zur Legitimität oder Illegitimität von Musizierpraktiken bei, so wurde umgekehrt die Referenz der hohen Kunst durch den Bezug von Musizierpraktiken auf sie reproduziert und legitimiert. An dieser Produktion war eine Vielzahl von Akteuren beteiligt. Wenngleich diese auch nicht immer darin übereinstimmten, was hohe Kunst sei, so war doch allen klar, dass hohe Kunst existierte und eine Reihe von Eigenschaften aufwies, auf die man sich einigen konnte – ob man sich nun positiv oder negativ auf sie bezog. Hohe Kunst spielte eine wichtige Rolle für Akteure des Kunstbetriebes – für Musikkritiker-/innen, Agent/innen, Verleger/innen und das Publikum, das sich mit Kunstmusik befasste. Im Kunstbetrieb war hohe Kunst bereits dermaßen normalisiert, dass etwa in periodischen Druckwerken des Kunstbetriebs wie dem „Musikalischen Kurier“ auf explizite Abgrenzungs- und Definitionsversuche verzichtet werden konnte: Worüber hier geredet und geschrieben wurde, das war hohe Kunst – und was nicht hohe Kunst war, wurde hier nicht beschrieben. Hohe Kunst zu machen, verschaffte Zutritt zu den legitimsten Auftrittsräumen (Konzertsäle, Opernhäuser) und Personen

29 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken Auftritt im Ausland, Auftritt im Gebiet des alten Österreich, Herkunft Ausland, Herkunft Gebiet des alten Österreich, musikalische Migration, Bewegung zwischen Orten und Tournéen abgebildet. 30 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken kein Auftritt außerhalb des Geburtsbundeslandes, keine musikalische Migration sowie kein Auftritt im Ausland abgebildet. 31 Lehmann, Anfang, S. 235. 32 Bergmann jun., Leben, S. 57.

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(Verleger/innen, Kunstpublikum), was wiederum neue Möglichkeiten des materiellen Verdienstes eröffnete. Auch Organisationen wie der Staat wirkten an der Produktion von hoher Kunst mit. Das Gesetz über den Bühnendienstvertrag von 1922 regelte die Dienstverhältnisse „von Personen, die sich einem Theaterunternehmer zur Leistung künstlerischer Dienste in einer oder mehreren Kunstgattungen […] bei der Aufführung von Bühnenwerken verpflichten“.33 Zu diesen Personen zu zählen brachte arbeitsrechtliche Vorteile, es ermöglichte etwa ausländischen Musizierenden, in Österreich ohne die aufgrund des Inlandarbeiterschutzgesetzes verlangten behördlichen Bewilligungen zu musizieren.34 Von staatlicher Seite war also die Bezugnahme auf hohe Kunst ein wichtiges Kriterium für unterschiedliche Behandlungen von Musizieren. Ebenso zeigte sich die Relevanz dieser Differenzierung in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. Sowohl das Handlungsgehilfengesetz von 1910 als auch das Angestelltengesetz von 1921 knüpften den arbeitsrechtlich vorteilhaften Status von Angestellten an die Ausübung „höherer Dienste“.35 In Arbeitsgerichts-Verhandlungen wurde die Entscheidung, ob höhere Dienste vorlagen, oftmals an den Bezug des Musizierens zur hohen Kunst geknüpft: Kunst wurde hier etwa über ihren Gegensatz zur Gebrauchsmusik (die bloß Stimmung erzeugen würde)36, oder aber als „schöpferische Gestaltungskraft“ und „Neuschöpfung des Tonstückes aus der Seele des Musikers“37 charakterisiert, Künstler/in-Sein über die dazugehörige Ausbildung38 oder über bestimmte Rahmenbedingungen des Musizierens, wie Ort und Bezahlung.39 Die Gewerbeordnung wiederum nahm die „Ausübung der schönen Künste“ explizit aus ihrem Anwendungsbereich aus,40 was die Verwal-

33 Bundesgesetz vom 13. Juli 1922 über den Bühnendienstvertrag (Schauspielergesetz), BGBl. 1922/441, § 1(1). 34 Bundesgesetz vom 19. Dezember 1925 über die zeitweilige Beschränkung der Beschäftigung ausländischer Arbeiter und Angestellter (Inlandarbeiterschutzgesetz), BGBl. 1925/457, § 15 c); Verordnung des Bundeskanzlers vom 31. Dezember 1925, betreffend die Gruppen von Arbeitnehmern, für welche die Vorschriften des Bundesgesetzes vom 19. Dezember 1925 über die zeitweilige Beschränkung der Beschäftigung ausländischer Arbeiter und Angestellter keine Anwendung finden, BGBl. 1925/11, 1) c). 35 Gesetz vom 16. Jänner 1910 über den Dienstvertrag der Handlungsgehilfen und anderer Dienstnehmer in ähnlicher Stellung (Handlungsgehilfengesetz), RGBl. 1910/20, § 1; Bundesgesetz vom 11. Mai 1921 über den Dienstvertrag der Privatangestellten (Angestelltengesetz), BGBl. 1921/292, § 1. 36 Bundesministerium für Justiz, Sammlung, 6. Jg., S. 220 ff. 37 Ders., Sammlung, 8. Jg., S. 264. 38 Ders., Sammlung, 6. Jg., S. 156 ff., 220 ff. 39 Ders., Sammlung, 8. Jg., S. 23 ff. 40 Kaiserliches Patent vom 20. December 1859, womit eine Gewerbe-Ordnung für den ganzen Umfang des Reiches mit Ausnahme des venetianischen Verwaltungsgebietes und der Militär-

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tungsbehörden auch einige Jahrzehnte nach deren Inkrafttreten noch vor Schwierigkeiten stellte, Kunst zu definieren: Das Kriterium für die ‚Ausübung der schönen Künste‘ ist also nicht in der Originalität des künstlerischen Produkts und der schöpferischen Betätigung, sondern in der Qualität der künstlerischen Leistung zu suchen, weshalb es an einem objektiven und absolut verlässlichen Masstab dafür gebricht, wie weit bezw. eng die Grenzen des Begriffes ‚Ausübung der schönen Künste‘ zu ziehen sind.41

Hohe Kunst wurde neben ihrer Nicht-Definition im Kunstbetrieb und ihrer Verwendung durch den Staat auch als Beruf – zum Beispiel in Berufsratgebern – definiert.42 In Berufsratgebern etwa wurde Künstler/in-Sein als zwar ungewöhnlicher, aber dennoch in die Reihe anderer Tätigkeiten eingliederbarer Beruf präsentiert. Dass die oben skizzierte hohe Kunst große Bedeutung für Musizieren in der österreichischen Zwischenkriegszeit hatte, war auch auf Entwicklungen in den vorangegangenen Jahrhunderten zurückzuführen. Musik, die zur Repräsentation von Macht und Selbstbewusstsein zu gebrauchen war,43 wurde bereits seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert vom aufstrebenden Bürgertum verwendet, um seine Emanzipation vom Adel zu kennzeichnen. Damit war allerdings Kunst noch nicht so stark von Nicht-Kunst abgegrenzt wie in späteren Jahren. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde die Differenzierung von Kunst und Populär- bzw. Unterhaltungsmusik wichtiger. Diese Entwicklung kann mit zunehmenden Versuchen des Bildungsbürgertums erklärt werden, sich von anderen Teilen des Bürgertums abzuheben.44 Aus musikästhetischer Perspektive ist vor allem die Gleichsetzung von ernster Musik mit autonomer bzw. Darbietungsmusik und von Unterhaltungsmusik mit funktionaler Musik für die Entwicklung der hohen Kunst relevant,45 ebenso wie die Erfindung der klassischen Musik.46 Dennoch konnte noch in den 1830ern Joseph Lanner in Wien Walzerkonzerte geben, die sowohl der Unterhaltung als auch der Kunst zugerechnet wurden und großen Erfolg hatten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts differenzierten sich Kunst und Unterhaltung stärker aus. Unterhaltungsmusik wurde zumingränze, erlassen, und vom 1. Mai 1860 angefangen in Wirksamkeit gesetzt wird, RGBl. 1859/227, Artikel V Punkt c. 41 Österreichisches Staatsarchiv, Musikergewerbe, S. 7. 42 Vgl. etwa von der Gablentz/Mennicke (Hg.), Deutsche Berufskunde, S. 375 ff. 43 D. h. vor allem: Musik, die in Räumen der Macht und des guten Geschmacks (wie Oper und Konzertsaal) stattfand, die Bezug nahm auf große nationale Traditionen etc. 44 Schormann, „Lieder“, S. 66. 45 Smudits, Wandlungsprozesse, S. 121. 46 Gramit, Selling the Serious.

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dest von manchen nicht mehr nur als Überbleibsel der Kunstmusik gesehen, sondern etablierte sich als eigenständiges Genre.47 Die Entwicklung breitenwirksamer Unterhaltung in den 1920er und 1930er Jahren wird oftmals mit Begriffen wie „Massenkultur“ oder „Populärkultur“ beschrieben. Ohne auf die Wertungen einzugehen, die mit diesen unterschiedlichen Formen von Musik verknüpft wurden, ist die grundsätzliche Trennung von Kunst und Unterhaltung in der Zwischenkriegszeit festzustellen. Es schien normal, dass ein Arbeitsgericht die Zuordnung eines Musizierenden zu den höheren Diensten deshalb verneinte, weil seine Tätigkeit nicht in „besseren Lokalen“ stattfand, sondern nur der „Erzeugung einer gewissen Stimmung“ diente.48 Währenddessen wurde das Musikwesen wissenschaftlich kategorisiert in „seriöse Musiker, Genossen der leichteren Muse und fahrendes Volk“49 oder u. a. in Opernbühnen, Konzerte und „all jene Betriebe, in denen die Musikproduktion nicht essentiell ist, sondern akzidentiell“.50 Die Entwicklung der hohen Kunst wird aber nicht nur durch ihre Verwendung für Repräsentation und durch musikästhetische Positionierungen erklärt, sondern auch durch technologische und ökonomische Entwicklungen. Neue Techniken zur massenhaften Reproduktion von Musiknoten zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden zur Verbreitung der soeben erst entdeckten klassischen Musik eingesetzt, wobei gerade die Amateurmusiker eine wichtige Zielgruppe darstellten.51 Der Staat begann ab Mitte des 19. Jahrhunderts, Musik als hohe Kunst finanziell vermehrt zu unterstützen. Mit der Finanzierung von Konservatorien und Akademien ebenso wie der Gewährung von Stipendien und Preisen für Kompositionen wurde die Unterscheidung zwischen hoher Kunst und allen anderen Formen von Musizieren verfestigt.52

Beruf In Folge wird die zweite Dimension des Raumes des Musizierens über die dafür dominante Referenz des Berufs vorgestellt. Diese Dimension ist für die Struktur des Gesamtraums die zweitwichtigste. Die Art der Bezugnahme auf Beruf bestimmte maßgeblich, wie Musizieren kategorisiert und beurteilt wurde. Sich po-

47 48 49 50 51 52

Giesbrecht-Schutte, Zum Stand, S. 116 ff. Bundesministerium für Justiz, Sammlung, 13. Jg., S. 192 ff. Matzke, Musikökonomik, S. 40. Wilzin, Musikstatistik, S. 96. Weber, Mass Culture, S. 10 ff. Smudits, Soziologie, S. 243.

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sitiv (Praktiken rechts des Nullpunktes in Abbildung 2) wie negativ (Praktiken links des Nullpunktes in Abbildung 2) oder neutral auf Beruf zu beziehen, hatte Auswirkungen auf Ausmaß und Art der (Il-)Legitimität des eigenen Musizierens. Die Praktiken des Musizierens wiederum produzierten die Referenz Beruf ständig mit. In der Hilfsgrafik (Abbildung 2) angezeigte Praktiken werden im Text kursiv dargestellt. Sich positiv auf Beruf zu beziehen, bedeutete eine starke Identifikation mit dem Musizieren: Wer eine Berufsbiografie als Musiker/in hatte, musizierte nicht nur auch, er/sie war vorrangig oder sogar ausschließlich Musiker/in. Eine wichtige Rolle spielte dabei die materielle Organisation des eigenen Lebens. Während Berufsmusiker/innen keine nicht-musikalischen Erwerbsarbeiten erwähnten,53 fand sich bei jenen, die sich negativ auf Beruf bezogen, eine Vielfalt an Erwerbspraktiken außerhalb des Musizierens.54 Für den eigenen Unterhalt wurden hier gelernte und ungelernte Erwerbsarbeit, Subsistenzwirtschaft und Berufsarbeit kombiniert. Doch wer bereits andere Unterhaltstätigkeiten neben dem Musizieren ausgeübt hatte, galt in offizieller Perspektive auf Beruf nicht mehr als Berufsmusiker/in. So grenzte die sozialistische Musikergewerkschaft bereits Ende des 19. Jahrhunderts Berufsmusiker ab von „Wirthe[n] oder Leute [n], die eigentlich Hausmeister, Hilfsarbeiter, Taglöhner und dergleichen sind“.55 Der Unterhalt definierte die Person – und so war auch ein musizierender Hilfsarbeiter kein Musiker, sondern „eigentlich“ Hilfsarbeiter. Die Möglichkeit, den Unterhalt ausschließlich durch Musizieren zu verdienen, war aber eng an die materiellen Verhältnisse im Herkunftshaushalt gebunden. Musizieren als Beruf setzte eine längere kostspielige Ausbildung voraus, während der nur wenig Möglichkeit zum Verdienen bestand. Wie Irina Vana für Berufe insgesamt zeigt, war auch zur Produktion des Musikerberufes ein entsprechender Rückhalt im Haushalt notwendig.56 Dieser – zumindest materielle – Rückhalt fehlte jenen, die sich negativ auf Musizieren als Beruf bezogen.57 Sie mussten möglichst bald den eigenen Unterhalt verdienen.58

53 Dieser Aspekt wird durch die Praktik keine anderen Arbeiten abgebildet. 54 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken andere Arbeit bezahlt, Lehre, andere ungelernte Arbeit, mehr als neun andere Arbeiten, andere gelernte Arbeit, Subsistenzwirtschaft, andere Erwerbsarbeit sowie andere Arbeit als Beruf bezeichnet abgebildet. 55 N. N., Das Musikergewerbe. 56 Vana, Gebrauchsweisen, S. 403. 57 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken Arbeitslosigkeit, Unterhalt durch Fürsorgeleistungen, Erfahrungen des Mangels als Kind, Mutter arbeitet in Hilfstätigkeit, Unterhalt durch Sozialleistungen, Eltern arbeitslos sowie Beschreibung der Kindheit als Armut abgebildet. 58 Dieser Aspekt wird durch die Praktik Unterhalt vor fünfzehn Jahren selbst verdient abgebildet.

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Abb. 2: Hilfsgrafik der Praktiken der zweiten Dimension. © G. Sch. Die X-Achse weist die Koordinaten der Praktiken auf, die Y-Achse deren Beitrag zur Varianz der Dimension (Ctr). Es werden nur Praktiken mit überdurchschnittlichem Ctr angezeigt. ( ) = keine Erwähnung, „ “ = wörtliche Verwendung.

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Die publizistische Produktion der Berufsbiografie als Einheit von Leben und Beruf verlangte nach einer spezifischen Perspektive der Darstellung der eigenen Lebensgeschichte. Wer sich positiv auf Beruf bezog, erzählte wenig über Ereignisse und Verhältnisse abseits des Musizierens.59 Ebenso fehlten Fotos oder persönliche Dokumente, um die Erzählungen zu illustrieren. Auch wenn Beruf nicht zwangsläufig das Fehlen von Freizeit oder familiären Bindungen voraussetzte, wurde durch deren Nichterwähnung das eigene Leben als Abfolge musikalischer Stellen – als Lebensberuf – produziert. Im Gegensatz dazu erhoben Erzählungen mit negativem Bezug auf Beruf den Anspruch, das eigene Leben in all seinen Facetten zu präsentieren, wie schon die Verwendung von Titeln wie „Skizzen aus dem Leben“ oder „Aus meinem Leben“ – im Kontrast zum Fehlen von Titeln in Berufsbiografien – zeigte. Musizieren war hier nicht alleiniger Lebensinhalt, sondern bloß eine Episode inmitten vieler anderer Ereignisse und Unterhaltstätigkeiten. Die unterschiedlichen Darstellungsformen werden bei der Gegenüberstellung einer Berufsbiografie und einer Erzählung mit negativem Berufsbezug deutlich: Kemeter, Rudolf; erlernter Beruf: Musiker, Polizeibeamter i. R., geboren am 3. Juli 1890 in Guntersdorf […] erhielt im Alter von 8 Jahren beim dortigen Regens Chori Oberlehrer J. Kleckmaer Unterricht im Gesang u. Allgem. Musiklehre, war dann einige Jahre als Sängerknabe im dortigen Kirchenchor tätig. Den ersten Unterricht im Flöten- Klarinetten- u. Geigenspiel sowie in Theorie erhielt ich von meinem Vater M. K. der selbst ein sehr guter Musiker (ehem. Militärmusiker) war.60 Der Mitterbauer Peperl war Musiker. […] Ich war in der Musik sehr talentiert und so konnte er mich bald ins Geschäft vermitteln. Nun war ich die finanzielle Sorge los und verdiente ganz schön. Musik wurde in meiner Jugendzeit groß geschrieben. Bei jedem Begräbnis war eine Blasmusikkapelle. […] Auch ich ging als Kind gerne mit, die Musik begeisterte mich immer […] Peperl nahm mich auch in einen Musikverein mit. Es wurde zweimal in der Woche geprobt. Anschließend haben wir Kegel geschoben und waren vergnügt.61

Diese unterschiedlichen Arten, Musizieren in Beziehung zur übrigen Lebensgeschichte zu setzen, standen im Zusammenhang mit unterschiedlichen Kontexten der Produktion von Erzählungen. Das Verfassen einer Berufsbiografie könnte im Untersuchungszeitraum und in den Jahrzehnten danach bereits eine normalisierte Art gewesen sein, das eigene Leben zu erzählen. Im Gegensatz

59 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken keine Beschreibung von Freizeitaktivitäten, keine Beschreibung der familiären Situation, keine Beschreibung nicht-musikalischer Ausbildung, keine Angaben über Tätigkeit des Vaters und keine Beschreibung von Geschwistern abgebildet. 60 Kemeter, Lebensbeschreibung, S. 1. 61 Felsinger, A Schutzengerl, S. 16–17.

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dazu fand der Anspruch einer „ganzheitlichen“ Erzählung – also einer Erzählung, die auch Themen außerhalb von Unterhalten und Erwerb großen Raum gab – zumindest für weitgehend unbekannte Personen erst ab den 1980ern breitere Legitimation.62 Dieser Gegensatz findet sich auch hinsichtlich der Archivierung der Erzählungen. Während die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien (DOKU) Erzählungen aus allen Bereichen des Lebens sammelt, trägt die Musiksammlung Vorarlberg nur Erzählungen zusammen, deren Verfasser/innen zur Vorarlberger Musikgeschichte beitrugen – hier das „ganze Leben“, dort das Musizieren als Leben. Nicht jedes Musizieren konstituierte eine/n Berufsmusiker/in. Berufsmäßiges Musizieren war vor allem öffentliches Musizieren, also Musizieren vor Publikum. Privates Musizieren wie etwa Hausmusik wurde nur in Erzählungen mit negativem Bezug auf Beruf thematisiert und detailreich beschrieben.63 Neben dieser grundlegenden Unterscheidung waren aber auch bestimmte Musizierorte oder Musikgenres wenig geeignet für die Produktion des Musikerberufes. Vor allem das Musizieren im Musikverein (d. h. einem meist ländlichen Verein zum geselligen Musizieren) stellte einen Kontrast zu berufsmäßigem Musizieren dar: Es erforderte keinerlei Vorbildung, gehorchte nicht der Logik der Laufbahn oder Karriere und wurde häufig als von minderer Qualität bezeichnet. Aber auch im Gasthaus zu musizieren oder Wienerlieder zu spielen, stellte die professionellen Fähigkeiten der Musizierenden in Frage. Musizierorte, die für mehr offizielle Qualität bürgten, wie Konzertsaal, Oper, aber auch Kino oder Varieté, waren vor allem in den Städten zu finden. So wurde es für Bewohner/innen des Landes zur Herausforderung, eine musikalische Berufsbiografie zu produzieren. Auch das dürfte zu der Annahme beigetragen haben, dass es auf dem Lande überhaupt keine erwerbsmäßigen oder berufstätigen Kapellmeister gäbe.64 Beruf konnte im Untersuchungszeitraum viele Bedeutungen haben, wie andere Beiträge dieses Sammelbands zeigen. Ich beziehe mich vor allem auf den Lebensberuf, der durch die kontinuierliche Ausübung ein und derselben Tätigkeit und das Fehlen anderer Erwerbstätigkeiten charakterisiert wurde. Auf den Lebensberuf wurde in vielen zeitgenössischen Berufsratgebern, vor allem aber auch in Stellungnahmen der Musikergewerkschaften, Bezug genommen. In letzteren wurde kontinuierlich für die Privilegierung der Berufsmusiker/innen (im

62 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken Entstehung der Erzählung nach 1980 (auf der Seite des negativen Bezugs auf Beruf) sowie Entstehung der Erzählung zwischen 1945 und 1960 (auf der Seite des positiven Bezugs auf Beruf) abgebildet. 63 Diese Aspekte werden durch die Praktiken Geselligkeit bei privatem Musizieren sowie Knüpfen von Kontakten durch privates Musizieren abgebildet. 64 Munninger, Das wahre Gesicht, S. 4.

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Gegensatz zur „Schmutzkonkurrenz“65 der Dilettant/innen) agitiert. Allerdings – und im Gegensatz zu den Vorstellungen der Gewerkschaften – hatte sich der Lebensberuf, wie er in den Erzählungen von Musizierenden produziert wurde, bereits weitgehend von der Erwerbsmäßigkeit des Musizierens abgelöst. Auch Musizieren, das nicht Erwerb war, konnte jetzt zur Konstitution der Berufsbiografie beitragen. Wenn es auch allen beteiligten Akteuren klar war, dass es die Differenzierung Beruf gab, blieb umkämpft, welche Konsequenzen sich daraus ableiteten. Die sozialistische Musikergewerkschaft initiierte im Laufe der zwanziger Jahre drei erfolglose Anträge auf Gesetze, die nur Berufsmusiker/innen das erwerbsmäßige Musizieren erlaubt hätten.66 Demgegenüber propagierten die Nichtberufsmusikerverbände nichtberufsmäßiges Musizieren als dem Beruf gegenüber gleichberechtigt oder sogar überlegen. Auch die Musikerverordnung von 1934 trug den Musikerberuf im Titel und setzte für erwerbsmäßiges Musizieren berufliche Qualifikationen voraus, berücksichtigte jedoch durch zahlreiche Ausnahmen etwa für Vereinskapellen67 auch die Perspektive der Kontrahenten der Berufsmusiker/innen. Die berufliche Ausprägung von Musizieren in der Zwischenkriegszeit entstand durch eine Reihe vorangegangener Entwicklungen. Beruf wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Musizieren hinaus erstmals als Anspruch an breitere Bevölkerungsteile formuliert.68 Darüber hinaus war Beruf auch Gegenstand musizier-spezifischer Entwicklungen. Im 19. Jahrhundert wurde für größere Bevölkerungsgruppen die arbeitsfreie Zeit ausgeweitet bzw. überhaupt erstmals möglich.69 In engem Zusammenhang damit sowie mit teilweise gestiegenen Einkommen stand die Entstehung einer Massenkultur bzw. die Organisation bestimmter Formen des Musizierens in einer Vergnügungsindustrie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, was sich an den Erfindungen von Varieté und Revue sowie des Schlagers und an der Massenproduktion von populären Liedern zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen lässt. Diese Entwicklungen veränderten das Verhältnis zwischen Beruf und Amateurtum. Während mehr Freizeit eine erhöhte Nachfrage nach Musik und damit neue Möglichkeiten für Mu-

65 Siehe etwa Domansky, Volksmusik. 66 Initiativantrag 811; Initiativantrag 330; Initiativantrag 179. 67 Verordnung der Bundesregierung vom 28. Dezember 1933 über die Ausübung des Kapellmeister- und des Musikerberufes (Kapellmeister- und Musikerverordnung), BGBl. 1933/4, § 15 a. 68 Wadauer/Mejstrik/Buchner, Editorial. 69 Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 38–78; Arcangeli, Freizeit.

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sizierende mit sich brachte, bevorzugte die Organisation der Vergnügungsindustrie spezialisiertes – und daher vor allem: berufliches – Musizieren. War in vergangenen Jahrhunderten berufliches Musizieren neben städtischen und höfischen Diensten vor allem für Theater- und Orchestermusiker/innen sowie Opernsänger/innen möglich gewesen, so konnten nun sogar Tanz- und Unterhaltungsmusiker/innen ihre Tätigkeit zum Beruf machen. Gleichzeitig gewann aber auch das Musizieren von Amateur/innen an Bedeutung. Technologische Neuerungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglichten die kostengünstige Verbreitung gedruckter Musik ebenso wie einen einfacheren Zugang zu Instrumenten wie beispielsweise den Pianos.70 Vor allem der schulische, aber auch der private Musikunterricht wurden ausgeweitet. Damit waren wichtige Voraussetzungen für die Verbreitung amateurhaften Musizierens gegeben. Vor allem nach 1848 entstand eine Vielzahl an Blasmusikkapellen und Männerchören, wobei für letztere oftmals die Legitimation der politischen Betätigung durch Musik wichtiger war als das Musizieren selbst.71 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden dann die neuen Jugendbewegungen, für die – weitgehend unabhängig vom ideologischen Anspruch – Musik ebenfalls große Bedeutung hatte.72 Standen hier Geselligkeit und Dienst an der Gemeinschaft im Vordergrund, so konnte amateurhaftes Musizieren auch eine wichtige materielle Funktion haben. Viele, die über grundlegende Musizierkenntnisse verfügten, versuchten in den Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und großem Elend nach dem Ersten Weltkrieg, sich mit Straßen-, Gelegenheits- und Bettelmusizieren durchzubringen, also mit traditionellen Not-Unterhalten. Eine besondere Gruppe stellten hier die Kriegsinvaliden dar. Bereits 1821 war per Hofkanzleidekret versucht worden, Musizieren als Not-Unterhalt auf zur Arbeit Unfähige zu beschränken.73 Auf dieser gesetzlichen Basis wurden nach dem Ersten Weltkrieg Bettelmusiklizenzen verstärkt an Kriegsinvalide ausgegeben, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren Unterhalt zu verdienen, wie es etwa der Schriftsteller Joseph Roth schilderte: Man erwartete eine ärztliche Kommission. Sie hatte über den Bestand des Spitals, über die Arbeitsunfähigkeit, über die Versorgung seiner Insassen zu entscheiden. Das Gerücht, aus anderen Krankenhäusern herüberflatternd, wollte wissen, daß nur die Zitterer bleiben

70 Weber, The Musician, S. 13; Smudits, Wandlungsprozesse, S. 118–119. 71 Flotzinger, Geschichte der Musik, S. 167 ff. 72 Ebd., S. 174. 73 Hofkanzleidekret vom 29. Mai 1821 an die niederösterreichische Regierung, Zl. 14.617, zitiert nach Mayrhofer, Handbuch, S. 1356.

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würden. Alle anderen bekamen Geld und vielleicht eine Drehorgellizenz. Von einem Briefmarkenverschleiß, einer Wächterstelle in einem Park, in einem Museum könne keine Rede sein.74

Aber auch in Einrichtungen wie Bars oder Cafés nahm amateurhaftes Musizieren zu. Die Hyperinflation von 1918 bis 1923 führte zu einer massiven Zunahme an Vergnügungslokalen, die grundlegend unterfinanziert waren. Zur Aufrechterhaltung des Betriebs wendeten deren Betreiber/innen zunehmend weniger Geld für Musizierende auf: „[…] semi-professionals as well as foreign musicians […] stepped forward and offered their services“.75 Hatten Berufsmusiker/innen wie auch Amateure und Amateurinnen zuvor zumindest teilweise an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Arten von Publikum unterhalten, so verschärfte sich nun die Konkurrenz zwischen ihnen. Vor diesem Hintergrund werden die Legitimität von Berufsmusizieren auf der einen Seite und der Konflikt zwischen Berufsmusiker/innen sowie Amateuren und Amateurinnen auf der anderen Seite verständlich.

Der Raum des Musizierens Werden die Bezugnahmen auf die zentralen Referenzen des Musizierens zueinander in Beziehung gesetzt, so entsteht ein Raum des Musizierens (Abbildungen 3 bis 6). In ihm werden die unterschiedlichen Arten, durch Musizieren ein Fortkommen zu finden, beschreibbar. Je nach den Orientierungen der Bezugnahmen auf die Referenzen der hohen Kunst und des Berufs – mehr oder minder positiv, negativ oder neutral – können die möglichen Relationen dieser Bezugnahmen (positiv Kunst/positiv Beruf, positiv Kunst/negativ Beruf und so weiter) interpretiert und danach als neue, nun zweidimensionale Orientierungen beschrieben werden. Einen besonders guten Einstieg in die Beschreibung dieser Struktur stellen die 45-Grad-Diagonalen der Abbildungen 3 und 4 dar. Diese vier Orientierungen werden in Folge detaillierter besprochen.

74 Roth, Die Rebellion, 13. 75 Nathaus, Popular Music, S. 768.

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Abb. 3: Primäre Fläche. Punktwolke aller Praktiken und ausgezeichnete Orientierungen. © G. Sch.

Abb. 4: Primäre Fläche. Punktwolke aller Erzählungen. © G. Sch. * = anonymisiert.

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Abb. 5: Der Raum des Musizierens (primäre Fläche). Praktiken links des Nullpunktes. © G. Sch. Es werden nur Praktiken mit überdurchschnittlichem cos² in der Nähe der 45-Grad-Diagonalen angezeigt. ( ) = keine Erwähnung, „ “ = wörtliche Verwendung.

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Abb. 6: Der Raum des Musizierens (primäre Fläche). Praktiken rechts des Nullpunktes. © G. Sch. Es werden nur Praktiken mit überdurchschnittlichem cos² in der Nähe der 45-Grad-Diagonalen angezeigt. ( ) = keine Erwähnung, „ “ = wörtliche Verwendung.

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Dominanz: Das ernsthafte Studium Die dominante Orientierung im Raum des Musizierens – also die Kombination der positiven Bezugnahmen auf die beiden dominanten Referenzen der hohen Kunst und des Berufes – stellte das ernsthafte Studium der Musik dar (obere Hälfte der Abbildung 5). „Ernsthaftes Studium“ oder „ernsthafte Kunstausübung“ verwiesen zu dieser Zeit auf ganz bestimmte Arten, Musik zu machen. Das ernsthafte Studium war ein Leben für die Musik, geprägt von kontinuierlicher Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten und dem Kontakt mit anderen ernsthaften Studierenden der Musik. Das ernsthafte Studium meint aber nicht unbedingt eine Hochschulausbildung. Es meint den Fokus auf kontinuierliches Lernen und stetige Verbesserung der eigenen Fähigkeiten. Sich ernsthaft in die Musik zu vertiefen erforderte Ressourcen, die nur durch Musizieren sowohl als Beruf wie auch als hohe Kunst zu erlangen waren. Stand der Beruf für die Kontinuität des (bezahlten) Musizierens, so war hohe Kunst notwendig, um durch Musizieren durchgängig den eigenen Unterhalt bestreiten zu können. Dass sich diese spezifische Relation durchsetzen konnte, wird durch Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verständlich. Die oben bereits erwähnte Entdeckung der klassischen Musik zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte nicht nur zu einer ideologischen Begründung des Anspruches, sich in die Musik zu vertiefen, sondern auch zu Anforderungen der komponierten Werke, denen mehr und mehr nur „accomplished professionals“76 genügen konnten. Auch die Entstehung einer kunstmusikalischen Massenkultur – charakterisiert durch groß angelegte Orchesterkonzerte mit professioneller Vermarktung – Jahrzehnte später sorgte für die Verdrängung von Amateurmusiker/innen aus der hohen Kunst.77 Das ernsthafte Studium bot aber nicht nur gute Chancen, den eigenen Lebensunterhalt durch Musizieren zu verdienen. Es war in der Zwischenkriegszeit bereits dermaßen normalisiert, dass es oftmals für das Musizieren an sich stand bzw. zur Definition des Musikers schlechthin verwendet wurde. Fleiß, Hartnäckigkeit und kontinuierliche Übung – wichtige Elemente des ernsthaften Studiums – wurden als notwendige Voraussetzungen für das Musizieren beschrieben: Auch der Gutveranlagte braucht viel Fleiß, um allen Anforderungen, die an ihn gestellt werden, gerecht zu werden […] Wie bei vielen Jüngern der Kunst ist auch unter den Musikern oft ein Zug zum lustigen Leben vorhanden. Junge Leute, bei denen ein solcher Hang stark zu Tage tritt, laufen Gefahr, ihr Lernziel nicht zu erreichen.78

76 Gramit, Selling the Serious, S. 97. 77 Weber, Mass Culture. 78 Hauck, Berufsberatung, S. 112.

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Ebenso wurden etwa „Ausdauer und rastloses eigenes Weiterstreben“ als Eignungsbedingungen für den Musikerberuf genannt.79 Das derart beschriebene Ensemble von Eigenschaften war eng mit dem ernsthaften Studium verbunden. Hingegen wurde Musizieren, das nicht diesen Anforderungen entsprach, die Ernsthaftigkeit abgesprochen: Ensemblemusiker, die sich nicht die nötigen technischen Grundlagen angeeignet hatten, waren „für ernsthaftes musikalisches Studium verloren“,80 während die „ernste Kunstausübung“ mit dem „Genuss schalen Virtuosentums“ kontrastiert wurde.81 In Folge beschreibe ich anhand des entsprechenden Ausschnitts der primären Fläche einige Praktiken, die als positive Einsätze im ernsthaften Studium wirkten (Abbildung 5 obere Hälfte, in der primären Fläche angezeigte Praktiken werden im Text kursiv dargestellt). Das Vorhaben, sein Leben der Musik und nur der Musik zu verschreiben, wurde unter anderem durch die „Befreiung“ von anderen Wegen ermöglicht, den eigenen Unterhalt zu verdienen. Weder waren andere Arbeits- oder Unterhaltstätigkeiten noch andere Berufsausbildungen, wie sie in der dominierten Orientierung (Abbildung 6 untere Hälfte) sichtbar werden, notwendig. Nachdem Musizieren – vor allem in der Kunst – eine längere zeitintensive Ausbildung voraussetzte, mussten die Schüler/innen über ausreichende materielle Mittel verfügen. Dafür konnten entweder ihre Herkunftsfamilien sorgen, oder sie wurden von privaten Gönnern (im alten Patronagesystem) bzw. durch staatliche Stipendien gefördert. Beides setzte voraus, dass ihnen genügend Talent zugeschrieben wurde. Diese Möglichkeiten des Unterhaltverdienstes beruhten also bereits darauf, dass das ernsthafte Studium als eigene und fördernswerte Form des Musizierens wahrgenommen wurde. Reichte diese Unterstützung nicht aus oder fehlte sie ganz, konnte man versuchen, sein Leben mit Musizieren in weniger angesehenen Kontexten zu finanzieren. Dabei handelte es sich aber stets nur um den Einstieg in die Welt des bezahlten Musizierens. In lebensgeschichtlichen Erzählungen wurde von diesen „niederen“ Auftritten in ironischer Distanz erzählt. Der berühmte Pianist Artur Schnabel berichtete etwa: „Ich spielte ein Konzert mit einer Militärkapelle. Es war schrecklich […] Sie sehen, ich fing wirklich ganz unten an“.82 Nach diesen Einstiegsauftritten war vor allem eine Stelle das dem ernsthaften Studium entsprechende Arbeitsverhältnis. Dies bedeutete die langfristige Bindung an und materielle Absicherung durch eine kontinuierliche Auftrittsmöglichkeit. Damit waren die entsprechenden materiellen 79 80 81 82

Schwitzky, Musiker, Sp. 3383. Jahn, Musikerziehung, S. 21. N. N., Zur Reform, S. 447. Schnabel, Aus dir wird nie ein Pianist, S. 54.

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Voraussetzungen für die Entwicklung der eigenen musikalischen Fähigkeiten geschaffen. Im Opern- wie Konzertwesen waren Stellen mit langfristiger Bindung die Regel für ernsthaft Studierende, im Gegensatz zu den Gastspielen und Tourneen der populär Erfolgreichen (siehe nächstes Unterkapitel). Ein Beispiel für den Übergang vom steten Herumreisen auf Tourneen zur gesicherten Stelle findet sich in der Erzählung des Cellisten Paul Grümmer. Grümmer wurde 1879 im Deutschen Reich geboren und repräsentiert am ehesten die Orientierung des ernsthaften Studiums (Abbildung 4): […] daß ich im Jahre 1905 den Entschluß faßte, meine ‚feudale‘ Lebensweise als Solist und Gesellschaftsmensch aufzugeben, den Beruf des Orchestermusikers zu wählen und mich ganz in die Welt der symphonischen Musik zu vertiefen. Dieser Entschluß war gleichzeitig im Sinne meines Vaters, der mich gern in einer gesicherten Lebensstellung gesehen hätte. Ich wurde nun bald 25 Jahre alt, und er fand, es sei Zeit, die bürgerliche Sicherheit zu wählen.83

Dass es aber überhaupt möglich war, durch ernsthaftes Studium Unterhalt zu verdienen, war auf die bereits oben erwähnten Entwicklungen – die Propagierung der Kunstmusik als eigener Musizierform und die Professionalisierung und Ausweitung des Angebots an Kunstmusik – zurückzuführen. Sich ausschließlich der Musik zu widmen, wäre zuvor nur sehr wenigen Menschen möglich gewesen. Das ernsthafte Studium bedeutete einen spezifischen Umgang mit Musik als Kunst. Im Vordergrund stand die immer stärkere Vertiefung in künstlerische Musik sowie die fortwährende Entwicklung der eigenen Fähigkeiten. Der eigene Stil84 wurde entdeckt und verfeinert, die eigenen Fähigkeiten mit denen anderer Musizierender verglichen, verschiedene Formen von Musik kritisch beurteilt. Doch welcher Maßstab wurde an Musik und Musizieren angelegt? Nicht der Erfolg beim Publikum war ausschlaggebend – in der Orientierung des ernsthaften Studiums wurde kaum über das Publikum erzählt. Es kam auf die Beurteilung durch den ernsthaft Studierenden/die ernsthaft Studierende und andere Eingeweihte an.85 Hier zeigen sich Parallelen zu den von Pierre Bourdieu für das Feld der Literatur postulierten Kategorien der externen und der internen Hierarchisierung:

83 Grümmer, Begegnungen, S. 51. 84 Dieser Aspekt wird durch die Praktik Abgrenzung des eigenen Stils dargestellt. 85 Dies ist unter anderem daran zu sehen, dass vor allem Kontakte zu anderen Berühmtheiten erwähnt wurden.

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Dem Prinzip der externen Hierarchisierung zufolge […] das heißt dem Kriterium des weltlichen Erfolges zufolge […] gebührt die Palme den beim ‚breiten Publikum‘ bekannten und anerkannten Künstlern […] Das Prinzip der internen Hierarchisierung, das heißt der Grad an feldspezifischer Anerkennung, begünstigt Künstler (usw.), die […] bei ihren Kollegen und nur ihnen bekannt und anerkannt sind.86

Offensichtlich werden diese unterschiedlichen Bezugspunkte von Musizieren, wenn man etwa eine Passage aus der Erzählung Paul Grümmers (erstes Zitat unten) mit einer aus der Erzählung Konrad Bergmanns vergleicht, der am ehesten die ausgezeichnete Orientierung des Aus-Gelegenheit-Musizierens repräsentiert (zweites Zitat; siehe auch den Abschnitt zum Gelegenheitsmusizieren weiter unten sowie Abbildung 4): Doch hatte mich die Art meiner Tätigkeit in letzter Zeit auch künstlerisch nicht mehr befriedigt. Ich war der ewigen Virtuosenstücke überdrüssig; […] Meine Welt war Bach, war die unendlich reiche Kammermusik, und so konnte mich eine Arbeit auf die Dauer nicht befriedigen, die zu sehr auf gesellschaftlichen Erfolg eingestellt war.87 Der Durchbruch war gelungen! Wir wußten, daß wir im Bezirk Voitsberg als durchaus ernstzunehmende Musikkapelle registriert waren!88

Dass es nicht nur möglich war, sondern auch normal erschien, das eigene Musizieren an einem kleinen Kreis von „Kennern“ auszurichten, war nicht selbstverständlich. Die Propagierung absoluter Musik, die nur ihren eigenen Regeln gehorchen und keinerlei soziale Funktionen erfüllen sollte, beförderte diese Normalität.89 Während ernste Musik bzw. Kunstmusik immer mehr gleichgesetzt wurde mit absoluter Musik, wurde Unterhaltungsmusik in den Bereich des Funktionalen verwiesen.90 Die Relation der positiven Bezüge auf hohe Kunst und Beruf zeigte sich in den Ausbildungen ernsthaft Studierender. Sie besuchten ein Konservatorium oder eine Akademie und bezeichneten ihre Ausbildung als Studium. Dies kann – im Gegensatz etwa zum Privatunterricht bei berühmten Künstlern/innen – als Formalisierung der ernsthaften Kunst verstanden werden. Nicht mehr die charismatische und individuelle Übergabe der Künstlerweihe von großen Künstlern/innen an deren Schüler/innen, sondern die Anerkennung der Künstlerschaft durch dazu legitimierte Organisationen erlaubte es, ernsthafte Kunst zu

86 87 88 89 90

Bourdieu, Die Regeln, S. 345. Grümmer, Begegnungen, S. 51–52. Bergmann jun., Leben, S. 57. Vgl. Dahlhaus, Die Idee. Smudits, Wandlungsprozesse, S. 121.

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machen. Der zunehmende Einfluss des Staates auf diese Organisationen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass dieser – etwa durch Prüfungsordnungen oder Stipendien – festlegen konnte, wer zum Studium berufen und befugt war. Akademie und Konservatorium beförderten aber auch ein Verständnis von künstlerischem Musizieren als geplanter Laufbahn.91 War der Zugang zu und der Erfolg von Privatunterricht bei berühmten Künstlern/innen oftmals vom Zufall geprägt, versuchten Akademie und Konservatorium mittels formalisierter Lehrpläne und standardisierter Abschlüsse vorhersehbare und planbare Ausbildungen sowie ein systematisches Auffinden von Talenten zu gestalten. Diese zentralen Elemente von Beruf und Berufslaufbahn wurden auf das Musizieren umgelegt, ernsthafte Kunst wurde zu einem Beruf, und es entstanden Musik-Berufslaufbahnen, die ernsthafte Kunst garantierten: Das war das ernsthafte Studium beim Musizieren.

Prätention: Populärer Erfolg Der populäre Erfolg stellt im Raum des Musizierens eine Relation der positiven Bezugnahme auf hohe Kunst und der negativen Bezugnahme auf Beruf dar (untere Hälfte der Abbildung 5). Diese Orientierung stand für Musizieren, welches sowohl in der breiten Bevölkerung Bekanntheit erlangte als auch materiell bestens entlohnt wurde. Stand im ernsthaften Studium aber das Musizieren um der Musik willen im Vordergrund, so wurde hier Musizieren – und zwar künstlerisches Musizieren – strategisch eingesetzt, um Zugang zu Orten und Akteuren zu erhalten, die entsprechenden Erfolg garantierten. Die oben zitierte Unterscheidung Pierre Bourdieus von externer und interner Hierarchisierung weist Parallelen zur Unterscheidung von ernsthaftem Studium und populärem Erfolg auf. Dass populärer Erfolg mit Musik möglich und legitim erschien, stand eng im Zusammenhang mit dem Aufkommen einer Starkultur. Vorläufer dieser Starkultur waren Berühmtheiten an großen städtischen Theatern,92 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt durch neue Massenmedien und das Agententum. Sängerinnen wie Jenny Lind und Musiker wie Franz Liszt waren Vorläufer/innen der späteren Stars. Durch Entwicklungen in der Massenkommunikation durch Radio, Grammophon und Tonfilm vor und in der Zwischenkriegszeit entstand erstmals eine Starkultur, vor allem in den USA.93

91 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken werden wollen und Vorschau dargestellt. 92 Berlanstein, Historicizing and Gendering Celebrity Culture, S. 127–128. 93 Rojek, Introduction, S. 4.

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In Folge beschreibe ich anhand des entsprechenden Ausschnitts der primären Fläche einige Praktiken, die als positive Einsätze des populären Erfolgs wirkten (siehe Abbildung 5 untere Hälfte, die angezeigten Praktiken werden im Text kursiv dargestellt). Erzählungen des populären Erfolgs waren Erzählungen des Aufstiegs. Die derart Musizierenden stellten ihre Herkunft aus „gewöhnlichen“ oder gar ärmlichen Verhältnissen mit materiellen Sorgen und der Finanzierung des Lebensunterhalts durch andere94 dem – auch materiellen – Erfolg und der Bekanntheit gegenüber, die sie durch Musizieren erreicht hatten. Damit wurde nicht nur die eigene Leistung betont, sondern auch die Möglichkeit für ein breites Publikum geschaffen, sich mit diesen (früheren) Lebensumständen zu identifizieren. Dies hatten schon Berühmtheiten des Theaters Ende des 19. Jahrhunderts vorgeführt: „Propriety, sobriety, and adhesion to an idealized model of ‚ordinariness‘ became the formula for the featured celebrities by the end of the century“.95 War der Aufstieg geschafft, so wurden, im Gegensatz zu den anderen Orientierungen des Raums, materielle Verdienste nicht nur erwähnt, sondern breit thematisiert96 und als Maßstab des Erfolges angegeben. Populär Erfolgreiche beschrieben sich selbst als Akteure eines Musikmarkts: also in sozialen Beziehungen, in denen Musizieren eine Ware (geworden) war. Populär Erfolgreiche stellten den finanziellen Aspekt des Musizierens gegenüber seinem rein künstlerischen Wert, seiner Berufsförmigkeit oder seinem Beitrag zur eigenen Unterhaltung in den Vordergrund. Auch Musizierende anderer Orientierungen agierten mittels dieses Musikmarktes,97 präsentierten sich allerdings nicht explizit als Markt-Akteure. Erzählten ernsthaft Studierende von ihrem Studium, so erzählten populär Erfolgreiche von ihrer Ausbildung, die oftmals nicht eine akademische Ausbildung war, sondern der Privatunterricht bei (ehemaligen) Berühmtheiten. Stand das Studium im Zeichen des lebenslangen Vertiefens in die Musik, so hatte Ausbildung in der Orientierung des populären Erfolgs ein vorgegebenes Ende, markiert durch Prüfungs- oder andere Rituale. Für populär Erfolgreiche stand die Nutzung von Musik zu Zwecken der Popularität und des materiellen Erfolgs im Vordergrund. Sie absolvierten eine oder mehrere Ausbildungen, um so die Berechtigung zu erlangen, an spezifischen (künstlerischen) Orten aufzutreten

94 Diese Aspekte werden durch die Praktiken Unterhalt durch Familie sowie Fürsorge dargestellt. 95 Berlanstein, Historicizing and Gendering Celebrity Culture, S. 128. 96 Diese Aspekte werden durch die Praktiken Bezeichnung von Bezahlung als Gage, Beträge von Bezahlung erwähnt, Bezahlung als viel bezeichnet, fixe Bezahlung dargestellt. 97 Vgl. Heister, Konzertwesen, S. 687; Wilzin, Musikstatistik, S. 51.

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oder um den eigenen Marktwert zu steigern. Wurde in Erzählungen des ernsthaften Studiums der individuelle Zugang zur Musik beschrieben, so nahmen populär Erfolgreiche vor allem Bezug auf besondere Lehrmethoden und auf die Person des/der Lehrenden, welche ihr Charisma und Können auf Schüler/innen übertrug.

Skepsis: Der Musik treu bleiben Der Musik treu zu bleiben, stellt im Raum des Musizierens eine Relation der negativen Bezugnahme auf hohe Kunst und der positiven Bezugnahme auf Beruf dar (Abbildung 6 oben). Für diese Orientierung war die Kontinuität des eigenen Musizierens zentral. Man hatte „immer schon“ musiziert und nicht auf andere Weise den eigenen Unterhalt verdient. Man war nicht bloß ein Musizierender/ eine Musizierende, sondern Musiker/in. Während es aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt Chancen gab, von musikalischer Kunst kontinuierlich zu leben, waren die Aussichten, das mit nichtkünstlerischer Musik zu tun, schlecht. Die weiter oben erwähnten Entwicklungen der Ausweitung amateurhaften Musizierens und der verschärften Konkurrenz zwischen Amateur- und Berufsmusizierenden erschwerten kontinuierlichen Verdienst durch Musizieren. Auch die Mechanisierung von Musik durch Grammophon, Radio und Tonfilm bot nur wenigen Musizierenden Erwerbsmöglichkeiten, während viele andere ersetzbar wurden und eine massive Verschlechterung ihrer materiellen Verhältnisse hinnehmen mussten.98 Der Musik treu zu bleiben, blieb ein Anspruch bestimmter Akteure wie der Musikergewerkschaften an Musizierende, der aber nur für wenige realisierbar war. So lag die offizielle Arbeitslosenquote von (Berufs-)Musikern/innen 1934 bei etwa 25%.99 Die sozialistische Musikergewerkschaft sprach 1933 gar von einer „entsetzlichen Verelendung des ganzen Standes, einer Arbeitslosigkeit, unter der mehr als 75% aller ausübenden Musiker leiden“.100 Die Möglichkeiten, der Musik treu zu bleiben, waren auch an die Ressourcen des Herkunftshaushaltes gebunden. Den Musikerberuf zu erlernen, bedeutete mehrere Jahre ohne nennenswertes Einkommen. In Haushalten, die auf jedes Einkommen von Familienmitgliedern angewiesen waren, bedeutete das oft eine zu große Belastung. In Folge beschreibe ich anhand des entsprechenden Ausschnitts der primären Fläche die wichtigsten Praktiken, die als positive Einsätze des Der-Musik98 Siehe etwa für die USA Kraft, Stage, S. 87 ff. 99 Bundesamt für Statistik, Die Ergebnisse, S. 314. 100 Österreichisches Staatsarchiv, Schreiben.

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treu-Bleibens wirksam wurden (Abbildung 6 oben, die angezeigten Praktiken werden im Text kursiv dargestellt). Der Anspruch, (Berufs-)Musiker/in zu sein, wurde über die Auswahl der Erzählthemen gestellt. Im Gegensatz zu anderen Orientierungen wurden weder Freizeitaktivitäten erwähnt noch nicht-musikalische Ausbildungen thematisiert. Auch Fotos und Dokumente, die in anderen Erzählungen Verweise auf verschiedene Aspekte des eigenen Lebens darstellten, fehlten. Das eigene Leben wurde vorrangig als Musizieren erzählt. Die kurze101 und knappe Erzählweise zeigt, wie eng diese Orientierung mit Vorstellungen einer Berufslaufbahn verknüpft war. Ohne detaillierte Beschreibungen oder Begründungen102 wurden musikalische Stationen aneinandergereiht und so der Eindruck einer naturgegebenen Musikerkarriere erweckt. Damit wird klar, dass die Kontinuität des Musizierens ein zentraler Aspekt dieser Orientierung war. Sie bezog sich auf verbreitete Vorstellungen und Praktiken von Beruf, nach denen ein durchgängiger Verbleib bei nur einer Tätigkeit gefordert wurde. An der Durchsetzung dieser Vorstellungen und Praktiken arbeiteten nicht nur Berufsberatungen und Statistiker, sondern etwa auch Arbeitsämter. Während in öffentlichen Arbeitsämtern der Berufsschutz galt (die Vermittlung nur in Stellen, die dem erlernten Beruf entsprachen), funktionierten die Arbeitsvermittlungen der Musikergewerkschaften über den Ausschluss bzw. die Benachteiligung von jenen, die nicht als Berufsmusiker/in galten, die also ihr Musizieren nicht kontinuierlich betrieben hatten. Während der Musik treu zu bleiben meist irgendeine Form der musikalischen Ausbildung voraussetzte, fanden die spezifischen Ausprägungen dieser Ausbildung nur wenig Raum in den Erzählungen.103 Erzählten andere (wie die vorhergehenden Orientierungen zeigen) detailliert von ihrer Suche nach der richtigen Ausbildung und deren spezifischen Vor- und Nachteilen, so wurde hier nur ihr bloßes Absolvieren beschrieben: […] erhielt im Alter von 8 Jahren beim dortigen Regens chori Oberlehrer J. Kleckmaer Unterricht im Gesang u. Allgem. Musiklehre […] Den ersten Unterricht im Flöten-Klarinettenu. Geigenspiel sowie in Theorie erhielt ich von meinem Vater M. K. der selbst ein sehr guter Musiker (ehem. Militärmusiker) war. Ich studierte Flöte beim Flötenvirtuosen Thomas Cholewa in Krakau u. bei Prof. Roman Kukula in Wien.104

101 Dieser Aspekt wird durch die Praktik Erzählung hat weniger als fünfzehn Seiten dargestellt. 102 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken kein Titel und kein Motiv der Erzählung erwähnt dargestellt. 103 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken ein bis zwei Seiten über Ausbildung geschrieben, keine Erwähnung des Wollens einer Ausbildung, keine Erwähnung von Freude bei der Ausbildung, keine Erwähnung der Fähigkeiten der Lehrperson dargestellt. 104 Kemeter, Lebensbeschreibung, S. 1.

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Wo und wie man Musizieren gelernt hatte, ob in einem Konservatorium, einer Musikschule, durch Privatunterricht oder in der Familie, war von untergeordneter Bedeutung. Die Vielfalt der Ausbildungen, die als Vorbereitung auf späteres Musizieren anerkannt waren, trug dazu bei, dass deren Unterschiede nur schwer zur Legitimierung und Delegitimierung dieser Orientierung verwendet werden konnten. Im Gegensatz zum ernsthaften Studium stellte Ausbildung keinen lebenslangen Prozess dar, sondern eine vom „richtigen“ Musizieren klar unterschiedene Phase im Lebenslauf.

Dominiertheit: Gelegenheitsmusizieren Die dominierte Orientierung im Raum des Musizierens – also die Kombination der negativen Bezugnahmen auf die beiden dominanten Referenzen der hohen Kunst und des Berufes – ist das Gelegenheitsmusizieren (Abbildung 6 unten). Gelegenheitsmusizieren bedeutete Musizieren neben und zwischen einer Reihe anderer, wichtigerer Tätigkeiten. Musik konnte der Geselligkeit, dem Unterhalt oder anderen Zwecken dienen, war aber jedenfalls keine privilegierte Tätigkeit. Wo die anderen Orientierungen Musizieren als jeweils spezifische zeitliche Abfolge von Tätigkeiten konstituierten – sei es als künstlerische Entwicklung, als Aufstieg zum Erfolg oder als Kontinuität – wurde hier ohne Plan und Ziel musiziert, „wo es sich gerade ergab“. Wurde der eigene Lebensentwurf dort an der Musik ausgerichtet, so bestimmten hier andere Unterhaltsmöglichkeiten, Familienverhältnisse oder Freizeitaktivitäten, wann und wo musiziert werden konnte. Gelegenheitsmusizieren galt als am wenigsten legitim und geriet am meisten unter Rechtfertigungsdruck. Dennoch war es keine bloß defizitäre Orientierung. Auch Gelegenheitsmusizieren hatte eigene Organisationen, eigene Befürworter/ innen und spezifische Strategien der Legitimation. Vor allem die Organisationen der Nichtberufsmusiker propagierten die Gleichwertigkeit oder Überlegenheit des ländlichen Vereinsmusizierens gegenüber dem berufsmäßigen Musizieren. Dabei beriefen sie sich auf angeblich jahrhundertealte Traditionen wie auch auf den idealistischen Charakter ihres Musizierens. Vor allem während des Austrofaschismus hatten sie die Unterstützung manch hochrangiger Politiker.105 Die Musikerverordnung von 1934, die grundsätzlich für jedes erwerbsmäßige Musizieren den Erwerb von Berechtigungsscheinen vorschrieb, beinhaltete auch Ausnahmen für Musiker in Vereinskapellen, für Mitglieder kleiner örtli105 So schrieb etwa Joseph v. Rinaldini – Bundeskulturrat und ab 1934 Leiter des Arbeitskreises Musik der Kulturabteilung der Vaterländischen Front – für das periodische Druckwerk einer der Organisationen.

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cher Musikkapellen und für Gelegenheitsmusiker in Heurigenlokalen.106 Die Dominiertheit des Gelegenheitsmusizierens zeigte sich auch aber an der Abwehrhaltung dieser Organisationen etwa im Konflikt mit den Musikergewerkschaften wie auch an dem Rechtfertigungsdruck, dem Gelegenheitsmusizierende gegenüber Behörden oder anderen Musizierenden ausgesetzt waren. Die weiter oben beschriebenen Entwicklungen amateurhaften Musizierens im 19. und 20. Jahrhundert ermöglichten eine Zunahme derer, die als Gelegenheit musizierten, allerdings oftmals auch in als illegitim angesehenen Verhältnissen. Der Unterschied in der Legitimität der Orientierungen wird exemplarisch deutlich am Vergleich einer periodischen Zeitschrift, die sich mit Kunstmusik beschäftigte und in der ganz selbstverständlich Personen und Institutionen der Kunstmusik beschrieben wurden, und einem Druckwerk wie der Alpenländischen Musikerzeitung, in der das Nichtberufs- und Nichtkunstmusikertum permanent gegen Angriffe verteidigt werden musste. In Folge beschreibe ich anhand des entsprechenden Ausschnitts der primären Fläche die wichtigsten Praktiken, die als positive Einsätze des Musizierens als Gelegenheit wirksam wurden (Abbildung 6 unten, die angezeigten Praktiken werden im Text kursiv dargestellt). Die Erzählung des Musizierens als Episode, d. h. als eine Erzählung, die den Ausnahmecharakter und die kurze Dauer des Musizierens betonte, stand im Gegensatz zur Kontinuität anderer Orientierungen des Musizierens. Die Erzählung als Episode situierte das Musizieren außerhalb alltäglicher Ausbildungsund Arbeitsverhältnisse. Auch und gerade die beschränkte Dauer des Musizierens trug zu dieser Außer-Alltäglichkeit bei: Musizieren war ein Not- oder Zusatz-Unterhalt und nicht das alltägliche Erwerbsleben, es war ein geselliges Beisammensein, das zufällig zustande kam und bald wieder endete: In der Lederei Apflauer arbeitete ein Wiener, der mehrere Instrumente spielte und immer nach Leuten suchte, die mit ihm musizierten. So fanden sich in Brunn und Umgebung mehrere Gitarren- und Mandolinenspieler zusammen, was schließlich zur Gründung eines Mandolinenvereins führte […] Damals herrschte großer Arbeitsmangel […] Viele wanderten ab und so löste sich der Verein auf.107

Die Schwierigkeiten, Instrumente und Auftrittsmöglichkeiten zu finden, zeugen von dem außergewöhnlichen Charakter des Musizierens:

106 Verordnung der Bundesregierung vom 28. Dezember 1933 über die Ausübung des Kapellmeister- und des Musikerberufes (Kapellmeister- und Musikerverordnung), BGBl. 1933/4, § 15. 107 Gierer/Annerl-Gierer, Franz Gierer, S. 19–20.

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Ebenso im Jahre 1930 gründeten wir die erste Oberdorfer Blasmusikkapelle. Ein Unterfangen, das mit unserem Idealismus allein natürlich nicht zu bewerkstelligen war. In erster Linie mußte das Geld für den Erwerb der Musikinstrumente zusammengebettelt werden. […] Wir Anfänger waren verpflichtet, daheim fleißig zu üben, was nicht immer leicht war, da alle Blasinstrumente nicht nur uralt, sondern zum Großteil auch stark ‚verblasen‘ waren.108

Eine kontinuierliche musikalische Laufbahn zu gestalten, war unter diesen Umständen schwierig. Gelegenheitsmusizieren fand neben einer Vielzahl anderer Unterhaltstätigkeiten, Arbeiten und Berufe statt,109 die ausführlich beschrieben wurden.110 Subsistenzwirtschaft, ungelernte Arbeiten, gelernte Arbeiten oder Berufe zeigen ein breites Spektrum an Tätigkeiten. Angesichts der geschilderten Verhältnisse von Mangel und Armut111 wird klar, dass Gelegenheitsmusizierende oftmals andere Unterhaltsmöglichkeiten neben dem Musizieren wahrnehmen mussten, um zu überleben. Auch einzelne Behörden erkannten diesen Zusammenhang an, teilweise sogar die Motive der Gelegenheitsmusizierenden: Es gibt auf dem Lande einzelne, notleidende Gelegenheitsmusiker, die ab und zu als ‚Tanzlgeiger‘, Harmonikaspieler etc. […] um ein paar Schilling aufspielen. Bedeutet für diese Personen (z. B. Forstarbeiter) in Anbetracht ihrer Arbeitslosigkeit der gelegentliche Verdienst […] eine willkommene Zubuße zu ihrem kärglichen Unterhalt.112

Solche Kombinationen unterschiedlicher Unterhaltsmöglichkeiten entsprachen nicht unbedingt den damaligen Vorstellungen von Berufsbiografie. Häufige Wechsel von Arbeitsstellen, Tätigkeiten und Ausbildungen, gelernten und ungelernten Arbeiten waren hier keine Seltenheit. Wie Irina Vana beschreibt, musste der eigene Herkunftshaushalt bereits spezifische materielle und soziale Ressourcen bereitstellen, damit man einen Beruf ergreifen konnte.113 Ein Ort des Gelegenheitsmusizierens war der (nicht-musikalische) Verein. In Burschenvereinen oder Arbeiterjugenden stand die Zugehörigkeit zu einer Organisation wie der sozialistischen Partei oder der Kirche im Vordergrund, während Musizieren eine Nebentätigkeit war. Auch das Gasthaus war ein Ort

108 Bergmann jun., Leben, S. 55–56. 109 Dieser Aspekt wird durch die Praktik mehr als neun andere Arbeits- oder Unterhaltstätigkeiten dargestellt. 110 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken Thema Unterhalt, andere Berufsausbildung Freude, andere Berufsausbildung dargestellt. 111 Dieser Aspekt wird durch die Praktiken Mutter übt Hilfstätigkeit aus, arbeitslos, Sozialleistung sowie Mangel als Kind dargestellt. 112 Österreichisches Staatsarchiv, Durchführungsbestimmungen. 113 Vana, Gebrauchsweisen, S. 403.

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des Gelegenheitsmusizierens. In zeitgenössischen Beschreibungen funktionierte es als exemplarischer Ort, an dem sogenannte Nebenerwerbsmusiker/innen ihr Einkommen fanden. So hieß es schon Ende des 19. Jahrhunderts in der Zeitschrift der sozialistischen Musikergewerkschaft: Zur Genossenschaft der Musiker in Wien gehören nämlich nicht nur Musiker […] sondern auch Personen, die durchaus nicht im Stande sind, irgend welche Musik zu machen, außer auf einem Werkel, wie zB Wirthe, oder Leute, die eigentlich Hausmeister, Hilfsarbeiter, Taglöhner u. dgl. sind, ein wenig Trommel, Harmonika oder Guitarre spielen […] und es viel lustiger finden, ein Gewerbe im Gasthaus statt in einer Werkstätte auszuüben; oder welche, wenn sie schon die Woche über in ihrem eigentlichen Gewerbe thätig waren, es angenehm fanden, an Sonn- und Feiertagen in Gasthäusern statt Geld auszugeben, mit ihrer ‚Kunst‘ welches zu verdienen.114

Nicht nur die Konkurrenten der Gelegenheitsmusizierenden, auch sie selbst beschrieben das Spielen im Gasthaus als ein lustiges Erlebnis oder einen willkommenen Zusatzverdienst. Das Gasthaus stellte aber auch einen Ort dar, der mit geringer musikalischer Qualität assoziiert wurde. In Gasthäusern zu spielen war daher nur für jene akzeptabel und attraktiv, die sonst wenig Gelegenheit zum Musizieren hatten und geringe Ansprüche (der Atmosphäre oder der Entlohnung) an den Ort des Musizierens stellten.

Resümee: Differenzierungen von Musizieren und deren Entwicklungen Die bislang beschriebenen wichtigsten Referenzen und Orientierungen des Musizierens in der Zwischenkriegszeit sind nicht auf lebensgeschichtliche Erzählungen von Musizierenden beschränkt. Die Erzählungen stellten Praktiken der Positionierung in einem sozialen Raum des Musizierens dar. Damit können nicht nur die Texte selbst, sondern darüber hinaus auch Praktiken des Musizierens beschrieben werden. Referenzen bzw. Institutionen wie Kunst oder Beruf hatten Geltung über diese Erzählungen hinaus, und nicht nur erzählende Musizierende, sondern eine Vielzahl anderer Akteure bezog sich auf diese Institutionen und produzierte sie mit. Dass die Art der Bezugnahme auf Kunst von Bedeutung war, wurde in den Formulierungen verschiedener staatlicher Gesetze

114 N. N., Das Musikergewerbe, S. 7.

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wie der Gewerbeordnung115 oder dem Gesetz über den Bühnendienstvertrag116 festgelegt. Auch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung verwendete Kunst als zentrales Differenzierungsmerkmal für die Ansprüche von Musizierenden: […] die Tätigkeit des Klägers könnte […] nur dann als eine höhere gewertet werden, wenn sie künstlerischer Natur wäre, dies sei aber nicht der Fall […] Maßgebend sei auch der Zweck des Spielens, dieser sei aber kein künstlerischer, sondern einfach der, von ½ 9 Uhr bis 2 Uhr nachts Stimmung unter die Leute zu bringen. Hiebei sei keine Gelegenheit für künstlerische Betätigung.117

Zum „Wesen“ von Kunst und Zugehörigkeit zur Kunst nahmen auch Akteure wie Agenten/innen, Kritiker/innen und Verleger/innen Stellung und wirkten so in Konflikten um Bedeutung und Konsequenzen von Kunst mit. Beruf als zweite zentrale Institution hatte ebenfalls große Bedeutung für die Legitimität unterschiedlicher Musizierformen. Die Relevanz von Beruf – die auch in anderen Beiträgen dieses Sammelbandes herausgearbeitet wird – wurde in der Musikerverordnung ebenso gesetzlich festgelegt wie im Arbeitslosenversicherungsgesetz.118 Daneben nahmen Berufsberatungen, vor allem aber auch die Musikergewerkschaften und die Organisationen der Nichtberufsmusiker teil an den Auseinandersetzungen um Musizieren als Beruf.119 Hier wurden diese Auseinandersetzungen besonders deutlich. Während die sozialistische Musikergewerkschaft Nichtberufsmusiker und -musikerinnen als „schädliche Schmutzkonkurrenz“120 und „Schmarotzergilde“121 beschimpfte und für deren Ausschluss von erwerbsmäßigem Musizieren agitierte, betonten ihre Kontrahenten die Gleichwertigkeit nichtberuflichen Musizierens: Wir wollen weder ‚Kollegen‘ sein, noch wollen wir Berufsmusiker oder Berufskapellmeister sein! […] Wir sind harte Bauernschädeln und lassen uns unsere alten Bräuche und Sit-

115 Kaiserliches Patent vom 20. December 1859, womit eine Gewerbe-Ordnung für den ganzen Umfang des Reiches mit Ausnahme des venetianischen Verwaltungsgebietes und der Militärgränze, erlassen, und vom 1. Mai 1860 angefangen in Wirksamkeit gesetzt wird, RGBl. 1859/227, V c). 116 Bundesgesetz vom 13. Juli 1922, über den Bühnendienstvertrag (Schauspielergesetz), BGBl. 1922/441, § 1. 117 Bundesministerium für Justiz (Hg.), Sammlung, 8. Jg., S. 220 f. 118 Vana, Gebrauchsweisen, S. 134–135. 119 Für eine ausführliche Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen den Musikergewerkschaften und den Organisationen der Nichtberufsmusiker/innen siehe Schinko, Annäherungen. 120 Domansky, Volksmusik. 121 Schieder, Schmutzkonkurrenz.

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ten, wir lassen uns unter altes Herkommen nicht rauben! […] Wir sind das, was wir sein wollen und bleiben werden: Volksmusiker und sonst nichts anderes.122

Die Konsequenzen der unterschiedlichen Bezugnahmen auf Kunst und Beruf waren vielfältig. Die erwähnten Gesetze erlaubten oder verwehrten arbeitsrechtliche Vorteile (wie Kündigungsschutz oder Pensionsversicherung), die Zugehörigkeit zu einem Gewerbe oder überhaupt den Zugang zu erwerbsmäßigem Musizieren. Darüber hinaus wurde künstlerisches Musizieren im Allgemeinen besser bezahlt und fand in Räumen und für Publikum statt, die für Musizieren mit negativem Bezug auf Kunst nicht zugänglich waren. Im Hinblick auf eine über Musizieren hinausgehende institutionelle Ordnung von Arbeit und Nicht-Arbeit in der Zwischenkriegszeit liefern die beschriebenen Referenzen und Orientierungen einen wichtigen Beitrag. Kunst als wichtigste Referenz des Musizierens mag auf den ersten Blick für eine arbeitsgeschichtliche Untersuchung unpassend erscheinen. Kunst war jedoch, wie ich gezeigt habe, eng an die materielle Organisation des Musizierens gebunden. Wichtige Aspekte von Kunst wie das Vorhandensein eines Vertrages oder die Zusammenarbeit mit Agent/innen zeigen, dass sie zu einem guten Teil als Erwerb verstanden wurde. Frühere romantische und auf Vorstellungen von der Bohème zurückgreifende Praktiken123 waren durch Kunst-als-Erwerb ersetzt worden. Dieser Wandel lässt eine historische Entwicklung vermuten, in der Tätigkeiten, die zuvor nicht vorrangig als Erwerb praktiziert wurden, immer stärker diese Bedeutung annahmen. Zum anderen verweist die Referenz der Kunst auf die jeweils spezifische Organisation von unterschiedlichen Arbeitsund Nichtarbeitstätigkeiten wie dem Musizieren. Es ging – trotz entsprechender Ausrichtung der Untersuchung – beim Musizieren nicht zuallererst um den positiven oder negativen Bezug auf Arbeit oder Unterhalt, sondern um jenen auf Kunst. Die spezifische historische Entwicklung von Musik brachte eine Differenzierung mit sich, die nur auf relativ wenige andere Tätigkeiten zutraf. Damit werden die Grenzen großer arbeitsgeschichtlicher Erzählungen, die ganze Jahrhunderte tätigkeitsübergreifend beschreiben, sichtbar. Die Referenz des Berufs hingegen korrespondiert stärker mit allgemeinen Entwicklungen von Arbeit und Nicht-Arbeit zu Ende des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Beruf wurde in dieser Zeit immer mehr zu einer Anforderung an die breite Bevölkerung. Entsprechende Bedeutung hatte Beruf auch für das Musizieren. Wie oben beschrieben, war er aber durchaus nicht unumstritten, sondern Gegenstand erbitterter Konflikte – weniger darum, was und wie Beruf sei, sondern vor allem 122 Munninger, Das wahre Gesicht, S. 5. 123 Heinich, Drei Dimensionen.

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darum, welche Konsequenzen die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu den Berufsmusiker/innen haben sollte. Die Beschreibung der Referenzen und Orientierungen von Musizieren ermöglicht auch die Beschreibung wichtiger Entwicklungen des Musizierens in einer neuen Perspektive. Drei Beispiele sollen hier kurz erwähnt werden. Im Untersuchungszeitraum wie auch schon zuvor wurden formale Qualifikationen für Musizieren immer wichtiger, was etwa an der Zunahme von Arbeitermusikschulen und Orchesterschulen,124 an der staatlichen Förderung für Konservatorien und Akademien125 oder an der zentralen Bedeutung von Qualifikation in der Musikerverordnung gezeigt werden kann. Selbst als Notunterhalte angesehene Formen wie das Musizieren mittels Produktionslizenzen wurden nun mit der Forderung nach formaler Qualifikation konfrontiert. Diese Entwicklung stellte eine zunehmende Legitimierung und Durchsetzung vor allem des DerMusik-treu-Bleibens dar, wofür die Kontinuität des Musizierens und die chronologische Abfolge von Ausbildung und Auftreten wichtig waren. Andere Orientierungen – vor allem jene, die sich negativ auf Beruf bezogen – hatten es zunehmend schwerer, Legitimität zu erlangen. Eine zweite Entwicklung war die rechtliche Kodifizierung und die sozial- und arbeitsrechtliche Absicherung von Musizieren von den 1880er Jahren bis zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Abhängige Lohnarbeit war der zentrale Bezugspunkt für diese Art der Absicherung. Diese Kodifizierung und die soziale Absicherung wurden immer stärker auch als Indikatoren für „richtiges“ Musizieren verstanden. Was nicht abgesicherte Lohnarbeit war, wurde bald als defizitär angesehen. Vor allem das Gelegenheitsmusizieren geriet durch diese Entwicklung unter Druck. Die vermehrte Gründung von Nichtberufsmusikerverbänden während der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stellte eine Reaktion auf die Versuche dar, gewisse Formen von Musizieren in kontrastierenden Orientierungen zu delegitimieren. Ein wichtiger Einsatz in diesem Konflikt war der Verweis auf Brauchtum und Tradition, mit dem Regelungen wie Kollektivvertragstarife oder Sozialversicherungen für Volksmusiker abgewehrt werden sollten. Im Austrofaschismus erhielten die Bemühungen um eine Absicherung auch des Gelegenheits- und Volksmusizierens ebenso Unterstützung durch hochrangige Vertreter des Regimes wie von Seiten jener, die Gelegenheits- und Volksmusiker vor „Überregulierung“ schützen wollten. Schließlich stellte auch die Mechanisierung von Mu-

124 Mehlig/Abel-Struth, Musikschule, S. 1613. 125 So wurde etwa das Wiener Konservatorium bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom Staat subventioniert und ab 1909 als Akademie vollständig vom Staat geführt und finanziert, während zugleich das Neue Wiener Konservatorium für Musik gegründet wurde. Siehe auch Smudits, Soziologie, S. 243.

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sik durch Grammophon, Radio und Tonfilm seit den 1910er Jahren eine bedeutende Entwicklung dar. Folgt man den Beschreibungen dieser Entwicklung in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts,126 so zeigt sich dadurch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse für eine kleine Gruppe von Musizierenden und eine massive Verschlechterung für die überwiegende Mehrheit. Vor allem Musizierende, welche die Orientierung des populären Erfolgs praktizierten – wie Virtuosen und Virtuosinnen – erhielten dadurch neue Möglichkeiten, ihre Popularität gewinnbringend zu vermarkten. Auch das Der-Musik-treu-Bleiben wurde dadurch verstärkt legitimiert und normalisiert. Die Gestaltung der Produktion von mechanisierter Musik (etwa im Studiosystem) bevorzugte jene, die ihre in der Vergangenheit erworbenen musikalischen Kontakte und Netzwerke nutzen konnten und als verlässliche Größe galten. Gelegenheitsmusizieren hingegen erschien durch die Verbreitung alternativer Möglichkeiten des Musikhörens auch auf dem Land zunehmend als defizitär, war es doch auch Teil seiner Attraktivität, Musik dorthin zu bringen, wo sie sonst nicht möglich war. So zeigt selbst dieser kurze abschließende Ausblick, dass die Herausarbeitung der Referenzen und Orientierungen des Musizierens zu einer weitergehenden Neuschreibung arbeitsgeschichtlicher Entwicklungen des Musizierens beitragen kann.

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126 Kraft, Stage, S. 87 ff.

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Österreichisches Staatsarchiv, AVA, Bundesministerium für Unterricht, Musik in genere, 1935, Zl. 35.074, Ring der ausübenden Musiker Österreichs/Gewerkschaftsbund der österreichischen Arbeiter und Angestellten/Gewerkschaft der Musiker, Vorschläge für den Wiederaufbau des österreichischen Theater- und Musiklebens durch Schaffung eines gerechten Ausgleiches zwischen den Interessen der lebenden und mechanischen Musik. Österreichisches Staatsarchiv, AVA, Bundesministerium für Unterricht, Verordnungen, 1936, Zl. 27.061, Bundesministerium für Unterricht, Durchführungsbestimmungen hinsichtlich des § 15 der Musiker- und Kapellmeisterverordnung.

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Der Raum des Musizierens



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168  Georg Schinko

Anhang: Ergebnisse der Multiplen Korrespondenzanalyse Für die Multiple Korrespondenzanalyse wurden 49 (sowie zwei supplementierte) Erzählungen herangezogen, an die 354 aktive Fragen mit insgesamt 760 Antwortmodalitäten und 43 supplementierte Fragen mit insgesamt 213 Antwortmöglichkeiten gestellt wurden. Die Multiple Korrespondenzanalyse produzierte 759 untereinander hierarchisch geordnete Punktwolken. Ihre Struktur wird jedoch bereits durch die ersten 48 Punktwolken umfassend erklärt. Die erste Punktwolke bzw. erste Dimension – die den relativ höchsten Anteil an der Gesamtvarianz abbildet – erklärt etwa 33,9% der Gesamtvarianz, die zweite Dimension erklärt etwa 7,3% der Gesamtvarianz (beides korrigierte Varianzraten, siehe Tabelle 2). Die primäre Fläche der Multiplen Korrespondenzanalyse als Relation der ersten beiden Dimensionen erklärt daher etwa 41,2% der Gesamtvarianz. Tab. 2: Wichtigste Kennzahlen der ersten 48 Dimensionen der Multiplen Korrespondenzanalyse. Dimension

Eigenvalue

Varianzrate

korrigierte Varianzrate

1

0,12

0,10

0,34

2

0,06

0,05

0,07

kumulierte Varianzrate

0,41

Der Schnittpunkt von Varianzrate und korrigierter Varianzrate befindet sich bei der sechsten Dimension, die zusammen mit den ersten fünf Dimensionen 60% der Gesamtvarianz erklären würde (siehe Abbildung 7). Aus forschungspraktischen Gründen habe ich mich in dieser Untersuchung auf die Interpretation der ersten beiden Dimensionen beschränkt. Diese Entscheidung ist im „Knick“ der Kurve der korrigierten Varianzrate nach der zweiten Dimension in obiger Grafik begründet, also im Wissen, dass jede Dimension nach der zweiten bedeutend weniger an Varianz erklärt als die ersten zwei.

Der Raum des Musizierens



169

Abb. 7: Verhältnis von Varianzrate und korrigierter Varianzrate der Dimensionen der Multiplen Korrespondenzanalyse. © G. Sch.

Sigrid Wadauer

Einen Erwerb ergreifen Auseinandersetzungen über die Möglichkeiten und Bedingungen eines selbstständigen Lebensunterhaltes Im 20. Jahrhundert war die Zahl selbstständig Erwerbstätiger in Österreich tendenziell rückläufig. Dies war jedoch keine zwangsläufige und keine lineare Entwicklung, sie betraf nicht alle Branchen und Berufe in gleicher Weise. Gerade in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts war der Anteil selbstständiger Erwerbstätiger insgesamt noch keineswegs gering. Laut Volkszählung 1934 gingen immerhin ca. 21% der Berufsträger/innen einem selbstständigen Erwerb nach, und zwar fast 25% der berufstätigen Männer und 14% der berufstätigen Frauen. Besonders hohe Anteile an Selbstständigen gab es in der Landwirtschaft (29%) und in vielen Handwerken (zum Beispiel in der Schneiderei 37% und 44% in der Schuhmacherei). Im Handel lag der Anteil für beide Geschlechter bei ca. 40%, hier war die Tendenz sogar noch steigend.1 Es gab gerade in Handel und Handwerk viele Klein- und Kleinstbetriebe,2 die Konkurrenz war groß.3 Selbstständige Erwerbe konnten jedoch auf sehr unterschiedliche Weisen betrieben und wahrgenommen werden. Sich selbstständig zu machen konnte etwa ein konsequenter Schritt in einer beruflichen Laufbahn sein, oder aber eine Möglichkeit, mit Erwerbslosigkeit und -beschränkungen umzugehen.4 Sich selbstständig zu machen war auch nicht immer einfach.

1 Vgl. Stiefel, Im Interesse des Handels, S. 40 f. In der Volkszählung 1934 finden sich leicht variierende Angaben zum Gesamtanteil selbstständiger Berufsträger, er wird an verschiedene Stellen mit 18,8%, 20,1% und 21,2% angegeben. Vgl. Bundesamt für Statistik, Volkszählung Bundesstaat Textheft, S. 165, 211, 227 f., 230, 232. Vgl. auch Bruckmüller, Sozialstruktur Österreichs, S. 35–49. 2 Vgl. Bruckmüller, Sozialgeschichte, S. 487; Chaloupek, Metropole, S. 514; Eminger, Gewerbe, S. 20, 22; Eigner, (Detail)Handel, S. 46; Stiefel, Im Interesse des Handels, S. 44. 3 Vgl. Schwiedland, Handel, S. 35; Wiener Stadt und Landesarchiv (WStLA), MAbt 117, A3/4: MAbt 53, Zl. 3874, Amtsvermerk der Magistrats-Abteilung 53, 16.2.1927; Kobatsch: Krise, S. 10. 4 Vgl. dazu etwa in Hinblick auf den Straßenhandel: Williams/Gurtoo, Competing Theories. Hinweis: Dieser Text beruht auf Forschungen, die vom European Research Council im Siebenten Rahmenprogramm der Europäischen Union (FP7/2007–2013/ERC Grant Agreement Nr. 200918) und vom Austrian Science Fund (FWF, Projekt Nr. Y367–G14) gefördert wurden Die Ergebnisse sind umfassender in meinem Buch Der Arbeit nachgehen? dargestellt. https://doi.org/10.1515/9783110781335-005

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Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Auseinandersetzungen um die Möglichkeiten und Bedingungen selbstständigen Erwerbs im Österreich der 1920er und 1930er Jahre. Im Mittelpunkt stehen Gewerbe, deren Ausübung auf den ersten Blick nur wenig voraussetzte, deren Antritt gesetzlich keine formelle Qualifikation verlangte und die kaum Kapital oder Betriebsmittel, oft nicht einmal einen bestimmten Standort erforderten. Meine Untersuchung berücksichtigt dabei ein Spektrum von Erwerben, die an wechselnden Orten, auf Straßen oder Plätzen oder von Haus zu Haus im Umherziehen ausgeübt wurden: verschiedene Formen von Handel (Markt-, Straßen-, Wander-, Hausierhandel, Handelsvertretungen und -agenturen etc.) sowie gewerblicher Tätigkeiten und Dienstleistungen (Handwerke, Reparaturen, Botengänge, Fremdenführen, Sammeln, Schuhputzen, Schaustellen, Musizieren etc.). Diese Erwerbe unterlagen verschiedenen, mehr oder minder restriktiven gesetzlichen Regelungen. Sie wurden dauerhaft oder nur gelegentlich, mit oder ohne behördliche Bewilligung oder in Übertretung der Befugnisse ausgeübt. Nicht immer waren sie voneinander klar zu unterscheiden. Dementsprechend schwierig ist es auch, das Ausmaß solcher Erwerbe generell einzuschätzen.5 Zeitgenössische Darstellungen der 1920er und 1930er Jahre evozieren deren stetiges Überhandnehmen.6 Sie galten als unlauterere, skandalös lukrative Konkurrenz stabiler Gewerbebetriebe, zugleich aber auch als wenig einträgliche Tätigkeiten, die im Verdacht standen, eher Vermeidung von Arbeit denn redlicher Erwerb und Gewerbe zu sein. Sie schienen schwer kontrollierbar zu sein und Betrug, Schleichhandel, Hehlerei, Bettel oder Vagabundage Vorschub zu leisten. Oft wurde diesen Erwerben generell jede Berechtigung abgesprochen und ihre Einschränkung, ja sogar ihre Abschaffung gefordert. In diese Delegitimierungen und Diffamierungen mischten sich zudem häufig antisemitische, nationalistische oder fremdenfeindliche Töne.7 Es gerät angesichts der Kritik leicht in Vergessenheit, dass diese Erwerbe eben trotz allem auch als nützlich, notwendig oder unumgänglich gerechtfertigt wurden, dass man sie verteidigte und es nicht wenige Menschen gab, die sie anstrebten oder ausübten. In vielerlei Hinsicht scheinen Erwerbe ohne stabilen Standort der Wirtschaft des 20. Jahrhunderts nicht richtig anzugehören – sie galten als marginal, als allzu ärmlich und als Krisensymptom, sie wurden als überflüssig und dem Untergang geweiht dargestellt, ihre Ausübung war oft unerwünscht und in vielen Fällen auch nicht erlaubt. Dementsprechend scheinen sie auch eher zwi5 Vgl. dazu auch Wadauer, Betteln und Hausieren, S. 182 f. 6 Sie wurden in anderen Zusammenhängen aber auch als traditionell und dem Untergang geweiht dargestellt. Vgl. Holek, Wiener Straßenhändler, S. 10 f. 7 Vgl. dazu ausführlicher Wadauer, Ins Un/Recht setzen.

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schen etablierte Forschungsbereiche zu fallen als wirklich zu einem Gebiet zu gehören. In der Geschichte von Gewerbe und Handel kommen sie jedenfalls meist nur am Rande vor.8 Sie entsprechen auch kaum dem ex- oder impliziten Ideal von Arbeit – verstanden als abhängige Lohnarbeit –, auf das sich die Geschichte der Arbeit lange konzentriert hat.9 Zwar weisen verschiedene historische Studien auf die Bedeutung von Wanderhandel und -gewerbe in der Frühen Neuzeit hin, doch wird gemeinhin angenommen, dass diese in Europa seit der Wende zum 20. Jahrhundert teilweise bis gänzlich verloren ging.10 Mit der Tätigkeit von Handelsvertreter/innen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert haben sich aus wirtschaftshistorischer Sicht verschiedene Texte beschäftigt,11 doch andere Erwerbe ohne stabilen Standort wurden eher als Notbehelfe von der Armutsgeschichte oder etwa der Geschichte von „Zigeuner/innen“,12 Jenischen13 oder Juden/Jüdinnen14 thematisiert. Nur selten wurde die Bedeutung solcher Gewerbe für den Konsum auch im 19. oder 20. Jahrhundert untersucht.15 Erst in den vergangenen Jahrzehnten haben Alleinunternehmer/innen und prekäre Selbstständigkeit auch in der Geschichte der Arbeit mehr Aufmerksamkeit gefunden, vor allem im Zusammenhang mit der rezenten Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und der Verbreitung sogenannter atypischer Beschäftigungen in vielen europäischen Ländern.16 Zugleich haben Globalgeschichte und Studien zur informellen Ökonomie die historisch und geografisch begrenzte Durchsetzung von Normalarbeit verdeutlicht und eine größere Vielfalt von Er-

8 Vgl. etwa Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. 9 Vgl. etwa Mikl-Horke, Arbeit, S. 29. 10 Vgl. etwa Oberpenning, Migration und Fernhandel; Fontaine, History of Pedlars; Reininghaus (Hg.), Wanderhandel in Europa; Hinrichsen/Hirschbiegel, Gewerbe; Glass, Mit Gütern unterwegs; Beck, Lemonihändler; Leskoschek, Wanderhandel; Jontes, Wanderhändler. Eine Ausnahme stellt etwa die Diplomarbeit von Toni Pescosta dar: Pescosta, Tiroler Karrner. Zur Persistenz des Wanderhandels etwa auch: Hartke, Geographische Funktionen. 11 Vgl. etwa Rossfeld, Handlungsreisende; Bartolomei/Lemercier, Travelling Salesmen; Friedman, Birth of a Salesman; French, Commercials; Strasser, The Smile. 12 Etwa Tatarinov, Kriminalisierung; über „Zigeunerberufe“ und „Zigeunerhandwerk“ vgl. etwa Mayerhofer, Dorfzigeuner, S. 128, 135; Gesellmann, Zigeuner, S. 134; Arnold, Fahrendes Volk, S. 8. 13 Pescosta, Tiroler Karrner; Ausstellungskatalog Die Fahrenden. 14 Etwa Reininghaus, Wanderhandel in Deutschland, S. 33; Keller, Behördliche Einschränkungen; Naggar, Jewish Pedlars. 15 Vgl. etwa Ahlbeck/Östmann/Stark (Hg.), Forgotten Livelihoods; Leboissetier, Johnny Onions. 16 Vgl. etwa Bologna, Zerstörung der Mittelschichten.

174  Sigrid Wadauer

werben und Lebensunterhaltspraktiken thematisiert.17 Selbstständige Erwerbstätige werden in diesen Studien unterschiedlich dargestellt und bezeichnet: als bedroht/deklassierter Mittelstand, als „proletaroide Selbstständige“ (in Anschluss etwa an Sombart18 oder Geiger19), als Lumpenproletarier20, in manchen Studien zur informellen Ökonomie21 aber auch als „plucky“ (micro-)entrepreneurs22 oder „petty capitalists“23. Trotz aller Uneinigkeit wurde dabei deutlich, dass modernisierungstheoretische Annahmen über das mehr oder minder automatische Verschwinden solcher Erwerbe ohne stabilen Standort nicht zutrafen.24 Darüber hinaus hinterfragte und berichtigte die sozialgeschichtliche Forschung in den letzten Jahren25 die Vorstellung einer linearen und irreversiblen Durchsetzung „freier“, lebenslanger Lohnarbeit auch für Europa.26 Quellen wie lebensgeschichtliche Darstellungen und Gewerbeakten weisen auf die – im Laufe eines Lebens – oft vielfältigen und wechselhaften abhängig/ selbstständigen, un/bezahlten, un/erlaubten Lebensunterhalte hin. Ein gutes Beispiel sind etwas die in Salzburger Gewerbeakten dokumentierten unterschiedlichen Erwerbe und Lebensunterhalte Josef Hads.27 Laut dieser Akten war der 1880 in Rudolfstadt bei Budweis geborene, zunächst dorthin und später nach Salzburg zuständige Josef Had ursprünglich Maurer. 1914 wurde ihm eine Erlaubnis zum „Strazzen-Sammeln“, also zum Sammeln von Hadern und Lumpen im Auftrag „der Kunstwollenfabrik M. Gschnitzer in Salzburg“ ausgestellt.

17 Vgl. van der Linden, Workers of the World, insbesondere Kapitel 2: Who are the Workers?, S. 17–37. 18 Vgl. etwa Sombart, Sozialismus, S. 7; ders.: Kapitalismus, Bd. 2, S. 351. 19 Geiger, Soziale Schichtung, S. 85. 20 Vgl. etwa Denning, Wageless Life. 21 Vgl. dazu Hart, Informal Income Opportunities; Castells/Portes, World Underneath; Smith, Overview; Portes, Informal Economy; Morales, Peddling Policy; Fernández-Kelly/Shefner (Hg.), Out of the Shadows; Henry/Sills, Informal Economic Activity. 22 DeSoto, zit. nach Bell/Loukaitou-Sideris, Sidewalk Informality, S. 223. 23 Smith, Overview, S. 189. 24 Ganz im Gegenteil nahm der Anteil solcher Erwerbe im 20. und 21. Jahrhundert in vielen Ländern oft noch zu, jedoch aus sehr unterschiedlichen Gründen, wie verschiedene Studien zeigen. Vgl. etwa Kusakabe, Policy Issues; Cross, Street Vendors; Cross/Morales (Hg.), Street Entrepreneurs; Bell/Loukaitou-Sideris, Sidewalk Informality; Graaff/Ha (Hg.), Street Vending; Bromley, Street Vending; Bhowmik, Street Vendors; Bunster/Chaney, Sellers & Servants; Mathews/Vega, Introduction. 25 Vgl. Eckert, What is Global Labour History Good For?, S. 175. 26 Vgl. Ehmer/Grebing/Gutschner, Vorwort. 27 Archiv der Stadt Salzburg (AStS), Gewerbeamt, Ih 1920, Josef Had, 5403. [Aus Datenschutzgründen werden personenbezogenen Akten einheitlich anonymisiert]; AStS, Gewerbeamt, 1a1, 1926, Josef Had, 4456; 1a1 1936, Josef Had.

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Im Jänner 1920 erhielt er auf Antrag einer Handelsagentur zum Vertrieb landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte eine Reiselegitimation zum Besuch von Kunden und zum Aufnehmen von Bestellungen in Salzburg, Oberösterreich und Tirol. Diese Tätigkeit übte er vermutlich gegen Provision aus. Handelsreisender oder Vertreter zu sein mochte wesentlich einträglicher und respektabler erscheinen als das Sammeln von Hadern. Die Berufsvertretungen stellten diesen Beruf als modern, qualifiziert und dem Fortschritt der Wirtschaft förderlich dar.28 Im Zuge der Leumundserhebung berichtete die Salzburger Sicherheitswache allerdings, dass der Witwer Josef Had, gegen den sonst nichts Nachteiliges vorliege, ein sorgloser Familienvater sei und dass die Polizei seine Kinder schon oft wegen Bettelns und Unterstandslosigkeit aufgegriffen habe.29 Ob und wie lange Josef Had tatsächlich im Auftrag der erwähnten Handelsagentur tätig war, kann auf Grundlage dieser Akten nicht rekonstruiert werden. Die Reiselegitimation wurde jedenfalls zurückgelegt oder eingezogen, sie liegt dem Akt bei. Im März 1920 erhielt Josef Had auf Antrag des Inhabers einer Einkaufsstelle für Wollabfälle einen Einkauf-Erlaubnisschein. Im November desselben Jahres stellte Josef Had einen Antrag auf Verleihung einer Hausierbewilligung. Er argumentierte, dass er auf Grund von Kriegsleiden und Rheuma seinen ursprünglichen Beruf als Maurer nicht mehr ausüben könne, ebenso wenig wie das Hadern- (Lumpen-)Sammeln. Der Verdienst wäre zu gering, im Winter sei er meist brotlos. Er verwies auf seine Unbescholtenheit, seinen guten Leumund, seine österreichische Staatsbürgerschaft und darauf, dass er seit seiner Kindheit in Salzburg ansässig gewesen sei. Diesem Antrag wurde mit „Rücksicht auf die bestehende Tendenz des Schutzes stabiler Geschäftsbetriebe und der hiedurch bedingten tunlichsten Einschränkung des Hausierhandels endlich mit Beziehung auf das für das Gebiet der Landeshauptstadt Salzburg […] bestehende Hausierverbot“ nicht stattgegeben.30 1923 erhielt Josef Had eine Bewilligung für das Gewerbe der Marktfierantie. In den Akten findet sich ein Amtsvermerk vom 23. Dezember 1926, dass Josef Had unbefugt gewerbsmäßig die Reinigung von Trottoirs und Schneeräumungen übernehme und dies durch Aushänge und Annoncen in Zeitungen bewerbe. Am darauffolgenden Tag, dem 24. Dezember 1926, meldete Josef Had das freie Gewerbe der Trottoir-Reinigung beim Stadtmagistrat an.31 Seine vier Vorstrafen aus den Jahren 1923–1926 wegen öffentlicher Schmähung, Verkauf verdächtiger Waren, vorsätzlicher und bei Raufhändel

28 Zum Beispiel: Artikel „Messen und reisende Kaufleute“ von 1921; Festversammlung der Gremialkrankenkasse. 29 AStS, Gewerbeamt, Ih 1920, Josef Had, 5403: Sicherheitswache, 21.1.1920. 30 AStS, Gewerbeamt, Ih 1920, Josef Had, 5403. 31 AStS, Gewerbeamt, Ia1 1926, Josef Had, 4456.

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vorkommender körperlicher Beschädigung sowie öffentlicher Beschimpfung und Misshandlung stellten dabei keinen Ausschlussgrund dar. 1936 schließlich bemühte sich Josef Had um eine Bewilligung zum Blumenhandel im Umherziehen im Stadtgebiet Salzburg.32 Der 56jährige argumentierte, dass er die Marktfierantie aus materiellen Gründen seit längerem nicht ausüben könne und nicht auf seine Frau angewiesen sein wolle. Der Ausgang dieses Verfahrens blieb offen. Laut einem Bescheid aus dem Oktober 1936 hatte Josef Had die notwendigen Dokumente und Stempelgebühren nicht beigebracht. Was alles er sonst noch unternommen hat, um sich – mehr oder minder selbstständig, erfolgreich und erlaubterweise – einen Lebensunterhalt zu verschaffen, oder was er von anderen erhielt, lässt sich nicht feststellen. Neben der Vielfalt von Lebensunterhalten zeigt dieses Beispiel auch, dass es in manchen Fällen einfach war, eine behördliche Bewilligung zu erlangen, in anderen jedoch nicht. Ein freies Gewerbe anzumelden war unkompliziert, man musste jedoch die Verwaltungsabgabe und die Beitrittsgebühr für die zuständige Genossenschaft aufbringen. Die Bearbeitung eines Antrags auf eine Hausieroder Schuhputzbewilligung33 konnte hingegen beachtlichen Verwaltungsauf-

32 AStS, Gewerbeamt, Ia1 1936, Josef Had. 33 Der 1898 geborene Franz Schmitz etwa suchte im September 1927 beim Gewerbeamt der Stadt Salzburg zunächst um die Erteilung einer Bewilligung zum Hausieren mit Schuhcreme an. Er sei infolge seiner Invalidität nicht mehr in der Lage, seinen Beruf als Müller auszuüben. Zwar wird vom Amtsarzt eine 70–80-prozentige Erwerbsminderung infolge einer Kriegsverletzung bestätigt, sein Antrag wird jedoch in erster und dann auch in zweiter Instanz abgelehnt, da er das erforderliche Mindestalter von 30 Jahren noch nicht erreicht habe. Im Dezember 1927 stellt nun zunächst eine Wiener Schuhcremefabrik, dann Schmitz selbst einen Antrag auf Erteilung einer Konzession zum Schuhputzen. Im Zuge der Erhebungen der Gewerbebehörden bescheinigt seine Zuständigkeitsgemeinde Frankenburg in Oberösterreich einen guten Leumund, Vertrauenswürdigkeit und keine Vorstrafen. Die Polizei Salzburg jedoch berichtet, dass Schmitz schlecht beleumundet sei. Er sei als Müller und später als Brotträger angestellt und wegen Veruntreuung entlassen worden. Er sei „ein arbeitsscheuer Mensch, der in seinem Beruf leicht Arbeit finden könnte.“ Er sei außerdem nicht berücksichtigungswürdig: Auf Grund seiner vier Vorstrafen und seiner Persönlichkeit sei von einer selbstständigen Gewerbeausübung Missbrauch zu erwarten. Wahrscheinlich werde Schmitz das Gewerbe als Deckmantel für eine Straßenbettelei benutzen. Die Bundesbahndirektion hingegen war mit der Etablierung seines Erwerbs einverstanden, verlangte jedoch einen Nachweis der Kriegsbeschädigung und der Gewerbeberechtigung sowie 20 Schilling jährlich für die Benutzung des Bahngrundes. Der Antrag wurde im Februar 1928 dennoch abgelehnt. In einem Rekursschreiben vom März 1928 betont Schmitz gegenüber den Behörden, dass er seine Fehltritte „mit aufrichtigem Herzen“ bereue. Er brauche zu seiner Rente noch ein Nebeneinkommen und würde sein Gewerbe „musterhaft und ordnungsgemäß ausüben“ und sein schwer erobertes Geschäft nicht durch Arbeitsscheu vernachlässigen. Die Berufung war Gegenstand einer Gemeindeausschusssitzung, in der auch über den Lokalbedarf an Schuhputzern beraten wurde. Da einer von zwei Inhabern einer

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wand mit sich bringen. Es gab zahlreiche gesetzliche Hürden und Beschränkungen. Doch Behörden waren in diesem konkreten historischen Kontext nur schwer zu umgehen. Selbst wenn es gelang, einen Erwerb unbefugt auszuüben, musste man damit rechnen, erwischt zu werden – vor allem in einer Stadt überschaubarer Größe. Dies konnte Strafen oder die Beschlagnahmung von Waren nach sich ziehen und eine spätere Gewerbeanmeldung erschweren. Es ist also irreführend, Erwerbe ohne stabilen Standort per se als unreguliert zu betrachten oder gar generell einem „informellen Sektor“ zuzuordnen. Dies wäre zudem anachronistisch, denn dieser inzwischen oft kritisierte Begriff ist erst in den 1970er Jahren als Kontrast zu formalisierter Lohnarbeit und Normalarbeit aufgekommen.34 Nicht immer sind die Unterschiede und Differenzierungen in den Regulierungen von Erwerben und Tätigkeiten, die sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich waren oder sich ähnlich sein konnten und die in zeitgenössischen Debatten auch oft generell (abfällig) als „Hausieren“ bezeichnet wurden, schlüssig nachvollziehbar.35 Das Sammeln von Hadern im Umherziehen unterlag anderen Bestimmungen als etwa der Verkauf von Blumen. Der Wanderhandel mit Obst und Gemüse war anders und weniger restriktiv geregelt als der mit Textilien oder Kurzwaren, ebenso jener mit Spielwaren oder Eiscreme. Der Verkauf von Zeitungen auf der Straße fiel wiederum unter ganz andere gesetzliche Regelungen, er unterlag dem Pressegesetz. Die konkreten gewerberechtlichen Regelungen, die praktischen Bedingungen und die Möglichkeiten des Erwerbs können als das historische Produkt (und als Gegenstand) fortwährender Auseinandersetzungen verstanden werden,36 Auseinandersetzungen zwischen jenen, die einen Lebensunterhalt suchten, anderen, konkurrierenden Gewerbetreibenden, verschiedenen offiziellen Berufsvertretungen, Organisationen und Körperschaften, Behörden und den Abnehmern oder Konsumenten (dem „Publikum“).37 Die zahlreichen Zeitungsberichte, Reichstags- und Parlamentsdebatten, behördlichen Erhebungen, Eingaben und Beschwerden, Protestversammlungen, Streitschriften und gelehrten Abhandlungen etc. weisen auf die – nicht nur quantitative – Bedeutung solch scheinbar marginaler Erwerbe hin. Über die Legitimität kon-

Schuhputzerkonzession sein Gewerbe nicht ausübte, erhielt Schmitz schließlich im Mai 1928 eine Konzession, allerdings lediglich probeweise für ein Jahr. AStS, Gewerbeamt, 1a3 1927, Franz Schmitz, 4063 (siehe auch Abbildung 5). 34 Vgl. Hart, Informal Income Opportunities. 35 Ein genauer Überblick über die Gesetze bietet Wadauer, Der Arbeit nachgehen?, S. 240–248. 36 Vgl. dazu allgemein Bourdieu, Das Recht. 37 Vgl. dazu ausführlicher Wadauer, Ins Un/Recht setzen; dies.: Mobility and Irregularities; dies.: Betteln und Hausieren verboten?

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kreter Gewerbe und Tätigkeiten hinaus ging es in diesen Auseinandersetzungen einerseits um das Recht und die Pflicht, sich und seine Angehörigen zu erhalten und um das Recht und die Pflicht, erhalten zu werden. Es ging andererseits implizit immer auch um die Geltungsbedingungen von Gewerbe insgesamt: Wer sollte unter welchen Voraussetzungen, wo, auf welche Weise, mit wem, unter welchen Bedingungen ein Gewerbe treiben und selbstständig – welche – Waren oder Dienstleistungen anbieten dürfen?38 Was sollte überhaupt als Gewerbe oder redlicher Erwerb anerkannt werden? Es gab unterschiedliche – positive und negative – Interessen an Erwerbstätigkeiten ohne stabilen Standort. Welches Gewicht sollte bei der Regulierung der Gewerbe den Erwerbsmöglichkeiten und der Existenz einzelner Personen, die nach einem Lebensunterhalt suchten, zugestanden werden, vor allem im Hinblick auf die Interessen der konkurrierenden stabilen Gewerbe? Welches Gewicht sollten Fragen der Wirtschaftsförderung, der Güterversorgung und des Konsums, der Sicherheit, der Hygiene, der Steuern, der Sozialausgaben, des Arbeitsrechtes, des Verkehrs, des Stadtbildes haben? In diesen Auseinandersetzungen (und zwar nicht nur in den Debatten, sondern auch in den Erwerbspraktiken) wurden verschiedene – keineswegs immer widerspruchsfreie – Agenden staatlicher Behörden adressiert und auch hervorgebracht. Die Politik der Behörden hatte sich seit dem 19. Jahrhundert immer mehr die verschiedensten Belange von Alltag und Erwerb zum Gegenstand gemacht: von der Berufswahl und der Ausbildung über die Arbeitsvermittlung bis hin zu den Beziehungen zwischen Arbeitnehmer/innen, Arbeitgeber/innen, Produzent/innen, Verkäufer/innen und Konsument/innen. Dabei wurde nicht nur – langfristig – eine neue, normalisierte berufliche Lohnarbeit erzeugt, es veränderten sich auch die selbstständigen Erwerbsmöglichkeiten. Selbstständige Erwerbe unterlagen im Untersuchungszeitraum zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen und gesetzlichen Antrittsvoraussetzungen. Selbst wenn dabei viele der neuen sozialstaatlichen Bestimmungen nur partiell oder indirekt Anwendung fanden, selbst wenn diese Erwerbsformen nicht oder nur rudimentär und verzögert in neue Versicherungssysteme einbezogen wurden und eher jenen, die gerade keine Ansprüche auf Unterstützung aus Arbeitslosen- oder Pensionsversicherung hatten,39 eine Möglichkeit zum Lebensunterhalt boten, so müssen sie doch als Teil der Entwicklung des Sozialstaates40 betrachtet werden. Die Last von Steuern und neuen Sozialabgaben für Mitarbeiter/innen, Beschränkungen von Öffnungszeiten, Auflagen und Kontrollen in Hinblick auf die Ar38 Vgl. zu diesem Konzept von Geltungsbedingungen Mejstrik, Totale Ertüchtigung, Bd. 1, S. 45, 58. 39 Vgl. dazu Sandgruber, Soziale Sicherheit. 40 Vgl. dazu Tálos/Wörister, Soziale Sicherung, S. 13; Ritter, Sozialstaat.

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beitsbedingungen, die Hygiene oder auch ganz generell auf das Allgemeinwohl wurden von Gewerbetreibenden häufig gegen die vermeintlich unbefugte, mangelhaft regulierte (oder eben als unregulierbar und illegitim betrachtete) Konkurrenz ins Treffen geführt, wenn striktere Bestimmungen, Zugangsbeschränkungen oder gar die Abschaffung bestimmter Gewerbe(-praktiken) verlangt und letztlich auch erfolgreich durchgesetzt wurden. Diese Auseinandersetzungen produzierten ein hierarchisches Spektrum an Gewerbekategorien, die einerseits ähnlich waren, sich aber andererseits im Hinblick auf ihre Regulierungen, beruflichen Repräsentationen und legalen Erwerbsmöglichkeiten doch oft deutlich unterschieden. Je mehr ein Gewerbe noch irgendeinen Bezug zu einem Standort hatte (ein Produzent, ein Lieferant, ein Verkaufsstand oder auch nur ein temporär genutzter Marktplatz), je mehr sein Nutzen für die Allgemeinheit anerkannt war, desto liberaler wurde der Zugang zu einer Bewilligung gehandhabt. So war eine Bewilligung zum selbstständig oder abhängig ausgeübten Beruf des Handelsvertreters/der Handelsvertreterin, aber auch für das freie Gewerbe der Marktfahrerei leicht zu erlangen. Verschiedene Formen des Wander- und Straßenhandels oder des Wandergewerbes konnten in Hinblick auf den lokalen Bedarf bewilligt werden, mache Tätigkeiten wurden durchaus als nützlich anerkannt (etwa das Sammeln von Knochen, Altmetall und Lumpen). Der Hausierhandel hingegen war im Zuge dieser Auseinandersetzungen immer mehr zu einem Erwerb geworden, der all das repräsentierte, was ein Gewerbe gerade nicht sein sollte. Er galt immer mehr als unkontrollierbar, überkommen und überflüssig und schien sich durch nichts anderes mehr zu rechtfertigen als durch die Sicherung einer Existenz für den/ die Hausierer/in – einer Existenz, die auf Grund zunehmend restriktiver Bestimmungen immer kläglicher geworden war. Selbst die Berufsorganisationen der Hausierer/innen betonten in ihren Publikationen, wie gering geachtet und ärmlich dieses Gewerbe wäre, das man nur notgedrungen ergriff.41 Trotz alledem bemühten sich viele – wie Josef Had – um eine Hausierbewilligung oder hausierten einfach unbefugt. Es waren auch nicht nur „bodenständige“ Gewerbetreibende, die (aus ihrer Sicht) unerwünschte Erwerbe bekämpften und sich für eine striktere Regulierung von Gewerben ohne stabilen Standort einsetzten. Auch Handelsvertreter/innen verwehrten sich gegen den Zustrom unqualifizierter Kolleg/innen.42 Sogar Hausierer/innen forderten die Behörden auf, gegen

41 Vgl. etwa den Artikel „Es geht was vor!“ von 1932. 42 Zum Beispiel: Artikel „Vom reisenden Kaufmann“ (1934), S. 3. Vgl. Härting, Mißbrauch, S. 5.

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unbefugte Konkurrent/innen vorzugehen, die angeblich das Ansehen ihres Gewerbes schädigten.43 Gewerbe(-treibende) ohne stabilen Standort waren also nicht bloß Objekt von Regulierungen und Einschränkungen. Ihre Organisationen und Berufsverbände trugen auf mehr oder minder offensive/defensive Weise zu neuen Hierarchien und Unterschieden bei den selbstständigen Erwerben bei. Diese Auseinandersetzungen wurden nicht nur verbal in Streitschriften, Eingaben, politischen Aktionen etc. geführt, sondern auch in der Gewerbeausübung selbst: nämlich durch die unterschiedlichen Weisen, ein Gewerbe – in Konsens und/ oder Konflikt mit den Bestimmungen – auszuüben und dabei von den verschiedenen offiziellen Kategorien und Befugnissen Gebrauch zu machen. Es gab ärmliche Handelsvertreter/innen, aber auch Hausierer/innen, die in unerlaubt großem Stil Hilfskräfte, Fuhrwerke oder Lastkraftwagen einsetzten.44 Formelle Selbstständigkeit bedeutete auch nicht notwendig Unabhängigkeit. Wie bei Josef Had finden sich oft Hinweise auf Geschäftsbeziehungen oder Abhängigkeiten: Manche sammelten, kauften oder verkauften im Auftrag größerer Firmen. Gerade im Zusammenhang mit Handelsagent/innen und Vertreter/innen ist häufig von Scheinselbstständigkeit zur Umgehung von Versicherungspflichten und Vermeidung von Sozialabgaben die Rede.45 Verweigerten die Behörden eine Bewilligung, konnte man, wie Josef Had, etwas Anderes versuchen. Gewerbeakten manifestieren aber ebenso, dass sich einzelne Antragsteller/innen hartnäckig um ein bestimmtes Gewerbe, das offiziell nicht erwünscht war, bemühten, sogar wenn dies augenscheinlich eine Verschlechterung in finanzieller Hinsicht oder einen Verlust an Reputation bedeutete (etwa vom Handelsvertreter zum Lumpensammler oder Hausierer). Den Antragsteller/innen kam ein solcher Erwerb jedoch offensichtlich entgegen. All diese vielfältigen, mehr oder minder erwünschten und erfolgreichen Bemühungen um einen Lebensunterhalt trugen zu den Möglichkeiten und Bedingungen des selbstständigen Erwerbs praktisch bei. Wie können sie systematisch in eine sozialhistorische Untersuchung einbezogen werden?

43 Zum Beispiel: Artikel „Das unbefugte Hausieren in Steiermark“ (1933), S. 7. 44 Vgl. etwa Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), BMHuV, 501d, Zl. 131376–12/1930 oder ÖStA, AdR, BMHuV, 501d, Zl. 22384/281–1922. 45 Etwa Härting, Mißbrauch, S. 4 ff.; Artikel „Gegen die soziale Entrechtung“ von 1928.

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Die Erhebung Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen Ansuchen um eine Gewerbebewilligung, denn Gewerbeakten erlauben es, die Gebrauchsweisen von Gewerben systematisch zu vergleichen: Wer bemühte sich in welchen Zusammenhängen auf welche Weise um eine Gewerbebewilligung? Wie wurden Anträge für eine Gewerbebewilligung gestellt, begründet, begutachtet und entschieden? Unter welchen Voraussetzungen konnte man einen selbstständigen Erwerb ergreifen und/oder legitimieren? Diese Akten erlauben es – das ist die Besonderheit dieser Quelle – den Zusammenhang der Praktiken involvierter Parteien zu rekonstruieren. An der Vergabe einer Gewerbebewilligung konnten – je nach Gewerbe und Strittigkeit des Antrags – neben Antragsteller/in und örtlicher Gewerbebehörde auch die Gemeinde, die lokale Polizei oder Gendarmerie, die Bundespolizeidirektion, Steuerbehörden, Arbeiterkammer, Wirtschaftskammer, Genossenschaften, Amtsärzte, Invalidenverband, Militärbehörden, Berufsverbände, politische Organisationen, Konkurrenten, Angehörige, Rechtsanwälte, Kunden oder Lieferanten unmittelbar und in dokumentierter Weise beteiligt sein; im Rekursfall auch die Landesregierung, Ministerien, gelegentlich sogar der Bundeskanzler oder der Bundespräsident. Die Akten enthalten unterschiedliche Dokumente: Formulare, Protokolle, Erhebungsberichte, Atteste, Strafregisterauszüge, amtliche Bescheide, oft auch Briefe der Antragsteller/innen bzw. ihrer Anwälte oder Angehörigen. (Nicht immer ist nachvollziehbar, wer im Namen des Antragstellers/der Antragstellerin schrieb.) Auf dieser Grundlage lassen sich die amtlichen Eigenschaften bzw. die kontextbezogenen Selbstdarstellungen, das Vorgehen und die Argumentationsweisen der Antragsteller/in sowie die oft konträren Meinungen und Stellungnahmen anderer involvierter Parteien vergleichen. In meiner Erhebung habe ich versucht, die Variationen und Kontraste bei den Konstellationen und Auseinandersetzungen systematisch zu erfassen.46 Die Beobachtungseinheiten – Aktenfälle (also nicht Personen) von der Antragstellung bis zur Entscheidung – sind daher regional und zeitlich gestreut. Ich habe Akten verschiedener österreichischer Archive aus den Jahren 1919–1938 verschiedene Gewerbekategorien betreffend herangezogen.47 Primär, aber nicht

46 Im Sinne eines strukturalen Samples, vgl. Bourdieu/Wacquant, Ziele, S. 125; Bourdieu, Praxis der reflexiven Anthropologie, S. 261, 264; Mejstrik, Totale Ertüchtigung, Bd. 2, S. 756–772; ders., Kunstmarkt, S. 133. 47 Die Akten aus den Jahren 1919–1938 wurden in folgenden Archiven erhoben: dem Archiv der Stadt Salzburg (107), dem Wiener Stadt- und Landesarchiv (41; aus den Magistratischen Bezirksämtern MBA 1 und 8, 2, 3, 4, 12, 17, 18, 20), dem Archiv der Wirtschaftskammer Wien (2), dem Burgenländischen Landesarchiv (7; aus den Beständen BH Eisenstadt, BH Neusiedl, BH

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ausschließlich habe ich Gewerbe ohne stabilen Standort erfasst: Hausier- und Wandergewerbe, freie Gewerbe, handwerkliche Gewerbe, Konzessionen, gebundene Gewerbe, Ansuchen um Reiselegitimationen und Bettelmusiklizenzen. Um deren konstituierende Besonderheiten beobachten zu können, musste ich auch einige Aktenfälle mit stabilem Standort einbeziehen. Unbefugte Ausübungen (nur wenige Akten enthalten diesbezügliche Beschwerden oder Anzeigen) sind im Sample repräsentiert, da ich sieben Beobachtungseinheiten ausschließlich auf Grundlage von Gerichtsakten über ein Vergehen gegen das Landstreichereigesetz konstruiert habe.48 (Der Einfachheit halber schreibe ich im Folgenden trotzdem durchgängig von Antragsteller/innen.) Darüber hinaus variieren die Beobachtungseinheiten nach Maßgabe der Eigenschaften des Antragstellers/ der Antragstellerin (Alter, Geschlecht, Religion, Wohnsitz, Nationalität, vorhergehende Erwerbstätigkeiten, Qualifikationen, Gesundheitszustand, Mitgliedschaften in Genossenschaften, familiäre Umstände, Sorgepflichten, Vorstrafen, Kategorisierungen als „Zigeuner/in“, „jenisch“ etc.), der oft strittigen und widersprüchlichen Angaben und Argumente (familiäre Verpflichtungen, Kriegsdienst, Armut, Wirtschaft, Gesetze etc.), stilistischer Merkmale (Anreden, Schrift etc.) sowie der Eigenschaften, des Verlaufs und Ausgangs des Verfahrens (Dauer, vorliegende Dokumente, involvierte Parteien und Instanzen, Rekurse etc.). In 25 Fällen war es möglich, zwei oder mehrere Akten zu einer (Verwaltungs-) Person zu finden. Dies erlaubt es nicht nur, verschiedene Versuche, einen Erwerb zu legitimieren, sowie kurz- oder längerfristige Verwaltungs-Karrieren zu rekonstruieren, sondern auch nachzuvollziehen, wie die Selbstdarstellungen, die Argumentationen, die erhobenen Informationen sowie das Gewicht einzelner Eigenschaften je nach Antrag und Verfahren variierten. Die Vielfalt der Aktenfälle, der Informationen und Argumente wurde dabei auch als Effekt der oft sehr unterschiedlichen, oft sehr aufwändigen, detaillierten und strittigen Verwaltungs- und Begutachtungsverfahren sichtbar.49

Mattersburg), dem Niederösterreichischen Landesarchiv (11; aus den Beständen BH Bruck/Leitha, BG Neulengbach), dem Oberösterreichischen Landesarchiv (7; aus den Beständen der Gerichtsakten des BG Raab und BG Ottensheim), dem Tiroler Landesarchiv (8; aus den Beständen der BH Innsbruck) und dem Österreichischen Staatsarchiv (ein Rekursakt aus den Beständen des Handelsministeriums). Der größte Teil der verwendeten Akten stammt aus dem Salzburger Stadtarchiv, da es auf Grund des dort gut erhaltenen, umfangreichen und zugleich gut erschließbaren Bestands an Gewerbeakten am besten möglich war, verschiedene Ansuchen derselben Personen zu finden. 48 Zu diesen Quellen und Delikten vgl. Wadauer, Usual Suspects. 49 Diesen Aspekt behandle ich ausführlicher in Wadauer, Herstellung von Verwaltungstatsachen.

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Das Sample umfasst 184 Beobachtungseinheiten, die durch 2.134 Modalitäten als Antworten auf 910 Fragen (Variablen) beschrieben werden. Der Datensatz wurde mit Hilfe von spezifischen Multiplen Korrespondenzanalysen, einer Technik der Geometric Data Analysis, verarbeitet.50 Dies erlaubte eine systematische Konstruktion und Visualisierung der Struktur des Samples als Raum der selbstständigen Erwerbe. In meiner Darstellung der Ergebnisse dieser Untersuchung werde ich – darin Alexander Mejstrik folgend51 und wie bei meiner Interpretation der Ergebnisse – die Struktur zunächst der ersten und wichtigsten (siehe Abbildung 1), dann der zweiten und zweitwichtigsten Dimension (siehe Abbildung 2) für sich genommen (Analyse) besprechen (Legende siehe Fußnoten). Danach werde ich die Struktur der primären Fläche, die sich mit diesen beiden Dimensionen konstruieren lässt (Synthese; siehe die Abbildungen 3–5), darstellen. Sie ist die beste zweidimensionale Annäherung an die hochdimensionale Struktur des Raumes der selbstständigen Erwerbe.52

Die erste Dimension: Der Bezug zur Gewerbeverwaltung Die erste und beste eindimensionale Annäherung an die Struktur des Raumes der selbstständigen Erwerbe (Gesamtstruktur des Samples) zeigt, auf welche unterschiedliche Weise die Verwalteten von den Gewerbebehörden Gebrauch machten, um ihren Lebensunterhalt zu legitimieren, und dabei Verwaltung (mit-)erzeugten (siehe Abbildung 1)53: Die Variation reicht vom überaus hartnäckigen Bemühen um eine nur ausnahmsweise vergebene Bewilligung (ganz rechts), über das relativ umstandslose Anmelden einer Gewerbetätigkeit, bis

50 Vgl. Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis; dies.: Multiple Correspondence Analysis. 51 Mejstrik, Totale Ertüchtigung, Bd. 2, S. 800–804; ders.: Felder und Korrespondenzanalysen, S. 178 f.; ders.: Kunstmarkt. 52 Detailliertere Grafiken und Erläuterungen finden sich in meinem Buch Wadauer, Der Arbeit nachgehen? 53 Die vorangestellten Buchstaben kennzeichnen jeweils eine Aussage bzw. Angabe des Antragstellers/der Antragstellerin (A), des Amtsarztes (AA), der Polizei bzw. Gendarmerie (P), der Wirtschaftskammer (WK), der Arbeiterkammer (AK), des Gewerbeamtes (G), der Heimatgemeinde (H), oder die Begründung der Entscheidung (E). Modalitäten mit Namenskürzeln (etwa „ist KarlHasch“) bezeichnen die Personen als Verwaltungsklienten, die in einer oder mehreren Beobachtungseinheiten (Verwaltungsverfahren) erzeugt wurden. 0 = kommt nicht vor; $ zeigt an, dass mehrere Modalitäten durch denselben Punkt dargestellt werden. Sie wurden deshalb bis auf jeweils eine Modalität deaktiviert. „…“ weist auf den genauen Wortlaut hin.

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hin zur völligen Vermeidung der Gewerbeverwaltung, dem unbefugten Erwerb, dem man einfach nachging, ohne sich um eine Erlaubnis zu bemühen (ganz links). Je restriktiver der Zugang zu einer Gewerbeberechtigung gehandhabt wurde, je schwieriger die Voraussetzungen zu erfüllen waren, je beharrlicher der/die Antragsteller/in in seinem/ihrem Bemühen war, seine Tätigkeit in Hinblick auf die Gewerbegesetze zu legitimieren, desto mehr an Gewerbeverwaltung produzierten die beteiligten Parteien. Den Extremfall eines positiven Bezugs auf die Gewerbeverwaltung, die dominante Orientierung, stellen die Versuche dar, eine Hausierbewilligung zu erlangen. Das Hausiergewerbe, der „Handel mit Waaren, im Umherziehen von Ort zu Ort und von Haus zu Haus, ohne bestimmte Verkaufsstätte“54 unterlag bereits im 19. Jahrhundert zahlreichen Einschränkungen in Hinblick auf die Waren, die Verwendung von Transportmitteln und Hilfskräften und auf die Orte des Gewerbes. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Vergabe von Bewilligungen weiter eingeschränkt. Damit ein Antrag nach dem Hausiergesetz von 1922 positiv behandelt werden konnte, musste der/die Antragsteller/in österreichische/r Staatsbürger/in, über 30 Jahre alt, unbescholten, erwiesenermaßen zu einem anderen Berufe dauernd ungeeignet sein und sich in einer wirtschaftlichen Lage befinden, die eine ausnahmsweise Erteilung einer Bewilligung rechtfertigte. Kriegsinvalide und Kriegswitwen sollten bevorzugt werden.55 Ab 1934 wurden schließlich gar keine neuen Bewilligungen mehr ausgestellt, und selbst die jährlich notwendigen Erneuerungen alter Bewilligungen sollte nur „aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen“ erfolgen.56 All das zusammen machte das Hausieren, wenn es entsprechend der offiziellen Bestimmungen ausgeübt 54 Kaiserliches Patent vom 4. September 1852, giltig für das gesammte Kaiserreich, mit Ausschluß der Militärgränze, wodurch ein neues Gesetz über den Hausirhandel erlassen wird, RGBl. 1852/252, § 1. 55 Bundesgesetz vom 30. März 1922, betreffend die Ergänzung und Abänderung einiger Bestimmungen des Hausierpatentes und der Vorschriften über andere Wandergewerbe, BGBl. 1922/204, § 1 (2). Anspruchsberechtigt war „(1) Wer für den deutschösterreichischen Staat, die vormalige österreichisch-ungarische Monarchie oder deren Verbündete militärische Dienste nicht berufsmäßig geleistet hat oder ohne solche Dienstleistungen unverschuldet in militärische Handlungen verwickelt worden ist und hierdurch in seiner Gesundheit geschädigt wurde, wenn er zur Zeit des schädigenden Ereignisses deutschösterreichischer Staatsbürger oder in einer Gemeinde des deutschösterreichischen Staates heimatberechtigt war. (2) Wenn das schädigende Ereignis den Tod einer im Absatz 1 bezeichneten Person verursachte, haben deren Hinterbliebene gleichfalls Anspruch auf Vergütung aus Staatsmitteln.“ Gesetz vom 25. April 1919 über die staatliche Entschädigung der Kriegsinvaliden, -Witwen und -Waisen (Invalidenentschädigungsgesetz), StGBl. 1919/245, § 1. 56 Bundesgesetz vom 19. Oktober 1934 über die Abänderung der hausierrechtlichen Vorschriften, BGBl. 1934/324.

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wurde, zu einem restriktiv regulierten und wenig einträglichen Erwerb. War noch dazu eingeschränkte Erwerbsfähigkeit gegeben, so verwiesen die Behörden auf andere – zumindest prinzipiell gegebene – Möglichkeiten, in denen keine schädliche Konkurrenz zu stabilen Gewerben gesehen wurde. War die Erwerbsfähigkeit hingegen zu gering, so lag der Verdacht nahe, dass die Hausierbewilligung nur Lizenz zum Betteln, jedoch nicht zum Arbeiten sein würde. Die Verwaltung bzw. die behördliche Bewilligung verbürgte also vor allem die Redlichkeit des Erwerbs und definierte die Tätigkeit als Gewerbe, als wirtschaftliche Tätigkeit – auch wenn damit nicht jeder Zweifel ausgeräumt war, ob es sich beim Hausieren überhaupt noch um ein Gewerbe handelte. Die Behörden sollten solche Bewilligungen eigentlich nicht oder nur in seltenen Ausnahmefällen erteilen, konnten sie jedoch nicht umstandslos verweigern. Das Hausiergesetz sah ein langwieriges und aufwändiges Begutachtungsverfahren vor. Ein Amtsarzt musste den Grad der Erwerbsminderung feststellen. Die Gemeinde musste die schwierigen wirtschaftlichen Umstände bestätigen. Die Polizei oder Gendarmerie musste die Unbescholtenheit und Zuverlässigkeit bezeugen. Auch die Arbeiterkammer und die Wirtschaftskammer begutachteten die Anträge. Die Genossenschaft wurde befragt. Es gab Verfahrensvorschriften und Richtlinien.57 Die konkreten Stellungnahmen beruhten auf dem Ermessen der beteiligten Parteien58 und auf der Haltung der Behörden und Körperschaften. Die Wirtschaftskammer etwa sprach sich mit Verweis auf die Interessen des stabilen Gewerbes meist ablehnend aus, die Arbeiterkammer hingegen befürwortete die Anträge fast durchwegs. Im Fall einer Ablehnung hatten Antragsteller/innen die Möglichkeit, bei der Landesregierung oder dem Ministerium Rekurs einzulegen. Manche brachten Gnadengesuche beim Bundeskanzler oder beim Bundespräsidenten ein. Je länger diese Verfahren dauerten, desto mehr Dokumente, Argumente und (auch kontroverse) Informationen wurden hervorgebracht. Je hartnäckiger sich Antragsteller/innen bemühten, eine Bewilligung zu erlangen, umso mehr exponierten sie sich. Sie erklärten ihr Insistieren so, wie sie es den Bestimmungen entsprechend erklären sollten, nämlich mit dem Verweis darauf, dass ihnen keine anderen Möglichkeiten offen stünden. Darüber hinaus manifestierte solche Hartnäckigkeit aber auch, dass sich das Verhältnis zwischen Staat und Bürger/in durch den Weltkrieg verändert hatte. Vor allem ehemalige Soldaten und Kriegsinvalide59 bestanden auf ihren Ansprüchen gegenüber ei-

57 Vgl. Deutsch, Anleitung. 58 Vgl. dazu allgemein auch Lipsky, Street-Level Bureaucracy, S. 61; vgl. Dubois, Bureaucrat, S. 150. 59 Vgl. dazu etwa Pawlowsky/Wendelin, Lästige Kostgänger, S. 223, 242; dies.: Die Wunden des Staates.

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nem Staat, dem sie gedient und ihre Gesundheit geopfert hatten. Diese Antragsteller hatten zahlreiche Erfahrungen im Umgang mit Behörden gemacht: beim Wehrdienst, durch Hospitalisierung, bei amtlichen Begutachtungen und Kategorisierungen ihrer Invalidität, beim Bemühen um soziale Unterstützungen und beim Organisieren von Invalidenverbänden. Sie brachten, teils auch mit Hilfe anderer, ihre Anträge ein, indem sie sich entsprechend der offiziellen Erfordernisse präsentierten und selbst kategorisierten: als Kriegsinvalide, als „Krüppel“, als berufs- bzw. erwerbsunfähig und mittellos, aber willens, sich selbst zu erhalten und der Allgemeinheit nicht zur Last zu fallen. Sie legten die erforderlichen amtlichen Atteste und Dokumente vor und wiesen ihre Anspruchsberechtigungen nach. Sie beharrten trotz Ablehnungen in langwierigen Verfahren mit Nachdruck auf ihren Ansprüchen (siehe Abbildung 1).60 Näher dem Baryzentrum positionierte Modalitäten bezogen sich weniger abstrakt und formell auf Erwerbsunfähigkeit auf Grund von Kriegsinvalidität. Sie verdichteten und paraphrasierten darüber hinaus verschiedene Argumente von Krankheit, Unglück, Not und Armut, von familiären Sorgen und Sorgepflichten, bezogen sich also auf Umstände, die eher in die Zuständigkeit der Gemeinden und der traditionellen Armenfürsorge fielen und weniger die zentralstaatliche Verantwortung und deren neue Verpflichtungen und Formalisierungen betrafen.61 Nicht jeder Erwerb erforderte eine solch aufwändige Rechtfertigung vor der und Begutachtung durch die Gewerbeverwaltung. Der Antritt eines freien Gewerbes, die Bewilligung zur selbstständigen Ausübung eines Handwerkbetriebs oder selbst für weniger umstrittene Wandergewerbe oder andere Kategorien des Wander- und Straßenhandels, gingen in der Regel mit vergleichsweise geringem Verwaltungsaufwand einher. Dies manifestierte ein anderes Verhältnis

60 Die Modalitäten: Rekurs (Verfahren beinhaltet einen Rekurs), A0Mög (Antragsteller/in: habe keine andere Möglichkeit; dies ist die einzige Möglichkeit; kann nicht anders; kann mich sonst nicht erhalten), Landesregierung (Landesregierung ist involviert), AA (Amtsarzt ist involviert), AKriegsInv (Antragsteller/in verweist auf Kriegsinvalidität), AKrüppel (Antragsteller/in: bin ein Krüppel), ANichtEFäh (Antragsteller/in: bin nicht erwerbsfähig), AÄrztA (Antragsteller/in verweist auf ärztliches Attest), AMittel (Antragsteller/in: bin mittellos), ANieLast (Antragsteller/in: habe noch nie Unterstützung der Gemeinde etc. bezogen), ANichtLast (Antragsteller/in: will nicht der Gemeinde, der Armenversorgung, dem Staat, der Allgemeinheit, der öffentlichen Mildtätigkeit etc. zur Last fallen; will nicht unterstützungsbedürftig werden), AKriegsDie (Antragsteller/in verweist auf Kriegsdienst). 61 Siehe Abbildung 1, die Modalitäten: AKrank (Antragsteller/in: bin krank), AFamNähr (Antragsteller/in: will Familie ernähren), AKind0Verd (Antragsteller/in: Kind/er hat/haben keinen oder nicht genug Verdienst), AExistenz (Antragsteller/in: sichere meine „Existenz“).

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Abb. 1: Der Bezug zur Gewerbeverwaltung (primäre Dimension des Raums der selbstständigen Erwerbe: Ctr-Hilfsgrafik der Modalitäten, durchschnittlicher Ctr-Wert = 0,06). © S. W.

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zwischen Gewerbetreibenden und Behörden: Die Vermeidung der Gewerbeverwaltung lässt sich als Spektrum auf den ersten Blick disparater oder unzusammenhängender Praktiken beschreiben (siehe Abbildung 1, linke Seite). Der Betrieb eines freien Gewerbes erforderte, selbst wenn es ohne stabilen Standort ausgeübt wurde, wie das beim Marktfahren der Fall war, nicht die Verleihung einer Bewilligung. Er wurde lediglich angemeldet, also den Behörden zur Kenntnis gebracht (konnte allerdings ex post untersagt werden).62 Dafür waren nur wenige Informationen und Dokumente notwendig, im Normalfall auch keine Begründungen – zumindest vor den gesetzlichen Maßnahmen des Austrofaschismus, die einen Gewerbeantritt davon abhängig machten, dass er die Wettbewerbsverhältnisse am Standort nicht in „wirtschaftlich ungesunder Weise“ beeinflussen würde63 (siehe Abbildung 1).64 Die Gewerbetreibenden mussten Mitglieder der jeweiligen Genossenschaft sein. Bei handwerklichen Berufen war der formelle Nachweis einer entsprechenden Lehre und der Erwerbstätigkeit als Geselle erforderlich.65 Die eher jüngeren und ledigen Gewerbetreibenden hatten weder besondere Ansprüche auf Sonderbewilligungen, noch waren sie prinzipiell auf die Behörde angewiesen. Ihre Erwerbsfähigkeit stand nicht zur Debatte. Diese Anmeldungen und Anträge wurden meist umstandslos positiv erledigt. Sie manifestierten ein geringes Ausmaß staatliche Gewerbeverwaltung, wenn auch noch keine deutliche Vermeidung der Behörden. (Sie finden sich in Abbildung 1 auf der negativen Seite des Spektrums, jedoch nahe dem Baryzentrum.) Je deutlicher die Legitimierung des Erwerbs durch die Gewerbebehörde vermieden wurde, desto mehr stand der Charakter der Tätigkeit in Zweifel (siehe Abbildung 1, linke Seite extremere Positionen). Es handelt sich hier um Verfah62 Vgl. Pöschl, Beständiges. 63 Bundesgesetz vom 19. Oktober 1934 über außerordentliche gewerberechtliche Maßnahmen an Stelle der Gewerbesperre, BGBl. 1934/323, § 3; Verordnung des Bundesministers für Handel und Verkehr vom 27. März 1933 über die Sperre des Antrittes von Gewerben, BGBl. 1933/84; Verordnung des Bundesministers für Handel und Verkehr vom 25. April 1933 über die Sperre des Antrittes von Gewerben, BGBl. 1933/148; Verordnung des Bundesministers für Handel und Verkehr vom 28. Juni 1933 über Ansuchen um Ausnahmen von der Gewerbesperre, BGBl. 1933/ 283; Verordnung des Bundesministers für Handel und Verkehr vom 9. Oktober 1933 über die Sperre des Antrittes von Gewerben, BGBl. 1933/467; Bundesgesetz, betreffend die Verlängerung der Geltungsdauer des gewerberechtlichen Untersagungsgesetzes, BGBl. 1935/545; Bundesgesetz über außerordentliche gewerberechtliche Maßnahmen, BGBl. 1937/30. Vgl. auch Eminger, Zwischen Überlebenskunst und Großunternehmen, S. 300. Zur Wirtschaftspolitik vgl. Senft, Im Vorfeld. 64 Die Modalitäten: 0Rekurs (Akt enthält keinen Rekurs), 0Ldg (Landesregierung kommt nicht vor), 0Brief (Akt enthält keinen Brief). 65 Siehe Abbildung 1: etwa GEMitGl (Antragsteller/in ist Genossenschaftsmitglied), 0Handel (betrifft keine Art des Handels), freies Gew (Anmeldung eines freien Gewerbes).

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ren, die nicht durch den/die Antragsteller/in, sondern durch die Behörden initiiert wurden, etwa in Form einer polizeilichen Anzeige wegen Vagabundage oder Bettel.66 Diese Beschuldigten verdienten ein wenig (teils Geld, teils Unterkunft und Essen), indem sie ohne offizielle Bewilligung etwa Körbe flochten, als umherziehende Gärtner oder Spengler arbeiteten oder Dinge zum Verkauf sammelten. Einige gaben der Gendarmerie auch an, gebettelt zu haben. Die Gerichte werteten diese Tätigkeiten manchmal als unbefugten, aber immer noch redlichen Erwerb. Dann konnte es zu einem Freispruch kommen, allerdings ebenso zu einer Anzeige wegen unbefugter Gewerbeausübung. Manchmal wurden diese Tätigkeiten jedoch als Mangel redlicher Erwerbsabsicht gewertet.67 Bei keinem dieser Aktenfälle ist ersichtlich, ob sich die Beschuldigten je um eine Gewerbebewilligung bemüht hatten.68 Deren Eigenschaften und Argumente, die im Lauf dieser Verfahren dokumentiert wurden, deuten eher darauf hin, dass sie ohnehin kaum Aussicht auf eine Bewilligung durch die Gewerbebehörde gehabt hätten. Die Beschuldigten verfügten über keine ordentlichen Wohnadressen69, es mangelte ihnen an Schulbildung und jeglichen Mitteln, manche waren zudem ausländische Staatsbürger/innen oder staatenlos. Kurz, ihnen fehlten alle Voraussetzungen und vermutlich auch die Möglichkeiten für die Legitimierung irgendeines Erwerbs bei den Gewerbebehörden.70 Um einen Lebensunterhalt zu suchen, war es für sie naheliegender, Behörden eher zu vermeiden als sie zu nutzen. Sie rechtfertigten ihren Erwerb nicht in Hinblick auf die Gewerbegesetzgebung, nicht durch die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft oder eine Ausbildung, sondern einfach dadurch, dass sie diesem „immer schon“71 nachgegangen seien.

66 Siehe Abbildung 1: 0Gewerbeamt (Gewerbeamt ist nicht involviert), PVG1 (Polizei/Gendarmerie beschuldigt den/die Antragsteller/in der Landstreicherei), Gerichtsakt (Beobachtungseinheit beruht auf einem Gerichtsakt). 67 Siehe Abbildung 1: PVG1 (Polizei/Gendarmerie beschuldigt den/die Antragsteller/in der Landstreicherei), kAnzeige (Es wird keine Anzeige wegen unbefugter Gewerbeausübung erstattet). 68 Die Beteiligung der Gewerbebehörde ist nicht dokumentiert, siehe Abbildung 1: 0Gewerbeamt. 69 Emil Hellers Kommentar zur Gewerbeordnung, S. 291. Siehe Abbildung 1: P0Wohnsitz (Polizei/Gendarmerie: Antragsteller/in hat keinen ständigen Aufenthalt). 70 Siehe Abbildung 1: kAnzeige (Es wird keine Anzeige wegen unbefugter Gewerbeausübung erstattet), PVG1 (Polizei/Gendarmerie beschuldigt den/die Antragsteller/in der Landstreicherei), Staatenlos (Antragsteller/in ist staatenlos). 71 Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), BG Raab, Sch. 205, U76/1938.

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Die zweite Dimension: Soziale Ansprüche Die meisten Gewerbe konnte man prinzipiell auch dann anmelden, wenn man nicht über die österreichische Staatsbürgerschaft oder ein Heimatrecht am Wohnort verfügte.72 Zugehörigkeiten wurden jedoch wichtig, wenn ein Lebensunterhalt einer besonderen Rechtfertigung gegenüber den Behörden bedurfte. Sie bestimmten die Haltung der Gemeinde gegenüber den Antragsteller/innen bzw. deren Erwerbsabsichten. Die zweitbeste eindimensionale Annäherung an die Struktur des Raumes der selbstständigen Erwerbe lässt sich als Variation und Kontrast in Hinblick auf die Rücksichtswürdigkeit des Antragstellers/der Antragstellerin (siehe Abbildung 2) beschreiben: von der Anerkennung der sozialen Ansprüche und Verbindlichkeiten durch die Heimatgemeinde (links) bis zur Infragestellung und Vermeidung politischer Zugehörigkeit und Rücksichtswürdigkeit, zur offiziellen Fremdheit (rechts). Antragsteller/innen ausdrücklich zu unterstützen war für eine Heimatgemeinde vor allem dann von Interesse, wenn Belastungen durch Sozialausgaben vermieden werden konnten.73 Ansprüche auf Unterstützung im Fall von Erwerbsunfähigkeit waren im Heimatrecht begründet. Diese hatten größeres Gewicht, wenn es nicht bloß um den/die Antragsteller/in selbst, sondern auch um deren Angehörige ging. Für die Anerkennung der Rücksichtswürdigkeit spielten sowohl Erwerbsminderungen und/oder -möglichkeiten des Antragstellers/der Antragstellerin eine Rolle als auch seine/ihre Pflichten, für andere zu sorgen.

72 Eine Gewerbeberechtigung verlangte je nach Art des Gewerbes bestimmte Nachweise, und zwar der Eigenberechtigung, der Befähigung, des guten Leumunds oder der völligen Unbescholtenheit. Prinzipiell war laut Gewerbeordnung von 1859 für eine selbstständige Gewerbeausübung weder Staatsbürgerschaft noch Heimatrecht Voraussetzung. Auf der Grundlage von Reziprozitätsabkommen mit anderen Staaten oder besonderen Bewilligungen war es Personen mit entsprechender Staatsangehörigkeit möglich, einem selbstständigen Erwerb nachzugehen. Unselbstständige Arbeit bedurfte jedoch auf Grund des Inlandarbeiterschutzgesetzes von 1925 einer besonderen Bewilligung. Vgl. Kaiserliches Patent vom 20. December 1859, womit eine Gewerbe-Ordnung für den ganzen Umfang des Reiches, mit Ausnahme des venetianischen Verwaltungsgebietes und der Militärgränze, erlassen, und vom 1. Mai 1860 angefangen in Wirksamkeit gesetzt wird, RGBl. 1859/227, § 4. Vgl. Gesetz vom 15. März 1883, betreffend die Abänderung und Ergänzung der Gewerbeordnung, RGBl. 1883/39, § 8. Vgl. Bundesgesetz vom 19. Dezember 1925 über die zeitweilige Beschränkung der Beschäftigung ausländischer Arbeiter und Angestellter (Inlandarbeiterschutzgesetz), BGBl. 1925/457. Abgesehen vom Hausieren setzten auch verschiedene andere Wandergewerbe die Staatsbürgerschaft voraus, vgl. Emil Hellers Kommentar zur Gewerbeordnung, S. 97. 73 Vgl. Gesetz vom 3. Dezember 1863, betreffend die Regelung der Heimatverhältnisse, RGBl. 1863/105, I. Abschnitt, § 1 und III. Abschnitt, § 26; vgl. dazu auch Reiter, Ausgewiesen; Thienel, Österreichische Staatsbürgerschaft, S. 45 ff.

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Abb. 2: Die sozialen Ansprüche (sekundäre Dimension des Raums der selbstständigen Erwerbe: Ctr-Hilfsgrafik der Modalitäten; durchschnittlicher Ctr-Wert = 0,06). © S. W.

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Ebenso waren Erwerbsminderungen und/oder -möglichkeiten der Angehörigen relevant, bei (Kriegs-)Witwen, die weniger extrem positioniert sind,74 das Fehlen eines Ernährers. Es ging also stets um den gesamten Familienhaushalt, um Recht und Pflicht, zu versorgen und/oder versorgt zu werden (siehe Abbildung 2).75 Wenn die Heimatgemeinde einen Antrag unterstützte, führte dies nicht zwangsläufig zu einem positiven Bescheid. Aus Sicht der Wirtschaftskammer schien eine Rücksichtswürdigkeit kaum je gegeben. Mal war ihr die Not nicht groß genug, mal sah sie andere Erwerbsmöglichkeiten gegeben.76 Dennoch waren solche Anträge noch am ehesten erfolgreich, vor allem in Wien und trotz des hier seit 1910 geltenden Hausierverbotes und der Richtlinien zur Einschränkung der Vergabe durch das Bundesministerium für Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten.77 Dies wurde von Zeitgenoss/innen häufig kritisiert.78 Rücksichtswürdigkeit ging über das rein Finanzielle hinaus. Sie beruhte nicht nur auf rechtlicher Zuständigkeit der Gemeinde und Subsidiarität, die sozialen Ansprüche mussten auch nachweisbar sein. Dies war für jene, die ansässig und heimatberechtigt waren und über einen stabilen Wohnsitz und Haushalt verfügten, kaum ein Problem. Sie lebten, wie es seitens der Behörden vor-

74 Hedwig Hau etwa schrieb an die Behörden: „Bin laut ärztlich. Zeugnis eine durch und durch nervenkranke Person, besitze ebensolches Kind, da ich weder Eltern noch sonst wen habe bin ich auf mich selbst angewiesen. Da ich vor zehn Jahren meinen Gatten im Kriege verloren habe und mich von meinem Kinde nicht trennen kann, will ich um Entschuldigung bitten, wenn ich zu fragen getraue, warum die Juden herumhausieren dürfen auf dem Lande ist eine kranke Frau die [?] Ihren Ernährer fürs Vaterland geopfert nicht bedürftiger? Ich denke wenn man sich der Gerechtigkeit gegenübersteht schon. Und bitte daher die Herren inständig gebührend zu handeln betreffs der Verlängerung ich bin gebürtig und zuständig nach Wien“. WStLA, MBA 12, A25, Zl. 7049/1923, Hedwig Hau; Siehe auch den unten dargestellten Aktenfall der Elise Schwamm (WStLA, MBA 2, A25, Zl. 12018/1924, Elise Schwamm). 75 Die Modalitäten: Hkränk (Heimatgemeinde: Antragsteller/in ist kränklich), HKinder (Heimatgemeinde verweist auf Kinder des/der Antragstellenden), Hja! (Heimatgemeinde befürwortet den Antrag), H0Beruf (Heimatgemeinde: Antragsteller/in ist zu keinem anderen Beruf/Arbeit geeignet; zu keiner schweren Arbeit fähig; hat keine andere Möglichkeit), HEinkomm (Heimatgemeinde macht genaue Angaben über das Einkommen des/der Antragstellenden), HSchlÖk (Heimatgemeinde verweist auf die schlechte ökonomische Lage des/der Antragstellenden), HBerück (Heimatgemeinde: Antragsteller/in ist berücksichtigungswürdig); und näher dem Mittelpunkt: verwitwet (Antragsteller/in ist verwitwet), AKriegWitw (Antragsteller/in: bin Kriegerwitwe), w (Antrag wird von einer Frau gestellt). 76 Siehe Abbildung 2: WKGünstig (Wirtschaftskammer verweist auf die günstige Situation des/der Antragstellenden), WK0Not (Wirtschaftskammer: Es liegt keine Notlage vor). 77 Vgl. ÖStA, AdR, BMHuV, 1921, 501g, Gzl. 16.113, Zl. 18061/1921: Wiener Hausierer in Niederösterreich, Gzl. 16.113, Zl. 18061/1921. 78 Vgl. auch die Begründung des Hausiergesetzes in: Stenographische Protokolle der Sitzungen des Nationalrates der Republik Österreich, III. Session, 1923, Beilage 716 (1921).

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gesehen war. Andere freilich waren mittellos und ohne Ansprüche bzw. ohne Möglichkeiten, solche geltend zu machen. Je zweifelhafter die Identität, das Vorleben, die Moral und die Zugehörigkeit eines Antragstellers/einer Antragstellerin waren, umso mehr stand seine/ihre Rücksichtswürdigkeit in Frage. Antragsteller/innen, deren amtlicher Lebenslauf von häufigen Ortswechseln oder dauerhaftem Herumziehen, von prekären Wohn- und Familienverhältnissen und offiziell zweifelhafter Lebensführung geprägt war, hatten Schwierigkeiten, ihre sozialen Ansprüche, ihre Zuverlässigkeit und (Rücksichts-)Würdigkeit nachzuweisen.79 Dokumente und schriftliche Nachweise waren nötig, um Angaben zu belegen und Zweifel zu entkräften. Diese waren jedoch nicht immer einfach beizubringen, allein schon auf Grund der Umbrüche, die mit dem Ende der Monarchie einhergingen. Bei ungeklärter Staatszugehörigkeit und heimatrechtlicher Zuständigkeit (etwa bei laufenden Optionsverfahren) und/oder Vorstrafen lag es für den/die Antragsteller/in nahe, sich gar nicht oder nur so weit wie unumgänglich auf eine schwer zu beweisende Rücksichtswürdigkeit zu berufen. Die Extremposition der Vermeidung von Zugehörigkeit (siehe Abbildung 2, extrem rechts) zeigt, dass es unter bestimmten Bedingungen vernünftig wurde, aus der Not eine Tugend zu machen und seine Fremdheit hervorzustreichen. Man konnte sich auf die Traditionen wandernder Gewerbe beziehen oder auf ein Hausierprivileg, das einzelnen wirtschaftlich benachteiligten Gebieten in der Habsburgermonarchie gewährt worden80 und an bestimmte Zugehörigkeiten, etwa zur deutschsprachigen Minderheit der Gottscheer, gebunden war,

79 Siehe Abbildung 2: PGesucht (Antragsteller/in wird polizeilich gesucht), 83–100Haft (Vorstrafen 83–100 Tage Haft), GIstinvalidegibtsich (Gewerbeamt: ist Invalide; gibt sich als Invalide aus), heimatlos (Antragsteller/in ist heimatlos), Zweifel (Angaben des Antragstellers/der Antragstellerin werden bezweifelt), Kerker (Vorstrafen: Kerker), §VG (Vorstrafen: Verstoß gegen das Landstreichereigesetz), PId? (Polizei/Gendarmerie: Identität des/der Antragstellenden ist unklar), AK0Info (Arbeiterkammer: Informationen fehlen), ABelege (Antragsteller/in verweist auf Belege), WK0Bewei (Wirtschaftskammer: Beweise, Atteste fehlen). 80 1852 galt dieses Privileg für a) Waidhofen an der Thaya, b) das böhmische Erzgebirge, c) das Pustertal in Tirol, d) Valfugana und Gröden in Tirol, e) die slowakischen Drahtbinder, die Leinwandhändler aus dem Avaer Komitat, die Händler mit gemeinen Leinen und Baumwollwaren von St. Georgen, St. Nicolai und St. Peter in Ungarn und f) die Bewohner der Gottschee, Pöllant, Reifnitz in Krain. Nach dem Ende der Monarchie galten diese Privilegien noch für die Bewohner/innen von Waidhofen an der Thaya (Zwirne), von Karlstein und Umgebung (Holzuhren) sowie des Pustertals, namentlich für die Bewohner/innen von Defreggen (Teppiche). Vgl. Kaiserliches Patent vom 4. September 1852, giltig für das gesammte Kaiserreich, mit Ausschluß der Militärgränze, wodurch ein neues Gesetz über den Hausirhandel erlassen wird, RGBl. 1852/252, § 17; Emil Hellers Kommentar zur Gewerbeordnung, S. 94; Sandgruber, Anfänge der Konsumgesellschaft, S. 292.

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aber gerade nicht an das Heimatrecht am Ort der Antragstellung und eine individuelle Rücksichtswürdigkeit.81

Die primäre Fläche: Raum der selbstständigen Erwerbe (zweidimensionale Annäherung) Zusammengenommen konstituieren beide Dimensionen die beste zweidimensionale Annäherung an die Struktur des Raumes der selbstständigen Erwerbe. Die Struktur dieser Fläche ist in Abbildung 3 dargestellt. Die erste Dimension (die Gebrauchsweisen der Gewerbeverwaltung) verläuft horizontal, mit der dominanten Orientierung nach rechts. Die zweite Dimension (die sozialen Ansprüche) verläuft vertikal, mit der dominanten Orientierung nach unten. Eine Besprechung der Flächenstruktur setzt am besten bei den beiden Diagonalen der Fläche an. Mit ihnen ergeben sich jene vier Orientierungen, deren Relation die Struktur direkt erfassbar macht (siehe Abbildung 3): 1. (Hausier-)Bewilligung als offiziell geduldeter Notbehelf, die dominante Flächenorientierung, 2. Unbefugte, vielleicht schon unredliche Erwerbe, die dominierte Flächenorientierung, 3. Der Erwerb als Fremder und Geschäftsmann, die prätentiöse Flächenorientierung, 4. Die skeptische Flächenorientierung. Diese Flächenstruktur ergibt einen Raum des Beobachtbaren, in dem die Modalitäten und Beobachtungseinheiten des Samples als Beobachtungen platziert sind. Die Wolke der Modalitäten, die ebenfalls in Abbildung 3 abgebildet ist, zeigt durch ihre annähernd dreieckige Form, dass nicht alle vier Orientierungen im Sample gleichermaßen ausgeprägt zu beobachten sind. Die skeptische Orientierung (nach links unten) ist fast gar nicht belegt.82 Deshalb werde ich im Folgenden nur die drei anderen der genannten Orientierungen besprechen und anhand der jeweils am besten dargestellten Beobachtungseinheiten veranschaulichen (siehe Abbildung 5). 81 Siehe Abbildung 2: ATrad (Antragsteller/in verweist auf Tradition), Gottscheer (Antragsteller/in ist Gottscheer, wird als Gottscheer bezeichnet), AEthn (Antragsteller/in verweist auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie). 82 Die Flächenstruktur manifestiert auch die Logik des Materials, das zur Konstruktion verwendet wurde. Eine Verbindung der Vermeidung von Gewerbeverwaltung mit Rücksichtswürdigkeit wäre vermutlich in der Produktion für den eigenen Bedarf zu finden. Diese Tätigkeiten waren aber weder Gegenstand der hier herangezogenen Gewerbeakten noch der Polizei- und Gerichtsakten.

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Abb. 3: Primäre Fläche des Raums der selbstständigen Erwerbe: Strukturplan und Punktwolke aller Modalitäten. © S. W.

Flächendominanz: (Hausier-)Bewilligungen als offizieller Notbehelf Die dominante Flächenorientierung entspricht am ehesten dem, was Hausieren in den 1920er und 1930er Jahren offiziell sein sollte: keine reguläre Option vieler, sondern ein offiziell geduldeter Notbehelf für wenige (siehe Abbildung 3 und 4). Hier verbanden sich der Einsatz für eine Legitimierung durch die Gewerbeverwaltung einerseits und die weitgehend anerkannte Rücksichtswürdigkeit

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andererseits. Eine Bewilligung sollte nicht mehr als die Aufrechterhaltung einer redlichen Existenz ermöglichen, ohne dabei die Fürsorge zu belasten, eine Perspektive zu bieten und den stabilen Handel zu konkurrenzieren. Gleichzeitig sollte der Erwerb nicht zu ärmlich sein, eben ein Gewerbe, aber kein Deckmantel für Bettelei. Eine Bewilligung wurde vor allem dann gewährt, wenn es nicht nur um die bloße Existenz des Antragstellers/der Antragstellerin, sondern auch um Angehörige ging, die sie auf redliche Weise zu erhalten hatten. Umgekehrt konnte eine Bewilligung abgewiesen werden, wenn der/die Antragsteller/in von einem ihrer Angehörigen erhalten werden konnten und sollten. Diese vielen Bedingungen waren schwer zu erfüllen, und selbst jene Antragsteller/innen, für die auf den ersten Blick alles sprach und die sich umsichtig und hartnäckig um eine behördliche Bewilligung bemühten, waren nicht zwangsläufig erfolgreich. Vor allem für Kriegsinvalide schien eine Hausierbewilligung eine gute Möglichkeit, einem Erwerb nachzugehen und dabei vielleicht Erfahrungen aus früheren Tätigkeiten nutzen zu können. So etwa beantragte der Handelsagent Tobias Nesch (laut seiner Angaben 1884 in Brody, Polen geboren, nach Wien zuständig, verheiratet, mosaischen Glaubens) 1926 ein Hausierbuch „zum Aufsuchen von Bestellungen bei Privatkunden im Umherziehen“,83 also für etwas, das nicht vorgesehen und deshalb auch nicht erlaubt war (siehe Abbildung 4 und 5). Hausierer durften nur verkaufen, was sie mit sich trugen. Handelsvertreter hingegen durften nur Bestellungen aufnehmen, Muster mit sich führen und Privatkunden nur nach Aufforderung aufsuchen, aber keine Waren direkt verkaufen.84 In seinem Schreiben an das Magistratische Bezirksamt gabNesch an, er sei Kriegsinvalide und vom Invalidenamt zu 45% erwerbsunfähig erklärt worden. Sein Zustand habe sich aber verschlechtert. Jetzt – er verwies auf ein Gutachten der Universitätsklinik85 – gelte er als „vollständig erwerbsunfähig“ und sei zu einem richtigen bürgerlichen Beruf nicht mehr fähig. Wie aus den handschriftlichen Vermerken auf diesem Schreiben hervorgeht, überprüfte das Magistratische Bezirksamt sowohl seine Heimatberechtigung als auch die Staatsbürgerschaft. Dann wurde Nesch vorgeladen, um den Gegenstand seines Antrags zu klären. Bei diesem Anlass stellte Nesch richtig, er wolle als Hausierer einen Handel mit Textil-Galanteriewaren treiben.86 Er gab zu Protokoll, dass er früher Geschäftsmann gewesen, aber infolge eines Leidens (Kehlkopftuberkulose) „zugrunde gegangen“ und zur Ausübung eines anderen Berufes nicht in der Lage sei. Seine Ehefrau erhalte ihn und ein Ziehkind. Er selbst 83 84 85 86

WStLA, MBA 20, A25, Zl. 542–1928, Tobias Nesch: Tobias Nesch an das MBA 20, 1.12.1926. Artikel „Warnung!“ (1928), S. 4. WStLA, MBA 20, A25, Zl. 542–1928, Tobias Nesch: Tobias Nesch an das MBA 20, 1.12.1926. WStLA, MBA 20, A25, Zl. 542–1928, Tobias Nesch, Niederschrift vom 10.12.1926.

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Abb. 4: Raum der selbstständigen Erwerbe. Primäre Fläche. Am besten dargestellte Modalitäten (Auswahlkriterium: hoher cos²-Wert und extreme Position). © S. W.

sei mittellos. Laut Auskunft der Polizei war Nesch unbescholten. Die Bezirksvorstehung Brigittenau befürwortete sein Ansuchen mit einem Verweis auf die Familien- und Wirtschaftsverhältnisse: Tobias Nesch ist 43 Jahre alt, führt mit seiner Gattin und seiner 17jährigen Tochter einen gemeinsamen Haushalt und betätigt sich derzeit als Agent bei Osias Weiß, XX. Gaußplatz 7 mit einem durchschnittlichen Wochenverdienst von 20–25 S, während seine Gattin als Agentin der Fa. Kaufer, II. Untere Augartenstrasse 33, eine wöchentliche Entlohnung von 80 S samt Spesenbetrag hat. Der Genannte ist Kriegsbeschädigter, steht gegenwärtig in spitalärztlicher Behandlung, hat bereits durch seine Erkrankung einen beträchtlichen

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Abb. 5: Primäre Fläche des Raumes der selbstständigen Erwerbe: ausgewählte Beobachtungseinheiten.87 © S. W.

87 Abbildung 5 zeigt alle im Text erwähnten Beobachtungseinheiten, der Vollständigkeit halber auch diejenigen, die lediglich in Fußnoten erwähnt werden. Nicht alle Beobachtungseinheiten sind in der primären Fläche gleich gut dargestellt. Eine Maßzahl, um die Qualität der Darstellung zu messen, ist der cos²-Wert. Nach diesem Kriterium in den ersten beiden Dimensionen nur unzureichend dargestellte Beobachtungseinheiten werden in der Grafik in grauer Schrift dargestellt.

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Schuldenstand, so daß seine wirtschaftlichen Verhältnisse ungünstig bezeichnet werden müssen, genießt aber einen guten Leumund. Unter der Bedingung, daß die sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen zutreffen, wird die Gesuchsgewährung befürwortet.88

Tobias Nesch lebte in schwierigen, aber immer noch geordneten Verhältnissen. Auch wenn sein Gewerbe keinen Standort hatte, so hatte er in seinem Haushalt einen legitimen Bezugspunkt. Die Verweigerung der Bewilligung wäre, wie er später in seinem Rekursschreiben betonte, „der vollständige wirtschaftliche Ruin“.89 Aus Sicht der Wirtschaftskammer waren solche Verhältnisse jedoch immer noch zu günstig, um eine Ausnahme zu rechtfertigen.90 Seine Erwerbsminderung von 35–45% sei zu geringfügig, um eine dauernde Uneignung zu anderen Berufen und Arbeiten zu begründen. Laut Kriegsinvaliden-Beschäftigungsgesetz sei der Antragsteller auch nur dann zu begünstigen, betonte die Kammer, wenn er sonst keine Beschäftigung finden könne.91 Nesch verfüge jedoch als Agent über ein Einkommen, und sein Gesundheitszustand habe sich laut amtsärztlichem Zeugnis eher verbessert als verschlechtert. Zugleich zog die Kammer aber Neschs Eignung zum Hausieren in Zweifel. Dies nämlich sei „eine berufliche Beschäftigung, bei der das Sprechen nötig ist, [und] absolut schlecht und geeignet, den kaum vernarbten Prozess (Kehlkopftuberkulose) wieder aufflackern zu lassen. Daß aber bei der Ausübung des Hausierhandels das Sprechen weniger notwendig ist, als bei einem anderen Berufe, wird wohl niemand behaupten.“92 Neschs Ansuchen wurde in erster Instanz abgewiesen. Er erhob dagegen Einspruch und gab an, er sei seiner Sprache fast gänzlich beraubt und könne seinem bisherigen Beruf als Kundenaquisiteur nicht mehr nachgehen. Er beziehe nur aus formalen Gründen keine Invalidenrente. Es bleibe ihm kein anderes Mittel zur Bestreitung seiner Existenz übrig.93 Das Magistratische Bezirks-

88 WStLA, MBA 20, A25, Zl. 542–1928, Tobias Nesch: BV 20 an das MBA 20, 11.1.1926. Siehe Abbildung 4, die Modalitäten Agent, HSchlÖkL (Heimatgemeinde verweist auf die schlechte ökonomische Lage des/der Antragstellenden) Hkränk (Heimatgemeinde: Antragsteller/in ist kränklich), H0Beruf (Heimatgemeinde: Antragsteller/in ist zu keinem anderen Beruf/Arbeit geeignet; zu keiner schweren Arbeit fähig; hat keine andere Möglichkeit), HGattErwerb (Heimatgemeinde: Gatte/Gattin des/der Antragstellenden ist erwerbstätig). 89 WStLA, MBA 20, A25, Zl. 542/1928, Tobias Nesch: Tobias Nesch an das MBA 20, 12.2.1927. 90 Ähnlich verhielt es sich auch im Fall Abraham Birn; WStLA, MBA 17, A25, B66/1933, Abraham Birn. 91 Siehe Abbildung 4: WKABeru (Wirtschaftskammer: Antragsteller/in kann einen anderen Beruf ausüben), WKAmtA (Wirtschaftskammer verweist auf den Amtsarzt). 92 WStLA, MBA 20, A25, Zl. 542/1928, Tobias Nesch: Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Wien an das MBA 20, 22.1.1926. 93 WStLA, MBA 20, A25, Zl. 542/1928, Tobias Nesch: Tobias Nesch an das MBA 20, 15.2.1927.

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amt leitete den Akt mit Antrag auf Abweisung an die Landesregierung weiter. Diese gab dem Rekurs im März 1927 jedoch statt: Nach dem Befunde der Universitätsklinik leidet der Gesuchsteller an Kehlkopftuberkulose, einem Leiden das ihn für eine ganze Reihe von Berufen ungeeignet erscheinen lässt. Bei dem Umstande, dass unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen ein Berufswechsel nur selten möglich ist, für die Partei ein solcher im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand, der sie bei einem Berufswechsel auf ein sehr kleines Gebiet verweist, fast unmöglich erscheint, kann die gesetzliche Voraussetzung für die Erteilung einer Hausierbewilligung in dieser Richtung als gegeben erachtet werden. Auch seine wirtschaftliche Lage ist, wie aus den Erhebungen hervorgeht, eine derartige, dass es gerechtfertigt erscheint, den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmefall für die Erteilung einer derartigen Befugnis in Anwendung zu bringen.94

Tobias Nesch erhielt damit fast vier Monate nach seinem Erstantrag eine Hausierbewilligung für ein Jahr. Auf Grund seiner nachdrücklichen Bemühungen – er hatte einen brieflichen Antrag gestellt, am Amt vorgesprochen, Dokumente beigebracht, sich Untersuchungen unterzogen, eine Berufung formuliert und jeweils die nötigen Stempelmarken aufgebracht – bot sich ihm nun die Möglichkeit, trotz seiner Erwerbsbeschränkung ein legales Einkommen zu finden. Vielleicht konnte Nesch einen drohenden Ruin abwehren, vielleicht auch nur ein klägliches Einkommen erzielen. Zumindest entging er der Gefahr, wegen unbefugter Ausübung beanstandet zu werden und mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Er konnte sich dabei auf seine Ansprüche als Kriegsinvalide und Heimatberechtigter, auf seine Pflicht, sich und seine Angehörigen redlich zu erhalten, und auf die Unmöglichkeit selbst von anderen erhalten zu werden, berufen – auf Nöte und Zwänge, welche die Behörden anerkennen und mit denen sie umgehen mussten. In derselben Orientierung wie Tobias Nesch, wenn auch nicht so extrem, findet sich auch die Beobachtungseinheit Elise Schwamm (siehe Abbildung 4 und 5), eine 35jährige Witwe, die sich mit Verweis auf die Abwesenheit eines Ernährers um eine Hausierbewilligung bemühte: Ergebenst Gefertigte bittet die löbl. Magistrat. um Verleihung eines Hausierbuches, und begründet Ihre Bitte mit folgendem: Bin seit 16.II.1924 verwitwet vermögenslos habe für 2 minderjährige Kinder (13 u. 16 Jahre) zu sorgen, bin unbescholten geb. in Dobrzan Chech. Slow. Am 22.II.1889 zuständig nach Wien. Soll infolge meiner Krankheit womöglich Landaufenthalte nehmen und möchte das Hausiergewerbe /fertige Wäsche, Blaudrucke/ betreiben, um meinen Lebensunterhalt für mich und meine Kinder zu bestreiten. Mein Mann

94 WStLA, MBA 20, A25, Zl. 542/1928, Tobias Nesch: MAbt 53 an das MBA 20, 21.3.1927.

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war bis zu seinen Tode gewerbetreibender Marktfierant[95] und sehe mich durch meine Not veranlasst ein verwandtes Gewerbe zu betreiben. Bitte hiemit hfl. um gütige Erledigung meiner Bitte mit Rücksicht auf meine verzweifelte Lebenslage.96

Ihr Antrag wurde vom Bezirksamt befürwortet, vom Gewerbeamt jedoch zunächst mangels rücksichtswürdiger Gründe abgelehnt. Die Witwe, die laut amtsärztlichem Zeugnis infolge des Todes Ihres Gatten unter einer „Gemütskrankheit“97 litt, schien der Wirtschaftskammer nicht dauerhaft zu einem anderen Berufe unfähig. Auch Elise Schwamm nahm diese Abweisung nicht hin. In ihrem Rekursschreiben betonte Sie, dass für sie, verarmt und nervenkrank, eine Hausierbewilligung die Rettung aus einer verzweifelten Lage sei und die einzige Möglichkeit, sich und ihre zwei Kinder zu erhalten, ohne der Stadt Wien zur Last zu fallen.98 Die Stadt erkannte den durch die wirtschaftliche Lage gerechtfertigten Ausnahmefall schließlich an und wies die Gewerbebehörde zur Ausstellung einer Bewilligung an.99

Flächendominiertheit: Unbefugte, vielleicht schon unredliche Erwerbe Die einem solchen hartnäckigen Bemühen entgegengesetzte Orientierung war nicht durch Wohlstand oder ein florierendes Gewerbe gekennzeichnet. Sie manifestiert vielmehr die Vermeidung von (und den Mangel an) Gewerbeverwaltung und Rücksichtswürdigkeit in einem (siehe Abbildung 3 und 4). Hier finden sich die Auseinandersetzungen um Tätigkeiten, die so wenig einträglich waren, dass sie schon in Verdacht gerieten, nur Vorwand für einen redlichen Erwerb 95 In ihrem Rekurs verwies Elise Schwamm auch darauf, dass ihr verstobener Mann zu 70% Invalide war. Vgl. WStLA, MBA 2, A25, Zl. 12018/1924, Elise Schwamm: Elise Schamm an den Bürgermeister, 1.10.1924. 96 WStLA, MBA 2, A25, Zl. 12018/1924, Elise Schwamm: Elise Schwamm an den Magistrat Wien, 4.6.1924. 97 WStLA, MBA 2, A25, Zl. 12018/1924, Elise Schwamm: Städtisches Gesundheitsamt, 19.7.1924. 98 Siehe Abbildung 4: AKindArg (Antragsteller/in argumentiert mit Verweis auf Kinder), ANichtLast (Antragsteller/in: will nicht der Gemeinde, der Armenversorgung, dem Staat, der Allgemeinheit, der öffentlichen Mildtätigkeit etc. zur Last fallen; will nicht unterstützungsbedürftig werden). 99 Siehe Abbildung 4: HSchlÖk (Heimatgemeinde verweist auf die schlechte ökonomische Lage des/der Antragstellenden, EÖkSchl (Entscheidung: ökonomische Lage des/der Antragstellenden ist schlecht), WKAberu (Wirtschaftskammer: Antragsteller/in kann einen anderen Beruf ausüben).

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zu sein und damit eher seiner Vermeidung zu dienen. Als Gewerbe konnte eine berufliche Beschäftigung laut Gewerbeordnung gelten, wenn eine Erwerbsabsicht vorlag, wenn sie regelmäßig ausgeübt wurde und nicht nur einen gelegentlichen, vorübergehenden Nebenverdienst darstellte.100 Unsittliche oder unerlaubte Tätigkeiten konnten rechtlich101 kein Gewerbe darstellen. Gleichzeitig jedoch konnte ein Erwerb, für den es prinzipiell eine Erlaubnis geben konnte (etwa ein Wandergewerbe, Hausieren oder Bettelmusizieren), nicht unredlich sein, auch wenn er unerwünscht war und ohne Erlaubnis ausgeübt wurde.102 Selbst das prinzipiell untersagte Betteln, war nicht strafbar, wenn „unwiderstehlicher Zwang“ geltend gemacht werden konnte.103 Manche Tätigkeiten und Umstände, die der Gendarmerie Anlass zu Verhaftungen waren, konnten im beschriebenen Sinn also nicht eindeutig zugeordnet werden. Die Erwerbe (Korbflechten, Musizieren, Gärtner- und Spenglerarbeiten, Sammeln von Fellen und Hadern, Aushelfen bei Bauern) wurden ohne Bewilligung ausgeübt. Das Entgelt war äußerst gering und lag an der Grenze zur Bettelei. Aus der Sicht der Gendarmerie waren die Beschuldigten mittellos, ohne Arbeit und unsteten Aufenthalts. Dies diente jedoch eher als Beweismittel denn als Rechtfertigung. Weil sie nicht hier ansässig waren und nicht dem österreichischen Staat und einer seiner Gemeinden zugehörten, ließen sich aus dieser Notsituation keine Ansprüche an Behörden, versorgt zu werden, ableiten und weder Verpflichtung zum noch Recht auf Erwerb begründen. Ebenso gab es aus Sicht weder der Behörden noch der Beschuldigten Anlass und Anhaltspunkte, um über irgendwelche Ansprüche und Verpflichtungen zu streiten.104 Der Gerichtsfall Georg Laub (siehe Abbildung 5) zeigt diese Orientierung am extremsten. Georg Laub wurde laut Gendarmeriebericht am 7. Juli 1937 kontrolliert und wegen Landstreicherei angezeigt. Er legitimierte sich mit einem in

100 Praunegger, Das österreichische Gewerberecht, S. 6–10. 101 Wohl aber wirtschaftlich, wie Praunegger in Hinblick auf Kuppelei bemerkt. Praunegger, Das österreichische Gewerberecht, S. 11. 102 „Wer unbefugt einen Erwerb betreibt, erwirbt seinen Unterhalt an und für sich nicht unredlich.“ Landa, Die Landstreicherei, S. 277. 103 „Drückende Armut vermag allerdings aus dem Gesichtspunkt des unwiderstehlichen Zwanges (§ 2, lit g StG.) die Schuld auszuschließen, wenn Not und Elend das Leben des Täters unmittelbar und unbedingt gefährden, wenn der Täter, um den Qualen des Hungertodes zu entgehen, keinen andern Ausweg als das Verbrechen hat.“ Die Kriminalpolizei, S. 36. 104 Siehe Abbildung 4: 0Gewerbeamt (Gewerbeamt ist nicht involviert), PVG1 (Polizei/Gendarmerie beschuldigt den/die Antragsteller/in der Landstreicherei), ArbEss (Antragsteller/in arbeitet für Essen, Verpflegung), P0Sorg (Polizei/Gendarmerie: Antragsteller/in hat für niemanden zu sorgen), P0Wohnsitz (Polizei/Gendarmerie: Antragsteller/in hat keinen ständigen Aufenthalt), P0Vermög (Polizei/Gendarmerie: Antragsteller/in hat kein Vermögen).

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Deutschland ausgestellten Pass. 105 Demzufolge war er 1909 in Laubenheim bei Mainz in Deutschland geboren, staatenlos, ledig und unsteten Aufenthalts. „Angeblich“, heißt es im Bericht, habe er keine Schulbildung und sei unbescholten. Er sei Musiker und Korbflechter, ohne Vermögen (er verfügte über keinen Besitz) und habe für ein Kind im Alter von sieben Monaten zu sorgen. Vieles an seinen Lebensumständen war unklar. Es gab aber weder Bemühungen noch Anlass, irgendetwas aufzuklären. Laub befand sich auf Durchreise. Möglicherweise führte er ein dauerhaft unstetes Leben. Im Polizeibericht wurde er auch als „Zigeuner“ bezeichnet. Dies wurde jedoch nicht, wie in ähnlich gelagerten Fällen, als Beruf protokolliert. Dem Einreisevermerk im Reisepass nach war Laub erst seit fünf Tagen in Oberösterreich unterwegs, wo er sich mit unbefugtem Korbflechten bei Bauern und mit Hilfe der öffentlichen Mildtätigkeit durchgebracht hatte. So hieß es jedenfalls im Abschnitt „Darstellung der Tat“. Georg Laub verantwortete sich wie folgt: Ich ging am 2.7.1937 bei Haibach über die österreichische Grenze um den Wohnwagen der Hausiererfamilie Bernhart zu suchen, da sich bei dieser Familie meine Braut und mein Kind aufhalten. Von Haibach wandte ich mich über Engelhartszell nach Wesenufer und von dort über Peuerbach nach Andorf. In der Nähe von Andorf habe ich einem Bauern einen Korb geflickt, wofür ich 80 g und etwas zum Essen erhielt. Von Andorf wandte ich mich nach Schärding und von da in Richtung Raab, da mir jemand sagte, dass sich in Raab Zigeuner aufhalten sollen. Da ich kein Reisegeld hatte, war ich gezwungen, bei einigen Bauern Körbe zu flicken, wofür ich etwas Geld und auch etwas zu Essen erhielt, sodass ich nicht direkt betteln brauchte.106

Georg Laub suchte also gerade nicht die Auseinandersetzung mit den Behörden, um seinen Lebensunterhalt zu legitimieren, sondern ging ihnen möglichst aus dem Weg. Für die Gendarmerie erfüllte er eigentlich nicht die Kriterien für Vagabundage, das heißt für das geschäfts- und arbeitslose Herumziehen ohne Mittel und ohne Absicht, diese redlich zu erwerben.107 Auch war er nicht beim Betteln ertappt oder von Zeug/innen gesehen worden. Dennoch wurde er unter Anwendung des außerordentlichen Milderungsrechtes zu zwei Tagen Haft wegen Bettelns verurteilt. Als Beweismittel führte die Anzeige seine Mittellosigkeit und ein Stück Fleisch an, das er bei sich gehabt hatte. Vielleicht wurde sein Erwerb vom Gericht nicht als redlich anerkannt. Vielleicht wurde lediglich seine Inhaftierung im Nachhinein gerechtfertigt, denn die Verhandlung fand erst 105 Vgl. OÖLA, BG Raab, Sch. 202, U280/1937. 106 OÖLA, BG Raab, Sch. 202, U280/1937: Anzeige vom 7.7.1937. 107 Gesetz vom 24. Mai 1885, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten getroffen werden, RGBl. 1885/89. Dazu ausführlicher Wadauer, Establishing Distinctions.

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zwei Tage nach seiner Verhaftung statt. Jedenfalls war er einige Stunden nach dem Schuldspruch wieder auf freiem Fuß. Eine Anzeige wegen unbefugter Gewerbeausübung wurde nicht erstattet.108 Aus derartigen Gendarmerieberichten lässt sich schließen, dass ein Verdacht, jemand könnte redlichen Erwerb vermeiden, sich alleine schon aus dem Eindruck ergab, den die Verdächtigen auf die Gendarmen machten: aus den Umständen, unter denen sie angetroffen wurden, aus ihrem unsteten Aufenthalt, aus ihrer Mittellosigkeit. Auch der 1920 in Deutschland geborene staatenlose Josef Enz109 wurde am 8. März 1938, gemeinsam mit drei Frauen und Männern sowie drei Kindern, von der Gendarmerie Raab im Bezirk Schärding, Oberösterreich, in einem Wald zwischen zwei Ortschaften „lagernd angetroffen und kontrolliert“110 (siehe Abbildung 5). Die Verhafteten gaben laut Protokoll gleichlautend an: „Wir ziehen schon immer in Österreich umher und verdienen die Mittel zu unserem Lebensunterhalte durch Erzeugung und Verkauf von Korbflechtwaren und Papierblumen.“111 Sie legitimierten ihren Erwerb nicht durch amtliche Bewilligungen, nicht durch Not oder Zwang, sondern schlicht dadurch, dass sie ihm „immer schon“ nachgegangen seien. Dies wurde ihnen allerdings nicht zugutegehalten. Ihre Rechtfertigung wurde vielmehr in der polizeilichen Anzeige wegen Bettelns neben ihren Ausweispapieren als Beweismittel angeführt. Die Beschuldigten, so heißt es hier, erwarben ihren Lebensunterhalt „nicht durch redliche Arbeit“, sondern durch unbefugtes Korbflechten. Sie wurden wegen Bettelns zu vier Tagen strengem Arrest verurteilt. Ob bereits ähnliche Vorstrafen vorlagen, war nicht festzustellen. Auch diese Beschuldigten gaben an, unbescholten zu sein. Weder sie noch die Behörden bemühten sich, offene Fragen zu klären. Ein Einspruch hätte bloß zur Verlängerung der Haft geführt. Wenn jemand über eine Bewilligung verfügte, konnten aber auch äußerst ärmliche Lebensunterhalte noch als Erwerb anerkannt werden. Karl Reis etwa bestritt laut eigener Angaben seinen Lebensunterhalt durch Betteln, das Sammeln von Fellen und Hadern und durch Gelegenheitsarbeit bei Bauern. Anders als in den zuvor beschriebenen Gerichtsfällen nahm er die Verurteilung wegen Bettelei nicht hin. Er erhob Einspruch und wurde, da er eine Bestätigung eines

108 Siehe Abbildung 4: kAnzeige (Es wird keine Anzeige wegen unbefugter Gewerbeausübung erstattet), ArbEss (Antragsteller/in arbeitet für Essen, Verpflegung), P0Wohnsitz (Polizei/Gendarmerie: Antragsteller/in hat keinen ständigen Aufenthalt), P0Vermög (Polizei/Gendarmerie: Antragsteller/in hat kein Vermögen). 109 Vgl. OÖLA, Bezirksgericht Raab, Sch. 205, U76/1938. 110 Ebd. 111 Ebd.

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Fellhändlers vorweisen konnte, freigesprochen.112 Ohne einer Bewilligung bedurfte ein Freispruch der Anerkennung einer besonderen Zwangslage. Der unstete Gärtnergehilfe Karl Peuk (siehe Abbildung 5) hatte keine Arbeitserlaubnis, keine Gewerbebewilligung und auch keine Aussicht auf einen legalen Erwerb in Österreich. Er war zwar in Österreich geboren, hatte laut seiner Angaben immer dort gelebt und sprach nur deutsch. Nach dem Ende der Monarchie hatte er jedoch eine tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhalten. Trotzdem er in Österreich Aufenthaltsverbot hatte, zog er, wie er angab, Arbeit suchend umher und verdiente sich das Nötige durch Baumveredelung bei Bauern gegen Kost und etwas Geld und auch, indem er bettelte. Das Gericht sah – obwohl er geständig war – keine Beweise für Betteln oder unredlichen Erwerb und erkannte angesichts der herrschenden Arbeitslosigkeit und der politischen Umstände seine Zwangslage an.113

Prätention: Ein Fremder und Geschäftsmann Ganz anders stellen sich Fragen der Zugehörigkeit und Identität im Fall Karl Hasch, dessen Auseinandersetzungen mit den Behörden umfangreich und außergewöhnlich gut dokumentiert sind. Es liegen verschiedenste Akten und Registereinträge aus den Jahren 1920 bis 1937 vor. Auf der Grundlage vorhandener Dokumente habe ich 13 Beobachtungseinheiten konstruiert, die überwiegend prätentiös orientiert sind, also einen positiven Bezug auf die Legitimierung durch die Gewerbeverwaltung sowie Mangel an und Vermeidung von Rücksichtswürdigkeit in einem manifestieren (siehe Abbildung 3 bis 5). Haschs Versuche, sich in Salzburg einen Lebensunterhalt zu sichern, waren überaus vielfältig und strittig. Er stellte zehn Anträge auf Hausierbewilligungen114 sowie (eher neutral auf die Gewerbelegitimierung orientierte) Anträge für Marktfieran-

112 NÖLA, BG Neulengbach, U158/1933: Gendarmerieposten-Kommando Asperhofen an das BG Neulengbach, 11.3.1933. 113 Vgl. OÖLA, BG Raab, Sch. 186, U123/1934. 114 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1920, Karl Hasch, 5649; AStS, Gewerbeamt, Ih, 1922, Karl Hasch, 3051; AStS, Gewerbeamt, Ih, 1923, Karl Hasch, 133 und 681; AStS, Gewerbeamt, Ih, 1924, Karl Hasch, 318, 623; AStS, Gewerbeamt, Ih, 1926, Karl Hasch, 4126; AStS, Gewerbeamt, Ih, 1927, Karl Hasch, 3703, 117; AStS, Gewerbeamt, Ih, 1927, Karl Hasch, 3703, 117; AStS, Gewerbeamt, Ih, 1929, Karl Hasch, 120. AStS, Gewerbeamt, Ih, 1935, Karl Hasch. Vgl. ÖStA, AdR, BMHuV, 501r, Geschäfts- und Grundzahl 144.065–12/1935.

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tie115, Maronibraten116 und das Feilhalten von heißen Würsteln zur Nachtzeit117 (siehe Abbildung 5: KarlHasch4–6).118 Manche hatten Erfolg, manche nicht. Darüber hinaus finden sich in den Akten auch Hinweise auf andere Erwerbe und Lebensunterhalte: als Schausteller, Artist, Musiker, Südfrüchtehändler und Handelsangestellter. In jungen Jahren war er mit einem Zirkus gereist und hatte Kriegsdienst geleistet. Karl Hasch erhielt Invalidenrente und Armenunterstützung. Seine Staatszugehörigkeit war strittig. Zunächst besaß er kein Heimatrecht, wechselte häufig seine Wohnadresse und war, wie es scheint, viel unterwegs. Er bemühte sich jedoch von 1920 an in Salzburg mit großer Beharrlichkeit um Gewerbebewilligungen. Aus gutem Grund, denn in den Akten finden sich immer wieder Beschwerden und Denunziationen: Er hausiere unerlaubterweise „als sogenannter Gotscheer in den Gasthäusern“ und biete „Zuckerwaren im Wege des Glücksspiels zum Verkauf“ an. Seine Dokumente seien erschlichen, hieß es 1920.119 1923 wurde berichtet, er täusche seine Kriegsinvalidität nur vor, denn man habe gesehen, wie er flink über die Staatsbrücke gelaufen sei.120 Der Rechtschutzverband der Hausierer bemängelte, Hasch übe sein Gewerbe nicht vorschriftsgemäß aus.121 Hasch mag fremd und heimatlos gewesen sein, unbekannt war er nicht – und damit in besonderem Maß exponiert und angreifbar. Karl Haschs Bemühungen, amtliche Bewilligungen zu erlangen, scheiterten einerseits, weil er Schwierigkeiten hatte, seine Ansprüche zu belegen, die notwendigen Dokumente zu bringen, ja überhaupt seine Identität nachzuweisen. Die Behörden bezweifelten seine Angaben. Es gab widersprüchliche Informationen und Berichte in den Akten. Sogar die sonst meist wohlgesonnene Arbeiterkammer sah sich mangels Informationen zunächst außerstande, seinen Antrag zu befürworten. Gegen ihn sprachen zudem verschiedene Vorstrafen. Über seine familiären Verhältnisse und Lebensumstände ist allerdings kaum etwas zu erfahren. In seinen prätentiösesten Aktionen versuchte Hasch nicht nur mit besonderer Hartnäckigkeit, als Kriegsinvalide Ansprüche auf eine Hausierbewilli-

115 Vgl. AStS, Gewerbeamt, Ia1, 1923, Karl Hasch, 3103 116 Vgl. AStS, Gewerbeamt, Ia1, 1923, Karl Hasch, 4226. 117 AStS, Gewerbeamt, Ia1, 1923, Karl Hasch, 4710. 118 Die auf diesen Anträgen beruhenden Beobachtungseinheiten finden sich nahe dem Mittelpunkt. Lediglich die Anmeldung der Marktfierantie weist einen etwas deutlicheren Mangel und die Vermeidung der Rücksichtswürdigkeit auf, da hier Haschs Vorstrafen erläutert wurden (siehe A-KarlHasch4–6 in Abbildung 5). 119 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1920, Karl Hasch, 5649. 120 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1923, Karl Hasch, 133 und 681: Stadtmagistrat Salzburg an das Stadtphysikat Salzburg, 24.1.1924. 121 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1927, Karl Hasch, 3703, 117: Hans Kirch, Rechtsschutzverein für Hausierer Salzburgs an die Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Salzburg, 12.2.1927.

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gung geltend zu machen. (Am deutlichsten wird diese Orientierung in seinen Anträgen aus den Jahren 1923, 1925, 1924 und 1936 sichtbar, siehe die Positionierung dieser Beobachtungseinheiten A-KarlHasch3, 8, 7 und 13 in Abbildung 5). Der ehemalige Schausteller bemühte sich dabei zugleich, den offiziellen Makel seiner Fremdheit zu seinem Vorteil zu wenden. Er strebte nicht bloß eine reguläre Hausierbewilligung an. Im Antrag aus 1923 (A-KarlHasch3), der die prätentiöse Orientierung am extremsten, ausgewogensten und deutlichsten zeigt, beanspruchte er „eine Ausnahmsbewilligung und Privilegium für den Hausierhandel mit Südfrüchten wie Orangen, Mandeln, Datteln, Zucker und Sa [r]dinen, wie die ehemaligen Gottscheer für die Stadt Salzburg“: Laut Min. Vdg. Vom 18.6.1897 RGBl. 142 ist das Hausieren im Stadtgebiete Salzburg verboten. Dieses Verbot hat sich zur Zeit des Bestandes der Monarchie nicht erstreckt auf privilegierte Hausierer. Sogenannte Gotscheer haben schaarenweise das Hausieren mit Zuckerln und das Ausspielen122 von Zuckerwaren betrieben. Ich stelle nun die ergebene Bitte, da derartige Gotscheer ohnehin nicht mehr bestehen, mir diese Bewilligung zu erteilen und hinsichtlich meiner Person das mit der zitierten Min. Vdg. ergangene Verbot außer Kraft zu setzen. Ich nehme Bezug auf die beim Stadtmagistrate Salzburg laufende Bezugsakten betreffend mein Gesuch um Verlängerung meiner Hausierbewilligung.123

Halten wir hier fest: Karl Hasch ersuchte um nicht weniger, als das geltende gesetzliche Hausierverbot für Salzburg aus dem Jahr 1897 für ihn persönlich außer Kraft zu setzen. Dasselbe tat er in einem Schreiben an das Bundesministerium für Handel, Gewerbe, Industrie und Bauten. Und in einem Rekursschreiben aus dem Jahr 1924 liest man, er sehe sich dazu „für berechtigt“ an, da er „ein Krüppel“ sei, eine Prothese sowie eine Halblähmung des rechten Armes habe und sein Vater aus dem ehemals begünstigten Gebiet in Mitterndorf stamme: Ich bin ein unehelicher Sohn der Anna Hasch, bin derzeit heimatlos und kann mir das Brot nicht anders verdienen, da ich am Lande mit Kurz- und Galanteriewaren nicht gehen kann, da ich wegen meiner Beschwerden Fusstouren welche ich zu Fuss machen müsste und mit meiner Prothese ich das nicht leisten kann. Ich bitte daher um einer Rücksicht auf mein Gebrechen und ersuche nochmals meinem Ansuchen willfahren zu wollen.124

122 Laut von Thaa ein abzustellender Unfug, vgl. von Thaa, Hausirwesen, S. 68. 123 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1923, Karl Hasch, 133 und 681: Verhandlungsschrift vom 31.1.1923. 124 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1923, Karl Hasch, 133 und 681: Karl Hasch an das Bundesministerium für Handel, Industrie, Gewerbe und Bauten, 19.1.1924. Siehe Abbildung 4: ATrad (Antragsteller/in verweist auf Tradition), PGesucht (Antragsteller/in wird polizeilich gesucht), GistInvalidegibtsich (Gewerbeamt: ist Invalide; gibt sich als Invalide aus), ABelege (Antragsteller/in verweist auf Belege), AK0Info (Arbeiterkammer: Informationen fehlen), AKrüppel (Antragsteller/in: bin ein Krüppel), ISHS (Antragsteller/in erwähnt SHS).

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Der Versuch mag auf den ersten Blick absurd erscheinen. Eine derartige Bewilligung war ihm allerdings bereits einmal „rechtsirrtümlich“ ausgestellt worden. Auch findet sich im Akt ein Amtsvermerk, man möge Haschs Antrag „nicht ohne weiters“ abweisen. Die Behörden waren offenbar nicht völlig abgeneigt, für Gottscheer, eine deutschsprachige Minderheit des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS), Ausnahmen zuzulassen. Obwohl die gesetzliche Grundlage dafür nicht wirklich gegeben war, wurde der Verkauf und das Ausspielen (das Verlosen) von Südfrüchten und Kanditen in Gasthäusern125 von der Stadtgemeinde Salzburg wiederholt in begrenztem Ausmaß zugelassen. Ab 1925 räumte ein Handelsabkommen mit dem SHS-Staat den österreichischen Gewerbebehörden die Möglichkeit ein, den Bewohner/innen der Gottschee das Hausieren in Österreich zu gestatten.126 Doch mit seiner Forderung exponierte sich Karl Hasch noch mehr. Da er sich als Gottscheer bezeichnete, nahmen die Behörden zunächst an, er sei jugoslawischer Staatsbürger und nicht Optant127 ohne Heimatrecht. Zwar konnte er ein Gutachten vorgelegen, aus dem hervorging, dass seine Erwerbsfähigkeit stark eingeschränkt sei und das Hausiergewerbe zu den wenigen Tätigkeiten gehöre, denen er einigermaßen nachgehen könne. Er geriet jedoch in Verdacht, als früherer Artist bloß Zivil- und nicht Kriegsinvalide zu sein. Ein neuerliches Gutachten beschied, dass sein „Gesundheitszustand […] kein derartiger“ sei, „daß er ausschließlich nur das Hausiergewerbe auszuüben im Stande wäre. Mit Rücksicht auf die Versteifung des rechten Kniegelenkes wäre vielmehr ein sitzender Beruf günstiger.“128 Erst 1927 gelang es Karl Hasch, seine Staatsbürgerschaft und sein Heimatrecht zu klären und die Zweifel an seiner Kriegsteilnahme auszuräumen.129 Obwohl er in bemerkenswerter Weise immer wieder Fürsprecher und Unterstützer fand (unter anderem den alpenländischen Verband von Kriegsteilnehmern, einen Rechtsanwalt, einen ansässigen Gewerbetreibenden und in späteren Verfahren auch die Vaterländische Front), wurden seine

125 Vgl. dazu Österreichisches Museum für Volkskunde, Ethnographisches Museum Schloß Kittsee, Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum, Außenstelle Stainz: Sonderausstellung Volkskunde der Gottscheer, S. 3; Kaiser-Kaplaner, Gottscheer Frauenschicksale, S. 63. 126 Vgl. Zusatzabkommen zu dem am 3. September 1925 unterzeichneten Handelsvertrag zwischen der Republik Österreich und dem Königreiche der Serben, Kroaten und Slowenen, BGBl. 1929/9, Artikel 5. 127 „Optant“ bezeichnet in diesem Zusammenhang einen ehemaligen Staatsangehörigen/eine ehemalige Staatsangehörige der Habsburgermonarchie, der/die nach dem Ende der Monarchie Anspruch auf die österreichische Staatsbürgerschaft erhoben und diese beantragt hatte. 128 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1923, Karl Hasch, 133 und 681: Stadtphysikat Salzburg an den Stadtmagistrat Salzburg, 25.1.1924. 129 Vgl. ÖStA, AdR, BKA 36/3, Geschäftszahl 171418–6/1927, Grundzahl 92174–6/1929.

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Anträge zunächst immer wieder zurückgewiesen. Das Ministerium berief sich darauf, selbst an die geltenden Gesetze gebunden zu sein. Der Stadtmagistrat konnte zwar nicht umhin, Haschs Erwerbsminderung anzuerkennen, lehnte jedoch die Wiedereinführung des Ausspielens in Gasthäusern ab: Hasch gibt an, Kriegsinvalider zu sein, hat aber einen Beweis hiefür nicht erbracht. Er ist schwer invalid (Maschinenprothese des rechten Beines und Verkrüppelung der rechten Hand) und tatsächlich unfähig, irgend eine Arbeit zu leisten. Etwas Nachteiliges konnte über ihn bisher nicht festgestellt werden. Bemerkt wird, daß das Ausspielen der Zuckerwaren auch zur Zeit vor dem Zusammenbruch nur geduldet war und daß die rechtliche Befugnis der Gotscheer nur auf das Hausieren mit Zuckerwaren lautet. Der Stadtmagistrat Salzburg steht auf dem Standpunkt, daß die Wiedereinführung dieses Ausspielens in den Gasthäusern, welches sich letzten Endes als verbotenes Glückspiel darstellt und nur auf den Leichtsinne und die Spielerleidenschaft kleiner Leute abzielt, aus volkswirtschaftlichen und ethischen Gründen keineswegs begrüßt werden kann.130

Auch die Wirtschaftskammer, die Haschs Antrag ursprünglich mit Hinweis auf seine schwere Invalidität befürwortet hatte, nahm nun entschieden dagegen Stellung: Man sehe keinen Grund, die Begünstigungen die aus politischen Gründen einem kleinen Kreis kulturell tiefst stehender österr. Staatsbürger gewährt wurde, für Bevölkerungsschichten des heutigen Oesterreich neu aufzunehmen. Neben den volkswirtschaftlichen Gründen sprechen zweifellos die vom Stadtmagistrat angeführten ethischen gegen die Bewilligung des Ansuchens des Karl Hasch und unterliegt das nach Ansicht der Kammer gar keinem Zweifel, dass sogleich mit der Erteilung der einen Bewilligung eine grosse Reihe gleich anspruchberechtigter Kriegsbeschädigter dieselbe Begünstigung für sich in Anspruch nehmen wird. Was die Person des Gesuchstellers betrifft, so ist dessen Lage zweifellos als beklagenswert zu beurteilen. Andererseits konnte der Gesuchsteller der in der Kammer mehrmals vorsprach keinerlei Beweise dafür erbringen, dass er tatsächlich Kriegsbeschädigter ist, und gab nie Auskunft über die Höhe der ihm als Kriegsbeschädigter zustehenden Invalidenpension u. dgl. Die Kammer bittet daher nochmals sich gegen das Ansuchen ablehnend zu verhalten.131

Trotz aller Ablehnung waren Haschs Ansprüche nicht einfach von der Hand zu weisen. Die unbewiesenen Angaben stellten somit nicht nur für ihn ein Problem dar. Seine Anträge provozierten zahlreiche Gutachten, Stellungnahmen und erheblichen behördlichen Schriftverkehr, bis er im Februar 1926 (mehr als fünf

130 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1923, Karl Hasch, 133 und 681: Stadtmagistrat Salzburg an die Kammer für Arbeiter und Angestellte und die Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Salzburg, 7.2.1923. 131 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1923, Karl Hasch, 133 und 681: Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Salzburg an den Stadtmagistrat, 15.2.1923.

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Jahre nach seinem ersten Antrag auf Verlängerung der von der Stadt Graz ausgestellten Hausierbewilligung) endlich eine Bewilligung für das Hausieren mit Obst, Südfrüchten, Kurz- und Galanteriewaren sowie mit Geschirr erhielt. Im Laufe dieser Jahre änderten nicht nur die Behörden mehrfach ihre Meinung und gaben verschiedenste, sogar widersprüchliche Stellungnahmen ab. Auch Hasch selbst beantragte angesichts der Widerstände gegen eine Hausierbewilligung andere, einfacher zu erlangende Gewerbebewilligungen. 1923 meldete er problemlos das freie Gewerbe der Marktfierantie132 und das Kastanienbratergewerbe133 an. Ein weiterer Antrag auf eine Bewilligung zum Feilhalten heißer Würstel zur Nachtzeit aus demselben Jahr wurde von den Behörden auf Antrag der Genossenschaften, die Konkurrenz fürchteten und den Lokalbedarf gedeckt sahen, abgelehnt.134 Hasch machte sich die für verschiedene Gewerbekategorien unterschiedlichen Gewerbevoraussetzungen zu nutze. Dabei kam ihm zugute, dass hier weder seine ungeklärte Zugehörigkeit noch seine Vorstrafen ein Hindernis darstellten. Beschwerden zufolge übte er die Marktfierantie allerdings nicht auf die vorgesehene Art aus, sondern hausierte unerlaubt nach „Gottscheerart“.135 Zugleich bemühte sich Karl Hasch weiterhin um eine Hausierbewilligung, die seinen Möglichkeiten und Wünschen offensichtlich mehr entgegenkam als andere, respektablere Gewerbe. Auch wenn er formell dieselbe Bewilligung anstrebte wie etwa Josef Nesch, so zeugen die Auseinandersetzungen doch von unterschiedlichen Orientierungen und Gebrauchsweisen dieses Gewerbes.

Schluss Die hier behandelten Erwerbe werden in der Forschung auf unterschiedliche Weise kategorisiert. Oft werden sie a priori der Wirtschaft, der Armut oder einem informellen Sektor zugerechnet. Häufig werden sie, indem einzelne Eigenschaften absolut gesetzt werden, sei es nun Ärmlichkeit, Religion oder andere Zugehörigkeiten oder Zuschreibungen, isoliert vom Spektrum der Erwerbe und Erwerbsmöglichkeiten insgesamt betrachtet. Ich konnte mit meinen Ausführungen zeigen, dass solche Zuordnungen zu kurz greifen und das Wesentliche ver-

132 Vgl. AStS, Gewerbeamt, Ia1, 1923, Karl Hasch, 3103. 133 Vgl. AStS, Gewerbeamt, Ia1, 1923, Karl Hasch, 4226. 134 AStS, Gewerbeamt, Ia1, 1923, Karl Hasch, 4710. 135 AStS, Gewerbeamt, Ih, 1927, Karl Hasch, 3703, 117: Hans Kirch, Rechtsschutzverein für Hausierer Salzburgs an die Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Salzburg, 12.2.1927.

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fehlen, nämlich die in den Auseinandersetzungen um die Möglichkeiten und Bedingungen selbstständigen Erwerbs beobachtbare Erzeugung von Unterschieden und Hierarchien. Anträge um Gewerbebewilligungen erlauben es nicht nur, die verschiedenen Situationen und Konstellationen systematisch zu vergleichen, in denen ein Lebensunterhalt mit mehr oder minder großem Erfolg oder Misserfolg vor den Behörden legitimiert wurde. Sie erlauben es auch, die verschiedenen Gebrauchsweisen von offiziellen Gewerbekategorien und Modi des Erwerbs und des Umgangs mit den Behörden zu erfassen. Sie erlauben es schließlich, die verschiedenen und oft konträren Agenden der Behörden und deren Zusammenhang mit den Tätigkeiten der involvierten Parteien zu untersuchen. Erwerbe ohne stabilen Standort waren nicht per se unreguliert und unkontrolliert. Ihre Ausübung entsprach freilich auch nicht immer den geltenden Bestimmungen. Erwerbssuchende bezogen sich in verschiedener Weise auf die Behörden: Sie erhoben Ansprüche, präsentierten sich und rechtfertigten ihr Anliegen mit unterschiedlichen Argumenten, versuchten Kriterien zu erfüllen, aber auch gesetzliche Bestimmungen für ihre Zwecke zu interpretieren und in Frage zu stellen. Oft suchten sie auch die Behörden zu umgehen. Aber selbst wenn man einem Erwerb unbefugt und ohne Bewilligung nachging, konnte man im Untersuchungszeitraum die Behörden immer weniger vermeiden. Man musste zumindest mit der Möglichkeit negativer Sanktionen rechnen und mit ihr umgehen – so wie die Behörden mit den unbefugten und unerwünschten Aktivitäten umgehen mussten. Erwerbssuchende erzeugten also stets auch Verwaltung (und deren Kategorien) in Konsens und Konflikt mit. Ich habe verschiedene Konstellationen von Bedingungen beschrieben, die entweder ein Bemühen um eine bestimmte amtliche Bewilligung oder eher die Vermeidung der Behörden nahelegten. Dieser Umgang mit Verwaltung, der Gebrauch von Gewerbekategorien und Bewilligungen war nicht beliebig und willkürlich. Er wird erst im Zusammenhang der Praktiken der mittel- und unmittelbar involvierten Parteien, erst im Raum der selbstständigen Erwerbe verständlich. Die selbstständigen Erwerbe wurden stets im Spektrum und in den Hierarchien möglicher Lebensunterhalte getan und an dem gemessen, was als normal und/oder wünschenswert durchgesetzt wurde. Sie stehen damit weder am Rand noch außerhalb der Auseinandersetzungen, die letztlich zu einer Normalisierung von Arbeit geführt haben. Sie manifestieren die Veränderungen im Verhältnis zwischen staatlichen Behörden und Körperschaften und jenen, die einen Lebensunterhalt suchten und sich wie ihre Angehörigen nach Möglichkeit selbst erhalten sollten. Wie ich gezeigt habe, agierten staatliche Behörden dabei keineswegs einheitlich. Es gab unterschiedliche, positive wie negative, Interessen an diesen Erwerben.

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Verwaltung konnte auch dazu genutzt werden, strittige Erwerbe zu legitimieren. Eine amtliche Bewilligung machte aus dem Hausieren, dem Bettelmusizieren oder anderen Tätigkeiten einen offiziellen Erwerb, selbst wenn dieser damit nicht außer Zweifel gestellt war und immer noch als erzwungener Ersatz für oder als willentliche Vermeidung von „richtiger“ Arbeit betrachtet werden konnte. Es ging in den Auseinandersetzungen also um die Legitimität von Erwerben, um Rechte auf und Pflichten zum Erwerb/Lebensunterhalt. Es ging nicht immer und ausschließlich um Arbeit. Häufiger als von Arbeit ist in diesen Auseinandersetzungen von Gewerbe, Beruf, Erwerb, Existenz, Lebensunterhalt und Brot die Rede. Dies weist, wie ich gezeigt habe, auf unterschiedliche, konkurrierende rechtliche und praktische Vorstellungen hin. Nicht jeder Lebensunterhalt, nicht jede Tätigkeit, sich selbst zu erhalten, war offiziell erwünscht. Nicht jedes Gewerbe, nicht jeder Erwerb – selbst wenn er, wie am Hausieren ersichtlich wird, noch als redlich anerkannt wurde – war Beruf oder Arbeit.

Literatur und Quellen Archivbestände Archiv der Stadt Salzburg (AStS): Gewerbeamt. Burgenländisches Landesarchiv: BH Eisenstadt, BH Neusiedl, BH Mattersburg. Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA): BH Bruck/Leitha, BG Neulengbach. Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA): BG Raab, BG Ottensheim. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA): Archiv der Republik (AdR), BMHuV, 501d, 501g und 501r. Tiroler Landesarchiv (TLA): BH Innsbruck, Abt. I, Reg 106. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA): MAbt 117, A3/4; MBA 1 und 8, A25; MBA 2, A25; MBA 3, A25; MBA 4, A25; MBA 12, A25; MBA 17, A25; MBA 18, A8; MBA 20, A25. Wirtschaftskammer Wien: Hausierbewilligungen.

Gedruckte Quellen „Das unbefugte Hausieren in Steiermark“, Der österreichische „Globus“, Jg. 4, H. 3 (1933), S. 7. „Es geht was vor!“, Der österreichische „Globus“, Jg. 3, H. 4 (1932), S. 3 f. „Festversammlung der Gremialkrankenkasse der Wiener Handelsagenten anläßlich ihres 25jährigen Bestandes“, Der Freie Bund. Offizielles Organ des Freien Bundes der Handelsvertreter Österreichs, Jg. 3, H. 3–4 (1930), S. 24–28.

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Anhang: Ergebnisse der spezifischen Multiplen Korrespondenzanalyse Datensatz auf der Grundlage von Gewerbeakten und einiger weniger Gerichtsakten: – 184 Beobachtungseinheiten (statistische Individuen) – 910 Variablen (Fragen), davon 704 aktiv – 2.134 Modalitäten (Antworten), davon 1.720 aktiv

220  Sigrid Wadauer

ɸ² = 1,37961 Number

Eigenvalue

Percentage

Cumulated Percentage

1

0,0382

2,77

2,77

2

0,0284

2,06

4,83

Sonja Hinsch

Nicht-Arbeit in den Anfängen des Sozialstaats Variationen und Kontraste eines Problems (Österreich 1918– 1938) Arbeitslosigkeit, geschäfts- und arbeitsloses Umherziehen, Arbeitsscheu, unredlicher Erwerb, unzüchtiges Gewerbe1 oder auch eingewurzelte Abneigung gegen einen rechtschaffenen und arbeitsamen Lebenswandel2 – all das waren zum Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts Beschreibungen für fehlende oder nicht anerkannte Arbeit. Es wurden die ersten sozialstaatlichen Maßnahmen entwickelt, die Personen ohne Arbeit mit Geldleistungen und Arbeitsbeschaffung unterstützten. Gleichzeitig wurden Zwangsarbeitsanstalten reorganisiert und ausgebaut, die Personen ohne Arbeit kriminalisierten. Was Arbeit war und was nicht und was mit Personen, die als nicht arbeitend angesehen wurden, geschehen sollte, rückte immer mehr ins Zentrum staatlicher Agenden. Arbeit wurde zur Grundlage des Sozialstaats,3 und dies manifestierte sich auch in der Bewertung von und im Umgang mit Tätigkeiten, die nicht als Arbeit galten. Damit wurde nicht nur Arbeit klarer normiert und differenziert, sondern auch Nicht-Arbeit. Diese Gleichzeitigkeit von Verrechtlichung und Kriminalisierung der Nicht-Arbeit steht im Folgenden im Mittelpunkt. Dafür vergleiche ich Zwangsarbeitsmaßnahmen (Internierungen in Zwangsarbeitsanstalten, Arbeitshäusern und Besserungsanstalten) und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Aufnahmen in die sogenannte Produktive Arbeitslosenfürsorge oder in den Freiwilligen Arbeitsdienst) in der Zwischenkriegszeit, in der unter anderem wesentliche Gesetzesänderungen zu Arbeitslosigkeit und illegitimer Nicht-Arbeit verabschiedet und umgesetzt wurden. Genauer vergleiche ich mittels Multipler

1 Gesetz vom 24. Mai 1885, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten getroffen werden, RGBl. 1885/89. 2 Bundesgesetz vom 10. Juni 1932 über die Unterbringung von Rechtsbrechern in Arbeitshäusern, BGBl. 1932/167, § 1. Ich verzichte bei Begriffen wie Arbeitsscheu, unzüchtig usw. auf Anführungszeichen. Es handelt sich um zeitgenössische Termini, die den Gegenstand konstituieren. Nur in direkten Zitaten verwende ich Anführungszeichen. 3 Ehmer, Geschichte der Arbeit, S. 37. Hinweis: Für Anmerkungen und Korrekturen danke ich Sigrid Wadauer, Alexander Mejstrik, Nikola Langreiter, Georg Schinko, Irina Vana, Andreas Ehringfeld und Joachim Hinsch. https://doi.org/10.1515/9783110781335-006

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Korrespondenzanalyse Akten über Personen, die in diesen Maßnahmen untergebracht oder in den Anstalten interniert wurden. Beide Einrichtungen waren staatlich geregelt und finanziert und dienten der Behandlung von als nicht-arbeitend kategorisierten Personen. Ein Vergleich zwischen ihnen ist neu. Während Studien zu Zwangsarbeitsanstalten, Arbeitshäusern und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen4 die Entstehungen, Durchsetzungen und/oder Variationen eines Phänomens analysieren, vergleiche ich mit Absicht eigentlich nicht Vergleichbares. Dies bringt Unschärfen bezogen auf das jeweilige Phänomen mit sich. Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich jedoch besser herausarbeiten. In einem ersten Schritt skizziere ich das Spektrum der Einrichtungen und Maßnahmen.

Einrichtungen und Maßnahmen bei Nicht-Arbeiten Arbeit wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts immer eindeutiger als Erwerbsarbeit gefasst.5 Historiker/innen beschreiben verschiedene Entwicklungen, die für die Veränderungen der Bedeutung von Arbeit ausschlaggebend waren. Kocka nennt hierfür die Durchsetzung des Kapitalismus mit seiner marktbezogenen Arbeit, die Trennung von Erwerbsarbeit und Familie und – gegen Ende des 19. Jahrhunderts – spezifische Regulierungen und Verwaltungen von Arbeit.6 Conrad, Macamo und Zimmermann beschreiben die Kodifizierung von Arbeit seit den 1880er Jahren als das entscheidende Moment. Sie war eng mit der Etablierung von Sozialversicherungen verbunden.7 Diese „Erzeugung“8 von Arbeit oder „Entstehung einer neuen sozialen Kategorie“9 basierte auf der Ausdifferenzierung und Hierarchisierung unterschiedlichster Tätigkeiten und brachte auch 4 Zur Arbeitslosenversicherung, der Produktiven Arbeitslosenfürsorge und dem Freiwilligen Arbeitsdienst gibt es bereits einige Forschungsarbeiten für Österreich, siehe etwa Stiefel, Arbeitslosigkeit; Suppanz, Arbeitslosigkeit; Weinberger, Arbeitsbeschaffung; Pawlowski, Werksoldaten. Über Zwangsarbeitsanstalten und Arbeitshäuser in der Zwischenkriegszeit in Österreich wurde hingegen noch nicht geforscht. Meine Untersuchung kann jedoch an Studien über Zwangsarbeitsanstalten im 19. Jahrhundert anknüpfen, wie Stekl, Zucht- und Arbeitshäuser; Ammerer, Zucht- und Arbeitshäuser. Mehr wurde etwa in Deutschland zu Arbeitshäusern geforscht, die Zwangsarbeitsanstalten sehr ähnlich waren, siehe etwa Ayaß, Arbeitshaus; Althammer, Arbeitshaus. 5 Kocka, Work as a Problem, S. 8. 6 Ebd., S. 7–8. 7 Conrad/Macamo/Zimmermann, Kodifizierung. 8 Wadauer, Der Arbeit nachgehen? 9 Zimmermann, Arbeitslosigkeit.

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neue Formen von Nicht-Arbeit hervor. So galt Arbeitslosigkeit als ein Aspekt der Normalisierung von Arbeit, der einen Zustand vorübergehend fehlender Erwerbsarbeit charakterisiert.10 Auch illegitime Nicht-Arbeit wie Landstreicherei und Arbeitsscheu wurde, in Abgrenzung zur Arbeitslosigkeit, neu erzeugt. Wadauer schreibt, dass die neue Arbeit dominante Referenz wurde, an der alle Arten des Lebensunterhalts gemessen wurden.11 Dies war umso wichtiger, als über den Umgang mit Nicht-Arbeit entschieden werden musste. So wurden die Kategorisierungen von Landstreicherei und Arbeitsscheu im Zuge der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“12 auch Gegenstand akademischer Untersuchungen. Wissenschaftler13 begründeten mit, wie zwischen jenen zu unterscheiden war, die der entstehende Sozialstaat unterstützen sollte, und jenen, die keinen Anspruch auf Leistungen haben sollten.14 Althammer beschäftigt sich mit dieser Unterscheidung und sieht vor allem individualisierende Zuschreibungen charakterlicher Schwächen als Legitimation für das Nicht-Greifen wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen bei gesellschaftlich marginalisierten Gruppen.15 Damit wurden diese Personen für den Sozialstaat jedoch nicht irrelevant. Ihre Internierung zeigt auf, was mit jenen geschah oder geschehen konnte, die gegen die neuen sozialstaatlichen Vorstellungen von Arbeit und Nicht-Arbeit verstießen. Mit den Naturalverpflegsstationen waren bereits Ende des 19. Jahrhunderts Unterstützungen für Arbeitssuchende geschaffen worden – wandernde Arbeitssuchende erhielten Unterstützung durch Verpflegung und eine Übernachtungsmöglichkeit.16 1918 wurde das Arbeitslosengeld eingeführt und 1920 das Arbeitslosenversicherungsgesetz verabschiedet, zwei Jahre später die Produktive Arbeitslosenfürsorge als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gegründet. Bei letzterer handelte es sich um eine Beihilfe für „volkswirtschaftlich nützliche Arbeiten, die andernfalls unterbleiben würden“.17 Mit diesen Tätigkeiten wurden „Arbeitslose beschäftigt […], die andernfalls eine Unterstützung nach diesem Gesetz erhalten würden“.18 Verglichen mit den Arbeitslosenzahlen in der Zwischenkriegszeit waren nur wenige Personen durch die Produktive Arbeitslosen-

10 Ebd. 11 Wadauer, Immer nur Arbeit?, S. 235. 12 Raphael, Verwissenschaftlichung. 13 In diesem Text wird nicht gegendert, wenn es sich ausschließlich oder vor allem um Frauen beziehungsweise Männer handelte. 14 Wadauer, Der Arbeit nachgehen?, S. 47–55. 15 Althammer, Poverty, S. 6. 16 Wadauer, Establishing Distinctions, S. 46. 17 Bundesgesetz vom 19. Juli 1922, betreffend die Abänderung des Gesetzes vom 24. März 1920 (V. Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz), BGBl. 1922/534, § 29 (1). 18 Ebd.

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fürsorge untergebracht. Im ersten Jahr ihres Bestehens (1923) waren 16% der vorgemerkten Arbeitslosen in dieser beschäftigt.19 Im Jahr 1932 wurde der Freiwillige Arbeitsdienst als Maßnahme gegen die durch die Weltwirtschaftskrise bedingte Massenarbeitslosigkeit initiiert. Die Zahl der Arbeitslosen lag 1932 bei 21,7% und stieg 1933 auf 26% an.20 Jugendliche wurden im Rahmen des Freiwilligen Arbeitsdienstes als eine besonders zu unterstützende Zielgruppe ausgemacht. Hierfür waren pädagogische Argumente ausschlaggebend, aber auch der Umstand, dass sie im regulären System der Arbeitslosenunterstützung weniger berücksichtigt wurden. In den Freiwilligen Arbeitsdienst konnten nicht nur unterstützte Arbeitslose eintreten, sondern auch jene, die das Mindestalter nicht erfüllten oder zu geringe Anwartschaftszeit für einen Bezug der Arbeitslosenunterstützung aufwiesen.21 Im ersten Jahr seines Bestehens waren von Mai 1933 bis April 1934 durchschnittlich 12.895 Personen pro Monat so beschäftigt.22 In stärkstem Kontrast zur Arbeitslosenunterstützung standen die Kriminalisierung von Nicht-Arbeit und die Internierung in Zwangsarbeitsanstalten. Wenngleich die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wesentliche Elemente der neuen Sozialpolitik vom Anfang des 20. Jahrhunderts waren, wurden Zwangsarbeitsanstalten in diesem Kontext nicht obsolet. Im Gegenteil, sie wurden ausgebaut,23 und ihre gesetzlichen Grundlagen wurden erneuert. Vor der Verabschiedung neuer Gesetze 188524 betonte ein Strafgesetzesausschuss die Dringlichkeit von Reformen und die Notwendigkeit des Ausbaus solcher Anstalten. Dies steht im Kontext einer hohen Migration freigesetzter Arbeitskräfte Ende des 19. Jahrhunderts.25 Der Strafgesetzesausschuss hielt in seinem Bericht fest, dass es „höchste Zeit sei, das überwuchernde Vagabundenwesen mit aller Beschleunigung und Entschlossenheit durch strenge ge19 Im Jahr 1923 waren 143.332 Arbeitslose bei den Arbeitslosenämtern vorgemerkt, siehe Institut für Konjunkturforschung, Monatsberichte, 1936, S. 39. 22.953 Arbeitslose wurden durch die Produktive Arbeitslosenfürsorge beschäftigt, siehe Bundesministerium für soziale Verwaltung, Amtliche Nachrichten, 1925, S. 41. 20 Stiefel, Arbeitslosigkeit, S. 29. Stiefel unterscheidet zwischen den unterstützten Arbeitslosen und der Gesamtzahl der Arbeitslosen (also jener, die sich nicht beim Arbeitsamt meldeten bzw. melden konnten, aber Arbeit suchten). Die Zahl der unterstützten Arbeitslosen betrug im Jahr 1932 309.968 Personen. Für die Gesamtzahl der Arbeitslosen bezieht Stiefel sich aber auf volkswirtschaftliche Errechnungen (Österreichisches Volkseinkommen 1913–1963, Wien 1963), die von 468.000 Arbeitslosen ausgingen. 21 Suppanz, Arbeitslosigkeit, S. 160–161. 22 Österreichisches Statistisches Zentralamt, Handbuch, 1934, S. 178. 23 Stekl, Zucht- und Arbeitshäuser, S. 104. 24 RGBl. 1885/89; RGBl. 1885/90. 25 Althammer, Vagabund, S. 417; Pankoke, Arbeitsfrage, S. 13.

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setzliche Bestimmungen und öffentliche Einrichtungen zu bekämpfen“. Es wurde die Einrichtung der „erforderliche[n] Anzahl von Zwangsarbeitsanstalten“ verlangt.26 Wadauer weist dabei darauf hin, dass es bei der Problematisierung des Vagabundenwesens nicht alleine um eine quantitative Zunahme von Vagabundage ging, sondern um eine neue Befassung mit dieser und damit um deren neue Erzeugung im Rahmen sozialstaatlicher Politik und der Verwissenschaftlichung des Sozialen.27 Die Internierung in Zwangsarbeitsanstalten kann demzufolge nicht als Anachronismus verstanden werden, sondern muss im Zusammenhang des entstehenden Sozialstaats und des Verhandelns über Arbeit und Nicht-Arbeit interpretiert werden. In Zwangsarbeitsanstalten wurden Personen interniert, die wegen Bettelei, Landstreicherei oder Prostitution verurteilt worden waren. Das Vagabundengesetz von 1885 verband mit diesen Delikten „Arbeitsscheu“, Eigentumsgefährlichkeit, fehlenden „redlichen“ Erwerb und „unzüchtiges Gewerbe“.28 Offizielle Begründungen unterschieden sich wesentlich nach dem Geschlecht der zu Internierenden. Frauen wurden vor allem wegen Prostitution und weniger wegen Landstreicherei und Bettelei interniert.29 Es ging bei Frauen also vorrangig um die Sanktionierung eines „unzüchtigen Gewerbes“.30 Nach dem Vagabundengesetz Verurteilte konnten aufgrund des Beschlusses einer Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten der jeweiligen Landesregierung nach einer verbüßten Haftstrafe in eine Zwangsarbeitsanstalt interniert werden. Ab 1920 wurden auch sogenannte „arbeitsscheue Rückfallsverbrecher“, also Personen, die bereits zu drei Freiheitsstrafen verurteilt worden waren und eine „eingewurzelte Abneigung gegen einen rechtschaffenen und arbeitsamen Lebenswandel bekundet“ hätten, nach der verbüßten Haftstrafe in eine Zwangsarbeitsanstalt verbracht.31 Mitunter waren dem Verurteilungen wegen Betruges vorausgegangen. Die Anhaltung dauerte, bis verantwortliche Stellen eine „Besserung“ konstatierten, aber nicht länger als drei Jahre.32 Nach einer Gesetzesreform 1932 konnte eine Internierung dann sogar bis zu fünf Jahre dauern.33 In der Zwischenkriegszeit bestanden fünf Zwangsarbeitsan-

26 Bericht des Gesetzesausschusses. 27 Wadauer, Der Arbeit nachgehen?, S. 49. 28 RGBl. 1885/89, §§ 1–3 und 5. 29 Seelig, Arbeitshaus, S. 125. 30 RGBl. 1885/89, § 5. 31 Gesetz vom 23. Juli 1920 über die bedingte Verurteilung, StGBl. 1920/373, § 21. Bundesgesetz vom 10. Juni 1932 über die Unterbringung von Rechtsbrechern in Arbeitshäusern, BGBl. 1932/ 167, § 1. 32 Gesetz vom 24. Mai 1885 betreffend Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten, RGBl. 1885/ 90, § 9. 33 BGBl. 1932/167.

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stalten in Österreich: Die Zwangsarbeitsanstalten in Korneuburg und in Wiener Neudorf in Niederösterreich, in Messendorf und Lankowitz in der Steiermark und in Schwaz in Tirol. Nach 1932 wurden die nunmehr Arbeitshäuser genannten Anstalten34 auf drei reduziert. Diese waren in Suben (Oberösterreich), in Göllersdorf und in Wiener Neudorf (Niederösterreich). Es wurden in der Zwischenkriegszeit nicht viele Personen in Zwangsarbeitsanstalten oder Arbeitshäuser interniert. Die Zahl der Internierten zu erfassen ist aber schwierig, da Aufzeichnungen in den Archiven nur vereinzelt vorhanden sind. Es handelt sich aber insgesamt um wenige Internierungen, und es waren weniger Frauen als Männer eingesperrt. Die besten Daten sind über Arbeitshäuser vorhanden. In dem einzigen Arbeitshaus für Frauen in Wiener Neudorf, in dem alle Zwangsarbeitsanstalten für Frauen mit der Gesetzesreform 1932 aufgingen, waren im Jahr 1936 durchschnittlich 29 Frauen interniert (täglicher Durchschnittsbelag).35 In den beiden Arbeitshäusern für Männer saßen hingegen zusammen zwischen 258 und 303 Personen ein (monatliche Durchschnittsziffern).36 Waren die nach dem Vagabundengesetz von 1885 verurteilten Personen unter 18 Jahren alt, wurden sie als Jugendliche in gesonderten Besserungsanstalten festgehalten. Wie bereits für den Freiwilligen Arbeitsdienst beschrieben, galt Jugend immer mehr als eine speziell – nämlich pädagogisch – zu betreuende Lebensphase. Daher waren diese Anstalten „derart einzurichten, daß in denselben für die moralische und religiöse Erziehung der Corrigenden, sowie für die Unterweisung in einer ihren Fähigkeiten entsprechenden und ihrem künftigen Fortkommen dienlichen Beschäftigung vorgesorgt wird“.37 Die Anzahl an Internierten variierte stark, etwa zwischen der Besserungsanstalt für Mädchen in Schwaz in Tirol mit 26 Korrigendinnen38 und jenen für Buben im niederösterreichischen Eggenburg und Korneuburg mit jeweils ungefähr 260 Korrigenden.39

34 Ebd. 35 Seelig, Arbeitshaus, S. 85. 36 Ebd., S. 82, 84. 37 RGBl. 1885/90, § 13. 38 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA), Inneres, 20/4 1928–30, Karton 4771. 39 List, Korneuburg, S. 4; Mayer, Erziehung, S. 61.

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Notionierungsakten und Arbeitslosenakten als Quelle Die Erzeugung von Arbeit und Nicht-Arbeit in den dargestellten Einrichtungen/ Anstalten wird anhand von Akten über Personen, die in diese interniert/aufgenommen wurden oder werden sollten, respektive entlassen wurden oder werden sollten, untersucht. Bei Besserungsanstalten/Zwangsarbeitsanstalten/ Arbeitshäusern sind dies Notionierungsakten, bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Arbeitslosenakten. In beiden Aktentypen finden sich Protokolle, Vermerke, Arbeitszeugnisse und Briefe der verwalteten Person, Korrespondenzen zwischen den verantwortlichen Behörden und Formulare, die von Beamten oder von den als „Arbeitslose“, „Zwänglinge“, „Korrigend/innen“ benannten Personen ausgefüllt wurden. Im Falle von Internierten in Besserungs- und Zwangsarbeitsanstalten sowie in Arbeitshäusern finden sich weiters ärztliche Gutachten, Briefe von Verwandten, Bürgermeistern, Pfarrern und Arbeitgeber/innen, Gerichtsurteile, Polizeiberichte, eventuell auch Armutszeugnisse und Heimatscheine in den Akten. Personenbezogene Akten betreffend Zwangsarbeitsmaßnahmen und Besserungsanstalten sind meist deutlich umfangreicher als jene aus dem Zusammenhang von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Wer bestimmte, was wie in den Akten stand, darüber sind sich Historiker/ innen und Verwaltungssoziolog/innen uneinig. Divergenzen bestehen vor allem dahingehend, ob Verwaltung ein vor allem behördlich wesentlich vorgegebener Prozess ist oder Aushandlungssache zwischen sämtlichen Beteiligten (also etwa auch den Klient/innen). Luhmann betont, dass Protokolle häufig aus der Erinnerung der Protokollierenden und in deren Sprache entstehen, der/die Protokollierte hat sich nach der Erstellung des Textes damit zu identifizieren.40 Aber auch in Fällen, so Becker, in denen die verwaltete Person das Formular selbst ausfüllt, würden die verschriftlichten Probleme und Erlebnisse vielfach den amtlichen Erfordernissen angepasst und so reinterpretiert werden,41 also in die Kategorien der Verwaltung transformiert.42 Durch Formulare werden zunächst Begriffe vorgegeben, die nicht selbstverständlich die eigenen sind, und Antwortmöglichkeiten werden begrenzt. Becker meint, dass dadurch die betroffene Person „nicht zum Subjekt in einem verständigungsorientierten Austausch, sondern […] auf den

40 Luhmann, Legitimation, S. 93. 41 Becker, Formulare, S. 294. 42 Ebd., S. 298.

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Status einer Auskunftsperson beschränkt“ wird.43 Nach Dubois, der am Beispiel eines bürokratischen Vorgangs in einem Sozialamt argumentiert, identifiziert sich die/der Betroffene mit von der Verwaltung als relevant erachteten Charakteristika der Person, um im Gegenzug Rechte zu erhalten.44 Verwaltung kann jedoch auch unmittelbarer als Aushandlung zwischen den beteiligten Personen verstanden werden. Wadauer beschreibt, dass Verwaltete Verwaltung miterzeugen.45 So zeigt sich auch in den von mir untersuchten Notionierungs- und Arbeitslosenakten, dass die verwalteten Personen sich gegen Zuschreibungen wehrten. Sie umgingen Vorgaben in Formularen, hinterließen Anmerkungen neben den auszufüllenden Leerstellen, verfassten Briefe, die diesen Vorgaben nicht unterlagen. Und sie richteten diese Schreiben nicht nur an die verantwortlichen Behörden, sondern etwa auch an den Bundespräsidenten oder an andere politische Akteure. In Zwangsarbeitsmaßnahmen und Besserungsanstalten las die Anstaltsverwaltung allerdings die privaten Briefe, womit die betroffene Person wieder Beschränkungen unterlag. Aber wie die Beschränkungen durch Formulare wurden auch jene durch die Zensur umgangen: Briefe wurden aus der Anstalt hinausgeschmuggelt oder während eines Aufenthaltes im Krankenhaus geschrieben. Eigene Interessen wurden zudem auch durch Flucht, Hungerstreik und körperliche Auseinandersetzungen mit Wärter/innen durchgesetzt – oder zumindest verfolgt. Die Form, wie darüber in den Akten geschrieben wurde, war freilich wiederum durch den Verwaltungsprozess geprägt. Nicht die Internierten berichteten von ihrer Flucht oder von widerständischen Handlungen in der Anstalt, sondern die Vertreter/innen der Anstalt gaben in den Akten „renitentes“ Verhalten zu Protokoll.

Systematischer Vergleich Was als legitime Nicht-Arbeit gegen welche anderen Tätigkeiten und Lebensweisen durchgesetzt wurde und welche Tätigkeiten hingegen wie, wann und von wem delegitimiert und im Extremfall auch kriminalisiert wurden, war Gegenstand von Auseinandersetzungen. Um diese Auseinandersetzungen nachvollziehen zu können, habe ich Akten über Internierungen in Zwangsarbeitsanstalten, Arbeitshäuser, Besserungsanstalten und Akten über Zuweisungen zur Produktiven Arbeitslosenfürsorge und zum Freiwilligen Arbeitsdienst unter-

43 Ebd. 44 Dubois, Bureaucrat, S. 61. 45 Wadauer, Der Arbeit nachgehen?, S. 256–257.

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sucht. In Akten sind Auseinandersetzungen zwischen den internierten/aufgenommenen Personen, Angestellten der Behörden und Einrichtungen/Anstalten, Familienmitgliedern sowie weiteren Akteuren wie Bürgermeistern, Fürsorgerinnen und Ärzten dokumentiert. Thema der Auseinandersetzungen war, ob eine Person interniert werden bzw. an Maßnahmen teilnehmen respektive aus diesen entlassen werden sollte. Mittels vergleichender Analyse sind Aushandlungsprozesse zu erfassen, um Unterschiede und Hierarchien von Nicht-Arbeiten nachzuvollziehen und damit die unterschiedlichen Perspektiven, deren System den historischen Gegenstand ausmacht, erkennen zu können. In meine Untersuchung habe ich 60 Akten von Internierten/Teilnehmer/innen aus Einrichtungen/Anstalten in Vorarlberg, Tirol, Kärnten, der Steiermark, Niederösterreich, Oberösterreich, im Burgenland und in Wien aufgenommen. Um die Akten systematisch zu vergleichen, erstellte ich eine Erhebungstabelle mit 501 Variablen (Fragen) und 1.723 Modalitäten (Antworten). Um die Auseinandersetzung um Nicht-Arbeit möglichst genau nachvollziehen zu können, wurden die Fragen sowohl auf Grundlage der Forschungsliteratur formuliert als auch aus der Beschäftigung mit den Quellen entwickelt. Fragen betreffen unter anderem den Lebensunterhalt, die Ausbildung, Krankheiten, Beschreibungen der Familien (etwa des Familienstandes, des Versorgens/Versorgt-Werdens), Alkoholkonsum, Beschreibungen des Verhaltens in der Anstalt und vieles mehr. Kategorien bildete ich auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau. Ich versuchte möglichst oft, die in den Akten konkret verwendeten Wörter zu erfassen. Hinsichtlich anderer Fragen schien es sinnvoller, zusammenfassende Kategorien zu bilden, um etwa Tätigkeitsbereiche, die Ausbildung oder den Familienstand abzufragen. Um untersuchen zu können, wer wie Verwaltung miterzeugte, wurde bei den aus dem Material erhobenen Beschreibungen ausgewiesen, wer die Aussagen tätigte (etwa Vertreter/innen verschiedener Ämter wie des Arbeitsamtes oder der Kommission der Landesregierung, die die Internierung in eine Zwangsarbeitsanstalt/Besserungsanstalt beschloss, die verwaltete Person, verschiedene – überwiegend männliche – Experten, wie Ärzte, weiters Familienmitglieder, das Gericht, die Polizei, der Bürgermeister der Heimatgemeinde usw.). Um Unterschiede, Ähnlichkeiten und Hierarchien zwischen den Beobachtungseinheiten (Akten) und Modalitäten der Erhebungstabelle zu erfassen, wertete ich sie mittels einer spezifischen Multiplen Korrespondenzanalyse aus. Die Ergebnisse der Korrespondenzanalyse ermöglichten eine systematische Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes, denn Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den erhobenen Merkmalen bzw. Beobachtungseinheiten werden in Distanzen in einem mehrdimensionalen geometrischen Raum übersetzt. Die erste Dimension stellt das wichtigste Variations- und Kontrastprinzip dar, die zweite Dimension das zweitwichtigste usw. Im Folgenden werden die ersten beiden, also die

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zwei wichtigsten Dimensionen der Konstruktion behandelt.46 Jede Dimension hat eine dominante und eine dominierte Orientierung. Je dominanter Beobachtungseinheiten und Modalitäten positioniert sind, desto mehr stellen sie durchgesetzte, also legitimste Vorstellungen und Praktiken des jeweiligen eindimensionalen Zusammenhangs dar. Je dominierter sie positioniert sind, desto weniger kann oder soll den legitimsten Vorstellungen und Praktiken entsprochen werden.47 Die in diesen Dimensionen wichtigsten Modalitäten werden im Text kursiv gesetzt oder in eckiger Klammer ausgewiesen.48

Erste Dimension: Nicht-Arbeit In der ersten Dimension geht es um Nicht-Arbeit als das zu verwaltende Problem. Die legitimste Weise, Nicht-Arbeit zu verwalten, erfolgte, indem Nicht-Arbeit als soziales Problem durch Akteure der Sozialverwaltung verwaltet wurde (dominante Orientierung). Die Grundidee der Implementierung der Arbeitslosenversicherung, der Arbeitslosenämter und der Arbeitsbeschaffungseinrichtungen war, dass die Ursache der fehlenden Arbeit in gesellschaftlichen Bedingungen zu sehen war, etwa im allgemeinen Arbeitsmangel. Der Begriff und die Bedeutung von Arbeitslosigkeit war Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Phänomen, so Zimmermann.49 Arbeitslosigkeit wurde als „unverschuldete Beschäftigungslosigkeit arbeitsfähiger und arbeitswilliger Personen“ definiert.50 Arbeitslose wurden einerseits finanziell und andererseits mit der Beschaffung von Arbeit unterstützt. Auf diese Unterstützung bestand im Zuge der Implementierung der Arbeitslosenversicherung Anspruch. Die Erfassung und Verwaltung von Arbeitslosen erfolgten dabei weitgehend ohne Beschäftigung mit den persönlichen Eigenschaften der zu verwaltenden Person. Delegitimiert wurde Nicht-Arbeit hingegen, wenn sie mit charakterlichen Schwächen begründet wurde. Diese Beschreibungen von Nicht-Arbeit finden sich in dominierter Orientierung. Sperisen beschrieb im Jahr 1946 in seiner „psychologisch-pädagogischen Studie“ unter anderem die „Verschwisterung

46 Genaueres über Anzahl der Dimensionen und Varianzbeiträge der einzelnen Dimensionen steht im Anhang. 47 Mejstrik, Felder. 48 Die unterschiedlichen Wichtigkeiten bemessen sich nach dem Ctr-Kriterium, das heißt, wie gut sie durch die Varianz in der jeweiligen Dimension erklärt werden. 49 Zimmermann, Arbeitslosigkeit. 50 Ebd., S. 27.

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von Arbeitsscheu mit anderen abwegigen Charaktereigenschaften“.51 Der Kriminologe Seelig sah in „Arbeitsscheu“ eine ganze „Lebensform“ begründet, „die der eingewurzelten Abneigung gegen einen rechtschaffenen und arbeitsamen Lebenswandel entspricht“.52 Je dominierter Modalitäten und Beobachtungseinheiten positioniert waren, desto mehr wurde nicht ein bestimmtes Problem (eben das Fehlen von Arbeit), sondern eine gesamte Person durch die staatliche Verwaltung behandelt. Dies war in den hier untersuchten Materialien im Zusammenhang von Internierungen in Zwangsarbeitsanstalten und Arbeitshäuser festzustellen. Dass diese Zuschreibungen an Nicht-Arbeit als soziales und als moralisches Problem nebeneinander existierten, ist kein Zufall und kein Anachronismus. Die Abgrenzung von Arbeitsscheuen legitimierte die Unterstützung von Arbeitslosen.53 Dies zeigt sich etwa in den Ausführungen des Arztes Karl Willmanns: Je mehr der Staat und die öffentliche Fürsorge für den unverschuldeten Arbeitslosen, d. h. für den körperlich und geistig vollwertigen Arbeiter, den durch Alter, Krankheit, durch Krisen und schlechte Geschäftslage Arbeitslosen, übernimmt, desto unabwendbarer erscheint es, den minderwertigen Elementen, die aus irgendeinem Grunde nur ausnahmsweise oder gar nicht arbeiten und meist oder ständig von fremder Unterstützung leben, die Fürsorge zu entziehen und sie auf irgendeine Weise dauernd oder auf unbestimmte Zeit zu versorgen. Es ist das die bedingungslose Voraussetzung für den vollwertigen Arbeitslosen; sie wird nicht zu umgehen sein, wenn nicht die modernen sozialen Einrichtungen, speziell die Arbeitslosenversicherung, dauernd von diesen Elementen mißbraucht, und die großen Pläne im Keim erstickt werden sollen.54

Im Folgenden wird die dominante und die dominierte Orientierung der ersten Dimension im Detail besprochen.

Dominante Orientierung: Erzeugung von Nicht-Arbeit als soziales Problem Nicht-Arbeit wurde als soziales Problem verwaltet (und somit erzeugt), indem formalisierte, von individuellen Eigenheiten losgelöste Probleme einer standardisierten Betreuung zugeführt wurden. Die wichtigsten Modalitäten mit domi-

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Sperisen, Arbeitsscheu, S. 13. Seelig, Arbeitshaus, S. 120. Wadauer, Establishing Distinctions, S. 46; Althammer, Poverty, S. 6. Willmanns, Landstreichertum, S. 605–606.

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nanter Orientierung,55 also jene Modalitäten, die am eindeutigsten legitime Nicht-Arbeit beobachten lassen, sind: Es waren nur zwei Behörden involviert, die auf die Verwaltung von Arbeitslosen spezialisiert waren, nämlich die Industriellen Bezirkskommissionen und die Arbeitslosenämter, respektive, mit der Machtübernahme des austrofaschistischen Regimes, die Arbeitsämter und Landesarbeitsämter.56 Um durch die Arbeitslosenverwaltung unterstützt zu werden, wandte sich eine Person an das Arbeitslosenamt57. Der nun entstehende Fall wurde in einer sehr formalisierten Weise abgewickelt. Es waren kurze Akten, wenige Indikatoren charakterisierten die Person und ihr Problem. Die verwaltete Person wurde im Akt als „Arbeitslose/r“ beschrieben. Sie wurde durch Alter und Erwerbstätigkeiten vor der Arbeitslosigkeit definiert. Auch wurde ihre Familie beschrieben, aber betont, dass die Person durch diese keine Unterstützung erhielt. Die Verwaltungsfälle (Arbeitslosen) wurden durch objektiv bestimmbare Faktoren beschrieben, die teils sogar quantifizierbar waren. Auf den Charakter der Person einzugehen, war hier nicht erforderlich. Diese Faktoren waren vor allem die Zahl der Arbeitsverhältnisse, das Alter und fehlende Unterstützungsleistungen durch das private Umfeld. Es ging nicht um Besserung oder Erziehung, es ging nicht um kriminelle Handlungen und auch nicht um ein Betragen der Person (Modalitäten siehe Abbildung 1). Das zeigt ein Verständnis von Nicht-Arbeit, das weder ein Versagen noch moralische Schwächen der Betroffenen als Ursachen sah. Die Arbeitslosenfürsorge wurde im Zuge der Gründung der Ersten Republik eingerichtet, um Arbeitslosigkeit als ein aufgrund des Krieges und der Wirtschaftskrisen entstandenes Problem staatlich zu lösen (oder zumindest zu behandeln). Wer arbeitslos war, da er bestimmte, klar definierte Kriterien erfüllte, hatte Anspruch auf Unterstützung. So wurde mit dem Kriterium des Alters und der fehlenden Unterstützung durch andere festgelegt, dass nur erwachsene Selbst- oder Familienerhalter unterstützt werden sollten.58 Mit der Angabe des Beschäftigungsverhältnisses vor der Arbeitslosigkeit sollte überprüft werden, ob es sich um ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gehandelt und ob dies bereits längere Zeit bestanden hatte.59

55 Sie sind am extremsten positioniert und liefern nach dem Ctr-Kriterium in der Dimension einen überdurchschnittlich hohen Erklärungsbeitrag. 56 Vana, Gebrauchsweisen. 57 Diese wurden im Austrofaschismus in Arbeitsämter umbenannt. 58 Gesetz vom 24. März 1920 über die Arbeitslosenversicherung, StGBl. 1920/153, § 1 (1), § 31. 59 Ebd., § 1 (1).

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Abb. 1: Ctr-Hilfsgrafik erste Dimension. © S. H. Die in Abbildung 1 dargestellten Punkte bezeichnen Modalitäten und Beobachtungseinheiten. Die x-Achse stellt die erste Dimension dar, auf der die Punkte gemäß ihrer Koordinatenwerte platziert sind. Punkte, die in derselben Orientierung der Dimension liegen (entweder positive oder negative Koordinatenwerte), stellen Modalitäten dar, die sich (im Sinne der Varianz) ähnlich sind. Für Punkte, die in entgegengesetzten Orientierungen liegen, gilt das Gegenteil. Die yAchse misst die Wichtigkeit der Modalitäten gemessen nach deren relativen Beiträgen zur Varianz der Dimension (Ctr). Abbildung 1 bildet nur Modalitäten mit überdurchschnittlichem Ctr ab. Abkürzungen: MN = Maßnahme/Anstalt, P = Person, F = Familie, R = Rechtsanwalt, Gef = Gefängnis, LR = Landesregierung, ABG = Arbeitgeber, M = Ministerium, I = IBK, LMIA = Landesregierung oder Ministerium oder IBK oder Arbeitsamt, NA = nicht angegeben, No = verneint, qu = Aussage getätigt von, ZA = Zwangsarbeitsanstalt, BA = Besserungsanstalt, AH = Arbeitshaus.

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Jene Beobachtungseinheit, die am deutlichsten die Verwaltung eines sozialen Problems beobachten lässt, ist die wichtigste Beobachtungseinheit mit dominanter Orientierung. Es ist dies der Akt über Herrn Ung. [Name anonymisiert, Anm. S. H.] (siehe Abbildung 1). Im Jahr 1934 wandte sich die Industrielle Bezirkskommission für das Burgenland an die Lagerleitung des Staatlichen Arbeitsdienstes60 mit der Frage, ob der staatliche Arbeitsdienst den „dzt. Arbeitslosen Rudolf Ung.“61 unterbringen, genauer: ob sie ihn in die Führerschule des Staatlichen Arbeitsdienstes aufnehmen könne. In einer kurzen Beschreibung des Anwärters gab die Industrielle Bezirkskommission dessen Alter, Ausbildung und frühere Beschäftigungsverhältnisse an: „Ung. ist am 19.10.1913 geb., ist in St. Margarethen im Bgld. wohnhaft, absolvierte die techn. Lehranstalt in Wien VI und war schon im Büro und auf Bauplätzen bei Baumeistern in der Steiermark beschäftigt.“62 Der „dzt. Arbeitslose Ung.“ wurde durch seine bisherigen Arbeitsverhältnisse charakterisiert. Hierbei waren weder Beschreibungen seines Verhaltens bei der Arbeit noch eine genaue Beschreibung seiner Tätigkeiten wichtig. Wichtig war hingegen, dass er zurzeit ohne Arbeit war und welche Beschäftigungsverhältnisse zuvor bestanden hatten.

Dominierte Orientierung: Nicht-Arbeit als moralisches Problem An Arbeitslosigkeit als offiziell anerkanntester Form von Nicht-Arbeit wurden alle anderen nicht anerkannten oder fehlenden Arten des Lebensunterhalts gemessen.63 Je weniger der als legitimsten durchgesetzten Form der Nicht-Arbeit entsprochen wurde oder werden konnte, desto fraglicher war die Legitimität der Lebensweisen der Betroffenen; sie konnten sogar kriminalisiert werden. Ein Mangel an oder eine Vermeidung von der offiziell richtigsten Art von Nicht-Arbeit findet sich in dominierter Orientierung. Diese Unterscheidung nach dem Kriterium der Legitimität von Nicht-Arbeit war mit der Etablierung einer sozial60 Im Austrofaschismus wurde die Organisation des Freiwilligen Arbeitsdienstes deutlich umstrukturiert. Unter anderem wurden als „Träger des Dienstes“ nur noch der Österreichische Arbeitsdienst als staatliche Einrichtung zugelassen, dessen Geschäftsführung vom Bundesminister für soziale Verwaltung geregelt war. 61 Burgenländisches Landesarchiv (BLA), Abt. B: Österr. FAD XII, Ansuchen, Industrielle Bezirkskommission für das Burgenland an die Lagerleitung des „Staatlichen Arbeitsdienstes“, 7.5.1934. Die Namen der Internierten/Teilnehmer/innen wurden abgekürzt und somit anonymisiert. 62 Ebd. 63 Vgl. dazu Wadauer, Immer nur Arbeit?, S. 235.

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staatlichen Verwaltung von legitimer Nicht-Arbeit notwendig. Das bedeutete nicht, dass eine Person mit illegitimierter Nicht-Arbeit nicht staatlich verwaltet wurde. Im Gegenteil, eine staatliche Verwaltung konnte in diesen Fällen – durch eine Internierung in eine Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalt – umfassend sein. Sie erfolgte aber nicht nach den Regeln einer sozialstaatlichen Verwaltung und war in einem deutlich geringeren Ausmaß formalisiert. Ob fehlende Arbeit delegitimiert wurde oder Tätigkeiten nicht als Arbeit anerkannt wurden, war damit auch zu einem großen Teil davon abhängig, wer die Verantwortlichen waren, die über Nicht-Arbeit zu urteilen hatten. Während Arbeits-/Arbeitslosenämter nach den Kriterien einer Unterstützungswürdigkeit suchten, formulierten unter anderem Richter und die Kommissionen für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten Kriterien illegitimer Nicht-Arbeit. Modalitäten mit dominierter Orientierung zeigen, dass Kriterien zur Erfassung illegitimer Nicht-Arbeit variierten und breit gefasst waren. Nicht ein konkret definiertes Problem, sondern eine Vielzahl von Problemen und Charakteristika einer Person wurde von zahlreichen unterschiedlichen Verantwortlichen erfasst und konnte Grund für eine Internierung in eine Anstalt sein. Die wichtigsten Modalitäten64 mit dominierter Orientierung sind die Überprüfung der Ehrlichkeit der Tätigkeiten, die Frage der „Arbeitsscheu“, der Alkoholkonsum, Krankheit, die Trennung von dem/der Partner/in, Verurteilungen oder auch „Gefährlichkeit“ (siehe Abbildung 1). Die so umfassend charakterisierte Person – und eben kein spezifisches Problem – sollte behandelt werden. Fehlende Arbeit wurde hier mit einem allgemein devianten Lebensstil in Verbindung gebracht, oder genauer: Fehlende Arbeit wurde hier nicht von persönlichen Charakteristika losgelöst betrachtet, sondern als Teil einer devianten Lebensform. Fehlende Arbeit bedeutete nicht unbedingt, dass die betroffenen Personen nichts für ihren Lebensunterhalt taten. Deren Tätigkeiten wurden aber von den Behörden und anderen Entscheidungsträgern wie Gerichten, Bürgermeistern usw. nicht als richtige Arbeit anerkannt. Umgekehrt bedeutete auch der Status der Arbeitslosigkeit nicht, dass Arbeitslose nicht auch für ihren Lebensunterhalt tätig waren, sondern nur, dass sie gegenüber dem Arbeitslosenamt offiziell keine Arbeit vorwiesen – sie arbeiteten etwa im Pfusch oder gingen Gelegenheitsarbeiten nach.65 Kriterien von fehlender oder nicht anerkannter Arbeit waren bei dominierter Orientierung deskriptiv und nicht messbar. Es galt nicht, ein spezifisches Problem zu lösen, sondern die ganze Person zu behandeln. Das bedeutete auch, 64 Sie sind am extremsten positioniert und liefern nach dem Ctr-Kriterium in der Dimension den höchsten Erklärungsbeitrag. 65 Vana, Gebrauchsweisen, S. 255.

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dass die Internierung in einer Zwangsarbeitsanstalt nicht nur einen Nutzen haben konnte (anders als bei Arbeitslosen, bei denen es vor allem um Unterstützung und Arbeitsbeschaffung ging). Wichtige Modalitäten mit dominierter Orientierung sind sowohl Besserung als auch Bestrafung (sowie Auswandern als Möglichkeit der Problemlösung). Das Ziel der Besserung war zwar in Hausordnungen und Gesetzestexten festgelegt, jedoch wiesen viele (vor allem männliche) Experten und Praktiker/innen darauf hin, dass Besserung nicht der einzige Sinn der Internierung war und sein sollte. Die Psychiater Bischoff und Lazar etwa, die im Auftrag der niederösterreichischen Landesregierung im Zuge von Reformüberlegungen Internierte in einer Zwangsarbeitsanstalt untersuchten, nannten in manchen Fällen als Funktion der Internierung eine „Anhaltung“, bei anderen eine „Unschädlichmachung“ oder „Pflege“. Alle diese Funktionen der Internierungen sahen sie als sinnvoll an.66 Es wurden also Erzählungen über Personen erzeugt, bei denen keine Verallgemeinerung eines Problems erfolgen und einer formalisierten Verwaltung zugeführt werden konnte. Probleme waren so nicht durch spezialisierte, einfache und einheitliche Interventionen zu lösen. Diese exemplarisch beschriebene Verbindung von Kriminalität, Medizin und Psychologie war typisch für den damaligen Umgang mit Devianz. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich ein Interesse an Kriminalität, das den/die Rechtsbrecher/in, nicht die Tat analysierte, wobei Kriminelle ein „moralisch-sittliches bzw. medizinisch-anthropologisches Anderssein“67 repräsentierten. Mit der Verwissenschaftlichung des Sozialen68 im 19. und 20. Jahrhundert wurden auch in Zwangsarbeitsanstalten, Besserungsanstalten und Arbeitshäusern zuerst Mediziner und Psychiater, dann Kriminologen und Psychologen immer wichtiger. Es zeigt sich aber, dass es hier nicht um eine reine Medikalisierung von Devianz ging. Neben Ärzten verhandelten Juristen, Praktiker/innen und vielen anderen Akteure über Internierungen. Wurde eine Person wegen Bettelei, Landstreicherei, Prostitution oder als arbeitsscheue/r Verbrecher/in verurteilt, konnte das Gericht die Zulässigkeit der Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt aussprechen. Daraufhin bestimmte die Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten der jeweiligen Landesregierung, ob der Verurteilte in eine Zwangsarbeitsanstalt abzugeben war. Dazu musste ein Arzt eine psychische und physische Eignung bestätigen.69 Gegen die Internierung konnte keine Berufung eingelegt werden, und den Zeitpunkt der Entlassung bestimmte wiederum die 66 67 68 69

Bischoff/Lazar, Untersuchungen, S. 100–101. Becker, Verderbnis, S. 16. Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 167. RGBl. 1885/90, § 6.

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Kommission der Landesregierung. Es intervenierten aber eine Vielzahl an Personen, um eine Einweisung oder eine Entlassung zu bewirken: die betroffene Person, Familienangehörige, Bürgermeister, Pfarrer, Rechtsanwälte und ehemalige sowie potenzielle Arbeitgeber/innen. Familienmitglieder oder die verwaltete Person holten ärztliche Gutachten ein. Internierte wurden entlassen, um in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert zu werden oder nach einer Internierung in einer Zwangsarbeitsanstalt in ein Gefängnis überstellt. Wichtigste Akteure mit dominierter Orientierung sind die Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten, die verwaltete Person, deren Familie, Rechtsanwalt, Ärzte, die Polizei, die Gefängnisdirektion und die Verwaltung der Zwangsarbeitsanstalt. Sie alle debattierten über den Sinn einer Internierung. Die Abwicklung des Verwaltungsfalles erfolgt also nicht durch einige wenige spezialisierte Akteur/innen. Die wichtigste70 Beobachtungseinheit ist Julius Fär. (Abbildung 1).71 Er wurde 1920 in die Zwangsarbeitsanstalt Korneuburg eingewiesen, nachdem er dreimal für insgesamt fast drei Jahre wegen Diebstahls, Betruges, Falschmeldung und Landstreicherei eingesperrt gewesen war. Die Internierung dauerte sechs Monate und war von Spitalsaufenthalten unterbrochen, da Fär. unter einem Leistenbruch litt. Gericht, Gefängnis, Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten sowie Krankenhaus waren im Verwaltungsprozess involviert und beteiligten sich auch an den Entscheidungen, ob Fär. in der Zwangsarbeitsanstalt festgesetzt respektive aus dieser entlassen werden sollte. Im Weiteren beteiligte sich ein Rechtsanwalt, der nicht nur an die Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten, sondern auch an das Justizministerium und an den Bundespräsidenten appellierte. Er berief sich auf ein psychiatrisches Gutachten, das Fär. als unzurechnungsfähig einstufte. So wurden also weitere Akteure in den Aushandlungsprozess involviert. Beschreibungen des Alkohol- und Drogenkonsums sowie seines Sexuallebens waren für Erwägungen über den Sinn einer Internierung ebenso von Relevanz wie die Fragen, ob die Einrichtung der Zwangsarbeitsanstalt Fär. bessern könne, wie er seinen Lebensunterhalt fürderhin bestreiten würde und ob er für seine Taten bereits ausreichend gebüßt habe. Besserung und Vergeltung wurden nicht als Widerspruch verstanden.

70 Gemessen am Ctr-Kriterium. 71 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), MA 255 A 1928 Zl. 1–1226, Karton 11, a–762/28 1928.

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Zweite Dimension: Sich Erhalten In der zweiten Dimension, also beim zweitwichtigsten Differenzierungs- und Kontrastprinzip des Untersuchungsgegenstandes, geht es um das Erhalten. Sich selbst und die Familie durch Erwerbsarbeit zu erhalten, konstituiert dessen legitimste Form. Dies zeigt sich daran, dass Beobachtungseinheiten und Modalitäten, die das erwerbstätige Selbsterhalten darstellen, in dominanter Orientierung am extremsten positioniert sind. Jene, die sich nicht selbst erhalten sollten oder konnten, wurden vom Staat erhalten. Beobachtungseinheiten und Modalitäten, die ein staatliches Erhalten-Werden beschreiben, sind in dominierter Orientierung am extremsten positioniert. Um das Baryzentrum liegen Positionen, in denen das Erhalten mit Hilfe des Staates gelang, aber nicht durch ihn.

Dominante Orientierung: Sich-selbst-Erhalten Modalitäten, die eine Erwerbsarbeit beschreiben, sind am extremsten und wichtigsten positioniert. Beobachtungseinheiten mit dominanter Orientierung sind sowohl Akten über Männer, die in Arbeitshäusern interniert waren, als auch Akten über arbeitslose Männer. Sich selbst zu erhalten, ist hier nicht von der Unterstützung durch den Staat oder die Familie abhängig. War die Person ohne Arbeit, litt sie Not, bis sie wieder eine Erwerbsarbeit aufnehmen konnte [Ursache Mangel Umwelt]. Um dies zu bewerkstelligen, bewarb sich die Person für konkrete Tätigkeiten. Sie richtete entsprechende Briefe sowohl an Arbeitgeber/innen außerhalb der Arbeitsbeschaffungseinrichtungen/Arbeitshäuser als auch an die Verwaltung der Arbeitsbeschaffungseinrichtungen/Arbeitshäuser selbst. [Briefe der Person in Maschinenschrift, Bezahlung in Arbeitseinrichtungen/Anstalten beschrieben – hier abgekürzt mit MN für Maßnahme, beschriebene Tätigkeit in der Maßnahme im Substantiv] (siehe Abbildung 2). Die Internierten und Arbeitslosen definierten dadurch mit, worum es bei den Maßnahmen ging, denn sie versuchten selbst zu beeinflussen, dass und was genau sie dort arbeiten würden. Durch die Schilderung der eigenen Erwerbstätigkeit und die Möglichkeit, sich und die Familie auch in Zukunft zu erhalten, wurde Verwaltung mitgestaltet.

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Abb. 2: Hilfsgrafik zweite Dimension. © S. H. Die Erläuterungen zu Abbildung 1 gelten mutatis mutandis auch für Abbildung 2.

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Der Zusammenhang zeigt sich am stärksten bei den Beobachtungseinheiten Herr Spiel.72 und Herr Haid.73 (siehe Abbildung 2); beide hatten um „Arbeit“ in der jeweiligen Einrichtung/Anstalt angesucht. Herr Spiel. bewarb sich 1934 um Arbeit in der Produktiven Arbeitslosenfürsorge, er wollte bei der Wildbachverbauung „in Arbeit treten“74. Um in der Wildbachverbauung zu arbeiten, ging er nicht (wie vorgesehen) zum Arbeitslosenamt, sondern bewarb sich direkt beim Lager der Produktiven Arbeitslosenfürsorge um Arbeit. Damit gestaltete Herr Spiel. die Einrichtung der Arbeitslosenfürsorge zur Arbeitgeberin auf dem regulären Arbeitsmarkt um. Es handelte sich in Herrn Spiel.s Verständnis eben nicht um eine Unterstützung durch das Arbeitsamt, bis er wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen konnte, sondern die Maßnahme war für ihn Arbeitgeberin, bei der man sich direkt bewerben konnte. Herr Haid. wurde 1933 im Arbeitshaus in Suben interniert. Auch Herr Haid. wandte sich während seiner Internierung von sich aus an die Verwaltung des Arbeitshauses, um Arbeit zu bekommen. Er hatte vor seiner Internierung in das Arbeitshaus als Zahntechniker praktiziert. Er wollte im Arbeitshaus „zahntechn. Arbeiten am Modell vornehmen, damit er seine Berufsfertigkeit nicht verliere“.75 Auch er begründete also sein Anliegen mit der Möglichkeit eines zukünftigen Erwerbs und versuchte somit, die Zeit der Internierung zu einem gewissen Grad für sich zu nutzen. Ähnlich wie Spiel. argumentierte auch Haid., dass er einen Erwerb für die eigene Existenz wie zur Versorgung der Familie benötige. So meinte Herr Haid., dass er, wenn er wieder eine „Stellung“ haben würde, sich „endlich eine ordentliche Existenz schaffen“ und sich „fleissig und ruhig eine ordentliche Zukunft aufbauen“ und für seine „2 Kinder sorgen“ könne.76 Je näher die Beobachtungseinheiten und Modalitäten am Baryzentrum liegen, umso weniger ging es um ein selbstständiges Erhalten (und eine Uminterpretation der Einrichtungen als Arbeitgeber/innen), sondern um staatliche Unterstützung zum Selbsterhalt. Erwerbstätig zu sein implizierte eine bestimmte Stellung zum Staat: Wenn eine Person sich nicht selbst erhalten konnte, unterstützte der Staat, bis dies wieder möglich war. In den Beobachtungseinheiten und Modalitäten nahe dem Baryzentrum erfolgte eine Unterstützung sowohl

72 TLA (Tiroler Landesarchiv), Amt der Tiroler Landesregierung, Abt. 1b, XXXV–182, StZl. 1882 aus 1934. 73 ÖStA (Österreichisches Staatsarchiv), AVA (Allgemeines Verwaltungsarchiv), Justiz, Justizministerium (1849–1939), Arbeitshäuser Allgemein, Karton 4231, Grundzahl 49971/33. 74 Ebd., Herr Spiel. an die Landeshauptmannschaft Abt. 1b Innsbruck, 18.7.1934. 75 ÖStA, AVA, Justiz, Justizministerium (1849–1939), Arbeitshäuser Allgemein, Karton 4231, Grundzahl 49971/33, Aktennotiz, Zl. 59.433/34. 76 Ebd., Brief von Josef Haid. an die Strafvollzugskommission, 13.7.1934.

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mittels Arbeitsvermittlung als auch finanziell. In diesen Fällen präsentierten sich die Personen entsprechend den Erfordernissen der Verwaltung. Um unterstützt zu werden, war eine Anerkennung als Arbeitslose/r nötig. Dabei zählten vor allem Beschreibungen der Arbeitsfähigkeit und -willigkeit sowie die Betonung, mittellos und auf Unterstützung angewiesen zu sein, um sich und die eigene Familie zu versorgen. All dies sind im Arbeitslosenversicherungsgesetz festgelegte Kriterien für die Unterstützung bzw. Zuweisung zur Produktiven Arbeitslosenfürsorge oder zum Freiwilligen Arbeitsdienst. Auch im Fall einer (drohenden) Internierung in Zwangsarbeitsanstalten und Arbeitshäusern war es für die Internierten wichtig, die Verwaltung davon zu überzeugen, dass sie nicht arbeitsscheu, sondern arbeitslos seien und so Anspruch auf Unterstützung hätten, anstelle kriminalisiert zu werden.

Dominierte Orientierung: Sich nicht erhalten können oder sollen Im stärksten Kontrast zum legitimen Erhalt durch Erwerbsarbeit konnten sich Personen in dieser Orientierung nicht selbst erhalten oder sollten sich nicht selbst erhalten. Letzteres betraf vor allem Frauen und weibliche Jugendliche. Sie waren zu krank bzw. galten als zu krank, um sich selbst zu erhalten oder wurden verdächtigt, einem unredlichen Erwerb nachzugehen. Hier ging es vor allem um Prostitution. Solcherart Tätigkeiten zum Erwerb des Lebensunterhaltes wurden von den Behörden nicht als Arbeit anerkannt [ArbeitNA], sondern galten als moralische Verfehlung, weshalb die Betroffenen in Zwangsarbeitsoder Besserungsanstalten gebessert werden sollten. Darstellungen einer Unfähigkeit oder Unmöglichkeit des selbstständigen Erhaltens waren keine Selbstbeschreibungen der verwalteten Personen. Andere attestierten dem sogenannten Zwängling oder dem Korrigenden/der Korrigendin eine Unfähigkeit oder Unwilligkeit, für sich (auf richtige Weise) zu sorgen. Charakteristika und Probleme der Person wurden in dieser Orientierung nicht – wie in der dominanten Orientierung – durch sie selbst [PersonNo, Briefe PersonNo], sondern durch die Verantwortlichen der Anstaltsverwaltung, auch durch die Polizei und das Gericht oder, in den neutraleren Positionen, durch die Familie dargestellt. So wurde etwa eine Notlage durch ein Armutszeugnis, Krankheit durch ärztliche Diagnosen und ein unredlicher Erwerb durch Verurteilungen [Urteil Prostitution] belegt. Probleme wurden von anderen diagnostiziert und einer Behandlung zugeführt (siehe Abbildung 2).

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In diesen Darstellungen, in denen Beschreibungen von Arbeit für die Charakterisierung der Verwalteten vermieden wurden, waren die Anstalten keine Anstalten, die den Zweck hatten, die internierten Personen zur Arbeit zu zwingen – sie durch Arbeit „zu bessern“ oder sie an diese zu „gewöhnen“. Sie waren vor allem Kontroll- und Versorgungseinrichtungen. Welche Funktion diese Anstalten hatten, war also wesentlich davon abhängig, wer sich wie am konkreten Internierungsprozess beteiligte und beteiligen konnte. Selbst von Zwangsarbeitsanstalten konnte demnach unterschiedlicher Gebrauch gemacht werden. Während in den extremen Positionen die betroffenen Personen in einer Anstalt durch den Staat erhalten wurden, finden sich in zentraleren Positionen Entlassungen aus der Anstalt, um die betroffenen Personen in ihren Familien unterzubringen [Prognose Lebensunterhalt mit Familie]. In diesem Zusammenhang wurden Tätigkeiten im Haushalt thematisiert. Diese Tätigkeiten wurden aber auch hier nicht als „Arbeit“ bezeichnet, sie galten als Mithilfe in der Familie, die eng mit der Funktion der Erziehung verbunden war. Diese Fälle betrafen 14- bis 18-Jährige, die vor allem wegen Landstreicherei verurteilt wurden, in Wien zuständig waren und die über ein familiales Netzwerk verfügten. Hier zeigten sich Reformbestrebungen, die den Erziehungscharakter von Anstalten betonten, sowie den Verbleib der Jugendlichen in den Familien beförderten. Für den Untersuchungsgegenstand ist besonders das Jugendgerichtsgesetz von Bedeutung [Jugendgericht]. Die Implementierung dieses Gesetzes wertete die Familie als Erziehungsinstanz auf, wobei gleichzeitig die jeweilige Familie den Vorstellungen des Gerichtes entsprechen musste. Verurteilte Jugendliche konnten in der Familie bleiben, „wenn zu erwarten ist, daß die Zuchtberechtigten von ihrem Recht auf verständige und wirksame Art Gebrauch machen werden“.77 Dies unterschied sich von den vorangegangenen Regulierungen, in denen eine gerichtliche Verurteilung Grund genug war, um in eine Besserungsanstalt verbracht zu werden.78 Denn die „von Unmündigen begangen Rechtsbrüche“, so die Polizeidirektion an das Bundeskanzleramt in ihrer Stellungnahme zum Bundesgesetz junger Rechtsbrecher im Jahr 1926, „sind im allgemeinen der häuslichen Erziehung, in Ermangelung dieser oder der Notwendigkeit einer heilpädagogischen Behandlung der Vorkehrung des Jugendgerichtes überlassen“.79 Das Jugendgerichtsgesetz galt österreichweit. Das „Rote Wien“ war aber

77 Bundesgesetz vom 18. Juli 1928 über die Behandlung junger Rechtsbrecher (Jugendgerichtsgesetz), BGBl. 1928/234, § 12 (2). 78 RGBl. 1885/89, § 8. 79 ÖStA, AdR, BKA Inneres, 20/4 1918–1928, Karton 4277, Grundzahl 111334–9/26, Polizeidirektion an das Bundeskanzleramt (Inneres), 17.7.1926.

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Vorreiter in diesen Fragen80, wodurch der Zusammenhang der Unterbringung in der Familie und der Heimatzuständigkeit in Wien, der sich in der dominierten Orientierung zeigt, zu erklären ist [GerWienZul=ein Wiener Gericht sprach die Zulässigkeit der Abgabe in eine Besserungs- oder Zwangsarbeitsanstalt aus]. Wichtigste Beobachtungseinheit mit dominierter Orientierung ist Marie Neul.81 (siehe Abbildung 2). Sie wurde wegen Prostitution, Landstreicherei, Falschmeldung und verbotener Rückkehr (nachdem sie mit einem Aufenthaltsverbot für Wien und Niederösterreich belegt, also „abgeschafft“ worden war) verurteilt und 1921 mit 17 Jahren in der Wiener Besserungsanstalt Eggenburg interniert. Eine Stellungnahme von Marie Neul., etwa eine Berufung beim Gericht oder ein Bittgesuch gegenüber der Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten (hier war keine Berufung mehr möglich), ist im Akt nicht vorhanden. Eine Bitte um Entlassung erfolgte durch ihre Mutter, die argumentierte, dass sie ihre Tochter dringend „benötige“: „laut ärztlichem Zeugnis arbeitsunfähig muß ich mich durch Bettgeher mühsam fortbringen, dasselbe allein aber nimmer bewältigen kann“.82 Sie übernehme dabei für Marie „jede Verantwortung“83. Bei den Tätigkeiten, die Marie nach ihrer Entlassung zu übernehmen hätte, ging es um den Lebensunterhalt der Mutter und nicht um jenen von Marie. Im Unterschied zur Erwerbsarbeit in der dominanten Orientierung, wurden die von ihr erwarteten Tätigkeiten als Mithilfe verstanden und nicht als eigener Erwerb. Die Forderung nach Unterstützung durch die Tochter ging mit dem Versprechen einher, „jede Verantwortung“ für diese zu übernehmen. Es ging also um eine Übernahme der Marie vom Anstaltshaushalt in den Familienhaushalt. Dies funktionierte nicht ohne weiteres, denn auch Maries Mutter war Objekt staatlicher Überprüfung und Kontrolle: Die Bitte um Entlassung wurde durch die Gendarmerie geprüft. Die Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten des Wiener Magistrates machte die Entlassungsbewilligung von der Frage abhängig, ob eine „wirksame Beaufsichtigung der Tochter“84 möglich war. Zunächst wurde eine Entlassung unter der Bedingung der Schutzaufsicht vorgeschlagen – also der Weiterführung der staatlichen Kontrolle, die im Falle von 14- bis 18-Jährigen durch die Jugendgerichtshilfe ausgeführt wurde.85 Nach

80 Sieder/Smioski, Kindheit, S. 25–34. 81 WStLA, MA 255 A 1922 Zl. 602 bis 1294, MAbt 55/818 a/1921. 82 Ebd., Gesuch der Mutter, 9.8.1922. 83 Ebd. 84 Ebd., MAbt 55 als politische Landesbehörde, 29.9.1922. 85 Vollzugsanweisung der Staatsämter für Justiz, für Inneres und Unterricht und für soziale Verwaltung im Einvernehmen mit dem Staatsamte für Finanzen vom 23. August 1920 zur Durchführung des Gesetzes über die bedingte Verurteilung, StGBl. 1920/438.

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einem negativen Bericht der Gendarmerie über die familiären Verhältnisse und die erzieherischen Bedingungen erfolgte eine Ablehnung des Gesuches.

Der Raum der Verwaltung von Nicht-Arbeit in den Anfängen des Sozialstaats Die beiden wichtigsten Dimensionen – Nicht-Arbeit und Sich-selbst-Erhalten – werden nun zusammen behandelt. Die Punkte der Modalitäten und Beobachtungseinheiten sind somit zweidimensional – das heißt gleichzeitig über ihren primären Bezug zu Nicht-Arbeit und den sekundären Bezug auf Sich-selbst-Erhalten – definiert. Dadurch entsteht die primäre Fläche. Die erste Dimension wird durch die horizontale Achse, die zweite Dimension durch die vertikale Achse dargestellt (Abbildung 3).86 Im Folgenden werden die Diagonalen der primären Fläche beschrieben. Diese vier Orientierungen sind: Anspruch auf Leistungen des Sozialstaats (Dominanz), Selbsterhalter (Skepsis), zu Bessernde (Dominiertheit) und Jugendfürsorge (Prätention). Bei diesen Orientierungen geht es jeweils um spezifische Positionen zum Sozialstaat. Das wichtigste Prinzip der Nicht-Arbeit und das zweitwichtigste des Erhaltens wirken gemeinsam und machen (in erster und zweiter Linie) die Interessen und Konflikte aus, die staatliche Akteure und verwaltete Personen jeweils haben.

Dominante Orientierung: Anspruch auf Leistungen des Sozialstaats In der dominanten Flächenorientierung, also bei simultanem positivem Bezug auf Nicht-Arbeit als soziales Problem und Sich-selbst-Erhalten (siehe Abbildung 3), geht es um die Frage, wer aufgrund seiner/ihrer Nicht-Arbeit Anspruch auf Sozialleistungen hatte. Es handelt sich hier um Gesuche für den Eintritt in die Produktive Arbeitslosenfürsorge und in den Freiwilligen Arbeitsdienst. Personen beantragten als Arbeitslose Zuweisungen zur Arbeit und Unterstützung durch die Arbeits-/Arbeitslosenämter. Dies begründeten sie damit, dass sie bereits gearbeitet hatten und durch Arbeit ihre Kinder versorgen mussten. Weiters gaben sie an, von staatli-

86 Die ersten beiden Dimensionen erfassen gemeinsam 29% der Gesamtvarianz.

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chen Leistungen abhängig zu sein, da sie keine Unterstützung von anderen erhielten und auch nicht von der Mildtätigkeit anderer abhängig sein wollten. Dies geschah nicht als Bittgesuch, sondern weil sich die arbeitslose Person als anspruchsberechtigt verstand. Es wurden hier Ansprüche eingefordert, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Unterstützung und Zuweisung zu einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in dieser Orientierung nicht erfüllt wurden. In dominanter Orientierung finden sich Akten zu Personen, die gegenüber dem Arbeitslosenamt Ansprüche auf Unterstützung erhoben, die per Gesetz (vor allem da sie nicht in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gearbeitet hatten) keinen gesetzlichen Anspruch auf Leistungen nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz hatten. So beeinspruchte Herr Stahl.87 etwa einen negativen Bescheid seines Antrages auf Unterstützung durch das Arbeitslosenamt und schrieb: da ich wie es aus dem beim Aa. [Arbeitslosenamt, Anm. S. H.] erliegenden arbeitgeber Bestätigungen u. Urkunden ersichtlich ist, das ich schon vor meinem Schulaustrit in meinem Gewerbe tätig war u. seit 1923–28 (selbständig) wie aus dem bereits beim Aa. aufliegenden Akten ersichtlich war ich arbeitswillig, wen ich schon nicht unterstützt werde so klaube ich doch auf arbeit berechtigt zu sein.88

Herr Stahl. begründete den Anspruch auf staatliche Hilfe (auf eine Vermittlung in den Freiwilligen Arbeitsdienst) mit einer langjährigen und kontinuierlichen Erwerbsarbeit. Arbeit diente hier als Legitimation. Als arbeitslos konnte gelten, wer zuvor längere Zeit in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden hatte. Arbeitslosigkeit implizierte Festlegungen darüber, was eine richtige Arbeit war. Personen mit unregelmäßigen Erwerbstätigkeiten galten im Falle der Nicht-Arbeit selten als arbeitslos.89 (Die Arbeitslosenversicherung betraf aber nicht alle Arbeitsverhältnisse. Hausgehilfinnen, Knechte, Mägde und Beschäftigte in Betrieben von nahen Familienangehörigen waren aus der Arbeitslosenversicherung generell ausgeschlossen.90) In enger Verbindung mit Erwerbsarbeit als Begründung für Ansprüche stand die Versorgung der Familie. Ebenso wie Herr Stahl. wähnte sich Herr Zwit.91 berechtigt, Arbeitslosenunterstützung zu erhalten, da er lange erwerbstätig 87 Die Beobachtungseinheit erklärt nach dem cos² die Struktur der Wolke überdurchschnittlich gut (cos²=0,204 bei einem durchschnittlichen Wert des cos² für die Beobachtungseinheiten von 0,106) und liegt am nächsten zur Diagonale. 88 BLA, Österr. FAD XIII. 89 Vana, Berufskonzepte, S. 38–39. 90 Ebd. 91 Die Beobachtungseinheit weist ein zweifach überdurchschnittliches cos² (cos²=0,238) auf und liegt nahe der Diagonale.

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Abb. 3_1: Primäre Fläche. © S. H. Die erste Dimension wird durch die horizontale Achse, die zweite Dimension durch die vertikale Achse dargestellt. Hier sind nur jene Punkte abgebildet, die ein überdurchschnittliches cos² aufweisen. Fett markiert bedeutet viermal überdurchschnittliches cos², unterstrichen bedeutet dreimal überdurchschnittliches cos², kursiv bedeutet doppelt überdurchschnittliches cos².

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Abb. 3_2

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gewesen war und für seine Familie zu sorgen hatte. Als er diese nicht bekam, richtete er eine Beschwerde an das Ministerium für soziale Verwaltung. Er schrieb: Seit der Zugehörigkeit des Burgenlandes zu Österreich habe ich immer bei der Telegraphen-BauSekt. Klagenfurt gearbeitet und jetzt stehe ich auf einmal ohne Unterstützung und ohne Anspruch auf eine Arbeit und ohne jedweden Mitteln, auf die Mildtätigkeit anderer angewiesen, da. Bitte daher mir eine Unterstützung oder eine Zuweisung auf eine Arbeit zu bewilligen.92

Hier erfolgte eine Berufung auf eine (gesetzlich verankerte, aber eben in diesem Fall nicht zutreffende) Privilegierung von Familienerhaltern. Jene, die „für die Erhaltung einer Familie zu sorgen haben“, erhielten eine höhere Arbeitslosenunterstützung.93 „Familienerhalter“ wurden weiters bei der Zuweisung zur Produktiven Arbeitslosenfürsorge bevorzugt,94 dass es dabei um Männer ging, zeigt sich etwa daran, dass die Arbeitslosenunterstützung für Frauen restriktiver gehandhabt wurde.95 Die Forcierung männlicher Familienerhalter wurde im Doppelverdienergesetz besonders deutlich: Demgemäß konnten Frauen ihren Arbeitsplatz im Bundesdienst verlieren, wenn ihre Ehemänner erwerbstätig waren.96 In diesen Aushandlungen von Ansprüchen auf staatliche Leistungen offenbart sich eine neue Haltung der Bürger (eher als der Bürgerinnen) gegenüber dem Staat. Mit den Sozialversicherungen gingen „einklagbare Leistungsansprüche“97 einher, die eng an Lohnarbeit gebunden waren. In der „alten“ Armenfürsorge stand Armen kein „unbedingtes Recht“ auf Unterstützung zu.98 In den Versicherungen musste eben nicht über die Unterstützungswürdigkeit durch die Geldgeber/innen geurteilt werden (wenngleich die Frage nach der Arbeitswilligkeit bestehen blieb). Wie sich hier aber zeigt, gingen die Forderungen über einklagbare Leistungsansprüche hinaus. Es ging nicht nur um die Geltendmachung von rechtlichen Zusicherungen. Herr Zwit. und Herr Stahl. konnten nicht einfach Arbeitslosenunterstützung beantragen, aber sie konnten sich auf 92 BLA, Abt. B: Landesforschungsarchiv Österr. FAD, Österr. FAD XII VII–XIII, XIII FAD Div. Ansuchen, Zl. 45.373–PAF/1934, Michael Zwit. an das Ministerium für soziale Verwaltung (Abschrift), 10.5.1934. 93 StGBl. 1920/153, § 9 (1). 94 BGBl 1922/534, § 29 (3). 95 Stiefel, Arbeitsmarktpolitik, S. 93–94. 96 Verordnung der Bundesregierung vom 15. Dezember 1933 über den Abbau verheirateter weiblicher Personen im Bundesdienste und andere dienstliche Maßnahmen, BGBl. 1933/545. 97 Melinz, Armenfürsorge, S. 93. 98 Ebd., S. 145.

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allgemein akzeptierte Werte beziehen, um Ansprüche zu erheben. Diese waren Erwerbstätigkeit und Arbeitswilligkeit, die sich an vorangegangener Erwerbstätigkeit, Arbeitssuche und dem Erhalten der Familie festmachen ließen.

Abb. 4: Zoom der primären Fläche. © S. H. Erläuterungen zur Abbildung siehe Abbildung 3.

Skepsis: Selbsterhalter Modalitäten und Beobachtungseinheiten in der skeptischen Orientierung werden durch das Dominiert-Sein in der ersten Dimension (Nicht-Arbeit als moralisches Problem) bei gleichzeitiger Dominanz in der zweiten Dimension (sichselbst-erhalten) bestimmt (siehe Abbildung 3). Anders als in der zuvor besprochenen Orientierung war weder eindeutig, dass Tätigkeiten für den Lebensunterhalt Erwerbstätigkeiten waren, noch dass sie es nicht waren. In dieser Orientierung bauten sich Personen selbst ihre Erwerbstätigkeiten auf, unter Anwendung teilweise illegaler oder zumindest nicht angesehener Methoden. Sie wurden beispielsweise wegen Betruges verurteilt und im Anschluss in eine Zwangsarbeitsanstalt oder ein Arbeitshaus gebracht. Dennoch waren Faktoren wie Bildung, Aufstieg und die Qualität ihrer Arbeit relevant. Arbeit war für die hier beschriebenen Personen wichtig, aber deren Tätigkeiten gerieten mit den

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herrschenden Vorstellungen, wie Arbeit zu sein hatte, in Konflikt [ArbeitAufstiegThema, gut arbeitend, höhSchul]. Folglich wurden sie von sozialstaatlichen Unterstützungen ausgeschlossen, stattdessen zunächst inhaftiert und dann in Zwangsarbeitsanstalten oder Arbeitshäuser interniert. Die internierten Personen selbst wollten oder konnten sich wiederum nicht den Erfordernissen einer „richtigen“ – also im Sozialstaat anerkannten und unterstützten – Erwerbsarbeit anpassen, sondern verteidigten ihren eigenen Weg. Sie stellten keine Forderungen an den Sozialstaat, sondern wollten von ihm in Ruhe gelassen werden. Das macht die Orientierung der Skepsis aus. Staatliche Akteure sanktionierten hier (durch Internierungen in Zwangsarbeitsanstalten und vor allem Arbeitshäuser) wiederum fehlende Anpassung an sozialstaatliche Forderungen. Die Beobachtungseinheit, die diese Orientierung am deutlichsten repräsentiert, ist der schon eindimensional beschriebene Herr Haid.99 Herr Haid. war Zahntechniker, der seine langjährige Erfahrung und seinen Arbeitseifer betonte und damit legitime Kriterien von Erwerbsarbeit vorbrachte. Die Mittel, um seine Praxis aufzubauen, erlangte er aber durch Betrug. Die erforderlichen Mittel borgte er sich aus, ohne sie zurückzuzahlen, und er verfügte nicht über eine Genehmigung, in Österreich als Zahntechniker überhaupt tätig zu sein. Folglich wurde er wegen Betruges inhaftiert und anschließend im Arbeitshaus interniert. Bei seinen Versuchen, aus dem Arbeitshaus entlassen zu werden, gelobte er keine Besserung. Er suchte auch nicht um (staatliche) Unterstützung an, um sich legitim erhalten zu können. Im Gegenteil verteidigte er die Art und Weise seiner Erwerbstätigkeiten und nutzte sie als Argument, um aus dem Arbeitshaus entlassen zu werden.

Dominierte Orientierung: Zu Bessernde Diese Orientierung ist doppelt dominiert. Modalitäten und Beobachtungseinheiten sind zweidimensional zum einen durch Nicht-Arbeit als eben nicht soziales Problem und zum anderen das Erhalten werden bestimmt. In diesen Fällen sollten sozialstaatliche Maßnahmen nicht greifen. In den untersuchten Fällen kam es zu Internierungen in Zwangsarbeitsanstalten und Psychiatrien. Diese Festsetzungen stellten keinen Anachronismus dar, sondern die gesetzten Maßnahmen sollten die Betroffenen zum Gegenpol der durch sozialstaatliche Maßnahmen 99 ÖStA, AVA, Justiz, Justizministerium (1849–1939), Arbeitshäuser Allgemein, Karton 4231, Grundzahl 49971/33. In der zweiten Dimension hat die Beobachtungseinheit das höchste Ctr, in der skeptischen Orientierung der primären Fläche das höchste cos² (cos²=0,335 bei einem durchschnittlichen Wert von 0,106).

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abzusichernden Arbeitslosen erklären. So waren Internierte im Kontrast zu Arbeitslosen (sie bilden auf der Diagonale den direkten Kontrast) nicht mit Arbeit zu unterstützen, sondern allgemein (und eben nicht durch Arbeit) zu bessern. Ziel war nicht eine Integration in den Arbeitsmarkt, sondern in die Familie. Dies geschah, indem Personen nicht als arbeitend und arbeitsfähig beschrieben wurden, sondern als krank, als moralisch deviant und als zu bessernd. In der Folge waren sie nicht Bürger/innen mit Rechten und Ansprüchen. Sie verloren ihre Rechte auf gerichtliche Berufung (sie hatten kein Einspruchsrecht gegen Internierungen) und hatten keinen Anspruch auf Unterstützung. Lebensunterhalte wurden hier entweder als Verurteilungen [u. a. UrtLandstreicherei, UrtDiebstahl] oder als „Mithilfe“ [helfen] beschrieben. Beides verwies auf etwas anderes als den Erwerb des Lebensunterhaltes (siehe Abbildung 4). Diebstahl und Landstreicherei wurden als das „Vermeiden eines redlichen Unterhalts“ interpretiert.100 Die Beschreibung einer Mithilfe stand hier nicht für den Erwerb eines Lebensunterhaltes, sondern war Indikator eines allgemeinen Verhaltens [Verhalten außerhalb der Anstalt beschrieben durch Familie sowie durch Anstalt und Landesregierung] und gab so z. B. Aufschluss darüber, ob und in welchem Ausmaß eine Person deviant war und wie folglich mit ihr zu verfahren wäre. Von der verwalteten Person wurde per se keine wirtschaftliche Selbstständigkeit in Form von Erwerbsarbeit erwartet. Aufgrund ihres Vorlebens, Alters und Geschlechts sollte sie nicht durch Erwerbsarbeit gebessert, sondern zu redlichem Leben in einem familiären Zusammenhang erzogen werden. Aufgrund dieser Zuschreibungen wurden Praktiken zum Erwerb des Lebensunterhaltes, anders als bei Arbeitslosen, per Gesetz nicht mit Ansprüchen an den Staat verbunden. Stattdessen wurde nach der Notwendigkeit einer Bevormundung gefragt. Mathilde Sta.101 ist in der primären Fläche am eindeutigsten dominiert orientiert. Sie wurde wegen Landstreicherei und Bettelns verurteilt und 1926 in der Zwangsarbeitsanstalt Lankowitz (in der Steiermark) interniert. Der Bürgermeister der Heimatgemeinde äußerte sich folgendermaßen zu Frau Sta.: „Seit einem Jahr hat sie sich auf einen festen Haushalt besser eingelebt, zeigt grosses Mitgefühl für ihren kränklichen Gatten, arbeitet mit ihm am Steinbruch mit, hat dabei ihren Haushalt in bester Ordnung und ist überhaupt

100 RGBl. 1885/89, § 1. 101 Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA): Landesregistratur, XI, Karton 603 89 LA V1 LAVII4 1926, St. Zl. 384. Die Beobachtungseinheit hat kein überdurchschnittlich hohes cos² (cos²=0,044), es finden sich in dieser Orientierung keine Beobachtungseinheiten mit einem überdurchschnittlichen Wert. Die Beobachtungseinheit beschreibt nach den Kriterien des cos² und der Nähe zur Diagonale am besten die Orientierung.

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ein Lebenswandel zum Guten eingetreten.“102 Die hier beschriebenen Tätigkeiten sollten vor allem Aufschluss über Sta.s Devianz und ihr Verhalten im Allgemeinen geben. Die Tätigkeiten im Steinbruch und im Haushalt stellten ebenso wie ihr „Mitgefühl“ und der stetige Aufenthalt an einem Ort Indikatoren für ein allgemein verstandenes Verhalten dar. Weitere Kriterien der Bewertung von Devianz waren physische und psychische Krankheiten, schlechter Umgang [Bekannte verleiten] und Alkohol- und Drogenkonsum (siehe Abbildung 4). Anders als bei einer fraglichen Arbeitsfähigkeit im Fall von Arbeitslosen, in der sich Krankheit und die Möglichkeit zu arbeiten ausschlossen, schlossen hier physische und psychische Erkrankungen teils eine Internierung in einer Zwangsarbeitsanstalt aus, teils waren sie mit ausschlaggebend für die Internierung. So lieferte bei Frau Sta. die Diagnose einer Epilepsie die Begründung für eine Internierung. Ein Amtsarzt, der eine Eignung zur Anhaltung attestierte, schrieb, dass sie gerade wegen ihrer Erkrankung geeignet sei, nachdem die Anfälle selten wären und außerdem eine Linderung der Krankheit durch die Anhaltung zu erwarten sei – denn: „Eine konsequente Lebensführung kann das Leiden bessern.“103 Als unredlich erwerbend, als krank und deviant, also als aus moralischen und physischen Gründen nicht in den Arbeitsmarkt integrierbar wurden hier Personen vom Staat als zu Erhaltende und nicht als mündige Staatsbürger/innen mit Rechten und Ansprüchen kategorisiert. Dies bestimmte wesentlich die Handlungsmöglichkeiten der Personen im Verwaltungsprozess. Beschwerden oder Versuche, die eigene Lage zu verbessern, wurden in dieser Orientierung als Beleg devianten Verhaltens gewertet. Dies belegt eine der wichtigsten Beobachtungseinheiten nahe der Diagonale: Frau Paula Eic.104 hatte Vorstrafen wegen Landstreicherei, Bettelns und Eigentumsdelikten und wurde 1926 aufgrund einer Verurteilung wegen öffentlicher Gewalttätigkeit, schwerer Körperverletzung und Landstreicherei zu einem Jahr schweren Kerkers verurteilt. In diesem Urteil wurde die Zulässigkeit der Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt ausgesprochen. Die Internierung erfolgte in der Zwangsarbeitsanstalt Wiener Neudorf. Da die Anstalt angab, mit der Frau überfordert zu sein, wurde sie in die Psychiatrie eingeliefert. Dort protokollierte ein Arzt:

102 Ebd., Ausfertigung des Bürgermeisters der Heimatgemeinde, 23.2.1926. 103 Ebd., Amtsarzt an Landesamt, 27.11.1925. 104 NÖLA, Landesregistratur, XI, Karton 608 94 LAV1 LAVII4 1928 XI 351–900, StZl. 470. Auch diese hat – wie alle anderen Beobachtungseinheiten in dieser Orientierung – ein unterdurchschnittliches cos² (cos²=0,075).

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Sie würde ruhig auch zwei Jahre in Landesgericht gehen, nur nach Wr. Neudorf [Zwangsarbeitsanstalt Wiener Neudorf, Anm. S. H.] wolle sie auf keinen Fall mehr, zu den ‚Schwarzen‘ (Klosterschwestern), wenn man sie hinbringe, werde dieselbe Geschichte wieder losgehen. Die Behandlung dort sei ‚niederträchtig‘. […] Pat gibt schließlich zu, daß sie alles nur gemacht habe, um von dort wegzukommen. […] Anzeichen irgendeiner Geistesstörung sind nicht erkennbar.105

Der Wunsch nach Entlassung konnte nicht in einem offiziellen Antrag formuliert werden. Der Versuch Eic.s, der Zwangsarbeitsanstalt zu entkommen, wurde letztlich wieder gegen sie gewendet. Der Wunsch nach Entlassung wurde nicht als solcher behandelt, sondern sollte Aufschluss über ihr Verhalten geben. Die Verwalteten konnten sich hier nicht auf behördlich vorgesehene Weise (z. B. durch ein Ansuchen) einbringen, sondern nur durch Flucht und anderes widerständiges Verhalten in der Anstalt. Durch diese Formen des Widerstandes setzten die Personen ihre Forderungen jedoch nicht durch. Die Fluchtversuche scheiterten meistens und die Betroffenen wurden noch stärker als zuvor entmündigt. Während eine aktive Teilnahme der verwalteten Person tendenziell aus dem behördlich reglementierten Verwaltungsprozess ausgeschlossen wurde, bestand hingegen große Offenheit der Behörden gegenüber Meinungen unterschiedlichster Ärzte, der Polizei, anderen Entscheidungsträger/innen (Bürgermeister) oder Familienmitgliedern usw. Es scheint, dass gerade diese Offenheit gegenüber vielfältigen Interpretationen einen umfassenderen Zugriff auf die verwaltete Person ermöglichte. Die Inklusion von Sichtweisen der Besserung, der Sicherung, der Verwahrung von Kranken oder der Heilung schuf die Basis dafür, eine umfassende Kontrolle über die Person in der Anstalt auszuüben.

Prätention: Jugendfürsorge Die prätentiöse Orientierung ist dominant in Bezug auf die erste Dimension der Nicht-Arbeit und dominiert in Bezug auf das Erhalten-Werden. Sie wird in der Punktwolke nur unzureichend dargestellt, die Modalitäten nehmen eher neutrale Positionen ein. Sieht man sich die Punkte an, die ein überdurchschnittlich wichtiges cos² aufweisen und weiter weg vom Nullpunkt liegen, handelt es sich um das Wort Erziehungsanstalt und um eine Beobachtungseinheit, nämlich Viktor Spe., in der das Jugendamt eine wichtige Rolle spielte. Die Bezeichnungen als Erziehungsanstalten fanden zeitgleich mit den Bezeichnungen als Besserungsanstalten statt. Die zeitgenössische Verwendung des Begriffes von Erzie-

105 Ebd., Wiener Allgemeines Krankenhaus, Abschrift Krankengeschichte, 30.1.1925.

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hungsanstalten zeigten (oftmals) Reformen oder einen Reformwillen auf. Weitere Modalitäten sind keine Beschreibungen über einen vorhandenen Partner und keine Beschreibungen über vorhandene Kinder (siehe Abbildung 3). All dies deutet an, dass es in dieser Orientierung um die sich herausbildende Jugendfürsorge als eigenständigem Interventionsfeld der Sozialverwaltung geht. Hier griffen sozialstaatliche Maßnahmen, da Jugendliche dazu erzogen werden sollten, sich in Zukunft durch Erwerbsarbeit selbst zu erhalten. Die Orientierung der primären Fläche ist prätentiös. Das bedeutet, dass die Verbindung einer Orientierung auf legitime Nicht-Arbeit und Erhalten-Werden trotz Dominanz Schwächen zeigt. Dies lässt sich aus den ambivalenten Einschätzungen von Jugend als neuer sozialer Kategorie106 generell und „verwahrloster“ Jugend im Speziellen erklären. Zum einen war neu, dass Jugend immer mehr als eigenständige Lebensphase verstanden wurde, in der die Jugendlichen auszubilden und zu erziehen waren. Jugend konnte also als eine legitime Phase der Nicht-Erwerbsarbeit verstanden werden. Die Erziehung der Jugendlichen, wie sie in Besserungsanstalten oder dem Freiwilligen Arbeitsdienst praktiziert wurde, bedeutete aber nicht nur Förderung, sondern auch Kontrolle einer gefährdeten und potenziell gefährlichen Alterskohorte. Dies wurde von zeitgenössischen Expert/innen unter dem Schlagwort der Verwahrlosung der Jugend zusammengefasst.107 Im Unterschied zur dominierten Orientierung, in der viele Akteure – vor allem die Polizei, Richter, Anstaltsdirektor/innen, Ärzte und Familie – über die Person entschieden, setzten sich hier wenige Akteure mit spezifischen Vorstellungen durch. Eigene Einrichtungen wie das Jugendgericht und das Jugendamt sollten sich mit einer spezifisch zu behandelnden Altersgruppe mit spezifischen Problemen auseinandersetzen. Ähnlich wie bei der Dominiertheit kamen auch in der Orientierung der Prätention die verwalteten Personen selber nicht zu Wort. Hier zeigt sich, wie bei der dominierten Orientierung der zu Bessernden, dass jene, die als zu erhaltend galten, es deutlich schwerer hatten, Verwaltung mitzubestimmen. Die wichtigste Beobachtungseinheit dieser Orientierung ist der Akt über Viktor Spe.108 (siehe Abbildung 3). Spe. wurde das erste Mal 1922 mit 13 Jahren vom Jugendamt und dann wieder 1924 auf Antrag des Jugendgerichtes (aufgrund einer Verurteilung wegen Diebstahls) in die Erziehungsanstalt Eggenburg interniert. Nach mehrmaligen Fluchtversuchen sprach sich die Anstalt für die 106 U. a. Savage, Teenage. 107 Vgl. Sieder/Smioski, Kindheit, S. 25–34. 108 WStLA, MA 255 A 1923 Zl. 1 bis 282, MAbt 55 /519/5a/1923. Die Beobachtungseinheit hat ein überdurchschnittlich hohes cos² (cos²=0,144) und liegt am weitesten entfernt vom Nullpunkt.

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bedingte Entlassung aus und begründete: „[B]ei der ungeheuer weit vorgeschrittenen Verwahrlosung des Jungen scheint eine Besserung kaum mehr möglich.“109 Auch die Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten teilte diese Ansicht und entließ den Jugendlichen. Da er aber das 18. Lebensjahr bald vollenden sollte, drohte die Kommission, den Jugendlichen bei einer weiteren Verurteilung in einer Zwangsarbeitsanstalt zu internieren: Die h. o. bestehende Notionierungskommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten hat mit Rücksicht auf den Umstand, dass der Jugendliche bereits in einigen Monaten das 18. Lebensjahr vollendet haben wird und ein erzieherischer Erfolg nach den bisherigen Wahrnehmungen und im Hinblick auf den neuerlichen Rückfall kaum mehr zu gewärtigen ist, eine nochmalige Bestrafung nach der Vollendung des 18. Lebensjahres aber allenfalls die Möglichkeit bieten würde, mit einer Zwangsanhaltung vorzugehen – was dem Jugendlichen bedeutet werden wolle – von der Ueberstellung des Jugendlichen in eine andere Erziehungsanstalt Abstand genommen.110

Viktor Spe. wurde im Roten Wien der 1920er Jahre von der Jugendfürsorge betreut. Spezialisierte Einrichtungen wie Jugendamt und Erziehungsanstalt übernahmen per Gerichtsbeschluss die Verantwortung für ihn sowie für seine Erziehung. Als notwendig wurde dies aufgrund seines delinquenten Verhaltens erachtet. Erziehung war hier zum einen Zwangsmittel, wurde aber dennoch im Unterschied zur Zwangsarbeitsanstalt gesehen, Zweck war Besserung und Erziehung. Im Unterschied dazu wurde von der Kommission die Internierung Spe.s in einer Zwangsarbeitsanstalt als Festhaltung verstanden und Viktor Spe. wurde damit gedroht, dass er mit Vollendung des 18. Lebensjahres den Schutz vor der Internierung in eine Zwangsarbeitsanstalt verliere.

Zusammenfassung Sozialpolitik orientierte sich an Erwerbsarbeit.111 Historiker/innen haben vielfach die neuen Bedeutungen beschrieben, die Arbeit und auch Nicht-Arbeit dadurch erfuhren.112 In meinem Vergleich zwischen Unterbringungen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Internierungen in Zwangsarbeitsmaßnahmen ging es um die Ausdifferenzierungen und Hierarchisierungen von Nicht-Arbeiten in der Zwischenkriegszeit. Bei Auseinandersetzungen um Internierungen 109 110 111 112

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bzw. Aufnahmen in diese Maßnahmen/Anstalten ging es immer auch um Auseinandersetzungen, was Arbeit war und sein sollte und was nicht. Zwangsarbeitsanstalten für „zu Bessernde“ wurden zeitgleich mit den ersten sozialpolitischen Maßnahmen ausgebaut. Sie dienten dazu, jene zu markieren und zu behandeln, die nicht zu unterstützen waren, weil sie zu krank oder zu renitent waren, gegen durchgesetzte Vorstellungen, wie Arbeit zu sein hatte, verstießen, und/oder weil sie Frauen waren. Durch einen Vergleich dieser Maßnahmen lässt sich ein Spektrum an Unterscheidungen und Hierarchisierungen von Arbeit und Nicht-Arbeit in den Anfängen sozialstaatlicher Politik rekonstruieren. Verhandeln von Ansprüchen, sich gegen staatliche Vorgaben zu widersetzen oder sie zu ignorieren, sanktionieren, erziehen, medikalisieren und kriminalisieren waren Möglichkeiten, Unterschiede zu erzeugen und durchzusetzen. Mittels der durchgeführten Multiplen Korrespondenzanalyse der Arbeitslosenakten und Notionierungsakten ließen sich nicht nur Unterschiede und Hierarchien darstellen, sondern es konnte auch verdeutlicht werden, wer diese Unterschiede erzeugte, also wer die beteiligten Akteure waren und wer sich gegen wen auf welche Art und Weise durchsetzte. Es konnte gezeigt werden, dass sowohl Beamt/innen der Behörden als auch Ärzte, Bürgermeister, Familienangehörige, die verwaltete Person selbst, Anwälte und viele mehr Unterschiede und Hierarchien von Nicht-Arbeiten miterzeugten.

Literatur und Quellen Archivbestände Burgenländisches Landesarchiv (BLA), Abt. B: – Österr. FAD XII. – Österr. FAD XIII. Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA): Landesregistratur, XI, Karton 603 89 LA V1 LAVII4 1926, St. Zl. 384. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA): – Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA), Inneres, 20/4 1918–1928, Karton 4277, Grundzahl 111334–9/26. – Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA), Inneres, 20/4 1928–30, Karton 4771. – AVA (Allgemeines Verwaltungsarchiv), Justiz, Justizministerium (1849–1939), Arbeitshäuser Allgemein, Karton 4231, Grundzahl 49971/33. Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), LAA Rezens K 319 Gr III 3 1923, steiermärkische Landesregierung an die Direktion der Landes-Zwangsarbeitsanstalt Messendorf am 30. 11.1923, StZl. III 3 23650/23 Reg. Tiroler Landesarchiv (TLA), Amt der Tiroler Landesregierung, Abt. 1b, XXXV-182, StZl. 1882 aus 1934.

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Anhang: Ergebnisse der Multiplen Korrespondenzanalyse In der Korrespondenzanalyse wurden 60 Beobachtungseinheiten (Akten) aufgenommen. Sie umfasst 501 Variablen (Fragen) mit 1.723 Modalitäten (Antworten), davon waren 1.184 Modalitäten aktiv. Das Ergebnis weist eine Varianzzerlegung nach 59 Dimensionen auf. Die erste Dimension zieht 19% der Gesamtvarianz in Betracht, die zweite 10%. Die primäre Fläche als Synthese der ersten beiden Dimensionen nimmt daher 29% der Gesamtvarianz auf (siehe Abbildung 5).

Abb. 5: Unkorrigierte und korrigierte Varianzrate der Dimensionen der Multiplen Korrespondenzanalyse. © S. H.

Abkürzungsverzeichnis Abt. AdR AlVG AStS AVA BH BG BGBl. BKA BLA Ctr cos² DOKU FAD GSVG ILO LGBl. LGuVBl. MAbt MBA MKA NÖLA OÖLA ÖStA PAF Reg. RGBl. Sch. SFN StG. StGBl. StLA TLA VwGH WStLA Zl.

Abteilung Archiv der Republik (im Österreichischen Staatsarchiv) Arbeitslosenversicherungsgesetz Archiv der Stadt Salzburg Allgemeines Verwaltungsarchiv (im Österreichischen Staatsarchiv) Bezirkshauptmannschaft Bezirksgericht Bundesgesetzblatt Bundeskanzleramt Burgenländisches Landesarchiv Anteil des Varianzbeitrages eines auf eine Dimension projizierten Punktes an der Varianz der Dimension (Korrespondenzanalyse) Relativer Beitrag der Varianz der Achsen zur Punktvarianz (Korrespondenzanalyse) Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Universität Wien Freiwilliger Arbeitsdienst Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz International Labour Organisation Landesgesetzblatt Landesgesetz- und Verordnungsblatt Magistratsabteilung Magistratisches Bezirksamt Multiple Korrespondenzanalyse Niederösterreichisches Landesarchiv Oberösterreichisches Landesarchiv Österreichisches Staatsarchiv Produktive Arbeitslosenfürsorge Registratur Reichsgesetzblatt Schachtel Sammlung Frauennachlässe Strafgesetz Staatsgesetzblatt Steiermärkisches Landesarchiv Tiroler Landesarchiv Verwaltungsgerichtshof Wiener Stadt- und Landesarchiv Zahl

https://doi.org/10.1515/9783110781335-007

Register Alter (Lebensalter) 11f., 27, 44, 76, 83, 90, 93f., 102, 105, 109, 140, 155, 176, 182, 203, 224, 231f., 234, 251, 254 Angestelltengesetz 135 antisemitisch 172 Arbeiter/in (siehe auch Fabriksarbeiter/in, Forstarbeiter/in, Lohnarbeiter/in, landwirtschaftliche/r Arbeiter/in) 38f., 64, 66, 73, 83, 85f., 89, 126, 135, 138, 158f., 162, 190, 231 Arbeiter/innenbewegung 1, 65, 73, 123 Arbeiterkammer 15, 181, 183, 185, 193, 206f. Arbeits(un)fähigkeit, arbeits(un)fähig, zur Arbeit (un)fähig (siehe auch Erwerbs[un] fähigkeit) 10f., 21, 24, 26, 37, 83, 85, 90, 102, 127, 143, 192, 196, 199, 230, 241, 243, 251f. Arbeitsamt 21–56, 106, 155, 224, 229, 232f., 240 Arbeitsdienst (freiwilliger) 221f., 224, 226, 228, 234, 241, 244f., 254, 261 Arbeitsgericht, arbeitsgerichtlich 135, 137, 160 Arbeitshaus 221f., 226–228, 231, 233, 236, 238, 240f., 249f. arbeitslos, Arbeitslose (siehe auch erwerbslos, stellenlos) 24, 32, 37–39, 41, 47, 52f., 55, 85, 94, 123, 138, 158, 203, 221, 223f., 227f., 230–232, 234– 236, 238, 241, 244f., 251f., 256 Arbeitslosenamt 25–27, 29, 224, 230, 232, 235, 240, 244f. Arbeitslosenfürsorge (produktive) 25f., 221– 224, 228, 232, 240f., 244, 248, 261 Arbeitslosenunterstützung, Arbeitslosengeld 8f., 26–29, 31, 36–40, 47–49, 52, 54f., 223f., 245, 248 Arbeitslosenversicherung 3, 9, 26, 55, 65, 160, 178, 222f., 224, 230–232, 245 Arbeitslosigkeit (siehe auch Erwerbslosigkeit) 4, 9, 11, 21f., 26, 28f., 32f., 37– 39, 40f., 47, 49f., 54, 56, 90, 138, 143, 154, 158, 205, 221–224, 230, 232, 234f., 245 https://doi.org/10.1515/9783110781335-008

Arbeitsmarkt 8, 21, 23–25, 28, 56, 240, 251f. Arbeitsmarktverwaltung 8, 75 Arbeitsplatz 4f., 26f., 37, 47, 55, 248 Arbeitsscheu, arbeitsscheu 7, 9, 24, 48, 176, 221, 223, 225, 231, 235f., 241 Arbeitssuche 23, 25, 27, 29–32, 49, 53–55, 90, 223, 249 Arbeitsvermittlung (siehe auch Dienststellenvermittlung, Stellenvermittlung) 2, 8f., 21–62, 155, 178, 241 Arbeitszeit (siehe auch Ruhezeit) 38, 65, 78, 89, 107 Armenfürsorge (Armenpflege, Armenversorgung) 23f., 49, 186, 201, 248 Armenunterstützung 23, 206 Armut 100, 102, 104f., 138, 158, 173, 182, 186, 202, 210, 227, 241 Ausbildung 4, 9f., 12, 39–41, 43, 52, 54, 82, 86, 125, 131f., 134f., 138, 140, 148f., 151–153, 155–158, 162, 178, 189, 229, 234 Aushelfen (siehe auch Gelegenheitsarbeit) 9, 31, 52, 54, 202 Ausland, ausländisch 134f., 189f. Auswandern 236 Autobiografie, autobiografisch (siehe auch Lebensgeschichte, lebensgeschichtlich) 10, 30–33, 37, 40, 69, 112, 128 Baechlé, Josef von 72 Bauer, Bäuerin 40f., 44, 47, 50, 53, 63, 77, 104–105, 111f., 160, 202–205 Bauernhof 9, 63, 77f., 103, 106 Bedürftigkeit, bedürftig 127, 186, 192, 201 Bekker, Paul 133 Beruf, beruflich 2f., 6–10, 12, 21f., 25f., 28, 33, 35–37, 39f., 46–50, 52, 54–56, 65f., 75f., 84f., 94f., 106f., 123–126, 132, 136–138, 140–144, 148–162, 171, 173, 175–181, 184, 186, 188, 192f., 196, 199– 203, 208, 212, 236, 240 Berufsberatung 33, 47, 75, 155, 160

264  Register

Berufslaufbahn (siehe auch Karriere, Laufbahn) 47f., 50, 52, 55f., 152, 155 Berufsmusiker 124–126, 138, 141f., 144, 154f., 160, 162 Berufsschutz 26, 155 Berufsverbände 180f. Berufsvertretung(en) 175, 177 Besserungsanstalt 11, 221, 225–229, 233, 235–237, 241–243, 253–255 Betrieb 27, 30, 50, 70, 75, 77, 93, 95, 106, 126, 137, 144, 171f., 175, 186, 245 Bettelmusik 127, 143, 182, 202, 212 Betteln, Bettelei 5f., 11, 23, 53, 70, 127, 143, 158, 172, 175f., 185, 189, 196, 202–205, 225, 236, 251f. Bourdieu, Pierre 34, 71, 150, 152 Brief 66, 69, 73, 89, 181, 188, 200, 227f., 238, 240f. Bundesministerium für Handel und Verkehr 127, 192, 207 Burgenland 85, 181, 229, 234, 248, 261 christlich 77, 80, 91 Christlichsoziale, christlichsozial 65, 72, 80, 95 Chur 97 Diebstahl 5f., 237, 251, 254 Dienst 9f., 30f., 35, 40f., 43, 45, 47, 52, 54f., 63–115 Dienstbot/innen 40f., 45, 52, 63–115 Dienstbotenordnung 64, 72f., 91 Dienststellenvermittlung (siehe auch Arbeitsvermittlung, Stellenvermittlung) 48, 54 Doppelverdiener 248 Eggenburg 226, 243, 254 Einsatz, Einsätze 71f., 77, 79, 81, 83f., 98, 149, 153f., 157, 162, 195 Erwerbs(un)fähigkeit, erwerbs(un)fähig (siehe auch Arbeits(un)fähigkeit) 55, 185f., 188, 190, 196, 208f., 241 erwerbslos (siehe auch arbeitslos, stellenlos) 47, 86, 105 Erwerbslosigkeit (siehe auch Arbeitslosigkeit) 2, 10, 171

Erziehungsanstalt 253–255 Expert/innen 8, 23–25, 29, 229, 236, 254 Fabrik, Fabriksarbeiter/in 30, 32, 123f., 174, 176 Fähigkeit(en) 39, 41, 65, 71, 110f., 114, 127, 131–133, 141, 148, 150, 155, 190, 192, 196, 199, 201, 209, 226, 241 Familie 29, 43, 66, 76, 83, 86, 98, 102, 104f., 111f., 153, 156, 186, 197, 203, 222, 229, 232f., 237f., 240–243, 245, 248f., 251, 254 Familienerhalter 232, 248 Familienernährer 43, 84 familienfremd 63, 76, 81, 83, 86, 91, 93, 96, 99f., 102, 105–108, 110, 114 Familienhaushalt (siehe auch Haushalt) 9, 35, 41–46, 48, 50, 52, 55, 79, 81, 83f., 102f., 105, 192, 243 Familienmitglied 41, 89, 100, 107, 110f., 154, 229, 237, 253 Feld (Konzept) 33–35, 45f., 48–51, 54f., 71, 127, 150f. Formular 181, 227f. Forstarbeit, Forstarbeiter/in, forstwirtschaftliche/r Arbeiter/in 26, 111, 158 Fortbildungskurse 73 Fortkommen 7, 46–48, 71, 144, 226, Frauenbewegung 80, 97 Freizeit 3–5, 10, 38, 78, 101f., 123, 140, 142, 155f. fremdenfeindlich 172 Fürsorge 24, 30f., 43, 47, 72f., 138, 153, 196, 229, 231 Gasthaus 89, 141, 158f., 206, 208f. Gelegenheitsarbeit, Gelegenheitsverdienst (siehe auch Aushelfen) 5, 38, 52–54, 83, 85f., 143, 151, 156f., 235 Gelegenheitsmusizieren 11, 143, 151, 156– 159, 162f. Gemeinde (siehe auch Heimatgemeinde) 23– 25, 49, 64, 72, 85, 102, 176, 181, 184– 186, 190, 192, 201f., 208 Gendarmerie (siehe auch Polizei) 38, 181, 183, 185, 189, 193, 202–204, 243f.

Register

Genossenschaft 29, 159, 176, 181f., 185, 188f., 210 Gericht, gerichtlich (siehe auch Arbeitsgericht, Jugendgericht) 63f., 66, 70, 92, 94, 133, 182, 189, 194, 202–205, 219, 227, 229, 232, 235–237, 242f., 251, 253, 255, 261 Geschlecht 3, 11f., 65, 83f., 129, 171, 182, 225, 251 Gewerbe, gewerblich 7, 9–11, 22–24, 26f., 29, 32, 48, 52, 64, 73, 89, 95, 106, 126f., 159, 161, 172–212, 221, 225, 245, 261 Gewerbeakten 174, 180–182, 194, 219 Gewerbebehörde 176, 181, 183, 188f., 201, 208 Gewerbeordnung 22, 73, 126f., 135, 160, 190, 202 Gewerbeschein, Gewerbeberechtigung, Gewerbebewilligung 127, 176, 181, 184, 189f., 205f., 210f. Gewerkschaft, gewerkschaftlich 22, 25, 66, 77, 96, 106, 113, 124–126, 138, 141f., 154f., 157, 159f. Göllersdorf 226 Gottschee, Gottscheer 193f., 206–210 Grümmer, Paul 150f. Handel (siehe auch Hausierhandel, Straßenhandel, Wanderhandel) 5, 11, 171–173, 184, 179f., 184, 188, 196, 206, 208 Handelsvertreter 172f., 179f., 196 Handwerk 49, 133, 171–173, 175f., 182, 186, 188 Hausfrau 43, 45, 77, 80, 93, 111 Hausgehilfin(nen) 63–115, 245 Hausgehilfinnenorganisation(en) 73, 77, 93, 96 Haushalt (siehe auch Familienhaushalt) 3–5, 9–12, 30, 32, 35, 39–48, 50, 52, 54f., 65, 69f., 72, 75–114, 138, 154, 158, 192, 197, 199, 242f., 251f., Hausieren, Hausierhandel 172, 175–177, 179–180, 182, 184f., 190, 192–196, 199– 212



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Heimatgemeinde, Zuständigkeitsgemeinde (siehe auch Gemeinde) 49, 176, 183f., 186, 190, 192, 199–201, 229, 251 Heimatrecht, heimatberechtigt 23, 184, 190, 192–194, 196, 200, 206–208, 227, 243, Herbergen (siehe auch Naturalverpflegsstationen) 44 Herzogenburg 91 Hochschule 148 illegal (siehe auch verboten) 5, 31, 70, 249 ILO (Internationales Arbeitsamt) 25, 47, 65, 261 Industrie 25f., 29 Industrielle Bezirkskommission 24–26, 29, 39f., 232, 234 informell 4, 78, 173f., 177, 210 Interessensvertretung 125f. Invalide, invalide (siehe auch Kriegsinvalide) 181, 193, 201, 207 Invalidenrente 37, 199, 206, 209 Invalidität 176, 186, 209 Jenische, jenisch 173, 182 Juden/Jüdinnen, jüdisch 173, 192 Jugend, Jugendliche 9, 80, 140, 143, 158, 224, 226, 241f., 254f. Jugendamt 253–255 Jugendfürsorge 244, 253–255 Jugendgericht 242f., 254 Karlstein 193 Kärnten 229 Karriere (siehe auch Berufslaufbahn, Laufbahn) 4, 46f., 141, 155, 182 katholisch 77, 80, 95 Kind (siehe auch Pflegekind, Ziehkind) 35, 41, 43f., 50, 52, 76f., 79–88, 91, 93f., 100, 102–106, 109, 111, 114, 138, 140, 158, 175, 186, 192, 196, 200–204, 240, 244, 254 Kindheit 84f., 93, 102–104, 138, 175 Kommunist/innen, kommunistisch 73, 76, 93, 96 Konsum 3, 10, 78, 81, 173, 177f. Korneuburg 226, 237

266  Register

Korrespondenzanalyse (spezifische Multiple) 8, 12–15, 33, 62, 70, 127–129, 161, 168, 169, 183, 219, 222, 227, 229, 256, 260f. Kost und Verpflegung 23, 44, 64, 111, 202, 204f., 223 Krankenversicherung 26, 64f., 109 Kriegsdienst 182, 186, 206 Kriegsinvalide, Kriegsbeschädigter (siehe auch Invalide) 11, 44, 143, 176, 184– 186, 196f., 199f., 206, 208f. Kunst 10, 123, 125f., 128–137, 144, 148–154, 156f., 159–161 Kunstbetrieb 133f., 136 Land, ländlich 9, 27, 63, 65, 67f., 77, 85, 100, 102, 104, 106, 111, 124f., 132–134, 141, 156, 158, 163, 192, 200, 207 Landarbeiter/in, landwirtschaftliche/r Arbeiter/in 26, 45, 63–65, 85, 89, 109 Landstreicherei (siehe auch Vagabundage) 9, 24, 182, 189, 193, 202, 223, 225, 236f., 242f., 251f. Landwirtschaft, landwirtschaftlich 9, 26f., 3– 41, 45, 50, 52, 63f., 67f., 77f., 85, 89, 94, 101–103, 109f., 112, 171, 175 Langhans-Sulser, Emma 97, 100, 105 Lankowitz 226, 251 Laufbahn (siehe auch Berufslaufbahn, Karriere) 10, 133, 141, 152, 158, 171 Lebensgeschichte, lebensgeschichtlich (siehe auch Autobiografie, autobiografisch) 8f., 13, 56, 67–69, 72, 77, 85, 100, 103f., 107, 111, 114f., 127–129, 131, 140f., 149, 159, 163, 174, 261 Lebenslauf 11, 132, 156, 193 Lehmann, Lotte 132, 134 Lehre, Lehrling 36, 39f., 138, 188 Lind, Jenny 152 Liszt, Franz 152 Lohn (siehe auch Taglohn) 4, 9, 64f., 71, 86, 89f., 95, 109, 125, 129, 133, 152, 159, 197 Lohnarbeit, Lohnarbeiter/in (siehe auch Taglohn) 1, 3–5, 9f., 21, 31, 52, 55, 65,

72, 77, 103f., 113, 123–126, 162, 173f., 177f., 248 Maria Theresia 85 Messendorf 226 Migration (siehe auch Auswandern, Wandern, Mobilität) 24, 63, 134, 224 Mischler, Ernst 23f., 28 Mithilfe, Mithelfende 9, 21, 31, 35, 40, 54, 67, 70, 83, 85, 102–106, 109, 242f., 251 Mobilität (siehe auch Auswandern, Migration, Wandern) 40, 134, 193, 206 Musikschule 132, 156, 162 Musikverein 124, 132, 140f. Naturalverpflegsstationen (siehe auch Herbergen) 23, 223 Nebenverdienst 112, 158f., 202 Nichtberufsmusiker 124, 126, 132, 142, 156, 160, 162 Niederösterreich 15, 63, 72, 91, 104, 182, 226, 229, 236, 243, 261 Notstandshilfe, Notstandsunterstützung 38, 94 Oberösterreich 69, 111, 175f., 182, 203f., 226, 229, 261 paritätisch 25, 29 Pensionsversicherung 161, 178 Pflegekind 45, 47, 52, 102, 109 Platzer, Antonie 85, 90 Politik (siehe auch Sozialpolitik) 3, 8f., 11, 23, 84, 97, 113, 178, 188, 225, 256 Politiker/in 25, 63, 65, 72, 80, 94, 106, 113, 156 Polizei, polizeilich (siehe auch Gendarmerie) 40, 64, 126, 140, 175f., 181, 183, 185, 189, 193f., 197, 202–204, 206, 227, 229, 237, 241f., 253f. Prostitution 225, 236, 241, 243 Protest 30, 63, 66, 73, 96, 177 Protokoll 181, 196, 203f., 227f., 252 Reichsverband der allgemeinen Arbeitsnachweise 23f.

Register

Renner, Karl 72 Rinaldini, Joseph v. 156 Roth, Joseph 143f. Ruhestand 4, 12 Ruhezeit 64f. Salzburg 23, 174–176, 181f., 205–209, 261 Sample 13, 32, 36, 42, 67–71, 73, 75, 79, 84– 87, 103, 105, 114, 181–183, 194 Scherl, Marie 25 Schnabel, Artur 131, 149, Schuhputzen 172, 176 Schule, schulisch (siehe auch Musikschule) 33, 40, 43, 50, 76, 83, 85f., 93, 98, 100–105, 114, 143, 189, 203, 234, 245, 250 Schüler/in 40, 131, 149, 151, 154 Schulpflicht 83, 85, 93, 102 schutzbedürftig 80 Schwarz, Olly 33 Schwarzarbeit (Pfusch) 32, 38, 54, 70, 235 Schwaz 226 Sorge (Umsorge, Versorgen) 5, 7, 10–12, 35, 42f., 45, 48f., 54, 79, 81, 83f., 86–88, 103–105, 114, 140, 149, 153, 182, 186, 190, 192, 196, 200, 202f., 229, 231, 240f., 244, 248 Sozialdemokratie, Sozialdemokrat/innen, sozialdemokratisch 63, 65, 72f., 77, 90, 93, 95–97, 106, 113 sozialistisch 96f., 125, 138, 142, 154, 158– 160 Sozialpolitik (siehe auch Politik) 2–4, 9, 11, 21–24, 28, 224, 255f. Staat, staatlich 2f., 8–12, 21, 24–26, 28, 34, 53–56, 71f., 95, 113, 124f., 127f., 135– 137, 149, 152, 159, 162, 178, 184–186, 188, 190, 201f., 208, 211 staatenlos 189, 203f. Staatsbürgerschaft 175, 184, 189f., 196, 205, 208f., 252 Stadt, städtisch 23, 25, 65, 67f., 73, 93f., 106, 110, 125, 134, 141, 143, 152, 175– 178, 201, 207f., 210 Steiermark 134, 226, 229, 234, 251, 261



267

stellenlos (siehe auch arbeitslos, erwerbslos) 9, 41, 73 Stellenvermittlung (siehe auch Arbeitsvermittlung, Dienststellenvermittlung) 73, 106, 125 Stellenwechsel 27, 40f., 52, 68, 76, 87, 93, 97, 106, 109f., 114, 158, Straßenhandel 172, 179, 186 Straßenmusik 5, 11, 124, 126, 143, 159 Suben 226, 240 Taglohn, Taglöhner/in 83, 85, 138f., 159 Tarif 125f., 162 Tirol 38, 175, 182, 193, 226, 229, 261 Umschau 24 Unterhaltung 3, 10, 123f., 136f., 143, 151, 153 Uranitsch, Egon 69, 106 Urlaub 64 Vagabundage (siehe auch Landstreicherei) 23, 126, 172, 189, 203, 224–226 Verbot, verboten (siehe auch illegal) 4, 73, 175, 192, 205, 207, 209, 243 Verdienst 41, 44, 48, 135, 149, 153f., 158, 175, 186, 197 Vergnügungsindustrie 142f., Versicherung (siehe auch Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Pensionsversicherung) 3, 26f., 37–40, 47, 54f., 65, 71, 160–162, 178, 180, 222, 232, 245, 248, 261 Volkszählung 65, 124, 171 Vorarlberg 141, 229 Waidhofen an der Taya 193 Wandergewerbe 179, 182, 184, 186, 190, 193, 202 Wanderhandel 172f., 177, 179, 186 Wanderschaft, Wandern 23, 26, 32, 44, 49f., 56, 157, 223 Wien 25, 29, 33, 65, 67, 72f., 91, 94f., 103, 125, 127, 136, 141, 155, 159, 162, 176, 181, 192, 196, 200f., 229, 234, 242f., 255, 261 Wiener Neudorf 226, 252f.

268  Register

Wirtschaftskammer 181, 183, 185, 192f., 199, 201, 209 Witwe(r) 11, 175, 184, 192, 200f. Zentralkataster 28 Ziehkind 81, 86, 111, 196

„Zigeuner“ 173, 182, 203 Zwangsarbeit(smaßnahmen) 3, 5, 11, 227f., 255 Zwangsarbeitsanstalt 11, 221–229, 231, 233, 235–337, 241–243, 249–256

Die Autor/innen Sonja Hinsch studierte Soziologie und Geschichte an der Universität Wien. Im Anschluss arbeitete sie im Projekt „Production of Work“ mit. Zurzeit ist sie in der Statistik Austria mit Schwerpunkt auf Erhebungen zu Gewalt tätig. Jessica Richter studierte Sozialwissenschaften und European Regional Development in Hannover und Cardiff. An der Universität Wien wurde sie im Fach Geschichte mit ihrer Arbeit über Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst (Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938) promoviert. Am Institut für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten leitet sie derzeit die Abteilung AgriFood sowie das FWF-Einzelprojekt „Landarbeit organisieren. Behördliche Auseinandersetzungen in Österreich (1918–1938)“. Georg Schinko studierte Sozioökonomie in Wien und arbeitete danach im Forschungsprojekt „Production of Work“ mit. Er promovierte mit einer Untersuchung von Unterschieden und Hierarchien verschiedener Formen des Musizierens in der österreichischen Zwischenkriegszeit. Irina Vana ist Soziologin und promovierte als Sozialhistorikerin zu den Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung in Österreich (1889–1938). Zwischen 2018 und 2022 arbeitete sie am Zentrum für soziale Innovation im Bereich Arbeit und Chancengleichheit. Seit 2022 ist sie am Kompetenzzentrum Zukunft Gesundheitsförderung (FGÖ) tätig. Sigrid Wadauer ist Historikerin, sie forscht, publiziert und lehrt als Privatdozentin zur Geschichte von Arbeit und Lebensunterhalten, Ego-Dokumenten und Lebenslauf, Mobilität, Sozial- und Gewerbepolitik und bürokratischen Interaktionen. Sie leitete 2008–2013/2015 das ERC-Starting Grant und FWF-Start-Projekt „The Production of Work“. Gegenwärtig arbeitet sie an der Universität Wien an einem FWF-Projekt zu Ko-Produktion und Gebrauchsweisen von Identitätsdokumenten.

https://doi.org/10.1515/9783110781335-009